Sternschatten: Martin Heideggers Adaption der Philosophie Franz Rosenzweigs 9783495817087, 9783495489864

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Sternschatten: Martin Heideggers Adaption der Philosophie Franz Rosenzweigs
 9783495817087, 9783495489864

Table of contents :
Inhalt
Hinführung
I. Gegenüberstellung
I.I Der Stern der Erlösung
I.I.1 All und Ganzes
I.I.2 Schöpfung und Erschaffung
I.I.3 Da-sein und Leben
I.I.4 Offenbarung und Widerstand
I.I.5 Bindung oder Selbst-sein
I.I.6 Erschließung und Verstehen
I.I.7 Philosophie
I.II. Sein und Zeit
I.II.1 Die gestellte Frage
I.II.2 Seinsverständnis
I.II.3 In-der-Welt-sein
I.II.4 Mitsein
I.II.5 Sorge
I.II.6 Eigentlichkeit
II. Vergleich
II.1 »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Einleitung
II.2 »Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein«
II.3 »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Buch I–III
II.4 »Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins«
II.5 »Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt«
II.6 »Das In-Sein als solches«
II.7 »Die Gestalt oder die ewige Überwelt«
II.8 »Dasein und Zeitlichkeit«
III. Muster der Entsprechung
III.1 »Über die Möglichkeit, das All zu erkennen«
§1–8: »Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein«
III.2 »Gott und sein Sein oder Metaphysik«
§ 9–11: »Die Exposition der Aufgabe einer vorbereitenden Analyse des Daseins«
III.3 »Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik«
§12–24: »Die Weltlichkeit der Welt«
III.4 »Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik«
§25–27: »Das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein«
III.5 »Übergang«
§28: »Das In-Sein als solches«
III.6 »Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge«
§29–38: »Die existenziale Konstitution des Da«
III.7 »Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele«
§39–44: »Die Sorge als Sein des Daseins«
III.8 »Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs«
III.9 »Schwelle«
III.10 »Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten«
§ 45–60: »Dasein und Zeitlichkeit«
III.11 »Das Feuer oder das ewige Leben«
§ 61–65: »Das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins und die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge«
III.12 »Die Strahlen oder der ewige Weg«
III.13 »Der Stern oder die ewige Wahrheit«
§66–79: »Zeitlichkeit und Alltäglichkeit/ Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit«
III.14 »Tor«
III.15 Zur Arbeit der Adaption
IV. Die Kontinuität der Auseinandersetzung
IV.1 Vom Wesen des Grundes
IV.2 Überlegungen II–VI
IV.3 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«
IV.4 Der Ursprung des Kunstwerkes
IV.5 Beiträge zur Philosophie
IV.6 Das Äußerste
V. Nachgeordnete Begründung
V.1 Vor Sein und Zeit
V.2 Erfahrende Philosophie
Ausklang
Literatur
I. Martin Heidegger
II. Franz Rosenzweig
III. Weitere verwendete Werke
IV. Literatur zu Martin Heidegger
V. Literatur zu Franz Rosenzweig
VI. Weitere Literatur

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Susanne Möbuß

Sternschatten Martin Heideggers Adaption der Philosophie Franz Rosenzweigs

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817087

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B

Susanne Möbuß Sternschatten

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Susanne Möbuß

Sternschatten Martin Heideggers Adaption der Philosophie Franz Rosenzweigs

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Susanne Möbuß Shadows of the Star Martin Heidegger’s Adaptation of Franz Rosenzweig’s Philosophy Viewed from a particular perspective, Heidegger’s first systematic text, Being and Time, turns out to be a conceptualisation of Rosenzweig’s Star of Redemption. In her groundbreaking study Möbuß provides an in-depth comparative study of both texts. In addition to Being and Time Möbuß also considers other texts by Heidegger written between the two decades of his doctorate thesis and Contributions to Philosophy. In so doing Möbuß reconstructs the stages of Heidegger’s reception of Rosenzweig which oscillate between appropriation, objection, and denial. Heidegger’s reception of Rosenzweig has no equal in Western history of ideas. This is because, as Möbuß shows, Heidegger’s rationalisation of a supposed onto-historical mandate of the Germans is, in fact, fundamentally influenced by Rosenzweig’s characterisations of the Jewish people. The book provides a profound analysis of Heidegger’s selfimage at the time of the Nazi regime, which enables a radically new perspective at Heidegger’s ideological position.

The Author: Susanne Möbuß, born 1963, studied philosophy and history. Her doctorate and habilitation theses dealt with problems of medieval philosophy. Möbuß has been a lecturer at the University of Hannover and the University of Oldenburg since 1990. She has published widely on existential philosophy. Her last publication with Alber is Existenzphilosophie, 2 Vol. (2015).

https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Susanne Möbuß Sternschatten Martin Heideggers Adaption der Philosophie Franz Rosenzweigs Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, zeigt sich Martin Heideggers erste systematische Schrift »Sein und Zeit« als Konzeptualisierung des »Sterns der Erlösung« von Franz Rosenzweig. Diesen Befund gilt es anhand eines intensiven Vergleiches beider Texte zu bestätigen. Ergänzend werden Heideggers Arbeiten über rund zwanzig Jahre von seiner Dissertation bis zu den »Beiträgen zur Philosophie« verfolgt, um die Phasen einer Rezeption zwischen Aneignung, Widerspruch und Negation rekonstruieren zu können, die in der Geschichte der westlichen Rationalität ihresgleichen sucht. Denn es wird sichtbar, wie stark Heideggers Begründung eines angeblichen seinsgeschichtlichen Auftrages der Deutschen von jenen Aussagen Franz Rosenzweigs geprägt ist, in denen dieser das jüdische Volk charakterisiert. Ein vertiefender Blick auf das Selbstverständnis Martin Heideggers zur Zeit des Nationalsozialismus wird möglich, der dazu beitragen kann, die Frage seiner ideologischen Positionierung vor neuem Hintergrund zu stellen.

Die Autorin: Susanne Möbuß, Jahrgang 1963, studierte Philosophie und Geschichte. Promotion und Habilitation im Bereich der mittelalterlichen Philosophie. Seit 1990 an den Universitäten Hannover und Oldenburg tätig. Veröffentlichungen vor allem zur Existenzphilosophie. Zuletzt im Verlag Karl Alber: Existenzphilosophie, 2 Bde. (2015).

https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48986-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81708-7

https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Inhalt

Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. I.I

I.II.

II. II.1 II.2 II.3 II.4 II.5 II.6 II.7 II.8

Gegenüberstellung . . . . . . . . . Der Stern der Erlösung . . . . . . . I.I.1 All und Ganzes . . . . . . . I.I.2 Schöpfung und Erschaffung . I.I.3 Da-sein und Leben . . . . . . I.I.4 Offenbarung und Widerstand I.I.5 Bindung und Selbst-sein . . . I.I.6 Erschließung und Verstehen . I.I.7 Philosophie . . . . . . . . . Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . I.II.1 Die gestellte Frage . . . . . . I.II.2 Seinsverständnis . . . . . . . I.II.3 In-der-Welt-sein . . . . . . . I.II.4 Mitsein . . . . . . . . . . . I.II.5 Sorge . . . . . . . . . . . . I.II.6 Eigentlichkeit . . . . . . . .

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Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein« . »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Buch I–III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins« »Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt« . . . . . . »Das In-Sein als solches« . . . . . . . . . . . . . . . »Die Gestalt oder die ewige Überwelt« . . . . . . . . »Dasein und Zeitlichkeit« . . . . . . . . . . . . . .

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9 15 15 15 22 36 40 53 67 78 86 86 92 105 117 125 131

. 146 . 146 . 150 . . . . . .

155 159 162 167 181 184 7

https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Inhalt

III. III.1 III.2 III.3 III.4 III.5 III.6 III.7

201 202 202 204 206 207 209

III.8 III.9 III.10 III.11 III.12 III.13 III.14 III.15

Muster der Entsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . »Über die Möglichkeit, das All zu erkennen« . . . . . . »Gott und sein Sein oder Metaphysik« . . . . . . . . . »Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik« . . . . . . . . »Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik« . . . . . »Übergang« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge« »Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs« . . . . . »Schwelle« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten« . . . . . »Das Feuer oder das ewige Leben« . . . . . . . . . . . »Die Strahlen oder der ewige Weg« . . . . . . . . . . »Der Stern oder die ewige Wahrheit« . . . . . . . . . »Tor« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Arbeit der Adaption . . . . . . . . . . . . . . . .

IV. IV.1 IV.2 IV.3 IV.4 IV.5 IV.6

Die kontinuierliche Auseinandersetzung . . . . . . . Vom Wesen des Grundes . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen II–VI . . . . . . . . . . . . . . . . Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« Der Ursprung des Kunstwerkes . . . . . . . . . . Beiträge zur Philosophie . . . . . . . . . . . . . . Das Äußerste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

225 225 238 250 261 272 304

V. V.1 V.2

Nachgeordnete Begründung . . . . . . . . . . . . . . . Vor Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrende Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . .

319 319 327

. . . . . . .

210 211 213 213 215 215 216 219 219

Ausklang

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

8 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Hinführung

Der Gedanke, einzelne Konzeptionen im Werk von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger in vergleichender Perspektive zu betrachten, ist nicht neu.»« Bereits 1933 etwa reflektiert Else Freund diese Möglichkeit in ihren Betrachtungen zum Stern der Erlösung, die zu den frühesten Untersuchungen dieses Werkes zählen, aufgrund der politischen Ereignisse in Deutschland jedoch erst rund fünfundzwanzig Jahre später erneut veröffentlicht werden konnten. 1 1942 nimmt Karl Löwith explizit eine Gegenüberstellung von Rosenzweigs Schrift und Heideggers Sein und Zeit vor, in der er Elemente der Übereinstimmung, aber auch der Divergenz, benennt. 2 Eine weitaus umfangreichere Darstellung stammt von Peter Eli Gordon aus dem Jahr 2003, 3 in der er das Schaffen beider Denker als Produkt des »Weimar modernism« bezeichnet. Zugleich weist Gordon auf die Bedenken hin, die gegen den Vergleich eines Denkers jüdischen Glaubens und eines Theoretikers mit unverhohlener Affinität zum Nationalsozialismus erhoben werden können. 4 Die intensivste Thematisierung legte Paul Murphy

Freund, Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs. Ein Beitrag zur Analyse seines Werkes ›Der Stern der Erlösung‹. Eine Ähnlichkeit in der Verwendung solcher Begriffe wie Schuld und Gewissen führt sie auf die Verwurzelung des Denkens beider Theoretiker in der Philosophie Schellings zurück, S. 6. Bezüglich der Interpretation des Todes betont sie, diesem käme bei Heidegger keine »vorwärtstreibende Kraft« zu, S. 5. 2 Löwith, M. Heidegger und F. Rosenzweig. Ein Nachtrag zu ›Sein und Zeit‹. Die knapp 30 Seiten umfassende Darstellung beginnt mit den Worten: »Wenn Heidegger je einen Zeitgenossen gehabt hat, der diese Bezeichnung nicht nur im chronologischen Sinne verdient, dann war es dieser Jude, dessen Hauptwerk sechs Jahre vor Sein und Zeit erschien.«, S. 72. 3 Gordon, Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and German Philosophy. 4 Rosenzweig and Heidegger, S. 21 und S. xxii im Vorwort heißt es: »It is unsurprising, then, that few have embraced the suggestion that Rosenzweig and Heidegger belonged to the same constellation of thought. Indeed, I am not without sympathy for those who think that it might have been best to leave the comparison unexplored.« 1

9 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Hinführung

Higgins 2013 mit seiner theologisch ausgerichteten Dissertation an der Catholic University of America vor. 5 Eines ist diesen Darstellungen jedoch gemeinsam – sie beleuchten Aussagen und Theoreme von Rosenzweig und Heidegger als jeweils für sich zu wertende Erscheinungen eines gemeinsamen geistesgeschichtlichen Hintergrundes, den vornehmlich die Philosophie des Deutschen Idealismus bildet. Dadurch wird eine Vergleichbarkeit grundsätzlich für möglich erklärt, insofern die Entwürfe beider als Ausdruck der durchaus kritischen Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition verstanden werden können, die bei beiden zur Forderung eines »neuen Denkens« 6 führt. Gilt die Suche einer direkten Bezugnahme, die eine gewisse Vertrautheit mit dem Werk des jeweils anderen belegen könnte, findet sich der bislang einzige Hinweis in jener Kommentierung des heideggerschen Denkens, die Franz Rosenzweig 1929 anläßlich der »Davoser Disputation« 7 formuliert und damit teilweise Unverständnis, zumindest aber Verwunderung auslöst. Denn dort heißt es: »Und hier hat nun Heidegger […] gegen Cassirer eine philosophische Haltung, eben die Haltung unseres, des neuen Denkens vertreten […]. Denn was ist es anders, wenn Heidegger gegen Cassirer der Philosophie die Aufgabe gibt, dem Menschen, dem ›spezifisch endlichen Wesen‹, seine eigene ›bei aller Freiheit Nichtigkeit‹ zu offenbaren und ihn ›aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, zurückzurufen in die Härte seines Schicksals‹ […].« 8 Higgins, Speaking and thinking about God in Rosenzweig and Heidegger. Rosenzweig selbst titelt seinen 1925 in der Zeitschrift Der Morgen erschienenen Aufsatz Das neue Denken. Goldstein, der Herausgeber, kommentiert: »Der folgende Beitrag von Franz Rosenzweig gehört zu dem wesenhaft Neuen und geistig Entscheidungsvollen, das zu künden eine der Aufgaben dieser Zeitschrift ist.« Zweistromland, S. 845. 7 Im Rahmen der »II. Internationalen Davoser Hochschulkurse« vom 17. März bis zum 6. April 1929 fand eine Diskussion zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger statt. Rosenzweig selbst war nicht anwesend, bezog seine Information über den Verlauf der dortigen Gespräche soweit bekannt lediglich aus dem kurzen Bericht Herrigels in der Frankfurter Zeitung vom 22. 4. 1929, Denken dieser Zeit. 8 Rosenzweig, Vertauschte Fronten, in: Zweistromland, S. 236. Unter den wenigen Angaben von Herrigel, die sich direkt auf Heideggers Vorträge in Davos beziehen, findet sich beispielsweise die, daß Heidegger das Wesen der Philosophie nicht in dem sehe, »was sie sagt, sondern was sie nicht sagt, was geschieht.« Weiter verweist er auf die »Bereitschaft für den Einzug des Menschen in das Dasein«. Bemerkenswert ist diese Einschätzung auch deshalb, weil Rosenzweig Heidegger damit eine tiefere Übereinstimmung mit dem Denken Hermann Cohens attestiert. 5 6

10 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Hinführung

Wie immer diese Ansicht bezüglich ihrer philosophischen Korrektheit beurteilt wird, ist es interessant, was Rosenzweig offensichtlich durch Heidegger repräsentiert sieht: die Forderung nach einer neuen Philosophie, die weniger Wissenschaft sein sollte, als vielmehr »Haltung«, grundsätzliche Einstellung dem Menschen und seinem »Schicksal« gegenüber. Als Bekräftigung der eigenen Sicht von Philosophie sind obige Zeilen gewiß zu lesen. Wird der Blick gewendet und nach einer Bezugnahme auf Rosenzweigs Stern der Erlösung gefragt, hat sicherlich Emmanuel Lévinas die treffendste Einschätzung formuliert: »Sein Einfluß auf die nicht-jüdischen Philosophen in Deutschland war vielleicht größer, als sie zugeben wollen. Sie zitieren ihn nie.« 9 Drückt er hier nicht ein generelles Phänomen aus, das sich in einer Betrachtung der Geschichte jüdisch-christlichen Dialogs innerhalb der Philosophie immer wieder zeigt? Die Überlegung, ob es eine spezifisch jüdische oder christliche Philosophie gibt, wäre vor diesem Hintergrund ebenso anzustellen wie jene, ob ein Diskurs philosophischen und religiösen Denkens möglich ist. Für die Frage, ob Heidegger den Stern der Erlösung gekannt und dessen Struktur Sein und Zeit zugrunde gelegt hat, scheint sich hieraus zunächst ein doppeltes Hindernis zu ergeben. Warum sollte er die Konzeption seiner ersten großangelegten systematischen Schrift am religiös inspirierten Werk eines jüdischen Denkers orientieren, dessen Zurkenntnisnahme in der Fachwelt trotz zweier famoser Rezensionen 10 eher verhalten gewesen zu sein scheint? 1929 verweist Freund spricht sogar von der »hohe[n] Genugtuung, die Rosenzweig erlebte, daß seine eigene philosophische Tat, das Sprachdenken, an Martin Heidegger inzwischen einen repräsentativen Vertreter gefunden hat.« Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs, S. 72. Rotenstreich formuliert 1967 eine Bewertung, deren Begründung allerdings ausblieb, Essays in Jewish Philosophy in the Modern Era, S. 167: »He formulated his ideas side by side with the trends of German philosophy, but not by way of keeping pace with these trends.« 9 Lévinas, »Zwischen zwei Welten« (Der Weg von Franz Rosenzweig), in: Schwierige Freiheit, S. 131. Mosès schreibt in System und Offenbarung, S. 225: »Außer einem kleinen Kreis von Bewunderern scheint niemand das Erscheinen des Sterns der Erlösung bemerkt zu haben. Bezeichnenderweise erwähnt Heidegger, dessen 1927 erschienenes Buch Sein und Zeit in mehreren Hauptthesen eine auffallende Verwandtschaft zum Stern erkennen läßt, Rosenzweigs Namen nie.« 10 Susmann, »Der Stern der Erlösung«, 1921 in der Zeitschrift Der Jude, und Gründler, Eine jüdisch-theologische Offenbarungsreligion, ebenfalls 1921 in Hochland. Wäre Susmanns Rezension des Sterns der Erlösung wie diejenige 1919 zu Blochs

11 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Hinführung

Walter Benjamin in seiner kleinen Notiz Bücher, die lebendig geblieben sind neben der Spätrömischen Kunstindustrie von Alois Biegl, Alfred Gotthold Meyers Eisenbauten und Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewegung auch auf den Stern der Erlösung als eines jener »große[n] Werke deutscher Wissenschaft. Auf gelehrte Bekenntnisschriften, deren Verborgenheit in den Fachbibliotheken nur eine besondere Spielart des Vergessenseins darstellt«. 11 Eine schöne Geste des Erinnerns, die jedoch die Notwendigkeit, aus der sie resultiert, umso deutlicher werden läßt. Es ließe sich darauf verweisen, daß sowohl Rosenzweig als auch Heidegger in Freiburg promovierten, ersterer 1912 bei Friedrich Meinecke, letzterer ein Jahr später bei Artur Schneider. Rosenzweig studierte bei Heinrich Rickert, dem Gutachter von Heideggers Habilitationsschrift und Briefpartner über gut zwanzig Jahre. Der Hinweis wäre möglich, daß Heidegger Sein und Zeit wahrscheinlich unter einem gewissen Zeitdruck konzipierte, 12 um sich damit als Nachfolger von Nicolai Hartmann »für das erste philosophische Ordinariat« in Marburg zu empfehlen. 13 Die Orientierung an einer Schrift, die thematisch und konzeptionell in Ansätzen das bot, was er selbst zu zeigen suchte, wäre naheliegend. Als stichhaltige Belege dafür, daß Heidegger Rosenzweigs Schrift bekannt war, reichen diese Andeutungen jedoch keinesfalls aus. 1963 gibt Heidegger in seinem Bericht Mein Weg in die Phänomenologie Auskunft über seine Lektüre und intellektuellen Einflüsse, die ihn in frühen Jahren prägten. Von Franz Rosenzweig ist dabei nicht die Rede. Was berechtigt also zu der These, daß er mit diesem Text nicht nur vertraut war, sondern daß er sein Geist der Utopie in der Frankfurter Zeitung erschienen, wäre ihr gewiß größere Aufmerksamkeit zuteil geworden. 11 Benjamin, Bücher, die lebendig geblieben sind, in: Gesammelte Schriften, III, S. 169. 12 Er selbst berichtet von einem Vorfall, der sich im Februar 1926 zutrug: »›Herr Kollege Heidegger – jetzt müssen Sie etwas veröffentlichen. Haben Sie ein geeignetes Manuskript?‹ Mit diesen Worten betrat der Dekan der Marburger philosophischen Fakultät eines Tages im WS 1925/26 mein Studierzimmer. ›Gewiß‹ antwortete ich. Worauf der Dekan entgegnete: ›Aber es muß rasch gedruckt werden‹.« Zur Sache des Denkens, S. 99. Dazu auch in Kisiel, The Genesis of Heideggers ›Being and Time‹, S. 481. 13 Zur Sache des Denkens, S. 99. »Vom Ministerium in Berlin war inzwischen der Vorschlag mit der Begründung zurückgegeben worden, daß ich seit Jahren nichts mehr veröffentlicht hatte. Nun galt es, langgehütete Arbeit der Öffentlichkeit zu übergeben.«, S. 99.

12 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Hinführung

Denken weit über die Publikation von Sein und Zeit hinaus geprägt hat? Es zeigt sich, daß die Struktur seines Werkes exakt derjenigen des Sterns der Erlösung entspricht. Dabei erweisen sich die heideggerschen Begriffe des »In-seins«, der »Sorge« und des »Ausstandes« als Konzeptualisierungen von Rosenzweigs Darstellung des Daseins, das sich in den Verwirklichungsmodifikationen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung zu denken gibt. Es wird aber auch sichtbar, daß Heidegger dem Werk Rosenzweigs weiterhin folgt, was speziell in den 30er Jahren zu einer Besonderheit führt, für die es keine Entsprechung in der Geschichte des philosophischen Denkens gibt. Denn in seinem zunehmenden Bestreben, einen philosophisch fundierten Weg zu finden, um die Identität des deutschen Volkes zu begründen, orientiert sich Heidegger mit fast erschreckender Präzision an Rosenzweigs Aussagen zum Wesen des jüdischen Volkes und deutet diese, wo es seiner Ansicht nach notwendig ist, radikal um. Es lassen sich zwei Phasen innerhalb Heideggers Auseinandersetzung mit Rosenzweigs Philosophie unterscheiden. In der ersten Phase, die mit der Publikation von Sein und Zeit abgeschlossen ist, liegt deren fortführende Bearbeitung vor. Nahezu akribisch verdichtet Heidegger die gedanklichen Vorgaben des Sterns der Erlösung zu jenen Konzepten, die er in seiner »Fundamentalanalyse des Daseins« zusammenfaßt. Dabei kann von einem Prozess der Formalisierung gesprochen werden, der durchaus als Entwicklung der rosenzweigschen Ausführungen zu verstehen ist. Formalisierung bedeutet auch das Freilegen zugrundeliegender Strukturen, in denen beide Werke, trotz scheinbar nicht zu überbrückender Differenz, übereinstimmen. Vielleicht ist es sogar gerechtfertigt, Heidegger ein unbeabsichtigtes Verdienst zuzusprechen. Denn durch seine Konzeptualisierung hat er dem Daseins-Verständnis Rosenzweigs zu nachhaltiger Wirkung verholfen – freilich ohne jemals deren Ursprung zu erwähnen. Die zweite Phase der heideggerschen Positionierung präsentiert sich in drastisch gewandelter Gestalt. Denn in den Jahren zwischen dem Erscheinen von Sein und Zeit und dem Schreiben der Beiträge zur Philosophie geht es nicht etwa um die Formalisierung von Rosenzweigs Begriff vom Volk, die als solche auch gar nicht möglich wäre, sondern um dessen entschiedene Widerlegung. Heidegger will nicht mehr die genuin religiöse Fundierung eines Textes im Sinne einer Struktur-Gültigkeit des philosophischen Denkens relativieren, sondern eben dieses Denken dazu nutzen, um Rosenzweigs Charakteri13 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Hinführung

sierung des jüdischen Volkes durch jene des deutschen Volkes zu überblenden. Auf diese Weise soll dessen seinsgeschichtlicher Auftrag Gegenstand philosophischer Verifizierung werden. Dieser Anspruch verweist das Denken in komplexer Weise unter das Wirkungsdiktat ideologischer Funktion. Philosophische Argumentation wird instrumentalisiert, um politisch doktrinären Zwecken zu dienen. Aufgeklärtheit der Vernunft und intellektuelle Redlichkeit, die stets ihr eigenes Korrektiv formulieren sollten, werden in diesem Sinne ad absurdum geführt. Die folgenden Überlegungen werden beide Phasen der Aneignung rosenzweigschen Denkens thematisieren. Dafür wird zunächst ein Vergleich des Sterns der Erlösung mit Sein und Zeit in drei Schritten erfolgen. Dieses Verfahren extrahiert aus einer inhaltlichen Gegenüberstellung beider Werke deren formale Elemente. 14 Anschließend wird die Entwicklung von Heideggers Denken bis zu den Beiträgen zur Philosophie rekonstruiert. In ihrer empathischen Rezension des Sterns der Erlösung charakterisiert Margarete Susmann 15 1921 die dort entworfene Sicht des Daseins. Mit einigen Zeilen hieraus sollen die Betrachtungen zu Martin Heideggers Adaption der Philosophie Franz Rosenzweigs eröffnet werden: »Nicht das eine denkbare All umgibt uns als unmittelbares: diese Gewißheit geht voraus. Bevor wir erkennen und denken, finden wir in uns und um uns Wirklichkeiten.« 16

Das bedeutet, daß in drei jeweils komprimierten Ansätzen beide Texte betrachtet werden. Jeder der Teile steht für sich, so daß es grundsätzlich möglich wäre, von Kapitel I. GEGENÜBERSTELLUNG direkt zu Kapitel IV. DIE KONTINUIERLICHE AUSEINANDERSETZUNG überzugehen. Gleichwohl bauen die Kapitel I. bis III. aufeinander auf und sind insofern unverzichtbar, um jene Abfolge der einzelnen Konzeptualisierungsschritte sichtbar zu machen, die schließlich in der tabellarischen Darstellung am Ende von Kapitel III. münden wird. 15 Susmann, tief im intellektuellen und künstlerischen Leben ihrer Zeit verwurzelt, stand in geistigem Austausch etwa mit Simmel und Lukács, Bloch und Kracauer und hinterließ eine beachtliche Anzahl von Arbeiten unterschiedlichen Umfangs zu Fragen der Kunst, Religion und Philosophie. Hier ist auf die Übersetzung von Bergsons Einführung in die Metaphysik ebenso zu verweisen wie auf die Tatsache, daß Susmann 1959 von der Freien Universität Berlin die Ehrendoktorwürde der Philosophie verliehen wurde. In der Frankfurter Zeitung erschien am 22. Dezember 1929 ihr Nachruf auf Franz Rosenzweig. 16 Susmann, »Der Stern der Erlösung«, S. 261. 14

14 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

I. Gegenüberstellung

I.I

Der Stern der Erlösung

I.I.1 All und Ganzes Zwei Metaphern der Wirklichkeit kontrastiert Rosenzweig in seinem Stern der Erlösung: Das »All«, dessen Konstruktion er vornehmlich den Theoretikern des Deutschen Idealismus zuschreibt, und das »Ganze«, dem sein eigenes Denken gilt. Beide Konzepte unterscheiden sich seiner Auffassung nach nicht nur radikal in der Art ihrer Entstehung, sondern auch in der Möglichkeit ihrer Erkenntnis, die ein jeweils eigenes kognitives Vermögen erfordert. Entscheidend für eine Gegenüberstellung, die beiden Aspekten Rechnung tragen soll, ist zunächst das Verständnis von Realität und die Frage, inwieweit diese in einer gedanklichen Form abgebildet werden kann. Denn diese Funktion kommt den Formulierungen All und Ganzes zu – sie dienen als komplexe Bezeichnungen des Seins, dessen Begriff hier als Synonym für jenen der Realität verwendet wird. Da Rosenzweig »Sein« nicht als abstrakten Terminus begreift, dem kein Reales zu korrespondieren braucht, sondern als Kennzeichnung des Seienden in der Faktizität seines Da-seins, muß seine Definition des Ganzen von einer Betrachtung des tatsächlich Seienden ausgehen. Dieses in seiner realen Vorhandenheit zu erfassen, wird die erste Voraussetzung einer Denkbarkeit von Wirklichkeit, die Rosenzweig »Welt« nennt. Daß er damit einen Ausdruck aufgreift, der vornehmlich in phänomenologischen Diskursen von zentraler Bedeutung ist, ist offensichtlich. Allerdings erweist sich die Entscheidung darüber, inwieweit Rosenzweig hiervon Kenntnis besaß, als schwierig. So gilt es zunächst, seine Theorie von Welt unabhängig von einer möglichen Prägung zu betrachten und die Besonderheit seines Seins-Verständnisses, die er mit diesem Begriff kenntlich machen will, zu erläutern. Sein ist die Verbindung von Seiendem, wobei der Akzent eindeutig auf dem Gedanken der Vielfalt des Tatsächlichen und der Möglichkeit 15 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Gegenüberstellung

seiner Relation liegt. Die Verwendung des Begriffes »Welt« impliziert den Anspruch, nicht nur zu bezeichnen, was ist, sondern auch zu bestimmen, welche Beziehung das, was ist, zueinander zeigt. Obwohl Rosenzweig selbst betont, daß es sich bei seinem Stern der Erlösung nicht um ein jüdisches, ja nicht einmal um ein religiöses Buch handele, 1 stehen seine Ausführungen doch in der Tradition religionsphilosophischer Diskussionen, wie sie spätestens seit Philo von Alexandrien ausgetragen werden, um unter anderem die Fragen des Entstehens der Welt und ihrer Erkennbarkeit als entstandene Welt zu beleuchten. In theologischer Perspektive konvergieren hierbei die Begriffe von Schöpfung und Glaube, in philosophischer Sicht jene von Kausalität und Wissen. Wenn Rosenzweig von »Welt« spricht, dann meint er damit einerseits ein Element jener Trias von Gott, Welt und Mensch, deren Zusammenwirken Schöpfung bedingt, andererseits aber auch das Ganze, das aus deren existentieller Verschränkung entsteht. Für ihn ist der Nachweis von entscheidender Bedeutung, daß es sich bei der Bildung von Welt im letzteren Sinne um einen Prozeß handelt, dessen Energie aus der Beschaffenheit seiner konstitutiven Elemente entspringt. Nach ihnen zu fragen, ist daher Grundlage allen Verstehens, das sich, wie später zu zeigen sein wird, in neuer Weise artikuliert. Warum wendet sich Rosenzweig nun gegen die Konzeption vom All, wie er sie vornehmlich mit Blick auf Hegels Deutung skizziert? Den ersten Teil seines Sterns der Erlösung leitet er mit seinen Überlegungen Über die Möglichkeit, das All zu erkennen ein. Mit der ihm eigenen hohen Suggestivkraft verbaler Kreativität, die mitunter eher an ein leidenschaftliches Pamphlet als an eine wissenschaftliche Abhandlung denken läßt, benennt er sofort jene dramatische Beschaffenheit der Existenz, deren Reflexion für sein weiteres Schreiben richtungweisend sein wird: »Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwerfen,

»Er [Der Stern der Erlösung] ist überhaupt kein ›jüdisches Buch‹, wenigstens nicht das, was sich die Käufer, die mir so böse waren, unter einem jüdischen Buch vorstellen; er behandelt zwar das Judentum, aber nicht ausführlicher als das Christentum, und kaum ausführlicher als den Islam. Er macht auch nicht etwa den Anspruch, eine Religionsphilosophie zu sein – wie könnte er das, wo das Wort Religion überhaupt nicht darin vorkommt! Sondern er ist bloß ein System der Philosophie.« Das neue Denken, in: Zweistromland, S. 140.

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Der Stern der Erlösung

dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philosophie.« 2 Ist Vergänglichkeit Wesensmerkmal des Menschen, so sieht dieser sich in der »Furcht des Todes« vielleicht zum ersten Mal diesem Faktum konfrontiert. Kein abgeklärtes Theoretisieren ist Folge dieser erschütternden Einsicht, sondern radikales Begreifen der eigenen Natur, die ein Individuum hier als ihm eigentümlich spürt. Ist damit ein bestimmtes Individuum in zutiefst emotionaler Verfassung in Erscheinung getreten, kann es sich, davon ist Rosenzweig überzeugt, in seiner sperrigen Vereinzelung nicht mehr dem alle Besonderheit nivellierenden Denken unterordnen lassen, wie es einer Vorstellung vom All seiner Auffassung nach zugrunde liegt. »Um das wißbare All hatte sich bisher alles philosophische Interesse bewegt; auch der Mensch hatte nur in seinem Verhältnis zu diesem All Gegenstand der Philosophie sein dürfen. Nun trat dieser wißbaren Welt selbständig ein andres gegenüber, der lebendige Mensch, dem All das jeder Allheit und Allgemeinheit spottende Eins […].« 3

Worin sieht Rosenzweig aber die Wißbarkeit des All garantiert, daß es so unmißverständlich eine Integration des Einzelnen ausschließt? In seiner philosophiehistorischen Rekonstruktion, die Züge eigenwilliger Auslegung niemals leugnet, bestimmt sich das Besondere immer nur als Verwirklichungsmoment einer umfassenden Idee. Diese ist dem Denken zugänglich, weil sie in abstrakter Form alles Einzelne subsumiert, jedoch nicht, um es in seiner eigenen Beschaffenheit zu werten. Das All ist nicht die Gesamtheit seiner Teile, sondern der Begriff, der zur Bezeichnung einer Konzeption von Allheit verwendet wird. Wißbar ist die stets gleich bleibende Vorstellung von Allheit, nicht die sich ständig wandelnde Vielfalt ihrer Bestandteile. »Worauf beruhte denn jene Allheit? Weshalb wurde denn die Welt nicht etwa als Vielheit gedeutet? Warum gerade als Allheit? Hier steckt offenbar eine Voraussetzung und wieder jene ersterwähnte: die der Denkbarkeit der Welt. Es ist die Einheit des Denkens, die hier gegen die Vielheit des Wissens ihr Recht durchsetzt in der Behauptung der Allheit der Welt.« 4

In religionsphilosophischen Diskursen der Vergangenheit haben sich nicht selten Vorbehalte dagegen gezeigt, Wirklichkeit als kontingent 2 3 4

Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 3. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 9. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 12.

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Gegenüberstellung

zu begreifen. Zu offensichtlich widerspricht eine solche Sicht, die Assoziationen an Zufälligkeit und Chaos, Unregelmäßigkeit und Unkalkulierbarkeit beinhalten kann, dem Glauben an das planvolle Wirken Gottes und die Vorsehung, die seine Schöpfung wie ein Muster willentlicher Prägung durchzieht. Und selbst in philosophischer Perspektive scheint sich die Annahme der Kontingenz schwerlich mit Wirkungsmechanismen wie der Kausalität oder dem Prägungsimpuls der Ideen vereinbaren zu lassen. Ein spontanes, nicht aus Notwendigkeit folgendes Entstehen von Einzelnem widerspricht dem Anspruch des Denkens wie auch des Glaubens, eine dem Menschen erkennbare Ordnung im Seienden voraussetzen zu können. Doch nicht nur mit Blick auf mögliche Organisationsstrukturen der Wirklichkeit wirft der Kontingenz-Gedanke Probleme auf, sondern auch in formaler Hinsicht. Wie kann Einzelnes denkbar sein? Wie können allgemeingültige Aussagen über Prozesse getroffen werden, in denen Individuen miteinander agieren? Genau darin bestand aber für lange Zeit die Erwartung an Philosophie – sie sollte Aussagen über Realität treffen, die unabhängig von ihrer sich wandelnden Beschaffenheit gelten. Um ein Beispiel heranzuziehen, das für Rosenzweig selbst von großer Bedeutung ist: Philosophie erklärte sich in ihrer zweitausendjährigen Geschichte dazu in der Lage, eine Definition des menschlichen Wesens zu schaffen, indem sie dieses in seiner Rationalität fixierte. Ein einziges Vermögen des Menschen wird aus der möglichen Vielfalt seiner Fähigkeiten isoliert und zum Repräsentanten seiner Natur erhoben. So positiv dieser Schritt etwa für die Formulierung allgemein verbindlicher Handlungsanweisungen für eine menschliche Gemeinschaft sein mag, ist dieser Vorzug doch mit einem hohen Einsatz bezahlt. Denn all das, was nicht als rational bewertet werden kann, gleichwohl einen Menschen ausmacht, gerät unter den Verdacht der Non-Konformität. Emotionale Impulsivität, Affektivität, Sinnlichkeit und Phantasie, solche Eigenschaften, die einen Menschen unverwechselbar individuieren, wurden auf diese Weise als problematisch deklariert. Denn sie lassen sich nicht denken, jedenfalls nicht im Augenblick ihrer Aktualisierung. Was sich unweigerlich wie eine Replik der foucaultschen Rationalitätskritik liest, klingt in der Begrifflichkeit Rosenzweigs freilich im ersten Moment anders. »Der Punkt war das eigene, Sören Kierkegardsche oder sonst irgendwie mit Vor- und Zunamen gezeichnete, Bewußtsein der eigenen Sünde und eigenen Erlösung, das einer Auflösung in den Kosmos weder bedürftig noch

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Der Stern der Erlösung

zugänglich war; nicht zugänglich: denn mochte auch alles an ihm ins Allgemeine zu übersetzen sein, – die Behaftetheit mit Vor- und Zunamen, das Eigene im strengsten und engsten Sinn des Worts blieb übrig, und gerade auf dies Eigene kam es, wie die Träger solcher Erfahrungen behaupteten, an.« 5

Der Schauplatz, den Rosenzweig hier wählt, scheint rein theologischer Natur zu sein. Warum sollte sich eine philosophische Theorie über den Menschen darum kümmern, ob dessen Erlösungshoffnung in befriedigendem Maße berücksichtigt wurde. Doch der Eindruck täuscht. Es ist das Feld existenzphilosophischer Argumentation und Allheits-Kritik, auf das sich Rosenzweig begibt. Die Auswahl der Repräsentanten eines solchen Denkens bedarf keines Kommentares: Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche. Sie alle nimmt Rosenzweig als Zeugen jener tiefgreifenden Zäsur innerhalb des philosophischen Denkens in Anspruch, die sich im 19. Jahrhundert abzeichnet, nicht unvorbereitet, aber unübersehbar. Es bedarf nicht erst des Selbstbewußtseins des modernen Individuums, um den Bruch mit der tradierten Vorstellung einer denkbaren Allheit hervorzurufen. Doch mit den Stimmen, die Rosenzweig hier zitiert, wird es unmöglich, diesen noch länger aus dem philosophischen Diskurs auszuklammern. Das Plädoyer für ein Zulassen des KontingenzGedankens mag auch im naturwissenschaftlichen Kontext vorbereitet werden, der allerdings im Stern der Erlösung kaum relevant ist. Rosenzweig folgt der Spur, aus dem Selbsterleben eines einzelnen Menschen die perspektivische Exklusivität, die er immer wieder im Systemdenken des Deutschen Idealismus verortet, aufzubrechen. »Ein solches Heraustreten dessen, was man mehr oder weniger deutlich als persönliches Leben, Persönlichkeit, Individualität bezeichnet […] aus dem Bereich des Weltwissens kann auch an diesem selbst nicht spurlos vorübergehen. Mit dieser Befestigung einer, man möchte sagen, unverdaulichen Tatsächlichkeit außerhalb der großen geistig bewältigten Tatsachenfülle der wißbaren Welt ist ein, ja der Grundbegriff dieser Welt entthront. Sie beanspruchte, das All zu sein; […].« 6

Verschiedene Terminologien haben sich bisher durchkreuzt. So war von Allheit und Vielfalt die Rede, von Ordnung und Kontingenz, und nun tauchen die Begriffe »Tatsächlichkeit« und »Tatsachenfülle« auf.

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Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 7 f. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 12.

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Gegenüberstellung

Für Rosenzweig ist es immer ein und dieselbe Frage, bei deren Artikulation er unterschiedliche argumentative Kontexte streift: Ist Welt in ihrer Gesamtheit erfahrbar? »Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an.« Rosenzweig formuliert die Antwort in den vielleicht meistzitierten Worten seines Textes. Ein Erkennen des All – nicht im Sinne des Idealismus – ist möglich, basierend auf einer Erfahrung. Dieses Fundament, das persönlicher nicht sein könnte, will Rosenzweig jedoch nicht im Vollzuge abstrahierender Erkenntnis preisgeben, denn gerade darin sah er das dramatische Versagen der Philosophie. »[Sie] lächelt zu all dieser Not ihr leeres Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger das Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Diesseits schlottern, auf ein Jenseits hin, von dem es gar nichts wissen will.« 7 Liegt in dieser Erfahrung eines Menschen seine erste bewußte Konfrontation mit der Beschaffenheit seines Daseins, so würde Erkenntnis, die von dieser Grundlage abstrahiert, damit zugleich den Menschen, von dessen Erfahrung sie abstrahiert, aus dem Blick verlieren. Deshalb ist es für Rosenzweig so wichtig, eben diesen besonderen Menschen zu fokussieren, denn er ist Ausgangspunkt und Empfänger philosophischer Reflexion. Wenn Rosenzweig in dem Bild des Heraustretens eines Individuums aus dem All dessen Vereinzelung betont, wird es zugleich deutlich, daß es nicht mehr in der Weise »wißbar« sein kann, wie sie für die Erkenntnis des Alls in idealistischer Sicht gilt. Wißbarkeit heißt hier Denkbarkeit, ein Erfassen der Wesensstruktur. Für Rosenzweig schließen sich zwei Formen von Vergegenwärtigung aus – das Einzelne ist ebenso wenig denkbar, wie das Allgemeine erfahrbar ist. Wenn er von dem wißbaren All spricht, handelt es sich um einen Begriff von Gesamtheit unter Ausschluß des Einzelnen, sei es personeller oder dinglicher Natur. Diese erscheinen in ihrer jeweils differenten »Tatsächlichkeit«, wohingegen ihre hypothetische Gesamtheit mit dem Begriff der »Tatsachenfülle« bezeichnet wird. Die terminlogische Trennung zwischen Wissen und Denken scheint hier sekundär zu sein. An anderer Stelle wird sie eingesetzt, um die kognitive Zugänglichkeit zu Allheit und Vielfalt zu signalisieren: »Es ist die Einheit des Denkens, die hier gegen die Vielheit des Wissens ihr Recht durchsetzt in der Behauptung der Allheit der Welt.« 8 7 8

Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 3. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 12.

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Der Stern der Erlösung

Mag auch die Variabilität der Begriffe verwundern, so ist Rosenzweigs Differenzierung der Organisationsmechanismen von All und Ganzem eindeutig. In der Vorstellung vom All fügt sich alles Einzelne einem ordnenden Einfluß, sowohl in der Perspektive seines Entstehens als auch seiner Erkennbarkeit. Die Idee Platons oder der Weltgeist Hegels dienen Rosenzweig als Beispiele eines solchen Umfassens des Vielen durch ein Prinzip, das dem Vielen nicht essentiell zugehört, sondern es gleichsam von außen prägt. In einem solchen Verständnis sieht er den Verlust der Besonderheit und individuellen Werthaftigkeit des Einzelnen begründet, gegen den er mit seinem Bild der Wirklichkeit als Ganzes argumentieren will. Dieses reagiert nicht auf einen externen Impuls, sondern organisiert sich selbst im zufälligen Entwicklungsprozeß gegenseitiger Einflußnahme der Individuen und Dinge in ihrer nicht reduzierbaren Tatsächlichkeit. 9 Daß Rosenzweig die interne Dynamik innerhalb der Welt akzentuieren will, wirkt einleuchtend. Einzelnes wirkt auf Einzelnes und konstituiert ein Konstrukt von momenthaften Realitäten. Wie kann er dann aber verhindern, daß diese permanente Prozeßhaftigkeit als ewig unabgeschlossen gedacht wird? Das Ganze ist nicht deshalb ganz, weil seine innere Bewegtheit jemals enden würde, sondern weil seine Elemente – Gott, Welt und Mensch – es zur Gänze durchwirken. Werden diese drei Elemente Gegenstand des Wissens in der Weise, wie Rosenzweig es versteht, sind die Voraussetzungen des wahren Begreifens der Wirklichkeit gegeben. Wie sich später zeigen wird, setzt hier die besondere Bedeutung des Begriffes vom »Erschließen« an, der seinerseits bedingt, was Wahrheit ist. Doch zunächst soll der Blick noch einmal auf die Stimmigkeit von Rosenzweigs Zurückweisung der idealistischen Allheits-Konzeption gelenkt werden. Es ist verständlich, daß er sie ablehnt, um die Besonderheit und existentielle Wertigkeit des Individuums hervorzuheben. Dieses will er nicht bloß als Exemplar einer Idee sehen, sondern als Wesen eigenständiger Entfaltungsmöglichkeiten, deren Aktualisierungsspielraum nicht durch eine extern wirkende strukturgebende Instanz determiniert wird. Mit diesem Ziel folgt er zweifellos den existenzphilosophischen Intentionen, die er im Werk von Kierkegaard und Schopenhauer vorgezeichnet fand. Wird Der Stern der Er»So ist diese Welt das entschiedene Gegenbild zur Welt des Idealismus. Für diesen ist die Welt nicht wunderbare Tatsächlichkeit, also nicht geschlossenes Ganzes.« Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 54.

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Gegenüberstellung

lösung auch als unmittelbare Reaktion auf die Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges gelesen, die in ihrer bis dahin ungekannten Dimension Rosenzweig wie so viele seiner Generation erschütterten, ist sein unbedingter Wille spürbar, eine Philosophie für diejenigen zu begründen, die »die Furcht des Todes« zu ertragen haben. Diese extreme Erfahrung veranlaßt ihn aber nicht dazu, das Dasein insgesamt für sinnlos zu erklären und der Vernunft sowie dem Wert der Menschlichkeit eine generelle Absage zu erteilen. Die Gewißheit der Endlichkeit menschlichen Seins ist Voraussetzung und Gegenstand seines Denkens. Auch darf seine Kritik an idealistischen Philosophien nicht zu dem Schluß führen, er würde die Möglichkeit einer systematischen Darstellung der Welt-konstituierenden Elemente ablehnen. Im Gegenteil: Er selbst begreift seine Theorien als Ausdruck von Systematik. Wie sich bereits angedeutet hatte, liegt deren Begründung nicht in einem Verfahren der Abstraktion von Erfahrenem, sondern in dessen additiver Darstellung. In seinem Verständnis ist ein System keine formale Weise, Sein als Abstractum zu bezeichnen, sondern das entscheidende Merkmal von Seiendem – seine Dynamik. Wird diese Kennzeichnung auf die ihr zugrundeliegende Struktur befragt, ist es möglich und erforderlich, die Zeitlichkeit des Seins zu thematisieren. Die Notwendigkeit, diese zu denken, entsteht für Rosenzweig mit Blick auf den Schöpfungsbegriff der Thora. Tief im Glauben und in der Sprachlichkeit der Religion verwurzelt, steht seine Interpretation der Zeitlichkeit des Daseins vor einer nicht unerheblichen Schwierigkeit.

I.I.2 Schöpfung und Erschaffung Müßte er nicht, wenn er der absoluten Schöpfungspotenz Gottes Ausdruck geben will, letztlich genau jene Vorstellung einer Allheit des Seienden akzeptieren, die er so vehement zurückweist? Ist göttliche Erschaffung der Welt nicht jener externe Impuls, dessen Wirksamkeit er zuvor bestritten hatte? Und grenzt nicht die Vorsehung Gottes das spontane und dynamische Agieren des Geschaffenen spürbar ein? Ohne hier der Tiefe des Schöpfungsgedankens Rosenzweigs auch nur ansatzweise gerecht werden zu können, gilt es zu fragen, was Geschaffensein für sein Verständnis der Welt bedeutet. Ist sie vollendet, keiner Entwicklung bedürftig, ein mit dem göttlichen 22 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Der Stern der Erlösung

Wort, »[…] daß es gut ist« 10 kommentiertes Werk? Ganz gewiß nicht. Schöpfung bedeutet nicht Hervorbringung und Abschluß eines Geschaffenen, das in seiner inneren Beschaffenheit keine wesentlichen Modifikationen mehr zuläßt. Die Welt ist, weil sie geworden ist. Sie wird, weil sie geschaffen ist. Rosenzweig spricht von Schöpfung nicht etwa, um die göttliche Tat zu bezeichnen, sondern um die Voraussetzung dafür benennen zu können, daß das Seiende sich als eines Geschaffenen bewußt wird. »Das aber bedeutet das Geschaffenwerden. Erst der Gedanke der Schöpfung reißt die Welt aus ihrer elementaren Abgeschlossenheit und Unbewegtheit in den Strom des Alls hinein, öffnet ihre bisher ins Innere gekehrten Augen nach außen, macht ihr Geheimnis offenbar.« 11

Schöpfung und Hervorbringung betrachtet Rosenzweig nicht als identische Akte, die in dem erstmaligen Erscheinen einer als Welt zu begreifenden Seins-Fülle enden. Wenn es überhaupt möglich ist, hier eine zeitliche Abfolge zu denken, so geht das Erschaffen der Welt ihrer Schöpfung voraus – unvorstellbar, wird nicht die Verweisung von Gott, Welt und Mensch aufeinander berücksichtigt, deren Darstellung die Einleitung des Sterns der Erlösung bildet. Eine materielle Erzeugung von Seiendem kann erst in jenem Augenblick als Schöpfung bezeichnet werden, in dem ein erfahrender Mensch diese als seinen Existenz-Raum begreift. »Es scheint ja zunächst paradox, ein Geschaffensein der Welt noch ›nach‹ ihrem Fertigwerden als Gestalt zu behaupten« 12, konstatiert Rosenzweig selbst und signalisiert damit die Besonderheit seines Gedankens. Denn in dieser Perspektive liegt das Wirken Gottes nicht in der Vergangenheit, insofern es absolute Voraussetzung des Welt-Seins wäre. Vielmehr realisiert sich dieses in einer zeitlichen Dimension, die als existentielle Gegenwart charakterisiert werden kann, da Welt nicht ist, wenn sie nicht im aktuellen Vollzug verwirklicht würde. Damit Schöpfung stattfinden kann, bedarf es des permanenten Wirkens in der Welt, dessen Urheber der Mensch ist. Jener Mensch freilich, der sich des Faktums bewußt ist, daß er nicht alleiniger Grund aller Veränderungen in der Welt ist, sondern wirkt, indem er Gottes Wirken fortführt. Die Frage, ob er sich damit in einem determinierten Aktionsradius bewegt oder selbst

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Genesis 1,11. Der Stern der Erlösung, II,I, S. 131. Der Stern der Erlösung, II,I, S. 131.

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Gegenüberstellung

ein Mindestmaß an kreativer Potenz entfalten kann, ist für Rosenzweig letztlich von sekundärer Bedeutung. Es ist stets das erzeugte Seiende, an dem sich Veränderung zeigt, und derjenige, der diese initiiert, steht immer schon in der Gefolgschaft Gottes. Seit jeher sind Überlegungen dieser Art Gegenstand religionsphilosophischer Diskurse gewesen. Dabei durchkreuzten sich unterschiedliche Argumentationsinteressen. Auf der einen Seite schien die Annahme einer von göttlicher Vorsehung durchzogenen Schöpfung die Möglichkeit spontanen Handelns des Menschen zu erschweren. Die philosophische Forderung nach dessen Freiheit des Willens wurde bezweifelbar, da sich menschliches Agieren keiner anderen Bedingung als individueller Entscheidung verdanken sollte. Auf der anderen Seite barg der Glaube an ein fortgesetztes Wirken Gottes auch nach der Schöpfung die Gefahr, ihn damit als Urheber auch des Übels in der Welt zu verstehen. Eine deutliche Zäsur zwischen Erschaffung der Welt und menschlicher Eigenkausalität in ihr gewann nicht zu unterschätzende Attraktivität. Während diese beiden Überlegungen eher dem ethischen Kontext entspringen, indem sie nach Voraussetzungen des Handelns und seinen Folgen fragen, zeigen Rosenzweigs Aussagen zum Begriff der Schöpfung eine ontologische Prägung. Wie anders sollten sich folgende Zeilen erklären? »So tritt am Schluß hier in helles Licht, wovon wir ausgingen: der Schöpfungsbegriff, die Idee des Seins von Anfang, die in der Vorstellung des Geschaffenseins ›im Anfang‹ steckt. Die Welt ist vor allem, so lernen wir hier, da. Einfach da. Dies Sein der Welt ist ihr Schon-da-sein – […].« 13

Hier steht nicht die Welt als Handlungsraum des Menschen zur Diskussion, sondern Welt in ihrer ontischen Gegebenheit. In dieser noch unberührten Faktizität zieht sie den Blick des Fragenden auf sich, 14 nicht als Stätte ethischen Geschehens, sondern als Erscheinung an sich. Zu diesem Zeitpunkt will Rosenzweig sie in ihrer essentiellen Unbewegtheit beleuchten, die es unmöglich macht, nach dem Wesen der Welt zu fragen, denn jede Aussage, die über ihre Beschaffenheit getroffen werden könnte, würde im Sog ihrer existentiellen Indifferenz nichtig. In ihrer phänomenalen Präsenz vereitelt sie Aussagen Der Stern der Erlösung, II,I, S. 146. De Cavalho in Fichte, Heidegger and the concept of facticity, S. 223, weist auf die Parallelität des Begriffes der Faktizität in Fichtes Wissenschaftslehre und im Denken Heideggers hin. Ein vergleichbarer Bezug könnte zur Vorstellung von Faktizität bei Rosenzweig hergestellt werden.

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Der Stern der Erlösung

über ihr Wesen und läßt als einzige Feststellung jene ihres Seins zu. Rosenzweigs Terminus des »Schon-da-seins« ist der Versuch, in radikaler Konzentration einen Begriff von Welt zu bilden, der sie im Status ihres reinen Bestehens denkbar werden läßt – als indifferentes Sein vor jener Spezifikation in unterscheidbares Seiendes, das menschlicher Erfahrung zugänglich ist. Hier von Denkbarkeit zu sprechen, führt fast schon zu weit, solange deren Charakteristikum im Sinne Rosenzweigs noch nicht thematisiert wurde. Denn es geht ja gerade nicht nur um eine wissentliche Annäherung an ein Phänomen. Auf welchem Wege gründet sich also jene Gewißheit, die den Menschen von »Welt« sprechen läßt, noch bevor er sie erst eigentlich hat erleben können? Es ist der Weg, erfahrend zu glauben. Glaube erscheint als einmütiges Testat der Faktizität des »Da«, zugleich aber auch als Affirmation des Bestehens, als unbezweifelbare Sicherheit des Seins. Ein Glaube, der nicht aus der Erfahrung der Welt in der konkreten Fülle ihrer Gegebenheiten entspringt, wäre für Rosenzweig eine leere Spekulation. Er richtet seine gesamte Aufmerksamkeit auf jene Prozesse, in denen der Mensch Schöpfung erfährt, nicht nur als spirituelles Erlebnis, sondern als Akt der eigenen Situierung in der Welt. Denn diese ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, die bereits aus dem Akt der Schöpfung folgen würde. Hier greift noch einmal die Unterscheidung zwischen Hervorbringung und Schöpfung. Erstere bewirkt, daß überhaupt etwas da ist, letztere schöpft aus diesem Schon-da-seienden die Möglichkeiten differenzierender Gestaltung. Rosenzweig selbst spricht von der »elementaren Abgeschlossenheit und Unbewegtheit« einer erst hervorgebrachten Welt. Diese ist gewirkt, aber nicht wirkend. Erst in jenem Augenblick, in dem diese ontische Starre durch das Agieren und Reflektieren des Menschen aufgebrochen wird, ist von Schöpfung die Rede, die nicht alleiniges Werk Gottes ist, sondern aus der tätigen Inanspruchnahme der Welt durch den Menschen resultiert. Mit diesem Gedanken einer menschlichen Aneignung der Welt will Rosenzweig nicht primär auf eine Haltung des Gläubigen verweisen, wie sie in mystischer Versenkung oder Momenten der Kontemplation ihren Ausdruck finden könnte. Derartige Wege, Schöpfung zu erleben, würden diese letztlich in jenem Aspekt der Abgeschlossenheit fokussieren, den Rosenzweig öffnen will. Schon einmal hat es in der Geschichte des existentiellen Denkens einen vergleichbaren Anspruch gegeben. Obwohl Søren Kierkegaards Haltung des Glaubens deutlich konservative Elemente beinhaltet, attestiert selbst er dem 25 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Gegenüberstellung

Mystiker einen grundsätzlichen Irrtum, wenn er meint, sich um der Erfahrung des Göttlichen willen von der menschlichen Gemeinschaft separieren zu müssen. 15 Dabei verfolgt Kierkegaard explizit das Ziel, Bedingungen und Möglichkeiten ethischen Verhaltens in der Gesellschaft zu reflektieren. Die Welt in ihrer dinghaften Präsenz ist für ihn nur von nachgeordnetem Interesse. Anders für Franz Rosenzweig. Will er zeigen, daß der Mensch durch sein Tun in der Welt Schöpfung realisiert, muß er sein Augenmerk darauf richten, was es heißt, in der Welt zu sein. 16 Damit wird es notwendig, zu klären, was Welt ist und was es bedeutet, wenn der Mensch in der Welt wirkt. »Die Welt ist ganz gegenständlich, alles Tun in ihr, alles ›Machen‹, ist, da es in ihr ist, Geschehen; der Vorgang ist mindestens der Grund der Wirklichkeit, in dem auch das Tun gegründet ist. So ist selbst das Geschehen in ihr dinglich, fügt sich dem Grundbegriff, unter dem sich die Gegenständlichkeit der Welt überhaupt verwirklicht, eben der Dinglichkeit.« 17

Ist es wirklich legitim, den Begriff der »Dinglichkeit«, den Rosenzweig hier zur Charakterisierung der Welt nutzt, als Signatur materieller Besonderheit zu lesen? Seine Verbindung mit jenem der »Gegenständlichkeit« spricht dafür. In philosophischer Perspektive ist es nicht ungewöhnlich, Betrachtungen über das Ding anzustellen und es dabei beispielsweise als einzelne Verwirklichung einer Idee oder Exemplar einer Klasse von Gegenständen oder Gattung von Lebewesen zu sehen. Und spätestens seit dem Aufkommen phänomenologischer Betrachtung wird dem Status der Dinge eine spezielle Beachtung geschenkt. Es ist in der Forschung unklar, ob Rosenzweig diese zur Kenntnis genommen hat. Wenige Erwähnungen des Begriffes der Erscheinung im Stern der Erlösung reichen gewiß nicht aus, um hier einen eindeutigen Bezug feststellen zu wollen. Unabhängig davon, wie eine Entscheidung über eine eventuelle Rezeption ausfallen mag, ist das wirklich erstaunliche Faktum Rosenzweigs Thematisierung der Dinglichkeit im Rahmen seiner Deutung des Schöpfungsbegriffes.

»Endlich mißfällt das Leben des Mystikers mir, weil ich es für einen Betrug an der Welt halte, in der er lebt, einen Betrug an den Menschen, mit denen er verbunden ist oder zu denen er in Beziehung treten könnte, wenn es ihm nicht gefallen hätte, Mystiker zu werden.« Kierkegaard, Entweder – Oder, II,II, S. 808. 16 Kartheininger, Das existentielle Ich und die Frage nach der Ontologie, S. 496: »Es geht je darum, Mensch und Welt als aufeinander bezogen zu denken – aber ohne daß sich beide in einer Einheit auflösen.« 17 Der Stern der Erlösung, II,I, S. 147 f. 15

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Der Stern der Erlösung

Ein Blick zurück führt noch einmal zu seiner Differenzierung von All und Ganzem als Definitionen von Wirklichkeit. In diesem Kontext hatte er auch zwischen Tatsachenfülle und Tatsächlichkeit unterschieden und damit den Gedanken des Seienden artikuliert, das in unüberschaubarer Zahl Welt konstituiert. Hier hatte er großen Wert auf die Feststellung gelegt, daß die Tatsächlichkeit des Seienden sich keiner abstrakten Idee subsumieren läßt, die es ein für allemal strukturiert. »Sie [die Welt] ist, im Gegensatz zu der allerfüllenden Welt des Idealismus, die ganz erfüllte, die gestaltete Welt. Sie ist das Ganze ihrer Teile. Die Teile sind nicht erfüllt vom Ganzen, nicht getragen von ihm, – das Ganze ist eben nicht All, es ist wirklich bloß Ganzes. Deshalb führen auch viele Wege von den Teilen zum Ganzen, […].« 18

Unter Berücksichtigung der Dinglichkeit der Welt, die Rosenzweig nun betont, kann eine Antwort auf die Frage erwogen werden, welche »Wege« es sein mögen, die hier genannt werden. Wege der Abstraktion scheiden aus, da diese den Grundirrtum des Idealismus, so wie Rosenzweig ihn zumindest konstruiert, wiederholen würden. Im Einzelnen einen ideellen Plan zu erkennen, dessen Repräsentation es ist, würde es seiner Besonderheit berauben. Indem Rosenzweig den Teilen der Welt einen ordnenden Impuls, der selbst nicht Teil sein kann, abspricht, akzentuiert er jenes Merkmal, das idealistisch nicht mehr haltbar war – ihre essentielle Unbestimmtheit. Die Teile verfügen über ein je besonderes Entwicklungspotential, dessen Verwirklichung nicht von äußerer Ursache initiiert werden soll. Die Teile konstituieren in spontaner Dynamik die Möglichkeit einer Vorstellung vom Ganzen. Dieses ist niemals als ein an sich Bestehendes zu fassen, sondern immer als die momentane Erscheinung der Bewegung seiner Teile. In dieser momenthaften Konstituierung wird Erscheinung als Ganze erfahrbar. Mit einem Vergleich zur Kunst illustriert Rosenzweig diese Sicht: »[…] so gibt die Welt als Gestalt das zweite Grundgesetz aller Kunst, die Geschlossenheit in sich selbst, den durchgängigen Zusammenhang jedes Teils mit dem Ganzen, jeder Einzelheit auch mit allen andern Einzelheiten; ein Zusammenhang, der sich nicht irgendwie logisch auf eine Einheit bringen läßt und der durchaus einheitlich ist; […].« 19

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Der Stern der Erlösung, I,II, S. 56. Der Stern der Erlösung, I,II, S. 65 f.

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Gegenüberstellung

Dieses »Gesetz der inneren Form«, 20 wie er es nennt, signalisiert, daß sich die Teile im Ganzen nicht etwa unstrukturiert bewegen und aufeinander beziehen, sondern daß sie einem internen Schema folgen, das aus der Natur der Teile selbst stammt. Liegt in ihnen die Potenz zur Gestaltung der Wirklichkeit, ist es verständlich, daß Rosenzweig der Betrachtung dieser Teile, die das Ganze schaffen, so große Aufmerksamkeit schenkt. Nun könnte der Eindruck entstehen, daß es sich um zwei unterschiedliche Argumentationskontexte handelt, wenn er von den Teilen des Ganzen und von der Dinglichkeit der Welt spricht. Dieser Eindruck bestätigt sich. Die Aussagen zum Teil und dem Ganzen entstammen dem ersten Kapitel im Stern der Erlösung, in dem Rosenzweig formale Aspekte der Erfahrung von Wirklichkeit skizziert. Die Erörterung der Dinglichkeit wird im Zusammenhang mit der Auslegung des Schöpfungsgedankens relevant. Geht man davon aus, daß beide Perspektiven im Aufbau des Textes eine vergleichbare Funktion erfüllen, können sie als einander entsprechend betrachtet werden. Auf Rosenzweigs Darstellung der Methode, mit der der Mensch nach der Wirklichkeit fragt, wird an späterer Stelle einzugehen sein. Mit der Formulierung der »inneren Form« verweist Rosenzweig eindeutig auf die Besonderheit seiner Vorstellung von der Welt als dem Ganzen. Denn es ist philosophiegeschichtlich keineswegs selbstverständlich, Form als inneres Prinzip zu verstehen. Das Beispiel der Kunst ist hier aufschlußreich, könnte doch der Künstler als der externe Formgeber wirken, der den ihm zur Verfügung stehenden Stoff willentlich und planvoll gestaltet. Gerade diese Sicht teilt Rosenzweig nicht. Das Werk entsteht aus der Summe seiner Möglichkeiten, die kenntnisreich genutzt werden, nicht nur aus dem Geist des Schöpfers. In welcher Weise ein Stoff geformt werden kann, hängt vor allem von den Möglichkeiten ab, die ihm eigen sind. Allerdings könnte hier eine Schwierigkeit entstehen, wenn in diesem Bild zwischen Innerem und Äußerem, Möglichkeiten des Materials und formgebendem Willen unterschieden wird. Wie sollte sich der Stoff zu einem Werk entfalten, wenn es keine gestaltende Einwirkung von außen gäbe? Rosenzweig greift dieser Frage vor, indem er Gestaltendes und Gestaltetes innerhalb eines einzigen Konzeptes von Wirklichkeit verortet. Nochmals kommt der Begriff des Ganzen in Erinnerung. So wie dieses wesentlich homogen, aber nicht ununterscheidbar erscheint, zeigt 20

Der Stern der Erlösung, I,II, S. 66.

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sich Wirklichkeit im Modus der Tatsächlichkeit als in sich geschlossenes Gesamtgefüge. Rosenzweig legt keinen Wert darauf, an dieser Stelle Assoziationen an monistische Weltbilder zu wecken und arbeitet auffallend zurückhaltend mit dem Begriff der Transzendenz. Wollte man auf der Verwendung dieser Terminologie bestehen, so würde sich zeigen, daß die Annahme von Transzendenz als außerweltlicher Entität unnötig ist. Denn alles, was als extern gedacht wird, verliert seine unmittelbare Möglichkeit, zu wirken, da Wirkung nur im Wandelbaren des tatsächlich Seienden möglich ist. »Im Innern unendlich reich, ein buntbestrahlter, überwältigender Wassersturz, der sich, immer erneut, immer wieder klärt und beruhigt in den stillen Tiefen, die ihn sammeln, ist diese Welt nach außen kraftlos und arm. […] Mag da ein Gott sein, – solang er draußen bleibt und nicht Teil von ihr selber wird, solang ist dies sein Dasein ihrem Makrokosmos unsichtbar.« 21

Wenn Rosenzweig hier von dem »nach außen« spricht, dann heißt es nicht, daß es ein Außen der Welt tatsächlich gäbe, sondern daß sie »kraftlos und arm« erscheinen müßte, würde man sie von »außen« betrachten. Entscheidend ist in seinen Worten zweierlei: Die Charakterisierung der Welt und die Positionierung Gottes in der Schöpfung. Welt-Sein wird in permanenten Erneuerungsphasen gezeigt, aus denen es modifiziert, aber nicht grundsätzlich neu hervorgeht. Wiederum gilt es nach dem dynamischen Impuls zu fragen, der diese Prozesse initiiert. Rosenzweig antwortet, indem er auf Gott verweist, zugleich aber deutlich macht, daß dieser selbst Teil seiner Schöpfung ist. Als externe Ursache, als transzendentes Sein, würde sein Wirken dem Menschen unzugänglich bleiben. Denn dieses ist eben nicht nur im Bestand von Seiendem erkennbar, das dem Menschen nach einem abgeschlossenen Akt der Erschaffung übergeben wird, sondern in dessen fortgesetzter Entfaltung. Damit diese möglich ist, bedarf es des Seienden in der Doppelstruktur von gestaltender und gestalteter Potenz, gerade so, wie es Rosenzweig mit dem Vergleich zur Kunst illustriert hatte. Zum Seienden zählt aber nicht nur Dingliches, sondern natürlich auch der Mensch, dessen Bedeutung im Prozeß der Erneuerung von Wirklichkeit parallel zur göttlichen Wirkmacht beschrieben wird: »Mag da ein Mensch sein, – solang er nur Maßstab sein kann, der sich von außen an sie [die Welt] legt, und nicht bewe-

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Der Stern der Erlösung, I,II, S. 66.

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Gegenüberstellung

gende Kraft in ihr, solange ist ihr Mikrokosmos gegen dieses Da-sein taub.« 22 Die einzige qualitative Differenzierung zwischen Gott und Mensch in diesen ansonsten bemerkenswert analogen Formulierungen liegt in den Begriffen Dasein und Da-sein. Göttliches Sein ist Faktizität, komplexe Fülle, Unbedingtheit. Diversifiziert diese sich, wird aus dem unbedingten Sein das einander bedingende Seiende, von Rosenzweig meisterlich durch jenen Bindestrich angezeigt, der Faktizität und Tatsächlichkeit aufeinander verweist. Was wie stilistische Extravaganz wirken mag, erweist sich als eine graphische Signatur mit bedeutsamem Signalcharakter. Der Strich, der zwei Wörter oder auch an anderer Stelle Wortteile zunächst separiert, um sie dann wieder aneinander zu binden, kommt in Rosenzweigs Texten immer dann zum Einsatz, wenn Bewegtheit und Relation zu kennzeichnen sind. So ist es völlig einleuchtend, daß er mit Blick auf göttliche Präsenz von Dasein spricht, da es hier keinerlei Entfaltungsspontaneität zu berücksichtigen gilt. 23 Für das menschliche Wirken bedeutet diese Präsenz die Voraussetzung, ohne die weder Handeln noch Denken möglich wäre, ohne die aber wiederum Dasein veränderungsloses Sein bliebe. Auf dem Fundament dieses »Da« gründet sich das Sein der Welt als umfassende Interaktion von Gott und Mensch, die mit der Signatur des »-« versehen und nun als »Da-sein« lesbar wird. Doch dessen Thematisierung wäre unvollständig, würde sie nicht noch das dritte »Element« benennen, das zu seiner Gestaltung erforderlich ist: die Welt. Es ist interessant, daß Rosenzweig nicht etwa Gott und Mensch zu konstituierenden Faktoren der Welt erklärt, sondern in allen drei jene in gleicher Weise unverzichtbaren Elemente der Wirklichkeit sieht. Welt ist der Ort des Da-Seins, nicht nur als materielle Voraussetzung, sondern als selbst modifizierender Bestandteil der Realität. Und wie sich bereits angedeutet hatte, ist diese Realität, die sich im gemeinsamen Aktionsradius von Gott, Welt und Mensch bildet, Schöpfung im Sinne fortgesetzter Organisation. Aus theologischen Diskussionen der Vergangenheit ist es hinreichend vertraut, daß Reflexionen über die Natur Gottes und das Wesen des Menschen angestellt werden. Eher ungewöhnlich wirkt es aber, daß sich ein Denker in einem Text, der nach der Realisierung Der Stern der Erlösung, I,II, S. 66. »[…] das göttliche Wesen ruht im unendlichen Schweigen des reinen Daseins, der stummen Tatsächlichkeit. Es ist.« Der Stern der Erlösung, I,I, S. 33.

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von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung fragt, nun auch der Beschreibung der Welt zuwendet. Daß diese selbst in philosophischen Betrachtungen nicht üblich ist, kritisiert Rosenzweig explizit. »Was wissen wir von der Welt? Sie scheint uns zu umgeben. Wir leben in ihr, aber sie ist auch in uns. Sie dringt auf uns ein, aber mit jedem Atemzug und jedem Regen unsrer Hände strömt sie auch von uns aus. Sie ist uns das Selbstverständliche, selbstverständlich wie das eigene Selbst, selbstverständlicher als Gott. Sie ist das Verständliche schlechtweg, das was die besondere Eignung hat, verstanden zu werden und zwar aus sich selbst – selbst-verständlich zu sein. Über diese Selbstverständlichkeit ist aber die Philosophie längst zur Tagesordnung übergegangen und hat in immer erneutem Anlauf bald das Ich, bald Gott zum Ausgangspunkt des Verstehens machen wollen […].« 24

Diese Passage korrespondiert der Differenzierung von All und Ganzem, die Rosenzweig am Anfang seines Werkes vornimmt. Wer das All erkennen will, muß vom Besonderen abstrahieren und sich auf dessen umgreifende Idee konzentrieren. Das Besondere ist aber gerade das, was die Welt ausmacht, so unspektakulär und meistens auch so unproblematisch, das es keiner wissenschaftlichen Betrachtung wert scheint. Einerseits »selbstverständlich«, da immer verfügbar, ist es für Rosenzweig zugleich »selbst-verständlich«, weil für sein Verständnis nicht das Wissen um eine allgemeine Idee erforderlich ist. Hier sieht er den Irrtum der Philosophie, nicht nur in ihrer idealistischen Wendung, die konstatiert, daß dasjenige, das »aus sich selbst« verständlich ist, nicht Gegenstand des Verstehens sein kann. Die Begründung bleibt er schuldig, doch sie läßt sich aus seinen übrigen Aussagen erahnen. Das Selbstverständliche, mit dem der Mensch alltäglich arbeitet, das er benutzt und verwirft, ist eben die Gesamtheit der Dinge der Welt. Wer wollte Wissen auf einem so fragilen und unbeständigen Fundament gründen? Philosophie erhebt den Anspruch, Aussagen über Seiendes zu formulieren, die auch dann noch wahr sein können, wenn dieses sich schon längst verändert hat oder vielleicht gar nicht mehr besteht. Selbstverständliches ist das Eine, Wissenschaft etwas Anderes. Die Erscheinungen in der Welt erscheinen immer nur für Augenblicke, wohingegen das Wissen dauern soll. Der Zusammenhang der Begriffe von Wissen und Verstehen wird noch zu klären sein. In diesem Kontext verwendet Rosenzweig sie synonym. 24

Der Stern der Erlösung, I,II, S. 44.

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Gegenüberstellung

Warum ist also die Welt dem Menschen »verständlich«, nicht als Idee, sondern als sie »selbst«? Dieses Selbst-Sein nutzt Rosenzweig zur Charakterisierung eines Begreifens der Welt und, wie vielleicht erstaunen wird, des Menschen und Gottes. Sie alle drei möchte er im Modus ihrer Tatsächlichkeit erfassen, 25 womit er ihre Faktizität bezeichnet. An früherer Stelle hatte ihm der Begriff der Tatsächlichkeit zur Abgrenzung dinglicher Vielfalt der Welt gegen den Allheitsgedanken des Idealismus gedient. Zunächst scheint eine entsprechende Anwendung nun mit Blick auf göttliches Sein problematisch zu sein. Denn so könnte der Eindruck entstehen, als würde dieses in irgendeiner Weise differenzierende Materialität beinhalten. Aus theologischer Sicht müßte eine solche Folgerung sofort bestritten werden, insofern Stofflichkeit Veränderbarkeit und damit Zeitlichkeit impliziert. Beide sind als Merkmale Gottes strikt zu leugnen. Wenn Rosenzweig im Wissen um die Gefahr, sich hier auf eine lange andauernde religionsphilosophische Diskussion einzulassen, trotzdem für Gott, Welt und Mensch deren Tatsächlichkeit als wesentliches Kennzeichen in Anspruch nimmt, zeigt er damit, daß sie alle der menschlichen Erfahrung zugänglich sind. Nicht einer wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern einem elementaren Vertrauen, daß eher einer Seins-Gewißheit als einem Denken in Abstraktionen gleicht. Woher also stammt dieses Vertrauen? Aus der unbezweifelbaren Gewißheit, daß etwas »da« ist. Und »da« in Rosenzweigs Terminologie ist dasjenige, das erfahrbar ist. Dieses Vertrauen in die Tatsächlichkeit bezeichnet er in vielleicht überraschender Weise: »Denn wir ›glauben‹ an die Welt, so fest zum mindesten wie wir an Gott oder an unser Selbst glauben.« 26 Abermals erscheint der Begriff des Glaubens hier zur Kennzeichnen eines ontischen Testats. Das Bestehen von etwas Selbstverständlichem wird bestätigt, womit keinesfalls etwas Banales, sondern etwas existentiell Notwendiges gemeint ist. Gott, Welt und Mensch in ihrer Tatsächlichkeit zu begreifen bedeutet also, sie in ihrer Daseins-Relevanz zu erfassen. Nicht ihr eventuell denkbares ›an-sich‹ interessiert Rosenzweig hier, sondern ihr ›für-einander‹. 27 In äußerst »Wir suchen Gott, wie späterhin Welt und Mensch, nicht als einen Begriff unter andern, sondern für sich, auf sich allein gestellt, in seiner – wenn der Ausdruck nicht mißverständlich ist – absoluten Tatsächlichkeit.« Der Stern der Erlösung, I,I, S. 25. 26 Der Stern der Erlösung, I,II, S. 45. 27 Im weiteren Verlauf werden Hervorhebungen, die die Lesbarkeit des Textes erleichtern sollen, durch einfache Anführungszeichen kenntlich gemacht. Dabei kann 25

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schlicht wirkenden und gerade dadurch umso eindringlicheren Worten beschreibt er diesen Anspruch zu Beginn seines Textes, wenn er auf die besondere gedankliche Leistung Arthur Schopenhauers verweist. »Schopenhauer fragte als erster unter den großen Denkern nicht nach dem Wesen, sondern nach dem Wert der Welt. Eine höchst unwissenschaftliche Frage, wenn sie wirklich so gemeint war, daß nicht nach dem objektiven Wert, dem Wert für irgend ›etwas‹, dem ›Sinn‹ oder ›Zweck‹ der Welt gefragt sein sollte […], sondern wenn die Frage auf den Wert für den Menschen, vielleicht gar für den Menschen Arthur Schopenhauer ging.« 28

Um den Wert in dieser Weise ermessen zu können, muß dessen Bedeutung für den einzelnen Menschen einschätzbar sein. Bedeutung hat etwas, wenn es essentiell wichtig und existentiell unverzichtbar ist. Genau dieses Merkmal nimmt Rosenzweig für die Tatsächlichkeit von Gott, Welt und Mensch in Anspruch – auch eine Selbstverständlichkeit, so könnte in anderer Verwendung dieses Begriffes ergänzt werden. Gott, Welt und Mensch sind nun einmal da, wozu bedarf es einer Frage nach ihrer Natur? Gerade weil sie da sind, bilden sie den einzigen menschlicher Erfahrung zugänglichen Interaktions-Rahmen. Der Wert der Welt zeigt sich dem Menschen in der Bedeutung, die sie für ihn hat, nicht in ihrem möglichen Sein an-sich. Noch immer ist die Frage unbeantwortet, wie die Welt dem Menschen aus sich selbst verständlich ist. Dieser muß nicht ihren Plan oder das allgemeine Gesetz kennen, sondern das, was die Welt ist, genauer gesagt: als was sie sich der Erfahrung darbietet. »Die Welt besteht aus Dingen, sie ist trotz der Einheit ihrer Gegenständlichkeit kein einiger Gegenstand, sondern eine Vielheit von Gegenständen, eben die Dinge. Das Ding besitzt keine Standfestigkeit, solange es alleinsteht. Seiner Einzelheit, seiner Individualität ist es nur gewiß in der Vielheit der Dinge. Es kann gezeigt werden nur im Zusammenhang mit andern Dingen; seine Bestimmung ist raumzeitliche Beziehung auf andre Dinge in einem solchen Zusammenhang. Das Ding hat auch als bestimmtes kein eigenes Wesen, es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen.« 29

Es sind die Dinge, die dem Menschen die Erfahrung der Welt ermöglichen, also, um noch einmal auf eine frühere Formulierung Rosenes sich sowohl um Erinnerungen an Zitate als auch um Formulierungen handeln, denen besondere Aufmerksamkeit gilt. 28 Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 8. 29 Der Stern der Erlösung, II,I, S. 148.

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zweigs zurückzukommen, das Selbstverständliche. Mit dem erwachenden Bewußtsein der dinglichen Natur der Welt befindet sich Rosenzweig gewiß in geistiger Verwandtschaft zur phänomenologischen Forschung jener Zeit. Kann also vermerkt werden, daß philosophiegeschichtlich die Hinwendung zum Ding kein Novum darstellt, ist der Kontext umso bemerkenswerter, in dem sie hier geschieht. Sie findet sich im zweiten Teil des Sterns der Erlösung, der der Betrachtung der Schöpfung gewidmet ist. Um sie nach der Hervorbringung der Welt fortzusetzen, muß der Mensch permanent in ihr wirken. Die Basis hierfür besteht in den Dingen. Soll sich Schöpfung konstant realisieren, bedarf der Mensch der Kenntnis der Welt, das heißt der Dinge in ihr. Deren Wesen ist nun nicht etwa determiniert und an sich erfaßbar, sondern es zeigt sich, wie obige Worte beschreiben, erst in der Beziehung zu anderen Dingen. Durch den Hinweis auf die raumzeitliche Natur dieses Interaktions-Feldes weist Rosenzweig präformierende Einflüsse auf die Konstitution von Wirklichkeit zurück, wie sie etwa der Vorstellung eines außerzeitlich und überräumlich wirkenden Gottes zugrunde liegen. Schöpfung ereignet sich innerhalb der Zeit – ein Gedanke, der theologisch nicht unproblematisch ist. Schöpfung erfolgt erst von jenem Augenblick an, in dem die Dinge der Welt in Beziehung gebracht werden. Interessant ist in diesem Kontext auch der Begriff der »Standfestigkeit«, den Rosenzweig verwendet. Solange ein Ding »alleinsteht«, ist sie wohl möglich, jedoch nicht verwirklicht. Ist das In-Beziehung-treten der Dinge Ausdruck jenes Gesetzes der inneren Form, das Rosenzweig an anderer Stelle mit Blick auf die Konstitution eines Kunstwerkes erwähnt hat? Vieles spricht dafür. Denn daß die Dinge nicht in chaotischem Nebeneinander bestehen und sich bloß zufällig berühren, wird aus seinem Gedanken deutlich, daß das Wesen des Dinges »nicht in ihm« ist, sondern »in Beziehung«. Bereits in dem Darstellungskontext von All und Ganzem, dem das Bild des Kunstwerkes entstammt, hatte sich diese Auffassung angedeutet. Das Einzelne bildet ein Ganzes, weil es sich aus eigener Kraft, jedoch nicht unbestimmt, in ein Ganzes fügt, das Ganzes wird, weil es aus Einzelnem entsteht. In seiner Kritik am Idealismus weist Rosenzweig auf dessen Schwierigkeit hin, Erscheinungen zu berücksichtigen. 30 In ihnen drückt sich immer das »Die Erscheinung war die crux des Idealismus, und also der ganzen Philosophie von Parmenides bis Hegel, gewesen; er hatte sie nicht als ›spontan‹ begreifen dürfen, weil

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Einzelne aus, das als solches Gegenstand des Bewußtseins wird. Voraussetzung hierfür ist, daß das Einzelne als Einzelnes begriffen wird, in seinem Status der Faktizität. Rosenzweig verwendet hier den Begriff der Gegebenheit, der in phänomenologischer Terminologie kognitive Zugänglichkeit signalisiert. Er setzt diesen Begriff jedoch in einen anderen Zusammenhang. »Das Besondere ist trieblos, in sich ohne Bewegung; es stürzt hervor, und so ist es da. Es ist nicht das ›Gegebene‹ […] das Besondere ist Überraschung; nicht Gegebenes, sondern immer neue Gabe; noch eigentlicher Geschenk, denn im Geschenk verschwindet das geschenkte Ding hinter der Gebärde des Schenkens. […] Die Erscheinung aber ist das Immerneue […].« 31

Zwei Gedanken berühren sich in diesem Moment. Zum einen akzentuiert Rosenzweig die Gegenständlichkeit der Welt. Die Dinge, die sie füllen, erlangen ihr Wesen erst in der Beziehung zueinander. Zum anderen zeigt er nun, daß diese Gegenstände »trieblos« sind, da kein ihnen innewohnender Impuls jene Bezüge realisiert, die ihr Wesen begründen. Mit dem Bild der »Gabe« kennzeichnet er sie als geschaffen, wodurch zwar das Faktum ihres Da-seins erklärt werden kann, nicht jedoch die Ursache ihrer Gestaltung in Relation. In diesem frühen Kontext innerhalb des Sterns der Erlösung geht es Rosenzweig zunächst um den Nachweis, daß etwas ist. Die Suche nach einer Erklärung für dessen In-Beziehung-Treten verläuft an dieser Stelle noch weitgehend ergebnislos. Ein erster Anhaltspunkt kann aus dem bereits erwähnten Aspekt der »Selbstverständlichkeit« der Dinge in der Welt gewonnen werden. Selbstverständlich sind sie, weil sie den Menschen stets umgeben und von ihm ohne Beachtung in Anspruch genommen werden können. Das unscheinbar zur Verfügung Stehende, das dennoch alltäglich im Gebrauch ist, hatte, so zeigte Rosenzweig, bislang keinerlei philosophische Relevanz. Es wäre sicherlich verfrüht, aus diesen eher angedeuteten Gedanken auf ein spezielles Interesse Rosenzweigs an der Zeughaftigkeit der Dinge schließen zu wollen. Festzuhalten ist hier aber in jedem Fall, daß er die Dinglichkeit der Welt im Kontext seiner Betrachtungen der Schöpfung thematisiert. Da Schöpfung die Gestaltung der Wirklichkeit nach der Erschaffung der Welt ist, sind die er damit die Allherrschaft des Logos geleugnet hätte, und so war er ihr nie gerecht geworden und hatte die sprudelnde Fülle zum toten Chaos des Gegebenen umfälschen müssen.« Der Stern der Erlösung, I,II, S. 50. 31 Der Stern der Erlösung, I,II, S. 50.

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Dinge zu berücksichtigender Bestandteil der Schöpfung. Mit dieser Auffassung geht Rosenzweig deutlich über die Vorgaben vieler religionsphilosophischer Diskussionen hinaus, die den Fokus zwar auf das Wirken des Menschen, jedoch nicht auf die Welthaftigkeit der Wirklichkeit richteten. In seinen ersten Betrachtungen setzt Rosenzweig es sich zum Ziel, die Elemente der Wirklichkeit – Gott, Welt und Mensch – zu beleuchten, da sich aus ihrem Zusammenwirken Realität konstituiert. Aus philosophischer Perspektive ist diese Trias bemerkenswert, weil sie Gott einschließt. Aus theologischer Sicht ist sie es, da sie die Welt umfaßt. Keinen dieser Blickwinkel will Rosenzweig isoliert verfolgen, sondern gerade in deren Verschmelzung sieht er die Möglichkeit, eine neue Wissenschaft zu begründen, wie sich an anderer Stelle zeigen wird.

I.I.3 Da-sein und Leben Es ist das Ziel dieser Überlegungen, vornehmlich den philosophischen Gehalt des Sterns der Erlösung zu betrachten. Insofern werden die Aussagen Rosenzweigs, in denen er nach Gott fragt, weitgehend unberücksichtigt bleiben. Dabei ist es von Anfang an offensichtlich, daß ein solches Vorgehen dem Text in seiner Gesamtheit nicht gerecht werden kann. Ein solcher Anspruch kann und soll hier nicht erhoben werden. Aus dem Zusammentragen der Aussagen, mit denen Rosenzweig Welt charakterisiert, hatte sich folgender Befund ergeben: Sie erscheint als Ganzes, angefüllt von Dinghaftem, das jedoch noch im Status seiner Möglichkeit verharrt. Welt ist Da-sein. Erst im In-Beziehung-treten verwirklichen die Dinge ihre Eigenheit, die ihnen jedoch potentiell immer schon entspricht. Erst diesen Vorgang bezeichnet Rosenzweig als »Leben« beziehungsweise »Lebendigkeit«. Mit Blick auf den später erfolgenden Vergleich zu den Konzeptionen, die Martin Heidegger in Sein und Zeit artikuliert, sei hier ein Vorgriff gestattet. Rosenzweig verweist darauf, daß Da-sein und Leben sich essentiell zunächst unterscheiden. Seine Deutung des Daseins hebt dessen Unfähigkeit hervor, aus eigenem Antrieb aus der Unbeweglichkeit des So-seins in eine Wirklichkeit begründende Dynamik überzugehen. Den Impuls hierzu empfängt es vom Menschen – wohlgemerkt trotzdem weltimmanent. Für Rosenzweig ist die Untersuchung von sekundärem Interesse, wie der Mensch mit den Gegenständen, die sich seinem Verständnis darbieten, operiert. Heideg36 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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ger wird diese Frage unter Ausarbeitung seiner Theorie des »Zeuges« und der »Zuhandenheit« stellen und beantworten. Warum unterscheidet Rosenzweig nun also so krass zwischen Da-sein und Leben? Er will darlegen, daß Schöpfung auch nach der Erschaffung der Welt möglich ist, ja daß der Prozeß, den er mit diesem Begriff versieht, erst nach der Erschaffung der Welt überhaupt einsetzt. Insofern ist es notwendig, daß er auf ein zu gestaltendes Material verweist, das Grundlage dieser Schöpfung sein kann, weil es alle Potentialität hierfür, jedoch nicht selbst in all seinen Teilen die kreative Potenz beinhaltet. Das Immerwährende der Schöpfung wird für ihn zum Synonym für Leben schlechthin, Lebendigkeit, die dem Tod Widerstand leistet. Ohne Frage ist der Begriff des Lebens zentraler Terminus philosophischer und theologischer Diskurse seit jeher gewesen. In den lebensphilosophischen Konzepten des 19. Jahrhunderts zeigt er einen Höhepunkt der Reflexion. Fast scheint es jedoch so, als würde Rosenzweig auf diese bedeutende Vorgabe ebensowenig anspielen wollen wie auf eine mögliche Prägung des Begriffes der Erscheinung. Eine autonome Begriffsgestaltung, die sich nicht auf frühere Verwendungen bestimmter Ausdrücke, und seien sie auch noch so markant, stützt, würde über das Selbstverständnis Rosenzweigs ebensoviel aussagen wie über den Anspruch auf Eigenständigkeit, den er mit seinem Stern der Erlösung verbindet. Für eine Interpretation seines Werkes entsteht damit allerdings die Schwierigkeit, zu entscheiden, inwieweit ihm bestehende Deutungen etwa von Henri Bergson oder Edmund Husserl vertraut gewesen sind. Besteht sein Ziel darin, Schöpfung als Prägung von Wirklichkeit zu begreifen, ist deren wesentliche Unabgeschlossenheit Voraussetzung. Die Differenz von Da-sein und Leben darf sich innerhalb der realen Zeit daher nicht aufheben. Sie muß einem überzeitlichen Moment der Erlösung vorbehalten sein, wie Rosenzweig im letzten Kapitel seines Werkes erklären wird. Zunächst stellt er jedoch fest: »Das endliche, das wir finden, ist also bloß das Nochnichtunendliche. Die Welt muß ganz lebendig werden. […] Das Dasein muß an allen seinen Punkten lebendig sein. Daß es das noch nicht ist, bedeutet eben wieder weiter nichts, als daß die Welt noch nicht fertig ist. […] Leben und Dasein decken einander – noch nicht. Die Fülle der Erscheinung, die in den Kosmos hineinprasselte, der unaussprechliche Reichtum der Individualität ist es, was sich im Lebendigen zu einem Dauernden, Gestalteten, Festen macht.« 32 32

Der Stern der Erlösung, II,III, S. 249. Daß Rosenzweig Dasein hier ohne die signi-

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Gegenüberstellung

Die Eigenheit der Dinge verwirklicht sich erst, wenn sie in Beziehung gesetzt werden. Beziehung ist Bewegtheit, die das Da-sein aus der immobilen Faktizität in jene Dynamik versetzt, die als Leben bezeichnet wird. Diese Lebendigkeit wird in obigen Worten näher umschrieben. So ist Leben für Rosenzweig nicht nur Ausdruck für organische Veränderung, sondern für eine Entwicklung der Wirklichkeit insgesamt, deren Vollendung nicht mehr als zeitliches Phänomen gedacht werden muß. Vielmehr nutzt Rosenzweig die Vorstellung der Unabgeschlossenheit von Lebendigkeit, um den Gedanken der Schöpfung für eine weitere Dimension zu öffnen. Sie geht vom Geschaffensein der Welt aus, als »Nochnichtunendliches«, und setzt sich von da an kontinuierlich fort. Diese Transformation einer in sich endlichen Bewegung in eine unendliche Bewegtheit verwandelt das Da-sein essentiell. Denn sein So-sein, dessen Beschaffenheit Rosenzweig mit dem Begriff der Gegenständlichkeit umschrieben hatte, ist nur die ontische Voraussetzung für jenen Prozeß der Lebendigkeit, dessen erstes bekanntes Merkmal in seiner Bewegung besteht. Diese ist allerdings im Augenblick noch kaum erläutert. Ist sie spontaner Natur, zielgerichtet, Produkt welcher Kausalität? Rosenzweig wendet zur Klärung dieser Frage das Motiv des Ganzen und seiner Teile, das bereits angesprochen wurde, an. Zum einen zeigt dies ein Blick auf jene drei Elemente Gott, Welt und Mensch, die er einleitend untersucht hatte. Jedes dieser Elemente hatte er zunächst für sich betrachtet und versucht, es in seiner Eigenheit zu beleuchten. Dabei erteilte er dem Anspruch, diese drei als Inhalte von Wissen zu verstehen, eine klare Absage. In fast rhapsodischer Sprachform hatte er dreimal ein Nicht-Wissen konstatiert 33 und so den Weg bereitet, um Gott, Welt und Mensch so voraussetzungslos wie irgend möglich zu betrachten. Jedes Anzeichen einer Erkenntnis, die aus vorurteilender Meinung resultiert, wollte er dabei dekonstruieren, um eine Möglichkeit der gedanklichen Annäherung an diese zu schaffen, die mit dem Begriff der perspektivischen Reinheit charakterisiert werden kann. Die Elemente der Wirklichkeit sollen auf ihr Eigenes befragt werden, als würden sie das erste Mal Ziel der Auffikante Trennung schreibt, deutet, soweit von einer einheitlichen Schreibweise auszugehen ist, auf die Beschaffenheit des bereits gebildeten Daseins hin, das sich aus dem Da-sein als reiner Vorhandenheit von Seiendem entwickelt. 33 »Von Gott wissen wir nichts.«, »Von der Welt wissen wir nichts.«, »Vom Menschen – sollten wir auch von ihm nichts wissen?« Der Stern der Erlösung, I,I, S. 25, I,II, S. 45 und I,III, S. 67.

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merksamkeit. Ganz unbelastet von vorausgegangenen Definitionen sollen sie reflektiert werden, wobei dieser Ausdruck wörtlich zu verstehen ist. Sie sind zwar einerseits Gegenstand des Fragens und damit Objekte des Bewußtseins, doch andererseits spiegelt menschliche Erfahrung bereits im Modus des Fragens selbst deren Realität. Die Frage nach den Elementen der Wirklichkeit kann nur gestellt werden, weil sie bereits prärational aufeinander bezogen wurden, nicht in einem Akt kognitiven Erfassens, sondern in einem Prozeß existentieller Erfahrung. Wie anders käme der Mensch auf die Idee, nach den Elementen zu fragen, als aus der Gewißheit, selbst zu sein. Der Mensch fragt nach dem, das ihm die Möglichkeit gibt, Fragender zu sein. Die eigene Existenz wird dabei zum ersten Beleg dafür, daß die Frage nach den Elementen durch den Hinweis auf ihr So-sein beantwortet werden kann. Genau diesen existentiellen Blick wählt Rosenzweig, wenn er, wie bereits zitiert, feststellt: »Wir suchen Gott, wie späterhin Welt und Mensch, nicht als einen Begriff unter andern, sondern für sich, auf sich allein gestellt, in seiner – wenn der Ausdruck nicht mißverständlich ist – absoluten Tatsächlichkeit, […].« 34 Werden die Elemente auch jeweils für sich betrachtet, so gilt diese separierende Fokussierung lediglich für die Frage nach ihrem Sein. Soll dagegen ihr Wirken dargestellt werden, müssen sie in Relation gedacht werden. Problematisch wird diese Notwendigkeit, wenn sie auf das Wirken Gottes angewandt wird. Denn zu welchem Sein sollte er in Beziehung treten, ohne sich damit zirkulär nur zu eigenem Sein zu verhalten. Die theologische Schwierigkeit, wie Gottes Omnipotenz sich zur Erschaffung der Welt öffnet, versucht Rosenzweig durch eine Erörterung zu lösen, die stark von jüdischer Mystik beeinflußt ist. Dieser Gedanke wird im weiteren Verlauf der Überlegungen zu verfolgen sein. Das So-sein der Welt hatte er im Begriff des Da-seins fixiert, dem bewegungslosen Bestand von Dingen, die trotz ihrer Vielfalt keiner unmittelbaren Impulsivität fähig sind. Gleichwohl bilden sie ein Element der Wirklichkeit, das durch das Agieren des Menschen in einen unendlichen Prozeß der Schöpfung integriert wird. Leben entsteht aus Da-sein. Dabei könnte der Eindruck entstehen, daß der Mensch von Anfang an über jene wesenhafte Stabilität verfügt, die den Dingen mangelt. Doch zeigt die Betrachtung dieses dritten und letzten Elementes, daß Rosenzweig auch ihm essentielles Werden attestiert. Ein erstes Fragen nach dem Eige34

Der Stern der Erlösung, I,I, S. 25.

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nen des Menschen hatte seine Widerständigkeit enthüllt, die stolze Haltung, in der er dem Wissen um seine Endlichkeit trotzt. »Vergänglichkeit, die Gott und Göttern fremde, der Welt das bestürzende Erlebnis ihrer eigenen, sich allzeit erneuernden Kraft, ist dem Menschen die immerwährende Atmosphäre, die ihn umgibt, die er mit jedem Zug seines Atems einsaugt und ausstößt. Der Mensch ist vergänglich, wie es das Wesen Gottes ist, unsterblich und unbedingt, das Wesen der Welt, allgemein und notwendig zu sein. Gottes Sein ist Sein im Unbedingten, der Welt Sein Sein im Allgemeinen, des Menschen Sein ist: Sein im Besonderen.« 35

So sind es denn diese beiden Aspekte, die in der Beschreibung des Menschen ineinandergreifen – die Vergänglichkeit und sein Widerstehen. Erstere ist unumstößliches Kennzeichen seines Seins, letztere darauf antwortende Haltung des Menschen, doch nicht des Menschen schlechthin, sondern des Einzelnen, der sich der unvermittelten Einsicht in seine Endlichkeit zu stellen wagt. Darum ist menschliches Sein weder unbedingt, noch notwendig, sondern »im Besonderen«, das sich nicht durch Abgeschlossenheit definiert, sondern durch reine Potentialität. In der Einleitung des zweiten Buches im Stern der Erlösung, die der Suche nach einem neuen Format philosophischen Denkens gewidmet ist, formuliert Rosenzweig die Besonderheit des Menschen als »Empfänger der Offenbarung, als Erleber des Glaubensinhalts«. 36 Auch wenn er versucht, die drei Elemente der Wirklichkeit analog zu beleuchten, bleiben doch jeweils essentielle Eigentümlichkeiten unleugbar. In der differenzierenden Kennzeichnung der drei Seins-Weisen zeigen diese sich erstmalig in einer Form, die philosophisch relevant wird.

I.I.4 Offenbarung und Widerstand Der Reflexion der Vergänglichkeit des menschlichen Seins, dessen individuelles Erleben Rosenzweig auf den ersten Seiten seines Werkes so leidenschaftlich artikuliert hatte, kommt im kompositorischen Plan des Sterns der Erlösung die wohl entscheidende Funktion zu. Denn der Mensch, der sich der Tatsache seiner Endlichkeit bewußt wird, kann auf diese Erkenntnis reagieren. Bis zu diesem Punkt klingt es noch nicht so, als würde Rosenzweig damit einen originellen Ge35 36

Der Stern der Erlösung, I,III, S. 68 f. Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 118.

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danken aussprechen. Bereits in den Schriften Søren Kierkegaards kam der erstaunliche Impuls zum Ausdruck, der vom Erleben der Angst ausgehen konnte. Diese Angst gilt hier keinem bestimmten Etwas, sondern ist vielmehr Angst um das eigene Sein-Können, 37 die das Individuum mit kathartischer Macht aus der vermeintlichen Sicherheit seiner Alltäglichkeit reißt. So ist es eines der markantesten Merkmale existenzphilosophischer Theoriebildung, daß nur ein affektives Erleben von außergewöhnlicher Dimension den Einzelnen zu einer Schau seines bisherigen Lebens und der Wertsetzungen, die es beinhaltet, veranlaßt. Keine ethische Unterweisung hätte diese einzigartige Kraft, einen Bruch in der menschlichen Lebensführung zu bewirken, der sowohl auf der Ebene des Denkens als auch des Handelns spürbar wird. Für Kierkegaard endet die Erschütterung, die den Menschen zu Vernunft bringt, keineswegs als rationales Geschehen. Vielmehr eröffnet sie ihm die Dimension religiösen Bewußtseins. Sowohl Kierkegaard als auch Franz Rosenzweig betrachten Angst um das eigene Sein-Können als Ausnahme-Erfahrung. Für beide bedeutet das Zulassen dieser Erfahrung eine existentielle Zäsur, die das Leben des Einzelnen in mehrfacher Hinsicht schneidet. In zeitlichem Sinne trennt sie das Vorher vom Jetzt, das das Erleben von Gegenwart und Zukunft nicht revidierbar verändert. In existentieller Perspektive unterscheidet sie einen Zustand der Ahnungslosigkeit von jenem der Bewußtheit. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß Rosenzweigs gesamtes Denken der Erklärung dieser Differenz gilt, der sowohl philosophische als auch theologische Relevanz zukommt. Bisher hatte der Fokus sowohl des Sterns der Erlösung als auch dieser Zeilen, die hier noch weitgehend seiner Chronologie folgen, auf der Darstellung dessen gelegen, was ist. Dabei wurde im vorliegenden Kontext die Frage danach, warum überhaupt etwas ist, fast vollständig ausgeklammert, da sie eine zu starke Thematisierung des Schöpfungsgedankens im klassischen Sinne erfordert hätte. Rosenzweig hatte Gott, Welt und Mensch in ihrer jeweiligen »Tatsächlichkeit« betrachtet. Diese Arbeit führte ihn bis zu dem Punkt, an dem er dreimalig ein Sein feststellen konnte, das jedoch noch nicht in einem verbindenden Begriff eines Ganzen, den er sucht, zusammengefaßt »Die Angst ist eine Bestimmung des träumenden Geistes und gehört als solche in die Psychologie hinein. […] die Angst [ist] die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit […].« Kierkegaard, Der Begriff Angst, I, § 5, S. 40.

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Gegenüberstellung

werden konnte. Die drei Elemente der Wirklichkeit bestehen und sind jeweils isoliert dem menschlichen Blick zugänglich gemacht worden. Nun geht es darum, sie im Prozeß ihrer Annäherung an einander zu beobachten. Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß Rosenzweigs Ausführungen in zwei Bedeutungskontexten relevant sind, die hier in komplexer Form Deckungsgleichheit erlangen. In philosophischer Terminologie spricht er vom Da-sein und vom Leben, in religiöser Begrifflichkeit von Schöpfung und Offenbarung. Sein Plädoyer für die Unabgeschlossenheit der Schöpfung klingt noch ebenso nach wie seine bereits erwähnte Feststellung: »Leben und Dasein decken einander – noch nicht.« 38 Es steht also das Entscheidende noch aus, in Rosenzweigs Text wie auch in der Wirklichkeit. Bisher entstand etwas und wurde als solches erkennbar. Die Elemente der Wirklichkeit wurden jeweils für sich denkbar, der Gedanke der Schöpfung konnte formuliert werden. Im zweiten Buch des Sterns der Erlösung, das den Begriff der Offenbarung beleuchten wird, heißt es nun: »Dem Tod, der als Schlußstein der Schöpfung allem Geschaffenen erst den unverwischbaren Stempel der Geschöpflichkeit, das Wort ›Gewesen‹, aufdrückt, ihm sagt die Liebe Kampf an, sie, die einzig Gegenwart kennt, von Gegenwart lebt, […]. Der Schlußstein des dunklen Gewölbes der Schöpfung wird zum Grundstein des lichten Hauses der Offenbarung.« 39 Es ist gewiß keine innovative Bildlichkeit, wenn Rosenzweig das Dunkle gegen das Lichte setzt. Entsprechende Metaphorik findet sich in religiösen und philosophischen Texten seit der Antike. Dennoch ist diese Passage interessant, da sie das Fundament des Begriffes des Erschließens liefert, der von zentraler Bedeutung sowohl im Stern der Erlösung als auch in Sein und Zeit sein wird. Erwähnenswert ist gewiß das Bild des »Hauses«, das als ein Leben Schützendes und Bergendes dort errichtet wird, wo zuvor nur Sein, Da-sein gewesen ist. Zum Grund für das zu Errichtende wird es erst in dem Moment, in dem es verstanden wird, in seinem unbewegten So-Sein vor jeglicher Verwirklichung, das jedoch gerade deshalb seine Möglichkeit enthüllt. Nutzt Rosenzweig hierin ein Motiv räumlicher Natur, insofern das Bild vom Haus Raum-geben signalisiert, verweist das Begriffspaar »Schlußstein«-»Grundstein« auch auf zeitliche Erstrekkung. Etwas schließt ein Vorausgehendes ab, jedoch ohne es zu been38 39

Der Stern der Erlösung, II,III, S. 249. Der Stern der Erlösung, II,II, S. 174.

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Der Stern der Erlösung

den. Ohne diese visuelle Signatur überstrapazieren zu wollen, liegt ihr Reiz doch darin, daß Abschluß des Vorherigen und Initiation des Kommenden hier in extremer Verschränkung gedacht werden. Rosenzweig behält diesen Gedanken in seinen ganzen folgenden Ausführungen bei: Ein und dasselbe erscheint wie zweierlei. Doch warum? Ändert sich die Perspektive des Betrachters? Doch wie sollte das möglich sein, bleibt doch der Mensch in jedem Fall derjenige, den der Tod betreffen wird. Drückt sich auch hier existenzphilosophische Gewißheit aus, daß das Unabänderliche als akzeptabel empfunden wird, wenn der Mensch es zur Voraussetzung seines Verhaltens der Welt gegenüber erklärt? Was Rosenzweig zeigen wird, kann mit dem Begriff des Umschlagens bezeichnet werden. Denn er begründet seine Deutung der grundlegenden Differenzierung zwischen Abschluß und Initiation, die sich im selben Moment ereignet, allein unter Hinweis auf die Reflexion. Das Letzte muß geradezu als Erstes aufgefaßt werden, wenn es an sich erkannt wird. Ist das Faktum der Vergänglichkeit geschaut, setzt es das Bewußtsein der Möglichkeit frei, auf diesem Wissen zu gründen. Das Für-sich-bestehen der drei Elemente Gott, Welt und Mensch schließt sich zu einem Ganzen, in sich geschlossenen Wirk-Komplex, sobald ihre immer schon in ihnen als Möglichkeit angelegte Bezogenheit aufeinander verstanden oder: offenbar wird. Damit soll keine vorschnelle Identifikation zweier Termini unterschiedlicher Provenienz behauptet, sondern deren BedeutungsAnnäherung angekündigt werden, die Rosenzweig später erklärt. Das, was in den Elementen liegt und ihr Möglichkeitsspektrum bestimmt, beschreibt er auch mit dem Bild der »dunklen Mächte«, um es so dem Offenbarwerden kontrastieren zu können. »Aber ihr Offenbarwerden rückt dann all jene geheimen Bildekräfte ins Vergangene und macht das, was uns bisher Ergebnis schien, selber zum Anfang. […] Eine Wendung ist es, eine Umkehr. […] Denn das Offenbarwerden ist die Umkehr des Werdens.« 40

Die erwähnte Zäsur zwischen Vergangenem und Zukünftigem entsteht durch das Verstehen des Gegenwärtigen, oder besser: des Gegenwärtigens. Rosenzweig sieht sich einem theologischen Problem konfrontiert. Denn wie kann die Wirkmacht Gottes offenbar werden, ohne daß dieses zugleich für sein Wesen zutrifft. 41 Doch ein anderer 40 41

Der Stern der Erlösung, I,III, Übergang, S. 96 f. »Wenn aber Gott […] für den Glauben, abgesehen von der Offenbarung, schlecht-

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Gegenüberstellung

Aspekt scheint für ihn drängenderen Erklärungsbedarf aufzuweisen: Wie kann eine fortgesetzte Schöpfung denkbar sein, wenn Offenbarung das göttliche So-sein bloßlegt? Für seine Argumentation benötigt er die Vorstellung eines prozeßhaften Fortschreitens der Schöpfung, die aus dem Zusammenwirken der drei Elemente der Wirklichkeit resultiert. Würde sich göttliche Macht als solche offenbaren, würde jedes Bestreben, dieses gemeinsame Agieren zu begründen, fragwürdig. Das theologische Problem einer Vereinbarkeit von göttlicher Vorsehung und kreatürlicher Spontaneität klingt in dieser Befürchtung gewiß an. Für Rosenzweig besteht die Herausforderung darin, Offenbarung zu denken, damit göttliches Wirken für den Menschen als Wirken Gottes erkennbar ist. Doch zugleich darf diese in keiner Weise zu der Folgerung führen, daß alle Schöpfung mit der Hervorbringung der Welt abgeschlossen oder das welthafte Geschehen lediglich Ergebnis determinierender Einwirkung Gottes wäre. Die argumentative und vor allem begriffliche Schwierigkeit, die sich hier zeigt, versucht Rosenzweig unter Zuhilfenahme teils philosophischer, teils poetischer Wortwahl zu bewältigen. »Als wesenhaftes, eigenschaftliches Sein war die Tatfreiheit in der Schöpfermacht offenbar geworden; jetzt muß das schicksalgebundene Sein in entsprechender Umkehr sich offenbaren als augenblicksentsprungenes Geschehen, als ereignetes Ereignis.« 42 Keinesfalls will Rosenzweig das Faktum leugnen, daß Sein göttlicher Kausalität entstammt, die es als »wesenhaft« und »eigenschaftlich« geprägt hat. Hier in der Vergangenheitsform zu sprechen, ist unverzichtbar. Denn alle Prägung hat stattgefunden, ohne damit abgeschlossen zu sein. Der bereits gestreifte Gedanke einer ›unfertigen‹ Schöpfung klingt hier noch einmal an. Ohne Frage bestimmt diese Anlage auch den Radius zukünftiger Entwicklungsmöglichkeit im Sein, weshalb Rosenzweig es als »schicksalgebunden« bezeichnet. Doch signalisieren die dann folgenden Formulierungen sein entschlossenes Ringen darum, größtmögliches Entwicklungspotential auch innerhalb des vorgegebenen Aktionsraumes zu gewährleisten. Alles, was sich am Sein trotz seiner Schicksalsgebundenheit entwik-

hin verborgener Gott ist, innerhalb der Offenbarung aber sofort offenbar wird, also in die Gestalten seines Offenbarwerden auseinanderfährt, verlieren wir dann da nicht aus den Händen, was wir schon zu halten glauben: die elementare ›Tatsächlichkeit‹ Gottes?« Der Stern der Erlösung, II,II, S. 176. 42 Der Stern der Erlösung, II,II, S. 178.

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Der Stern der Erlösung

kelt, ist Produkt des Augenblicks. In der philosophischen Sprache gibt es kaum Begriffe, die Dynamik und Spontaneität deutlicher anzeigen als »Ereignis« und »Geschehen«. Sie dienen Rosenzweig dazu, jenes Motiv der Veränderlichkeit in der Zeit zu akzentuieren, das er so dringend benötigt, um Schöpfung als Prozeß zu denken. So taucht der Begriff des Augenblicks, sogar in charakteristischer Schreibweise als »Augen-blick« auf und eröffnet eine neue Dimension des Blicks auf das Sein. Nicht als vorfindlich und geschaffen wird es nun thematisiert, sondern als Areal, in dem etwas ›geschieht‹, in dem sich etwas ›ereignet‹. Durch die Betonung der Zeitlichkeit als Gegenwart, die erforderlich ist, um das Statt-findende in seiner Entwicklung fassen zu können, wird auch die Räumlichkeit des Seins hervorgehoben. Denn etwas, das sich jetzt gerade abspielt, benötigt eine Verortung in einem bestimmten Moment und an einer bestimmten Stelle, die beide als Maßeinheiten der realiter ablaufenden Veränderung dienen. Im Unendlichen gibt es keine feststellbare Entwicklung, weil die Koordinaten fehlen, die es dem Denken erlauben, sie zu registrieren. In obigen Zeilen spricht Rosenzweig nicht von Geschaffenem, sondern von Sein und lenkt die Aufmerksamkeit damit auf diese raum-zeitliche Struktur von Wirklichkeit, da allein hier jenes Ereignis der Offenbarung geschieht. Er greift also auf eine philosophische Terminologie zurück, um einen zentralen Begriff des Glaubens beleuchten zu können. So ist es konsequent, daß er nun von einer »zweiten Offenbarung« spricht und damit nicht das Sich-zeigen des Göttlichen an sich, sondern in der Welt meint. »[…] das Offenbarwerden, das wir hier suchen, muß ein solches sein, das ganz wesentlich Offenbarung ist und nichts weiter; das heißt aber: es darf nichts sein als das Sichauftun eines Verschlossenen, […] einer still ruhenden Immerwährendheit durch einen bewegten Augenblick. Im Aufleuchten eines solchen Augen-blicks wohnt die Kraft, das geschaffene Sein, das von diesem Aufleuchten getroffen wird, aus dem geschaffenen ›Ding‹ umzufärben in ein Zeugnis einer geschehenen Offenbarung.« 43

Offenbarung wird, in die Begrifflichkeit der Philosophie übertragen, ontologisch begreifbar. Rosenzweig spricht hier vom »Aufleuchten«, durch welches sich das, was ist, als das zu erkennen gibt, das wird. Ein und dasselbe Objekt erfährt dadurch eine wesentliche Modifikation. Was unterscheidet aber das »Ding« vom »Zeugnis«? Ein Zeugnis be43

Der Stern der Erlösung, II,II, S. 179 f.

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Gegenüberstellung

stätigt Sein und Eigenschaften eines Dinges. Es belegt nicht nur die Tatsache des bloßen Seins, sondern zeigt an, daß die Möglichkeiten, die in diesem Sein des bestimmten Dinges liegen, erfaßt wurden. Damit dieses erfolgen kann, muß das Ding aber in seinen raum-zeitlichen Bezügen erkannt werden. In dieser Augenblickshaftigkeit kann es jedoch nicht gedacht, sondern nur erfahren werden. Für Rosenzweig besteht die Herausforderung nun darin, den religiösen Gedanken der Offenbarung zu nutzen, um jene Fortsetzung der Schöpfung auch philosophisch fassen zu können, die Grund, aber nicht Gestalt der Wirklichkeit ist. Damit erschließt er das Geschehen der Offenbarung als Ereignis des Offenbarwerdens der raum-zeitlichen Erfahrung. Hier wird offenbar, was an sich der Erfahrung des Menschen nicht zugänglich wäre. »Die Offenbarung grade in ihrer unbedingten Augenblicksentsprungenheit ist so das Mittel, durch welches die Schöpfung im Gestalthaften befestigt wird.« 44 Jene zweite Offenbarung, von der Rosenzweig spricht, ist kein spirituelles, sondern ein höchst konkretes Erleben. Sie findet inmitten der innerweltlichen Bezüge von Seiendem statt, wobei dieser Ausdruck wörtlich gemeint ist: sie verwirklicht sich an ihrer Stätte, im Da-sein. Noch einmal sei an die spezielle Bedeutung erinnert, in der dieser Terminus im Stern der Erlösung angewendet wird. Da-sein ist Voraussetzung und Ort des Geschehens, das Rosenzweig als Kennzeichen des Lebendigen wertet. Da-sein ist die Bezeichnung für Dinglichkeit der Welt, also gerade nicht jenes Seienden, das nur dem Menschen zukommt. 45 Um den Grundgedanken Rosenzweigs im zweiten Teil seines Sterns noch einmal zusammenzufassen: Das bewegungslose, bloß da-seiende Sein verwandelt sich in lebendige Wirklichkeit. Damit diese Verwandlung stattfinden kann, muß sich das Sein als geschaffenes Sein erschließen, das heißt es muß vom Menschen in seiner Potentialität verstanden werden. Das ist der Sinn der Offenbarung. Schon einmal hatte Rosenzweig den Menschen als Empfänger der Schöpfung bezeichnet. In diesem Kontext schreibt er nun: »Die Offenbarung ist der Seele das Erlebnis einer Gegenwart, die auf dem Dasein der Vergangenheit zwar ruht, doch nicht darin haust, sondern im

Der Stern der Erlösung, II,II, S. 180. »Denn sie [die Seele] ist kein Ding und hat ihren Ursprung nicht in der Welt der Dinge.« Der Stern der Erlösung, II,II, S. 190.

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46 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Der Stern der Erlösung

Lichte des göttlichen Antlitzes wandelt.« 46 Damit resümiert er die Verwandlung einer da-seienden in eine werdende Schöpfung, die als ein progressives Geschehen gedeutet wird, immerwährend, um den Ausdruck Rosenzweigs zu verwenden. Nach dem permanenten Changieren zwischen theologischer und philosophischer Intention und der entsprechenden Begrifflichkeit scheint der Text nun eindeutig in eine religiöse Sprache zu münden. Denn was heißt es für den Menschen, »im Lichte des göttlichen Antlitzes zu wandeln«? Bislang wurden in unausgesprochener Voraussetzung Offenbaren und Verstehen als Begriffe ein und derselben erkennenden Haltung des Menschen verwendet. Ein dritter Ausdruck wird hinzukommen, den Rosenzweig vielmals nutzt, um jenen komplexen Moment des Erfassens von Wirklichkeit zu benennen, in dem beide zusammenfließen – der Begriff des Erschließens. Doch bevor er thematisiert werden kann, muß erst diese entscheidende Frage beantwortet werden. Die Formulierung »im Lichte des göttlichen Antlitzes« ist in ihrer eindringlichen Bildlichkeit zu lesen. Dieses Licht vermittelt sich durch den Blick, der vom Antlitz Gottes ausgeht, nicht als ein bloßes Schauen, sondern als ein erwählendes Anblicken. Die Metaphorik des Lichtes erscheint hier nicht als Kennzeichnung eines allgemeinen Begreifens, in dessen Vollzug sich bisher Diffuses klärt. Es ist nicht das Licht der Vernunft, das in abstrahierender Erleuchtung Undeutliches erhellt. Dieses Licht ist Ausdruck jener zutiefst individuellen und fast intimen Bewegung der Zuneigung, in der sich ein Liebender zum Geliebten wendet. Diese Wendung stellt für Rosenzweig die entscheidende Voraussetzung dafür dar, daß sich das in sich noch bewegungslose Dasein, als das in diesem Moment der Mensch erscheint, in ein Lebendiges verwandeln kann. Wohl keine intensivere Form der Zuwendung ist vorstellbar als der Blick, der den Anderen dazu befähigt, sich als den Erwählten zu begreifen. 46 Der Stern der Erlösung, II,II, S. 174. In seiner umfassenden Analyse des Sterns der Erlösung, die auch speziell kompositorische Aspekte beleuchtet, erklärt Mosès: »Diese Erfahrung, in der mein eigenes Bezugssystem sich dem eines anderen Menschen unterwirft, ist das Paradigma aller Offenbarung, die wesentlich als Dialog definiert ist. Die Erfahrung des gemeinsam gesprochenen Wortes […] schließlich nimmt zu dem Zeitpunkt, da sie stattfindet, die utopische Erfüllung des Noch-nicht-seienden, also der Erlösung vorweg. […] Da die Existenz im Wort erlebt wird, also in einem Zusammenhang von Beziehungen zum anderen Menschen, führt sie im Verhältnis zur Welt des Seins eine völlig neue Dimension ein, in der alles in veränderter Form neu beginnt: In diesem Sinne ist diese Umkehrung in Wirklichkeit eine innere Umkehr.« System und Offenbarung, S. 75.

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Gegenüberstellung

Wenn Rosenzweig Gott als den Liebenden benennt, stellt sich damit sofort die theologisch relevante Frage, ob er damit dem göttlichen Wesen nicht eine Eigenschaft, die des Liebens, beilegt. Doch darauf erwidert er sofort: »So ist Liebe keine Eigenschaft, sondern ein Ereignis, […].« 47 Denn sie fügt dem Göttlichen nicht eine Fähigkeit hinzu, sondern zeigt es in seinen momenthaften Bezügen zu demjenigen, der sich ihm liebend hinneigt. Liebe als Eigenschaft würde Gott stets zukommen, ganz gleich, ob sie aktualisiert würde oder nicht. Liebe als Ereignis findet statt, immer wieder von neuem. 48 Noch einmal bestätigt sich die Forderung, die Rosenzweig mit dem Begriff der Offenbarung verknüpft hatte: sie soll das Sein der Schöpfung in den Raum für Lebendiges verwandeln. Gott schuf und er zeigt sich; eines in der Vergangenheit, das andere ›immerwährend‹. So ergiebig eine intensive Betrachtung dieses Gedankens unter theologischer Perspektive ist, erweist sich eine bestimmte Facette für den vorliegenden Fragehorizont doch als interessanter. Was bedeutet die Liebe Gottes für denjenigen Menschen, der sich ihr öffnet? Wahrscheinlich klingt es paradox, doch gerade die Beantwortung dieser Frage wird zu einem entscheidenden Verbindungsstück zum heideggerschen Denken. Auch der Mensch ist zunächst da, im Status der Faktizität, doch noch nicht als der wirkliche Mensch. Die Möglichkeit, hier bereits vom eigentlichen Menschen zu sprechen, liegt nahe, soll aber zunächst durch eine Betrachtung der menschlichen Entwicklung vorbereitet werden. Auch an ihm steht also etwas aus, dessen er fähig ist, das jedoch der Verwirklichung bedarf. Rosenzweig verwendet zwei Ausdrücke, um Ursprung und Ziel dieser essentiellen Verwandlung zu bezeichnen – das Selbst und die Seele. Um die essentielle Verwandlung erfassen zu können, die beide Konstitutionsphasen menschlichen Seins unterscheidet, ist es zunächst erforderlich, noch einmal zu jener Beschreibung der drei Elemente zurückzukehren, die Rosenzweig an den Anfang seines Werkes gestellt hatte. Wie auch im Fall von Gott und Welt geht es dort darum, den Menschen in seinem So-sein zu betrachten, in einem Fürsich-sein archaischer Statik, das sich noch nicht in einem vielfältigen Geflecht von Beziehungen gebunden hat. Das erste Merkmal, das Rosenzweig in dieser Elementaranalyse anwendet, um die Frage nach Der Stern der Erlösung, II,II, S. 183. »Nur die Liebe des Liebenden ist diese jeden Augenblick erneuerte Selbsthingabe, nur er verschenkt sich in der Liebe.« Der Stern der Erlösung, II,II, S. 181.

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48 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Der Stern der Erlösung

dem Menschen zu beantworten, ist dessen Wille, noch nicht als zielgerichtetes Streben initiierende Potenz, sondern als reine Potentialität verstanden. »Dieser freie Wille ist endlich und augenblickshaft in seinen Äußerungen, wie es die weltliche Erscheinungsfülle ist. Aber im Gegensatz zu dieser begnügt er sich nicht einfach mit seinem Dasein und kennt ein andres Gesetz als das der eigenen Schwere; er stürzt nicht, er hat Richtung.« 49

Mit dem Hinweis auf den Willen ist die grundlegende Voraussetzung geschaffen, um das Selbst des Menschen thematisieren zu können. Doch mehr als eine Eigenschaft bezeichnet dieser Begriff zunächst nicht. Der Wille ermöglicht, daß der Mensch wollen kann. Eine Aktualisierung steht noch aus. »Denn was ist der freie Wille, solange er bloß Richtung, aber noch keinen Inhalt hat? Und was ist die Eigenheit, solange sie bloß – ist? Wir suchen den lebendigen Menschen, das Selbst.« 50 Gegen das zunächst unbewegliche Da-sein des Dinglichen grenzt sich menschliches Sein durch die Möglichkeit der Mobilität ab. Daß diese für Rosenzweig fast synonym zur Lebendigkeit gesetzt wird, hatte sich bereits angedeutet. Beweglichkeit als Können, hier mit dem Begriff der »Richtung« angezeigt, bleibt jedoch eine ungenutzte Fähigkeit, solange sie nicht ausgerichtet wird, »Inhalt« erhält, wie es heißt. Der freie, ungebundene Wille als bloße Eigenschaft bedarf der Konkretisierung, um ein Kennzeichen des menschlichen Selbst sein zu können. Interessant ist es, wie Rosenzweig diese beschreibt. Eine Möglichkeit hätte darin bestanden, daß der Wille als Impuls für ein zielgerichtetes Streben gedeutet würde. Rosenzweig wählt einen anderen Weg, um zu zeigen, wie der gerichtete Wille sich verwirklicht. Er ist Ursprung jener Differenzierung, durch die ein Mensch er selbst wird. Spätestens aus den Schriften Søren Kierkegaards ist diese differenzierende Bewegung bekannt, die den Einzelnen aus einer Gesellschaft, die durch Anonymität und Indifferenz gekennzeichnet ist, isoliert. Dabei wird in Kierkegaards Darstellung schnell klar, daß es kein Wunschziel ist, dem ein Mensch folgt. Vielmehr gibt es massive innere Widerstände und psychische Verdrängungstendenzen, die ein Durchbrechen der existentiellen Vereinzelung verhindern möchten.

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Der Stern der Erlösung, I,III, S. 72. Der Stern der Erlösung, I,III, S. 72.

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Gegenüberstellung

Zu beunruhigend erscheint es, als Einzelner zu existieren, als daß es tatsächlich gewollt werden könnte. Vergleichbar intensiv stellt Franz Rosenzweig den Weg des Menschen zum Selbst-sein dar. Entscheidend ist in diesem Prozeß, daß sich der freie Wille bindet. Als solcher ist er nicht Wille ›für‹ etwas, ›um etwas‹ willen, sondern ›gegenläufiger‹ – »trotziger« Wille. »Der Trotz, das stolze Dennoch, ist dem Menschen, was dem Gotte die Macht, das erhabene Also, ist. Gleich souverän ist der Anspruch des Trotzes wie das Recht der Macht. Als Trotz nimmt das Abstraktum des freien Willens Gestalt an.« 51 Der Vergleich von Trotz und göttlicher Macht ist äußerst aufschlußreich. Denn beides sind Grundlagen des Schöpferischen. So wie Gott kraft seiner Macht Sein begründet, schafft der Mensch kraft seines trotzenden Willens sein Selbst. Es wäre an dieser Stelle sicherlich verfrüht, davon zu sprechen, daß er ›sich selbst‹ verwirklicht, könnte doch diese Formulierung den Eindruck erwecken, menschliche Selbst-Verwirklichung sei damit bereits vollendet. In Rosenzweigs Konzeption des lebendigen Menschen signalisiert das Selbst zwar eine entscheidende, jedoch nicht die abschließende Transformationsstufe menschlichen Seins. Was bewirkt nun der Trotz, der immerhin jene Eigenschaft ist, die den Menschen in größter Nähe zum Göttlichen erscheinen läßt? Er isoliert das Selbst aus der Gemeinschaft, bringt es zu sich selbst. Seine Wirkung ist in erster Linie differenzierend, da er es ermöglicht, daß ein Einzelner sich überhaupt seiner selbst bewußt werden kann. Der freie Wille hat »Richtung«, so hatte Rosenzweig gezeigt. Diese Richtkraft benötigt auch der Trotz, der in extremer Weise auf eine Angriffsfläche angewiesen ist, an der er sich reiben, von der er sich absetzen kann. Neben der Richtung wird dem trotzigen Willen aber auch »Inhalt« zuteil. Diesen kann der Mensch nicht vorbereiten oder gar erzwingen, wohl verdrängen, doch darüber schweigt Rosenzweig. »Der Trotz läuft nun weiter seine Bahn – […] bis zu dem Punkt, wo die Existenz der Eigenheit sich ihm so fühlbar macht, daß er nicht mehr unverändert weitergehen kann, ohne sie zu beachten. […] Das Selbst überfällt den Menschen eines Tages wie ein gewappneter Mann und nimmt von allem Gut seines Hauses Besitz.« 52

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Der Stern der Erlösung, I,III, S. 73. Der Stern der Erlösung, I,III, S. 73 und S. 77.

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Der Stern der Erlösung

Ist es eine Erkenntnis, die das Da-sein eines Menschen durchkreuzt und alles bisher für verbindlich Geglaubte radikal in Frage stellt? Ist es jener Augenblick, in dem ein Einzelner nicht mehr den Blick vor der Endlichkeit verschließen kann, die sein Wesen ausmacht? Denkt Rosenzweig bei seiner Konzeption des Selbst in individualpsychologischer Weise? Die hier ausgewählten Textpassagen entstammen alle dem ersten Teil des Sterns der Erlösung, der Elementaranalyse. Dort wirkt es so, als stünde nicht das Geschehen um den Einzelnen im Fokus, sondern eine Rekonstruktion der Genese menschlichen Seins schlechthin. Daß beide Perspektiven sich letztlich nicht losgelöst von einander denken lassen, folgt für Rosenzweig aus seiner Überzeugung, daß die Geschichte des Einzelnen immer auch Zeugnis der Geschichte von Gott, Welt und Mensch ist. Daher verwirklicht sich in jeder Wendung des Einzelnen zum Selbst ein bedeutsamer Schritt auf dem Weg des Menschen, der in den religiösen Begriffen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung darstellbar werden soll. Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt legitim, das Selbst-Werden eines Menschen als Ereignis zu betrachten, das ihm als gesellschaftlichem Individuum widerfährt, womit dieses Geschehen philosophische Relevanz erlangen würde? Rosenzweig konzipiert seinen gesamten Text in der Sprache doppelter Bedeutsamkeit. Er folgt den Überzeugungen und der Bildhaftigkeit der Religion, beschränkt sich aber keineswegs auf eine ausschließlich theologische Betrachtung, die einer Reflexion des Religiösen dienen könnte. Immer wieder schneidet er diese Ebene der Betrachtung durch philosophische Blickwinkel unter Zuhilfenahme einer Begrifflichkeit, die dazu dienen soll, sein besonderes Verständnis eines »neuen Denkens« auszudrücken. Eine Erinnerung an die ersten leidenschaftlichen Zeilen des Sterns der Erlösung macht nachvollziehbar, wogegen sich der Trotz des Menschen vor allem richtet. Er widerstrebt dem Merkmal menschlichen Seins, also der einzigen Faktizität, die sich durch keine noch so vehemente Auflehnung wird leugnen lassen. In seiner Thematisierung des Selbst illustriert Rosenzweig diese im Grunde unsinnige und zugleich zutiefst menschliche Widerständigkeit mit dem Bild des tragischen Helden, das im Gilgamesch-Epos gezeichnet wird. »[…] der Anfang ist das Erwachen des menschlichen Selbst in der Begegnung mit Eros; es folgt […] die Begegnung mit Thanatos. Diese ist hier gewaltig vergegenständlicht, indem es zunächst nicht unmittelbar der eigene Tod ist, der dem Helden entgegentritt, sondern der Tod des Freundes;

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Gegenüberstellung

aber er erfährt in ihm die Furcht des Todes überhaupt. Die Zunge versagt ihm in dieser Begegnung den Dienst, […] aber er unterwirft sich auch nicht; sein ganzes Dasein wird zum Bestehen dieser einen Begegnung; sein Leben bekommt den Tod, den eigenen Tod, den er im Tode des Freundes erblickt hat, zum einzigen Inhalt.« 53

Im Hinblick auf den Vergleich zu Heideggers Sein und Zeit war es unerläßlich, diese ganze Passage zu zitieren. Sie zeigt den Menschen in der Begegnung des Todes starr vor Entsetzen und doch widerstehend, insofern er es nicht zuläßt, daß diese Erstarrung Gewalt über sein Handeln und vor allem sein Denken gewinnt. Dieses bedeutet auf keinen Fall, daß hier eine Verdrängung erfolgen würde. Dann wäre es unsinnig, vom Trotz zu sprechen. Rosenzweig hatte vom »stolzen Dennoch« gesprochen, das in dem Augenblick entsteht, in dem sich menschliches Wissen um die eigene existentielle Bedingtheit zum Grund seines Verhaltens verwandelt. Denn von nun an ist es ja nicht mehr die Endlichkeit, die sich lähmend und den Sinn des Seins negierend über alles Treiben des Menschen legt, sondern das Wissen um dieses Faktum, das ein bewußtes Agieren erst motiviert. In Rosenzweigs Deutung liegt hierin keinerlei morbide Schicksalsergebenheit oder fatalistische Getriebenheit zum Ende. Ganz im Gegenteil – das Bewußtsein der finalen Dimension des Seins gibt dem Menschen die Möglichkeit, dieses zum Agens seines Existierens zu machen. Nun wird noch einmal nachvollziehbar, warum jener Augenblick, in dem ein Mensch zu Bewußtsein kommt, eine radikale Zäsur in dessen Leben bedeutet. Rosenzweig zeichnet diese mit eindrucksvollen Sprachbildern, wenn er von der »edel-stummen Einsamkeit« des Selbst spricht, von »seiner Gelöstheit von allen Beziehungen des Lebens, seiner erhabenen Beschränktheit in sich selbst«. 54 Doch ist diese drastische Vereinzelung, die jemand im Wissen um die Endlichkeit seines Seins erfährt, nicht das dem Menschen eigentlich Mögliche. Das Besondere an Rosenzweigs Interpretation besteht darin, daß dieses zu-sich-Selbst-kommen zwar ein Geschehen ist, das den Einzelnen trifft, im Grunde aber jeden Einzelnen betrifft. Diese Tatsache bezeichnet er mit dem Begriff des »Gehaltes«. »Der Gehalt muß etwas unmittelbar Gleiches sein, etwas, was die Menschen nicht untereinander teilen wie die gemeinsame Welt, sondern etwas, 53 54

Der Stern der Erlösung, I,III, S. 83. Der Stern der Erlösung, I,III, S. 79.

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Der Stern der Erlösung

was in allen gleich ist. Und das ist nur das Menschliche schlechthin, das Selbst.« 55

Heißt dieses nicht aber doch, daß der Mensch dann Mensch ist, wenn er Selbst wurde? Es liegt noch etwas Anderes im Menschen, das ihn aus der radikalen Selbst-Bezogenheit, die Rosenzweig mit Bildern des Schweigens umschreibt, herausführt. In der Komposition seines Textes macht er es deutlich: Als Selbst zeigt er den Mensch in seinem SoSein, wie er es zuvor für die beiden anderen Elemente der Wirklichkeit, Gott und Welt, getan hatte. Doch sind die Darstellungen im ersten Teil des Sterns noch keine Ausführungen zu den Relationen, die sich aus dem jeweiligen So-Sein der Drei entwickeln werden. Es sind vielmehr Beschreibungen, in denen Rosenzweig die Elemente in jenem nur mythisch zu denkenden Moment fixiert, in dem sie sind, aber noch nicht wirken.

I.I.5 Bindung oder Selbst-sein Damit kehren die Überlegungen zu jenem Punkt zurück, den sie bereits gestreift hatten. Es ist eines, um das Bestehen der Elemente in ihrer nackten Tatsächlichkeit zu wissen, etwas anderes, ihr gemeinsames Wirken zu beobachten und sogar selbst Teil daran zu haben. Zu Beginn seines Werkes hatte Rosenzweig den Gedanken des Alls, den er vornehmlich aus idealistischer Philosophie ableitete, durch eine Vorstellung vom Ganzen ersetzt. Ziel war es gewesen, spontane Beweglichkeit der Teile innerhalb dieses Ganzen zu gewährleisten. Gerade sie hatten seiner Ansicht nach im Konzept vom All nicht mehr ausreichend berücksichtigt werden können, weil alles scheinbare Geschehen sich als bloße Verwirklichung einer präformierenden Ordnung erwiesen hatte. Die endliche Linearität einer Entfaltung von Wirklichkeit, die sich hieraus ergibt, würde seiner Forderung nach einer immerwährenden Erneuerung von Realitätsmomenten widersprechen. Diese muß jedoch vorausgesetzt werden, um Schöpfung als Ereignis zu verstehen, in dessen Verlauf sich fortgesetzt Verbindungen von Seiendem knüpfen und verändern und somit Sein als Lebendigkeit gedeutet werden kann. Diese Lebendigkeit läßt es zu, daß sich die starre Ding-Natur der Welt situativ modifizieren kann. 55

Der Stern der Erlösung, I,III, S. 88.

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Gegenüberstellung

Jene Prozeßhaftigkeit, die Rosenzweig deutlich stärker interessiert, zeigt sich in den Verwandlungen des Menschen. Diejenige zum Selbst hatte er dargestellt, betont aber zugleich, das dieses noch in sich gekehrt ist und damit wie die Gegenstände der Welt nicht mehr nur unter dem Aspekt seines Seins, sondern seines Wirkens betrachtet werden muß. An der Schwelle dieses perspektivischen Schwenks, der unter dem Bild der Offenbarung durchgeführt wird, faßt er den Status seiner Darstellung der Elemente zusammen: »Wir haben wahrhaftig das All zerschlagen. […] Das Stückwerk des Wissens, das uns jetzt umgibt, schaut seltsam fremd zu uns auf. Es sind die Elemente unserer Welt, aber wir kennen sie so nicht; […]. Und so muß die Frage nach den Verhältnissen denn doch gefragt werden.« 56 Wenn es in extrem stark verkürzter Weise formuliert werden darf, zeigt Rosenzweigs Betrachtung des Geschehens der Offenbarung auch ein Offenbarwerden im Sinne des Verstehens von Möglichem. Da-seiendes, das hier dadurch gekennzeichnet wurde, daß es etwas ist, das bloß da ist, öffnet sich im Spektrum seiner Möglichkeiten demjenigen, der es versteht. Die Möglichkeit, zu trotzen, wird einem Menschen durch die Erfahrung der existentiellen Endlichkeit offenbart. Auch hier zeigt sich eine Dimension von Verstehen, das, wie bereits angedeutet, von Rosenzweig nicht als abstrahierendes Vermögen interpretiert wird. Verstehen ist vielmehr jener komplexe Vorgang ontologischer Schau, der die Möglichkeitsstruktur der Wirklichkeit erfahrbar werden läßt. In scheinbar anonymer Tatsächlichkeit erscheint separiert nebeneinander Bestehendes verändert, wenn es unter dem Aspekt seiner Relationsfähigkeit wahrgenommen wird. Rosenzweig ist davon überzeugt, daß nichts dauerhaft nur da sein wird, wenn es doch in seiner Möglichkeit liegt, jenes vielfältige Geflecht von Beziehungen zu schaffen, als das er Schöpfung begreift. Welcher Beziehung ist aber das Selbst fähig? »Der trotzige Stolz des freien Willens, der in seinen immer erneuten Aufwallungen den daseienden Charakter zum Selbst schloß, wird jetzt das erste, was aus dem Innern des Selbst nach außen tritt, […].« 57 Der Stern der Erlösung, I,III, S. 91 f. Bei einigen Textpassagen, die diesem Werk entnommen sind, müßte um der größtmöglichen Nähe zur Intention Rosenzweigs darauf verwiesen werden, daß er auch eine Genealogie der Seins-Entfaltung entwirft. Da es hier jedoch darum geht, seine Aussagen auf ihre mögliche Bedeutung für eine Bearbeitung durch Martin Heidegger zu prüfen, wird dieser Hintergrund, obwohl ohne Frage relevant, ausgeblendet. 57 Der Stern der Erlösung, II,II, S. 186. 56

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Doch welchem Impuls folgt der Wille, der nun offenbar bereit ist, jene Selbst-Verschränkung aufzugeben, die ihm bislang einziger und erfüllender Inhalt gewesen ist? Dem Tod zu trotzen, war seine Aufgabe gewesen. Damit setzt der Trotz immer von neuem ein Zeichen gegen das Faktum der Endlichkeit, ja er wirkt gegen die Zeitlichkeit selbst. Solange der Mensch trotzt, steht er außerhalb der Zeit, aber nicht in jenem trügerischen Sinn, den Rosenzweig dem Idealismus vorwarf. Dieser verbannte die so grundlegende Angst des Mensch vor dem Tode unter Hinweis auf eine höhere Seins-Ordnung, in der dem Ende des Einzelnen keine Bedeutung mehr zukam. Der trotzende Mensch rekurriert nicht auf einen irgendwie denkbaren Zustand der Unkörperlichkeit, dem die Zeit nichts anzuhaben vermag. »[…] er will bleiben, er will – leben.« 58 lautete das leidenschaftliche Credo des Menschen, das er eingangs artikulierte. Im trotzenden Willen sieht Rosenzweig die menschliche Fähigkeit, dem Augenblick Dauer zu verleihen. Auch wenn dieses Bild so wohlbekannt ist, daß es kaum noch als Aussage theoretischer Bedeutung brauchbar zu sein scheint, zeigt es doch jene Überzeugung, die Rosenzweigs weitere Darstellung der Verwandlung des stummen Selbst zur empfänglichen Seele trägt. Denn der Trotz belegt das Vermögen, festzuhalten. Er ist kein kurzes Abwenden von Beliebigem, das für einen Moment oder in einer Situation unangenehm sein könnte. Trotz widersetzt sich dauerhaft, wobei der Begriff des Widersetzens die Positionierung in Opposition andeuten soll. Wenn dauerhaftes Verhalten dem Menschen generell also möglich ist, dann ist dessen Aktualisierung nicht nur in der Bewegung des Abgrenzens, sondern auch in jener des Anschließens zu vermuten, das dann mit ebensoviel Beharrlichkeit realisiert wird. Mit Blick auf den Trotz zeigt Rosenzweig, daß er zwar per se Fähigkeit zu dauerhaftem Widerstand ist, sich aber immer von neuem betätigen und damit seine Dauerhaftigkeit bestätigen muß. Er verschreibt sich erneut, immer erneuert seinem Ziel, zu dauern, um der Endlichkeit entgegenzuwirken. Dieser Ausdruck ist durchaus wörtlich gemeint, denn das Bestehen im Sein der Endlichkeit deutet Rosenzweig nicht als Schau, nicht als Kontemplation, sondern als Wirken. Dieses muß nicht zwangsläufig in eine Handlung münden, obwohl diese Option keineswegs ausgeschlossen wird. Wirken ist bereits ein Sich-Verhalten, das aus der Wahrnehmung und dem Verstehen des Anderen re58

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sultiert. Dieses Andere kann als der andere Mensch, die Andersheit der Welt oder Gott als das ganz Andere erscheinen. Ein solches Gewahrwerden des Anderen bedeutet für Rosenzweig, insofern es dem personalen Anderen im Nächsten und in Gott gilt, zugleich Initiierung einer tiefgreifenden psychischen Stimulation, die sich im Gefühl der Demut äußert. »Die Demut ruht im Gefühl des Geborgenseins. Sie weiß, daß ihr nichts geschehen kann. Und sie weiß, daß ihr keine Macht dies Bewußtsein rauben kann. Es trägt sie, wohin sie auch gehen mag. […] Demütig-stolze Ehrfurcht, Gefühl der Abhängigkeit und des sicheren Geborgenseins, […].« 59

Der Ausdruck »Gefühl des Geborgenseins« mag im ersten Moment eher poetisch klingen, ein Eindruck, der keineswegs geleugnet werden soll. Denn was genau bezeichnet Rosenzweig mit ihm? Neben der erschütternden Erfahrung der Endlichkeit, die einen Menschen zum trotzigen Selbst werden läßt, gibt es auch dieses Empfinden. Daß Rosenzweig hier keine sentimentale Verklärung beschreiben will, wird daraus ersichtlich, daß er »Gefühl« und »Bewußtsein« gemeinsam nennt. Wirft sich das trotzige Selbst in dem fast repetitiv formulierten Willen, zu dauern, jener Erkenntnis der Endlichkeit entgegen, die alle Lebendigkeit ad absurdum zu führen droht, senkt sich Demut wie eine Gewißheit, die nicht zu trotzen braucht, weil sie nichts bedroht, über das Selbst. Demut wirkt wie eine tiefe Bewegung des Ausatmens. Dabei erscheint sie hier als eine durch und durch positiv konnotierte Geste des Mensch, die zwar wohl Hinwendung zum Anderen bedeutet, aber keinesfalls Unterwerfung. Inwieweit sie als Bewegung absolut freier Beziehung zweier Wesen zu sehen ist, bleibt jedoch fraglich. Rosenzweig spricht von »Abhängigkeit« und »Geborgenheit« gleichermaßen und nutzt das Phänomen der Demut, um die Bindung des Menschen an Gott zu umschreiben. Gott als der Liebende, dessen Liebe der Mensch im Bewußtsein, Geliebter zu sein, 60 kraft seiner Befähigung des Trotzens Dauer verleiht. 61 Dieses Vermögen, Der Stern der Erlösung, II,II, S. 187 f. »Gott hört nie auf zu lieben, die Seele nie, geliebt zu sein.« Der Stern der Erlösung, II,II, S. 189. 61 »Was dem Liebenden ein immer zu erneuernder Augenblick ist, das Geliebte weiß es als ewig, […]. Die Liebe des Geliebten sitzt still zu den Füßen der Liebe des Liebenden: ihr gibt Gegenwärtigkeit nicht der einzelne, immer neue Augenblick, sondern die ruhige Dauer; weil sie sich ›immer‹ geliebt weiß, nur deshalb weiß sie sich geliebt in jedem Augenblick.« Der Stern der Erlösung, II,II, S. 188. 59 60

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etwas scheinbar dem Augenblick Entspringendes als fortwährende Zuwendung zu begreifen, unterscheidet das Selbst von der Seele. »Die Seele entspringt aus dem Selbst des Menschen, und zwar ist es der Trotz, der in ihr nach außen tritt. Der Trotz, […], er ists, der ihr die Kraft des Haltens, des Festhaltens gibt.« 62 In theologischer Perspektive ist diese Ansicht Rosenzweigs interessant, insofern er einen Weg beschreibt, auf dem das überzeitliche Wesen Gottes und die vergängliche Wesenheit des Menschen in einer Form der Zu-Neigung aufeinander bezogen werden können. Dabei mag es ungewöhnlich anmuten, wenn Rosenzweig das Wirken der göttlichen Liebe auf den Augenblick konzentriert, wohingegen der Mensch, der sich als den Geliebten empfindet, diese scheinbar temporäre Beschränkung im Bewußtsein aufheben und damit der Endlichkeit entbinden kann. Es hatte sich bereits gezeigt, daß Rosenzweig versucht, Schöpfung als unabgeschlossenen Prozeß zu denken. Das Modell der Liebe, endlos, doch immer wieder im Augenblick, entspricht seiner Intention exakt. Denn ›immer wieder‹ heißt nicht ›ein für allemal‹, sondern ›immer von Neuem‹. Damit gewährleistet Rosenzweig die Interpretierbarkeit dieses religiösen Motivs der Gottesliebe auch im philosophischen Rahmen. Es gibt etwas, das ein Mensch vergegenwärtigen kann, indem er es erlebt. Der Begriff des Vergegenwärtigens soll zweierlei zeigen. Zum einen die Möglichkeit, daß ein Mensch Klarheit über etwas erlangt, und zum anderen die daraus resultierende Folge: Das, was ein Einzelner sich zu Bewußtsein bringt, gewinnt eine Form von Tatsächlichkeit. Die Liebe, in deren Aktualität sich ein Mensch geborgen fühlt, erlangt Realität als das Bergende innerhalb der Existenz. Dauerhaftigkeit gewinnt der Impuls der Liebe, der von Gott ausgeht, erst durch die menschliche Fähigkeit zur Treue. Sie entspringt aus seinem trotzenden Willen, der nun nicht mehr als solcher in Erscheinung tritt, sondern nur noch in seiner vornehmlichen Kompetenz: der bejahenden Beharrlichkeit. In seinem Widerstand gegen die Endlichkeit hatte er diese besondere Eignung bewiesen. Auch dort hatte sich der Einzelne einem Ziel verschrieben, das durch diese Form der Bestätigung zu einem Wert an sich wurde. Rosenzweig selbst verwendet den Begriff des Inhalts, um dasjenige zu benennen, dem das Beharren in einer einmal gewählten Ausrichtung gilt. Dauerhaft ist die Liebe des Geliebten also nicht, weil es die Liebe als solche wäre, sondern weil es die Treue des Gelieb62

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ten ist. Das Selbst unter dem essentiellen Primat der Treue wird nun als »Seele« bezeichnet. »Sie entspringt aus dem Selbst des Menschen, und zwar ist es der Trotz, der in ihr nach außen tritt.« 63 Treue als Ausdruck des trotzigen Willens – dieser Gedanke könnte zu der Folgerung verleiten, daß sie Gegenstand einer Entscheidung ist. Die Entscheidung hierüber hat in der Argumentation Rosenzweigs beachtliche Tragweite. »Und weil die Seele ihn hält, deshalb läßt sich auch Gott von ihr halten. […] Und so geht auch vom Geliebten eine Kraft aus, keine Kraft ständig neuer Antriebe, sondern das stille Leuchten eines großen Ja, worin das sich allzeit selbst verleugnende Lieben des Liebenden das findet, was es in sich selbst nicht finden könnte: Bejahung und Dauer. […] Der Liebende, der sich in der Liebe preisgibt, wird in der Treue des Geliebten aufs neue geschaffen und nun auf immer.« 64

Könnte sich der Mensch aber jemals der Liebe Gottes entziehen? Rosenzweig erwägt diese Möglichkeit unter einem anderen Aspekt. Wenn er die »Bejahung« erwähnt, könnte der Eindruck entstehen, als wäre von dieser nur dann sinnvoll zu sprechen, wenn es auch ihr Gegenteil gäbe. Schon einmal hätte sich eine ähnliche Frage stellen können. Ist es dem trotzigen Willen möglich, sich nicht mit aller emotionalen Kraft gegen das Wissen um die Endlichkeit zu stemmen? In beiden Fällen geht es nicht darum, sie als Belege oder Widerlegungen einer Freiheit der Entscheidung zu deuten. Statt dessen demonstrieren sie Fähigkeiten, die dem Menschen eignen. Ihre Aktualisierung erfolgt eher im Sinne einer Antwort, einer existentiellen Resonanz, die weitaus mehr über das Sein des Menschen als über seine vermeintliche Willensfreiheit aussagt. Der trotzende Wille widersteht, so wie der Geliebte ein Gefühl erwidert. Beide Male erfolgt eine Bestätigung desjenigen, das vorausgeht: der Erfahrung des Todes und des Erlebens der Liebe. Beide Male bekräftigt der Mensch durch seine Reaktion die Bedeutung dessen, was ihm spürbar wurde, für seine eigene Existenz. Insofern bedeutet ›Bejahung‹ eine Anerkennung der Relevanz des Todes und der Liebe für das eigene Sein. Begreifen dieser absoluten Bedeutung für das Selbst-Sein ist die Antwort, in deren Artikulation ein Mensch von seiner Möglichkeit, diese Bedeutsamkeit erfassen zu können, Gebrauch macht. Er entscheidet

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sich für sie, weil er sie ergriffen hat – und ergreift sie nicht, weil er sich für sie entschieden hätte. Obwohl es wie ein Problem ausschließlich theologischer Diskussionen wirkt, muß doch auf eine Frage eingegangen werden, die Rosenzweig in diesem Zusammenhang stellt. Kann Liebe geboten werden? 65 Die gerade vorausgegangenen Überlegungen können auch hier nützlich sein. Es ist von sekundärer Bedeutung, ob das Gebot der Liebe, das Moses von Gott am Berg Sinai empfing, willentlich befolgt wird oder nicht. Rosenzweig fokussiert vielmehr auch hier die Weise, in der ein Mensch auf das Gebot reagiert, und zwar nicht nur intellektuell, sondern unter Einbeziehung aller ihm zur Verfügung stehenden Vermögen. »Aber die Seele, die breite, geöffnete, ganz stumm lauschende Seele – was denn kann sie dem Gebot der Liebe erwidern? […] Ihre Liebe ist, einmal geboren, ein Stehendes, Stetes; so darf sie zu ihr stehen, darf sie gestehen. […] Im Bekenntnis wird sie gestanden als solch ein Gegenwärtiges, das Dauer hat, Dauer haben will.« 66 Keine Gedanken erscheinen ungeeigneter für einen Vergleich mit den Aussagen Martin Heideggers. Und doch werden sie sich als adaptierbar erweisen. Zunächst ist die Technik der Begriffsfindung interessant, die Rosenzweig hier anwendet. »Stetes«, »Stehendes« und »gestanden«, in dieser Bedeutungsableitung folgt aus dem Antworten auf die göttliche Liebe deren Beständigkeit, die im Moment der Antwort gestanden wird. Wiederum ist dieses Gestehen keine rationale Einwilligung in ein zuvor Beschlossenes, sondern Bestätigung von Existenz. Weil allein das Sein der Seele die Bedingung ihres Entstehens belegt, gesteht sie diese Faktizität, nicht, weil sie eine Entscheidung dafür getroffen hätte. Dabei verbinden sich zwei konträre Ausrichtungen des Bewußtseins. Die Seele schließt sich dem Anderen an, den sie als den Liebenden erlebt, und erschließt sich dadurch eine bislang unbekannte Sicht der Introspektion. Denn sie findet sich ja verändert vor, affiziert durch ein Gefühl, das ihr bisher fremd gewesen ist. Es ist gewiß nicht übertrieben, in dieser doppelten Bewegung der Selbsterfahrung jene Theorien vorgebildet zu finden, die einige Jahre später besonders von Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas formuliert werden. Für sie ist es unbestreitbar, daß der Zugang zur Erkenntnis des Selbst immer nur über die Erkenntnis des Anderen zu

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finden ist – des anderen Menschen wie des Anderen als Zeichen des Göttlichen. In der Ausrichtung auf Gott, den Liebenden, antwortet die geliebte Seele, indem sie ihre Liebe gesteht, nicht in Form einer emotional-verbalen Artikulation, wie sie der Ausdruck ›ich liebe‹ zeigt. Es ist eine existentielle Bekräftigung, um die es hier geht, die, wollte man sie in Worte fassen, lauten würde: ›ich bin da, dich zu lieben‹. Hier geschieht also vor allem eine Selbstvergewisserung, die mit einer Seins-Bezeugung einhergeht. Die Seele kann sich nur als liebend erleben, weil sie da ist, so wie sie sich nur als seiend erfährt, weil sie liebt. Da-sein wird als erfüllte Möglichkeit und damit als Dasein bestätigt. Da Rosenzweig hier wieder auf seinen Gedanken der fortgesetzten Schöpfung zurückgreift, ist es für ihn wichtig zu zeigen, daß eine solche Bestätigung niemals aus sich selbst heraus vorstellbar ist. Denn sonst wäre nicht zwischen einem Da-sein als bloßem SoSein und seinem Reflexionsmodus in der menschlichen Seele zu unterscheiden. Es muß also einen Impuls geben, der die Verwandlung von Bestehendem in Gestaltetes auslöst. Wie die wiederholten Zurückweisungen des Idealismus gezeigt hatten, soll dieser Entwicklung initiierende Anstoß aber nicht als Idee begriffen werden, sondern als Ansprache. Das Selbst fühlt sich durch die göttliche Liebe angesprochen, sogar aufgerufen, zu lieben. Rosenzweig stützt sich mit diesem Gedanken vor allem auf jenes Wort der jüdischen Religion, das reine Aufforderung ist – »Schema Israel! Höre Israel!« 67 Hier entspringt der Motivkomplex der Ausdrücke des Hörens und Rufens, des Antwortens und Bezeugens. Eine Begründung dieser Metaphorik ist daher für ihn nicht nötig. Es könnte sogar gefragt werden, ob es sich hier überhaupt um metaphorische Begriffe handelt oder nicht vielmehr um Bezeichnungen tatsächlicher Kommunikation. Wenn Heidegger exakt diesen Bilderkanon zur Darstellung der Seins-Relation des Menschen benutzt, wird er dessen Begründung schuldig bleiben. Bei der Ausweitung dieses Begriffskontextes verwendet Rosenzweig einen Ausdruck, der in der psychischen Logik seines Denkens fast notwendig wirkt. Es handelt sich um den Begriff der Scham. In einer nach außen gerichteten Relation, so hatte sich gezeigt, antwortet die Seele auf die Ansprache durch Gott. Introspektiv begreift sie sich selbst als Gerufene. Diese Erfahrung löst eine erstaunliche Reaktion aus: 67

»Höre Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr allein.« Deuteronomium 6,4.

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»Im Geständnis der Liebe entblößt sie [die Seele] sich selbst. Es ist süß zu gestehen, daß man wiederliebt […]; aber es ist hart zu gestehen, daß man in der Vergangenheit ohne Liebe war. Und doch wäre die Liebe nicht das Erschütternde, Umreißende, wenn die erschütterte, ergriffene, umgerissene Seele nicht sich bewußt wäre, daß sie bis zu diesem Augenblick unerschüttert und unergriffen wäre. Es war also erst eine Erschütterung nötig, damit das Selbst geliebte Seele werden konnte. Und die Seele schämt sich ihres vergangenen Selbst und daß sie nicht aus eigener Kraft diesen Bann, in dem sie lag, gebrochen hat.« 68

Das Entscheidende an diesem Gedanken besteht sicherlich darin, daß er die menschliche Seele im Prozeß ihrer Selbsterkenntnis beleuchtet. Sie weiß den gegenwärtigen Zustand des Empfindens von jenem der Vergangenheit zu unterscheiden, den sie als empfindungslos erinnert. Erst durch diesen emotionalen Abgleich wird es ihr möglich, sich im Augenblick zu erleben, den ihr das Gefühl der Liebe spürbar werden läßt. Interessant ist dann besonders die Reaktion, die im Akt der Selbstwahrnehmung auf diese zeitliche Zäsur und die mit ihr einhergehende Differenzierung zweier Seelen-Zustände folgt. Rosenzweig bestimmt die Scham als eine Affektion, mit der die Seele auf ihr eigenes Unvermögen reagiert. Sie muß in dieser Weise empfinden, da ihr »aus eigener Kraft« doch eine »Erschütterung«, die der Liebe gleichkäme, niemals möglich gewesen wäre. Scham als Reaktionsmuster intersubjektiver Erfahrung – in diesem Sinne ist das Phänomen etwa ebenfalls aus den Werken von Jean-Paul Sartre oder Emmanuel Lévinas vertraut. Im biblischen Bericht des Sündenfalls begegnet die Scham in dem Moment, in dem sich Adam und Eva ihrer Blöße bewußt werden. Ist sie also Empfinden eines Menschen, der sich als defizitär erlebt, der begreift, daß ihm etwas mangelt? Rosenzweig zumindest verwendet den Begriff in dieser Weise. Doch könnte dann sofort die Frage entstehen, ob die Scham nicht der Demut widersprechen muß, die doch das Gefühl von Abhängigkeit, aber auch von Geborgenheit bezeichnete. Abermals geht es für Rosenzweig darum, den Gedanken von Entwicklung zu ermöglichen. Die Seele, so schreibt er nun, will Gottes Liebesgebot antworten, schämt sich jedoch, dieses ganz unbefangen zu tun, weil sie sich damit als schwach preisgibt. 69 Schwäche bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem Unvollständigkeit, das Bewußtsein, etwas nicht selbst gekonnt zu haben. Psy68 69

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chologisch liegt hier ein aufschlußreicher Moment der Selbsteinschätzung vor. Gerade die Erfahrung einer nicht im Rahmen der eigenen Vermögen liegenden Möglichkeit öffnet den Blick auf die tatsächlichen Eignungen des Menschen. Die Seele, die sich in der Scham zu ihrem Nicht-Können bekennt, bestätigt dadurch die Existenz des Anderen, der sie befähigt, ihr eigenes Nicht-Können zu transzendieren. 70 Diese Feststellung beschließt Rosenzweigs Deutung der Offenbarung, dient ihm aber zugleich dazu, jene der Erlösung einzuleiten. Dabei zeigt sich eine erstaunliche Wendung. Der Gedanke könnte naheliegen, daß der Mensch, der seine Liebe zu Gott bekennt, die Gesamtheit seiner Möglichkeiten ausgeschöpft und sein vollkommenes Menschsein verwirklicht hat. »Die Seele hatte sich in einem unendlichen, einfürallemal gesagten Ja vor Gott hingebreitet. So war sie aus ihrer Verschlossenheit im Selbst herausgetreten. […] Geöffnet, hingegeben, vertrauend, – aber geöffnet nur nach einer einzigen Richtung, hingegeben nur einem Einzigen, vertrauend nur Ihm.« 71 »Nur Ihm« – wohin sonst sollte sich denn das Vertrauen der Seele erstrecken? Ist eine höhere, überhaupt andere Ausrichtung vorstellbar? In seinem immer wieder zum Ausdruck kommenden Bemühen, dynamische Relation zwischen Gott, Welt und Mensch zu denken, muß Rosenzweig an dieser Stelle der Konsequenz seiner bisherigen Darstellung folgen, die ihn dazu zwingt, selbst in der bekennenden Liebe zu Gott noch etwas Erstarrtes zu sehen, das der Dynamisierung bedarf. Denn immer wieder ist der Blick zurück zu jenem Ziel hilfreich, das er im Stern der Erlösung verfolgt. So wie Schöpfung nicht bloße Hervorbringung von Sein ist, sondern dessen Entwicklung, ist Offenbarung nicht alleinige Erschließung der Wirklichkeit, sondern Bedingung der Erlösung. Bei deren Betrachtung wird sich zeigen, daß sie Inbegriff äußerster Geschehensstruktur ist, die es sogar erlaubt, die Vorstellung der Zeitlichkeit des Daseins zu überschreiten. Denn Erlösung versteht Rosenzweig nicht primär als Erfüllung einer dem Sein inhärierenden Möglichkeit, sondern als dessen fortgesetzte Aktualisierung.

»Indem die Seele also auf diesem höchsten Punkt ihres Sichselberbekennens, aller Scham befreit, sich ganz vor Gott ausbreitet, ist ihr Bekennen schon mehr als sich selber, mehr als die eigene Sündhaftigkeit bekennen; es wird nicht erst, sondern ist schon unmittelbar Bekennen – Gottes.« Der Stern der Erlösung, II,II, S. 201 f. 71 Der Stern der Erlösung, II,III, S. 229. 70

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Bei allen Aussagen Rosenzweigs zum Selbstwerden des Menschen, zu dessen Selbsterkenntnis und nun zu der noch ausstehenden Öffnung für ein erneutes Werden, muß berücksichtigt werden, daß sie in einer zweifachen Dimensionierung lesbar sind. Zum einen als Beschreibung menschlicher Entwicklung und zum anderen als Genese weltzeitlichen Geschehens. Das, was sich in der Herausbildung des Menschen zeigt, spiegelt die Entwicklungsgeschichte des Menschen schlechthin. Die Vorstellung des Ganzen, die sich auch hier abzeichnet, wird die Vergangenheit ebenso umfassen wie die noch ausstehende Zeit, die Rosenzweig nicht als Zukunft generell betrachtet, sondern als Zeit der Erlösung. Diese verwirklicht sich als Geschehen dynamischer Relationen, in denen sich Seiendes auf Seiendes bezieht und damit jenen Boden schafft, auf dem ein Ganzes erkennbar sein wird. Das Ganze ist, um noch einmal daran zu erinnern, Rosenzweigs Begriff für die Wirklichkeit, die sich aus den Elementen Gott, Welt und Mensch konstituiert. Gott kann und muß als in sich geschlossenes Wesen gedacht werden, das sich gleichwohl offenbart, womit es sich zur Gänze darstellt. Welt ist zunächst Da-sein, reiner Bestand, der sich zwar dem Konstrukt der Wirklichkeit einfügt, dafür jedoch stets auf ein Agens angewiesen ist. Der Mensch befindet sich im Prozeß seiner Entwicklung, hat aber noch nicht alle ihm eignenden Möglichkeiten ausgeschöpft. Würde er diese niemals verwirklichen, was eine hypothetische Annahme ist, würde er damit die Bildung des Ganzen der Wirklichkeit verhindern, doch nicht nur dieses. Er würde das Geschehen der Erlösung vereiteln. Nicht umsonst betrachtet Rosenzweig den Menschen als anderen Pol der Offenbarung. Die Tatsache, daß er derjenige ist, der Offenbarung verstehen kann, bedingt die Möglichkeit, daß sich in seinem Verstehen die Erlösung präformiert. Darauf wird später noch einmal einzugehen sein. Im Moment steht Rosenzweig vor der argumentativen Herausforderung, zu erklären, wie die Seele, die sich ganz auf Gott bezogen hatte, aus dieser Fokussierung, die er als Bewegungslosigkeit deutet, heraustreten kann. »Wie mag sich nun diese Verschlossenheit zur Gestalt er-schließen? Denn es muß zu einer solchen Erschließung kommen, wenn der tiefste Grund jenes sich Öffnens der Seele nicht verleugnet werden soll. Jener Grund war ja die Notwendigkeit, daß die geheime Vorwelt der Schöpfung sich ins Wunder der Offenbarung verkehren sollte.« 72 72

Der Stern der Erlösung, II,III, S. 232.

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Gegenüberstellung

Der besondere Rang, der dem Begriff des Erschließens im Denken Rosenzweigs zukommt, hatte sich bereits angedeutet. Hier erscheint er nun in seiner Doppelstruktur. Im Erschließen begreift ein Mensch etwas, das ihm bis dahin unklar gewesen ist. Zugleich setzt er damit Realität für dasjenige, das er versteht. ›Öffnen‹ im ontologischen Sinn verbindet sich so mit ›urbar machen‹ im ontischen Kontext. Das Erschlossene ist nicht nur aus der Verdunkelung des nicht Verstandenen gelöst, sondern es erlangt eine Bestätigung seines Seins als Sein für das Ganze. Es ist geöffnet und von nun an zugänglich. »Indem sich der Mensch zum ganzen Menschen erschließt, ist er nun unmittelbar sichtbar und hörbar geworden« 73, schreibt Rosenzweig und signalisiert damit, daß hier nicht nur eine Modifikation der Persönlichkeit stattgefunden hat, sondern eine tatsächliche Seins-Setzung. Denn erst der ganze Mensch ist zugänglich, da er greifbar im Gesamt der Wirklichkeit wird. Verwundert es noch, wenn Rosenzweig mit Blick auf den »ganzen Menschen« von dem »Eigentlichen« spricht? Ganz ist er nicht, solange das Eigentliche nicht erreicht ist, 74 solange noch etwas zur Verwirklichung aussteht. Die liebende Ausrichtung auf Gott hatte sich als notwendige Phase, jedoch nicht als Endziel der menschlichen Entwicklung erwiesen. Noch hat der Mensch keine »Gestalt« erlangt, wie es hieß. Die Frage, die Rosenzweig in poetischer Wortwahl artikuliert, ist eindeutig: »Wie also bricht nun die Pforte, die den Menschen, auch nachdem er den Ruf Gottes vernommen und in seiner Liebe selig geworden ist, noch vor der Welt verschließt?« 75 Öffnung ist Hinwendung, das hatte sich bereits gezeigt. Hinwendung zum Erschlossenen, das als solches Gegenüber konkreter Beziehung wird. Konkretes Seiendes ist immer Seiendes im Augenblick, woraus Rosenzweig folgert, daß die liebende Beziehung des Menschen zu Gott, die immer gleich bleibt, Momenthaftigkeit nur durch die Beziehung der Liebe auf den einzelnen Menschen gewinnen kann. »Die Liebe zum Nächsten ist das, was jene bloße Hingegebenheit in jedem Augenblick überwindet und dennoch stets voraussetzt.« 76 Der Stern der Erlösung, II,III, S. 233. Der Stern der Erlösung, II,III, S. 235. 75 Der Stern der Erlösung, II,III, S. 236. 76 Der Stern der Erlösung, II,III, S. 238. Sborowitz spricht in Offenbarung und Offenbarungsreligion in Franz Rosenzweigs ›Stern der Erlösung‹, S. 27 davon, daß die Hinwendung zum Nächsten als »Selbstverleugnung« zu verstehen sei, was nur dann 73 74

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Der Stern der Erlösung

Es ist interessant, wie Rosenzweig den »Nächsten« interpretiert. Es ist buchstäblich ›der Nächste‹, derjenige, der momentan und situativ nahe steht, woraus dann folgt, daß der konkrete Nächste Jeder und Alles sein kann. 77 Nicht nur das andere Individuum kann Gegenstand der Aufmerksamkeit werden, sondern auch das andere Ding – eine unmittelbare Konsequenz aus Rosenzweigs Analyse der Elemente. Sie hatte auf die Unfertigkeit der Welt aufmerksam gemacht, der zwar wohl Da-sein, jedoch noch keine Gestalt zukommt. Soll in entscheidender Wendung das Zusammenwirken der Elemente Gott, Welt und Mensch stattfinden, ist es an der Zeit, der Welt Gestalt zu geben. Dieses wird durch die Aufmerksamkeit des Menschen auf das ihm Nächste vorbereitet, das er durch Verstehen und Verwendung zu jener Struktur zusammenfügt, die Rosenzweig als Ganzes begreift. Es könnte hier die Frage naheliegen, ob damit nicht einem willkürlichen und von Eigeninteresse geleiteten Agieren des Menschen eine theoretische Rechtfertigung zuteil wird? Wo liegt eine mögliche Grenze, die Gestaltung der Welt von ihrer Ausbeutung trennt? Rosenzweig selbst geht auf diese Überlegung nicht ein, die für ihn wohl kaum Relevanz hätte. Denn er kann sich darauf verlassen, daß sowohl das Gestaltungspotential der Welt als auch der Gestaltungswille des Menschen letztlich im Kontext göttlichen Wirkens verankert sind. Insofern zeigen seine Aussagen einen durchaus bemerkenswerten Entwicklungsoptimismus, dessen Begründung freilich in einer Vorstellung von Wirklichkeit, die nicht auf dem Glauben an Gott basiert, hinfällig geworden ist. Immer wieder zeigt sich die Notwendigkeit für Rosenzweig, Hervorbringung von Sein und Schöpfung im Sinne der Gestaltung der Welt zu differenzieren. Aus der Unfertigkeit der Welt resultiert, daß sie als Ganzes der Wirklichkeit stets als zukünftig, als noch ausstehend zu denken ist. 78 In philosophischer Perspektive wirkt dieses nun wenig auffällig, da natürlich das Unabgeschlossene noch der Vollendung in einer Zeit bedarf, die sich nicht mit dem gegenwärtigen Augenblick decken darf, da sonst eine Veränderung in die nachvollziehbar wird, wenn die Transformation von Selbst zu Seele, die Rosenzweig beschreibt, zugrunde gelegt wird. 77 »Der Nächste ist also wie gesagt nur Platzhalter; die Liebe geht, indem sie vertretungsweise auf den ihr in dem flüchtigen Augenblick ihrer Gegenwart jeweils Nächsten geht, in Wahrheit auf den Inbegriff Aller – Menschen und Dinge –, die ihr jemals diesen Platz des ihr Nächsten einnehmen könnten, sie geht letzthin auf alles, auf die Welt.« Der Stern der Erlösung, II,III, S. 243. 78 Der Stern der Erlösung, II,III, S. 244.

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Gegenüberstellung

Zukünftigkeit hinein ausgeschlossen wäre. Rosenzweig erweitert diesen Blickwinkel um den religiösen Gedanken des »Reiches«. »Das Zukünftige will vorausgesagt werden. Die Zukunft wird erlebt nur in der Erwartung. […] So ist sie [die Welt] ein Kommendes, nein: ein Kommen. Sie ist das was kommen soll. Sie ist das Reich.« 79 Hier geht es also nicht mehr nur um die Entfaltung der Möglichkeiten, die im Da-sein der Welt liegen. Es geht um die Verwirklichung der einen Möglichkeitsstruktur, die im Sein der Welt angelegt ist. Das »Reich« ist Inbegriff des Kommenden, das nicht deshalb kommen wird, weil es kommen kann, sondern weil es nur kommend zu denken ist. Wie schwerwiegend grenzt die Vorstellung eines zukünftigen Seins die bisherigen Erwähnungen einer Entwicklungsfähigkeit des Seienden ein? Bislang hatte Rosenzweigs Überzeugung der Unabgeschlossenheit der Schöpfung, philosophisch betrachtet, sehr attraktiv gewirkt, da sie ein fortgesetztes Wirken der Elemente als Entwicklungs-Offenheit verstehbar werden ließ. Müssen die Bilder vom »Geschehen«, vom »Ereignis«, die er in diesem Kontext verwendet hatte, um die dynamische Struktur der Wirklichkeit zu kennzeichnen, nun am Ende aufgegeben werden, da sie sich nicht mit der Idee eines Endzustandes dieser Entwicklung vereinbaren lassen? Und bedeutet die Vorstellung eines Reiches überhaupt Einschränkung des gemeinsamen Wirkungsfeldes, das die drei Elemente gemeinsam schaffen? Die Formulierung, die Welt werde das, »was kommen soll«, legt diese Fragen zumindest nahe. Die Antwort Rosenzweigs ist darauf ausgerichtet, die eben formulierten Bedenken zu zerstreuen, da er eine Argumentation anstrebt, die auch eine philosophische Interpretation religiöser Inhalte erlaubt. »Zwar nicht fertig ist die Welt im Anfang geschaffen, aber mit der Bestimmung, fertig werden zu sollen. Die Zukunft ihres Fertigwerdens ist mit ihr zugleich geschaffen als Zukunft. Oder, um von dem Anteil der Welt allein zu sprechen, auf den das Fertigwerden gelegt ist – denn das Dasein hat sich allzeit zu erneuern, nicht fertig zu werden –: das Reich, die Verlebendigung des Daseins, kommt von Anfang an, es ist immer ihr Kommen. So ist sein Wachstum notwendig. Es ist immer zukünftig – aber zukünftig ist es immer.« 80

Nicht Ausdruck einer Endzeitvision, sondern Unendlichkeitsmetapher soll der Begriff vom Reich demnach sein. Eine tatsächliche Kon79 80

Der Stern der Erlösung, II,III, S. 244 f. Der Stern der Erlösung, II,III, S. 250.

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stitution des Reiches in raum-zeitlicher Dimension ist damit möglich, doch ausstehend. Für den späteren Vergleich zum Denken Martin Heideggers wird diese Feststellung unverzichtbar sein. Daß die Vorstellung vom Reich Gottes nicht die Forderung nach einer durchwirkenden Gestaltung des Daseins der Welt impliziert, ist für Rosenzweig evident. »So wird auch klar, daß das Reich Gottes und das Reich der Welt nicht (wie der Schöpfungsbegriff des Glaubens und der Erzeugungsbegriff des Idealismus) miteinander rivalisieren, […]. Das Reich Gottes setzt sich durch in der Welt, indem es die Welt durchsetzt.« 81

I.I.6 Erschließung und Verstehen Das inhaltliche Variieren des Ausdrucks »durchsetzen« bestätigt noch einmal die Verflechtung der beiden Dimensionen des Ontischen und des Ontologischen, die Rosenzweigs gesamten Text trägt. Erkennen ist niemals nur eine kognitive Leistung, sondern immer zugleich ein Akt der Seins-Bestätigung. Im Kontext der Offenbarung etwa ließ sich diese Doppelung sehr klar ablesen. Indem sich dort dem Menschen bislang Unerkanntes erschließt, verwirklicht er als Verstehender die Möglichkeit, Verstehender werden zu können. Da Offenbarung nur dann ein wirkliches Offenbaren bewirkt, wenn sie einen Prozeß des Erschließens ermöglicht, wird ihre Faktizität durch den Menschen bezeugt, »be-stätigt«, wie Rosenzweig schreibt. 82 Wiederum ist der Bindestrich wesentliche Signatur eines Geschehens, in dessen Verlauf sich Wissen in Wirklichkeit transformiert. Etwas, das verstanden wird, gewinnt dadurch eine Form von Dauerhaftigkeit im Offenbaren. Die Weise, in der Rosenzweig von ›Verstehen‹ spricht, korrespondiert diesem Gedanken exakt. Im Verstehen wird etwas ›zum Stehen gebracht‹, zunächst im Begreifen und dadurch in der Wirklichkeit. Anläßlich des bereits angeführten Fragens nach dem, was der Mensch von der Welt weiß, heißt es dann:»Sie ist das Verständliche schlechtweg, das was die besondere Eignung wie Bestim-

Der Stern der Erlösung, II,III, S. 266. »Der Satz selber kommt erst zu-stande, ent-steht erst dadurch, daß das er-örternde, fest-legende Nein, über das be-stätigende Ja Gewalt zu gewinnen sucht.« Der Stern der Erlösung, I,I, S. 35

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mung hat, verstanden zu werden und zwar aus sich selbst – selbstverständlich zu sein.« 83 Es wäre letztlich unsinnig, von einem Erkenntnis-Objekt behaupten zu wollen, es hätte die »Bestimmung«, verstanden zu werden. Dadurch, daß Rosenzweig hier über die Ebene intellektueller Aneignung eines bislang Unbekannten hinausweist, gibt er dem gesamten Geschehen von Erschließen und Verstehen Bedeutung im Prozeß der Wirklichkeitskonstitution. Daß deren Verständnis nicht auf dem Wege der Abstraktion gewährleistet werden kann, hatten seine wiederholten Bemerkungen zum Idealismus nahegelegt. Infolgedessen muß er den Begriff des Verstehens in einem weiteren Sinne gebrauchen, als es üblich gewesen ist. Verstehen bringt Verstandenes zum Stehen – es klingt wie eine banale Wortspielerei. Nur dasjenige, das »Standfestigkeit« zeigt, erweist sich als wirksam, weil es Bedeutung im Kontext raum-zeitlicher Bezüge erlangt. Vielleicht ist dies eine Vorstellung, die sich speziell im jüdischen Denken findet, in dem es eine scharfe Trennung zwischen Abstraktion und Verwirklichung nicht gibt. Das Erschlossene hat Relevanz in der Wirklichkeit. Diese Überzeugung basiert nicht auf einer Differenzierung von theoretischem und praktischem Denken, wie sie sich im westlichen philosophischen Diskurs findet. Sie resultiert vielmehr aus der Gewißheit, daß Erschlossenes das Realitätsverständnis des Menschen ein für allemal verändert. Rosenzweig will zeigen, wie Offenbarung nicht nur als religiöses Erlebnis spürbar wird, sondern sich auch als jenes Geschehen zeigt, durch dessen Erfahrung sich Wirklichkeit bildet und verändert. Daher muß er eine Transformation vom Spirituellen ins Reale erklären, die zeigt, wie Offenbarung das Verständnis von Wirklichkeit verändert. Denn Seiendes ist dazu bestimmt, verstanden zu werden. Wie sehr Rosenzweig darum bemüht ist, die Begriffe Verstehen und Erschlossenheit nicht nur zur Kennzeichnung intellektueller, sondern vor allem existentieller Prozesse zu nutzen, wird auch aus seiner Verwendung des Terminus ›Denken‹ ersichtlich. Den Kontext der folgenden Ausführungen bildet abermals seine Distanzierung vom idealistischen Systembegriff, gegen den er nun geltend macht: »Das System der Denkbestimmungen ist System nicht durch einen einheitlichen Ursprung, sondern durch die Einheit seiner Anwendung, seines Geltungsbereichs, – der Welt. […] Das bloß vorausgesetzte Denken mag gedacht werden müssen, denkt aber nicht; bloß 83

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das wirkliche, das weltgültige, weltangewandte, weltheimische Denken denkt.« 84 Immer wieder bestätigt er die grundsätzliche Differenzierung der Vorstellungen von All und Ganzem. Und immer wieder wird sein Anspruch erkennbar, religiöse und philosophische Sprache zu verbinden. Wenn er hier auf jene »Denkbestimmungen« eingeht, die sich aus ihrer »Anwendung« ergeben, dann könnte dieses als unmittelbare Übertragung des Gedankens der Offenbarung, die erschließt, gelesen werden. In beiden Fällen wendet er sich gegen die Annahme, die Gültigkeit von Offenbarung und Denkbestimmungen könnte aus ihrem ›an sich‹ resultieren. Ihr kognitiver Wert besteht nicht darin, als Abstraktionen oder transzendente Begrifflichkeiten absolute Gültigkeit zu beanspruchen, die auch dann bestehen würde, wenn es keine Welt gäbe, der sie gelten. Das Repetitiv »weltgültig«, »weltangewandt« und »weltheimisch« macht dieses überdeutlich. »Welt« bezeichnet hier nicht nur den Raum, innerhalb dessen Denken genutzt wird, um etwa Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Statt dessen entstehen Abläufe in der Welt erst eigentlich unter Anwendung des Denkens, das also nicht Veränderungen in Abstraktion fixiert, sondern ermöglicht. Eine nähere Befragung dieser Auffassung Rosenzweigs würde nun allerdings eine Problematik aufweisen. Kann tatsächlich so eindeutig zwischen einem weltgültigen und einem an sich gültigen Denken unterschieden werden? Setzt nicht jedes Wirken in der Welt ein Verstehen der Möglichkeiten, die sie bietet, voraus? Und verändert nicht jedes Wirken das Erscheinungsbild der Wirklichkeit, die ohnehin niemals als ein starres Konstrukt, sondern immer als wandelbares Konzept wahrgenommen und erkannt wird? Wahrnehmung ist immer Erfassen des Einzelnen, das stets innerhalb der Raum-ZeitStruktur besteht und so fortgesetzter Veränderung unterliegt. Rosenzweigs Gebrauch der Begriffe »Denken«, »Erschließen« und »Verstehen« ist alles andere als stringent konstruiert, und doch läßt sich die Intention, die ihrer Verwendung vorausgeht, begreifen. Der Stern der Erlösung soll weder eine Erkenntnistheorie noch eine Theorie moralischen Handelns im philosophischen Sinne liefern, da das den Rückgriff auf den Fundus philosophischer Terminologie allein erfordern würde. Das Repertoire der Begrifflichkeit, aus dem Rosenzweig schöpft, entstammt der Sprache der Religion, wobei er auch diese grundsätzlich für interpretierbar hält. Sein Ziel besteht darin, 84

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eine Struktur zur Erschließung einer Wirklichkeit zu präsentieren, die er als »immerwährend« bezeichnet. In diesem Ausdruck vereinen sich die Vorstellungen von Prozeßhaftigkeit und Unabgeschlossenheit mit jenen von Zielgerichtetheit und Unendlichkeit – eine scheinbare Unvereinbarkeit, die nur im Bild eines Denkens aufgelöst werden kann, das gleichermaßen aus religiösen und philosophischen Quellen entspringt. Rosenzweig benötigt die philosophische Sprache, um die Veränderbarkeit der Wirklichkeit, das religiöse Wort, um deren Dauerhaftigkeit darzustellen. Beide Eigenheiten der Realität schließen sich nicht aus. Um aber das Veränderliche ewig unabgeschlossen und trotzdem als gerichtete Entwicklung denken zu können, benötigt er eine Begrifflichkeit, die genau diese Durchkreuzung zweier Zeitvorstellungen spiegelt. Der Ausdruck »Erschlossenheit« erweist sich hierfür als besonders geeignet. Die Erkennbarkeit, zu der die Welt bestimmt ist, erschließt sich, wodurch das immer schon in der Wirklichkeit Wißbare momenthaft und situativ dem Begreifen zugänglich wird. Dieses geschieht immer wieder von neuem. Bei einer Übertragung dieses Gedankens in den religiösen Kontext hatte sich die Vorstellung der Offenbarung gezeigt. Auch hier enthüllt sich im Augenblick das immer gleiche Wesen göttlicher Schöpfung. ›Erschließen‹ ist also das Pendant zu ›offenbaren‹. Beide Male wird sich der Mensch der generellen Struktur des Seins bewußt, denn dasjenige, das sich erschließt oder offenbart, zeigt sich als Ganzes. In philosophischer Terminologie entspricht diesem Akt des Begreifens sicherlich am ehesten der Ausdruck ›Verstehen‹, den Rosenzweig nahezu synonym zum ›Erschließen‹ verwendet. Entscheidend ist, daß im Erschließen nicht ein ein für allemal gültiges Testat über die Wirklichkeit ausgesprochen wird, welches ihr Sein im Zustand des ›so-und-nicht-anders‹ fixiert. Im Erschließen offenbart sich, daß Wirklichkeit zu werden vermag, weshalb es der Ausgangspunkt weiteren Verstehens ist. »Das Stumme wird laut, das Geheimnis offenbar, das Verschlossene erschließt sich. Das als Gedanke Fertige verkehrt sich als Wort wieder in einen Anfang; denn das Wort ist bloß ein Anfang, bis es auf das Ohr trifft, das es auf-fängt, und auf den Mund, der ihm ant-wortet.« 85 Und an späterer Stelle schreibt Rosenzweig: »[…] das Offenbarwerden, das wir hier suchen, muß ein solches sein, das ganz wesentlich Offenbarung ist und nichts weiter; das heißt aber: es darf 85

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nichts sein als das Sichauftun eines Verschlossenen, nichts als die Selbstverneinung […] einer still ruhenden Immerwährendheit durch einen bewegten Augenblick.« 86 Noch einmal klingt hierin die Vorstellung des weltangewandten Denkens an, das von der Offenbarung seinen Ausgang nimmt und nicht in ihr bereits seine Vollendung findet. So verführerisch es auch ist, bei einem Ausdruck wie »weltgültig« praktisches Denken zu assoziieren, decken sich Begriff und Deutung doch nicht ganz. In letzter Bedeutung umfaßt ein erschließendes Denken zwar auch das Erfassen konkreter Möglichkeiten im Sein. Doch in erster Linie ist Denken, das der Welt gilt, ein Reflektieren der Beschaffenheit des Seins. Dabei ist der Begriff auch bildlich gemeint. Im Erschließen reflektiert der Mensch das Sein, dessen Teil er ist. So wäre es für Rosenzweig letztlich unsinnig, auf eine erkenntnistheoretische Differenzierung von gedachtem Objekt und denkendem Subjekt zurückzugreifen. Denn der denkende Mensch steht dem Gedachten nicht gegenüber und objektiviert es aus dieser erkennenden Distanz. Objektivierung würde eine Formalisierung des Erkannten bedeuten, in der es seine eigentliche Qualität, Teil eines Ganzen möglicher Wirklichkeit zu sein, einbüßen würde. Eine solche Auffassung würde Rosenzweigs Einschätzung des Idealismus entsprechen. Dieser, so zumindest sieht er es, basiert auf objektiviert Erkanntem und entzieht ihm damit seine Eigenschaft, als »lebendig« gedacht werden zu können. Statt dessen wird das Erkannte als Gedachtes jederzeit verfügbares Kennzeichen einer Vorstellung vom Sein, das sich im Sinne einer externen Idee entfaltet. Rosenzweigs Ziel, so hatte es sich bereits gezeigt, besteht darin, eine solche externe Idee, selbst dann, wenn sie als Gott bezeichnet würde, zugunsten eines internen Wirkungszusammenhanges in der Welt zu negieren. Gleichwohl verwirklicht sich auf diese Weise nicht nur jeweils Einzelnes in der Welt, sondern dadurch, daß alles Einzelne Teil des Ganzen ist, auch das Ganze als Entwicklungsgeschehen der Welt, das sich in den Begriffen Schöpfung, Offenbarung und Erlösung erschließt. Für eine Interpretation dieses Kontextes ist es unverzichtbar, die Unterscheidung zwischen theoretischem Erfassen und konkreter Verwirklichung von Möglichkeiten im Sein, die dem abendländischen Denken zugrunde liegt, zu vermeiden. Insofern ist es nachvollziehbar, daß Rosenzweig das Manko des Idealismus nicht nur als erkenntnistheoretisch begreift, sondern ihm eine existentielle 86

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Dimension attestiert. Verstehen verändert Wirklichkeit, davon ist er überzeugt, und zwar nicht deshalb, weil ihm ein Handeln folgen müßte, sondern weil im Verstehen die Bestätigung der Seins-Möglichkeit des Verstandenen liegt. Hier das Nachklingen kabbalistischen Sprachdenkens zu vermuten, ist gewiß naheliegend. Denn dort zeigt sich, daß das Wort keine bloße Aussage über etwas ist, sondern Aussage desjenigen, das ist. Walter Benjamin rekurriert auf eben diese Auffassung in seinem 1916 entstandenen Text Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, wenn er den Begriff der »Mitteilung« fokussiert, der von jedem Ding ausgeht und verstehend erschlossen werden kann. 87 Noch einmal sei also festgehalten, was Verstehen für Rosenzweig bedeutet: zum Stehen bringen und verwirklichen. Begriffe wie »Erschließen«, »Verstehen« oder »Denken« korrespondieren natürlich in engster Weise jenem der »Wahrheit«. Nach den bisherigen Überlegungen ist es naheliegend, daß Rosenzweig auch diesen in besonderem Sinne verwendet, denn ein Begriff von Wahrheit etwa als Ergebnis eines Urteils würde kaum die Forderung an ein weltgültiges Denken erfüllen. Wahrheit ist für Rosenzweig kein Produkt logischer Operationen, sondern ein Seins-Testat. »Die Wahrheit ist für die Welt nicht Gesetz, sondern Gehalt. Die Wahrheit bewährt nicht die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit bewahrt die Wahrheit.« 88 Rosenzweig schreibt, daß die Welt die Wahrheit »in ihrem Schoße birgt« 89, und distanziert sich damit einmal mehr von dem, was er als Inbegriff philosophischer Wahrheitsdefinition »von Parmenides bis Hegel« deutet. Immer wieder bestätigt sich sein Vorsatz, Wirklichkeit als lebendige Gestaltung des Möglichen zu begreifen, die jedoch nicht chaotisch und sprunghaft erfolgt, sondern auf der Grundlage dessen, was jeweils möglich ist. Das Fundament der Entwicklung der Realität ist innerweltlich, jene Gegebenheit von Seiendem, die er als Da-sein bezeichnet hatte. Was möglich ist, trägt in sich aber immer auch das Angelegtsein auf seine Verwirklichung, die als wesentliches Element des Seins aussteht. Einerseits kann hierin die »Was teilt die Sprache mit? Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache.« Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Angelus Novus, S. 10. 88 Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 16. 89 Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 16. 87

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Nachwirkung der aristotelischen Theorie von Vermögen und Verwirklichung gesehen werden. Andererseits greift Rosenzweig damit auf religiöses Denken zurück. Denn im Erschließen der Möglichkeitsstruktur offenbart sich das Sein als das, was es an sich ist – göttliche Schöpfung. Unter Übertragung des Möglichkeitsgedankens, der eher der philosophischen Perspektive entspricht, in religiöse Denkdimension kann Rosenzweig dann folgern, daß auch in der Schöpfung etwas angelegt ist, dessen Realisierung aussteht, nämlich Offenbarung und Erlösung. Dieses absolute Faktum wird durch die Potentialität der Welt immer wieder von neuem bestätigt, weshalb Rosenzweig definieren kann: »Das Wesen der Welt ist diese Bewahrung (nicht Bewährung) der Wahrheit.« 90 »Bewahrung« erscheint somit als aktives Geschehen, in dessen Verlauf Erschlossenem Raum gegeben wird, um zu wirken. Wiederum bestätigt sich Rosenzweigs tiefe Skepsis jeder Form von abstrahierendem Denken gegenüber. So würde seiner Auffassung nach ein »Bewähren« die Umsetzung einer Wahrheit sein, die als solche erkannt und zum Ziel theoretischer wie praktischer Vernunft wird. Der Mensch hätte die Aufgabe, das Wissen, dessen Inhalt er als Wahrheit erkennt, umzusetzen, im Denken wie im Tun. Doch ist das nicht exakt die Bedeutung des Begriffes vom Bewahren? Bewähren heißt Anwenden, Umsetzen, wobei die Idee, der dabei gefolgt wird, sich essentiell von der Wirklichkeit, in der sie sich bewähren soll, unterscheidet. So zumindest könnte Rosenzweig einwenden. Um es plakativ zu formulieren: Menschliches Leben verträgt sich nicht mit Ideen als Formierungsparametern der Wirklichkeit. Sie würden das menschliche Denken immer aus der Welt herausführen und diese Bewegung geistiger Separation erst dann zum Ende kommen lassen, wenn sie Abstraktion, also größtmögliche Distanz zur wandelbaren Wirklichkeit, erlangt hat. Das Denken, für das Rosenzweig wirbt, ist, wie der Ausdruck »weltangewandt« zeigte, Denken in und für die Welt und die Menschen in ihr. Das, was sich ihnen erschließt, offenbart nichts, das nicht innerhalb der Welt Geltung fände. Es ist vielleicht gar nicht entscheidend, ob Rosenzweigs Bewertungen der Philosophie der Vergangenheit, die er gänzlich undifferenziert als Repräsentation ein und desselben Denkens klassifiziert, überzeugend wirken. Wichtig ist es immer wieder, sich seine Intention vor Augen zu führen, die in ihrer radikalen Bereitschaft, ein Denken für die Welt 90

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zu formulieren, sicherlich ihresgleichen sucht – zumindest in seiner Zeit. Gegenwärtig scheint sein Anspruch erneute Aktualität zu erlangen, was darauf zurückzuführen ist, daß das Vertrauen auf Vernunft als gemeinschaftstragende Instanz immer neuen Erschütterungen ausgesetzt ist. Eine der Schwierigkeiten in Rosenzweigs Sichtweise besteht sicherlich darin, daß er Unterscheidungen, die bislang den philosophischen Diskurs der westlichen Rationalität durchzogen und diesen vom theologischen Interesse trennten, nicht aufrechterhalten will. So macht eine Differenzierung zwischen Theoretischem und Praktischem in seinem Denken ebensowenig Sinn wie eine Abwägung zwischen erkenntnistheoretischem und ontologischem Fragen. Erschließen heißt im Stern der Erlösung zugleich wirksam werden im Sein, was wiederum Verwirklichung von Sein als fortgesetzter Prozeß bedeutet. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, daß Rosenzweig einer Betrachtung des menschlichen Willens relativ geringe Aufmerksamkeit schenkt. Im Übergang vom freien zum trotzenden Willen hatte er ihn beleuchtet, jedoch nicht, um darauf eine Erörterung des Handelns aufzubauen, sondern um das Vermögen des Menschen zu skizzieren, dem Wissen um die Endlichkeit des Daseins zu widerstehen. In Abgrenzung hierzu spricht Rosenzweig dem göttlichen Liebesgebot unbedingten Forderungscharakter zu. Das Liebesangebot Gottes gilt es zu erwidern. Da die einmal erfolgte Hinwendung des Menschen zu diesem einen Gegenüber jedoch absolut ist und folglich nicht weltbildend wirksam sein kann, soll sie sich in der Liebe zum Nächsten konkretisieren. Doch sogleich mag der Eindruck, Rosenzweig würde hier eine spezielle Anweisung zum rechten Verhalten aussprechen, relativiert werden, wenn er betont, der Nächste ist der oder das zunächst befindliche Seiende, das der Aufmerksamkeit des Menschen bedarf. Verstehen als Verständnis von Erschlossenheit drückt sich weitaus eher in einer reflektierenden Haltung dem Gesamt der Schöpfung gegenüber aus als in dem durchdenkenden Planen einzelner Handlungen. Bewußtes Agieren erlangt damit eine Rechtfertigung per se, die freilich im philosophischen Kontext die Frage unberührt läßt, ob tatsächlich davon auszugehen ist, daß bewußtes Verhalten stets gutes Handeln impliziert. Diese Überlegung ist für Rosenzweig unnötig, weil er sich, wie bereits angedeutet wurde, stets auf das göttliche Gebot, zu lieben, berufen kann. Der daraus resultierende achtsame Umgang mit dem Nächsten der Welt – mit den Menschen und den Dingen – folgt unweigerlich. Diese Kon74 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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sequenz vor Augen, wird ein Begriff verständlich, der im Vergleich zu Heideggers Konzeption besonders aufschlußreich werden wird: der Begriff des »Entschlossenen«. Rosenzweig verwendet ihn nur wenige Male, in besonders bezeichnender Weise anläßlich seiner Charakterisierung des jüdischen Volkes. »Mag sonst das jüdische Bewußtsein zwischen jenen in der ursprünglichen innren Umkehr des heidnisch verschlossenen zum er- und entschlossenen Menschen der Offenbarung festgestellten beiden Lebenspolen, dem der eigensten Erfahrung der göttlichen Liebe und dem der hingegebenen Auswirkung der Liebe in der Heiligkeit des Wandels, hin und her zucken in heißblütigen Übergängen, der Rest stellt beides zugleich dar: die Aufnahme des Jochs des Gebots und die des Jochs des Himmelreichs.« 91

Entschlossenheit erscheint als Realisierungsmetapher der Erschlossenheit, Verhalten als Folge von Liebeserfahrung. Sie ist jedoch nicht Produkt willentlicher Entscheidung, sondern Inhalt des Gebotes der Nächstenliebe. Erschließt sich der Sinn dieses Gebotes, ist die Entschlossenheit des Menschen, ihm zu folgen, bereits impliziert. Um es zu betonen: Entschlossenheit hat wenig damit zu tun, daß hier ein Entschluß gefaßt würde. Denn ein solcher könnte in einem Moment bestehen, im nächsten jedoch bereits wieder verworfen werden. Sie ist keine Funktion willentlicher Optionsauswahl, sondern eine existentielle Demonstration, durch die das Faktum von Erschlossenheit zum Ausdruck gebracht wird. Ob sich ein Mensch, dem sich das Wesen der Welt als Schöpfung offenbart hat, jemals gegen die Entschlossenheit entscheiden könnte, thematisiert Rosenzweig nicht. Doch legen seine knappen Aussagen in diesem Zusammenhang nahe, daß davon nicht auszugehen ist. Das Maß der Einsicht in die Welt als Entfaltung göttlichen Wirkens, und zwar immerwährend, kann der Mensch nicht wieder verdrängen. Doch was bedeutet es nun, entschlossen zu sein, der Liebe Raum in der »Heiligkeit des Wandels« zu geben? Rosenzweig verwendet den Ausdruck »hingegeben« und gewiß erklärt er am besten das Merkmal der Entschlossenheit. Sie ist die Hinwendung zum Anderen, zum Nächsten, wie es im Stern der Erlösung heißt. Sie ist die realisierte und die realisierende Beziehung zum Seienden in der Welt, indem sie dessen verbindungsloses So-sein überbrückt und jene Bezüge innerhalb des Dasein schafft, aus denen Wirklichkeit entsteht. 91

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Denn diese, so hatte Rosenzweig gezeigt, ist nicht als bloßes Nebeneinander-Bestehen von Menschen und Dingen zu verstehen, sondern als stets veränderliches Relationsgeflecht, in dem diese sich aufeinander beziehen. Eine sehr aufschlußreiche Passage im ersten Teil des Sterns der Erlösung bekräftigt diese Deutung. Es handelt sich um die Frage nach dem Wissen von der Welt, die Rosenzweig in Entsprechung zur Frage nach dem Wissen von Gott und dem Wissen vom Menschen stellt. In diesem Kontext verwendet er den Begriff des Logos 92 zur Kennzeichnung jenes Wirkungszusammenhanges, in dem Welt begreifbar wird. Welt, so heißt es hier, ist »voller-Figur-sein«, 93 also eine Fülle möglicher Veränderungen des Seienden, das an sich betrachtet nichts als Möglichkeit ist. In dieser bloßen Faktizität erscheint das Seiende in beständig variierenden Modifikationen. Diese Tatsache kennzeichnet das »Sein der Welt«. »Das Sein der Welt muß wirklich ihr Überall und Immer sein. Überall und immer ist aber das Sein der Welt nur im Denken. Der Logos ist das Wesen der Welt.« 94 Hier könnte sich nun für Rosenzweig eine Schwierigkeit ergeben. Denn formuliert er in diesen Worten nicht exakt jene Abstraktion einer Wesensbestimmung aus dem tatsächlich vorfindlich Seienden, die er dem Idealismus vorgeworfen hatte? Die Abgrenzung von diesem zeigt sich in der Verwendung der Begriffe »Logos« und »Denken«. »Das Denken ist als ein vielverzweigtes System einzelner Bestimmungen in die Welt ergossen. Es ist das allerorten und jederzeit in ihr Geltende. Es verdankt seine Bedeutung für die Welt, seine ›Anwendbarkeit‹, jener Verzweigung, jener Vielfältigkeit, zu der es sich entschlossen hat.« 95 Abermals findet sich der Hinweis auf das ›Entschließen‹ des Denkens, innerhalb der Welt zu wirken. Der einzige Grund hierfür besteht darin, daß das Denken in dieser Weise wirken kann. Entschließen signalisiert auch in dieser Erwähnung keine Wahl einer Option, sondern Verwirklichung einer Möglichkeit. Doch handelt es sich dieses Mal nicht um ein menschliches Denken, in dem sich die Entschlossenheit realisiert, sondern um den Logos, die »Weltseele«, wie Rosenzweig auch schreibt. 96 Würde er sie als externes Prinzip Eine mögliche Verbindung der Begriffe »Logos« und »Weltgeist« im Sinne Hegels weist Rosenzweig explizit zurück. Der Stern der Erlösung, I,II, S. 48. 93 Der Stern der Erlösung, I,II, S. 46. 94 Der Stern der Erlösung, I,II, S. 46. 95 Der Stern der Erlösung, I,II, S. 46. 96 Der Stern der Erlösung, I,II, S. 51. 92

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auffassen, das auf die Welt einwirkt, käme er damit der idealistischen Sichtweise sehr nahe. Immer wieder bestätigt sich aber, daß das Prinzip der Veränderung in der Welt ein intern Wirksames sein muß, soll fortgesetzte Entwicklung der Wirklichkeit denkbar werden. Charakteristisch ist nun auch die Verwendung des Begriffes vom »System«. Daß Rosenzweig diesen keinesfalls aufgeben will, hatte sich eingangs angedeutet. System zeigt sich in den Variationen der Bezüge des Seienden zueinander, nicht als allgemeiner Ausdruck zur Feststellung der Funktionsweise dieser Relationen. »Das System der Denkbestimmungen ist System nicht durch einen einheitlichen Ursprung, sondern durch die Einheit seiner Anwendung, seines Geltungsbereiches, – der Welt. Ein einheitlicher Ursprung kann, und sogar muß, von diesem auf das Sein und nur das Sein gerichteten Denken wohl vorausgesetzt, aber nicht erwiesen werden. […] Der Logos der Welt ist in seiner Nichts-als-Anwendbarkeit aber auch Überall-und-immer-Anwendbarkeit das Allgemeingültige.« 97

Die absolute Gültigkeit des Logos besteht nur im Relationskontext der Welt. Hier von ›nur‹ zu sprechen, bedeutet jedoch keinerlei Einschränkung. Denn ein anderer Gültigkeitsbereich als jener der Welt ist nicht sinnvoll vorstellbar. Zweimal verwendet Rosenzweig den Terminus der Entschlossenheit in signifikanter Weise. Das erste Mal zur Kennzeichnung jenes menschlichen Verhaltens, das aus dem erschließenden Verstehen der Schöpfung resultiert. Das zweite Mal zur Beschreibung des innerweltlichen Funktionskontextes. In beiden Fällen markiert »Entschlossenheit« eine wissende Gestaltung von Wirklichkeit, eine Einflußnahme des Denkens und des Denkenden in der Welt und in die Welt, die daraufhin ihr Erscheinungsbild verändert. Darum spricht Rosenzweig hier von »Anwendung«, da er nochmals verdeutlichen will, daß allein diese ein Denken zu systematisieren vermag. In seiner Anwendbarkeit gibt es seine Struktur und seine allgemeine Gültigkeit zu erkennen, niemals von ihr losgelöst. Dieses trifft gleichermaßen für die Schöpfung wie für den Logos zu. Daß beide in ihrer je eigenen Weise dem menschlichen Verstehen zugänglich sind, verbürgt ihre Verankerung in der Welt. Das Denken ermöglicht nicht die Erkennbarkeit der Welt, sondern es erschließt sie. So kann Rosenzweig schreiben: »Wir suchen nach Immerwährendem, das nicht erst des Denkens bedarf, um zu sein.« 98 Das »Immerwäh97 98

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rende« in dieser Formulierung ist die Welt, nicht das Denken. Immerwährend heißt jedoch alles andere als ›immer gleich bleibend‹. Vielmehr hatte sich wiederholt gezeigt, daß die Wandelbarkeit der Welt Zeichen ihrer Lebendigkeit ist. Aber in diesem Sinne veränderbar ist sie ewig. Anwendung des Denkens in der Welt bedeutet, diese Erkenntnis zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang fragt Rosenzweig danach, ob »[…] die unendliche Einheit des göttlichen Seins, die ja ausdrücklich vor aller Identität von Denken und Sein und damit ebensosehr vor dem seinsgültigen Denken wie vor dem denkbaren Sein liegt, etwa der Quell ist, […]«, 99 aus dem beide entspringen? Im Verlauf seiner Darstellung wird er die positive Antwort formulieren.

I.I.7 Philosophie In diesen Worten wird in besonders einprägsamer Weise deutlich, wofür Rosenzweig eintritt. Er will die Inhalte des Glaubens philosophisch greifbar werden lassen. »Göttliches Sein« ist Sein, das dem Denken zugänglich ist, mit der einen entscheidenden Präzisierung, daß dieses nicht das abstrakte, sondern das »seinsgültige« Denken sein soll. In das Selbstverständnis tradierter Philosophie westlicher Prägung greift eine solche Forderung massiv ein, bedeutet sie doch, daß Denken in einer Weise definiert werden müßte, die zumindest nicht üblich ist. Ist aber ein schwerwiegenderer Schritt vorstellbar als jener, in einen bestehenden Diskurs neue Bestimmungen zu implantieren? Und es sind beileibe keine beliebigen Korrekturen im terminologischen Repertoire der Philosophie, die Rosenzweig verlangt. Die Arbeit der Bedeutungsmodifizierung soll sich auf die Vorstellung vom Denken und, was vielleicht noch weitreichendere Konsequenzen hat, auf jene der Wahrheit richten. Rosenzweig hatte deutlich gemacht, worin er das Versäumnis der gesamten Tradition von »Parmenides bis Hegel« sah. In Abgrenzung hierzu dienten ihm Vertreter existentiellen Denkens wie Kierkegaard, Nietzsche und vor allem Schopenhauer dazu, eine Akzentverschiebung im philosophischen Bewußtsein der neueren Zeit kenntlich zu machen. Denn entscheidendes Kriterium eines dem menschlichen Leben adäquaten Denkens ist es nun, daß es der affektiven Konstitution des individuellen Menschen Rechnung tragen soll. Der Einzelne in seiner emotionalen Be99

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dingtheit ist Ursprung existentiellen Fragens, weshalb Philosophie dessen Dasein reflektieren muß. Ein fundamentales Bedürfnis des Menschen, der von Philosophie erwarten darf, daß sie sein individuelles Sein zum Gegenstand habe, bleibt somit unbefriedigt – nicht aus Achtlosigkeit, sondern den Prämissen der Wissenschaftlichkeit geschuldet. Wenn die Reflexion des Einzelnen in seinem je individuellen Seins-Bezug Aufgabe der Philosophie werden soll, stellt sich jedoch die Frage, ob ein solcher Anspruch noch mit ihrem Selbstverständnis als Wissenschaft vereinbar ist. Allgemeingültigkeit ihrer Axiome scheint einer Berücksichtigung des Einzelnen zu widersprechen. »Ja, ist das noch Wissenschaft? Ist dieses Betrachten der Dinge jedes für sich und eines jeden in zahllosen Beziehungen, bald von jenem, bald von diesem Punkt aus, diese Betrachtung, deren Einheit höchstens in der Einheit des Betrachters liegt – und wie fragwürdig ist schon diese! – noch Wissenschaft? So fragen auch wir, […]. So ist hier ein Bedürfnis der Philosophie fühlbar geworden, das sie offenbar aus sich selbst heraus nicht befriedigen kann.« 100 So bleibt denn die Philosophie die Berücksichtigung des Einzelnen schuldig. Wäre es in Anbetracht dieser Diagnose nicht naheliegend, den Blick auf die Theologie zu richten, die in ihrer Vorstellung vom Glauben eine weitaus größere Toleranz aufbieten kann, um der Suche des Individuums nach einem Wahrgenommen-werden zu entsprechen? 101 Auch sie, so zeigt Rosenzweig, hat in jüngster Zeit mit einem Defizit von nicht unbedeutender Tragweite zu kämpfen. Denn durch eine einseitige Fokussierung des Offenbarungs-Gedankens ist eine Würdigung des Schöpfungs-Geschehens, zumal dann, wenn dieses mit dem Begriff des Wunders bezeichnet wird, vernachlässigt worden. Rosenzweig formuliert in Anbetracht dieser Entwicklung, die er meint, beobachten zu können, eine klare Forderung: »Es gilt also die Schöpfung wieder in vollem Schwergewicht ihrer Gegenständlichkeit neben das Erlebnis der Offenbarung zu stellen; […] Und so liegt hier der Punkt, von wo aus die Philosophie das ganze Gebäude der Theologie neu errichten kann.« 102 Denn sie kann SchöpDer Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 117. »Das Wissen von der Welt in seiner systematischen Ganzheit, unvertretbar durch das Wissen um einen einzelnen, und sei es auch noch so zentralen Teil, die Philosophie also, wird sich bereiten müssen, mit der Theologie zusammenzuarbeiten.« Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 113. 102 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 114. Mit Blick auf Rosenzweigs Deutung von Schöpfung formuliert Samuelson deutliche Kritik, da diese der griechischen Phi100 101

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fung, losgelöst von der Frage nach dem Wunder, als Hervorgehen des Seins betrachten, das dann Gegenstand ontologischen Fragens wird. 103 Es fällt in philosophische Kompetenz, festzustellen, daß etwas ist, wobei die Suche nach dessen Ursache nicht notwendig Teil dieser Feststellung sein muß. Und sie kann den Blick auf jenen Aspekt des Seins richten, der sich für theologische Deutung als problematisch erweist – die Tatsächlichkeit des Seienden. Dieses ist so, wie es ist, weil es ist. Darüber hinausgreifende Diskussionen müssen nicht geführt werden, wenn es darum geht, das Seiende als Erscheinung zu begreifen. Rosenzweig spricht nicht von Ontologie, doch verwendet er wiederholt die Begriffe Sein, Dasein und Erscheinung. Der philosophische Hintergrund, vor dem er sein eigenes Denken entfaltet, scheint damit klar umrissen zu sein. Unter sehr freiem Rückgriff auf phänomenologische und ontologische Ansätze spricht er nun also der Philosophie die Befähigung zu, jene objektiv gültigen Aussagen über das Sein der Schöpfung treffen zu können, die sich seiner Ansicht nach aus theologischer Perspektive als schwierig erwiesen. Sie kann, so zumindest konstruiert er das Ineinandergreifen beider, der Theologie ihre Objektivität sichern, so wie diese ihr mit ihrem unbelasteten Blick auf den Einzelnen Subjektivität des Denkens ermöglichen kann. Verweist Rosenzweig beide Disziplinen also auf einander, weil »von beiden Seiten ein Bedürfnis besteht, das nur die jeweils andere Partei befriedigen kann«, 104 reagiert er damit auf eine Krise im Verständnis beider, die er meint, gegenwärtig diagnostizieren zu müssen. 105 Wird diese Konzeption eines sich ergänzenden Ineinandergreifens von Philosophie und Theologie auch als ein moderner Versuch gelesen, die alte Frage nach einer Vereinbarkeit beider zu diskutieren, wird eines schnell deutlich: Rosenzweig strebt ein Modell der gegenseitigen Vervollständigung an, das darauf verzichtet, an jenen Kategorien von Dominanz und Unterordnung festzuhalten, die in der Vergangenheit einen Dialog beider verhinderten. Die Überzeugung, daß losophie näher verwandt sei als dem biblischen Wort, A critique of Rosenzweig’s doctrine, S. 42. 103 »Indem wir das Wissen also auf den Begriff der Schöpfung aufbauen, erlauben wir ihm, jene seine Eigentümlichkeit, daß es den Dingen ›auf den Grund‹ geht, auszuleben.« Der Stern der Erlösung II, Einleitung, S. 115. Das hier erwähnte »auf den Grund gehen« ist nicht mit der Frage nach dem Ursprung des Seins identisch. Es fragt vielmehr nach der Tatsächlichkeit des Seins. 104 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 115. 105 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 104.

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Der Stern der Erlösung

nur wechselseitige Durchdringung eine Form des Denkens bereitstellen kann, die dem Bedürfnis des modernen Menschen gerecht wird, drückt folgende Beschreibung ihres komplexen Miteinanders aus: »Sie [die Philosophie] muß ihre neue Ausgangsstellung, das subjektive, ja extrem persönliche, mehr als das, unvergleichbare, in sich selbst versenkte Selbst und dessen Standpunkt festhalten und dennoch die Objektivität der Wissenschaft erreichen. Wo findet sich diese verbindende Brücke zwischen extremster Subjektivität, zwischen, man möchte sagen, taubblinder Selbsthaftigkeit und der lichten Klarheit unendlicher Objektivität? […] Jene Brücke vom Subjektivsten zum Objektivsten schlägt der Offenbarungsbegriff der Theologie.« 106

Denn in ihm wird der Mensch unter jenem Kennzeichen denkbar, das es philosophisch zu rechtfertigen gilt – seiner Individualität. Offenbarung erschließt das Verstehen ihrer Faktizität ja immer dem Einzelnen. Und zugleich ist das, was hier erkennbar wird, nämlich die Einsicht in die Natur göttlichen Wirkens in der Schöpfung, ein Wissen, das in keiner Weise von der Subjektivität des Erkennenden beeinträchtigt wird. Die Tatsache des Seins zeigt sich immer wieder im individuellen Akt des Erschließens. Offenbarung läßt Sein als geschaffen, doch unvollendet denkbar werden. Wie wichtig diese Vorstellung einer retardierenden Schöpfung für Rosenzweig ist, hatte sich bereits angedeutet. So stellt ein religiöser Begriff die Sprachund Bildlichkeit zur Verfügung, um Sein und Werden im Konstitutionsprozeß der Wirklichkeit thematisieren zu können. Und was bietet die Philosophie der Theologie? »Von der Theologie aus gesehen ist also das, was die Philosophie ihr leisten soll, nicht etwa die Nachkonstruktion des theologischen Inhalts [von der Schöpfung zur Offenbarung], sondern seine Vorwegnahme oder vielmehr richtiger seine Grundlegung, das Aufzeigen der Vorbedingungen, auf denen er ruht. Und da die Theologie selbst ihren Inhalt nicht als Gehalt, sondern Ereignis – nämlich nicht als Leben, sondern als Erlebnis – faßt, so sind ihr auch die Vorbedingungen nicht begriffliche Elemente, sondern vorhandene Wirklichkeit; an Stelle des philosophischen Wahrheitsbegriffs schiebt sich ihr deswegen der Begriff der Schöpfung.« 107

So kann die Philosophie, indem sie Schöpfung unter der Begrifflichkeit des Seins faßt, dessen Doppelstruktur nutzen, um sie ihrerseits

106 107

Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 117 f. Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 119 f.

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Gegenüberstellung

als zwei Aspekte umfassend darzustellen. Sein ist Faktizität und Ermöglichung von Veränderung; Schöpfung ist Faktizität und Ermöglichung. Ist damit die Aufgabe, eine Wissenschaft zu begründen, die Züge der tradierten Philosophie und Theologie in sich vereinigt, umrissen, stellen sich zwei entscheidende Fragen: Wer denkt in dem geforderten Sinne unter Anwendung welcher Methode? Die erste Überlegung scheint Rosenzweig nur unter Hinweis darauf zu streifen, daß ein neuer Typus von Wissenschaftler die Kompetenzen aus beiden überlieferten Diskursen verknüpft. 108 Doch zeigt es sich, daß es hier nicht nur darum geht, ein mögliches Experten-Profil zu entwerfen. Vielmehr gilt es der besonderen Bedeutung Rechnung zu tragen, die das »weltangewandte Denken« im Leben des Menschen schlechthin spielt. Es ist nicht Sache weniger Philosophen oder Theologen, das zu verwalten, was für die menschliche Existenz von so immenser Bedeutung ist. Denn gerade hier drückt sich Rosenzweigs Wertschätzung des Einzelnen, der sich der Gemeinschaft verbunden fühlt, aus. Die Frage nach der Methode berührt mithin nicht nur einen begrenzten Rahmen wissenschaftlichen Diskurses, sondern menschlichen Verstehens von Wahrheit insgesamt, also die Weise, in der Erschließung des Verborgenen sich ereignen kann. Die ursprüngliche Frage nach dem neuen Typus des Denkers weitet Rosenzweig daher wie folgt aus: »[…] wo ist im Kreise der Schöpfung das ›Geschöpf‹, wo im Reiche der Philosophie der ›Gegenstand‹, der auf seinem Antlitz das sichtbare Siegel der Offenbarung trägt?« 109 Bereits mehrfach war im vorliegenden Kontext auf Aussagen Rosenzweigs zu den drei Elementen Gott, Welt und Mensch zurückgegriffen worden, obwohl damit der Systematik des Sterns der Erlösung nicht gefolgt wurde. In jenem ersten Teil Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt formuliert er dreimal eine Negation möglichen Wissens: »Von Gott wissen wir nichts«, »Von der Welt wissen wir nichts« und »Vom Menschen – sollten wir auch von ihm nichts wissen?«. Dreimal erteilt er einem theoretischen Wissen eine Absage, ohne damit jedoch die Möglichkeit, über Gott, Welt und Mensch 108 »Denn wie sich nun zeigen wird, ist der Theologe, nach dem die Philosophie um ihrer Wissenschaftlichkeit willen verlangt, selber ein Theologe, der nach der Philosophie verlangt – um seiner Ehrlichkeit willen. […] Sie sind aufeinander angewiesen und erzeugen so miteinander einen neuen, zwischen Theologie und Philosophie gestellten, sei es nun Philosophen- oder Theologentyp.« Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 118. 109 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121.

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sprechen zu können, auszuschließen. Was heißt es dann aber, von allen drei Elementen nichts zu wissen? Rosenzweig weist den Versuch, mittels Beweis und Definition ihr Wesen widerspruchsfrei festlegen zu wollen, zurück, zeigt aber im selben Moment, daß dessen ungeachtet eine Form der Denkbarkeit möglich ist, die er in einem sehr anschaulichen Bild beschreibt. »Vom Nichts des Wissens aus ließen wir sie [die Elemente], geleitet vom Glauben an ihre Tatsächlichkeit, ›entstehen‹. Dies Entstehen ist kein Entstehen in der Wirklichkeit, sondern es ist ein Gang in dem Raum vor aller Wirklichkeit.« 110 Es erschließt sich eine Anschauung von Gott, Welt und Mensch im Zustand ihres bloßen Seins, weshalb Rosenzweig von ihrer »Tatsächlichkeit« spricht. Sie bedürfen keines Beweises, da ihr Sein als Inhalt eines Glaubens unmittelbar einsichtig ist. Würde man im konventionellen Verfahren nach dem Wesen auch nur eines dieser Elemente fragen, so würde stets dessen Existenznachweis und dessen Definition den Abschluß dieser Suche nach Wissen bilden. Nach Rosenzweigs Auffassung würden das Gewußte damit jedoch als Ertrag eines Abstraktionsprozesses zur Erklärung der Konstitution von Wirklichkeit unbrauchbar. Denn exakt das Verfahren, das einen Gegenstand in einen Gegenstand des Wissens umgewandelt hat, hat ihn von der Möglichkeit ausgeschlossen, als wirksam gedacht zu werden. Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund irreführend, wenn Rosenzweig vom »Raum vor aller Wirklichkeit« spricht, da dadurch die Assoziation an jenes ›außerhalb der Wirklichkeit‹ geweckt werden könnte, von dem aus sich der idealistische Begriff vom All bildet. Eine geringfügige Präzisierung des Begriffes der Wirklichkeit kann hier helfen. Für gewöhnlich wird er, auch im Stern der Erlösung, zur Bezeichnung der Welt verwendet, in der der Mensch existiert. Wird er aber in seiner zusätzlichen Dimension gelesen, wonach er das Verwirklichte ist, ergibt die obige Formulierung einen Sinn. Denn danach ist der Raum vor aller Wirklichkeit der Raum, in dem sich die Elemente in ihrem puren Sein erschließen, das zugleich das Sein als Gesamt seiner Möglichkeiten ist. Rosenzweig faßt dieses Bild eines Bestehens im Vollbesitz der Potentialität als eine Vorstellung radikal isolierten Seins auf. Die drei Elemente offenbaren ihr So-Sein, jedoch noch nicht ihr Wirken in Gemeinsamkeit. »Wir haben wahrhaftig das All zerschlagen. Je tiefer wir in die Nacht des Positiven hinabstiegen, um das Etwas unmittelbar bei seinem Ursprung aus dem Nichts zu 110

Der Stern der Erlösung, I, Übergang, S. 96.

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Gegenüberstellung

erhaschen, desto mehr zerbrach uns die Einheit des All. Das Stückwerk des Wissens, das uns jetzt umgibt, schaut seltsam fremd zu uns auf. Es sind die Elemente unserer Welt, aber wir kennen sie so nicht; […].« 111 Die Negation des Wissens hatte die reine Erfahrung von Sein eröffnet, das zwar ist, aber nicht wirkt, in einer »Vorwelt« für sich besteht, ohne bereits im Bezug aufeinander »Welt« zu schaffen. Dieses ist der Raum vor aller Wirklichkeit, dem Wissen verschlossen, doch denkbar. Aber in welcher Weise? Rosenzweig verwendet im Zusammenhang des Fragens nach Gott eine interessante Formulierung: »Es ist nur der virtuelle Ort für den Anfang unsres Wissens. Es ist nur die Markierung für das Gestelltsein des Problems.« 112 Aus einer Wirklichkeit, die sich bereits im Prozeß der Verwirklichung befindet, sucht der Mensch den erkennenden Zugang zu den Elementen, die diesen bedingen. Er kann diesen Versuch jedoch nur unternehmen, weil er sich selbst und das Seiende, das ihn umgibt, schon als wirklich weiß. So fragt er im Grunde nach sich selbst, muß aber das erfragte Sein so denken, daß es sich von ihm unterscheidet. Ist er verwirklichtes Sein, muß das erfragte Sein als Möglichkeit verstanden werden. Mit Blick auf die Frage nach Gott heißt es: »Es wird ein Unendliches bejaht: Gottes unendliches Wesen, seine unendliche Tatsächlichkeit, seine Physis. Das ist die Kraft des Ja, daß es überall haftet, daß unbegrenzte Möglichkeiten von Wirklichkeit in ihm liegen.« 113 Daß Rosenzweig mit dem Verweis auf eine Vorwelt, deren Kenntnis nur als Negation des Wissens im herkömmlichen Sinne verstanden werden kann, an den Grenzen des Sagbaren operiert, ist offensichtlich. Die Vorstellung der Unaussprechlichkeit des göttlichen Namens, die im jüdischen Denken formuliert wird, markiert die Grenze der Möglichkeit und die Legitimierung des Sprechens über das Wesen Gottes unverkennbar. Und zugleich findet sich hier ein Weg, Aussagen über das göttliche Sein zu treffen, das nicht als SoSein Gottes, sondern als sein Wirken in der Welt aufgefaßt wird. Die Lehren der Kabbala von den Sefiroth 114 weisen diese Spur. RosenDer Stern der Erlösung, I, Übergang, S. 91. Der Stern der Erlösung, I,I, S. 28. 113 Der Stern der Erlösung, I,I, S. 29. 114 Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 32, charakterisiert die Sefiroth wie folgt: »Ursprünglich sind es die zehn Urzahlen, in denen alles Wirkliche gründet, […]. Die Sefiroth sind die Potenzen, in denen sich die wirkende Gottheit konstituiert, in denen sie – in der Sprache der Kabbalisten gesprochen – ein Gesicht 111 112

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zweig geht hierauf nicht explizit ein, verwendet aber eine Deutung von Sprache, die sich auch dieser Tradition verdankt. Dabei fungiert der Sprechende als Übersetzer, der »Urworte«, »Elementarworte« in eine Sprache überträgt, die dem Menschen zugänglich ist. »Wir hatten, als wir die Elemente des Alls in ihrem stummen Hervorgang aus den geheimen Gründen des Nichts schauten, ihre Stummheit redend gemacht, indem wir ihnen eine Sprache liehen, welche die ihre sein konnte, weil sie keine Sprache ist. Eine Sprache vor der Sprache also, […] Elementarworte gewissermaßen, […] In der lebendigen Sprache werden diese unhörbaren Urworte als wirkliche Worte hörbar, […].« 115 Diese Urworte wirken, so heißt es weiter, als »bloße ideelle Möglichkeit einer Verständigung«, sind also Voraussetzung und Begründung eines Geschehens, das ohne sie niemals stattfinden könnte, ohne das sie wiederum unerhört bleiben würden. So unterscheidet Rosenzweig zwei Formen der Sprache, die er durch das Kriterium ihrer Hörbarkeit ausweist. 116 Im religiösen Verständnis, auf das Rosenzweig hier Bezug nimmt, ereignet sich Offenbarung zunächst als ein auditives Geschehen. Es ist die Ansprache des Menschen, die hier erfolgt, Ansprache, die gleichermaßen Forderung und Erwählung ist, denn das Wort richtet sich nur an denjenigen, der es hören kann. Anrede und Antwort sind also in diesem Kontext weitaus mehr als bloße Bestandteile kommunikativer Prozesse. Sie garantieren zugleich eine essentielle Verwandtschaft von Sprechendem und Hörendem, selbst wenn diese nur die Möglichkeit »ideeller Verständigung« eröffnet. Diese kann in reales Verständnis übertragen werden, wodurch sich Verschlossenes erschließt. Wenn Rosenzweig gefragt hatte, wo »im Kreise der Schöpfung das ›Geschöpf‹« sei, das Schöpfung zu erfassen vermag, dann zeigt sich nun, daß es tatsächlich darum geht, »wo« es sich finden läßt. Es steht in der Schöpfung, im Sein, und begreift sich selbst als denjenigen, der verstehen kann, weil er versteht, was er kann. gewinnt. […] In ihrer Gesamtheit, in der sich die einzelnen Momente des Lebensprozesses Gottes gleichsam auseinanderlegen und doch eine Einheit bilden, die Einheit des sich offenbarenden Gottes, sind sie jene Gestalt der Gottheit, von der wir sprechen.« 115 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121. 116 Eine weitere Differenzierung erfolgt, indem Rosenzweig die Sprache der Vorwelt als Logik, jene der lebendigen Welt als Grammatik bezeichnet. Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121.

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Gegenüberstellung

I.II. Sein und Zeit I.II.1 Die gestellte Frage Rosenzweig hatte eindeutig gezeigt, daß die Begriffe der Offenbarung und des Erschließens sich insofern decken, als beide Einsicht in den Zusammenhang von Sein bezeichnen. Sie differieren allerdings hinsichtlich ihrer kontextuellen Herkunft, die das eine Mal religiöser, das andere Mal philosophischer Natur ist. Beide benennen keinen Akt der Erkenntnis, in dem Wissen erworben wird, das auf Abstraktion basiert, sondern eine Möglichkeit, »das Ganze« zu erfahren. Dieses gilt es als faktische Totale zu erfassen, was insofern besonders interessant ist, als auch das Zukünftige im Sinne des Ausstehenden in diesen Gesamtbegriff des Tatsächlichen einbezogen wird. Könnte nun nicht dennoch eingewendet werden, daß das Ganze nur auf dem Wege des abstrahierenden Denkens faßbar wird, das sich zunehmend vom Einzelnen distanziert und die Gesamtheit des Seienden als rein theoretische Setzung begreift? Gegen diese Überlegung hatte Rosenzweig immer wieder argumentiert, wenn er seine Vorstellung des Ganzen vom idealistisch geprägten Terminus des Alls abgesetzt hatte. Das Ganze erschließt sich vom Einzelnen aus, der als Einzelner denkt, eröffnet aber zugleich das Begreifen der Bedingtheit eines Seins, das sich als denkendes selbst zu reflektieren vermag. Das wesentliche Kennzeichen des Erschließens besteht also darin, daß es immer ein Bezug schaffendes Denken ist, das sich vom Einzelnen zum Ganzen weitet. Dabei wird der Ausgangspunkt des Begreifens, der Mensch, der begreift, ebensowenig ausgeblendet, wie die Voraussetzung allen Begreifens, die Tatsächlichkeit des Seins, um es in philosophischer, oder die Schöpfung, um es in religiöser Begrifflichkeit auszudrücken. Tatsächlichkeit oder Schöpfung als Bestand-haben von Sein deuten für Rosenzweig in jedem Fall auf eine ontische Faktizität hin, die das Reflektieren eines Menschen, der als Seiender in diesem vorgegebenen Kontext steht, ermöglicht. Vorgegebenes erschließt oder offenbart sich, ohne selbst von einer Intention des Fragenden abhängig zu sein. Beides sind Formen der Ermöglichung von Einsicht, nicht selbst Gegenstände des Wissens. Als formale Verfahren sind sie nicht zwingend von einer vorbereitenden Frage des Menschen abhängig, obwohl ihre Aktualisierung aus der menschlichen Existenz resultiert. Erstaunlicherweise stellt es für Rosenzweig kein unüberwindliches Problem dar, zur Beschreibung existentieller Bedingtheit einmal auf die 86 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Sein und Zeit

Tatsächlichkeit Gottes und einmal auf die Tatsächlichkeit des Seins zu verweisen. In beiden Fällen signalisiert sein Hinweisen auf die Bedingung von Seiendem, daß diese vom Menschen nicht reflektiert werden kann, ohne daß er durch sein Begreifen deren Faktizität bestätigt. Innerhalb dieses Modells reduziert sich die Differenzierung zwischen Gott als Wirkendem und Sein als Gegebenem, die sich in kausalem Verhältnis aufeinander beziehen lassen, auf ein Minimum. So zählt für Rosenzweig weitaus stärker die kognitive Funktion, die die Parallelität von Offenbarung und Erschließung ausmacht, da durch sie jenes Verstehen der Wirklichkeit initiiert wird, das grundlegend für ein Wirken des Menschen ist. Daß dieses sich gleichermaßen auf das Verhalten zum anderen Menschen wie auf den Umgang mit Dingen bezieht, hatte Rosenzweig gezeigt. Dasein ist Da-sein des Einzelnen, das Besonderes im Gesamt der Schöpfung oder des Seins ist. Vor diesem Hintergrund verschmelzen die Perspektiven des theoretischen und des praktischen Denkens weitgehend, da Handeln im Dasein Arbeit an der Schöpfung ist, die sich niemals nur spirituell erschließt, sondern immer als ein Verstehen des Da-seienden. Diese enge Verweisung zweier bisweilen separat zu betrachtender Ausrichtungen der Vernunft entbindet Rosenzweig allerdings nicht davon, die Frage nach dem Wissen zu stellen. Was kann der Mensch von jenen Elementen wissen, die die Wirklichkeit konstituieren? Schnell zeigt sich jedoch, daß der Begriff von Wissen, wie ihn Rosenzweig meint, dem tradierten Diskurs entnehmen zu können, nicht zur gedanklichen Fixierung dieser drei Elemente taugt. So erbringt die Frage nach dem Wissen von Gott, Welt und Mensch den Nachweis, daß diese allenfalls Gegenstand des Glaubens sein können, jedoch nicht in Form einer unkritischen Akzeptanz, sondern in Form einer Seins-Bestätigung. Das Theorem, das Rosenzweig zur Bekräftigung dieses Gedankens heranzieht, scheint sich einer bloß rationalen Inanspruchnahme zu widersetzen. Das, was der Mensch von den Elementen wissen kann, erschließt sich ihm in der Elementarsprache, die er in die menschliche Sprache zu übersetzen versteht. Die Prägung dieser Konzeption durch Vorstellungen aus der Tradition jüdischen Denkens und der Sprachtheorie Eugen Rosenstock-Huessys 117 kann hier nicht 117 Auf die Divergenzen beider hinsichtlich ihrer Auffassung von Sprache verweist Muller, Pensée dialogique, langage et intersubjectivité dans la philosophie de Franz Rosenzweig, S. 181. Dabei betont er den relationalen Charakter von Rosenzweigs Sprach-Denken, der unmittelbare Auswirkungen auf seine Vorstellung von Offen-

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Gegenüberstellung

thematisiert werden. Zeichen dieser Beeinflussung ist aber die Vorstellung, daß Sprache nicht primär ein Zeichensystem ist, sondern Existenz-Demonstration. Dieser eine Aspekt innerhalb der Auffassung von Sprache mag dem Denken westlicher Rationalität zunächst inkompatibel erscheinen: Es gibt einen präontologischen Begründungskontext, dessen Verständnis dem Menschen – unter der bestimmenden Form der Erschließung – zugänglich ist. Wie schwierig dessen Adaption für eine Theorie der Erkenntnis und Gestaltung von Wirklichkeit ist, zeigt Rosenzweigs bereits zitierte Formulierung, in der er die Möglichkeit eines Wissens um diesen Kontext verneint, gleichzeitig aber dessen kognitive Relevanz betont: »Es [das Vorausgehende] ist nur der virtuelle Ort für den Anfang unsres Wissens. Es ist nur die Markierung für das Gestelltsein des Problems.« 118 Die Verortung im Virtuellen, die hier angesprochen wird, signalisiert die besondere Bedeutung dieses Bezugspunktes des Fragens. Es handelt sich nicht um einen Projektionsraum menschlichen Denkens, in den dieses letztlich jene Begrifflichkeiten und Erkenntnismuster überträgt, die es in der Auseinandersetzung mit der Welt gewonnen hat. Statt dessen interpretiert Rosenzweig das Denken als die Übersetzung einer vorgängigen Elementarsprache, die nicht an sich ausdrückbar ist, sondern nur in der formalen Gewandung der menschlichen Sprache. Damit eignet der Elementarsprache eine Vorläufigkeit, die für die Erschließung von Verstehen unabdingbar ist, wobei sich ihr zeitliches Vorher im Transformationsprozeß als Garantie der Wahrheit des Erschlossenen erweist. Wenn Denken stattfindet, muß es seine Voraussetzung im Virtuellen einbeziehen, da es sich nur so auf das Ganze der Wirklichkeit richten kann. Für die Bewegung des Glaubens stellt diese Notwendigkeit kein Novum dar, da sie sich auf das Transzendente des Wissens bezieht. Sich beziehen ist hier stets das Eingehen einer Bindung des Begreifens an ein Nicht-Wißbares, das aus seiner rationalen Unverfügbarkeit Erhellung bewirkt. Hieraus begründet sich nach Rosenzweigs Überzeugung die »Gestellheit« des Problems, nach dem Sein und der Schöpfung zu fragen. Vertraut wirkt es daher, wenn Martin Heidegger auf den ersten

barung gewinnt, S. 135. Auch Pollock und Cristando haben in den letzten Jahren die Beziehung beider Denker untersucht. Die Wirkung von Hans Ehrenbergs Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die Kantianer von 1911 beleuchtet Pollock in Metalogic and systematicity. 118 Der Stern der Erlösung, I,I, S. 28.

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Sein und Zeit

Seiten von Sein und Zeit konstatiert: »Die Frage nach dem Sinn von Sein soll gestellt werden.« 119 Von Anfang an ist die Zielsetzung der Untersuchung klar – nicht das Sein ist ihr Gegenstand, sondern sein Sinn. Von Anfang an macht Heidegger aber auch deutlich, in welcher Weise er diese Frage verstanden wissen will, wenn ihr Gestelltsein als Kennzeichen ihres formalen Charakters dient. Auch hier geht es nicht darum, ein Problem bloß zu benennen, sondern es im Ermöglichungsrahmen seiner Beantwortung zu positionieren. Dessen Ausmessungen gilt es darzulegen, um im Folgenden innerhalb dieser kognitiven Koordinaten operieren zu können, 120 die Heidegger mit dem Begriff der »Strukturmomente« bezeichnet. 121 Diese werden nicht nur aus einer Kenntnis des Seienden zu ermitteln sein, obwohl auch dieses von unverzichtbarer Bedeutung für ihre Formulierung ist. Auch Heidegger greift auf die Vorstellung eines Vorgängigen zurück, das sich prägend auf das Verstehen von Sein auswirkt, ohne selbst dessen Objekt sein zu können. Dabei ist er keinesfalls an Spekulationen über ein Vorausgehendes religiöser, ja nicht einmal kausaler Natur interessiert. Vor-läufigkeit bedeutet für ihn Bedingung des SeinsVerständnisses, das sich in der Möglichkeit, die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen, artikuliert. Diese Bedingtheit des Fragens entsteht aus der Faktizität des Seienden, das sich auf ein Verstehen seines Seins hin öffnen kann. Anders als Rosenzweig verortet Heidegger die Vor-läufigkeit der Bedingung des Fragens nicht in einem virtuellen Raum, sondern im Raum des Seienden selbst. Nach dem Sinn von Sein zu fragen ist nur deshalb möglich, weil dieses das Sein des Fragenden ist. Daß auch Rosenzweig letztlich diese Auffassung teilen kann, hat sich gezeigt. Denn die Annahme des Virtuellen ist nur deshalb überhaupt denkbar, weil es sich in der Formatierung des Konkreten zu erkennen gibt. Gott, Welt und Mensch sind denkbar nur in ihrer Erfahrbarkeit. Heidegger konstatiert nun: »Jedes Suchen hat sein vorgängiges Geleit aus dem Gesuchten her. […] Der Sinn von Sein muß uns daher schon in gewisser Weise Sein und Zeit, § 2, S. 5. In den Kapiteln I bis III der vorliegenden Darstellung wird sich eine ausführlichere Berücksichtigung des Denkens von Franz Rosenzweig zeigen. Denn es ist notwendig, zunächst dessen Aussagen so weit wie möglich zu klären, um sie anschließend mit den Gedanken Martin Heideggers vergleichen zu können. 120 »Daher muß kurz erörtert werden, was überhaupt zu einer Frage gehört, um von da aus die Seinsfrage als eine ausgezeichnete sichtbar machen zu können.« Sein und Zeit, § 2, S. 5. 121 Sein und Zeit, § 2, S. 5. 119

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verfügbar sein. Angedeutet wurde: wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis.« 122 Dieses verweist jedoch nicht auf eine irgendwie beschaffene transzendente Realität, deren Bestand in der Suche nach dem Sinn von Sein vorausgesetzt würde. Ganz im Gegenteil – dasjenige, das voraus-gesetzt ist, ist dasjenige, das ist, also Sein in seiner Verfassung als Seiendes. Dieses stellt das zunächst einzig zugängliche Fundament für das Fragen des Menschen dar, weshalb seine Betrachtung unverzichtbar ist. Das Seiende ist Voraussetzung, aber nicht alleiniger Inhalt einer Frage nach dem Sinn von Sein, wie Heidegger betont. »Wir kennen nicht einmal den Horizont, aus dem her wir den Sinn fassen und fixieren sollten. […] Sein als das Gefragte fordert daher eine eigene Aufweisungsart, die sich von der Entdekkung des Seienden wesenhaft unterscheidet.« 123 Seiendes in seiner Faktizität zu verstehen, bedeutet demnach nicht, Sein zu verstehen. Denn hierfür muß sich dieses als Ganzes erschließen. Dessen Ermöglichung wird sogar mitunter durch eine ausschließliche Konzentration auf die »Entdeckung des Seienden« »verdunkelt«, wie es heißt: »Aus der Helle des Begriffes [vom Sein] und der ihm zugehörigen Weisen des expliziten Verstehens seiner wird auszumachen sein, was das verdunkelte, bzw. noch nicht erhellte Seinsverständnis meint, welche Arten der Verdunkelung, bzw. der Behinderung einer expliziten Erhellung des Seinssinnes möglich und notwendig sind.« 124 Nun wäre es freilich naiv, aus der bloßen Erwähnung der Bildlichkeit von »Erhellung« und »Verdunkelung« auf eine inhaltliche Parallelität zweier Texte schließen zu wollen. Zu verbreitet ist die Licht-Metaphorik in der philosophischen Tradition, um Wissen von Nicht-Wissen zu unterscheiden, Verstehen von Ahnungslosigkeit. Und doch lohnt ein Blick auf Heideggers Gebrauch dieser Begriffe. Der Mensch befindet sich stets in einem Bezug zum Sein, der jedoch nicht ausdrücklich als ein solcher gegenwärtig ist. Statt dessen herrscht oftmals die Auseinandersetzung mit dem Seienden, also dem faktisch Gegebenen, das ihn umgibt, vor. Wichtig ist es, daß Heidegger bereits in diesem Kontext von einem »Seinsverständnis« spricht, auch wenn er es als »durchschnittlich« bezeichnet. 125 Fest-

Sein und Zeit, § 2, S. 5. Sein und Zeit, § 2, S. 5 f. 124 Sein und Zeit, § 2, S. 6. 125 »Dieses durchschnittliche und vage Seinsverständnis ist ein Faktum.« Sein und Zeit, § 2, S. 5. 122 123

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zuhalten ist die Tatsache, daß hier bereits ein Verständnis angelegt ist, aus dem es jedoch eine weitere Schicht freizulegen gilt. Die Bildlichkeit der »Verdunkelung« erweist sich an dieser Stelle als hilfreich. Denn sie zeigt, daß das Verstehen des Seins-Sinnes dem durchschnittlichen Verständnis inhäriert, daß es jedoch aus dessen Überschattungen zu lösen ist. Formal besteht damit die Forderung, zu kennzeichnen, in welchem Modus des Seins dieses durchschnittliche Verständnis zu finden ist und welcher Begriff von Sein sich diesem entnehmen läßt. Zwei methodische Notwendigkeiten unterscheidet Heidegger zu diesem Zweck. Zum einen die »eigene Aufweisungsart«, die die erforderliche Kennzeichnung leisten kann, und zum anderen eine »eigene Begrifflichkeit«, »die sich wieder wesenhaft abhebt gegen die Begriffe, in denen Seiendes seine bedeutungsmäßige Bestimmtheit erreicht.« 126 Ziel der Aufweisung ist es, auf jenes Sein zu verweisen, aus dem heraus überhaupt nach Sinn gefragt werden kann; Funktion der eigenen Begrifflichkeit ist es, die Frage zu artikulieren. Ersteres ist nur möglich, wenn bereits eine Vorstellung davon besteht, was es zu fragen gilt, so daß das Gesuchte den Ort, an dem es gesucht wird, vorgibt. Der Ausgangspunkt des Fragens bestimmt die Frage als solche, die wiederum nur gestellt werden kann, weil sie den Aufenthalt des Fragenden konstituiert. Auf diesen hinzuweisen, ist unabdingbar für die Artikulation der Sinn-Frage. »Sein liegt im Daß- und Sosein, in Realität, Vorhandenheit, Bestand, Geltung, Dasein, im ›es gibt‹. An welchem Seienden soll der Sinn von Sein abgelesen werden, von welchem Seienden soll die Erschließung des Seins ihren Ausgang nehmen? […] Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein.« 127

Die Fokussierung des Daseins 128 als Ort des Fragens weist dieses zugleich als Voraussetzung der »Erschließung des Seins« aus. Eigene Aufweisungsart und eigene Begrifflichkeit, die beiden Erfordernisse, Sein und Zeit, § 2, S. 6. Sein und Zeit, § 2, S. 7. 128 In sehr interessanter Weise charakterisiert Schoeps in Jüdischer Glaube in dieser Zeit 1932 Heideggers Begriff des Daseins: »Bei Heidegger, der durch seine fundamentale Analyse in einer nicht abzusprechenden Großartigkeit des philosophischen Vorgehens den Schöpfungscharakter des Daseins als Denkmöglichkeit grundsätzlich vernichtet hat, schlägt das menschliche Dasein immer da hin zurück, wo es letztlich festgemacht ist, in sich selbst.« S. 85. 126 127

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Gegenüberstellung

an deren Umsetzung Heidegger die Ermöglichung allen Seins-Verständnisses geknüpft hatte, zeigen sich hier. Ein Blick auf Franz Rosenzweigs Begriff des Erschließens drängt sich unweigerlich auf. Natürlich könnte wiederum eingewendet werden, daß der Ausdruck als solcher nicht so originell ist, daß aus seiner Verwendung eine Parallelität zwischen dem Stern der Erlösung und Sein und Zeit zu folgern wäre. Im weiteren Verlauf wird die besondere Bedeutung des ›Erschließens‹ in Heideggers Schrift erkennbar werden, speziell dann, wenn es als Voraussetzung des ›Entschließens‹ gefaßt wird. Da diesem Terminus in der jüngsten Debatte um eine ideologische Infiltration des heideggerschen Denkens besondere Beachtung zuteil wird, ist dessen theoretische Fundierung von herausragendem Interesse.

I.II.2 Seinsverständnis Im Augenblick kann über das Erschließen im Sinne Heideggers folgendes ausgesagt werden: Es ist die Bewegung des Offenlegens eines Sinnes von Sein aus der Betrachtung des Daseins. Dabei fällt auf, daß Heidegger dieses Offenlegen tatsächlich an die Bestimmung des Daseins bindet, was seine vehemente Kritik all jener tradierten Ontologien erklärt, die den Begriff des Seins vom Dasein separieren und damit abstrahierend bilden wollen. 129 So häufig Heidegger in den ersten Paragraphen seiner Schrift von dem »Sinn« von Sein spricht, hat er doch bislang keine Hinweise zu dessen inhaltlichem Verständnis gegeben. Zunächst gilt es die formalen Bedingungen zu klären, die zu dessen Erhellung erfüllt sein müssen. Die Aufweisung des Daseins als Ort des Fragens ist erfolgt. Doch kennzeichnet dieser Hinweis zunächst nichts anderes als eine bestimmte Form von Sein, die nicht mehr besagt, als daß es diese Seins-Weise unter anderen »gibt«. 130 Die weitere Aufgabe besteht im »Durchsichtigmachen eines Seienden – des fragenden – in seinem Sein«. 131 Wie muß Sein im Modus des »Die genannte Frage [nach dem Sinn von Sein] ist heute in Vergessenheit gekommen, […] Auf dem Boden der griechischen Ansätze zur Interpretation des Seins hat sich ein Dogma ausgebildet, das die Frage nach dem Sinn von Sein nicht nur für überflüssig erklärt, sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert.« Sein und Zeit, § 1, S. 2. 130 Die thematische Linie zur Formulierung des »il y a« in der zeitgenössischen Philosophie in Frankreich kann in diesem Kontext nicht berücksichtigt werden. 131 Sein und Zeit, § 2, S. 7. 129

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Daseins beschaffen sein, damit aus ihm die Reflexion des Seins in seiner Gesamtheit entstehen kann? Es muß ›sich verhaltendes Sein‹ sein. »Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist.« 132 Abermals zeigt sich die enge Verschränkung des Fragens und dessen Ermöglichung aus dem Fragenden heraus. So wird immer deutlicher, daß es keinen anderen Ort gibt, an dem der Sinn des Seins zu suchen, so wie es keinen anderen Ort gibt, an dem er zu finden ist. Jegliches Ausweiten des Problemhorizontes auf eine vorgängige Realität, deren Denkbarkeit Transzendieren oder auch nur Glauben erfordern würde, ist für Heidegger indiskutabel. Im sich selbst verstehenden Dasein erschließt sich der Sinn. Verweigert Heidegger aber einen gedanklichen Rückgriff auf jede Form vorläufigen Seins sei es als Göttlichkeit oder als metaphysisches Bewegungsprinzip, setzt seine Untersuchung mit der Feststellung des »es gibt« an. Dessen Faktizität markiert die Ermöglichung von Seins-Verständnis, seine Erschließung dessen Realisierung. In genau diesem Spannungsverhältnis zwischen Möglichkeit und Verwirklichung plaziert Heidegger den Begriff der Existenz. »Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein. […] Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden. Die Frage der Existenz ist immer nur durch das Existieren selbst ins Reine zu bringen.« 133 Die Verweisung der Begriffe ›Existenz‹ und ›Sinn‹, deren Darstellung Gegenstand von Sein und Zeit ist, setzt hier ein. Sinn ist keinesfalls etwas Gegebenes oder auch nur zur Erfüllung Übertragenes, das aus einer nicht dem Dasein zugehörigen Realität stammt. Eine religiös motivierte Argumentation könnte etwa auf das göttliche Wort im Schöpfungsprozeß hindeuten, das dem Menschen einen ganz bestimmten Auftrag zuweist. Heideggers Position ist hier eine andere als diejenige Rosenzweigs. Dieser hielt am Glauben an göttliche Wirkmacht fest, interpretierte diese aber als eine jener drei Elemente, aus denen sich die Wirklichkeit konstituiert. Teil seiner Elementaranalyse war daher auch die Betrachtung der Welt und die Frage ihrer Erfahrbarkeit für den Menschen.

132 133

Sein und Zeit, § 4, S. 12. Sein und Zeit, § 4, S. 12.

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Gegenüberstellung

»Zum Dasein gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt. Das dem Dasein zugehörige Seinsverständnis betrifft daher gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie ›Welt‹ und Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich wird.« 134

In der ausdrücklichen Konzentration auf das Dasein als Ermöglichungsraum von Seins-Verstehen sind sich Heidegger und Rosenzweig einig – ungewöhnlich genug, jedenfalls für einen religiösen Denker wie Rosenzweig. Im Gegensatz zu diesem, der einen expliziten Rückgriff auf phänomenologisches Denken niemals kenntlich gemacht hat, stellt es für Heidegger den intellektuellen Horizont dar, vor dem er operiert. Daß damit auch dem Phänomen ›Welt‹ gesteigerte Aufmerksamkeit zukommt, verwundert an sich nicht. Erstaunlich ist aber, daß Heidegger den Aspekt des Seins-Verhältnisses akzentuiert, der Dasein kennzeichnet. Denn dieses besagt, daß eine noch näher zu bestimmende Form des Verstehens dem Menschen möglich ist, das ihm die Alternativen aufzeigt, »es selbst oder nicht es selbst zu sein«. Da Heidegger darüber hinaus von »Ergreifen[s] oder Versäumen[s]« dieser Möglichkeit spricht, lagert sich fast unmerklich eine normative Komponente in eine ansonsten strikt formal gehaltene Darstellung. Um diese im weiteren Verlauf näher beleuchten zu können, wird die vorbereitende Arbeit darin bestehen, die verschiedenen Zugangsarten zu separieren, in denen Dasein dem Menschen begreifbar wird. »Eine Analytik des Daseins muß also das erste Anliegen in der Frage nach dem Sein bleiben. […] es darf keine beliebige Idee von Sein und Wirklichkeit, und sei sie noch so ›selbstverständlich‹, an dieses Seiende konstruktiv-dogmatisch herangebracht, keine aus einer solchen Idee vorgezeichneten ›Kategorien‹ dürfen dem Dasein ontologisch unbesehen aufgezwungen werden.« 135 Gegen die irrige Ansicht, in der Welt das »Selbstverständliche« und damit keiner theoretischen Fixierung Würdige zu sehen, hatte auch Rosenzweig argumentiert. Die Perspektive des unvoreingenommenen Blicks auf die Welt, die sich im Stern der Erlösung finden läßt, zeigt sich nun auch in Sein und Zeit. Heidegger spricht davon, daß keine vorurteilende Bewertung an sie »herangebracht« oder ihr gar »aufgezwungen« werden darf, sondern daß es Welt in ihrer unmittelbaren Präsenz zu erfassen gilt, denn: »Das Dasein hat vielmehr gemäß einer zu ihm gehörigen Seinsart die Tendenz, das eigene Sein 134 135

Sein und Zeit, § 4, S. 13. Sein und Zeit, § 5, S. 16.

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aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der ›Welt‹.« 136 Die Frage nach dem Sinn von Sein kann nur aus dem Seienden heraus artikuliert werden, das dazu in der Lage ist, sich zu anderem Seienden zu verhalten. Das Seiende, das hierzu befähigt ist, ist Dasein, der Ort seiner ›Verhaltungen‹ ist die Welt. Sich-Verhalten stellt die Grundlage des Verstehens dar, in dem sich der Sinn von Sein erschließt. So ist es nur konsequent, wenn Heidegger seine Untersuchung für unverzichtbar hält. 137 Um es noch einmal zu betonen – das Verstehen von Sein gründet im Verhalten zur Welt. Daß sich dieses durchaus auch hemmend, verdunkelnd auf den Prozeß des Verstehens auswirken kann, hatte Heidegger bereits in diesen einführenden Bemerkungen angedeutet. Was liegt also näher, als den Formen der Behinderung und der Ermöglichung dieses Prozesses durch das menschliche Agieren in der Welt in seiner ersten und unreflektierten Form nachzuforschen, in seiner »durchschnittlichen Alltäglichkeit«? 138 Wie sich zeigen wird, erfolgt dessen Beleuchtung, wenn nicht sogar der Ausdruck der Durchleuchtung passender wäre, mit großer Akribie, in der Heidegger deutlich über die eher vagen Andeutungen Rosenzweigs hinausgeht. Bemerkenswert an dessen Konzeption war, daß er überhaupt der Relation des Menschen zum gegenständlichen Sein der Welt Beachtung schenkte, in dem selben Text, in dem er die religiösen Phänomene Schöpfung, Offenbarung und Erlösung betrachtet. Die Verwurzelung des Verstehens im Realen steht für beide Denker völlig außer Frage, woraus dann auch die Erklärung für mögliche Abschattungen des Seins-Verständnisses erfolgt. Das partikuläre Erfassen der spezifischen Möglichkeiten, die die Dinge dem Menschen, der sie in Anspruch nimmt, bieten, unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom Verstehen des Seins-Sinnes. Denn es demonstriert bereits ein Begreifen der diversen Bezüge, die der Mensch zu anderem Seienden herstellen kann. Bezug, nicht zu anderem Seienden, sondern zum Sein, wird eine zusätzliche Dimension des Verhaltens zu Seiendem offenlegen, die dessen Struktur enthüllt. Diese Struktur des Seins besteht in seiner Zeitlichkeit, wie Heidegger vorgreifend Sein und Zeit, § 5, S. 15. »Aber wie soll dieses Seiende, das Dasein, zugänglich und im verstehenden Auslegen gleichsam anvisiert werden?« Sein und Zeit, § 5, S. 15. 138 Sein und Zeit, § 5, S. 16. 136 137

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Gegenüberstellung

auf die weiteren Ausführungen konstatiert. In § 5 in Sein und Zeit findet sich im Zusammenhang des Hinweises auf die Zeitlichkeit des Seins eine kurze Passage, die hier unbedingt betrachtet werden soll. »Weil das Sein je nur aus dem Hinblick auf Zeit faßbar wird, kann die Antwort auf die Seinsfrage nicht in einem isolierten und blinden Satz liegen. Die Antwort ist nicht begriffen im Nachsagen dessen, was sie satzmäßig aussagt, zumal wenn sie als freischwebendes Resultat für eine bloße Kenntnisnahme eines von der bisherigen Behandlungsart vielleicht abweichenden ›Standpunktes‹ weitergereicht wird. Ob die Antwort ›neu‹ ist, hat keinen Belang und bleibt eine Äußerlichkeit.« 139

Die beiden Hervorhebungen, die Heidegger selbst vorgenommen hat, werfen eine Frage auf. Wendet er sich mit obigen Worten gegen Rosenzweigs Sicht des »Neuen Denkens«? Daß die Zeilen deutlich polemisieren, ist offensichtlich. Zwar sind die beiden gekennzeichneten Begriffe für sich betrachtet alles andere als bemerkenswert, doch ihre Kombination legt es nahe, für einen Moment bei dieser Frage zu verweilen. Denn zusammen mit dem zuvor zitierten Ausdruck »selbstverständlich« lägen damit drei wörtliche Zitate aus dem Stern der Erlösung vor. Dreimal weist Heidegger Formulierungen zurück, deren Bedeutung seiner eigenen Auffassung jedoch sehr nahe kommt. In welchem Kontext tauchten die beiden Begriffe in Rosenzweigs Text auf? Er argumentierte gegen Hegel, dessen Denken des Alls keinen individuellen »Standpunkt« des Philosophierenden zulassen könne. Im Sinne einer »neuen« Weltansicht verwies er auf die »persönliche, erlebte und verphilosophierte Standpunkteinheit des Philosophen« 140 und setzte damit gegen den Gedanken einer absoluten Gültigkeit philosophischer Systematik die Vorstellung einer höchst individuellen Urheberschaft philosophischer Reflexion. Diese Behauptung menschlicher Individualität spiegelt grundsätzlich Rosenzweigs Interesse am Einzelnen. Denn in seinem Bestreben, die Vorstellung vom All durch jene eines Ganzen zu ersetzen, das durch das Wirken des Einzelnen konstituiert wird, kommt dem Individuum eine herausragende Bedeutung zu. Nur als Einzelner ist der Mensch dazu in der Lage, Offenbarung zu erleben oder, in philosophischer Bildlichkeit gesprochen, die Erschlossenheit des Seins zu verstehen. Die geforderte »Standpunkteinheit« verweist auf das erfahrende

139 140

Sein und Zeit, § 5, S. 19. Der Stern der Erlösung, I,II, S. 56 f.

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Denken, das Rosenzweig begründen will. Dabei macht er explizit deutlich, daß er diesen Anspruch als »neu« betrachtet, sogar radikal neu, wie er in seinem Text Das neue Denken 1925 schreibt. 141 Im Stern der Erlösung wirbt er für sein Projekt der Begründung eines »neuen« Konzeptes von Philosophie mit folgenden Worten: »Der Mensch als Empfänger der Offenbarung, als Erleber des Glaubensinhalts trägt beides in sich. Und er ist, mag sie [die Philosophie] es nun wahr haben wollen oder nicht, der gegebene, ja wissenschaftlich der einzig mögliche Philosophierende der neuen Philosophie.« 142 Auch Heidegger hatte sich besonders in seiner Vorlesung aus dem WS 1920/21 Zur Phänomenologie des religiösen Lebens für eine neue Justierung philosophischer Arbeit ausgesprochen: »Es wird sich aber zeigen, daß durch die Explikation des faktischen Daseins das gesamte traditionelle Kategoriensystem gesprengt wird: so radikal neu werden die Kategorien des faktischen Daseins sein.« 143 Zwei Denker wollen Philosophie in neuer Weise definieren und scheinen dabei von gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen auszugehen, da Rosenzweigs neues Denken Philosophie und Theologie explizit aufeinander verweist. Es hat sich jedoch bereits angedeutet, daß er jene Glaubensinhalte, die Gegenstand der Theologie sind, derart ›philosophisch‹ interpretiert, daß sein Konzept damit für einen Denker wie Martin Heidegger äußerst interessant werden konnte. Der Frage, inwieweit der Mensch von Heidegger überhaupt individuell gesehen wird, ist im weiteren Verlauf ausführlicher nachzugehen. An dieser Stelle kann festgehalten werden, daß ihm die Annahme des Einzelnen als Träger des Seins-Verstehens offenbar so sehr mißfällt, daß er das ganze Gewicht formaler Ausweisung der Seins-Struktur gegen sie geltend macht. Ob er dabei Rosenzweigs Äußerungen vor Augen hat, kann noch nicht entschieden werden. Wichtig ist ihm die Feststellung, daß »Sein je nur aus dem Hinblick auf Zeit faßbar wird«, weshalb es deren Verständnis von einer 141 »Sondern er [Der Stern der Erlösung] ist bloß ein System der Philosophie. Und nun allerdings einer Philosophie, […] die nicht etwa eine bloße ›kopernikanische Wendung‹ des Denkens herbeiführen möchte, nach der, wer sie vollzogen hat, freilich alle Dinge verkehrt herum sieht, aber doch nur die gleichen Dinge, die er auch schon zuvor sah, sondern seine, des Denkens, vollkommene Erneuerung.« Das neue Denken, S. 140. Eine Gegenüberstellung dieses Vorhabens zu Heideggers Konzeption der »formalen Anzeige« findet sich in Kapitel V.2 dieser Betrachtung. 142 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 118. 143 Phänomenologie des religiösen Lebens, § 10, S. 54.

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»vulgären« Zeitauffassung 144 zu unterscheiden gilt. Heidegger beansprucht Objektivität für seinen Nachweis der Seins-Struktur, die durch keinerlei individuelle Erfahrung beeinträchtigt ist. Damit vertritt er die Gegenposition zu Rosenzweig, was umso bemerkenswerter in Anbetracht der diversen inhaltlichen Parallelitäten ist, die sich zwischen den Hauptwerken beider Denker noch zeigen werden. In Kapitel V.2 ERFAHRENDE PHILOSOPHIE wird erneut auf diese Thematik einzugehen sein. Eine besonders interessante Vergleichsmöglichkeit wird sich bezüglich der Begriffe »Geschichte« und »Tradition« ergeben. In § 5 führt Heidegger den Terminus »Temporalität« ein, um die »ursprüngliche Sinnbestimmtheit des Seins« 145 zu kennzeichnen. Da diese nicht nur das Faktum bezeichnen soll, daß Dasein zeitlich zu erfassen ist, sondern darüber hinaus Merkmal der Seins-Struktur sein soll, erscheint Heidegger dessen begriffliche Differenzierung von der Zeitlichkeit unumgänglich. Unter dieser Perspektive erweist sich Geschichtlichkeit als »zeitliche[n] Seinsart des Daseins«, 146 abgeleitet aus der faktischen Nachwirkung vergangener Prozesse, die sich im Dasein ereignet und dessen Gestalt über den gegenwärtigen Moment hinaus geprägt haben. Eine solche über den Augenblick hinausgreifende Einflußnahme auf die Binnenstruktur des Daseins ist nur möglich, weil dieses in der Zeit verläuft und unter dem Kennzeichen der Zeitlichkeit gedacht werden kann. Wiederum muß deren selbstverständliche Dynamik von ihrer Ausweisung als Strukturmerkmal unterschieden werden. Erstere gilt es zu erhellen, um letztere zu ermöglichen. »Diese elementare Geschichtlichkeit des Daseins kann diesem selbst verborgen bleiben. […] Dasein hat nicht nur die Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auszulegen, Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition. Diese nimmt ihm die eigene Führung, das Fragen und Wählen ab.« 147

Zweimal hat Heidegger bisher darauf aufmerksam gemacht, daß die bedingenden Elemente des Daseins, sein Bestand in der Welt und seine Zeitlichkeit, eine massive Behinderung des Seins-Verstehens darstellen können, solange sie nicht reflektiert werden. Wiederum greift 144 145 146 147

Sein und Zeit, § 5, S. 18. Sein und Zeit, § 5, S. 19. Sein und Zeit, § 6, S. 19. Sein und Zeit, § 6, S. 20 f.

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die doppelte Form erhellenden Denkens, die sich bereits im Kontext der Explikation der Seins-Frage gezeigt hatte. Seins-Verstehen ist nur als Erschließen der Struktur von Sein möglich, die ihrerseits die Formen ihrer Abschattung im unreflektierten Zustand erst als solche kenntlich macht. Für Heidegger ergibt sich folgende Zielsetzung ontologischen Fragens: »Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen werden, dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeigten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden.« 148

In der kritischen Haltung »der antiken Ontologie« gegenüber und der damit einhergehenden Aufwertung der »ursprünglichen Erfahrung« stimmen Heidegger und Rosenzweig grundsätzlich überein. Für letzteren, soviel kann bereits gesagt werden, gewinnt der Begriff der Tradition aber nicht nur theoretische Bedeutung, insofern er als Gesamt überkommener Wirklichkeitsdeutungen durch die Philosophie gebraucht wird. In seiner Würdigung der Einzigartigkeit des jüdischen Volkes unternimmt er den Versuch, dessen Wesenheit zu skizzieren, wobei eine Betrachtung sowohl der Geschichtlichkeit als auch der Tradition unverzichtbar sein wird. Im Zusammenhang mit Heideggers Aussagen zum Volk werden diese Ausführungen zu berücksichtigen sein. Mögen sich auch in dem Bedürfnis, ein Verstehen von Sein zu gewährleisten, das keiner Reglementierung durch tradierte Konzepte der Philosophie unterliegt, die Intentionen von Rosenzweig und Heidegger berühren, so divergieren ihre methodischen Vorgaben, zumindest Heideggers Kennzeichnung nach. Im Zusammenhang der Frage, wie subjektiv bedingt Seinsverständnis sein darf, vertritt er eine andere Position als Rosenzweig – ob sie sich direkt gegen diesen richtete, sei für den Moment noch dahingestellt. Im weiteren Verlauf seiner Festsetzungen, wie die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen sei, bestimmt Heidegger Phänomenologie als deren Methodik 149. Sein und Zeit, § 6, S. 22. »Mit der leitenden Frage nach dem Sinn des Seins steht die Untersuchung bei der Fundamentalfrage der Philosophie überhaupt. Die Behandlungsart dieser Frage ist die phänomenologische.« Sein und Zeit, § 7, S. 27. 148 149

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»Der Ausdruck ›Phänomenologie‹ bedeutet primär einen Methodenbegriff. Er charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser.« 150 In einer vertiefenden Betrachtung klärt er die Begriffe »Phänomen« und »Logos«. Phänomen will Heidegger in Abgrenzung vom Begriff der Erscheinung 151 als »das Sich-an-ihm-selbst-zeigende« 152 verstanden wissen, das »eine ausgezeichnete Begegnisart von etwas« Bedeutende. Während die Erscheinung Anzeichen von etwas sein kann, daß sich selbst nicht zu erkennen gibt, fallen das sich Zeigende und die Art seines Erscheinens im Falle des Phänomens zusammen. Es ist das »Offenbare«. 153 Den Begriff des Logos deutet Heidegger im Sinne eines »Sehenlassens«, etwas »aus seiner Verborgenheit herausnehmen und es als Unverborgenes […] sehen lassen, entbergen«. 154 Verborgenheit, sich zeigen, Sehenlassen, das Offenbare und das Entbergen – die Terminologie, die Heidegger wählt, um die methodische Herangehensweise an die Seins-Frage zu klären, weist in eine Richtung: Das Freilegen eines bloß Überschatteten. Dieses gilt gleichermaßen für dasjenige, das sich zeigt, wie für die Frage nach seiner Wahrheit. Sie ist nicht Ergebnis einer logischen Operation, sondern einer unverstellten Begegnung, die unmittelbar erkennbar werden läßt, was ist. »Auch liegt alles daran, sich von einem konstruierten Wahrheitsbegriff im Sinne einer ›Übereinstimmung‹ freizuhalten. […] ›Wahr‹ ist im griechischen Sinne […] das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas.« 155 In allen drei Begriffsklärungen betont Heidegger ein und denselben Aspekt. Das Phänomen, das sich-Zeigende, das Wahre versetzen den Menschen, dem sie sich erschließen, in eine gewisse Haltung der Rezeptivität. Er ist der Aufnehmende, der das Offenbare zu erkennen versteht. Im Kontext des Hörens wird diese Empfänglichkeit des Menschen für das, was allen Verdunkelungen durch das primär Zugängliche zugrunde liegt, zu seiner wichtigsten Eigenschaft. BesonSein und Zeit, § 7, S. 27. »Erscheinung dagegen meint einen seienden Verweisungsbezug im Seienden selbst, so zwar, daß das Verweisende (Meldende) seiner möglichen Funktion nur genügen kann, wenn es sich an ihm selbst zeigt, ›Phänomen‹ ist.« Sein und Zeit, § 7, A, S. 31. 152 Sein und Zeit, § 7, A, S. 31. 153 Sein und Zeit, § 7, A, S. 28. 154 Sein und Zeit, § 7, B, S. 33. 155 Sein und Zeit, § 7, B, S. 33. 150 151

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ders in Heideggers Deutung des Wahrheitsbegriffes, die er hier in aller Kürze anreißt, wird ersichtlich, daß dieser keinesfalls ein Produkt des Denkens, sondern dessen Bedingung bezeichnen soll, die nicht ermittelt, sondern ausschließlich ›vernommen‹ werden kann. Diese Skizzierung ist nur ein Ansatzpunkt für Heideggers weitere Auseinandersetzungen mit dem Wesen der Wahrheit. Rosenzweig äußert sich im Gegensatz dazu nur an einer Stelle seines Sterns der Erlösung explizit in den bereits zitierten Worten: »Die Wahrheit ist für die Welt nicht Gesetz, sondern Gehalt. Die Wahrheit bewährt nicht die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit bewahrt die Wahrheit.« 156 Gerade diese Feststellung, daß sie »Gehalt« der Welt sei, korrespondiert Heideggers Auffassung von Wahrheit. Sie ist nicht Ergebnis einer Konstruktion und nicht Ausdruck einer Gesetzmäßigkeit, sondern Kennzeichen des Seins selbst. Dieses unterliegt jedoch einer vielfältigen Formung als Seiendes, das der menschlichen Aufmerksamkeit als erstes erscheint. Wenn Heidegger von ›offenbaren‹ spricht, dann enthält diese Wortwahl gewiß keine religiöse Konnotation. Doch wenn Rosenzweig ›Offenbarung‹ deutet, zeigt seine Sicht eine ontologische Relevanz. »Im Aufleuchten eines solchen Augen-blicks wohnt die Kraft, das geschaffene Sein, das von diesem Aufleuchten getroffen wird, aus dem geschaffenen ›Ding‹ umzufärben in ein Zeugnis eines geschehenen Offenbarens.« 157 In einer Sprache, die Heidegger formal zurückweist und der er doch selbst bisweilen erstaunlich nahe kommt, beschreibt Rosenzweig jenes Transformationsgeschehen, das Sein am Seienden erkennbar werden läßt. Es ist ein und dieselbe Wirklichkeit, die von Dingen erfüllt ist und in der Offenbarung stattfindet, ja mehr noch: diese zeigt sich an den Dingen und nirgends sonst. Was hier mit dem sehr schlichten, aber in seiner scheinbaren Einfachheit ungemein expressiven Ausdruck des ›Umfärbens‹ bezeichnet wird, ist letztlich der Schlüssel zum Seinsverständnis Rosenzweigs und, wie sich immer deutlicher abzeichnen wird, auch zu jenem Heideggers. Um Sein zu begreifen, bedarf es keines Transzendierens, keiner spirituellen Erfahrung. Dieselbe Wirklichkeit zeigt sich in einem Licht, das sie als Gesamt zeigt. In Rosenzweigs Denken ist die Überzeugung spektakulär, daß menschliches Verstehen für diese Erkenntnis die ding-

156 157

Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 16. Der Stern der Erlösung, II,II, S. 180.

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liche Realität nicht einen Zoll breit verlassen muß, denn Offenbarung erhellt nichts anderes als das, was den Menschen schon immer umgeben hat. Es erscheint jedoch nicht mehr als Einzelnes, sondern als konstituierender Bestandteil des Ganzen, das es zu verwirklichen gilt. Trifft diese Sicht unter Aussparung ihrer religiösen Fundierung nicht auch Heideggers Denken des sich-Zeigens, dessen Reflexion er als Inhalt der Phänomenologie bezeichnet hatte? Gewiß kann eingewendet werden, daß zwei Positionen, von denen nur eine den Glauben an Schöpfung, Offenbarung und Erlösung thematisiert, niemals vergleichbar sein können. Dieser Vorbehalt würde ohne Frage greifen, wenn Rosenzweig nur über den Glauben und seine Bedeutung für den Menschen geschrieben hätte. Doch ist es sein erklärtes Ziel, einer neuen Weltsicht 158 einen neuen Ausdruck im Denken zu geben, der ihrer radikalen Forderung nach Berücksichtigung des Einzelnen Rechnung trägt. Da die Philosophie seiner Ansicht nach hierzu allein nicht taugt, 159 weil sie das Subjektive kaum angemessen zu denken vermag, ruft sie die Theologie zur Hilfe. Dieser wiederum mangelt es an Objektivität ihrer Inhalte, weshalb die Philosophie mit ihrer Möglichkeit, Sein zu thematisieren, zu Rate gezogen wird. An Subjektivität der Erkenntnis und der Wahrung der Individualität im Konzept von Wirklichkeit ist Heidegger nicht unbedingt gelegen. Insofern könnte er die motivischen Erweiterungen, die dem Seins-Denken durch theologische Bezüge zukommen, aufnehmen, ohne sich zugleich auf die Berücksichtigung ihrer Grundlagen einlassen zu müssen. Im Rahmen seiner vorangestellten Auskunft über die Art, in der die Seins-Frage zu artikulieren sei, findet sich eine kurze Passage, die nicht übergangen werden soll. »Mit Rücksicht auf das Ungefüge und ›Unschöne‹ des Ausdrucks innerhalb der folgenden Analysen darf die Bemerkung angefügt werden: ein anderes ist es, über Seiendes erzählend zu berichten, ein anderes, Seiendes in seinem Sein zu fassen. Für die letztgenannte Aufgabe fehlen nicht nur meist die Worte, sondern vor allem die ›Grammatik‹. […] Und wo die Kräfte wesentlich geringer und überdies das zu erschließende Seinsgebiet ontologisch

158 »Ein ähnliches Verhältnis [wie bei der Bestimmung des ›neuen Menschen‹] liegt nun auch bei dem neuen Begriff der Welt vor.« Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 15. 159 »Der Mensch in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens, in seinem durch Vor- und Zunamen festgelegten Sein, trat aus der Welt, die sich als die denkbare wußte, dem All der Philosophie heraus.« Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 10.

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weit schwieriger ist als das den Griechen vorgegebene, wird sich die Umständlichkeit der Begriffsbildung und die Härte des Ausdrucks steigern.« 160

Jeder Versuch, Fragen wie die nach dem Sinn von Sein zu stellen, stößt zwangsläufig an Begrenzungen der Ausdrucksmöglichkeiten. Das Sein zu verbalisieren, nicht in seiner Zersplitterung in das vielgestaltige Seiende, sondern an sich, kann im Grunde auf keine Begrifflichkeit zurückgreifen, die es in seiner puren Faktizität bezeichnen könnte. Hier den Begriff der Faktizität zu verwenden, um Sein zu kennzeichnen, greift auf Rosenzweigs Überzeugung zurück, derzufolge Sein eine Weise, faktisch da zu sein, ist. Mit Blick auf theologische Diskurse ist ein nicht unähnliches Problem kenntlich gemacht worden, wenn die Möglichkeit, das Göttliche durch Begriffe der menschlichen Sprache aussagen zu wollen, für unzulässig erklärt wurde. Dort bestand eine Alternative darin, das Sprechen von Gott, das ihn attributiv zu umschreiben sucht, durch Negation jener Merkmale zu wagen, die sonst zur Markierung menschlicher Eigenschaften verwendet werden. Wollte man dieses Verfahren auf das Sprechen vom Sein anwenden, wäre zwar eine Aussage wie die: ›Sein ist nicht Seiendes‹ vorstellbar, die jedoch wenig Sinn machen würde. Denn, zumindest in Heideggers Sichtweise, inhäriert Sein immer schon Seiendem, als dessen Grund-Erfahrung es auszuweisen ist. Die Natur des Seienden am Sein zu negieren, würde, so merkwürdig es klingen mag, auch Sein negieren. Unabhängig hiervon läßt Heideggers Formulierung »über Seiendes erzählend zu berichten« aufhorchen. Denn Erzählung hatte Franz Rosenzweig zum Ausdrucksmittel der erfahrenden Philosophie erklärt. 161 Heidegger distanziert sich ausdrücklich von tradierten Ontologien, die es seiner Auffassung nach nicht in zufriedenstellendem Maße verstanden haben, die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen. 162 Damit entsteht für ihn jedoch die Herausforderung, dieses niemals erfolgte Fragen terminologisch zu erSein und Zeit, § 7, S. 38 f. »Vielmehr kann an diesem Punkt, wo die Philosophie mit ihrem Denken allerdings an ihrem Ende wäre, die erfahrende Philosophie beginnen. […] So wird die Methode des zweiten Bandes [des Sterns der Erlösung] eine andre sein müssen, eben die unsres letzten Gleichnisses: die Methode des Erzählens.« Das neue Denken, S. 144 und S. 148. 162 »Zu Beginn dieser Untersuchung können die Vorurteile nicht ausführlich erörtert werden, die ständig neu die Bedürfnislosigkeit eines Fragens nach dem Sein pflanzen und hegen. Sie haben ihre Wurzel in der antiken Ontologie selbst.« Sein und Zeit, § 1, S. 2 f. 160 161

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möglichen. Die sprachliche Eigenheit, die er in diesem Anspruch entwickelt, hat oft genug für Irritation oder Belustigung, Abwertung oder polemische Distanzierung gesorgt und fällt neuerdings mitunter sogar unter einen ideologischen Generalverdacht, der gegen Heideggers Denken laut wird. Wie sich zeigen wird, gibt es Parallelitäten zwischen den Versuchen Rosenzweigs und Heideggers, von Sein zu sprechen. Rosenzweig hat zu diesem Zweck die Formulierung »erzählendes Denken« geprägt, um so jenes Kennzeichen für ein theoretisches Sprechen über die Wirklichkeit als Gesamt zu sichern, das ihm bislang verwehrt blieb – Subjektivität. So wie der einzelne Mensch in seinen individuellen Erfahrungen die Welt zu begreifen lernt, soll die erzählende Philosophie die Form darstellen, in der diese Erfahrungen reflektierbar werden. Ist es nicht mehr als naheliegend, daß sich Heidegger mit obiger Distanzierung auch von Rosenzweig abgrenzen will? Danach würde er dem Stern der Erlösung die Qualität absprechen, Sein zu thematisieren – was eher taktischem Vorgehen als inhaltlicher Notwendigkeit geschuldet wäre. Sein Hinweis auf die fehlende Grammatik würde in dieser Perspektive ebenfalls verständlich. In seinem Versuch, Versprachlichung von Grundsätzlichem zu erklären, hatte Rosenzweig zwischen Logik und Grammatik unterschieden. Erstere wies er als Sprachform der ursprünglichen Bedingungen des Seins aus, letztere als deren Übertragung in die Sprache des Menschen. Diese schwer nachvollziehbare Unterscheidung zwischen zwei Ebenen von Sprache versucht er dadurch zu veranschaulichen, daß er auf »Urworte« verweist, die als Prägestempel der wirklichen Sprache dienen. »Es waren von der lebendigen Sprache her gesehen die ›Urworte‹, die als geheime Gründe unter jedem einzelnen offenbaren Wort verborgen liegen und in ihm ans Licht steigen, Elementarworte gewissermaßen, die den offenbaren Lauf der Sprache zusammensetzten […] In der lebendigen Sprache werden diese unhörbaren Urworte als wirkliche Worte hörbar […].« 163 Diesen bedingenden, voraussetzenden Charakter einer Sprachlichkeit, die an sich nicht dechiffrierbar ist, bezeichnet Rosenzweig auch als »die bloße ideelle Möglichkeit einer Verständigung«. 164 Die qualitative Differenz zwischen Unhörbarem und Vernehmbarem vergleicht er mit jener zwischen Logik und Grammatik. Letztere deutet 163 164

Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121. Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121.

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er aber nicht im Sinne eines Regelwerks, das tatsächliche Sprechakte auf dem Wege der Übereinkunft steuert. Statt dessen sieht er Grammatik als sich verwirklichendes Geschehen des Sprechens, an dem all jene, die dazu befähigt sind, in der Ausübung dieser Fähigkeit zur Gestaltung der Gemeinschaft der Sprechenden mitwirken. 165 Es wurde bereits kurz darauf hingewiesen, daß diese Aussagen Rosenzweig ohne ihre Plazierung vor dem Hintergrund kabbalistischen Sprachdenkens kaum verständlich sind. Gilt es im Moment, einen möglichen Bezug des Begriffes der Grammatik zu den zitierten Worten Martin Heideggers zu prüfen, so würde dieser die Legitimation der Sprache, die Rosenzweig aus einer präverbalen Logik gewinnt, nicht akzeptieren – zumindest nicht laut eigener Auskunft. Trotz dieses offensichtlichen Befundes stellt sich aber mit zunehmender Dringlichkeit die Frage, ob Heideggers Denken des Seins, das ihn formal vor dieselben Schwierigkeiten stellt wie Rosenzweig, von dessen Konzeption wirklich so deutlich abweicht? Er ist in den ersten Paragraphen von Sein und Zeit eindrucksvoll darum bemüht, sein Denken als objektiv und wahr im Sinne unmittelbarer Zugänglichkeit zu klassifizieren. Darum polemisiert er gegen jede auch nur ansatzweise absehbare Beeinflussung dieses vermeintlich unantastbaren Fragens durch individuelle Erfahrungen, subjektive Denkmuster und methodische Experimente wie jenes der erzählenden Philosophie. Alle drei Aspekte kennzeichnen aber exakt die Aussagen Rosenzweigs. Gibt es nun also tatsächlich Übereinstimmungen zwischen dem Stern der Erlösung und Sein und Zeit, die über bloß formale Andeutungen hinausgehen und tief aus der inhaltlichen Konzeption beider Texte entstammen?

I.II.3 In-der-Welt-sein Heidegger hatte angekündigt, daß die wesentliche Voraussetzung für die Frage nach dem Sinn von Sein die Erklärung jenes Seins ist, aus dem heraus sie gestellt wird. Damit fiel sein Blick auf das Dasein als

165 »Jene Sprache der Logik ist die Weissagung einer wirklichen Sprache der Grammatik; das Denken ist stumm in jedem Einzelnen für sich und doch allen gemein; durch diese Gemeinsamkeit begründet es die wirkliche Gemeinsamkeit des Sprechens; was im Denken stumm war, wird im Sprechen laut; […].« Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121 f.

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Modus des menschlichen Seins, dessen Analyse er in § 9 beginnt. Der Akzent, den er hierbei von Anfang an setzt, ist eindeutig: Er will Dasein nicht als Begriff für Vorhandenes verstanden wissen, sondern als Kennzeichnung der Möglichkeitsstruktur des Seins schlechthin, die er terminologisch differenzierend als Existenz bezeichnet. »Dasein ist je seine Möglichkeit und es ›hat‹ sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes.« 166 Bereits mit dieser Hervorhebung geht der Gedanke der Zeitlichkeit des Seins einher. Denn die Ermöglichung, das eigene Sein, das Dasein ist, zu verstehen, setzt dieses Verständnis immer als eine ontologische Option aus. Das Entscheidende an ihr besteht darin, daß der Mensch zu ihrer Verwirklichung nicht das Dasein negieren und aus dessen Natur abstrahieren muß, sondern daß es ein und derselbe Ort ist, an dem die Seins-Frage gestellt und aus dem sie beantwortet wird. Die Bedingtheit des Verstehens von Sein durch das verstehende Seiende gilt es zu beleuchten. 167 Dabei meint ›verstehen‹ nicht nur ein wissendes Begreifen theoretischer Zusammenhänge, sondern auch ein Erfassen der vielfältigen konkreten Bezugsmöglichkeiten, in denen sich der Mensch zum Seienden verhält, und eine ahnende Vorwegnahme der Möglichkeit, das eigene Sein-Können zu übernehmen. 168 Denn: »[…] weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst ›wählen‹, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur ›scheinbar‹ gewinnen. Verloren haben kann es sich nur und noch nicht sich gewonnen haben kann es nur, sofern es seinem Wesen nach mögliches eigentliches, das heißt sich zueigen ist. Die beiden Seinsmodi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit […] gründen darin, daß Dasein überhaupt durch Jemeinigkeit bestimmt ist.« 169 Heidegger weist auf die Bedeutung des Begriffes »Eigentlichkeit« als ein zu-eigen-Sein hin, womit dessen Funktion verdeutlicht wird, Möglichkeit des Seienden zu bezeichnen, nicht als beliebige Entscheidung, sondern zu realisierende Essenz. Zwar signalisieren die Ausdrücke wie »gewinnen« und »verlieren« auch eine normative Konnotation, insofern es etwas zu verwirklichen gilt, das den MenSein und Zeit, § 9, S. 42. »Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und d. h. zugleich in seinem Sein irgendwie versteht.« Sein und Zeit, § 9, S. 43. 168 »Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält. […] Dasein ist ferner Seiendes, das je ich selbst bin.« Sein und Zeit, § 9, S. 53. 169 Sein und Zeit, § 9, S. 42 f. 166 167

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schen wesentlich ausmacht. Doch geht es zunächst lediglich darum, die Möglichkeit des Eigen-sein-könnens anzukündigen, die nicht zwingend als Vorbereitung einer ethischen Wertung angesehen werden muß. Bisweilen mag es verwundern, daß er so offensichtlich darum bemüht gewesen ist, die Bestimmungsmerkmale des Seins in formaler Gültigkeit darzustellen. Dasein ist die Weise menschlichen Seins, doch wirkt es mitunter unklar, ob es überhaupt die Weise, menschlich zu sein, markiert. Heidegger grenzt seine Fundamentalontologie explizit gegen anthropologische Konzepte ab, so daß gefragt werden kann, ob es denn jemals sein Anliegen gewesen sei, den Sinn des Seins für den Menschen zu thematisieren. Vor diesem Hintergrund wird dafür plädiert, Sein und Zeit als Konzeptualisierung von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung zu lesen. Dieser Gedanke wird im Folgenden ausgeführt, kann an dieser Stelle aber bereits einen Hinweis zur Beantwortung der gestellten Frage liefern. Konzeptualisierung bedeutet nicht Verallgemeinerung von Erfahrungen des Seienden, die dadurch zu allgemeingültigen Sätzen formuliert werden können. Statt dessen soll durch die Wahl dieses Ausdrucks verdeutlicht werden, daß Heidegger Strukturen der Relationen freilegen will, die im Dasein erkennbar sind. Nicht Abstraktion ist also sein Ziel, sondern Komprimierung von Beobachtungen im Alltäglichen. Mit Blick auf die Bedeutung, die Heidegger der Berücksichtigung des einzelnen Menschen zuweist, heißt dieses, daß er in Sein und Zeit nicht ein bestimmtes Individuum betrachtet, sondern die Struktur, die individuelles Agieren und Verstehen, Empfinden und Erfahren zu erkennen gibt. Diese Struktur bezeichnet Heidegger als »Jemeinigkeit«. Während also Rosenzweig für die Notwendigkeit eintritt, den Einzelnen als diesen bestimmen Menschen zum Gegenstand der Reflexion zu machen, was ausdrücklich auch dessen Emotionalität einschließt, fragt Heidegger danach, was es bedeutet, Individuum im Dasein zu sein. Jede emotionale Regung und jede Beziehung zu anderem und Anderen im Dasein kann durch den Begriff der Jemeinigkeit umschrieben werden. Heidegger lehnt Rosenzweigs starke Fokussierung des Einzelnen nicht ab, sondern sucht nach dem gemeinsamen Merkmal, das individueller Seins-Bezug aufweist. Damit greift er keineswegs auf den traditionellen Begriff des Wesens zurück, der in der Philosophie zur Fixierung des AllgemeinGültigen verwendet wurde. Das Wesen des Menschen ist seine Vernunftbegabtheit, so wurde in der Vergangenheit konstatiert. Das Gemeinsame individueller Daseins-Begegnung ist Jemeinigkeit, so for107 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Gegenüberstellung

muliert Heidegger. Wesen bezeichnet das, was allen Exemplaren einer Gattung zukommt, das Gemeinsame dasjenige, das jedem von ihnen eignet. Ein solches Gemeinsames besteht auch im In-der-Welt-sein. »Der zusammengesetzte Ausdruck ›In-der-Welt-sein‹ zeigt schon in seiner Prägung an, daß mit ihm ein einheitliches Phänomen gemeint ist. […] Die Unauflösbarkeit in zusammenstückbare Bestände schließt nicht eine Mehrfältigkeit konstitutiver Strukturmomente dieser Verfassung aus.« 170 Hier soll keine ontische Verschränkung, sondern eine ontologische Verweisung vorgestellt werden. 171 Dasein ist ausschließlich aus seinem Modus des Seins in der Welt zu denken, da nur dieses phänomenologisch erfaßbar ist. Außerordentlich interessant ist nun Heideggers Erläuterung des Ausdrucks »In-der-Welt-sein«. Denn er visualisiert als graphische Signatur jene Weise, in der dasjenige, das ist, gemeinsam ist: Es ist in der Welt – es ist: »in«. »Seiendes kann ein innerhalb der Welt vorhandenes Seiendes nur berühren, wenn es von Hause aus die Seinsart des In-Seins hat – wenn mit seinem Da-sein schon so etwa wie Welt ihm entdeckt ist, aus der her Seiendes in der Berührung sich offenbaren kann, um so in seinem Vorhandensein zugänglich zu werden.« 172 Ist es wirklich nur Zufall, daß Heidegger hier das Verb »offenbaren« verwendet? Wie hatte Rosenzweig diesen Begriff gedeutet? Nicht als außerordentliche Präsentation des Göttlichen, sondern als Prozess des Verstehens von faktisch Seiendem in seiner relationalen Struktur. Heidegger schreibt nun: »Dasein versteht sein eigenstes Sein im Sinne eines gewissen ›tatsächlichen Vorhandenseins‹. […] Die Tatsächlichkeit des Faktums Dasein, als welches jeweilig jedes Dasein ist, nennen wir seine Faktizität.« 173 Faktizität des Daseins umfaßt aber sowohl für Rosenzweig als auch für Heidegger Möglichkeit im Dasein, weshalb ersterer erklärte: »Im bloßen Sein ist alles möglich und alles nur möglich. […] Erst die Beziehung, die als Wirklichkeit zwischen den Tatsachen des Seins vermittelt, erst sie begründet

Sein und Zeit, § 12, S. 53. »Das ›Sein bei‹ der Welt als Existenzial meint nie so etwas wie das Beisammenvorhanden-sein von vorkommenden Dingen. Es gibt nicht so etwa wie ein ›Nebeneinander‹ eines Seienden, genannt ›Dasein‹, mit anderem Seienden, genannt ›Welt‹.« Sein und Zeit, § 12, S. 55. 172 Sein und Zeit, § 12, S. 55. 173 Sein und Zeit, § 12, S. 55 f. 170 171

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[…] eindeutige Ordnung.« 174 Dieses Motiv der »eindeutigen Ordnung« durch Kenntnis des Seienden formalisiert Heidegger zu einem der drei Begriffe, die sein Denken in Sein und Zeit eindeutig kennzeichnen werden – zum Begriff der Sorge, zunächst in der Form des Besorgens vorgestellt. »Das In-der-Welt-sein des Daseins hat sich mit dessen Faktizität je schon in bestimmte Weisen des In-Seins zerstreut oder gar zersplittert. Die Mannigfaltigkeit solcher Weisen des In-Seins läßt sich exemplarisch durch folgende Aufzählung anzeigen: zutunhaben mit etwas, herstellen von etwas, […] befragen, betrachten, besprechen, bestimmen … Diese Weisen des In-Seins haben die noch eingehend zu charakterisierende Seinsart des Besorgens.« 175

Es scheint sich nicht zu verbieten, die »Seinsart des Besorgens« als formale Ausweisung jener Beziehungen, die »als Wirklichkeit zwischen den Tatsachen des Seins vermitteln«, zu lesen. Dabei muß immer wieder darauf verwiesen werden: Wenn Rosenzweig individuelle Zugänge zum Seins-Verständnis sucht, geht es Heidegger um deren Konzeptualisierung. Heidegger wählt einen ungewöhnlichen Ausdruck zur Bezeichnung der relationalen Struktur des In-derWelt-seins – das »Geschick«. 176 Bevor er diesen näher betrachten kann, gilt es zunächst »Das In-der-Welt-sein […] hinsichtlich des Strukturmoments ›Welt‹ sichtbar […]« 177 zu machen. Zur Formalisierung dieses Begriffes greift Heidegger auf den Terminus »Weltlichkeit« zurück, der »die Struktur eines konstitutiven Momentes des In-der-Welt-seins« 178 meint. Wodurch läßt sich das Welt-Sein also charakterisieren? Die Antwort ist bereits angedeutet worden. Heidegger ist sehr darum bemüht, Welt nicht als ein Abstractum zu begreifen, sondern sie aus ihren Elementen zu erschließen, die er dann aber wieder daraufhin befragen will, was sie über ihre eigene Beschaffenheit aussagen. So fällt sein Blick zunächst auf die Dinge in der Welt, die nicht als solche, sondern in ihrem möglichen Bezug aufeinander interessieren. In ihrer differenzierenden Besonderheit bieten sich die Dinge der Inanspruchnahme durch den Menschen dar, Der Stern der Erlösung, I, Übergang, S. 94. Sein und Zeit, § 12, S. 56 f. 176 »Der Begriff der Faktizität beschließt in sich: das In-der-Welt-sein eines ›innerweltlichen‹ Seienden, so zwar, daß sich dieses Seiende verstehen kann als in seinem ›Geschick‹ verhaftet mit dem Sein des Seienden, das ihm innerhalb seiner eigenen Welt begegnet.« Sein und Zeit, § 12, S. 56. 177 Sein und Zeit, § 14, S. 63. 178 Sein und Zeit, § 14, S. 64. 174 175

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erscheinen diesem nicht als isolierte Entitäten, sondern als »Zuhandenes«, das sich dem Gebrauch anbietet oder entzieht. Erst in ihrer Verwendungssignatur als Zeug werden Gegenstände zu Konstituentien einer Konzeption von Welt, die sich dadurch ausweist, daß sie als »Bewandtnisganzheit« erfaßt werden kann. Die Analysen, in denen Heidegger die Begriffe Ding, Zuhandenes und Zeug klärt, weisen in ihrer Detailliertheit weit über die wenigen Aussagen hinaus, die Rosenzweig der Dinglichkeit der Welt widmet. Entscheidend für eine Gegenüberstellung beider Bestimmungen von Welt ist der Umstand, daß sowohl Rosenzweig als auch Heidegger diese über eine Erläuterung ihres relationalen Charakters vornehmen. Dinge zeigen sich in ihrer Verfügbarkeit, die als solche nur registriert werden kann, wenn ein vorläufiges Verstehen möglicher Inanspruchnahme gegeben ist. Dieses überformt ein bloßes Vorhandensein von Gegenständen durch ein strukturierendes Begreifen, das Heidegger als »Verweisen« bezeichnet. 179 »Verweisen ist, extrem formal genommen, ein Beziehen.« 180 Im Beziehen von etwas auf etwas anderes geht es aber schon nicht mehr nur um ein Erfassen der jeweiligen konkreten Möglichkeiten, die ein Ding für seine Nutzung anbietet, sondern um das Erzeugen eines Realitäts-Geflechtes, das nur auf der Grundlage verstehender Bezugnahme auf Seiendes entstehen kann. »Seiendes ist daraufhin entdeckt, daß es als dieses Seiende, das es ist, auf etwas verwiesen ist. Es hat mit ihm bei etwas sein Bewenden. Der Seinscharakter des Zuhandenen ist die Bewandtnis. […] Die Bewandtnisganzheit selbst geht aber letztlich auf ein Wozu zurück, bei dem es keine Bewandtnis mehr hat, was selbst nicht Seiendes ist in der Seinsart des Zuhandenen innerhalb einer Welt, sondern Seiendes, dessen Sein als In-der-Welt-sein bestimmt ist, zu dessen Seinsverfassung Weltlichkeit selbst gehört.« 181 Mit dem Begriff der Bewandtnis hat Heidegger an diesem Punkt seiner Darstellung die erste mögliche Bestimmung des Welt-Seins erreicht. In der weiteren Explikation des Begriffes wird dieses noch deutlicher. Denn dort differenziert Heidegger ein »Wozu«, das immer

179 »Die Struktur des Seins von Zuhandenem als Zeug ist durch die Verweisungen bestimmt. […] Die Verweisungen selbst sind nicht betrachtet, sondern ›da‹ in dem besorgenden Sichstellen unter sie.« Sein und Zeit, § 16, S. 74. 180 Sein und Zeit, § 17, S. 77. 181 Sein und Zeit, § 18, S. 84.

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eine unmittelbare Bezogenheit markiert, von jenem »Umwillen«, das nur noch die Seins-Art des Daseins als solche kennzeichnet. Deuten alle einzelnen Verweisungen, in denen die Verwendbarkeit eines Dinges als sein ›wozu‹ erfaßt wird, auf die interne Beschaffenheit von Sein in der Welt hin, so signalisiert deren Formalisierungsemblem ›umwillen‹ die Ausgewiesenheit des Seins schlechthin. Um noch einmal daran zu erinnern – Heidegger stellt die Frage nach dem Sinn von Sein. Deren Beantwortung wird mit der Formulierung des ›umwillen‹ greifbar. Denn sie deutet die Denkbarkeit eines Relevanz-Kontextes an, der sich nicht mehr durch eine Mittel-Zweck-Relation erfassen läßt, wie sie konkreten Nutzungsbezügen in der Welt zugrunde liegt. Heidegger selbst verwendet den Ausdruck des Zwecks nicht, da dessen bloße Annahme die phänomenologische Ausrichtung seiner Untersuchung untergraben würde. Sein Fokus liegt auf dem, was ein Ding als Möglichkeiten seiner Inanspruchnahme von sich aus anbietet. Dieses Angebot bedingt die Weise der Handhabung. Dagegen findet der planende Wille des Handhabenden kaum Berücksichtigung, es sei denn, insofern auch er sich als Nutzungsprofil des Menschen deuten läßt. An dieser Stelle unterbricht jedoch eine Frage die Überlegungen. Ist es wirklich unter der Voraussetzung, eine phänomenologische Untersuchung des In-der-Welt-seins vornehmen zu wollen, konsequent, auf dessen ›umwillen‹ anzuspielen? Gibt es nicht, so möchte man einwenden, gedankliche Befunde, die aus der Ausweisung durch die phänomenale Beschaffenheit der Wirklichkeit nicht unmittelbar artikuliert werden können? Die folgenden Betrachtungen können genutzt werden, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Wenn festgestellt wurde, daß Heidegger mit dem Begriff der Bewandtnisganzheit eine Kennzeichnung des Seins in der Welt vorgenommen hat, zeigt sich doch sogleich, daß es sich hierbei nicht um die letztgültige Ausweisung handeln kann. Denn es bleibt zu klären, warum Zuhandenes, dessen Seins-Charakter in der Bewandtnis liegt, überhaupt dem menschlichen Begreifen zugänglich ist. Die Antwort formuliert Heidegger unter Rückgriff auf den Begriff der Bedeutsamkeit. Zuhandenes ist nur deshalb als solches erfaßbar, weil es sich in Relation zueinander zeigt. »Den Bezugscharakter dieser Bezüge […] fassen wir als be-deuten. In der Vertrautheit mit diesen Bezügen ›bedeutet‹ das Dasein ihm selbst, es gibt sich ursprünglich sein Sein und Seinkönnen zu verstehen hinsichtlich seines In-der-Welt-seins.« 182 182

Sein und Zeit, § 18, S. 87.

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Gegenüberstellung

Da Bedeutsamkeit ein Formalisierungszeichen darstellt, durch das Heidegger das Erschließen des Seins in der Welt kenntlich macht, ist es nachvollziehbar, daß er diese auch als Fundierung für »das mögliche Sein von Wort und Sprache« 183 bezeichnet. Denn ihre Ermöglichung setzt voraus, daß es ein Bedeuten als eine verweisend-verstehende Seins-Annäherung überhaupt geben kann. Im Bedeuten werden jedoch keine gänzlich neuen Bezüge von Seiendem geschaffen, sondern es erschließt Seins-Verweisungen, deren Möglichkeit durch das In-der-Welt-sein gegeben ist. Auch der fragende Mensch im Dasein steht immer schon in einem bestimmten Seins-Bezug, insofern er überhaupt nur aus einer ursprünglichen »Vertrautheit« mit Welt jene Bezugsstruktur erfassen kann, die ihm in der Verweisungsganzheit des Zuhandenen zugänglich wird. 184 In einer weit ausgedehnten Darstellung verdeutlicht Heidegger über die Extraktion verschiedener Formalisierungsstufen, daß die Frage nach dem Sinn von Sein in zweifachem Sinne nur von einem Verstehen des Seins in der Welt ausgehen kann. Denn nur hier ist die ontische Voraussetzung dafür gegeben, daß überhaupt Sein in Frage gestellt werden kann, und nur hier ist deren Reflexion als ontologischer Ertrag möglich. Im Grunde handelt es sich bei beiden Feststellungen um Selbstverständliches. Wo sonst sollte die Frage nach dem Sein beantwortet werden können, als dort, wo sie gestellt wurde. Und doch zeigt ein Blick in die Geschichte metaphysischen und religiösen Denkens, daß diese Überzeugung gar so selbstverständlich nicht ist. Mit der Annahme einer kausalen Erstursache oder eines schaffenden Gottes ist der Problematisierungshorizont dieses Fragens immer wieder über jene Realität hinausgehoben worden, die dem Menschen primär zugänglich ist – die Realität der Welt. Mit einem solchen Transzendieren, das die Ursächlichkeit dafür, daß überhaupt Sein ist, einer Seins-vorläufigen Wirklichkeit zuschreibt, geht die Notwendigkeit einher, für das Begreifen eines solchen Vor-gehens jeweils eigene Denkformen zu fordern. Abstraktion oder Glaube sind erforderlich, um die Bedingung von Sein und damit die Bedingtheit des Seienden Sein und Zeit, § 18, S. 87. »Worin Dasein in dieser Weise sich je schon versteht, damit ist es ursprünglich vertraut. Diese Vertrautheit mit Welt verlangt nicht notwendig eine theoretische Durchsichtigkeit der die Welt als Welt konstituierenden Bezüge. Wohl aber gründet die Möglichkeit einer ausdrücklich ontologisch-existenzialen Interpretation dieser Bezüge in der für das Dasein konstitutiven Weltvertrautheit, die ihrerseits das Seinsverständnis des Daseins mit ausmacht.« Sein und Zeit, § 18, S. 86. 183 184

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erfassen zu können. Offenbar will Heidegger keine der beiden Zugangsarten in Anspruch nehmen, sondern sich unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Untersuchungen Edmund Husserls ausschließlich auf eine Betrachtung jener Phänomene konzentrieren, an denen sich Sein zeigt. Die radikale Fokussierung der Welt als ontisch-ontologischer Bezugsraum folgt konsequent aus seinem Verständnis philosophischen Fragens. Dieses kann jedoch nicht mit vergleichbarer Entschiedenheit für das Denken von Franz Rosenzweig behauptet werden. Zwar erklärt er, daß sein Stern der Erlösung kein religiöses Buch sei, doch relativiert sich diese Feststellung bei einem Blick in dessen Konzeption. Schöpfung und Offenbarung sind jene Vorstellungen, deren Gewißheit keines Beweises bedarf, weil sie Inhalt des Glaubens ist. So ist es denn erstaunlich, daß auch er im Rahmen seiner Interpretation von Schöpfung eine deutliche Akzentuierung der Phänomene Welt und Dasein vornimmt. Welt zählt zu den drei Elementen, die Wirklichkeit konstituieren, was allein schon deren Thematisierung erfordert. Den Begriff des Daseins nutzt Rosenzweig in den beiden Schreibweisen als Dasein und Da-sein zur Kennzeichnung des Ortes fortgesetzter Schöpfung. Um diesen Gedanken sinnvoll präsentieren zu können, muß er jene Aspekte herausstellen, die Gestaltung der Realität erst ermöglichen – die Gegenständlichkeit der Welt und ihre Relationalität. Mit beiden Komponenten greift er eindeutig auf begriffliches und thematisches Repertoire philosophischer Diskurse zurück, spielt doch erstere im religiösen Denken keine, letztere eine allenfalls moralisch intendierte Rolle. »Die Welt ist ganz gegenständlich, alles Tun in ihr, alles ›Machen‹, ist, da es in ihr ist, Geschehen; der Vorgang ist mindestens der Grund der Wirklichkeit, in dem auch das Tun gegründet ist. So ist selbst das Geschehen in ihr dinglich, fügt sich dem Grundbegriff, unter dem sich die Gegenständlichkeit der Welt überhaupt verwirklicht, eben der Dinglichkeit.« 185 Und weiter heißt es: »Das Ding hat auch als bestimmtes kein eigenes Wesen, es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen.« 186

Erst in diesen »Beziehungen« gewinnt das Einzelne Bedeutung für das Ganze, diese Überzeugung vertritt Rosenzweig sowohl mit Blick auf die Gestaltung der Wirklichkeit, als auch mit Blick auf das ursprüngliche Wirken der drei Elemente, wie sich bereits gezeigt hatte. Nun wäre es ein unsinniges Unterfangen, im Stern der Erlösung eine 185 186

Der Stern der Erlösung, II,I, S. 147 f. Der Stern der Erlösung, II,I, S. 148.

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Untersuchung der Dinglichkeit der Welt zu erwarten, die hinsichtlich ihrer Detailliertheit auch nur entfernt mit jener in Sein und Zeit verglichen werden könnte. In Anbetracht der unterschiedlichen geistigen Provenienzen beider Denker verwundert dieses jedoch nicht im Mindesten. In Rosenzweigs Text findet sich aber eine kurze Betrachtung, die Aufmerksamkeit verdient. Er fragt danach, was ein Ding denn überhaupt erst als Einzelnes ausweist – keine ungewöhnliche Überlegung in einem erkenntnistheoretischen oder naturphilosophischen Traktat, doch eine höchst eigene Perspektive in einem Werk wie dem Stern der Erlösung. Ein Ding wird zum einzeln Erfaßbaren dadurch, daß auf es hingewiesen werden kann. Dieses resultiert nicht allein aus einer Eigenschaft oder einem Merkmal des betreffenden Objektes, sondern aus dem sprachlichen Hinweis, der es von anderen Dingen unterscheidet. »Das ›Dies‹ zeigt auf das Ding bloß hin und drückt in diesem Zeigen aus, daß hier ein ›Etwas‹ zu suchen sei. Im ›Hier‹, das im ›Dies‹ steckt, ist also der Raum gesetzt als die allgemeine Bedingung, unter der das Ding, bisher nur als ein Etwas bestimmt, zu suchen sei. […] Erst der unbestimmte Artikel drückt unter diesen großen Prozeß den Stempel und bezeichnet ihn als vollzogen, ›das‹ Ding als erkannt. Im bestimmten Artikel aber, […] ist, […] das Ding unmittelbar ergriffen; es ist nun als dieses einzelne erkannt.« 187

Bereits an früherer Stelle hatte sich die besondere Funktion von Sprache in Rosenzweigs Denken angedeutet. Die Elementarworte, vorsprachliche Signaturen virtuellen Seins-Verständnisses, können in wirkliche Sprache übersetzt werden. Dabei gilt es nicht, einzelne Begriffe zu übertragen, sondern Funktionskontexte zu transponieren. »Aus den stummen, bloß mitgedachten Urworten, die […] als unhörbare Untertöne die Klangfarbe des dreistimmigen Basses unsrer Weltsymphonie schufen, aus ihnen unmittelbar müssen hörbare Worte entspringen, Stammworte gewissermaßen, die, als bestimmte Worte noch in enger Fühlung mit den Urworten stehend, doch die ganze, das Reich der wirklichen Sprache umfassende Gesetzlichkeit aus sich hervorzutreiben fähig sind.« 188 Passagen wie diese scheinen das Projekt, Rosenzweigs Denken mit jenem Martin Heideggers vergleichen zu wollen, beinahe aussichtslos werden zu lassen. Wie kann ein Denken, das so tief in sprachmystischen Vorstellungen wurzelt, einem solchen kontrastiert 187 188

Der Stern der Erlösung, II,I, S. 142 f. Der Stern der Erlösung, II,I, S. 140.

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werden, das sich selbst als phänomenologisch ausweist? Doch gerade in ihrer fundamentalen Differenz liegt die Ermöglichung ihrer Gegenüberstellung. Wenn die These sich zunehmend festigen wird, daß Sein und Zeit die Struktur-Formalisierung vom Stern der Erlösung ist, dann muß dieses sich gerade an den Gedanken scheinbar größter Unterschiedlichkeit erweisen. Als Vorgehensweise zeigt sich dabei immer wieder eine bestimmte Frage, die an Rosenzweigs Text gestellt werden muß, ungeachtet der Tatsache, daß allein schon deren Erwägung dessen Intention zuwiderläuft: Lassen sich Rosenzweigs Aussagen zum Sein formalisieren? Wenn dieses aus einer völlig anderen philosophischen Perspektive für möglich und sinnvoll gehalten wird, bedeutet es, daß dafür auf die Spezifika der Schrift verzichtet werden muß, nämlich ihren Anspruch, als erzählende Philosophie die existentiellen Erfahrungen des Einzelnen zu reflektieren. Gleichwohl scheint Der Stern der Erlösung Gedanken zu enthalten, die eine solche Arbeit der Objektivierung nahelegen. Vorausgesetzt, daß Heidegger Rosenzweigs Text gekannt und in Sein und Zeit tatsächlich dessen Konzeptualisierung vorgenommen hat, stellt sich natürlich die Frage nach dessen Intention. Eine sehr wohlwollende Spekulation sei an dieser Stelle gewagt. Heidegger erkannte das ontologische Potential des Textes und wollte dieses für eine weitere Diskussion in einer wissenschaftstauglichen Weise bewahren. Dann bliebe es allerdings unklar, warum er die Urheberschaft dieses Denkens konsequent verschwiegen hat. Die Artikulierung einer alternativen Erklärungsmöglichkeit sei dem weiteren Verlauf der Untersuchung vorbehalten. Für den Moment kann festgehalten werden, daß in Rosenzweigs Deutung der relationale Charakter der Wirklichkeit dadurch erkennbar wird, daß Sprache ihre Heterogenität bezeichnet, indem begrifflich auf Einzelnes als Einzelnes hingewiesen werden kann. In Sein und Zeit findet sich zwar die erwähnte Feststellung, aus der Bedeutsamkeit als Seins-Merkmal könne auf das Entstehen von Sprache geschlossen werden. Die Funktionen des Zeigens und Verweisens, die er im Kontext seiner Analyse der Bedeutungsganzheit vornimmt, grenzen zwar an jenes verbale Hindeuten, das Rosenzweig thematisiert. Jedoch ist Heidegger offensichtlich nicht an einer intensivierenden Beleuchtung dieser Funktionsweisen im Sinne grammatikalischer Formen interessiert. In beiden Konzeptionen zeigt sich aber, von dieser Differenz abgesehen, eine starke inhaltliche Parallele, die es den jeweils unterschiedlichen Vorgehensweisen beider Denker entsprechend zu formulieren gilt. Soll diese Übereinstimmung zunächst in 115 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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begrifflich unspezifischer Weise ausgedrückt werden, besagt sie: Verweisen schafft Verwirklichung. Grundlage dieser Aussage ist die Überzeugung, daß Wirklichkeit relational zu denken ist. Für Rosenzweig ist der Nachweis extrem wichtig, daß im Verknüpfen von Dingen in der Welt, die immer vom Menschen initiiert wird, die Möglichkeit besteht, Schöpfung als immerwährenden Prozeß zu begreifen. Konkreter Vollzug und dessen Reflexion verschränken sich in dieser Sichtweise, da ein Wirken in der Welt das vorgängige Verständnis der Wirksamkeit von Verstehen voraussetzt. Rosenzweigs Deutung des Begriffes der Offenbarung liegt dieser Ansicht zugrunde, da sie Schöpfung als Möglichkeit, nicht Vollendung des Seins der Welt zu erkennen gibt. Das Erschließen des Möglichen als Grundlage dafür, Schöpfung als sich fortsetzendes Geschehen zu begreifen, umfaßt im Stern der Erlösung Verstehen und Gestalten von Wirklichkeit gleichermaßen. Der Bezug beider existentieller Bewegungen aufeinander hat sich im Kontext der Frage nach dem Selbst des Menschen gezeigt. Heideggers Ziel besteht in der Formulierung einer Fundamentalontologie, die jene Strukturelemente kenntlich macht, die einem Verstehen von Sein zugrunde liegen, gleichzeitig aber durch dieses bedingt sind. Rosenzweigs Denken gilt den Bedingungen einer Gestaltung von Wirklichkeit als einer Verwirklichung der immerwährenden Gestalt der Schöpfung. Diese grundsätzliche Differenz der Intentionen beider Denker darf niemals außer Acht gelassen werden. Sie wird in zunehmendem Maße eindeutige Akzentuierungsdivergenzen zwischen dem Stern der Erlösung und Sein und Zeit erklären. Es ist jedoch auch zu berücksichtigen, daß gerade in Heideggers Bestimmung vom Dasein seine zunehmende Distanzierung von den phänomenologischen Deutungen Edmund Husserls sichtbar wird. Dasein ist für ihn Sein in der Welt, deren Seins-Modus durch Faktizität gekennzeichnet ist. 189 Es ginge mit Sicherheit zu Crispin betont in Phänomenologische Ontologie, S. 57: »Für ihn [Heidegger] gibt es etwas, das nicht zu reduzieren ist: das Dasein in seiner Seinsverfassung und das Sein als solches.« Verbunden ist diese Zurückweisung mit Heideggers Forderung nach einem neuen Weltbegriff sowie einem »neuartigen Subjekt-Objekt-Bezug« (S. 63). Und Siegfried konstatiert in Husserls »Angst vor dem Dasein« und Heideggers »Angst vor der Stimme«, S. 171 f.: »[…] daß Husserl in Sein und Zeit auftaucht, ist nicht verwunderlich – doch vor dem Hintergrund des Ziels, Dasein als faktisches Inder-Welt-sein aufzuweisen, vermag diese Bezugnahme auf Husserls Untersuchungen zum Phänomen der Bedeutung ein gewisses Erstaunen hervorzurufen. Schließlich

189

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weit, hier von einer möglichen Entscheidung Heideggers zu sprechen, die er zwischen den Konzeptionen von Husserl und Rosenzweig zu treffen hatte. Erkennbar wird jedoch eine deutliche Nähe zum WeltBegriff des Sterns der Erlösung.

I.II.4 Mitsein In grundsätzlicher Übereinstimmung haben beide Denker betont, daß ein Verstehen von Sein immer über die Einsicht in dessen wesentlich relationale Beschaffenheit erfolgt. Mit Blick auf die Weltlichkeit der Welt hatte Heidegger in einer breit angelegten Analyse deren Bewandtnisganzheit herausgestellt, die die Zuhandenheit von Seiendem erschließt. In deutlich geringerem Umfang hat Rosenzweig die Dinglichkeit der Welt als jenes Merkmal ausgewiesen, daß ihre Berücksichtigung im Kontext einer religiös motivierten Untersuchung rechtfertigt. Denn ihre Gegenständlichkeit ist nun nicht mehr Anzeichen purer Materialität, die als Synonym für Vergänglichkeit interpretiert werden könnte, sondern Voraussetzung für ihre »Immerwährendheit«. 190 Für beide Denker kann eine Betrachtung der Welt in ihrer dinglichen Vielgestaltigkeit natürlich nur ein Teil der Analyse von Wirklichkeit sein. Die Frage nach dem Menschen als demjenigen, der überhaupt erst das Sein zu erschließen versteht, gilt es zu stellen. Beide artikulieren sie ihrer Intention und ihrem Stil gemäß. So fragt Heidegger nach dem »Wer des Daseins« 191 und Rosenzweig schreibt pathetisch, doch darum nicht weniger aufschlußreich: »wo ist im Kreise der Schöpfung das ›Geschöpf‹, wo im Reiche der Philosophie der ›Gegenstand‹, der auf seinem Antlitz das sichtbare Siegel der Offenbarung trägt?« 192 Heidegger verweist in seiner Untersuchung des In-der-Welt-seins auf das »Ich selbst« des Menschen im Dasein. Dieses faßt er jedoch nicht als ein autonomes Subjekt, das sich erkennend einer Vielfalt von möglichen Objekten gegenüberstellt. »Die Klärung des In-der-Welt-seins zeigte, daß nicht zunächst ›ist‹ grenzt Heidegger sein Programm, bei der Faktizität des Daseins anzusetzen, in den zwanziger Jahren deutlich von Husserls Bewußtseinsphänomenologie ab.« 190 »Die Welt ist da, in dem königlichen Schatz der unendlich empfänglichen, unendlich ›anwendungs‹-bedürftigen Gefäße und Geräte ihres Logos.« Der Stern der Erlösung, I,II, S. 49 f. 191 Sein und Zeit, § 25, S. 114. 192 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121.

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und auch nie gegeben ist ein bloßes Subjekt ohne Welt. Und so ist am Ende ebensowenig zunächst ein isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen. […] ›Die Anderen‹ besagt nicht soviel wie: der ganze Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, die Anderen sind vielmehr die, von denen man sich zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist.« 193 Und: »Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.« 194 In zweifacher Hinsicht wurde hier eine bemerkenswerte Perspektive gewählt. Zum einen deshalb, weil Heidegger das Ich so weit wie irgend möglich im Mitsein mit Anderen aufgehen läßt, das – und darin liegt der zweite Aspekt – sich zunächst in keiner Weise ethisch bestimmt. Auch der Mensch ist in der Welt, und in ihr in seinem Umgehen mit Zuhandenem erfaßbar. 195 Natürlich repräsentiert der Mensch insofern einen speziellen Daseins-Modus, als er derjenige ist, der Dinge der Welt zu nutzen und nach dem Sinn von Sein zu fragen versteht. Doch interpretiert Heidegger dieses nicht als außergewöhnliche Befähigungen, die für menschliches Sein eine außerordentliche phänomenologische Kennzeichnung erfordern würden. Analog zur Suche nach der ersten Zugänglichkeit von Dasein, als deren Form sich das Sein in der Welt erwiesen hatte, sucht er das Sein des Menschen in seinem primären Begegnen. Auch hier wird eine Relationsstruktur sichtbar. So wie er sich in der Beziehungsform der »Sorge« zu Seiendem verhält, ist sein Verhalten zum Mitseienden durch »Fürsorge« charakterisierbar. »Die Fürsorge hat hinsichtlich ihrer positiven Modi zwei extreme Möglichkeiten. Sie kann dem Anderen die ›Sorge‹ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, für ihn einspringen. […] Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt, […] Diese Fürsorge […] verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.« 196 Gerade mit Blick auf einen Vergleich zum Denken Franz Rosenzweigs ist es bemerkenswert, daß Heidegger zwar von positiven Formen der Fürsorge spricht, diese Klassifizierung aber scheinbar nicht 193 194 195 196

Sein und Zeit, § 25, S. 116 ff. Sein und Zeit, § 26, S. 118. Sein und Zeit, § 26, S. 120. Sein und Zeit, § 26, S. 122.

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im mindesten als Grundlage einer ethischen Normierung nutzen will. Und dennoch könnten seine folgenden Aussagen im Sinne einer absoluten Verantwortlichkeit dem Anderen gegenüber interpretiert werden, die nicht auf der Grundlage einer Weisung, sondern einer existentiellen Bestimmung basiert. In jüngster Zeit hat Emmanuel Lévinas diese Begründung des Ethischen gewählt. 197 »Als Mitsein ›ist‹ daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer. Das muß als existenziale Wesensaussage verstanden werden. […] Im Mitsein als dem existenzialen Umwillen Anderer sind diese in ihrem Dasein schon erschlossen.« 198 So verführerisch es ist, hier eine Grundlegung ethischer Konzeptionen sehen zu wollen, ist es doch nicht Heideggers Ziel in Sein und Zeit. Die »Erschlossenheit des Mitdaseins Anderer« beruht nicht auf der Bereitschaft, sich auf die Individualität des Gegenübers einzulassen und ihn auf diesem Wege kennenzulernen. 199 In existentialer Kennzeichnung ist Sein Sein mit Anderen. Nun hatte Heidegger an früherer Stelle auf die Unterscheidung von eigentlichem und uneigentlichem Dasein hingewiesen. Es scheint also im menschlichen Sein eine gewisse Variationsbreite des Seins-Verstehens zu geben, die, wenn sie schon nicht moralisch interpretiert wird, doch zumindest andeutet, was dem Menschen möglich, was ihm zu eigen ist. Vor diesem Hintergrund erklärt Heidegger, daß das Dasein »Mitsein zu den Anderen, nicht es selbst« 200 ist, und leitet von hier aus seine Analyse des »Man« als zunächst begegnende Seins-Weise des Selbst ein. So wie dingliches Sein in Form des Alltäglichen als erstes zugänglich wird, zeigt sich menschliches Sein zunächst in der Weise undifferenzierter Anonymität. So wie Zuhandenes immer schon in seiner möglichen Zuhandenheit erfaßt wird, gibt es einen vorgängigen Verstehensmodus von Mitsein, das Faktizität, nicht Individuation zu erkennen gibt. Heideggers Darstellung jener »Diktatur« des Man, das Verhaltensweisen und Denkgewohnheiten ebenso selbstverständ197 Es sei auch an die Thematisierung des ›Mit‹ in Michel Henrys Text Singulär Plural sein verwiesen. 198 Sein und Zeit, § 26, S. 123. 199 »Die zum Mitsein gehörige Erschlossenheit des Mitdaseins Anderer besagt: im Seinsverständnis des Daseins liegt schon, weil sein Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses Verständnis ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht.« Sein und Zeit, § 26, S. 123 f. 200 Sein und Zeit, § 26, S. 125.

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Gegenüberstellung

lich reglementiert wie Geschmacksurteile, zeichnet dessen nahezu unmerkliche Nivellierung individueller Standpunkte beunruhigend aktuell, in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ebenso wie heute. Dessen fatale Perfektion besteht darin, daß es wirkt, ohne daß seine Wirkmechanismen der Entpersonalisierung normalerweise offengelegt werden. Der von Heidegger häufig gebrauchte Ausdruck des »zunächst«, zumeist zur Kennzeichnung phänomenologischer Zugänglichkeit verwendet, erhält im vorliegenden Kontext eine Färbung, die über seine bloß methodische Vorgängigkeit hinausweist. »Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden. […] Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man.« 201 Hier geht es nicht mehr lediglich um eine erste Erscheinungsweise von Sein, sondern um eine primäre existentielle Beschaffenheit des Selbst, die eindeutig zu erkennen gibt, daß sie nur vorläufiger Natur sein kann. Trotzdem legt Heidegger in dieser Phase seiner Ausarbeitung der Seins-Frage großen Wert darauf, Selbst-Sein als SeinsWeise lediglich formal zu fassen, um voreilige Versuche, bereits hier eine Anleitung zu bestimmten Verhaltensmustern erkennen zu wollen, deren Verwirklichung zum eigentlichen Selbst führt, zu unterbinden. »Die Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst ist aber dann ontologisch durch eine Kluft getrennt von der Identität des in der Erlebnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich.« 202 Heidegger untersucht Formen von Sein, nicht Formen von Daseins-Gestaltung. Sich diese Tatsache immer wieder vor Augen zu führen, bewahrt womöglich davor, Fragen an seinen Text zu richten, für die dieser zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Antworten anbieten kann, ja es erklärtermaßen nicht einmal will. Wie weit Heideggers Intention tatsächlich von jeglicher Form lebenspragmatischer Erörterung entfernt ist, bestätigt die methodische Aufweisung, die er im fünften Kapitel, an der Schnittstelle von vorbereitender und intensivierender Analyse, plaziert. Hier wendet er sich einer vertiefenden Untersuchung des »In-seins« zu, die phänomenologischen Betrachtungen des Inder-Welt-seins folgt. Ziel ist es, dessen »Strukturganzheit« zu analysieren, die sich als komplexes Gesamt erweist. Mit dieser Ausrichtung

201 202

Sein und Zeit, § 27, S. 129. Sein und Zeit, § 27, S. 130.

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Sein und Zeit

des weiteren Fragens erlangt erneut der Begriff des Daseins Bedeutung, speziell die ihn konstituierende Anzeige des »Da«. »›Hier‹ und ›Dort‹ sind nur möglich in einem ›Da‹, das heißt wenn ein Seiendes ist, das als Sein des ›Da‹ Räumlichkeit erschlossen hat. Dieses Seiende trägt in seinem eigensten Sein den Charakter der Unverschlossenheit. Der Ausdruck ›Da‹ meint diese wesenhafte Erschlossenheit. Durch sie ist dieses Seiende (das Dasein) in eins mit dem Da-sein von Welt für es selbst ›da‹.« 203

Immer wieder begegnet in Sein und Zeit der Ausdruck der Erschlossenheit, hier wird er grundsätzlich erläutert. Das Begreifen der SeinsStruktur richtet sich nicht auf dieses oder jenes Seiende. Hier geht es nicht um eine partikuläre Erkenntnis, sondern um ein Erfassen der generellen Beschaffenheit von Sein. Nun könnte eingewendet werden, ob darin nicht von jeher die Aufgabe von Ontologie bestanden habe, so daß es fraglich würde, wodurch Heidegger sich von dieser abgrenzen will. Nach eigener Auskunft gilt es, die vergessene Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen. In den bisherigen Betrachtungen hatte sich bereits abzuzeichnen begonnen, daß Heidegger die Sorge als Sinn von Sein ausweisen wird. Damit wählt er ein Element der Binnenstruktur des Seins, da alle Prozesse im Sein, die sich als Geschehnisse des Seienden zeigen, in der einen oder anderen Weise als Geschehen der Sorge ausgelegt werden können. Der Begriff der Struktur, den Heidegger verwendet, ist ein formales Kennzeichen der Ganzheit des Seins, jedoch nicht von einer externen Perspektive aus betrachtet, wie es das Verstehen von Gesetzmäßigkeiten erfordern würde, sondern aus dem Studium interner Erscheinungsmodalitäten, in denen sich Sein als Seiendes zeigt. Hier von internem Verstehen zu sprechen, ist gewiß nicht unproblematisch, da es in Heideggers Sicht keine nicht dem Sein inhärierende Perspektive des Verständnisses gibt. Der Ausdruck wurde gleichwohl verwendet, um gerade dieses Faktum zu verdeutlichen. Die »Ganzheit« der SeinsStruktur erschließt sich nur in Gänze. Bei dieser Formulierung handelt es sich nicht um eine Banalität, sondern um Ausdruck der Überzeugung Heideggers, daß Erfassen des Seins-Sinnes dem Sein immer schon eingeschrieben ist. Sein zu verstehen heißt für den Fragenden, sich selbst als seiend zu verstehen – stehend im Dasein als dem Ort seines »Da«. 203

Sein und Zeit, § 28, S. 132.

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Gegenüberstellung

Von hier aus wird der Begriff der »Unverschlossenheit« nachvollziehbar, wenn auch nicht zwingend in seiner Bedeutung, so doch in seiner Wahl. Heidegger spricht über erkenntnistheoretische Fragen in ontologischer Weise und kehrt damit die traditionelle Ausrichtung um. In bestehenden Ontologien wird, um nach Sein zu fragen, nach den Möglichkeiten gesucht, dieses zu denken. Wenn Heidegger nach dem Sinn von Sein fragt, möchte er wissen, was es für den Erkennenden bedeutet, Sein zu erkennen. Unter Hinweis auf »die ontisch bildliche Rede vom lumen naturale im Menschen« erläutert er seine Position in dieser Weise: »Es ist ›erleuchtet‹, besagt: an ihm selbst als In-der-Welt-sein gelichtet, nicht durch ein anderes Seiendes, sondern so, daß es selbst die Lichtung ist. Nur einem existenzial so gelichteten Seienden wird Vorhandenes im Licht zugänglich, im Dunkel verborgen.« 204 Lichtung ist nicht mit einem Erkennen gleichzusetzen, das Verschiedenes in seiner je eigenen Beschaffenheit zur Kenntnis nimmt. Erleuchten ist nicht primär ein intellektueller, sondern ein existentieller Akt, in dem der Mensch seines Seins gewahr wird, das er jedoch nicht theoretisch erfaßt, sondern als eine aller einzelnen Erkenntnis vorgängige Form des potentiellen Sich-zurecht-findens. So ist es für Heidegger sehr viel wichtiger, an der Erschlossenheit ihren Bezugscharakter zu betonen, als sie unter kognitiver Perspektive zu betrachten. Je weiter er seine Analyse des In-seins vorantreibt, umso klarer wird dessen relationale Struktur. Denn es zeigt niemals als formale Bestimmung das Bestehen von Einzelnem auf, das sich in der Welt vorfinden läßt. Einzelnes ist immer im Bezug zu Anderem, wie die Beschreibung des Mitseins gezeigt hatte. In-sein signalisiert keine Nivellierung von Differenzen, die das eine vom Anderen abheben, sondern deren Akzentuierung, da nur Unterscheidbares in Relation zueinander treten kann. Nun entsteht allerdings eine Frage: Wenn Erschlossenheit in erster Linie Bezogenheit bedeutet, diese aber immer schon gegeben ist, müßte Sein immer schon erschlossen sein. Gibt es dann überhaupt eine Zäsur, die Verstehen von Unverständnis trennt? Auch hinsichtlich des Seins-Verständnisses hatte Heidegger angedeutet, daß dieses immer schon vorbereitet ist. Würde sich der Mensch aber immer schon durch seinen Seins-Bezug als verstehend erleben, wäre die Differenzierung der Daseins-Modi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit überflüssig. Wie erklärt sich die zu Be204

Sein und Zeit, § 28, S. 133.

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ginn von Sein und Zeit artikulierte Definition von Dasein als Sein, dem es um sein Sein geht? Ist dieses pure Möglichkeit? Dann wäre es wiederum erforderlich, einen Impuls ausfindig zu machen, der diese aktualisiert. Wenn Erschlossenheit Seins-Manifestation bedeutet 205, ist es konsequent, sie unter ausdrücklicher Berücksichtigung des Relationscharakters zu betrachten, der Dasein kennzeichnet. In diesem Zusammenhang verwendet Heidegger einen Begriff, der auf den ersten Blick nicht recht in seine sonstige Ausdrucksform zu passen scheint – den Begriff der »Überantwortung«. »Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ›daß es ist‹ nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-der-Welt-sein das Da ist. Der Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der Überantwortung andeuten.« 206

Selbst dann, wenn Überantwortung nicht primär als ›Einsetzen in eine bestimmte Aufgabe‹ verstanden wird, beinhaltet der Begriff doch eine unverkennbare dialogische Komponente. Es wird ein Geschehen bezeichnet, in dessen Verlauf jemandem eine bisher nicht zustehende Verfügungskompetenz zugesprochen wird. Ist es die Gestelltheit in das Dasein, die Heidegger hier benennen will, reduziert sich zwar der interaktive Aspekt des Begriffes, doch bleibt immer noch zu fragen, warum er ein Wort mit so signifikant religiöser Konnotation gewählt hat. Übergibt nicht laut der Genesis Gott dem Menschen seine Schöpfung und überträgt damit die Verantwortung auf ihn? Der Mensch soll sie an seiner Statt, doch in seinem Willen verwalten. Man könnte Heideggers Verwendung des Ausdrucks »Geworfenheit« als Versuch werten, diese Assoziationen, die sich beim Lesen des Begriffes »Überantwortung« einstellen mögen, zu neutralisieren, da er ja gerade eine »Faktizität« benennen soll, die jede Suche nach ihrer Verursachung erübrigt. Und doch klingt die Frage weiter, warum Heidegger nicht eine andere Formulierung bevorzugt hat. Im Vorgriff auf das zu Zeigende läßt sich bereits hier antworten, daß er sehr wohl die interaktive Bedeutung des Überantwortens meint, die allein schon durch den Einschluß des ›Antwortens‹ angezeigt wird. Doch heißt das nicht, daß er damit zugleich auch den personellen Charakter übernehmen will, der dem Ausdruck inhäriert. Es wird im Folgenden dar205 206

»Erschlossenheit besagt nicht, als solches erkannt.« Sein und Zeit, § 29, S. 134. Sein und Zeit, § 29, S. 135.

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Gegenüberstellung

um gehen, das Aufgerufensein des Daseins in seinem Sein zu thematisieren, um eine Aufforderung zu verbalisieren, die dem Sein entstammt. Der argumentative Kontext wäre damit zwar kenntlich gemacht. Doch bleibt die Frage ungeklärt, warum Heidegger diese Begrifflichkeit, die eher einer Bildlichkeit gleicht, verwendet. Räumt er damit nicht seiner als Fundamentalontologie angekündigten Untersuchung eine Personalisierungstendenz ein, die der Text nie wieder ganz verlieren wird? Diese Überlegungen gilt es im Blick zu behalten. »Seiendes vom Charakter des Daseins ist sein Da in der Weise, daß es sich, ob ausdrücklich oder nicht, in seiner Geworfenheit befindet. In der Befindlichkeit ist das Dasein immer schon vor es selbst gebracht, es hat sich immer schon gefunden, nicht als wahrnehmendes Sich-vorfinden, sondern als gestimmtes Sichbefinden.« 207

Wie sich hier bereits zeigt, ist Befindlichkeit nicht mit einer psychischen Verfassung identisch 208, sondern sie dient als ein weiteres Merkmal dazu, die Seins-Art des Daseins zu kennzeichnen 209. Wiederum ist das Interessante am Begriff der Befindlichkeit, der sein Changieren zur räumlichen Verortung nicht verbirgt, daß er von Heidegger genutzt wird, um die grundsätzliche Struktur der Bezogenheit zu verdeutlichen, die Sein ausmacht. Ging es bislang eher um ihren Nachweis, tritt nun allmählich die Darstellung der Art und Weise in den Vordergrund, wie diese Bezogenheit wirkt. Bereits anläßlich der Untersuchung des Inanspruchnehmens von Zuhandenem hatte sich eine ähnliche Ausrichtung des Fragens gezeigt. Diese wird möglich, weil ein vorgängiges Verstehen der Dienlichkeit von Zeug, die sich aus deren Verweisungsganzheit ergibt, ihre Verfügbarkeit erklärt. Auch wenn Heidegger es nicht ausdrücklich betont, korrespondiert dieser Form von Bezogenheit immer ein ausgesprochenes oder unausgesprochenes Interesse, das die Bewertung von Zuhandenem steuert. Wie läßt sich im Gegensatz dazu eine Seins-Relation erklären, die von keinerlei leitender Intention geprägt ist? Als Antwort formuliert Heidegger die existentiale Möglichkeit der »Angänglichkeit«. »Diese Angänglichkeit gründet in der Befindlichkeit, als welche sie die Welt

Sein und Zeit, § 29, S. 135. Sein und Zeit, § 29, S. 136. 209 »Sie ist eine existenziale Grundart der gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz, weil diese selbst wesenhaft In-der-Welt-sein ist.« Sein und Zeit, § 29, S. 137. 207 208

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zum Beispiel auf Bedrohbarkeit hin erschlossen hat.« 210 Eine aufschlußreiche Ergänzung zur bisherigen Deutung des Begriffes der Erschlossenheit wird hier fast beiläufig geboten. Sie gilt keiner spezifischen Erkenntnis, die sich auf einmal eröffnet, sondern der Möglichkeit dessen, was als Seins-zugehörig erfaßt werden kann. In diesem Kontext nimmt die Befindlichkeit eine wichtige Funktion ein, da sie die Struktur des interesselosen Angehens ausdrückt. Wie sich zeigen wird, besteht Heideggers Ziel in allen folgenden Untersuchungen in der Thematisierung des Seins in seiner Gänze. Erst deren Erfassen kann die eingangs gestellte Frage nach dem Sinn von Sein abschließend beantworten. Doch macht er zugleich darauf aufmerksam, daß eine solche Annäherung an das Sein den bisherigen Analysen des Daseins nicht widerspricht, sondern durch eine Formalisierung dessen Struktur, die als Ganzes erfaßt wurde, möglich ist. »Und wenn wir nach dem Sinn von Sein fragen, dann wird die Untersuchung nicht tiefsinnig und ergrübelt nichts, was hinter dem Sein steht, sondern fragt nach ihm selbst, sofern es in die Verständlichkeit des Daseins hereinsteht. […] Das Verstehen betrifft als die Erschlossenheit des Da immer das Ganze des In-der-Welt-seins.« 211

I.II.5 Sorge Unter Zurückweisung jeglicher Form transzendierenden Verstehens, das die Befunde der Daseinsbetrachtung meint überschreiten zu müssen, um Seins-Sinn begreifen zu können, verankert Heidegger dessen Denkbarkeit explizit im Verstehen von welthafter Prozeßhaftigkeit. Diese hatte er mit der Ausweisung des Phänomens der Sorge kenntlich gemacht. In einem weiteren Formalisierungsschritt gilt es nun zu fragen, welche Struktur Sorge als solche zu erkennen gibt. Daß sie auf einem Verstehen von Seiendem gründet, hatte sich gezeigt. Damit sie aber möglich ist, muß Möglichkeit als Strukturmerkmal des Daseins vorausgesetzt werden. Auf der Ebene konkreter Abläufe zeigt sich die im Grunde banale Feststellung, daß sowohl das Besorgen als auch die Fürsorge sich nur innerhalb eines Gestaltungsspielraumes realisieren können. Denn beide Formen setzen der bloßen Gegebenheit von Seiendem eine planende Modifikation entgegen, die das Faktische auf das 210 211

Sein und Zeit, § 29, S. 137. Sein und Zeit, § 32, S. 152.

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Gegenüberstellung

Mögliche hin überschreitet. Das formale Kennzeichen solcher pragmatischer Akte bezeichnet Heidegger als »Entwurf« und macht sogleich deutlich, daß dieser Begriff nicht das konkrete Geschehen von Vorsatz und Umsetzung benennt, sondern die Aussicht, sich verstehend zu Seiendem zu verhalten. »Warum dringt das Verstehen nach allen wesenhaften Dimensionen des in ihm Erschließbaren immer in die Möglichkeiten? Weil das Verstehen an ihm selbst die existenziale Struktur hat, die wir den Entwurf nennen. Es entwirft das Sein des Daseins auf sein Worumwillen ebenso ursprünglich wie auf die Bedeutsamkeit als die Weltlichkeit seiner jeweiligen Welt.« 212

Mit den beiden Begriffen der Möglichkeit und des Entwurfs führt Heidegger zwei Termini ein, die auf ein und dasselbe hinweisen – auf den zeitlichen Charakter des Seins. Denn beide dienen ihm als sprachliche Signaturen eines Reflexionsmodus von Sein, in dem es diesem nicht mehr um etwas geht, sondern um sich selbst. Mit Blick auf das Phänomen der Sorge läßt sich dieser Gedanke auch folgendermaßen ausdrücken: Wird diese in ihren Erscheinungsweisen als Besorgen und als Fürsorge betrachtet, also in ihrem konkreten Wirken, versteht sie Mögliches, auf das hin sie sich entwirft. In ihrer Form als Seins-Sorge – ein Begriff, den Heidegger selbst nicht verwendet – entwirft sie sich auf ein Mögliches hin, das sich als Sein-Können erweist. 213 Damit die Sorge sich auf das Sein selbst beziehen kann, muß es von den vielfältigen Überschattungen durch interessegeleitete Sorge, in Heideggers Terminologie Besorgen und Fürsorge, befreit werden. Denn jede Ausrichtung auf situatives Geschehen würde sie von der Fokussierung auf ihr Selbst-Sein ablenken. Es gilt mithin, einen Einbruch in der Bewandtnisganzheit des Daseins nachzuweisen, der exakt diese Wirkung hervorruft: die Befreiung des Verstehens aus seiner Bindung an die interessegeleitete Sorge. »In der Angst versinkt das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende. Die ›Welt‹ vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das Mitdasein Anderer. Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der ›Welt‹ und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigenSein und Zeit, § 31, S. 145. »Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist.« Sein und Zeit, § 31, S. 145. Ciocan akzentuiert die Relation von Heideggers Konzeptionen des Verstehens und des Todes, Heidegger et la problème de la mort, S. 114 ff. 212 213

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stes In-der-Welt-sein-können. […] Mit dem Worum des Sichängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.« 214

Heidegger hatte am Anfang des Paragraphen, dem diese Zeilen entstammen, erklärt, er suche eine »ausgezeichnete Befindlichkeit«, in der die Erschlossenheit des Daseins gründe. 215 Daß er hierfür die Angst anführt, ist philosophiegeschichtlich naheliegend, doch im Kontext der eigenen Argumentation zumindest bemerkenswert. In einer Fußnote verweist er auf Søren Kierkegaards Analyse des Angstphänomens, 216 und tatsächlich zeigt diese die erste detaillierte Untersuchung der psychologischen und existentiellen Wirkung der Angst. Gerade jene meist unreflektierten Versuche des Menschen, einer erkennenden Konfrontation mit der Beschaffenheit des Daseins auszuweichen, die Kierkegaard ausführlich beschreibt, hat auch Heidegger skizziert. 217 Meist unbewußt genutzte Strategien der Verdrängung eines unverstellten Blicks auf die Bedingung eigenen Seins werden angesichts der elementaren Erfahrung der Angst zunichte. Im Gegensatz zu Kierkegaards Darstellung dieses Gegenstandes beläßt Heidegger seine Ausführungen in ontologischer Allgemeinheit. Die Erscheinungsformen des Seelischen wie Verzweiflung und Schwermut, die Kierkegaard als psychische Dispositionen, die dem Durchbrechen der Angst vorhergehen können, anführt, betrachtet Heidegger nicht, obwohl er deren phänomenologische Relevanz grundsätzlich im Begriff der Befindlichkeit angedeutet hatte. Für ihn ist ein Aspekt des »Sichängstens« weitaus wichtiger, der dessen Bedeutung für ein Verständnis der Ganzheit des Seins betrifft. »Das Sichängsten ist als Befindlichkeit eine Weise des In-derWelt-seins; das Wovor der Angst ist das geworfene In-der-Welt-sein; das Worum der Angst ist das In-der-Welt-sein-können.« Mit letzterem Ausdruck tritt erneut der Möglichkeitscharakter des Seins in den 214 Sein und Zeit, § 40, S. 187 f. Elkhoy untersucht in Heidegger and the metaphysics of feeling den Bezug der Angst zum Begriff der aletheia im Denken Heideggers. »Aletheia is what brings the whole of the being of Dasein into an accord with the whole of the being of the world«, S. 97. 215 Sein und Zeit, § 40, S. 184. 216 Sein und Zeit, § 40, S. 190. 217 »In diesem verfallenden Sein bei … [in der besorgten Welt] meldet sich, ausdrücklich oder nicht, verstanden oder nicht, das Fliehen vor der Unheimlichkeit, die zumeist mit der latenten Angst verdeckt bleibt, weil die Öffentlichkeit des Man alle Unvertrautheit niederhält.« Sein und Zeit, § 41, S. 192.

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Fokus. »Das Dasein hat sich in seinem Sein je schon zusammengestellt mit einer Möglichkeit seiner selbst. Das Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zeigt sich in einer ursprünglichen, elementaren Konkretion der Angst. Das Sein zum eigensten Seinkönnen besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg.« 218 Dieser Aspekt des Sich-vorweg-seins wird die gesamten weiteren Betrachtungen in Sein und Zeit ausrichten. Heidegger stellt die Frage »nach dem Sein der Ganzheit des Strukturganzen des Daseins« 219, meint aber, diese nicht beantworten zu können, solange nicht der zeitliche Charakter des Seins angemessen untersucht wurde. Im überschreitenden Vorlaufen des faktischen Seins auf eine Möglichkeit desselben wird Zeitlichkeit ontologisch zugänglich. Jean-Paul Sartre wird rund zwanzig Jahre später den Begriff des Transzendierens verwenden, um ein ähnliches Phänomen der Vorstellung eines gegenwärtig nicht Gegebenen zu bezeichnen. Heidegger benutzt diesen Terminus nicht, sondern wählt den Ausdruck des Sichvorweg-seins, mit dem er die überschreitende Bewegung des Faktischen in formaler Gültigkeit kennzeichnen will. Es soll nicht gezeigt werden, wie eine bestehende Situation oder eine den Augenblick prägende Erfahrung überschritten wird, sondern daß es zum Dasein gehört, seine eigene Möglichkeit zu sein. Das sich-vorweg im Sinne Heideggers meint also auch das Antizipieren einer Möglichkeit, die dann konkret verwirklicht wird. Doch ist dies nicht die ausschlaggebende Bedeutung. Wichtiger ist der Aspekt, daß das Möglich-›Sein‹ als Vorlauf des ›Möglich‹-Seins das Dasein bestimmt. ›Vorweg‹ heißt also weniger, daß etwas vorweggenommen wird, das noch aussteht, als vielmehr, daß etwas schon vorweg in dem ist, daraus es erst sichtbar werden wird. Die Kennzeichnung des Daseins, an der sich dieses letztere Verständnis in besonders deutlicher Weise ablesen läßt, ist – wie bereits gezeigt – die Sorge. Ihre Bedeutung für den Versuch, menschliches Sein zu beleuchten, steht für Heidegger außer Frage. Seine bisherigen Ausführungen würden ausreichen, um zu verdeutlichen, daß alle Formen des Verhaltens zu Seiendem, ganz gleich, ob es in den Modi des Seienden oder des Mitseienden gedacht wird, als Ausdrucksweisen von Sorge 218 219

Sein und Zeit, § 41, S. 191. Sein und Zeit, § 41, S. 191.

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verstanden werden können. Der relationale Charakter von Sein zeigt sich in den Artikulationen der Sorge. Warum meint Heidegger nun aber, diese Feststellung zusätzlich belegen zu müssen, und dann gerade durch ein »vorontologisches Zeugnis«, in dem sich, wie er es formuliert, das Dasein über es selbst ausspricht? Gewiß, die Fabel, die er in seine Argumentation einfügt, nennt Sorge als das Wesensmerkmal des Menschen. Doch kann diese Erwähnung den bisherigen Analysen irgendeine Bestätigung hinzufügen? Und bedürfen diese überhaupt einer Bekräftigung? Heidegger kommentiert Funktion und Autorisierung dieses Zeugnisses, indem er sie zunächst jenem »grundsätzlich fragwürdigen Ansatz […], wie er durch die traditionelle Definition des Menschen vorgegeben ist« 220, kontrastiert. Die »Beweiskraft«, die er der Cura-Fabel immerhin zuerkennt, sei »nur geschichtlich«. Damit ist alles andere als eine Abwertung gemeint, sondern die Kennzeichnung als »ursprüngliches« Zeugnis des Daseins, das vor aller theoretischen Reflexion das Merkmal des Daseins selbst ausdrückt. Es folgt eine interessante Begründung: »Wenn das Dasein im Grunde seines Seins ›geschichtlich‹ ist, dann erhält eine Aussage, die aus seiner Geschichte kommt und in sie zurückgeht und überdies vor aller Wissenschaft liegt, ein besonderes, freilich nie rein ontologisches Gewicht.« 221 Daß Heidegger diesen Gedanken kurz vor der Einführung in die Analyse der Zeitlichkeit des Seins artikuliert, ist kompositorisch nachvollziehbar. Denn einerseits wird hier Sorge nochmals unter Anführung einer bislang nicht in Anspruch genommenen Legitimierung zur Kennzeichnung des Strukturganzen des Daseins hervorgehoben. Und andererseits greift die oben zitierte Begründung der besonderen Bedeutung, die diesem vorontologischen Zeugnis zukommen soll, direkt auf jene Form der Zeitlichkeit des Daseins zurück, die sich in seiner Geschichtlichkeit zeigt. Ungeklärt bleibt damit allerdings, warum Heidegger einem Text, der allein schon formal keineswegs der bislang geforderten analytischen Präzision entspricht, argumentatives Gewicht beimißt. Ein Blick in die hermeneutische Technik der Textdeutung mag hilfreich sein. Denn dort wird die Möglichkeit gezeigt, ein Werk künstlerischer Produktion grundsätzlich in der glei-

220 221

Sein und Zeit, § 42, S. 197. Sein und Zeit, § 42, S. 197.

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chen Weise interpretieren zu können wie ein historisches Geschehen. »Kann von dem gewonnenen Ergebnis – das Sein des Daseins ist die Sorge – zur Frage nach der ursprünglichen Einheit dieses Strukturganzen fortgeschritten werden?« 222 Von der Möglichkeit, »das Ganzseinkönnen dieses Seienden aufzurollen«, hängt die Beantwortung der von Anfang an leitenden Frage nach dem Sinn von Sein ab. Die Betrachtung des Daseins in seiner Zeitlichkeit zeigt jedoch, daß es immer als unabgeschlossen zu begreifen ist, denn immer steht »je noch etwas aus, was es sein kann und wird«. 223 So hängt für die weitere Untersuchung alles davon ab, ob es einen Weg gibt, diese Unabgeschlossenheit als Konstituens des Daseins zu fassen, sie also als etwas auszuweisen, das notwendig Dasein ausmacht und dieses erst eigentlich als Ganzes erscheinen läßt. Wiederum betrachtet Heidegger ausführlich die Weise, in der der Tod im Seins-Modus der Alltäglichkeit erfahren, beziehungsweise gerade nicht erfahren, sondern verdrängt wird. Die Anonymität des Man, die bereits bei anderen Verhaltensweisen des Daseins den ablenkenden und Eigentlichkeit verbergenden Einfluß auf den Menschen ausüben konnte, wirkt auch im Umgang mit der Faktizität des Todes mitunter beruhigend und somit verschleiernd. 224 Existiert im Man aber immer schon latent das eigentliche Selbst, das sich aus dessen enteignendem Einfluß zu befreien hat, gilt dieses auch für das Wissen um das eigentliche Sein-Können des Daseins. Heidegger hatte bereits in seiner Darstellung des Phänomens der Angst gezeigt, daß sie »ausgezeichnete Befindlichkeit« in der Weise ist, alle bisher gültigen Bezüge des In-der-Welt-seins zu sprengen und den Menschen in die absolute Isolation des Selbst-Erlebens zu stellen. Nun, da es darum geht, in der verstehenden Konfrontation mit der eigenen Daseinsmöglichkeit die Verdrängungstendenz des Daseins aufzubrechen, gewinnt die erneute Betrachtung der Angst ontologische Relevanz. »Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor. In dieser Möglichkeit geht es dem Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin. Sein Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens. Wenn das Dasein als diese Möglichkeit seiner selbst sich bevorsteht, ist es völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen. So sich bevorstehend sind Sein und Zeit, § 45, S. 232. Sein und Zeit, § 45, S. 233. 224 »Das Man besorgt dergestalt eine ständige Beruhigung über den Tod.« Sein und Zeit § 51, S. 253. 222 223

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in ihm alle Bezüge zu anderem Dasein gelöst. […] Die Geworfenheit in den Tod enthüllt sich […] ursprünglicher und eindringlicher in der Befindlichkeit der Angst.« 225

Bisweilen wird auch Heideggers Denken des Todes als Bestandteil seiner ideologischen Theoriebildung betrachtet und als Ausdruck einer schicksalsträchtigen Ergebenheit zum Ende gewertet. Ein Vergleich mit Rosenzweigs Ansicht, daß alles Verstehen des Seins aus der Erfahrung des Todes resultiert, könnte diese Deutung relativieren. Dabei geht es keinesfalls um eine Entschärfung jener kritischen Perspektive der Interpretation, die auf Heideggers Texte angewandt werden muß. Vielmehr gilt es zu sondieren, welche Theoreme in der entsprechenden Weise beleuchtet werden sollten. Zumindest in Sein und Zeit können die Aussagen Heideggers als konzeptionell notwendig klassifiziert werden, um den Gedanken der Ganzheit des Daseins erfassen zu können. Der kompositorische Vergleich von Sein und Zeit und dem Stern der Erlösung bestätigt diese Möglichkeit. Eine mögliche Quelle, deren Bedeutung für Heideggers Begriff des Todes nicht zu vernachlässigen ist, ist Georg Simmels Metaphysik des Todes aus dem Jahr 1910. In seinem Artikel deklariert Simmel den Tod als »Gestalter des Lebens« und schreibt: »Dies erst macht die formgebende Bedeutung des Todes klar. Er begrenzt, d. h. er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde, sondern er ist ein formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt«. 226

I.II.6 Eigentlichkeit Spätestens jetzt wird nachvollziehbar, warum Heidegger dem Nachweis des Möglichkeitscharakters des Daseins so große Beachtung schenkte. Denn dieser ist die Voraussetzung dafür, daß der Mensch im Dasein die Möglichkeit übernimmt, um dessen Nicht-mehr-Sein zu wissen 227 und, wie es heißt, diese Möglichkeit »auszuhalten«. Dabei meint ›Aushalten‹ weniger ein Ertragen des Unabänderlichen, Sein und Zeit, § 50, S. 250 f. Simmel, Metaphysik des Todes, S. 59. 227 »Im Sein zum Tode dagegen, wenn anders es die charakterisierte Möglichkeit als solche verstehend zu erschließen hat, muß die Möglichkeit ungeschwächt als Möglichkeit verstanden, als Möglichkeit ausgebildet und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit ausgehalten werden.« Sein und Zeit, § 53, S. 261. 225 226

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als vielmehr das ›Halten im Möglichen selbst‹, ein ›Offenhalten des Erschlossenen‹. »Dasein kann nur dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht.« 228 Diese Möglichkeit der Ermöglichung bezeichnet Heidegger als »Freiheit zum Tode«. 229 Wie gerade angedeutet wird in einigen Diskussionen der jüngsten Zeit gerade diese Thematik als Beleg ideologisch motivierten Denkens gewertet. Fatalismus und Kampfbereitschaft, der Wille zum Ende und die Würde des Untergangs durchkreuzen sich in entsprechender Lesart. Daß sich solche Elemente in Heideggers Denken finden, steht mittlerweile völlig außer Frage. Es wäre nur zu überlegen, ob sie tatsächlich durch diese Ausführungen in Sein und Zeit vorbereitet werden oder ob diese sogar schon Ausdruck späterer Verirrung sind. Besonders eine Überlegung Heideggers könnte eine ideologische Interpretation fördern. Sie drückt sich im Motiv des Ausstehens, des immer noch Bevorstehenden, aus, das Dasein zu sein hat. Hier gilt es zu entscheiden, ob eine ontologische oder eine seinsgeschichtliche Deutung gewählt werden soll. Die enge Verknüpfung der zweiten Variante zu Rosenzweigs Erlösungsgedanken wird an späterer Stelle beleuchtet. Im Moment soll hingegen die erste Lesart präferiert werden, getragen von dem Versuch, Dasein in seiner Gänze zu fassen. Die Folgerung, daß ein solches Vorhaben letztlich unmöglich ist, solange dieses sich nicht als ganzes Sein denken läßt, wirkt durchaus naheliegend. Ganzheit des Daseins kann jedoch in Anbetracht der Tatsache, daß der Tod niemals als Teil des Lebens erfahren werden kann, grundsätzlich als undenkbar erscheinen. So richtet Heidegger seine Frage nach dem Ganzen anders aus, indem er nicht das Durchleben des Endes zum Kriterium der Gänze des Daseins ansetzt, sondern das »Aushalten« des Wissens um das Ende. Damit dieses als Grundlage der Bewertung des Daseins insgesamt genutzt werden kann, muß es sich ausdrücken, »bezeugen«, wie Heidegger schreibt. Die als nächstes zu beantwortende Frage lautet also, »inwieweit überhaupt und in welcher Weise das Dasein aus seinem eigensten Seinkönnen her Zeugnis gibt von einer möglichen Eigentlichkeit

Sein und Zeit, § 53, S. 263. »Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungeschützt, es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode.« Sein und Zeit, § 53, S. 266. 228 229

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seiner Existenz, so zwar, daß es diese nicht nur als existenziell möglich bekundet, sondern von ihm selbst fordert.« 230 Ein solches Bezeugen kann aber nur innerhalb jenes Möglichkeitsspektrums liegen, das Dasein sowieso immer schon bestimmen könnte, wenn es denn als Möglichkeit begriffen würde. Bereits zweimal hatte Heidegger auf die Wirkung des Man hingewiesen, die sich in einer massiven Verschleierung jener Möglichkeiten äußert, die menschliches Sein eigentlich kennzeichnen. Würde die Enteignung des Daseins im Man aufgehoben, könnte dieses selbst erfaßt werden. Bereits an dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, daß der Begriff des Selbst in Sein und Zeit einer besonderen Betrachtung bedarf. Natürlich besteht die erste Assoziation beim Lesen dieses Begriffes darin, an eine Form individuellen Seins zu denken, in dem sich die eigenen Fähigkeiten und Vorstellungen im Bild einer ihrer selbst bewußten Person zusammenfügen. Diese Deutung schwingt in der heideggerschen Interpretation mit, macht sie aber nicht vollständig aus. In den folgenden Kapiteln, die für eine Bewertung der Philosophie Heideggers an sich und ihren Vergleich mit dem Denken Franz Rosenzweig besonders wichtig sind, wird der Begriff »selbst« zur Charakterisierung des Daseins angewendet. Dasein ist zwar Sein des Menschen und damit auch Sein des Individuums. Doch ist es ein Unterschied, ob dieses durch eine Beschreibung seiner Repräsentanten oder seiner ontologischen Struktur bestimmt werden soll. Gerade in den folgenden Aussagen Heideggers fällt es schwer, diese Differenzierung zu berücksichtigen. Denn durch die Verwendung der Begriffe aus dem Kontext des Hörens und Rufens wird im Grunde sofort eine interpersonelle Ebene der Argumentation angezeigt. So ist auch das Bezeugen in der gängigen Lesart Ausdruck einer individuell artikulierten Stellungnahme, durch die ein Sachverhalt als wahr oder zumindest als zutreffend ausgewiesen wird. Bei Heidegger heißt es hingegen: »Weil es [das eigentliche Seinkönnen] aber in das Man verloren ist, muß es sich zuvor finden. Um sich überhaupt zu finden, muß es ihm selbst in seiner möglichen Eigentlichkeit ›gezeigt‹ werden. Das Dasein bedarf der Bezeugung eines Selbstseinkönnens, das es der Möglichkeit nach je schon ist. Was in der folgenden Interpretation als solche Bezeugung in Anspruch genommen wird, ist der alltäglichen Selbstauslegung des Daseins bekannt als Stimme des Gewissens.« 231 230 231

Sein und Zeit, § 53, S. 267. Sein und Zeit, § 54, S. 268.

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Gegenüberstellung

Sofort macht Heidegger deutlich, daß er ›Gewissen‹ nicht im Sinne psychologischer, religiöser oder moralischer Deutung verstanden wissen will. 232 Interessant wird das Gewissen für Heidegger nur aus dem einzigen Grund: »es erschließt«. 233 Gesucht wurde der Weg, auf dem die Möglichkeit, eigentlich sein zu können, im Dasein zugänglich wird. Die Orte der Erschließung und der Verwirklichung des in der Erschließung Verstandenen sind identisch. Dabei ist hier nicht primär eine räumliche Bestimmung intendiert, sondern das Bild des Ortes soll signalisieren, daß im Dasein etwas stattfindet, daß Dasein die Stätte der Eigentlichkeit ist. »Die eindringlichere Analyse des Gewissens enthüllt es als Ruf. […] Der Gewissensruf hat den Charakter des Anrufs des Daseins auf sein eigenstes Selbstseinkönnen und das in der Weise des Aufrufs zum eigensten Schuldigsein.« 234 Der Ruf gibt zu verstehen, daß Sein Möglichkeit ist, damit immer etwas noch Ausstehendes, das den gegenwärtigen DaseinsModus auf eine essentielle Modifikation hin öffnet. Dieses Erschließen ist ein Eröffnen, das nicht nur ein bisher Verdecktes begreifbar werden läßt, sondern das zugleich die Möglichkeit schafft, dem Erschlossenen Raum zu geben. Dieses Einräumen einer Bedeutung, die dem Ruf zuerkannt wird, betrifft das Selbst, das, wie Heidegger gezeigt hatte, erst zu sich selbst gebracht werden muß, weil es zunächst im Man-selbst verloren ist. 235 »Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst«, schreibt er und erläutert das Stattfinden dieses Rufes wie folgt: »Der Ruf wird ja gerade nicht und nie von uns selbst weder geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen. ›Es‹ ruft, wider Erwarten und gar wider Willen. Andererseits kommt der Ruf zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.« 236 So zeigt sich im Ruf-Verstehen das Verstehen der Möglichkeit, selbst sein zu können. Es ist nicht eine neue Art zu sein, die hier in Aussicht gestellt wird, sondern eine immer schon angelegte, wenn232 »Die folgende Analyse stellt das Gewissen in die thematische Vorhabe einer rein existenzialen Untersuchung mit fundamental-ontologischer Absicht.« Sein und Zeit, § 54, S. 268. 233 Sein und Zeit, § 54, S. 269. 234 Sein und Zeit, § 54, S. 269. 235 »Das Man-selbst des besorgenden Mitseins mit Anderen wird vom Ruf getroffen. Und woraufhin wird es angerufen? Auf das eigene Selbst.« Sein und Zeit, § 56, S. 272 f. 236 Sein und Zeit, § 57, S. 275.

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gleich in vermeintlicher Sicherheit des Man unnötig gewesene SeinsWeise. Der Ruf zeigt diese Möglichkeit jedoch nicht nur als beliebige Alternative auf, die gewählt oder verworfen werden kann. Er dokumentiert durch die Isolation, in die er das Selbst aus dem Man zwingt, daß hier das eigentliche Selbst-Sein liegt, nicht im Verborgenen, das dem wohlvertraut Alltäglichen unterliegt, sondern im Offensichtlichen, das jedoch »unheimlich« erscheint, weil es die Bindungen an das einzig verläßlich Geglaubte löst. 237 Das Gerede, die im Man einzig vorherrschende Tonalität, durchbricht der Ruf in der fremdesten Artikulation, im Schweigen. 238 Dessen Besonderheit liegt nicht darin, daß es ›etwas‹ nicht ausdrückt, sondern daß es ausdrückt, etwas nicht zu sein. Es ist nicht der beliebige Austausch von Informationen, sondern gerade dessen Unterbrechung, um hörbar werden zu lassen, was sich immer ausdrückt, doch oftmals in der Geschäftigkeit des Alltäglichen überhört wird. 239 Aus Ausweichen wird Aufmerksamkeit, aus Verdrängung Vernehmen. Bis zu diesem Punkt mag Heideggers Darstellung, die sehr jener von Søren Kierkegaard ähnelt, stimmig erscheinen. Die Bildlichkeit des Rufens im Sinne von Aufforderung und Ermutigung, Forderung und Einwilligung mag sich als sinnvoll erweisen, um den Übergang von Zerstreutheit in das Man zur Konzentration des Selbst zu illustrieren. Doch wie paßt das Motiv der Schuld? Wiederum betont Heidegger, daß er damit nicht auf die Bewertung eines moralischen oder rechtlichen Vergehens hinweisen will, ja nicht einmal auf ein existentielles Versäumnis. Schuldig wird nicht derjenige, der den Verblendungen im Man erlegen ist, sondern schuldig ist Dasein von Anfang an. So kennzeichnet dieser Begriff am ehesten eine Verpflichtung zur Eigentlichkeit, und dieses in seiner

237 »Und worin gründet die unheimliche, doch nicht selbstverständliche kalte Sicherheit, mit der der Rufer den Angerufenen trifft, wenn nicht darin, daß das in seiner Unheimlichkeit auf sich vereinzelte Dasein für es selbst schlechthin unverwechselbar ist?« Sein und Zeit, § 57, S. 277. 238 Mit Blick auf Heideggers Sicht der Sprache betont Siegfried in Husserls »Angst vor dem Dasein« und Heideggers »Angst vor der Stimme«, S. 177: »Daß das Leben des Menschen Sprechen – d. h. wesentlich: Miteinandersprechen – ist, […] legen die Ausführungen in Sein und Zeit jedoch, […] keineswegs nahe«, woraus sie u. a. folgert, daß Heideggers Sprachauffassung »durchweg ambivalent« sei, S. 171. 239 »Wenn das Dasein aus dieser Verlorenheit des Sichüberhörens soll zurückgebracht werden können – und zwar durch es selbst – dann muß es sich erst finden können, sich selbst, das sich überhört hat und überhört im Hinhören auf Man.« Sein und Zeit, § 55, S. 271.

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zugespitzten Form als »Prädikat des ›ich bin‹«. 240 Mit dem Sein geht das Schuldig-sein einher, nicht als ein drohender Seins-Modus, sondern als dessen Voraussetzung. Eine Voraussetzung kann Grund für etwas werden, und genau diesen Begriff nutzt Heidegger zur weiteren Explikation der Schuld. Aus dessen »vulgärer« Verwendung übernimmt er den Gedanken, daß ein Mensch einem anderen etwas schulden, ihm etwas schuldig sein kann. Formalisiert ergibt sich daraus: »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit«. 241 Da es sich hierbei aber nicht mehr um einen konkreten Mangel oder eine tatsächliche Unterlassung handeln kann, muß das ›Nicht‹, dessen Grund im Schuldig-sein liegt, als eine Kennzeichnung des Daseins verstanden werden. Dasein ist ›nicht‹ faktisch selbst verursacht, es ist geworfen. »Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es ist nie existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als dieser. Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig sein. Dieses Nicht gehört zum existenzialen Sinn der Geworfenheit.« 242

Dieses »nie« gilt also nicht als Ausdruck einer keinesfalls zu erreichenden Möglichkeit, sondern als Bestimmung des Daseins, die es anzueignen gilt. 243 Gewissen und Schuld, Nichtigkeit und Ruf – welche Funktion weist Heidegger diesen Motiven innerhalb seiner Argumentation zu, die der Darstellung der Daseins-Ganzheit dient? Sind es Kennzeichnungen des Daseins? Nein – es sind Kennzeichnungen seiner Erschlossenheit. Immer wieder sucht Heidegger Phänomene, die in ihrer bloßen Gegebenheit Aufschluß über die Situierung des Menschen in der Welt geben. Indem er diese auf ihre generelle Beschaffenheit hin untersucht, sie formalisiert, modifiziert er sie als Kennzeichen der Struktur von Sein. Sorge und Angst hatten sich auf diesem Wege als ontologische Embleme herausstellen lassen. Schuld und Gewissen können nun hinzugefügt werden. Es gibt diese Phänomene im menschlichen Verhalten, so daß sie in formalisierter Gestalt Aufschluß über fundamentale Reflexionsweisen im Dasein geben Sein und Zeit, § 58, S. 281. Sein und Zeit, § 58, S. 283. 242 Sein und Zeit, § 58, S. 284. 243 »Der Nichtcharakter dieses Nicht bestimmt sich existenzial: Selbst seiend ist das Dasein das geworfene Seiende als Selbst. Nicht durch es selbst, sondern an es selbst entlassen aus dem Grunde, um als dieser zu sein.« Sein und Zeit, § 58, S. 284 f. 240 241

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können. »Die existenziale Interpretation des Gewissens soll eine im Dasein selbst seiende Bezeugung seines eigensten Seinkönnens herausstellen. […] Gewissen-haben-wollen ist als Sich-verstehen im eigensten Seinkönnen eine Weise der Erschlossenheit des Daseins.« 244 Innerhalb dieser Formulierung drückt Heidegger eine bedeutsame Erweiterung des Gewissens-Begriffes aus. Denn ist er zu Beginn reine Potentialität, so zeigt er sich am Ende als Teil einer Bekräftigungsgeste. Im »Gewissen-haben-wollen« hat eine Aneignung dieser Möglichkeit stattgefunden, die als solche erfaßt und ergriffen wurde. Erfassen und Aushalten waren jene Merkmale gewesen, mit denen Heidegger die menschliche Reaktion auf die Befindlichkeit der Angst dargestellt hatte. Auch hier ging es nicht um einen puren Akt des Verstehens dessen, was die Erfahrung der Angst über das Dasein enthüllte. Ergänzend entstand die Möglichkeit, die zugleich existentielle Forderung ist, dieses Wissen auszuhalten, oder, um es anders zu formulieren: es dem eigenen Seins-Entwurf zu integrieren. Denn sehr deutlich hatte Heidegger gezeigt, daß ein Begreifen der Struktur von Sein nicht folgenlos für den Menschen bleiben kann, weil diese Möglichkeitsstruktur ein Entwerfen auf das eigene Selbst hin in Aussicht stellt und fordert. Um an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen – »Selbst« ist für Heidegger kein psychologischer, nicht einmal ein anthropologischer, sondern ein ontologischer Begriff. Er signalisiert das, was dem Sein als Möglichkeit zu eigen ist und infolgedessen, und tatsächlich nur infolgedessen, anzueignen ist. Diesen Umstand explizit zu betonen ist deshalb erforderlich, weil Heidegger hier nicht auf eine moralische oder religiöse Forderung verweist. Auch wenn er die Begrifflichkeit nicht verwendet, liegt seinem Denken doch die aristotelische Realisierungsmetapher von Vermögen und Verwirklichung zu Grunde. Das Sein wird erst eigentlich es selbst, wenn es sich die ihm eignende Möglichkeit zur Eigentlichkeit aneignet. Kein äußerer Impuls, wenn ein solcher denn überhaupt denkbar wäre, kann dieses in sich geschlossene Aktualisierungsgeschehen initiieren, da es allein aus seiner Potentialität bedingt und – in anderer Perspektive betrachtet – legitimiert wird. Ist also Aneignung des Erschlossenen das Thema, das Heidegger an diesem Punkt seiner Schrift verfolgt, so greift er nun auf die zuvor herausgearbeiteten Artikulationssignaturen der Erschlossenheit zurück: Verstehen, Befindlichkeit und Rede. »Gewissen-haben-wollen« 244

Sein und Zeit, § 60, S. 295.

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Gegenüberstellung

als »Sich-verstehen«, so hatte er gerade formuliert und ergänzt nun: »Die im Verstehen mitenthüllte Unheimlichkeit wird genuin erschlossen durch die ihm zugehörige Befindlichkeit der Angst« in der »schweigenden Rede des Gewissens«. 245 Hierbei geht es, wie bereits angedeutet, nicht primär um den Nachweis, daß es Gewissen und Angst und Schweigen als Phänomene der Erschlossenheit gibt, sondern um die Frage, wie das Erschlossene, das sie zu verstehen geben, in den eigenen Daseinsentwurf integriert werden kann. Damit ist keine Suche nach einer praktischen Umsetzung gemeint, wie Heidegger betont. 246 Statt dessen schreibt er: »Die ausgezeichnete, im Dasein selbst durch sein Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit – das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein – nennen wir die Entschlossenheit«. 247 Auch der Begriff der Entschlossenheit unterliegt mittlerweile dem Verdacht, ideologische Bedeutung zu transportieren, insofern er auf eine Verwirklichungsbereitschaft des Menschen hindeutet. Dabei schwingt eine gewisse fatalistische Ergebenheit mitunter mit, die das Schicksal des Volkes zur eigentlichen Seins-Auslegung erklärt und vom Einzelnen fordert, sich in diese vorgezeichnete Spur des Daseins zu fügen. Wiederum muß jedoch zunächst gefragt werden, welche Funktion dem Begriff in Sein und Zeit zukommt. Entschlossenheit ist bezeugte Erschlossenheit. Bisher hatte Heidegger zwei Fragen verfolgt: Wie findet Erschließung statt, und wie reagiert der Mensch auf das in ihr liegende Verstehen des Seins? Den letzteren Aspekt hatte er in der Betrachtung der Phänomene Angst und Schuld thematisiert, indem er darauf verwies, daß dem Begreifen in der Angst die Notwendigkeit folgt, das Verstandene auszuhalten. Dabei ist weniger ein Ertragen gemeint, sondern ein Offenhalten für ein fortgesetztes Verstehen. Wird dieses Motiv des Offenhaltens zugrunde gelegt, erhält »Entschlossenheit« die Bedeutung der dauerhaften Offenheit des Erschlossenen. Der Terminus soll keine Wahl bezeichnen, die ein Mensch trifft und deren intentionaler Vorgabe er in seinem Handeln und Verhalten folgt. Es klingt weniger der Entschluß an als vielmehr das aktualisierte Verstehen. Eine bemerkenswerte Ergänzung dieses Gedankens zeigt, daß Heidegger damit nicht auf ein ausschließlich abstraktes Erkennen hindeuten will. Die Erschlossenheit, die als 245 246 247

Sein und Zeit, § 60, S. 296. Sein und Zeit, § 60, S. 300. Sein und Zeit, § 60, S. 296 f.

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eigentliches Charakteristikum des Daseins angenommen wurde, kann als Entschlossenheit Grundlage des Verhaltens zu Seiendem werden – ›annehmen‹ nicht als vermuten, sondern als ›an-nehmen‹ verstanden. »Die existenziale Bestimmtheit des je möglichen entschlossenen Daseins umfaßt die konstitutiven Momente des bisher übergangenen existenzialen Phänomens, das wir Situation nennen. […] Die Situation ist das je in der Entschlossenheit erschlossene Da, als welches das existierende Seiende da ist.« 248 Und zuvor hatte Heidegger betont: »Die Entschlossenheit löst als eigentliches Selbstsein das Dasein nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht auf ein freischwebendes Ich. Wie sollte sie das auch – wo sie doch als eigentliche Erschlossenheit nichts anderes als das In-der-Welt-sein eigentlich ist. Die Entschlossenheit bringt das Selbst gerade in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen.« 249 Dasjenige, das auf dieses ›gestoßen-werden‹ folgt, ist nicht als Aktion oder Tat zu verstehen, 250 sondern als deren Voraussetzung, als eine Bereitschaft zur Bezogenheit. Als solche ist sie durch die Erschlossenheit bedingt, denn Bereitschaft ist bereits als ein Bezeugen zu verstehen. Heidegger versucht, die Assoziation von Theorie und Praxis zu unterbinden, die Erschließen als Vorbereitung umsetzender Entschlossenheit deuten möchte. Die Differenz, auf die es ihm statt dessen ankommt, ist die zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, denn letztere wird durch Erschlossenheit und Entschlossenheit gekennzeichnet. »Die Entschlossenheit aber ist nur die in der Sorge gesorgte und als Sorge mögliche Eigentlichkeit dieser selbst.« 251 Nun hatte Heidegger den Terminus Entschlossenheit als »Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein« gedeutet. Auch ›Sichentwerfen auf‹ bezeichnet keine konkrete Aktion, deren Gelingen an einem wirklichen Ergebnis abzulesen wäre. Statt dessen signalisiert dieser Ausdruck eine existentielle Demonstration im Sinne einer Aneignung der Möglichkeit, sich zu entwerfen, als Form des eigentlichen Selbst-sein-könnens, oder der Bereitschaft, sich auf das Möglich-sein zu beziehen. Diese Konnotation intensiviert Heidegger, indem er Entschlossenheit als »vorlaufend« ausweist. »Die EntschlosSein und Zeit, § 60, S. 299. Sein und Zeit, § 60, S. 298. 250 »Zum anderen legt er [der Begriff des Handelns] das daseinsontologische Mißverständnis nahe, als sei die Entschlossenheit ein besonderes Verhalten des praktischen Vermögens gegenüber einem theoretischen.« Sein und Zeit, § 60, S. 300. 251 Sein und Zeit, § 60, S. 301. 248 249

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Gegenüberstellung

senheit wird deshalb erst als vorlaufende ein ursprüngliches Sein zum eigensten Seinkönnen des Daseins.« 252 Die äußerste Möglichkeit des Daseins, auf die Entschlossenheit sich vorlaufend entwerfen kann, ist die Möglichkeit des Todes, die in der Bezeugung durch die Entschlossenheit als Sein zum Tode erscheint. 253 Vorlaufen hat nichts mit einer Antizipation konkreter Erfahrungen, Schicksalsergebenheit oder gar Todessehnsucht zu tun. Vielmehr wird dadurch die Möglichkeit des Todes als Möglichkeit des Daseins übernommen, nicht weil sie de facto auch zurückgewiesen werden könnte, sondern weil sie so als zum Dasein gehörend bestätigt wird. Und nicht nur das – in der vorlaufenden Entschlossenheit artikuliert sich die von Heidegger gesuchte mögliche Ganzheit des Daseins 254 als Verständnis des Ausstehenden. Damit wird Ganzheit zeitlich interpretiert. Die Frage, ob sie denkbar ist, beantwortet Heidegger unter Hinweis auf die DaseinsBekundung der vorlaufenden Entschlossenheit, die purer Ausdruck des existentiellen Könnens ist. Wiederum sei damit nicht auf eine konkrete Fähigkeit verwiesen, sondern auf dasjenige, das Dasein kennzeichnet, wenn es das ist, was es sein kann – Verstehen seiner selbst. Weit entfernt von Reflexion oder Introspektion bedeutet dieses das Begreifen der Möglichkeiten, die dem Dasein selbst zu eigen sind, eigentlich sind. Die Bestätigung eines Ganz-sein-könnens des Daseins erfolgt in dieser Perspektive über den Gedanken des Eigentlich-sein-könnens. Selbst ist das Dasein eigentlich nur in seiner Ganzheit. Diese wird wiederum nur aus der Möglichkeit, selbst sein können, erfaßbar, womit eine Klärung des Begriffes vom Selbst erforderlich wird. Heidegger leitet sie mit der Frage nach der »Einheit dieser Ganzheit« ein. »Wie sollen wir diese Einheit begreifen? Wie kann das Dasein einheitlich in den genannten Weisen und Möglichkeiten seines Seins existieren? Offenbar nur so, daß es dieses Sein in seinen wesenhaften Möglichkeiten selbst Sein und Zeit, § 62, S. 306. »Das ursprüngliche Sein des Daseins aber zu seinem Seinkönnen enthüllten wir als Sein zum Tode, das heißt zu der charakterisierten ausgezeichneten Möglichkeit des Daseins. Das Vorlaufen erschließt diese Möglichkeit als Möglichkeit.« Sein und Zeit, § 62, S. 306. 254 »Wenn die Entschlossenheit als eigentliche auf den durch das Vorlaufen umgrenzten Modus tendiert, das Vorlaufen aber das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins ausmacht, dann ist in der existenziell bezeugten Entschlossenheit ein eigentliches Ganzseinkönnen des Daseins mitbezeugt.« Sein und Zeit, § 62, S. 309. 252 253

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ist, daß je ich dieses Seiende bin. Das ›Ich‹ scheint die Ganzheit des Strukturganzen ›zusammenzuhalten‹.« 255

Es könnte nun so wirken, als würde Heidegger hier auf eine Vorstellung vom Ich als Subjekt der Erkenntnis verweisen, was allerdings nicht der Fall ist. Der Begriff des »Zusammenhaltens« gilt nicht einer Zentrierung des Erkannten in einem autonomen Bewußtsein, wie es traditionellerweise mit Blick auf Descartes’ Nachweis des »cogito« behauptet wurde. 256 Wenn Heidegger überhaupt an einer Vorstellung vom Ich festhalten will, dann sieht er diese wiederum im Kontext des besorgenden In-der-Welt-seins gegründet. 257 Hier befindet es sich jedoch auch zunächst im Bezug zum Man, 258 das verbergend und entlastend die Möglichkeit verstellt, das eigentliche Selbst-Sein-Können zu begreifen. Aus dieser sich Selbst meidenden und doch auf sich selbst sorgend bezogenen Weise, sich als Ich zu wählen, kann ein Zustand entstehen, den Heidegger mit dem Terminus »Ständigkeit« bezeichnet. »Das Phänomen des eigentlichen Seinkönnens öffnet aber auch den Blick für die Ständigkeit des Selbst in dem Sinne des Standgewonnenhabens. Die Ständigkeit des Selbst im Doppelsinn der beständigen Standfestigkeit ist die eigentliche Gegenmöglichkeit zur Unselbst-Ständigkeit des unentschlossenen Verfallens. Die Selbst-ständigkeit bedeutet existenzial nichts anderes als die vorlaufende Entschlossenheit.« 259

Die Begriffe »Ich« und »Selbst« sind also nicht synonym zu verwenden, da letzterer das Möglichkeitsprofil benennt, das dem Ich eignet. Daraus wird bereits ein weiteres Unterscheidungsmerkmal beider Bezeichnungen ersichtlich. In der vereinfachenden Formulierung ›das Ich kommt zu sich selbst‹ wird sie deutlicher ablesbar. Denn das Selbst ist wesentlich als Sein-Können bestimmt, das sich immer selbst voraus ist, wie es Heideggers Terminus der vorlaufenden Entschlossenheit ankündigt. Damit steht das Selbst-Sein immer aus und ist so Sein und Zeit, § 64, S. 317. Bezogen auf Kants Begriff des Ich schreibt Heidegger: »Gleichwohl faßt er dieses Ich wieder als Subjekt und damit in einem ontologisch unangemessenen Sinn.« Sein und Zeit, § 64, S. 320. 257 »Mit ›Ich‹ spricht sich die Sorge aus, zunächst und zumeist in der ›flüchtigen‹ IchRede des Besorgens.« Sein und Zeit, § 64, S. 322. 258 »Die ›natürliche‹ Ich-Rede vollzieht das Man-selbst. Im ›Ich‹ spricht sich das Selbst aus, das ich zunächst und zumeist nicht eigentlich bin.« Sein und Zeit, § 64, S. 322. 259 Sein und Zeit, § 64, S. 322. 255 256

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Verweisung auf die Daseinsstruktur der Zeitlichkeit. Da das Mögliche des Sein-Könnens auf die Zukünftigkeit des Selbst verweist, würde es keinen Sinn machen, dieser dynamisch verstandenen Dimension des ›Auf-etwas-hin‹ eine Dimension von Vergangenheit entgegenzusetzen. Das Selbst gründet im Ich, wie es sich in der Welt organisiert, liegt also immer schon als Möglichkeit in diesem. Vergangenes kann nie abgeschlossen sein, weshalb Heidegger das Zurückliegende als »gewesen« tituliert. 260 Ist damit das Gewesene nie ganz vergangen und das Ausstehende nie ganz zukünftig, gewinnt Gegenwärtigkeit als deren Überschneidungsmoment eine besondere Bedeutung. Es meint nicht den Augenblick zwischen zwei zeitlichen Erstreckungsstrukturen, sondern das »Da« des Daseins. In der Verbform des Vergegenwärtigens wird dieser Gedanke noch deutlicher. Etwas erhält Präsenz, nicht als quasi automatisches Geschehen in der Zeit, sondern als Moment der Erschließung. Aus dieser Perspektive läßt sich auch das Motiv der »Standfestigkeit« deuten, das Heidegger mit der vorlaufenden Entschlossenheit identifiziert. Aus dem Wissen um die Zeitlichkeit des Daseins ist erst eigentlich dessen Vergegenwärtigung möglich, die jedoch nicht als ein Beharren-Wollen im Augenblick gemeint ist. Verstehen gewinnt Stand, ein Standpunkt wird behauptet – in beiden Formulierungen zeigt sich Bereitschaft, eine Erkenntnis auf sich zu nehmen und diese auszuhalten. Eine solche Geste des Bezeugens macht aber vor allem dann Sinn, wenn sie dem Verstehen der Zeitlichkeit des Daseins gilt, die dieses als endlich ausweist. Denn so wird das Bezeugen Ausdruck einer Annahme der Unabänderlichkeit des Daseins, nicht im Sinne purer Schicksalsergebenheit, sondern als existentielle Demonstration von Sein. Wenn Heidegger der Zukunft eine besondere Gewichtung in der Betrachtung der Zeitlichkeit zuspricht, bestätigt sich nur noch einmal in allgemeiner Analyse, was seine Betrachtungen zur Sorge als Sinn des Seins bereits im Detail aufgezeigt hatten. 261 Denn Sorge ist immer als ›Sorgen-um‹ ein ›Sich-Entwerfen-auf‹ eine Seins-Modalität, die der Verwirklichung bedarf, also werden kann. In der Sorge um das eigene Sein-Können erschließt sich die Endlichkeit des Daseins, das »Sein zum Tode«.

260 »›Solange‹ das Dasein faktisch existiert, ist es nie vergangen, wohl aber immer schon gewesen im Sinne des ›ich bin-gewesen‹. Und es kann nur gewesen sein, solange es ist.« Sein und Zeit, § 65, S. 328. 261 »Das soll anzeigen, daß die Zukunft in der ekstatischen Einheit der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit einen Vorrang hat, […].« Sein und Zeit, § 65, S. 329.

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»In solchem Sein zu seinem Ende existiert das Dasein eigentlich ganz als das Seiende, das es ›geworfen in den Tod‹ sein kann. Es hat nicht ein Ende, an dem es nur aufhört, sondern existiert endlich. Die eigentliche Zukunft, die primär die Zeitlichkeit zeitigt, die den Sinn der vorlaufenden Entschlossenheit ausmacht, enthüllt sich damit selbst als endliche.« 262

Letztlich ist dieses das argumentative Element, das Heidegger für seinen Nachweis, die Ganzheit des Seins sei erfaßbar, fehlte. Denn es bindet die fortlaufende Zeit, die in ihrer Eigenschaft, Seiendes immer als unabgeschlossen zu charakterisieren, an die vorlaufende Entschlossenheit des Selbst-Seins. Dessen Endlichkeit eröffnet die gesuchte Möglichkeit, Sein in seiner Gänze zu erschließen, nicht als existentielles Phänomen, aber doch als ontologisches Ganzes. Dem widerspricht es in keiner Weise, daß der Seins-Entwurf, den ein Mensch im Dasein als sein »Da« tätigt, endlich ist. Das Verstehen erstreckt sich weiter als der Entwurf des Verstandenen. »Die ursprüngliche und eigentliche Zukunft ist das Auf-sich-zu, auf sich, existierend als die unüberholbare Möglichkeit der Nichtigkeit. Der ekstatische Charakter der ursprünglichen Zukunft liegt gerade darin, daß sie das Seinkönnen schließt, das heißt selbst geschlossen ist und als solche das entschlossene existenzielle Verstehen der Nichtigkeit ermöglicht.« 263 Die Endlichkeit der Zukunft resultiert mithin nicht aus einer Eigenschaft der Zeit, sondern des Selbst, das »sich« entwirft, solange es sein kann. Es wäre zwar möglich, hierin eine extreme Subjektivierung der Zeit-Erfahrung zu sehen. Doch ist Heidegger nicht wirklich daran interessiert, Zeit an sich zu betrachten. Statt dessen gilt seine Aufmerksamkeit Zeit als Form des Seins, das zeitlich ist. Auch die Frage nach der Zeit wird immer aus einem Dasein gestellt, das sich, sein Selbst entwerfend, verzeitlicht. Das Denken der Zeit ist damit stets an dieses Selbst-Sein gebunden und hat als dessen Erschließung nichts mit einem individuellen Erleben von faktischen Zeitabläufen zu tun. Daß Heidegger nicht nach einer wissenschaftlichen Theorie der Zeit sucht, sondern diese als Existenz-Form begreift, wurde bereits im Zusammenhang mit seiner Einschätzung der Vergangenheit sichtbar. Diese deutet er als »gewesen«, nicht vergangen, und hält damit die Bedeutung zurückliegender Augenblicke des Sich-Entwerfens auf das Mögliche für eine Bezeugung der Möglichkeit zukünfti262 263

Sein und Zeit, § 65, S. 329 f. Sein und Zeit, § 65, S. 330.

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Gegenüberstellung

ger Entwürfe offen. Müßte sich aus dieser grundsätzlichen Bereitschaft, Zeit als Erstreckungskontinuum des Möglichen zu begreifen, nicht auch Heideggers Verständnis von Geschichtlichkeit ergeben? »Nachdem jetzt die Selbstheit ausdrücklich in die Struktur der Sorge und damit der Zeitlichkeit zurückgenommen ist, erhält die zeitliche Interpretation der Selbst-ständigkeit und Unselbst-ständigkeit ein eigenes Gewicht. Sie bedarf einer gesonderten thematischen Durchführung. […] sie verschafft zugleich ihrer zentralen Funktion entsprechend, einen ursprünglicheren Einblick in die Zeitigungsstruktur der Zeitlichkeit. Diese enthüllt sich als die Geschichtlichkeit des Daseins.« 264

Vor diesem Hintergrund erscheint der Hinweis, daß Heidegger nicht einen Begriff von Geschichte als Historie zugrunde legt, fast überflüssig. Nicht die Abfolge von Taten und Ereignissen interessiert ihn, die in rückblickender Bewertung als objektives Konstrukt analysiert werden kann. Wohl aber nutzt er den Begriff des »Geschehens«, um die Bedeutung des Zurückliegenden zu erklären. »Die spezifische Bewegtheit des erstreckten Sicherstreckens nennen wir das Geschehen.« 265 Das »Sicherstrecken« kann in Verbindung zur vorlaufenden Entschlossenheit gelesen werden. So zeigt es sich eher als Dimensionierung des Verstehens denn als Durchlaufen einer Zeitspanne im Dasein. 266 Die gedankliche Anbindung an das Motiv der Selbständigkeit, die Heidegger hier vornimmt, ist insofern naheliegend. Denn das Sicherstrecken ›geschieht‹ nicht von selbst, sondern es ist Geschehen des Selbst-Seins. Immer ist das Selbst im jeweiligen Umfang seiner Reflektiertheit Ursprung des Verstehens von Zeit als Zeitlichkeit. Wie sich aber auch bereits im Gedanken der Entschlossenheit gezeigt hatte, gilt es nicht nur, Dasein zu verstehen, sondern sich das in diesem Vollzug Erschlossene anzueignen, es sich zu eigen zu machen. Immer ist also ein Verhalten zum Sein-Können in der Entschlossenheit enthalten, eine raumgreifende Geste des Vergegenwärtigens, die Heidegger auch mit dem Begriff der Standfestigkeit bezeichnet hatte. Einen Standpunkt einnehmend, entwirft sich Dasein auf seine mögliche Zukünftigkeit, Geschehen findet statt. Diese Bewegung des Sein und Zeit, § 66, S. 332. Sein und Zeit, § 72, S. 375. 266 »Wenn die Frage nach der Geschichtlichkeit in diese ›Ursprünge‹ zurückführt, dann ist damit schon über den Ort des Problems der Geschichte entschieden. Er darf nicht in der Historie als der Wissenschaft von der Geschichte gesucht werden.« Sein und Zeit, § 72, S. 375. 264 265

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Sein und Zeit

Sich-zu-eigen-machens richtet sich nun nicht nur auf das noch Ausstehende. Sie gilt gleichermaßen dem bereits Gewesenen. An diesem Punkt läßt Heidegger eine Überlegung folgen, die auf den ersten Blick befremden, vielleicht sogar erschrecken mag. Die weitere Deutung wird diesen Eindruck analysieren. »Nur das Freisein für den Tod gibt dem Dasein das Ziel schlechthin und stößt die Existenz in ihre Endlichkeit. Die ergriffene Endlichkeit der Existenz reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden nächsten Möglichkeiten des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals. Damit bezeichnen wir das in der eigentlichen Entschlossenheit liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten Möglichkeit überliefert. […] Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.« 267

Natürlich drängen sich beim Lesen dieser Zeilen Fragen auf. Diese gelten zum einen der Überlegung, inwieweit hier die ideologische Haltung Heideggers bereits Ausdruck findet. Sie gelten aber zum anderen auch der Überlegung, wie sie thematisch in der Konzeption von Sein und Zeit zu beurteilen sind.

267

Sein und Zeit, 374, S. 384.

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II. Vergleich

Um die konzeptuelle Positionierung der Motive des Volkes und des Geschicks in Sein und Zeit bewerten zu können, sollen sie in Beziehung zu jenen Charakterisierungen betrachtet werden, die Franz Rosenzweig im dritten Teil seines Sterns der Erlösung formuliert. Allerdings wäre es irreführend, diese aus ihrem Kontext zu lösen. So gilt es im Folgenden, die kompositorischen Merkmale beider Werke zu vergleichen, 1 was zu einem mehr als frappierenden Ergebnis führen wird. In einem Schritt der Verdichtung werden zunächst die zentralen Aussagen beider Denker teils wiederholend, teils ergänzend beleuchtet. Eine weitere Komprimierung der wichtigsten Gedanken erfolgt dann im nächsten Kapitel, so daß an dessen Ende die Strukturen beider Schriften offengelegt sind. Diese können schließlich direkt gegenübergestellt werden, wodurch sich ihre bemerkenswerte Entsprechung zeigt.

II.1 »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Einleitung In seinen leidenschaftlichen Eröffnungsworten begründet Rosenzweig ebenso dramatisch wie unvorbereitet, und gerade darum so beklemmend intim, seine tiefgreifende Kritik an dem Wirklichkeitsverständnis der Philosophie. Weit davon entfernt, die existentielle Not und Leidenserfahrung des Individuums zu ihrem Ausgangspunkt zu erklären, abstrahiert sie unter ausschließlicher Akzentuierung der Rationalität als Grundlage der Erkenntnis von dieser Fundierung im

Der folgende Vergleich beider Texte orientiert sich an den jeweiligen Überschriften der Bücher im Stern der Erlösung sowie der Abschnitte und Paragraphen in Sein und Zeit. In Teil III. MUSTER DER ENTSPRECHUNG richtet sich die Darstellung dann nach den Titeln der Kapitel im Stern der Erlösung. Durch dieses Verfahren soll eine immer exaktere Gegenüberstellung beider Werke erreicht werden.

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»Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Einleitung

Realen und entwirft eine systematische Vision der Realität. Da Philosophie laut Rosenzweigs Diagnose ihren eigentlichen Ursprung im Erleben des einzelnen Menschen verschweigt, stellt sie sich als voraussetzungslos 2 dar. Gerade diese thematische Unbedingtheit sichert ihr jedoch ihren Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, auf ihre Befähigung und Autorisierung, dem All zu gelten. In dieser Fokussierung zeigt sich jedoch für Rosenzweig eine fatale Verirrung im Selbstverständnis von Philosophie. Denn in ihrer ausschließlichen Ausrichtung auf das Allgemeine muß sie das Besondere, Wechselhafte und Dingliche der Welt als Gegenstand wissenschaftlichen Fragens ausblenden. Bleibt die Faktizität der Welt aber unleugbarer Boden, auf dem alle Erfahrung von Wirklichkeit gründet, läßt sich ihre Reflexion nicht gänzlich aus dem Kontext philosophischer Theoriebildung ausschließen. Anstatt eine Methode zu entwickeln, die zur Erkenntnis der Welt geeignet ist, so wie der einzelne Mensch sie erlebt, reproduziert Philosophie ihren Begriff allumfassender Systematik. 3 Doch nicht Denkbarkeit macht »die Welt zur kreatürlichen Welt«, sondern ihre »Fülle und Verzweigtheit und Unaufhörlichkeit ihrer Gestalten« 4, so schreibt Rosenzweig und bekundet damit bereits in seinen einleitenden Zeilen den Willen, die Gedanken von Schöpfung und Welthaftigkeit in einem – nicht allumfassenden, sondern ganzen – Bild der Wirklichkeit zu verbinden. Erstaunlich genug ist die Überzeugung, die er damit artikuliert. Die Vielgestaltigkeit der Welt, zeitlich bedingt und nur individuell erfahrbar, läßt sich im Sinne des Schöpfungsglaubens, nicht aber im Sinne idealistischer Theorie erfassen. »Weshalb wurde denn die Welt nicht etwa als Vielheit gedeutet? Warum gerade als Allheit? Hier steckt offenbar eine Voraussetzung und wieder jene ersterwähnte: die der Denkbarkeit der Welt.« 5 Die Versuchung liegt nahe, aus Wor»Indem die Philosophie die dunkle Voraussetzung alles Lebens leugnet, indem sie nämlich den Tod nicht für Etwas gelten läßt, sondern ihn zum Nichts macht, erregt sie für sich selbst den Schein der Voraussetzungslosigkeit. Denn nun hat alles Erkennen des All zu seiner Voraussetzung – nichts.« Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 5. 3 »War die Philosophie denn nicht schon durch jene ihre ›einzige‹ Voraussetzung, sie setze nichts voraus, selbst ganz voller Voraussetzung, ja selber ganz Voraussetzung? Immer wieder lief doch das Denken den Abhang der gleichen Frage, was die Welt sei, hinan; immer wieder ward an diese Frage alles andere etwa noch Fragwürdigere angeschlossen; immer wieder endlich wurde die Antwort auf die Frage im Denken gesucht.« Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 6. 4 Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 20. 5 Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 12. 2

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ten wie diesen auf den rein religiösen Charakter des Sterns der Erlösung schließen zu wollen. Wenn Philosophie nicht zur Beschreibung der existentiellen Erfahrung des Menschen taugt, dann macht diese Einsicht den Suchenden, der nach einer Erklärung seiner Betroffenheit im Dasein fragt, umso empfänglicher für die Antworten der Religion. Damit wäre das Projekt, die beiden Hauptwerke von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger vergleichen zu wollen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da sich nur vergleichen läßt, was einer ähnlichen Intention folgt. Doch erklärt Rosenzweig unmißverständlich, daß er beide – Theologie wie auch Philosophie – um genau jene Kompetenzen erweitern will, die ihnen seiner Ansicht nach fehlen: die Theologie um die Objektivität und die Philosophie um die Individualität. Er besteht also darauf, auch im philosophischen Diskurs wirken zu wollen, vielleicht sogar gerade dort, weil er dem Bewußtsein des modernen Menschen vertrauter als der Glaube erscheint. Der erste Begriff, in dem sich beide Disziplinen überschneiden, ist derjenige der Welt, nicht derjenige des Menschen. So verwirrend diese Feststellung zunächst auch klingen mag, erklärt sie sich doch sogleich mit Blick auf die mangelnde Objektivität, die Rosenzweig der Theologie attestiert. Die Dinghaftigkeit der Welt kann als Ergebnis des göttlichen Schöpfungsaktes begriffen werden, was jedoch noch nicht die Möglichkeit gewährleistet, Aussagen über dieses Geschaffene treffen zu können. Rosenzweig muß also eine Begrifflichkeit suchen, die genau dieses leistet – das Geschaffene vom Moment seiner Erschaffung an zu betrachten. Denn hier verstummt die religiöse Sicht auf die Welt allzu schnell und wendet den Blick auf den Menschen und sein Tun. Rosenzweig ist jedoch davon überzeugt, daß dieses nur verstanden werden kann, wenn es als Wirken in der Welt betrachtet wird. Dadurch verliert die Beachtung des Menschen keineswegs an Relevanz, sondern sie wird neu justiert. Der Mensch ist Mensch in der Schöpfung und diese präsentiert sich als Welt. Wie gilt es aber von dieser zu sprechen, wenn ihre Thematisierung auch den philosophisch Fragenden auffordern soll, sie zur Kenntnis zu nehmen – zum ersten Mal wirklich als das zu sehen, was sie ist: vielgestaltig? Rosenzweig greift hierfür auf den Begriff des Seins zurück, nicht ohne jedoch sofort klarzustellen, daß er diesen Terminus neu deutet, nicht als Produkt des Denkens, sondern als Bezeichnung von Erfahrbarem. Die diesen Gedanken programmatisch ankündigende Passage des Sterns der Erlösung beinhaltet sowohl Rosenzweigs leidenschaft148 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

»Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Einleitung

liches Plädoyer für eine neue Philosophie als auch eine der wenigen Selbstauskünfte, in denen er sich als philosophisch Denkenden positioniert: »Daß das leere Sein, das Sein vor dem Denken, in dem kurzen kaum greifbaren Augenblick, ehe es Sein für das Denken wird, dem Nichts gleich ist, das gehört ebenfalls zu den Erkenntnissen, die die ganze Geschichte der Philosophie von ihren ersten Anfängen in Jonien bis zu ihrem Ausgang in Hegel begleiten. Dies Nichts blieb ebenso unfruchtbar wie das reine Sein. Die Philosophie hub erst an, wo sich das Denken dem Sein vermählte. Eben ihr versagen wir, und eben hier, unsre Gefolgschaft. Wir suchen nach Immerwährendem, das nicht erst des Denkens bedarf um zu sein.« 6

Den Bezug auf das Nichts des Wissens, der hier angedeutet wird, greift Rosenzweig im ersten Teils seiner Schrift auf, wenn er zeigt, daß sich bislang für verbindlich Gehaltenes letztlich als inhaltsleer erweist. Kompositorisch gestaltet er diesen Teil mit dem Titel »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« als ein dreimaliges Fragen nach Gott, Welt und Mensch, dem der dreimalige Bescheid folgt, von diesen nichts zu wissen. Das Nichts des Wissens wird Grund des Verstehens der Wirklichkeit, eines Verstehens freilich, das aus einem Erfahrungsgeschehen resultiert, das Rosenzweig als Gang in den Raum vor aller Realität bezeichnet. Zurückhaltend in methodischen Ausweisungen, macht er doch eines deutlich: »Die Erschließung der so abgesteckten Gebiete muß anders geschehen. Von den Nichtsen des Wissens stößt unsere Entdeckerfahrt vor zum Etwas des Wissens.« 7 Dieses Wissen gestaltet sich als eine voraussetzungslose wie auch vorurteilsfreie Erstbegegnung mit den befragten Erscheinungen. Als solche finden sie sich nie als abstrakte Wesenheiten, sondern als ein bestimmtes und bestimmbares ›Etwas‹. Seine Erkenntnis erfolgt nicht auf dem Wege der Separierung von möglichen Außenbezügen, sondern gerade unter deren ausdrücklicher Berücksichtigung. Etwas erscheint immer nur in Relation, es erscheint immer nur jemandem. Interessanterweise mündet dieser Gedanke nicht in einen generellen Zweifel an der Faktizität des Seienden. Denn diese ist dadurch gewährleistet, daß es Da-sein der Schöpfung ist. Die Idee, Welt etwa als Projektion oder Produkt menschlicher Vorstellung zu begreifen, wie es der von ihm ansonsten tief verehrte Arthur Schopenhauer konstatiert, hat für Rosenzweig keinerlei Relevanz. Statt dessen be6 7

Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 22. Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 22.

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ansprucht die Bestimmung des Begriffes der Welt höchste Priorität, denn diese ist der Raum allen Erscheinens. Diese Sichtweise widerspricht dem Glauben an eine Schöpfung keineswegs. Denn Welt kann auch als Erscheinungs-Raum göttlichen Wirkens verstanden werden, ja mehr noch: sie ist der einzig zugängliche Ort für dessen Erschließung. So ist es in Rosenzweigs Denken gleich gültig, über ›Erscheinung‹ oder ›Geschaffenes‹ zu sprechen, da beide Ausdrucksweisen ein und dasselbe bezeichnen. In beiden Begrifflichkeiten wird erkennbar, daß Sein nur über die kontextuelle Betrachtung des Seienden erschlossen werden kann.

II.2 »Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein« Das Projekt, das Martin Heidegger in der Einführung von Sein und Zeit ankündigt, zeigt eine offensichtliche Ähnlichkeit, was umso erstaunlicher ist, da dieser Text von Anfang an als fundamentalontologische Untersuchung ausgewiesen ist. Explizit religiöse Bezüge sind hier nicht zu finden. Wie sich angedeutet hatte, argumentiert Rosenzweig vor einem zweifachen Hintergrund, indem er das Geschaffene als Sein thematisiert. Zwar erschwert es seine spezifische Diktion, den Stern der Erlösung als wissenschaftlichen Text zu lesen, doch beweisen speziell seine Aussagen über Welt und Mensch philosophische Relevanz. So verbietet sich ein Vergleich dieser Schrift mit Heideggers Sein und Zeit nicht per se, sondern er liegt sogar nahe, wie sich immer deutlicher abzeichnet. Rosenzweig konstatiert, daß Philosophie, vor allem in ihrer idealistischen Prägung, der existentiellen Not des Einzelnen keine Rechnung trägt. 8 Eine annähernd ähnliche Begründung des Anspruches, den philosophischen Diskurs zu erneuern, findet sich in Heideggers Schrift nicht. Die Passagen, in denen er vom Menschen oder gar vom Ich spricht, lassen sich fast an einer Hand abzählen. Und dennoch geht es in Sein und Zeit um den Menschen – in seinem Sein. Stilistisch könnten beide Texte kaum unterschiedlicher sein. Hier der

»[…] die Philosophie lächelt zu all dieser Not ihr leeres Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger das Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Diesseits schlottern, auf ein Jenseits hin, von dem es gar nichts wissen will. Denn der Mensch will ja gar nicht irgendwelchen Fesseln entfliehen; er will bleiben, er will – leben.« Der Stern der Erlösung, I, Einleitung, S. 3.

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»Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein«

höchst individuell gehaltene Entwurf Rosenzweigs, der Formulierungen pathetischer Intimität nicht scheut, dort die beherrscht wirkende Analyse Heideggers, die so deutlich um formale Gültigkeit bemüht ist und sich dabei doch der Versuchung sprachlicher Extravaganz nicht ganz entziehen kann. Denn ob der Wille zum Neologismus nun ausschließlich der Notwendigkeit folgt, eine neue Sprache für ein neues philosophisches Denken zu kreieren, kann zumindest bezweifelt werden. Wie bereits wiederholt zitiert wurde, stellt Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein 9 unter folgendem ausdrücklichen Hinweis: »Man sagt: ›Sein‹ ist der allgemeinste und leerste Begriff. Als solcher widersteht er jedem Definitionsversuch.« 10 Gilt es aber, gerade im Wissen um dieses Vorurteil dennoch nach Sein zu fragen, gewinnt die Ausarbeitung der Frage selbst außerordentliche Bedeutung. Diese soll »gestellt« werden, wie Heidegger schreibt, womit er nicht nur eine präzise Formulierung meint. »Daher muß kurz erörtert werden, was überhaupt zu einer Frage gehört, um von da aus die Seinsfrage als eine ausgezeichnete sichtbar machen zu können.« 11 Auf Heideggers hierauf folgende Feststellung, daß die Frage nach dem Sein immer aus einem vorgängigen Seinsverständnis heraus gestellt wird, ist bereits an früherer Stelle hingewiesen worden. Denn immer ist Sein ›schon da‹, wenn es zum Gegenstand der Aufmerksamkeit wird. Immer bewegt sich der Fragende schon im Kontext des Seins, auch wenn es nicht Inhalt ontologischer Analyse wird. Auch für Heidegger steht es daher fest, daß die Seinsfrage von hier aus zu stellen ist, aus der Faktizität der Welt, in der der Mensch existiert. Der Ausdruck des Stellens ist in seiner Bildlichkeit aufschlußreich. Im Fragen nach dem Sein positioniert sich der Fragende erst eigentlich im Seienden, indem er sein eigentliches Sein-Können erfaßt. Heidegger macht unmißverständlich klar, daß er aus dieser Aufstellung keine abstrakte Definition des Seins anvisiert, wenn er schreibt: »[…] es darf keine beliebige Idee von Sein und Wirklichkeit, und sei sie noch so ›selbstverständlich‹, an dieses Seiende konstruktiv-dogmatisch herangebracht, keine aus einer solchen Idee vorgezeichneten ›Kategorien‹ dürfen dem Dasein ontologisch unbesehen aufgezwungen »Die genannte Frage ist heute in Vergessenheit gekommen, […].« Sein und Zeit, § 1, S. 2. 10 Sein und Zeit, § 1, S. 2. 11 Sein und Zeit, § 2, S. 5. 9

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werden.« 12 Gerade in solchen Forderungen einer unvoreingenommenen Hinwendung zu Seiendem, wie es im einzelnen Augenblick erscheint, wird jene Verwurzelung im phänomenologischen Denken sichtbar, die Heidegger ausdrücklich als methodische Richtungsweisung seiner Schrift kenntlich macht. 13 Positioniert im Dasein, das als Bedingung des Fragens nach dem Sinn von Sein nicht nur unverzichtbar ist, sondern auch in dieser Bewertung Gegenstand der Untersuchung werden soll, ›stellt‹ der Mensch diese »ausgezeichnete« Frage nicht nur aus einem theoretischen Interesse. Sie ist kein Zeichen intellektueller Kompetenz, sondern Bezeugung existentieller Möglichkeit, den erfragten Sinn im fragenden Sein zu verorten. Der Fragende fragt aus dem Sein heraus, das ihm als Seiendes erscheint. 14 Dabei ist er niemals als isoliertes Subjekt denkbar, sondern einzig im Verbund desjenigen Seienden, das ihn in jedem Moment seines Daseins umgibt – der Welt. »Zum Dasein gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt.« 15 In der grundsätzlichen Fundierung des Seins-Verstehens in einem Verständnis von Welt zeigen die Konzeptionen von Rosenzweig und Heidegger bemerkenswerte Nähe. Für beide Denker steht fest, daß sich Sein nur aus der Welt heraus erschließen läßt, ein Gedanke, den Rosenzweig problemlos annehmen kann, wenn er Sein als Begriff für Geschaffenes deutet. Welthaftes Seiendes ist damit immer schon als Sein der Schöpfung verstanden, bedarf aber einer eingehenden Betrachtung, wenn es diese als dynamisches Geschehen zu deuten gilt. Erst in der Relation von Seiendem in der Welt erschließt sich die Zeitlichkeit des Seins. Heidegger meint hingegen, einem möglichen Einwand begegnen zu müssen. »Zuvor Seiendes in seinem Sein bestimmen müssen und auf diesem Grunde dann die Frage nach dem Sein erst stellen wollen, was ist das anderes als das Gehen im Kreise?« 16 Doch abgesehen davon, daß seiner Auffassung nach derlei »formale Einwände […] über Sein und Zeit, § 5, S. 16. »Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich.« Sein und Zeit, § 7, S. 35. 14 »Ausarbeitung der Seinsfrage besagt demnach: Durchsichtigmachen eines Seienden – des fragenden – in seinem Sein.« Sein und Zeit, § 2, S. 7. 15 Sein und Zeit, § 4, S. 13. Siehe dazu auch: »Das Dasein hat vielmehr gemäß einer zu ihm gehörigen Seinsart die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der ›Welt‹.« Sein und Zeit, § 5, S. 15. 16 Sein und Zeit, § 2, S. 7. 12 13

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»Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein«

konkrete Wege des Untersuchens immer steril« sind, lassen sie sich inhaltlich leicht entkräften. Denn das Sein von Seiendem vorauszusetzen, bedeutet noch nicht, auch dessen Sinn bereits erfragt zu haben. Dieser Sinn erschließt sich nicht in einer Abkehr von der Welt und einer Abstraktion ihrer Tatsächlichkeit, sondern nur unter Berücksichtigung eben dieser Faktizität, die sich in der Vielfalt ihrer Erscheinungen zeigt. Aufgabe von Ontologie ist es also, den Sinn von Sein in der Betrachtung des Seienden zu erfragen. Dessen Spezifikum liegt in seiner Zeitlichkeit, ohne deren Analyse die Frage nach dem Seins-Sinn niemals präzise gestellt werden kann. 17 Nun darf der Ausdruck »Zeitlichkeit« in diesem Zusammenhang nicht primär als Bezeichnung der Endlichkeit menschlichen Seins aufgefaßt werden. Statt dessen ist er erstes Anzeichen der im Verlauf der Argumentation zu erweisenden Überzeugung Heideggers, daß ein Verstehen des Seins allein aus dem Verständnis seiner Ganzheit zu gewinnen ist. Wie sich bestätigen wird, bezieht sich dieser Ausdruck nicht auf ein ontisch Vollständiges, sondern ein ontologisch vollständig Erfaßtes – das Sein in seiner Gänze. Da diese in ihrer Zeitlichkeit denkbar wird, erschließt sich über deren Thematisierung der Sinn von Sein. Zeitlichkeit wird sowohl in ihrer Möglichkeit, als zukünftig verstanden zu werden, als auch in ihrer Faktizität des Gewesenen vorstellbar. So weist Heidegger in seiner Einleitung zu Sein und Zeit bereits darauf hin, daß die Frage nach dem Sein auch ihre eigene Bedingtheit zu berücksichtigen hat. »Das Dasein ist in seiner jeweiligen Weise zu sein und sonach auch mit dem ihm zugehörigen Seinsverständnis in eine überkommene Daseinsauslegung hinein- und in ihr aufgewachsen. Aus dieser her versteht es sich zunächst und in gewissem Umkreis ständig. Dieses Verständnis erschließt die Möglichkeiten seines Seins und regelt sie. Seine eigene Vergangenheit – und das besagt immer die seiner ›Generation‹ – folgt dem Dasein nicht nach, sondern geht ihm je schon vorweg.« 18

»Fragen nach dem Sein« ist »selbst durch die Geschichtlichkeit charakterisiert« 19, so schreibt Heidegger als Ankündigung seiner Untersuchung und formuliert damit einen Gedanken in bemerkenswerter »Um das einsichtig werden zu lassen, bedarf es einer ursprünglichen Explikation der Zeit als Horizont des Seinsverständnisses aus der Zeitlichkeit als Sein des seinsverstehenden Daseins.« Sein und Zeit, § 5, S. 17 18 Sein und Zeit, § 6, S. 20. 19 Sein und Zeit, § 6, S. 20. 17

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Doppelsinnigkeit. Denn natürlich folgen die jeweils spezifischen Formen des Denkens auch in den Wissenschaften ihrer eigenen Tradition und der sie vorbereitenden Arbeit des Forschens. Doch ist es im Grunde unnötig, daß Heidegger auf diese Selbstverständlichkeit hinweist, ja sogar widersinnig, wird seine distanzierende Haltung der tradierten Metaphysik gegenüber bedacht. Statt dessen ist die Würdigung der Geschichtlichkeit des Daseins unverzichtbarer Bestandteil seiner Bestimmung von Zeitlichkeit, die es insgesamt zu erfassen gilt, soll sich der Sinn von Sein erschließen. Wie ein Blick auf den Stern der Erlösung zeigt, ist es für Rosenzweig völlig unvorstellbar, Sein unabhängig von seiner Zeitlichkeit zu denken, da es in seinem Verständnis geschaffenes Sein ist. Da es als Werk der Schöpfung erscheint, muß es auch unter den sinnstiftenden Dimensionierungen von Offenbarung und Erlösung gedacht werden. Dabei kann der Begriff der Sinnstiftung hier als Erfüllung des Lebens mit existentieller Bedeutung verstanden werden, genauso gut aber auch als Verweis auf die zeitliche Struktur religiös begründeten Daseinsverständnisses. Denn es ist unmöglich, Schöpfung ohne ihren Bezug auf Zukünftigkeit zu denken, wie er sich in besonders eindringlicher Form in Bildern eschatologischer Erwartung ausdrückt. Im religiös-philosophischen Denken Rosenzweigs ist Da-sein notwendig auf seine zu erwartende Auslegung orientiert, so daß auch dessen Verständnis nur unter Einbeziehung der Zukünftigkeit möglich ist. Gleichermaßen basiert Dasein, und damit das Verstehen von Sein insgesamt, auf der Vorstellung der Herkunft des jüdischen Volkes, die dessen Identität und Selbst-Erfahrung bestimmt. Die doppelt ausgerichtete Orientierung des Seins-Verständnisses auf das Gewesene und das zu Erwartende resultiert in Rosenzweigs Sicht aus der Bindung aller Welt-Erfahrung an die Temporalität des Glaubens. Und Heidegger? Besteht für ihn überhaupt eine annähernd verpflichtende Veranlassung, Sein unter dem Primat der Zeitlichkeit zu deuten? Die einzige wirklich zwingende Bedingung hierfür entstammt letztlich seinem Anspruch, das Ganze des Seins erfassen zu wollen, was für ihn mit dessen Erfahrung in der Zeit identisch ist. Aber ist es unumgänglich, den Sinn von Sein aus dieser Voraussetzung erschließen zu wollen? Wäre nicht eine andere Interpretation vorstellbar, die ihn beispielsweise aus der Augenblickshaftigkeit individuellen Erlebens ableitet? Die Frage am Ende der Einleitung von Sein und Zeit lautet somit, aus welcher Voraussetzung Heideggers Auslegung des Seins-Sinnes aus seiner Zeitlichkeit folgt. 154 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

»Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Buch I–III

II.3 »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Buch I–III »Gott und sein Sein oder Metaphysik«, »Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik«, »Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik« – werden die Überschriften der drei Bücher des ersten Teils des Sterns der Erlösung betrachtet, fällt die Akzentuierung von »Sein«, »Sinn« und »Selbst« auf. Nun sind die Begriffe als solche nicht so charakteristisch, daß sich schon allein auf ihrer Grundlage ein Bezug zu Sein und Zeit nahelegen würde. Werden allerdings Rosenzweigs Ausführungen dazu berücksichtigt, stellt sich die Sachlage in verändertem Licht dar. Rosenzweig fragt nach Gott, Welt und Mensch, um diese Phänomene zunächst in ihrer jeweiligen Eigenheit erfassen zu können. In theologischer Perspektive mag diese Ankündigung eher verwundern als in philosophischer. Denn sie beruht auf der Überzeugung, daß alle drei Wesenheiten grundsätzlich erfragt und, was vielleicht noch auffälliger ist, in derselben Vorgehensweise thematisiert werden können. Es muß kaum darauf hingewiesen werden, daß diese Selbstverständlichkeit in einem Großteil religionsphilosophischer Diskussionen der Vergangenheit zumindest als problematisch galt. Selbst das Benennen göttlicher Attributen in einer Begrifflichkeit, die dem Spektrum menschlicher Erfahrungen entstammte, wurde bisweilen für unstatthaft erklärt. Um wie viel mehr mußte ein vergleichbarer Vorbehalt gegen das Sprechen vom göttlichen Wesen gelten? Rosenzweig kennt solche Auseinandersetzungen, wie sein Hinweis auf Moses Maimonides belegt, setzt sich aber über Bedenken, die der Formulierung seines Verständnisses von Wirklichkeit gelten könnten, selbstbewußt hinweg. Mit unverstellter Aufmerksamkeit und fast naiver Unbefangenheit nach den drei Elementen, die diese konstituieren, zu fragen, steht hier nicht in erklärtem Kontext phänomenologischer Forschung. Doch spricht das Fehlen expliziter Verweise nicht gegen eine Ähnlichkeit der Haltung und vor allem der Erwartung, die verfolgt wird. Denn warum will Rosenzweig die Elemente »für sich, auf sich allein gestellt« betrachten? Warum konstatiert er ein dreimaliges Nicht-Wissen von Gott, Welt und Mensch? Wissen von ihnen zu behaupten, hieße seiner Auffassung nach, diese drei Begriffe als Abstraktionen zu betrachten, die der Vielgestaltigkeit der erfahrbaren Realität abgerungen wurden. Noch einmal weist Rosenzweig im Kontext seiner Frage nach der Welt auf die Notwendigkeit und nun auch die Möglichkeit hin, diese 155 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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»aus sich selbst« 20 zu verstehen. Seine Ableitung dieses Gedankens aus dem Begriff der Selbst-verständlichkeit war aufgezeigt worden. Etwas ›aus sich selbst‹ erfassen zu wollen, verhindert aber von Anfang an den Versuch, es wissen zu wollen, und setzt statt dessen auf eine andere Form der Zugänglichkeit – die Erfahrung. Gott, Welt und Mensch in ihrer Tatsächlichkeit begreifen zu wollen, bedeutet, sie in ihrer Zeitlichkeit erfassen zu müssen, kein Problem, wenn dieses für Welt und Mensch, doch fast schon Blasphemie, wenn es von Gott gelten soll. Da Rosenzweig auch Göttlichkeit als Wirklichkeit deutet, die wiederum nur unter dem Aspekt der Zeit überhaupt gedacht werden kann, spricht aus seiner Sicht nichts dagegen, sie als Sein zu bezeichnen. »Denn das Sein der Welt ist kein unendlich ruhendes Wesen. Die unerschöpfliche stets neugezeugte und neu empfangene Fülle der Gesichte, das ›voller-Figur-sein‹ der Welt ist gerade das Gegenteil eines solchen stets ruhenden, in sich und jeden Augenblick unendlichen Wesens, […].« 21 Eine solche stets in Veränderung befindliche Gestalt der Welt widerspricht keineswegs der Möglichkeit, sie als Ganzes zu denken. »Sie ist, im Gegensatz zu der allerfüllenden Welt des Idealismus, die ganz erfüllte, die gestaltete Welt. Sie ist das Ganze ihrer Teile. Die Teile sind nicht erfüllt vom Ganzen, nicht getragen von ihm, – das Ganze ist eben nicht All, es ist wirklich bloß Ganzes.« 22 Die Ankündigung, Sein, Sinn und Selbst zu beleuchten, führt Rosenzweig schließlich zur Betrachtung des Menschen, womit er seine Charakterisierung von Sein insgesamt komplettieren kann. »Gottes Sein ist Sein im Unbedingten, der Welt Sein Sein im Allgemeinen, des Menschen Sein ist: Sein im Besonderen.« 23 Ein Postulat dieser Art mag eher literarisch klingen und als Behauptung, die durch keinen wissenschaftlichen Beweis verifiziert wird, nicht sofort überzeugen. Doch sollte dieser Eindruck, der sich auf Rosenzweigs Argumentationsstil insgesamt ausweiten ließe, nicht täuschen. Es bedarf keiner einhellig sanktionierten Form, um ontologisch Relevantes artikulieren zu können. Menschliches Sein, so heißt es, ist »Sein im Besonderen«. »Die Eigenheit des Menschen ist also etwas anderes als die Indi20 21 22 23

Der Stern der Erlösung, I,II, S. 44. Der Stern der Erlösung, I,II, S. 46. Der Stern der Erlösung, I,II, S. 56. Der Stern der Erlösung, I,III, S. 69.

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»Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Buch I–III

vidualität, die er als einzelne Erscheinung innerhalb der Welt annimmt. Sie ist keine Individualität, die sich gegen andre Individualitäten abscheidet, sie ist kein Teil […].« 24 Und mit Blick auf dasjenige, das die Menschen verbindet, den »Gehalt«, heißt es: »Der Gehalt muß etwas unmittelbar Gleiches sein, etwas, was die Menschen nicht untereinander teilen wie die gemeinsame Welt, sondern etwas, was in allen gleich ist. Und das ist nur das Menschliche schlechthin, das Selbst. Das Selbst ist das, was im Menschen zum Schweigen verurteilt ist und dennoch überall sofort verstanden wird.« 25 Gilt es zu beschreiben, was der Menschen sei, ist ein Rückgriff auf die Bestimmung seines Wesens naheliegend. Wohlbekannt ist etwa seine Definition als animal rationale, die für lange Zeit fester Bestandteil unterschiedlichster philosophischer Diskurse gewesen ist. Daß Rosenzweig mit dem »Gleichen«, das zugleich die »Eigenheit« des Menschen ist, nicht Rationalität meint, ist offensichtlich. Doch widersprechen sich jene beiden Begriffe, die er hier verwendet, nicht grundsätzlich? Wie kann das Eigene das Gleiche sein, ohne sofort in einem Bild verbindlicher Übereinstimmung aufzugehen? Rosenzweig beantwortet die Frage zwar zunächst selbst unter Hinweis darauf, daß Eigenheit nicht Individualität meint, ruft aber gleich darauf erneute Verwunderung hervor, wenn er sie als »das Selbst« bezeichnet. Den Hintergrund dieser Feststellung bildet sein Bestreben, die überkommene Sicht vom menschlichen Wesen durch die Annahme einer Gemeinsamkeit zu ersetzen. Was bewirkt eine solche Umformulierung? Wie sich gezeigt hat, begreift Rosenzweig Schöpfung als fortgesetztes Geschehen, als Arbeit am Dasein, die vom Menschen in der Welt und im Wissen um Gott bewirkt wird. Die Eigenschaft des Menschen, die er vor diesem Hintergrund besonders hervorheben will, ist seine Gestaltungskraft, die sich auf die äußere Wirklichkeit, aber auch auf das eigene Selbst richten kann. Schöpfung, Gestaltung, Lebendigkeit – diese Begriffe sind nicht voneinander zu trennen, weshalb Rosenzweig schreibt: »Wir suchen den lebendigen Menschen, das Selbst.« 26 So sucht er keine Kennzeichnung des Menschen, die ihn ein für allemal auf eine bestimmte Fähigkeit, und sei es auch seine Rationalität, festlegt, sondern eher eine Beschreibung, die immer wieder neue Momentaufnahmen menschlichen Seins »im Besonde24 25 26

Der Stern der Erlösung, I,III, S. 69. Der Stern der Erlösung, I,III, S. 88. Der Stern der Erlösung, I,III, S. 72.

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ren« formuliert. Ob dieses Ziel durch eine Wesens-Bestimmung tatsächlich erschwert würde, kann sicherlich bezweifelt werden. Doch wichtiger als die begriffliche Fixierung ist gewiß der Kontext, in dem Rosenzweig auf den Menschen schaut. Will er ihn als den Schaffenden in übertragenem Sinn vorstellen, gilt der Gedanke der dynamischen Kreativität auch dem Eigenen, dem Selbst, weshalb er sehr pointiert formuliert: »Als Selbst, wahrhaftig nicht als Persönlichkeit, ist der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen.« 27 Es ist keine bereits aktualisierte Qualität, so ausgezeichnet sie auch sein mag, die die Besonderheit des Menschen ausmacht, sondern zunächst eine essentielle Privation, etwas, das sich nicht sofort zeigt, das zum Schweigen verurteilt, und doch in allen Menschen gleichermaßen vorfindlich ist. Ein Vermögen, zu werden, um zu ›sein‹, um ›eigen‹, um ›eigentlich zu sein‹. Vor diesem Hintergrund wird es nachvollziehbar, daß Rosenzweig das Selbst zunächst als »edelstumm« bezeichnet, in »erhabener Beschränktheit in sich selbst«. 28 Es ist schon da, doch es wirkt noch nicht. Dieses heißt jedoch nicht, daß das Selbst nicht erfahren würde, was es bedeutet, zu sein. In einer kurzen Betrachtung des Gilgamesch-Epos findet sich eine interessante Passage zur Todes-Erfahrung des Menschen, die in ganzer Länge zitiert werden soll: »Diese ist hier gewaltig vergegenständlicht, indem es zunächst nicht unmittelbar der eigene Tod ist, der dem Helden entgegentritt, sondern der Tod des Freundes; aber er erfährt an ihm die Furcht des Todes überhaupt. Die Zunge versagt ihm in dieser Begegnung den Dienst; ›er kann nicht schreien, kann nicht schweigen‹, aber er unterwirft sich auch nicht; sein ganzes Dasein wird zum Bestehen dieser einen Begegnung; sein Leben bekommt den Tod, den eigenen Tod, den er im Tode des Freundes erblickt hat, zum einzigen Inhalt. Es ist gleichgültig, daß ihn zuletzt der Tod auch noch selber holt; das Eigentliche liegt da schon hinter ihm; er selbst ist in die Sphäre getreten, wo die Welt mit ihrem Wechsel von Schreien und Schweigen den Menschen anfremdet, in die Sphäre der reinen erhabenen Stummheit, des Selbst.« 29

Motive, die Martin Heideggers Denken in Sein und Zeit charakterisieren, sind hier in frappierender Weise präformiert – die Erfahrung des Todes als Initiation des Eigentlichen, die den Menschen aus dem Gerede des Man in die Unheimlichkeit, das ›Anfremdende‹, stößt, und 27 28 29

Der Stern der Erlösung, I,III, S. 75. Der Stern der Erlösung, I,III, S. 79. Der Stern der Erlösung, I,III, S. 83.

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»Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins«

vor allem die Folgerung, die sich aus dieser Erfahrung für den Menschen ergibt: »sein ganzes Dasein wird zum Bestehen dieser eigenen Begegnung«. Gerade im Begriff des Bestehens verdichtet sich die gesamte existentielle Erschütterung, die zur absoluten, nicht mehr unterdrückbaren Forderung wird. Wird diese als Verpflichtung nicht im Sinne ethischer Weisung oder religiösen Gebotes verstanden, sondern als Erfüllungsmetapher des Sein-Könnens, wird begreiflich, daß sie das »ganze Dasein« ergreift und ihrerseits ergriffen werden will. In Heideggers Terminologie, die sich in gewissem Umfang auch schon bei Rosenzweig findet, wird hieraus die Verknüpfung von Erschlossenheit und vorlaufender Entschlossenheit. Selbst-Sein resultiert mithin nicht aus einer Wesensbestimmung des Menschen, sondern aus der Befähigung, sein zu können. Es wäre sogar irreführend, hier von der Befähigung, zu werden, zu sprechen. Denn dieses könnte als Entwicklung zu einem festen Bestand gedeutet werden, der dann als das Selbst zu bezeichnen wäre. Rosenzweig will statt dessen aufzeigen, daß Selbst-sein immer unabgeschlossen, weil immer das ganze Dasein ausmessendes Sein-Können ist. Verwundert es nach dieser dramatischen Nähe zu Heideggers Konzeption und Begrifflichkeit dann noch wirklich, wenn Rosenzweig das Bild des Rufes verwendet? »[…] aber wie sollte das Selbst heraustreten? Wer sollte es rufen?« 30 fragt er am Ende des ersten Teils seines Werkes, in dem er Sein, Sinn und Selbst anhand der Elemente Gott, Welt und Mensch beleuchtet.

II.4 »Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins« Geschieht das Fragen nach dem Sinn von Sein immer aus einem Seins-Verständnis und entsteht dieses wiederum aus einer Relation des Fragenden zu seinem Dasein, ist dessen Betrachtung für Heidegger von grundsätzlicher Bedeutung. Die Notwendigkeit, diese Voraussetzung aller Ontologie zu beleuchten, erspart ihm wohl einen Blick auf den Ursprung des Daseins, nicht jedoch auf dessen Beschaffenheit, die Gegenstand der angekündigten Fundamentalanalyse sein soll. Daß die Begriffe Dasein und Welt von Heidegger keineswegs synonym verwendet werden, hatte sich bereits gezeigt. Hier sei zur Erinnerung nur noch einmal auf deren inhaltliche Verschränkung hingewiesen. »[…] im Erkennen gewinnt das Dasein einen neuen 30

Der Stern der Erlösung, I,III, S. 89.

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Seinsstand zu der im Dasein je schon entdeckten Welt. […] Die ›Welt‹ phänomenologisch beschreiben wird demnach besagen: das Sein des innerhalb der Welt vorhandenen Seienden aufweisen und begrifflichkategorial fixieren.« 31 Daß sich für Heidegger im Gegensatz zu Rosenzweig die Frage nach Gott erübrigt, bedarf keiner erneuten Erklärung. In § 11 bis § 24 wendet sich Heidegger der Analyse von Welt zu. Stärker als bei Rosenzweig liegt der Fokus dabei auf der Überlegung, wie es Welt »gibt« 32, wie ›sich‹ Welt in ihrer Dinglichkeit gibt. Während sich im Stern der Erlösung nur wenige Hinweise auf den spezifischen Umgang des Menschen mit innerweltlich Seiendem finden, nehmen sie in Sein und Zeit als Untersuchungen der Zuhandenheit relativ weiten Raum ein. Im Mittelpunkt dieser Aufweisungen steht der Begriff der Bewandtnisganzheit, den Heidegger einführt, um die Frage beantworten zu können, »Wie […] Welt Zuhandenes begegnen lassen [kann].« 33 Hier wird noch einmal der Fundierungscharakter der Welt deutlich, aus dem sich Dasein erschließt, weil dieses sich – die Welt erschließend – zu dieser immer schon verhält. 34 Auch Rosenzweig hatte Dasein als erschlossene Form, zu sein, betrachtet, die auf dem Sein der Welt, das er als Da-sein bezeichnet, gründet. Heidegger faßt diesen Gedanken in die ebenso knappe, wie prägnante Formulierung: »Das Dasein ist seine Erschlossenheit.« 35 Erschlossenheit ist Verstehen, das er als eine Art, sich zu verhalten, deutet. Verhaltendes Sein ist kontextuelles Sein, an-greifbar, betroffen und gefordert im grundsätzlichen Bezug auf anderes – und das Selbst, wie sich gezeigt hat. Denn der Mensch, den Heidegger ausdrücklich nicht als Subjekt eines Erkenntnisaktes, sondern als Fragend-Seiendes bezeichnet, 36 verhält sich zu Zuhandenem ebenso wie zu Mitseienden und zu dem potentiellen Selbst, das er sein kann, das er jedoch zunächst nicht ist. 37 Das Formalisierungsemblem aller Arten der BeSein und Zeit, § 13, S. 62 f. Sein und Zeit, § 16, S. 72. 33 Sein und Zeit, § 18, S. 83. 34 »Das vorgängige Erschließen dessen, woraufhin die Freigabe des innerweltlichen Begegnenden erfolgt, ist nichts anderes als das Verstehen von Welt, zu der sich das Dasein als Seiendes schon immer verhält.« Sein und Zeit, § 18, S. 86. 35 Sein und Zeit, § 28, S. 133. 36 »Es ist daher keine Eigenwilligkeit in der Terminologie, wenn wir diese Titel [Subjekt, Seele oder Bewußtsein] ebenso wie die Ausdrücke ›Leben‹ und ›Mensch‹ zur Bezeichnung des Seienden, das wir selbst sind, vermeiden.« Sein und Zeit, § 10, S. 46. 37 »Das Dasein ist im Aufgehen in der besorgten Welt, das heißt zugleich im Mitsein zu den Anderen, nicht es selbst.« Sein und Zeit, § 26, S. 125. 31 32

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»Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins«

zogenheit, die Heidegger mit Ausdauer vorführt, ist der Begriff der Sorge. 38 Ganz gleich, ob diese in der Weise des Besorgens oder der Fürsorge erscheint, immer setzt sie eine Orientiertheit auf anderes voraus. Dabei legt Heidegger keinerlei Wert darauf, diese Tatsache zur Begründung einer ethischen Theorie zu nutzen. Es ist nicht an sich schon gut oder wertvoll, Fürsorge zu praktizieren, sondern es entspricht dem, was dem Menschen möglich ist. Der Aufbau des Sterns der Erlösung hatte gezeigt, daß Rosenzweig zunächst die drei Wirklichkeit konstituierenden Elemente jeweils für sich beleuchten wollte, um sie dann in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten. Eine solche perspektivische Differenzierung war erforderlich, weil es zu Beginn ihre funktionale Gleichwertigkeit für den Prozeß fortgesetzter Schöpfung zu erweisen galt. Gleichrangigkeit durch Separierung zu belegen, mag auf den ersten Blick widersinnig klingen, ist jedoch unverzichtbare Voraussetzung für Rosenzweig, wenn er veranschaulichen möchte, daß Schöpfung sich nicht im göttlichen Akt der Erschaffung der Welt erschöpft. Will er die drei großen Motivkreise der Religion – Schöpfung, Offenbarung, Erlösung – als aufeinander aufbauende Realisierungsmetaphern der Wirklichkeitsgestaltung präsentieren, ist es nachvollziehbar, daß er zunächst Schöpfung als Da-sein begreift, das Aufweisen der Tatsache, daß etwas ist. Dessen dynamische Relationalität erscheint dann unter dem Begriff der Offenbarung als Dasein und seine Gestaltung in der Zeit unter dem Gedanken der Erlösung. In Heideggers Terminologie erscheint eben dieses Erwirken des Möglichen als eigentliches Dasein oder Existenz. Dieser letzte Punkt wird noch zu erläutern sein, wobei speziell der Begriff des Seyns zu berücksichtigen ist. Die Konzeption des Sterns der Erlösung spiegelt damit Rosenzweigs Verständnis von Schöpfung als permanent und kontinuierlich, ausgehend von dem schon Da-seienden und die Möglichkeit des SeinKönnens voraussetzend. Rosenzweigs Text ist zentralperspektivisch auf die größtmögliche Verwirklichung des Möglichen im Dasein ausgerichtet. Darin unterscheidet er sich grundsätzlich von Sein und

»Wenn das Mitsein für das In-der-Welt-sein existenzial konstitutiv bleibt, dann muß es ebenso wie der umsichtige Umgang mit dem innerweltlich Zuhandenen, das wir vorgreifend als Besorgen kennzeichneten, aus dem Phänomen der Sorge interpretiert werden, als welche das Sein des Daseins überhaupt bestimmt wird.« Sein und Zeit, § 26, S. 121.

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Zeit, doch nur von diesem einen Text. Heideggers Schriften zwischen 1927 und 1937 vermitteln einen radikal anderen Eindruck. Um jedoch im Moment der Struktur der beiden Werke zu folgen, gilt es auf Heideggers Beantwortung der Frage nach dem »wer des Daseins« 39 zu schauen. In dieser ersten Annäherung geht es ihm um den Hinweis auf das stets gegebene gleichzeitige Mitdasein Anderer, deren bloße Vorhandenheit im Bezugsmodus der Fürsorge zu einem Dasein konstituierenden Element wird. »Als Mitsein ›ist‹ daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer. Das muß als existenziale Wesensaussage verstanden werden.« 40 Doch ebenso ursprünglich ist Dasein »umwillen« seiner selbst, oder besser: umwillen seines Selbst. Denn Heidegger weist nachdrücklich darauf hin, daß Dasein erst im Ergreifen seiner Seins-Möglichkeit ein sich zu sich selbst Verhaltendes werden kann. 41 Dieses Selbst-Verhältnis tritt dann in gewissem Umfang, den Heidegger in dieser Schrift jedoch nicht definiert, an die Stelle des zuvor bestehenden Verhältnisses zum Anderen, das nicht durch bezeugendes Ergreifen, sondern durch schlichtes gleichzeitiges Vorhandensein fundiert war.

II.5 »Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt« Während Heidegger in scheinbar strenger Formalisierung das »Wer des Daseins« bestimmt, fragt auch Rosenzweig nach dem Menschen, macht aber von Anfang an deutlich, daß dieser nicht nur da ist, sondern zu wirken vermag, eine Eigenschaft, die ihn besonders unter religiöser Perspektive auszeichnet. Denn als Wirkender wirkt der Mensch im Da-sein und setzt so das Werk der Schöpfung über den Augenblick hinaus fort. »[…] wo ist im Kreise der Schöpfung das ›Geschöpf‹, wo im Reiche der Philosophie der ›Gegenstand‹, der auf seinem Antlitz das sichtbare Siegel der Offenbarung trägt?« 42 In doppelter begrifflicher Andeutung weist Rosenzweig darauf hin, daß dem Menschen ein wesentliches Können eignet, das ihn befähigt, als Gestaltender der Welt den Moment zu transzendieren. Denn er setzt

Sein und Zeit, § 25, S. 114 Sein und Zeit, § 26, S. 123. 41 »Das Dasein ist im Aufgehen in der besorgten Welt, das heißt zugleich im Mitsein zu den Anderen, nicht es selbst.« Sein und Zeit, § 26, S. 125. 42 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121. 39 40

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»Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt«

die zunächst für sich bestehenden Dinge innerhalb der Welt in Relation zu einander und gibt ihnen dadurch erst ihre Bestimmung. Da dieser Gedanke für einen Vergleich mit Heideggers Begriff der Zuhandenheit wichtig ist, soll er, obwohl bereits im ersten Teil angesprochen, noch einmal kurz rekonstruiert werden. »Die Welt besteht aus Dingen, sie ist trotz der Einheit ihrer Gegenständlichkeit kein einiger Gegenstand, sondern eine Vielheit von Gegenständen, eben die Dinge. Das Ding besitzt keine Standfestigkeit, solange es alleinsteht. […] Es kann gezeigt werden nur im Zusammenhang mit andern Dingen; seine Bestimmtheit ist raumzeitliche Beziehung auf andere Dinge in einem solchen Zusammenhang.« 43

Wodurch entsteht aber der Zusammenhang, in dem ein Ding ›gezeigt‹ wird, was nichts anderes bedeutet, als daß es in seiner Eigenheit, die es mit anderem Seienden verbindet, aufgefaßt werden kann? Letztlich ist klar, daß nur der Mensch diese Setzung in ein Verhältnis vornehmen kann. Dieses setzt voraus, daß er das ihm Nächste in seiner jeweiligen Möglichkeitsstruktur versteht, wobei Rosenzweig tatsächlich diese erstaunliche Parallelität zu denken wagt: Das Nächste ist das »zu-nächst« Befindliche, Mensch und Ding gleichermaßen. Bevor diese Überzeugung näher betrachtet wird, soll noch einmal das menschliche Wirken in der Welt, sofern sie als gegenständlich begriffen wird, angesprochen werden. Denn in diesem Kontext zeigt sich einmal mehr eine bemerkenswerte Parallelführung religiösen und philosophischen Denkens. »Die Welt kann Fülle sein, weil sie da ist; das Dasein ist sie selbst, die Fülle ist ihre Erscheinung, die erste aller Aussagen über das Dasein. […] das Chaos ist in, nicht vor der Schöpfung; der Anfang ist – im Anfang.« 44 Wenn Chaos in der Schöpfung herrscht, ist es Aufgabe des Menschen, dieses zu gestalten. Über die hierfür erforderliche Kompetenz verfügt er, weil er versteht, was möglich ist, in der dinglichen ebenso wie in der individuellen Natur des Seienden. In Rosenzweigs tiefer sprachlicher Sensibilität umgreift der Ausdruck des Verstehens beide Bedeutungen – das intellektuelle Erfassen wie das hörende Begreifen. Denn sein Plädoyer für die Wirkmächtigkeit des Menschen, die selbst Schöpfung strukturiert, gesteht dieser natürlich kein willkürliches

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Der Stern der Erlösung, II,I, S. 148. Der Stern der Erlösung, II,I, S. 148.

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Agieren zu, das nach eigenem Wunsch und Bedürfnis das Vorhandene nutzt und vielleicht sogar mißbraucht. Verstehen meint hier vielmehr ein Gewahren der spezifischen Möglichkeiten, die in einem Wesen liegen, die es aber auch zu wahren gilt. 45 Schöpfung ist Erscheinung, so besagt obige Formulierung. Spätestens jetzt wird nachvollziehbar, wie bedeutsam der Bildkomplex des Erscheinens im Stern der Erlösung ist. Denn er umfaßt den philosophischen Terminus der Erscheinung und zugleich den religiösen Begriff des Offenbarens. Zeigt Rosenzweig, daß das Wirken des Menschen Schöpfung fortsetzt, so geht diesem das Erschließen des Möglichen, das im Sein verschlossen besteht, voraus. Erschließen ist also mehr als ein intellektuelles Erhellen, da es stets die Aufforderung, im Sinne des Erschlossenen zu wirken, impliziert. In Heideggers Konzeption von Erschlossenheit und Entschlossenheit wird sich dieser Gedanke in erstaunlicher Nähe finden. Seiendes, die Fülle, wie Rosenzweig schreibt, besteht zunächst unstrukturiert und beziehungslos. Sein ist Wirken. Wirken ist Verstehen. Wie bedeutsam dieser Vorgang tatsächlich ist, veranschaulicht Rosenzweig dadurch, daß er ihn der göttlichen Offenbarung analog betrachtet. »Indem sich der Mensch zum ganzen Menschen erschließt, ist er nun unmittelbar sichtbar und hörbar geworden.« 46 Noch einmal sei auf die Entwicklung des Selbst verwiesen. Als stumme Insichgekehrtheit hatte Rosenzweig es bezeichnet, zwar schon gesammelt, konzentriert in sich, doch noch bindungslos, einsam. In der liebenden Hinwendung zu Gott öffnet es sich, doch nur dem Einzigen gegenüber. Erst in der Liebe zum Nächsten erschließt sich das Selbst ganz. 47 Erst jetzt öffnet es sich dem Anderen gegenüber rückhaltlos, 48 was zugleich bedeutet, daß es sich ihm zu erkennen gibt, als das liebende Selbst. Sich der Erfahrung des Anderen zu öffnen – nichts anderes heißt für Rosenzweig, sich zu offenbaren. 49 Das in sich Ver»Sein Wesen, das es [das Ding] hat, ist nicht in ihm, sondern ist die Beziehung, die es auf seine Gattung hat; […].« Der Stern der Erlösung, II,I, S. 148. 46 Der Stern der Erlösung, II,III, S. 233. 47 »Das Selbst mußte aus seiner Stummheit zum redenden Selbst werden.« Der Stern der Erlösung, II,III, S. 232. 48 »Die Liebe zu Gott soll sich äußern in der Liebe zum Nächsten« Der Stern der Erlösung, II,III, S. 239. 49 »[…] die innere Umkehr. Und eben die geschieht dem Menschen, wie sie Gott und Welt geschieht, indem sie aus ihrer vor- und unterweltlichen Verschlossenheit ins Licht der Offenbarung steigen.« Der Stern der Erlösung, II,III, S. 238. 45

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»Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt«

schlossene öffnet sich, wird offenbar. Für den weiteren Zusammenhang ist eine Äußerung Rosenzweigs besonders interessant: »Auch alles Wirken geht ja in die Zukunft, und der Nächste, den die Seele sucht, ist ihr immer bevor-stehend und wird nur in dem grade augenblicklich vor ihr stehenden vorweg-genommen. Wachsen wie Wirken werden durch solche Vorwegnahme ewig. Was aber ists, was sie vorwegnehmen? Nichts andres als – einander.« 50

Das Bevorstehen präsentiert Rosenzweig hier in prägnanter Doppeldeutigkeit. Zum einen ist es Ausdruck des noch nicht Realisierten, zum anderen Bild des gegenüber Stehenden. Es hatte sich gezeigt, daß der Nächste derjenige ist, der dem Menschen zu-nächst steht, und nicht nur der andere Mensch, sondern sogar das andere Ding kann in Rosenzweigs Sicht diesen Platz ausfüllen und Referenzobjekt menschlichen Wirkens werden. In dem speziellen Gebrauch des Begriffes ›Bevorstehen‹ bestätigt sich noch einmal bereits Angedeutetes, nun aber unter neuer Perspektive. Die Hinwendung zum Anderen, zum Mitseienden und zum Zuhandenen, stellt die entscheidende Wirkweise des Menschen dar, durch die er Schöpfung immerwährend fortsetzt. Zugleich verweist der Gedanke der Vorwegnahme, die aus dem Bevorstehen folgt, auf die Möglichkeit, nicht nur Schöpfung fortzusetzen, sondern Erlösung vorzubereiten. »Das in Tat und Bewußtsein ganz dem augenblicklich Nächsten zugewandte Wirken der Seele nimmt bei diesem Wirken doch im Wollen alle Welt vorweg. Und das Wachsen des Reichs in der Welt, wenn es hoffend das Ende schon für den nächsten Augenblick vorwegnimmt – auf was wohl wartet es für diesen nächsten Augenblick, wenn nicht auf die Tat der Liebe?« 51 Denn der Nächste als der nächst Stehende ist nicht etwa beliebiger Empfänger liebender Zuneigung, sondern Repräsentant des »alle Welt«. 52 Nicht Beliebigkeit, sondern Gleichwertigkeit gilt es hier zu zeigen, denn nur in ihr findet Rosenzweig die Möglichkeit, den Gedanken des Volkes in seine Darstellung einzubinden. Könnte es nun so wirken, als würde er damit dem Wert Der Stern der Erlösung, II,III, S. 254. Der Stern der Erlösung, II,III, S. 254. 52 »Die absolute Tatsächlichkeit, die für die Welt der Erlösung daraus hervorwächst, daß hier jeder grade mir Nächste mir vollgültig alle Welt vertritt, gewinnt nun in der Schlußstrophe des Gesanges, in der sich die zu Anfang einzeln wechselseitig jede die andern zum Danken auffordernden Stimmen zum mächtigen Unisono des ›Wir‹ einigen.« Der Stern der Erlösung, II,III, S. 263. 50 51

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von Individualität eine Absage erteilen, da letztlich alles Wirken des Menschen, ja sogar seine Liebesbezeugung, immer nur dem Ganzen gilt, dessen Stellvertreter der Nächste im einzelnen Augenblick ist, macht es Sinn, noch einmal an Rosenzweigs Definition des Menschen zu erinnern. Diese hatte er nicht in der Kennzeichnung einer Eigenschaft, sondern einer Befähigung gesehen, der Befähigung, zu wirken. Dort hatte er vom Eigenen gesprochen, das doch zugleich allen ›zu eigen‹ ist. Diese Feststellung greift er nun auf, wenn er schreibt: »Aber welche Reihenfolge in dieser Weltwanderung eingehalten wird, das ist ganz unbestimmt. Immer antwortet dem Weckruf die nächste Stimme; welche das ist, das steht nicht in der Wahl des Weckers; er sieht immer nur das Nächste; nur den Nächsten. […] welches und ein wie beeigenschaftetes Etwas aus der Fülle des Etwas sich ihm bieten mag, das ist ihm gleichgültig; genug, er weiß, daß jedes Etwas ihm in seiner Eigenschaftlichkeit und Eigenartigkeit durch die Kraft seiner ihm selber entquellenden Tat zum Einzigartigen, Subjektiven, Substantivischen werden kann.« 53

Auch wenn es Rosenzweigs Absicht ist, die Gleichwertigkeit des Nächsten, jedes Nächsten zu akzentuieren, können diese Zeilen doch Irritation auslösen. Denn hatte er nicht in der Einleitung seines Sterns der Erlösung so offensichtlich mit dem Denken Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches sympathisiert, das dem Einzelnen gelten sollte, endlich, nach einer zweitausendjährigen Geschichte philosophischer Vernachlässigung? Liegt hier ein Widerspruch, oder zumindest eine gedankliche Unvereinbarkeit vor? Der erste Eindruck sollte nicht zu übereiltem Urteil verleiten. Es ist nicht das Gegenübertreten des Nächsten, das seine Besonderheit garantiert, sondern sein Erkanntwerden als der Nächste. In der Relation der Zuneigung wird er zum Besonderen, aus dem ›Eigenartigen‹ zum ›Einzigartigen‹. Daß Eigenheit dem Menschen nicht aufgrund seiner Individualität zugesprochen wird, sondern in Anerkennung einer Eigenschaft, die jedem Menschen zukommt, hatte sich bereits gezeigt. Auch hieran wird jedoch deutlich, daß das Verbindende zwischen Menschen Rosenzweig stärker interessiert, als mögliches Unterscheidendes – kein Wunder, wenn seine Aussagen zum Wesen der menschlichen Gemeinschaft gelesen werden, die durch Blutsverbindung entsteht. Seine Begründung der Besonderheit des jüdischen Volkes gilt es noch zu betrachten. Dort vertritt er sehr wohl die Vorstellung der Diffe-

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Der Stern der Erlösung, II,III, S. 262.

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»Das In-Sein als solches«

renzierung, die dieses eine und einzige Volk charakterisiert, einer Besonderheit, die die Gemeinschaft kennzeichnet. Diese ist keine beliebige Zusammenkunft Verschiedener, sondern durch die gemeinsam erlebte und erlittene Geschichte bedingte Bruderschaft. Sie existiert in dieser Welt, ist aber zugleich auf eine noch bevorstehende Existenz fokussiert. Die Liebe zum Nächsten, in der sich laut Rosenzweig die Liebe zu Gott aktualisiert, verwirklicht bereits partiell eine Vorbereitung dieser kommenden Realität, wird also immer schon in der Perspektive eines Seins der Gemeinschaft gedeutet. Am Übergang zum nächsten Blick auf Heideggers Sein und Zeit kann also festgehalten werden, daß das Selbst, das Rosenzweig als äußersten Ausdruck des Sein-Könnens des Menschen wertet, ein kollektives Ideal ist. Es könnte hieraus die Frage formuliert werden, wie realistisch denn generell der Anspruch existentiellen Denkens ist, dem Einzelnen zu gelten – eine Überlegung, die hier jedoch nicht weiter verfolgt werden kann. Rosenzweig zeigt, daß eigentliches Selbst-Sein eine Weise zu sein ist, die durch extreme Bezogenheit auf den Anderen auffällt. Im Selbst-Sein verwirklicht sich die Möglichkeit des Seins in Relation, denn das Selbst separiert sich nicht vom Anderen, sondern verweist sich explizit auf ihn. Damit dieses stattfinden kann, muß sich dem Menschen zuvor das Miteinander als Möglichkeit erschlossen haben. In Rosenzweigs Sicht liegt hierin der Sinn der Offenbarung.

II.6 »Das In-Sein als solches« Ab § 28 führt Heidegger einen weiteren Formalisierungsschritt 54 durch, in dem er die Erträge der bisherigen Darstellung auf ihre allgemeine phänomenologische Struktur hin befragt. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht, geleitet durch die Suche nach dem Sinn von Sein, die Überlegung, ob das Dasein als Ganzes erfaßt werden kann. Dessen Möglichkeit ist Voraussetzung der Seins-Frage. Weil Heidegger diese aber ausschließlich innerweltlich zentriert, da er die Annahme einer anderen Realität für unsinnig hält, muß er das BeDie Begriffe der Formalisierung und der Konzeptualisierung werden in diesem Kontext synonym verwendet, wobei zu berücksichtigen ist, daß beide keine Verallgemeinerung anzeigen, sondern das Aufdecken einer Tiefenstruktur des Seins, die begrifflich kenntlich gemacht wird.

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greifen der Ganzheit aus dem Geschehen in der Welt entwickeln. Formal tritt damit das »In-Sein als solches« in den Fokus. Erkennbar wird es in Form der Bezüge von Seiendem zu- und aufeinander. In diesem Teil seiner Schrift will Heidegger diese nun nicht als Möglichkeiten betrachten, die unreflektiert stets im alltäglichen Dasein genutzt werden, sondern als generelle Kennzeichen des Sein-Könnens, die ein Mensch erfaßt und wählt. Das immer schon zugrundeliegende Seins-Verständnis, das er im ersten Teil in verschiedenen Aktivitätsweisen des Menschen nachgewiesen und unter dem Begriff der Sorge subsumiert hatte, bezog sich als pragmatisches Verstehen doch stets auf situative Anwendung. Zwar weisen die Bezeichnungen der Zuhandenheit und der Fürsorge bereits auf erste Formalisierungstendenzen hin, doch ist in dieser vorbereitenden Thematisierung noch nicht deren Relevanz für die Frage nach der Ganzheit des Seins berücksichtigt worden. Diese rückt mit der Betrachtung des Selbst-seinkönnens in den Vordergrund, denn nur dem Menschen, 55 der diese Möglichkeit begreift, erschließt sich die Ganzheit des Sein-Könnens, und indem er die Möglichkeit ergreift, zeigt sich in der Entschlossenheit das Ganze des Seins. Im Folgenden gilt es somit, den Zusammenhang von Er- und Entschlossenheit zu beleuchten, der sich in der Weise, eigentlich Selbst zu sein, ausdrückt. In Rosenzweigs Stern der Erlösung hatte sich die Verwirklichung des Selbst-sein-Könnens als ein Prozeß gezeigt, der durch drei wesentliche Phasen gekennzeichnet werden kann: Verstehen, Vereinzelung und Zuwendung. Der Mensch, zunächst noch ganz eingebunden in das Geschehen der Welt, kann durch eine Erfahrung aus diesen scheinbar selbstverständlichen Bindungen herausgerissen werden, vom Selbst überfallen werden, wie Rosenzweig schreibt. Diese Erfahrung zeichnet sich dadurch aus, daß sie Gefühl, Selbsterkenntnis und Verstehen gleichermaßen ist. Aufgerufen zur Liebe erfährt sich ein Mensch als Gerufenen und begreift in dieser extremen Form der Beziehung zugleich existentielle Bezogenheit als Wesen des Seins. In der liebenden Zuwendung zum Nächsten verwirklicht er das Erkannte und trägt damit dazu bei, Wirklichkeit zu schaffen, über den Augenblick hinaus, denn die Liebe realisiert sich immer, doch immer von Neuem. Schöpfung offenbart sich als allzeiterneuertes Sein; Sein erschließt sich in seiner Ganzheit. Heidegger vermeidet es auch in diesem Kontext weitgehend, vom Menschen zu sprechen.

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»Das In-Sein als solches«

Eine erstaunlich ähnliche Konzeption des Selbst-sein-könnens präsentiert Heidegger in Sein und Zeit. Dabei scheint es auch für ihn außerordentlich wichtig zu sein, einen Weg zur Dynamisierung der Erschlossenheit aufzuzeigen. Diese soll nicht als letztes ontologisches Ziel ausgewiesen werden, das es für einen Menschen zu erreichen gilt, zumindest nicht, wenn es folgenlos für die Realisierung der Seins-Möglichkeit insgesamt bliebe. So sehr Heidegger auch immer wieder darauf hinweist, daß er seine Schrift als Fundamentalontologie verstanden wissen will, bleibt doch die Frage nach der Bedeutung von Erschlossenheit im Gesamt des Daseins bestehen. Ohne diese Voraussetzung wäre allein die Akzentuierung der Sorge als »Ganzheit des Strukturganzen der Daseinsverfassung« 56 hinfällig. Sorge ist das Formalisierungsemblem der Bezogenheit, die wiederum in durchaus unterschiedlichen Artikulationen erfaßt werden kann. Es ist eines, besorgend mit Zuhandenem zu hantieren, etwas anderes, sich fürsorgend einem anderen Menschen zuzuwenden. Nun wäre es schwierig, auch die liebende Zuneigung zum Nächsten, die Rosenzweig so stark gewichtet, unter der Formalisierung der Sorge zu fassen. Oder nicht? Zur Erinnerung sei noch einmal die bereits zitierte Aussage Rosenzweigs angeführt, in der er das Verhalten zum Nächsten als Vorwegnahme von Zukunft deutet: »Auch alles Wirken geht ja in die Zukunft, und der Nächste, den die Seele sucht, ist ihr immer bevor-stehend und wird nur in dem grade augenblicklich vor ihr stehenden vorweg-genommen. Wachsen wie Wirken werden durch solche Vorwegnahme ewig. Was aber ists, was sie vorwegnehmen? Nichts andres als – einander.« 57

Was wird aus diesem Gedanken, wenn er auf die ihm zugrundeliegende Struktur hin befragt wird? In der konkreten Form, in der ihn Rosenzweig faßt, verweist das »Vorwegnehmen« auf die vorgreifende Verwirklichung des Reiches. Dieses stellt in seiner Interpretation keinen kompletten Gegenentwurf zur erfahrbaren Welt dar, in dem deren Bestimmungen aufgehoben würden, sondern es erscheint als zu Erwartendes, das gleichwohl im Maße der Verwirklichung der Seins-Relation der Nächstenliebe Da-sein zu transformieren vermag. Reich gründet in der Welt, das Mögliche im Konkreten, das den Augenblick Transzendierende in der Zeit. 56 57

Sein und Zeit, § 45, S. 233. Der Stern der Erlösung, II,III, S. 254.

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Die explizite Betonung der elementaren Bedeutung von Welt teilt Heidegger mit Rosenzweig, deutet diese aber in strikter Formalisierung: »Die formal existenziale Ganzheit des ontologischen Strukturganzen des Daseins muß daher in folgender Struktur gefaßt werden: Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in(der-Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein ontologischexistenzial gebraucht wird.« Und etwas später heißt es: »Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzialontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten.« 58 Daß es sich bei diesen Möglichkeiten nicht um pragmatische Entscheidungen im Alltäglichen handelt, wird aus ihrer Kennzeichnung als ›eigentlich‹ ersichtlich. Es geht Heidegger darum, Sein zwar aus seiner Bedingtheit als Sein in der Welt zu verstehen, diese aber zugleich als Bedingung des Sein-könnens zu interpretieren. Im ersten Schritt wird Sein begründet, im zweiten als Option ausgesetzt. Hierin bestätigt sich noch einmal die Bedeutung des Begriffes Eigentlichkeit. Er bezeichnet keine Eigenschaft, sondern eine Seins-Möglichkeit. Diese kann ergriffen oder verfehlt, aber niemals als Möglichkeit des Seins geleugnet werden. Obige Formulierung Heideggers benennt mit den drei Charakterisierungen des ›Seins-in‹, des ›Sich-vorweg‹ und des ›Seins-bei‹ die Strukturmerkmale des Daseins. Daß hierzu auch das ›Sein-mit‹ Anderen zu zählen ist, hatte er bereits gezeigt. In der allgemeinen Form kann dieser Ausdruck auch als Strukturmerkmal der Relation zum Nächsten gelesen werden. Der Begriff der Sorge kann damit problemlos auch in diesem Kontext zur Anwendung kommen. Im § 42 von Sein und Zeit findet sich nun etwas durchaus Unerwartetes. Zum Beleg seiner »Herausstellung der Sorge als Sein des Daseins« präsentiert Heidegger eine Fabel, die er immerhin als »vorontologischen Beleg für die existenzial-ontologische Interpretation des Daseins als Sorge« tituliert. 59 Welche Beweiskraft kann einem solchen Zeugnis zukommen, die nicht durch die fundamentalontologische Analyse bereits ausgedrückt worden wäre? Die Deutung, die Heidegger diesem kleinen Text gibt, zeigt nicht wirklich Neues. »Die perfectio des Menschen, das Werden zu dem, was er in seinem 58 59

Sein und Zeit, § 41, S. 192 f. Sein und Zeit, § 42, S. 197.

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»Das In-Sein als solches«

Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf) sein kann, ist eine ›Leistung‹ der ›Sorge‹. Gleichursprünglich bestimmt sie aber die Grundart des Seienden, gemäß der es an die besorgte Welt ausgeliefert ist (Geworfenheit). Der ›Doppelsinn‹ von ›cura‹ meint eine Grundverfassung in ihrer wesenhaft zweifachen Struktur des geworfenen Entwurfs.« 60 Bedingtheit und Ermöglichung, die »vorontologische Wesensbestimmung des Menschen« drücken sich also in der Fabel aus, und damit auch das In-der-Welt-sein und die Zeit, denn alle Sorge ist in die Zukunft wirkendes Geschehen. In dieser Aussage faßt Heidegger den gesamten Inhalt seines Werkes in komprimierter Form zusammen, wodurch die konzeptionelle Relevanz dieser ungewöhnlichen Textquelle einsichtig wird. Es bleibt damit jedoch die Frage unbeantwortet, warum ein Denker, der in seiner Darstellung so penibel auf die korrekte Einhaltung der gewählten Methode achtet, ein einziges Mal deren Legitimierungsrahmen überschreitet? In der Sorge, so hatte sich gezeigt, findet eine Vorwegnahme des Möglichen statt, wodurch Zukünftigkeit als Modus der Gegenwart erfahrbar wird. Ein Blick zurück auf den Stern der Erlösung ergibt einen erstaunlichen Befund. Im zweiten Teil fügt Rosenzweig eine kurze, aber aufschlußreiche Betrachtung des Hohelieds Salomons ein, des »Kernbuches der Offenbarung«, wie er es nennt. Dabei interessiert ihn besonders eine exegetische Frage, die der möglichen Identität von Hirte und König gilt. Auf eine bestimmte Deutung der entsprechenden Verse hinweisend schreibt er: »[…] schon da überhöht einen sinnlichen Sinn eine übersinnliche Bedeutung; den Hirten, welcher der Bräutigam ist, der König, als den er sich fühlt. […] Alles Vergängliche mag nur ein Gleichnis sein; aber die Liebe ist nicht ›nur‹, sondern ganz und gar und wesentlich Gleichnis; denn sie ist nur scheinbar vergänglich, in Wahrheit aber ewig.« 61 Rosenzweig nutzt den Text, vorontologisch allemal, zur Illustrierung einer Transformation des vergänglichen Seins in das unvergängliche Sein-können, wie es seiner Auffassung nach durch das immer wieder neue Geschehen der Liebe erwirkt wird. Der Hirte als Liebender erscheint wesentlich verwandelt im Bilde des Königs. Damit realisiert sich die Vorwegnahme des Zukünftigen in einer Gestalt des Augenblicks. Nun könnte bemerkt werden, daß Rosenzweig in 60 61

Sein und Zeit, § 42, S. 199. Der Stern der Erlösung, II,II, S. 224.

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der Wahl seiner Methode keineswegs die strikte Konzentration Heideggers anwendet. Beispiele und Bezüge ganz unterschiedlicher Provenienz werden in die Darstellung eingebunden, was den Anschein des Literarischen, den der Stern der Erlösung bisweilen erwecken kann, noch intensiviert. So überrascht es in diesem Text weitaus weniger, daß Rosenzweig auf das Hohelied zu sprechen kommt. Doch sei noch einmal die Funktion dieser Verweisung betrachtet. Auch in diesem Fall drückt sich in dem Dargestellten der zentrale Gedanke der gesamten Schrift aus. Durch die Liebe ›verunendlicht‹ sich die Schöpfung und wird zum Immerwährenden. Liebe und Sorge repräsentieren in den Konzeptionen von Rosenzweig und Heidegger die eine entscheidende Möglichkeit, Zukunft zu erwirken. Daß beide Begriffe unterschiedlichen Begründungskontexten entstammen, sollte nicht täuschen – sie haben im Gesamt der Untersuchungen jeweils exakt dieselbe Funktion. Und beide drücken die existentielle Eigenschaft und Eigenheit des Menschen aus, den Augenblick zu transzendieren, nicht als Produkt wissenschaftlicher Analyse, sondern als Verstehen der Wahrheit des Seins. Vielleicht ist es der Rückgriff auf diese eine Wahrheit, die vor aller Befragung des Seins dessen Sinn konstituiert, die beide Denker zur Einbindung eines »vorontologischen Zeugnisses« veranlaßt hat. In der grundsätzlichen Weise, die keines Beweises bedarf, sondern durch das bloße Aussprechen Sein in seinem Sein-können bezeugt, verweisen beide Texte auf Wahrheit. Daß diese in Rosenzweigs Verständnis nicht intellektueller, sondern existentieller Natur ist, hatte sich bereits abgezeichnet. Und bei Heidegger? »Wahrheit setzen ›wir‹ voraus, weil ›wir‹, seiend in der Seinsart des Daseins, ›in der Wahrheit‹ sind. Wir setzen sie nicht voraus als etwas ›außer‹ und ›über‹ uns, zu dem wir uns neben anderen ›Werten‹ auch verhalten. Nicht wir setzen die ›Wahrheit‹ voraus, sondern sie ist es, die ontologisch überhaupt möglich macht, daß wir so sein können, daß wir etwas ›voraussetzen‹.« 62

Wahrheit erweist sich nicht als Produkt logischer Operation oder rationalen Urteilens. Sie kann vielmehr als Bestimmung des Seins aufgefaßt werden, das sich im Moment des Erschließens von Wahrheit als Sein-können offenbart. Sie wird damit unmittelbar an die Mög-

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Sein und Zeit, § 44,c), S. 227 f.

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lichkeitsstruktur des Seins gebunden, 63 die sie erscheinen läßt, ohne die es aber auf der anderen Seite unsinnig wäre, überhaupt von Wahrheit zu sprechen. Zentrales Merkmal des heideggerschen Seins-Verständnisses, das sich im Begriff der Wahrheit exemplarisch ausdrückt, ist damit die Zeitlichkeit des Daseins, nicht als vage Vorstellung von Zukunft, sondern als Kennzeichen gegenwärtigen Seins-Entwurfes verstanden. Mit dieser Auffassung hängt der Versuch, das Ganze des Daseins zu erfassen, unmittelbar zusammen. »Das bedeutet jedoch: überhaupt einmal die Frage nach dem Ganzseinkönnen dieses Seienden aufzurollen. Im Dasein steht, solange es ist, je noch etwas aus, was es sein kann und wird.« 64 Es scheint nun einiges dagegen zu sprechen, ein »Ganzseinkönnen« des Daseins zu denken, da es niemals Gegenstand des Erlebens werden kann. Der Tod schließt die Möglichkeit, Dasein als eine Aneinanderreihung von Erfahrungen zu begreifen, aus. Wäre damit das letzte Wort in besagter Frage gesprochen und das Ganze des Seins niemals zu begreifen, würde auch die Frage nach dessen Sinn hinfällig. Denn deren Beantwortung setzt voraus, das betrachtete Phänomen in seiner Gesamtheit vergegenwärtigen zu können. Für Heidegger entsteht somit eine Notwendigkeit, die für Rosenzweig nicht in vergleichbarer Weise gegeben war: Will er das Sein aus dessen Zeitlichkeit deuten, muß er nachweisen, daß sich dessen Sinn trotz und sogar gerade erst aus der Zeitlichkeit erschließt. In einem ersten Ansatz heißt es dazu: »Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.« 65 Die Deutung des Todes als etwas, das es zu übernehmen gilt, konzentriert Dasein also nicht auf dasjenige, das es nicht einschließt, sondern auf sich selbst. Zum Dasein gehörig erweist sich der Tod als eigentliches Sein und seine Annahme als Realisierung des eigenen Sein-könnens. Freilich ist es nicht Heideggers Intention, hier in ein pathetisches Plädoyer für das Ertragen des Unabänderlichen zu verfallen. Stolzer Widerstand und leidenschaftliches Trotzen sind nicht

»›Wahrheit‹ voraussetzen meint dann, sie verstehen als etwas, worumwillen das Dasein ist. Dasein aber – das liegt in der Seinsverfassung der Sorge – ist sich je schon vorweg.« Sein und Zeit, § 44,c), S. 28. 64 Sein und Zeit, § 45, S. 233. 65 Sein und Zeit, § 48, S. 245. 63

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seine Sache. Es sieht also so aus, als müsse er den gerade formulierten Gedanken ontologisch fundieren. Aber muß er es wirklich? Besteht tatsächlich noch immer Bedarf, die Übernahme des Todes als Möglichkeit des Selbst-Sein-könnens zu belegen? Er hatte doch bereits gezeigt, daß es sich bei Dasein um Sein handelt, dem es in seinem Sein um es selbst geht. Unter Verweis auf die Sorge als Strukturmerkmal des Daseins konnte dessen Ausrichtung auf ein zeitliches Noch-nicht erklärt werden. Und mit vorontologischem Zeugnis hatte Heidegger zudem die Sorge als Wesensmerkmal des Menschen bezeichnet. Was läge also näher, als nun festzustellen, daß es dem Menschen gemäß ist, sich um sein Sein zu sorgen, und da dieses immer durch ein Noch-Ausstehen gekennzeichnet sei, auch dessen Übernahme zur Bestimmung des Daseins zu erklären? Die sich durch alle bisherigen Überlegungen ziehende Frage nach dem Ganzsein des Daseins wäre auf der Grundlage des so denkbaren eigentlichen »Selbstseinkönnens« zu beantworten. Denn das Ganze wäre so nicht das Ganze des Daseins, sondern das Ganze, das ein Mensch in seinem Dasein zu übernehmen vermag. Warum fordert Heidegger eine »Bezeugung« dieser außerordentlichen Möglichkeit? Und warum wählt er für deren Erläuterung den Themenkomplex von Ruf, Schuld und Gewissen? Das Selbst, das sich als ›Wer des Daseins‹ erwiesen hat, 66 ist als solches durch sein wesentliches sich-Bevorstehen bestimmt. In psychologischer Konnotation wäre hier davon zu sprechen, daß es einer Entwicklung fähig ist, die es aus einem unreflektierten Dasein zu eigentlichem Existieren führt. Auch wenn Heidegger diese Ebene der Erläuterung explizit nicht betreten will, bleibt die Tatsache erwähnenswert, daß das Selbst eine Phase der Erschließung durchläuft, die es aus der Verlorenheit an das Man zum eigenen Sein-können führt. Um den phänomenologischen Nachweis dieser Erschließung geht es. »Das Gewissen gibt ›etwas‹ zu verstehen, es erschließt. […] Die eindringlichere Analyse des Gewissens enthüllt es als Ruf. […] Der Gewissensruf hat den Charakter des Anrufs des Daseins auf sein eigenstes Selbstseinkönnen und das in der Weise des Aufrufs zum eigensten Schuldigsein.« 67

66 »Mit dem Ausdruck ›Selbst‹ antworteten wir auf die Frage nach dem Wer des Daseins.« Sein und Zeit, § 54, S. 267. 67 Sein und Zeit, § 54, S. 269.

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Unvorbereitet ist dieser Gedanke keineswegs, da Heidegger bereits an früherer Stelle Befindlichkeit, Verstehen, Verfallen und Rede als Konstituentien der Grundverfassung des Daseins genannt hatte. 68 Auch ist das Motiv des Ansprechens als reales oder imaginiertes Geschehen zur Illustrierung einer Selbst-Reflexion des Menschen generell nicht ungewöhnlich. Speziell in religiösem Kontext findet es sich, wobei dann allerdings klar zu sein scheint, daß Rufender und Gerufener nicht identisch sind. So verwundert es nicht im mindesten, daß auch Rosenzweig diese Form der erschließenden Aufforderung nutzt, um zu beschreiben, wie einem Menschen die Ahnung seines Selbst-sein-könnens vermittelt wird. Heidegger stellt unmißverständlich fest, daß es keiner externen Instanz bedarf, um das Phänomen des Rufes zu erklären, sondern daß der Ruf aus dem Dasein selbst stammt. 69 Ruf und Gewissen können also als Analogien für einen Übergang verstanden werden, in dem sich bislang nicht Offensichtliches erschließt. Dieses trifft in ganz besonderem Maße von der Einsicht in das, was dem Menschen möglich ist, zu. Denn in all den Verdeckungen, Verdunkelungen und Ablenkungen, die Heidegger einem vom Man dominierten Dasein zuschreibt, vermag sich die Erkenntnis dessen, was das Dasein tatsächlich auszeichnet, oftmals kaum durchzusetzen. Gewissen-haben-können ist die Voraussetzung dafür, daß sich ein Mensch auf sein ›Eigentlich‹ konzentriert; den Ruf des Gewissens zu verstehen, bezeugt diese Möglichkeit im Moment ihrer Realisierung. 70 Zeigt die Befragung des Daseins, daß der Mensch empfänglich dafür ist, sich auf sein eigentliches Sein-können aufmerksam machen zu lassen, ist ›Gewissen‹ das Phänomen, in dem Heidegger diese Möglichkeit bestätigt sieht. Klar lehnt er jedoch die Annahme ab, das Gewissen reagiere auf bestehende ethische Normierungen, denen menschliches Handeln folgt oder denen es sich verweigert. Es ist kein Indikator regelwidrigen Verhaltens und kann daher nicht den Begriff der Schuld begründen, den Heidegger verwendet. Auch diese interpretiert er nicht als Indiz moralischen Versagens, sondern als Kennzeichen existentieller Möglichkeit. »Das Schuldigsein resultiert nicht erst aus einer Verschuldung, sondern umgekehrt: diese wird erst möglich ›auf Grund‹ eines urEr selbst verweist hierauf, Sein und Zeit, § 54, S. 269. Sein und Zeit, § 57, S. 278. 70 »[…] das Gewissen als eine im Dasein selbst liegende Bezeugung seines eigensten Seinkönnens […].« Sein und Zeit, § 57, S. 279. 68 69

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sprünglichen Schuldigseins.« 71 Und: »Die formal existenziale Idee des ›schuldig‹ bestimmen wir daher also: Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.« 72 Zur Erläuterung dieses Gedankens greift Heidegger auf die Vorstellung der Geworfenheit zurück, die er als grundlose Begründung des Daseins eingeführt hatte. Der Mensch kann nicht Grund seines Seins, wohl aber seines Existierens sein, muß dieser sogar sein, weil nur auf ihn die Verwirklichungsformen seines Sein-könnens zurückzuführen sind. 73 Da diese jedoch Formen des Möglichen sind, dieses aber immer zukünftig ist, »bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es ist nie existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als dieser.« 74 Aber erklärt dieser Gedanke wirklich die Verwendung des Schuld-Begriffes? Heidegger weist darauf hin, daß »schuldig« immer als Prädikat des »›ich bin‹« »auftaucht«. 75 Dieses ›ich bin‹ ist nun nicht nur eine Seins-Aussage, in der ein Mensch sein Dasein artikuliert. Es ist vor allem eine Seins-Bezeugung, in der die Bestimmung des Daseins, seine eigene Möglichkeit zu sein, das heißt sich ständig auf Zukunft hin zu entwerfen, ausgesagt wird. Heidegger hatte ja gerade diese Bezeugung des Seins gefordert, diese Selbstbekundung des Daseins, in der es sich als zukünftig Seiendes ausweist. Daher kann das Schuldig-sein über den Menschen von niemand anderem als ihm selbst verhängt werden, weil sich in dieser Selbstaussage die Erschlossenheit des Seins als Verstehen seines Sinnes bestätigt. Diese Bestätigung bezeichnet Heidegger mit dem Begriff der Entschlossenheit. Um diesen Zusammenhang von Selbstaussage und Bezeugung des Sein-könnens zu verdeutlichen, bietet sich ein Blick auf jene Passage im Stern der Erlösung an, in der Rosenzweig von der Scham spricht. Auch er geht davon aus, daß das Selbst in der Lage ist, sich als Gerufenes zu begreifen. Dabei handelt es sich nicht primär darum, den Ruf zu vernehmen, der von Gott als dem Liebenden ergeht, sondern darum, daß sich das Selbst aufgerufen fühlt. Das Selbst des Sein und Zeit, § 58, S. 284. Sein und Zeit, § 58, S. 283. 73 »[…] seinkönnend steht es [das Dasein] je in der einen oder anderen Möglichkeit, ständig ist es eine andere nicht und hat sich ihrer im existenziellen Entwurf begeben. Der Entwurf ist nicht nur als je geworfener durch die Nichtigkeit des Grundseins bestimmt, sondern als Entwurf selbst wesenhaft nichtig.« Sein und Zeit, § 58, S. 285. 74 Sein und Zeit, § 58, S. 284. 75 Sein und Zeit, § 58, S. 281. 71 72

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Menschen hatte Rosenzweig durch seine Bindungslosigkeit gekennzeichnet. In radikaler Vereinzelung existiert das Individuum zwar schon bei sich, doch noch nicht beim Anderen. Die Ausweitung seiner Aufmerksamkeit hat noch nicht stattgefunden. Sie basiert auf seiner Bereitschaft, sich anzuschließen und damit die Möglichkeit des Daseins selbst zu erschließen, Sein in Relation zu sein. Erst wenn Gott den Menschen anspricht und ihn zur Liebe auffordert, kann diese Öffnung des Selbst gelingen, die dann in einem weiteren Schritt auch den Nächsten einbeziehen wird. In diesem Kontext erläutert Rosenzweig das Gefühl der Scham, das aus einer Selbst-Reflexion resultiert. Das Selbst, nun als Seele bezeichnet, erlebt sich als liebend und begreift zweierlei: daß es in der Vergangenheit nicht liebte und daß es das Lieben nicht aus eigener Kraft hat erwirken können. »Im Geständnis der Liebe entblößt sie [die Seele] sich selbst. Es ist süß zu gestehen, daß man wiederliebt und inskünftig[e] nichts als geliebt sein will; aber es ist hart zu gestehen, daß man in der Vergangenheit ohne Liebe war. […] Es war also eine Erschütterung nötig, damit das Selbst geliebte Seele werden konnte. Und die Seele schämt sich ihres vergangenen Selbst und daß sie nicht aus eigener Kraft diesen Bann, in dem sie lag, gebrochen hat.« 76

Aus dieser vergangenheitszentrierten Introspektion gewinnt die Seele ein Verständnis für das ihr Mögliche und das Unterbliebene, dessen Verwirklichung jedoch niemals in ihrer Macht gelegen hätte. Denn wie hätte sie lieben können, ohne dazu aufgerufen worden zu sein. Sie schämt sich dessen, was ihr gerade nicht möglich war und verbalisiert diese Einsicht in dem »Ich habe gesündigt. […] Indem die Seele also auf diesem höchsten Punkt ihres Sichselberbekennens, al-

Der Stern der Erlösung, II,II, S. 199 f. Den Aspekt der Liebe des Menschen zu Gott akzentuiert Lévinas in Zwischen zwei Welten, S. 141: »Das Judentum, in dem die Offenbarung bekanntlich nicht vom Gebot zu trennen ist, bedeutet also keineswegs das Joch des Gesetzes, sondern eben die Liebe. Die Tatsache, daß das Judentum aus Geboten gewebt ist, zeugt von der ständigen Erneuerung der Liebe Gottes zum Menschen, […].« Und in seinem Vorwort zu Mosès, System und Offenbarung, schreibt er, S. 16 f.: »Das In-Beziehung-Treten, das durch die Offenbarung hergestellt wird, verknüpft nichts, verbindet das Nichtzusammenfügbare, und die ursprüngliche Metapher für diese Verbindung wäre die Sprache oder die Gesellschaftlichkeit oder die Liebe. […] diese Öffnung zur Welt ist nicht das inzwischen berühmt gewordene Inder-Welt-sein, sondern von vornherein eine Beziehung zur künftigen oder besseren oder zu ›verbessernden‹ Welt und insbesondere eine Beziehung zu den anderen Menschen […].«

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ler Scham befreit, sich ganz vor Gott ausbreitet, ist ihr Bekennen schon mehr als sich selbst, mehr als die eigene Sündhaftigkeit bekennen; es wird nicht erst, sondern ist schon unmittelbar Bekennen – Gottes.« 77 Scham und Sünde, Bekennen und Bezeugen – ein vergleichender Blick auf die Konzeptionen von Rosenzweig und Heidegger lohnt allemal. Dabei muß natürlich berücksichtigt werden, daß dem Ruf, der an das Selbst ergeht, eine grundsätzlich unterschiedliche Konnotation eignet. Im Stern der Erlösung spricht Gott liebend den Menschen an und ebnet ihm so den Weg zum Begreifen dessen, was es heißt, Selbst – oder genauer: Seele – zu sein. Von hier aus wäre die Frage denkbar, ob Rosenzweig, soweit es ihm nur möglich war, zwischen religiöser Sicht und modernem Empfinden des Menschen vermitteln wollte. »Aber in der Vergangenheit zurück gibt es eine Zeit, wo sie es noch nicht war [die Seele Geliebte], und diese Zeit der Ungeliebtheit, der Lieblosigkeit, scheint ihr mit tiefem Dunkel bedeckt […].« 78 In religiöser Perspektive geht es einzig um die Beziehung Gottes zum Menschen, die sich erst im Geschehen der liebenden Zuwendung verwirklicht. Doch was wird aus diesem Gedanken, wenn er philosophisch gedeutet werden soll, und das heißt nach Rosenzweigs Verständnis, daß es ihn zu objektivieren gilt? Dem Menschen erschließt sich die Einsicht, daß es in seinem Dasein drei wesentliche Bestimmungen gibt, die sich der menschlichen Einflußnahme entziehen: Es ist nicht selbst verursacht, endlich und auf den Anderen verwiesen. In späteren existenzphilosophischen Konzeptionen werden exakt diese Motive als Indikatoren der Geworfenheit interpretiert. Nun ist deren Annahme für Rosenzweig unnötig, da er in jedem Moment seines Denkens Schöpfung voraussetzen kann. Gleichwohl nähert sich seine Begründung des »ich habe gesündigt« erstaunlich weit an eine philosophische Reflexion modernen Seins-Bewußtseins an. Um es noch einmal zu wiederholen: diese Selbstaussage des Menschen ist kein Schuldeingeständnis, sondern eine Existenzbekundung. Genau von diesem Punkt aus soll nun wieder zu Heideggers Darstellung des Schuldig-seins geschwenkt werden. Die Feststellung ›ich bin schuldig‹ 79 ist für ihn in erster Linie Bezeugung der existentiellen Tatsache der Geworfenheit. Weit davon entfernt, Ursache einer Lei77 78 79

Der Stern der Erlösung, II,II, S. 200 ff. Der Stern der Erlösung, II,II, S. 199. Siehe Sein und Zeit, § 58, S. 281.

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denshaltung im Dasein zu sein, die sich aus den Erfahrungen von Sinnlosigkeit und Kontingenz gleichermaßen speist, dient Heidegger dieser Begriff dazu, die Positionierung des Daseins zwischen Bedingtheit und Ermöglichung zu veranschaulichen. Die Situation, in der sich der Mensch im Dasein findet, beschreibt er folgenerdermaßen: »Und wie ist es dieser geworfene Grund? Einzig so, daß es sich auf Möglichkeiten entwirft, in die es geworfen ist. Das Sein, das als solches den Grund seiner selbst zu legen hat, kann dessen nie mächtig werden und hat doch existierend das Grundsein zu übernehmen. […] Selbst seiend ist das Dasein das geworfene Seiende als Selbst. Nicht durch es selbst, sondern an es selbst entlassen aus dem Grunde, um als dieser zu sein.« 80

Diese Zeilen können als Begründung des Begriffes der Entschlossenheit gelesen werden, die Heidegger als das »Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein« 81 bezeichnet. Noch einmal sei betont, daß hiermit nicht auf ein Eingeständnis moralischen Fehlverhaltens hingewiesen werden soll. Und trotzdem kommt der Aussage »ich bin schuldig« die Bedeutung einer Bezeugung, eines Bekenntnisses, in Rosenzweigs Terminologie, zu. Denn in ihr drückt sich zweierlei aus: Das Verstehen des Daseins und damit die Verwirklichung des Seins, das nicht eigentlich ist, solange es nicht bezeugt wird. Denn nun erschließt sich das Dasein »zum ganzen Menschen«, verstehend und sich zu anderem Seienden verhaltend. Es wurde bereits angedeutet, daß Entschlossenheit nicht im Sinne eines Entschlusses zu interpretieren ist, den ein Mensch willentlich faßt, den er aber auch ungenutzt lassen könnte. Heidegger schreibt mit Blick auf den Begriff der Entschlossenheit, der bereits in seiner Form erkennen läßt, daß er als Existenzbestimmung zu verstehen ist: »Die Entschlossenheit löst als eigentliches Selbstsein das Dasein nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht auf ein freischwebendes Ich. Wie sollte sie das auch – wo sie doch als eigentliche Erschlossenheit nichts anderes als das In-der-Welt-sein eigentlich ist. Die Entschlossenheit bringt das Selbst gerade in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen. […] Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander […].« 82

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Sein und Zeit, § 58, S. 284 f. Sein und Zeit, § 60, S. 297. Sein und Zeit, § 60, S. 298.

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In dieser beschriebenen Rückbindung an das Sein der Welt schließt die Untersuchung in gewisser Weise an ihren Ausgang an. Dasein, so hatte Heidegger gezeigt, ist immer als Sein in der Welt zu begreifen und bietet als solches den ersten erkennenden Zugang im Modus seiner Alltäglichkeit. Was hat sich also seit den ersten Paragraphen in Sein und Zeit ergeben? Erfaßt der Mensch sein Sein nun anders? Wenn es eine andere Weise ist, Sein in seiner bedingten Möglichkeitsstruktur zu verstehen, dann ist die Frage positiv zu beantworten. Heidegger selbst vermeidet den Begriff des Reflektierens mit bemerkenswerter Konsequenz. Wenn er interpretierend aber doch verwendet werden darf, dann ändert sich im eigentlichen Selbst-Sein die Natur der Bezogenheit des Menschen auf das Sein. Zuhandenes wird immer schon benutzt und die Anderen umgeben den Menschen, in dem sich das Selbst erst eigentlich verwirklicht, immer schon. Das Selbst kann sich also niemals unabhängig vom Sein realisieren und umgekehrt: Sein entsteht erst eigentlich durch das Selbst-Sein des Menschen. Zwischen dem unreflektierten zufällig zeitgleichen Dasein mit Anderem in der Welt und der reflektierten Beziehung zu diesem liegt der verunsichernde Moment der Isolation des Selbst aus dem Man in einen Zustand, dessen zunächst erscheinende Fremdheit Heidegger mit dem Begriff des »Unheimlichen« 83 bezeichnet. Tatsächlich ist es aber die Möglichkeit des Eigentlichen, die sich hier erschließt. Wiederum ist davon auszugehen, daß Heidegger hier keine Wendung zu moralisch wertvollerem Verhalten andeuten will. In der Konzeption von Sein, wie er sie in Sein und Zeit entwirft, gibt es im Grunde überhaupt kein ›besser‹, ›schlechter‹ oder ›wertvoller‹. Es gibt die Kennzeichnung des Daseins als ›eigentlich‹, die in Aussicht stellt, was im Sein möglich ist. Mehr nicht. Natürlich ist das Ausschöpfen dessen, wie sich ein Mensch reflektierend auf sich selbst und auf Anderes beziehen kann, hervorzuheben, doch nur aus dem Grunde, weil es ein Verfehlen des Seins im Ganzen bedeuten würde, wenn Möglichkeiten ungenutzt blieben. Die Struktur des ganzen Daseins zu erfassen, war von Anfang an für Heidegger die Voraussetzung dafür, die Frage nach dem Sinn von Sein stellen zu können. Inzwischen hat sich gezeigt, daß dieses bedeutet, die Struktur des Ganzen, das im Dasein möglich ist, zu beleuchten. »[…] der Ruf ›sagt‹ nichts, was zu bereden wäre, er gibt keine Kenntnis über Begebenheiten. Der Ruf weist das Dasein vor auf sein Seinkönnen und das als Ruf aus der Unheimlichkeit.« Sein und Zeit, § 58, S. 280.

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»Die Gestalt oder die ewige Überwelt«

II.7 »Die Gestalt oder die ewige Überwelt« In dem letzten der drei großen Teile des Sterns der Erlösung fällt es wohl am schwersten, Bezüge zu philosophisch relevantem Denken nachzuweisen. Bereits in der einleitenden Betrachtung wird dieses deutlich, wenn Rosenzweig nach der Möglichkeit fragt, das Reich zu erbeten. Da auch dieser Teil von großer Bedeutung für einen Vergleich mit Heideggers Theorie ist, soll zumindest versucht werden, jene Aspekte aus ihrer religiösen Fundierung zu lösen, die Auskunft über Rosenzweigs Verständnis der Zeitlichkeit des Seins geben. Daß sich in der Liebe zum Nächsten als dem Stellvertreter aller Welt das menschliche Sein zu seiner Gänze rundet, hatte er gezeigt. Nun besteht im Gebet die Möglichkeit, etwas zu erbitten, das im gegenwärtigen Moment nicht gelten mag, das jedoch aus der Zukunft in den Augenblick gezwungen wird. Vielleicht ist dieser Ausdruck zu krass, doch er soll aufgreifen, was Rosenzweig selbst feststellt – daß durch das Gebet »in die göttliche Weltordnung« eingegriffen werden kann. »Und es [das Gebet] kann so, indem es Fernes heraufbeschwört, schuld sein, daß der Mensch sein Nächstes, wenigstens insofern es nur sein und keines andern Nächstes ist, vergißt, ja verleugnet und so wenigstens er keinen Rückweg mehr zu seinem Nächsten findet. Indem das Gebet um das Kommen des Reichs Gebet des Einzelnen ist, kommt es in Gefahr, das Übernächste vor dem Nächsten zu bevorzugen.« 84

Liegt also hierin eine mögliche Vernachlässigung des absoluten Wertes des Miteinanders, der in der Zuwendung zum Anderen verwirklicht werden kann, so besteht das Eingreifen in die göttliche Ordnung doch zugleich in etwas anderem. Es greift der Zeit vor, will erbitten, was es erst noch zu erwirken gilt, und zwar nicht in einem solitären Akt des Gebetes, sondern im Sein ›um des Anderen willen‹. »Solche Bevorzugung ist aber in Wahrheit Bevor-zugung, Hervorziehen der zögernd hergezogen kommenden Zukunft, ehe diese Zukunft nächst gegenwärtiger Augenblick und als solcher reif zur Verewigung geworden ist.« 85 Das Fatale eines solche Vor-greifens besteht darin, daß es das eigentliche Sein-können des Menschen, das auch in Rosenzweigs Sicht niemals isoliertes Sein ist, verfehlt. Nun könnte eingewendet

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Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 301. Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 301 f.

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werden, daß doch das Gebet um das Kommen des Reiches von edelsten Absichten getragen ist. Doch was nützen diese, wenn sie dazu führen, das Anstehende zu vernachlässigen. Das Reich Gottes kommt nicht über den Menschen, sondern er muß es erwirken, ver-wirklichen in der Gemeinschaft. So steht dem Einzelnen immer das Tun am Nächsten ›bevor‹, der ihm als der gerade Nächste ›bevorsteht‹, so hatte es Rosenzweig dargestellt. Hintergrund dieses Gedankens ist die Überzeugung, daß ein gemeinsames Wirken der drei Elemente Gott, Welt und Mensch erst Wirklichkeit konstituiert. Da Sein als Geschaffenes nicht ewig ist, muß ein Weg aufgezeigt werden, wie dieses sich im Augenblick erschöpfende Sein Ort immerwährender Schöpfung werden kann. »Aber für Mensch und Welt, […] ist die Zukunft nur faßbar, indem sie, die zögernd herangezogen kommende, in die Gegenwart vorgezogen wird. So wird ihnen die Dauer höchst wichtig, weil sie es ist, an der sich die Zukunft, indem sie in den Augenblick vorweggenommen wird, immerfort reibt.« 86

Rosenzweig hatte gezeigt, wie wichtig für diese Vergegenwärtigung der Zukunft die Liebe zum Nächsten ist. Denn sie verwirklicht immer wieder von neuem den Augenblick der Zuwendung und realisiert so immerwährend Schöpfung. »[…] der Augenblick, den wir suchen, muß indem er verflogen ist, im gleichen Augenblick schon wieder beginnen, im Versinken muß er schon wieder anheben; sein Vergehen muß zugleich ein Wiederangehen sein.« 87 Dieses Phänomen des »stehenden Jetzt« kann, davon ist Rosenzweig überzeugt, im Miteinander der Menschen erwirkt werden, woraus sich seine große Wertschätzung ritueller Abläufe in einer Glaubensgemeinschaft erklärt. »Im täglich und jährlich immer wiederholten Dienst der Erde spürt der Mensch in der Gemeinschaft der Menschen seine irdische Ewigkeit; in der Gemeinschaft – nicht als Einzelner […].« 88 Dieser Gedanke mag überraschen und vielleicht sogar als irrelevant für eine philosophisch orientierte Betrachtung erscheinen. Doch soll bereits hier auf seine außerordentliche Bedeutung für den weiteren Vergleich mit Heideggers Denken hingewiesen werden. Vielleicht ist es, so könnte festgestellt werden, Zufall oder eine unbedeutende Parallelität, daß Rosenzweig gerade in diesem Kontext das Bild

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Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 303. Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 322. Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 323.

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»Die Gestalt oder die ewige Überwelt«

des Hauses einführt. »Kultur und Kult, Erddienst und Gottesdienst, Bau des Ackers und Bau des Reichs« – all diese Formen ein und desselben Dienens im Miteinander von Gott, Welt und Mensch haben eine Gemeinsamkeit – sie dienen als »zeitliche Behausungen, in die das Ewige eingeladen wird«. 89 Daß diesem Gedanken eine besondere Bedeutung zukommt, wird an Rosenzweigs Hinweis auf die kabbalistische Vorstellung der Schechina erkennbar, der »Niederlassung« des Göttlichen auf Erden. 90 An anderer Stelle bezeichnet Rosenzweig das Haus als »Kammer des jüdischen Herzens«. 91 Das Bild des Hauses, des Wohnens, betont noch einmal die Bedeutung, die er der Welt zuweist, doch nicht als für sich bestehende Räumlichkeit, sondern als Ort der Relation von Gott und Mensch. Haus heißt Wohnstatt sein, Einräumen der Möglichkeit, Welt als Realisierungsgrund jener Wirklichkeit zu begreifen, die Gott und Mensch gemeinsam schaffen. Im Dritten Teil des Sterns der Erlösung geht es Rosenzweig vor allem um den Nachweis, daß innerhalb dieses Prozesses wiederum die Menschen gemeinsam gefordert sind. Darum ist das Gebet des Einzelnen nicht unproblematisch, da es den Nächsten übergeht, um das noch Fernliegende des Reiches Gottes zu erbitten. In diesem Sinne erlangt der Begriff der Blutsgemeinschaft 92 eine vielleicht befremdliche, doch auch nachvollziehbare Relevanz. Denn was verweist den Einzelnen stärker an die Gemeinschaft als diese Bindung, die nicht gewählt und nicht verleugnet werden kann. Unter allen Völkern hebt sich das jüdische Volk heraus, da es in Ermangelung eines eigenen Landes, einer eigenen Sprache und eines eigenen Gesetzes einer anderen Grundlage der Verbundenheit bedarf. 93 Neben der immerwährenden Bindung Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 324. »Zwischen dem ›Gott unsrer Väter‹ und dem ›Rest Israels‹ schlägt die Mystik ihre Brücke mit der Lehre der Schechina. Die Schechina, die Niederlassung Gottes auf den Menschen und sein Wohnen unter ihnen, wird vorgestellt als eine Scheidung, die in Gott selbst vorgeht.« Der Stern der Erlösung, III,III, S. 455. Eine umfassende Darstellung der verschiedenen Aspekte, die die Vorstellung der Schechina beinhaltet, findet sich bei Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Dort schreibt er auch, S. 136: »Die Schechina, das heißt, […] die Personifikation und Hypostasierung der ›Einwohnung‹ oder ›Anwesenheit‹ Gottes in der Welt, ist eine Konzeption, die das jüdische Volk seit nun etwa zweitausend Jahren durch alle Phasen seiner turbulenten und tragischen Existenz aufs intimste begleitet hat.« 91 Der Stern der Erlösung, III,I, S. 362. 92 »Die Blutsgemeinschaft allein spürt die Gewähr ihrer Ewigkeit schon heute warm durch die Adern rollen.« Der Stern der Erlösung, III,I, S. 332. 93 Der Stern der Erlösung, III,I, S. 332 ff. 89 90

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des Blutes verweist Rosenzweig auf einen sehr konkreten Aspekt, wenn er schreibt: »Die Schöpfung eines Volkes zum Volk geschieht in seiner Befreiung.« 94 Es besteht also nicht der mindeste Zweifel an der Eigenheit dieses einen Volkes, bedingt durch seine Geschichte und seine Gegenwart 95: »[…] wir aber leben noch immer und leben ewig; mit nichts Äußerem mehr ist unser Leben verwoben, in uns selbst schlugen wir Wurzel, wurzellos in der Erde, ewige Wanderer darum.« 96 Von hier aus wird der Begriff des Selbst-sein-könnens noch einmal beleuchtet. Denn es bestätigt sich, daß dieses kein individuelles Ideal ist, dessen Grundlage gerade in der Separation des Einen besteht. Statt dessen heißt Selbst-sein in radikaler Weise Mit-sein, und zwar im Verständnis Rosenzweigs Mit-sein mit den Menschen und mit Gott. »Was bedeutet das aber – Verwurzelung im eigenen Selbst? […] Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Anspruch, als Einzelnes dennoch Alles zu sein.« 97 Inwieweit diese Forderung nur für den einzelnen Menschen in Relation zu den Anderen oder auch für das jüdische Volk in bezug zu allen anderen Völkern gilt, kann hier nicht weiter betrachtet werden. 98

II.8 »Dasein und Zeitlichkeit« Ab § 45 führt Heidegger in Sein und Zeit einen letzten Formalisierungsschritt durch, in dem er die Zeitlichkeit noch einmal intensiv als Struktur des Daseins thematisiert. Dabei geht es nicht um den Nachweis eines objektiven Bestehens von Zeit, sondern deren Auflösung im Prozeß des Existierens. Dasein ist in seiner Gänze nur im Ausschöpfen der gesamten Möglichkeiten seiner Vergegenwärtigung erfaßbar. Dazu gehört als »äußerste Existenzmöglichkeit« das Gewahren des Todes, das Heidegger mit dem Begriff des Vorlaufens

Der Stern der Erlösung, III,I, S. 352. »Sein Volkstum steht schon da, wohin die Völker der Welt erst trachten.« Der Stern der Erlösung, III,I, S. 365. 96 Der Stern der Erlösung, III,I, S. 338 f. 97 Der Stern der Erlösung, III,I, S. 339. 98 »Alle Grenze hat zwei Seiten. Indem etwas sich abgrenzt, grenzt es sich an etwas andres an. Indem ein Volk einzelnes Volk ist, ist es Volk unter Völkern.« Der Stern der Erlösung, III,I, S. 339. 94 95

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bezeichnet hatte. 99 Vorlaufen heißt verstehendes Einbeziehen des Todes in den Existenzentwurf des Selbst, das wiederum erst durch dieses vorgreifende Bezeugen des Endes eigenständiges Selbst-sein gewinnt. 100 Nicht Vollendung und Abschluß will Heidegger hier denken, obwohl die Suche nach dem Ganzseinkönnen des Daseins diese Vermutung nahelegen könnte. Vielmehr gilt es, die letzte und damit nicht weiter auszusetzende Möglichkeit im Dasein als »ständig« gegenwärtiges Ausstehen zu begreifen und dieses Verstehen in den eigenen Seins-Entwurf zu integrieren. 101 Vor diesem Hintergrund erscheint es problematisch, hier eine Form von Todesbereitschaft oder gar Todessehnsucht zu erahnen, wie sie neuerlich aus der Formulierung des Seins zum Ende herausgelesen wird. Denn der Ausdruck ›ständig‹ besagt nicht nur andauernd, sondern kennzeichnet das Gewinnen eines Standes, einer Standfestigkeit, durch die sich das Selbst im Dasein eigentlich positioniert. »Das Phänomen des eigentlichen Seinkönnens öffnet aber auch den Blick für die Ständigkeit des Selbst in dem Sinn des Standgewonnenhabens. Die Ständigkeit des Selbst im Doppelsinne der beständigen Standfestigkeit ist die eigentliche Gegenmöglichkeit zur Unselbst-ständigkeit des unentschlossenen Verfallens. Die Selbst-ständigkeit bedeutet existenzial nichts anderes als die vorlaufende Entschlossenheit.« 102

Heidegger plädiert nicht für ein Zeit-Gewinnen, wie es vielleicht im Verdrängen der Daseinserkenntnis versucht werden könnte. Vielmehr soll der Zeitlichkeit des Daseins als dessen eigentlicher Bestimmung Raum gegeben werden, indem sie zur Bestimmung der Eigentlichkeit wird. Die vorlaufende Entschlossenheit ist keine Fixierung Rotenstreich in Essays in Jewish Philosophy in the Modern Era, S. 200 f.: »Es ist klar, daß hier der Tod nicht als letzte Tatsache verstanden wird, sondern als eine Möglichkeit, d. h. daß der Mensch sein eigenes Sein zum Tode als ein ständiges Vorlaufen erfährt und versteht.« 100 »[…] das Vorlaufen ist keine erdichtete und dem Dasein aufgezwungene Möglichkeit, sondern der Modus eines im Dasein bezeugten existenziellen Seinkönnens, den es sich zumutet, wenn anders es sich als entschlossenes eigentlich versteht.« Sein und Zeit, § 62, S. 309. 101 »Die existenzielle Übernahme dieser ›Schuld‹ in der Entschlossenheit wird demnach nur dann eigentlich vollzogen, wenn sich die Entschlossenheit in ihrem Erschließen des Daseins so durchsichtig geworden ist, daß sie das Schuldigsein als ständiges versteht.« Sein und Zeit, § 62, S. 305. 102 Sein und Zeit, § 64, S. 322. Und: »Die Selbständigkeit ist eine Seinsweise des Daseins und gründet deshalb in einer spezifischen Zeitigung der Zeitlichkeit.« Sein und Zeit, § 72, S. 375. 99

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auf das Ende, sondern dessen Einbeziehung in das Denken des Augenblicks. »Formal existenzial gefaßt, […] ist die vorlaufende Entschlossenheit das Sein zum eigensten ausgezeichneten Seinkönnen. Dergleichen ist nur so möglich, daß das Dasein überhaupt in seiner eigensten Möglichkeit auf sich zukommen kann und die Möglichkeit in diesem Sich-auf-sich-zukommenlassen als Möglichkeit aushält, das heißt existiert. Das die ausgezeichnete Möglichkeit aushaltende, in ihr sich auf sich Zukommen-lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zukunft.« 103

Wenn Heidegger hier vom Aushalten spricht, dann meint er damit, so hatte sich bereits gezeigt, nicht primär ein Erdulden von etwas Unerträglichem. Im Aushalten wird etwas Ausstehendes unverwirklicht belassen, ohne daß dadurch dessen Faktizität geleugnet würde. Mit diesem Begriff soll also ein Offenhalten gekennzeichnet werden, das gleichwohl das gegenwärtige Denken prägt. Dieses ist die Weise, in der Zukunft erfahrbar wird. Ein Blick zurück zu Rosenzweigs Theorie mag hilfreich sein. Im Gebet hatte er die Gefahr gesehen, daß der Nächste um der Konzentration auf das Ferne willen vernachlässigt wird. Hintergrund dieser Feststellung war die Frage, ob das Kommen des Reiches vor der Zeit vorstellbar ist. Ein solcher Wunsch, das Eintreten des Erwarteten zu beschleunigen und damit letztlich sogar vorwegzunehmen, deutete Rosenzweig als Beeinflussung der Zeit-Ordnung. Viel stimmiger ist es in seiner Sicht, den Augenblick der Erwartung ›auszuhalten‹, um Heideggers Begriff hier anzuwenden. Immer und immer wieder soll Augenblick aus Augenblick folgen und so das endliche Dasein verewigen. In allgemeiner Weise ausgedrückt, würde dieses heißen, die Zeit des Seins als immerwährend endlich anzusehen. Ist das nicht eine Vorstellung, die auch Heidegger akzeptieren könnte? Daß er gegen eine Linearität der Zeit argumentiert, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ablaufen, ohne in ihrer Bedeutung für das Dasein und die Existenz in ihm berücksichtigt zu werden, wird schnell deutlich. Statt dessen versucht er, die Bezugsformen der zeitlichen Erstreckungen herauszuarbeiten – das »Zurück-zu«, das »Begegnenlassen-von« und das »Auf-sich-zu«. 104 Nicht die Zeit an sich, selbst wenn sie denn als solche begreifbar wäre, inter-

103 104

Sein und Zeit, § 65, S. 325. Sein und Zeit, § 65, S. 328 f.

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essiert ihn, sondern Zeitlichkeit als Realisierungsrahmen des Seins. Es gilt, diese spezifische Deutung der Zeitlichkeit im Dasein zu begründen, das durch seine Gewesenheit ebenso charakterisiert wird wie durch sein Ausstehen. Denn erst in der Ausmessung jener Möglichkeit, das Dasein als Ganzes erfahrend zu vergegenwärtigen, gewinnt Zeit hier ihre eigentliche Bedeutung. In dieser Perspektive gelangt dann das Sein zum Ende erneut in den Fokus, das Dasein immer als endlich bestimmt. »In solchem Sein zu seinem Ende existiert das Dasein eigentlich ganz als das Seiende, das es ›geworfen in den Tod‹ sein kann. Es hat nicht ein Ende, an dem es nur aufhört, sondern existiert endlich. Die eigentliche Zukunft, die primär die Zeitlichkeit zeitigt, die den Sinn der vorlaufenden Entschlossenheit ausmacht, enthüllt sich damit selbst als endlich.« 105 Ergibt sich daraus, daß Zeit insgesamt als endlich zu denken ist? Heidegger erwägt die Annahme einer un-endlichen Zeit, verweist aber sofort darauf, daß diese immer nur als abgeleitet betrachtet werden kann. »Nur weil die ursprüngliche Zeit endlich ist, kann sich die ›abgeleitete‹ als unendliche zeitigen. In der Ordnung der verstehenden Erfassung wird die Endlichkeit der Zeit erst dann völlig sichtbar, wenn die ›endlose Zeit‹ herausgestellt ist, um ihr gegenübergestellt zu werden.« 106 Rosenzweig hatte ein Modell von Zeit angedeutet, das diese als immerwährend endlich begreift. Das Geschehen, in dem sich Zeit vergegenwärtigt, ist immer auf den Augenblick konzentriert, doch Augenblickshaftigkeit erweist sich als un-endlich. Da Sein und Zeit als Konzeptualisierung des Sterns der Erlösung gelesen wird, bestätigt Heideggers Gedanke eine solche Deutung. Für ihn ist es nicht von Belang, Zukunft unter dem Aspekt der Erwartung eines Kommenden, des Reiches, zu betrachten. Will er aber aus der Annahme der Zukünftigkeit des Daseins dessen wesentliches Sein-können folgern, ist es erforderlich, dieses nicht in der Endlichkeit des Daseins versiegen zu lassen. Das Können muß als Kennzeichnung des Seins das Ende des »Da« überdauern. 107 Insofern ist es auch für Heidegger von Interesse, eine Vorstellung von Zeitlichkeit zu entwerfen, die als Möglichkeit über den Augenblick hinausweisen kann. Erschließt sich das »Da« aber ständig als Entwurf des Selbstständig-sein-könnens Sein und Zeit, § 65, S. 329 f. Sein und Zeit, § 65, S. 331. 107 »Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der eigentlichen Sorge.« Sein und Zeit, § 65, S. 326. 105 106

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auf seine Möglichkeiten hin, gilt es auch zu berücksichtigen, daß es selbst Entwurf-seiend gewesen ist. Damit wird Zeitlichkeit unter dem Aspekt von Gewesenheit relevant. Heidegger verwendet mit Bedacht nicht den Ausdruck der Vergangenheit, da Seiendes niemals als vergangen betrachtet werden kann, solange es existiert. Selbst-ständig ist es als bedingt sich Entwerfendes. Dabei verweist die Bedingtheit des zukünftigen Sein-könnens darauf, daß vormaliges Sein-können seine Bedingung ist. Dieses wird am Begriff der Geschichtlichkeit des Daseins 108 ablesbar. Daß Heidegger damit nicht auf eine bestehende Klassifizierung historischer Abläufe anspielt, 109 hatte sich bereits angedeutet. Zusammen mit der Geschichtlichkeit rückt nun ein Themenkomplex in den Vordergrund, der bereits aus Rosenzweigs Interpretation bekannt ist. Für ihn stand unbezweifelbar fest, daß das Selbst, das ein Mensch im Dasein zu verwirklichen vermag, ihn in unmittelbaren Bezug zur Gemeinschaft stellt, also gerade nicht als Anzeichen von Individualisierung zu verstehen ist. Es entsteht dadurch jedoch die Frage nach Identität als dem Ausdruck der Zusammengehörigkeit der Menschen. Diese kann nur unter dem Aspekt der Zeitlichkeit, also der Geschichte, sichtbar werden. Denn soll sie nicht das Selbst des Einzelnen zeigen, sondern die Gemeinschaft beschreiben, kann sie nur über Generationen hinweg verfolgt und auf dieser Grundlage als bedingte Bedingung gegenwärtigen Seins gefaßt werden. Dieses wiederum ist zukünftig, insofern es sich auf sein Selbst-sein-können entwirft, das auch das Sein-können der Gemeinschaft umfaßt. Deren Sein zwischen Bedingtheit und Entwurf hatte Rosenzweig mit dem Begriff des Schicksals bezeichnet. Schicksal kennzeichnet Dasein nicht als vorbestimmt, sondern als Sein in der Zeit. Denn immer gründet das Entwerfen auf Mögliches in vorausgehenden Möglichkeiten, die ihrerseits einmal Entwurf gewesen sind. In der Aneignung dieser Bedingtheit als eigene Möglichkeit liegt die Begründung jenes Gefühls der Zugehörigkeit, die für Rosenzweigs Verständnis des Volk-Seins zentral ist. Heidegger schreibt nun:

Sein und Zeit, § 66, S. 332. »Die Geschichtlichkeit des Daseins aber ist der Grund eines möglichen historischen Verstehens, das seinerseits wiederum die Möglichkeit zu einer eigens ergriffenen Ausbildung der Historie als Wissenschaft bei sich trägt.« Sein und Zeit, § 66, S. 332. 108 109

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»Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zurückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt.« 110

Ist Schicksal »das in der eigentlichen Entschlossenheit liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten Möglichkeit überliefert« 111, so nennt Heidegger dieses in seiner Gemeinschaftlichkeit das »Geschick«. »Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.« 112 In diesem Zusammenhang finden sich nun zwei Äußerungen, auf die ausdrücklich hinzuweisen ist. »Im Miteinandersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet.« Und: »In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes erst frei.« 113 Beide Feststellungen fallen auch dadurch auf, daß Heidegger, der sonst vor beinahe ausufernden Erläuterungen nicht zurückschreckt, hier auf Erklärungen verzichtet. Um welche Art der Mitteilung handelt es sich und welchem Ziel dient der Kampf? Die weiteren Ausführungen gelten dann dem Begriff der Wiederholung. »Die auf sich zurückkommende, sich überliefernde Entschlossenheit wird dann zur Wiederholung einer überkommenen Existenzmöglichkeit. […] Die Wiederholung macht dem Dasein seine eigene Geschichte erst offenbar.« 114 Natürlich wirken diese Passagen wie eindeutige Belege für Heideggers ideologische Positionierung, zumal sie in ihrer extremen Verkürzung den Klang unheilvoller Verkündigungen nicht verleugnen können. Die Entscheidung, ob eine solche Deutung zutrifft, kann hier nicht getroffen werden. Doch der Vergleich mit den entsprechenden Aussagen Rosenzweigs mag ein Mittel sein, um sich einer Bewertung anzunähern. Für Rosenzweig verbürgt die Fortführung des auch in der Vergangenheit Getanen in steter Wiederholung die Identität des jüdischen Volkes, das diese nicht aus territorialen Besitzansprüchen oder der Einheit der Sprache gewinnen kann. Die kultischen Feste im Lauf des Jahres versichtbaren und versinnbildlichen diesen Aspekt 110 111 112 113 114

Sein und Zeit, § 74, S. 383. Sein und Zeit, § 74, S. 384. Sein und Zeit, § 74, S. 384. Sein und Zeit, § 74, S. 384. Sein und Zeit, § 74, S. 385 f.

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des Fortwirkens ebenso wie der Ablauf eines Tages. Gleichzeitig zeigt sich im kultischen Geschehen die Zuwendung zum Anderen und damit zur Gemeinschaft des Volkes. In Rosenzweigs Deutung besteht das Ziel menschlichen Seins nicht in abstrahierender Erkenntnis der Wirklichkeit, sondern in deren gemeinsam erwirkter Realisierung. Diese ist möglich und muß sogar stattfinden, sollen Schöpfung, Offenbarung und Erlösung ›Statt‹ finden. Rituelles Handeln ist kein unreflektiertes Wiederholen des schon-immer-so-Getanen. Statt dessen erschließt sich seine Bedeutung unter Berücksichtigung der Zeitlichkeit. Denn der Mensch setzt Gewesenes fort und greift dem Erwarteten vor, indem er den Augenblick zu einem wirklichen AugenBlick werden läßt, zum Moment des Begreifens göttlichen Seins. In diesem Kontext findet sich eine besonders aufschlußreiche Formulierung: »Dies Leuchten des göttlichen Antlitzes allein ist die Wahrheit. Sie ist keine für sich frei schwebende Gestalt, sondern allein das aufleuchtende Antlitz Gottes. Wem er aber sein Angesicht leuchten läßt, dem wendet er es auch zu. Wie er uns sein Angesicht zuwendet, so mögen wir ihn erkennen. Und dies Erkennen erkennt nicht uneigentlich. Sondern es erkennt die Wahrheit, wie sie ist, nämlich wie sie in Gott ist: als sein Antlitz und Teil. Sie wird nicht etwa zur uneigentlichen Wahrheit, dadurch daß dies Antlitz uns zugewandt, Gottes Teil uns zuteil wird; denn auch als eigentliche und eigentlichste Wahrheit wäre sie nichts anderes als – Teil und Antlitz. Im Stern der Erlösung, in dem wir die göttliche Wahrheit Gestalt werden sahen, leuchtet so nichts andres auf als das Antlitz, das Gott uns leuchtend zuwandte.« 115

Es war notwendig, diese Passage ungekürzt zu zitieren, um die Entwicklung der drei Wahrheits-Momente des ›Aufleuchtens‹, des ›Zuwendens‹ und des ›Erkennens‹ verfolgen zu können, die Rosenzweig dann im Bild des Sterns der Erlösung zusammenfügt. Offenbarung heißt sich öffnen und sich dem Blick des Anderen darbieten. Dabei differenziert Rosenzweig formal zwischen Antlitz und Teil Gottes, womit er auf die alte Frage theologischer Diskussionen anspielt, ob sich das Ganze des göttlichen Wesens dem schauenden Auge zu erkennen gibt. Rosenzweig lehnt eine solche essentielle Differenzierung ab, um zeigen zu können, daß sich Göttliches als Ganzes dem Menschen erschließt. Aus dieser Feststellung begründet er dann seine Bestimmung der eigentlichen Wahrheit und des eigentlichen Erken115

Der Stern der Erlösung, III,III, Tor, S. 465.

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nens. Dieses unterscheidet sich nicht dadurch vom uneigentlichen Erkennen, daß es etwa nur einen Aspekt des Göttlichen erfassen würde. Es geht nicht darum, Gott in seiner Gänze zu erfassen, sondern das Ganze Gottes, was der Mensch begreifen kann. Die eigentliche Wahrheit zeigt dieses und nichts anderes. Eigentliches und uneigentliches Erkennen unterscheiden sich also nicht etwa durch das Kriterium des Richtigen und Falschen, denn sie hängen nicht von der Art menschlicher Erkenntnis ab, sondern von deren Gegenstand. Der Gegenstand der Erkenntnis ist nicht das Gewählte, das vielleicht in wissenschaftlichem Interesse der Betrachtung unterzogen wird. Er bietet sich dem Erkennen vielmehr dar, fordert mehr den Erkennenden heraus, als daß dieser sich sein Objekt zu wählen vermag. Erschließt sich so das Ganze des dem Menschen Erkennbaren, ist dieses die eigentliche Wahrheit. Dadurch, daß sich der Mensch zugleich als den Erkennenden angesprochen weiß, bezeugt er durch sein Verstehen sein Sein in Relation. Dieses Bewußtsein von Verbundenheit begründet die Möglichkeit der Selbst-Vergewisserung, die Rosenzweig am Beispiel der liebenden Hinwendung zu Gott und zum Nächsten skizziert hatte. Doch auch hierbei handelt es sich nicht um ein theoretisches Wissen, sondern zu verwirklichendes Begreifen, denn erst im Verstehen wird wirklich, was sein kann und soll. So findet sich der Mensch, der sich selbst erkennt, immer in der Verwiesenheit auf Anderes. Für Rosenzweig liegt in der Ermöglichung, die hier angesprochen wird, tatsächlich eine Weisung, die daraus resultiert, daß das Mögliche, das sich dem Menschen als sein Sein-können erschließt, das Ausstehende seines Seins umfaßt. Diese Aufforderung hat sich zugleich als Begründung des Begriffes der Entschlossenheit erwiesen. »Mag sonst das jüdische Bewußtsein zwischen jenen in der ursprünglichen innren Umkehr des heidnisch verschlossenen zum er- und entschlossenen Menschen der Offenbarung festgestellten beiden Lebenspolen, dem der eigensten Erfahrung der göttlichen Liebe und dem der hingegebenen Auswirkung der Liebe in der Heiligkeit des Wandels, hin und her zucken […].« 116

Nun wäre an sich die Formulierung »er- und entschlossen« nicht auffällig, da sie als Wortspiel mit Bedeutung durchaus naheliegen könnte. Doch wenn sie in dieser speziellen Verwendung auftaucht und den Übergang vom Verstehen zum wirkenden Bezeugen signalisiert, ist der Gedanke einer Parallelität zwischen dem Stern der Erlösung und 116

Der Stern der Erlösung, III,III, S. 449 f.

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Sein und Zeit nicht mehr von der Hand zu weisen. Diese Deutung belegt noch einmal die zuvor genannte Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Erkenntnis, insofern erstere explizit beides – Verstehen und Bezeugen – einschließt. In der Erfüllung diese beiden Aufgaben liegt die Besonderheit des jüdischen Volkes, so hebt es Rosenzweig am Ende seiner Schrift nachdrücklich hervor. Um das gerade Festgestellte noch einmal zusammenzufassen: Eigentliches Erkennen zeichnet sich durch den Bezug auf die eigentliche Wahrheit aus, die dem Ganzen des Seins gilt. Eigentliches Erkennen ist damit Erkennen des Ganzen. Das Ganze schließt auch das Selbst ein, wodurch die Frage nach dem Erkennen des Selbst entsteht. Dieses ist Erkennen des eigentlichen Selbst erst in der Form des Erkennens des eigenen Sein-könnens. Erkenntnis des Sein-könnens beinhaltet das Begreifen seiner zeitlichen Begrenztheit, zugleich aber auch das Verstehen der Bedeutung, die dem begrenzten Sein-können zukommt. Denn dieses ist Sein in Relation. Jede Verwirklichung der Bezogenheit schafft unendliches Sein, das in endlichem Dasein gründet. Diese Erkenntnis erschließt die eigentliche Wahrheit des Seins, das Schöpfung ist. Heidegger kündigt zu Beginn von § 61 an, der Verbindung von Entschlossenheit und Vorlaufen zum Tode nachgehen zu wollen. 117 Dabei zeigt sich, daß Entschlossenheit nur dann als ›eigentlich‹ bezeichnet werden kann, wenn sie sich als vorlaufende Entschlossenheit auf die eigene Möglichkeit des Sein-könnens erweist. Diese beinhaltet als wesentliches Kriterium die Einbeziehung des Nicht-mehr-seinkönnens. 118 Hatten alle bisherigen Betrachtungen dem Vordringen zu den Phänomenen gegolten, folgt nun ein explizites Fragen nach dem Sinn von Sein. 119 Dieses setzt die »Enthüllung des Seinssinnes der Sorge« voraus, der sich »auf dem Grunde der vollen und ständigen phänomenologischen Vergegenwärtigung der bislang herausgestellten existenzialen Verfassung des Daseins« vollzieht. 120 Für Rosen117 »Wie sollen beide Phänomene zusammengebracht werden? Führte der ontologische Entwurf des eigentlichen Ganzseinkönnens nicht in eine Dimension des Daseins, die von dem Phänomen der Entschlossenheit weit abliegt? Was soll der Tod mit der ›konkreten Situation‹ des Handelns gemein haben?« Sein und Zeit, § 61, S. 302. 118 »Wenn die Entschlossenheit als eigentliche Wahrheit des Daseins erst im Vorlaufen zum Tode die ihr zugehörige eigentliche Gewißheit erreichte?« Sein und Zeit, § 61, S. 302. 119 Sein und Zeit, § 61, S. 303. 120 Sein und Zeit, § 61, S. 303.

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zweig wie auch für Heidegger zeigt sich eine vergleichbare Notwendigkeit: Beide wollen eine Aussage über das Sein in seiner Gänze treffen. Hierfür ist es erforderlich, das Sein als Ganzes betrachten zu können. Inhalt der Betrachtung kann dieses nur als Ganzes des Daseins werden, was bedeutet, dieses auch in seinem Ausstehen des möglichen ›Nicht-mehr‹ zu erfassen. 121 Die jeweils letzten Untersuchungen der beiden Schriften gelten daher der Darstellung des Seins unter dem Aspekt seiner Zeitlichkeit: im Stern der Erlösung der dritte Teil »Die Gestalt oder die ewige Überwelt«, in Sein und Zeit das dritte Kapitel des zweiten Abschnittes »Das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins und die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge«. Die Ganzheit des Daseins erschließt sich dem Menschen, der begreift, das die Möglichkeitsstruktur seines Seins, das endlich ist, über dessen Da-Sein hinausweist – als Verstehen und als Wirken im Gemeinsamen. In beiden Texten wird zur Kennzeichnung dieser verstehend sich verhaltenden Konstitution des Menschen der Begriff des Selbst verwendet. Dieser verweist nicht auf eine Form des sich individualisierenden Bewußtseins, das sich gerade von Anderen unterscheiden will, sondern auf die Wendung zum Anderen. Heidegger schreibt: »Das Dasein ist ontologisch grundsätzlich von allem Vorhandenen und Realen verschieden. Sein ›Bestand‹ gründet nicht in der Substanzialität einer Substanz, sondern in der ›Selbständigkeit‹ des existierenden Selbst, dessen Sein als Sorge begriffen wurde.« 122 Die Sorge weist aber das Dasein als zeitlich aus, so daß die Zeitlichkeit des Seins aus deren Betrachtung begreifbar wird. Auch wenn es nun so wirken könnte, als würde gerade die Zukunftsorientiertheit der Sorge, die als ein »Sich-vorweg« immer auch ein »Noch-nicht« ist, das Vorhaben, die Ganzheit des Dasein zu erfassen, verhindern, ist nochmals darauf hinzuweisen, daß nicht diese, sondern das Ganze des sich erschließenden Daseins zu untersuchen ist. Diese wiederum wird in der vorlaufenden Entschlossenheit erfaßt, die die Bereitschaft des Selbst ausdrückt, selbst die nicht mehr erfahrbare Möglichkeit des Daseins als Möglichkeit des eigenen Sein-Könnens zu übernehmen, 123 nicht als den absoluten Ausstand, sondern als Ein121 »Phänomenal ursprünglich wird die Zeitlichkeit erfahren am eigentlichen Ganzsein des Daseins, am Phänomen der vorlaufenden Entschlossenheit.« Sein und Zeit, § 61, S. 304. 122 Sein und Zeit, § 61, S. 303. 123 »Die Entschlossenheit wird deshalb erst als vorlaufende ein ursprüngliches Sein zum eigensten Seinkönnen des Daseins.« Sein und Zeit, § 62, S. 306.

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greifen des Unmöglichen in das Möglichkeitsprofil des Daseins. Das Vorlaufen in den Tod demonstriert diese Übernahme des nicht Realisierbaren als Grund dessen, was im Dasein verwirklicht werden kann. Für Rosenzweig bestand größte Dringlichkeit in dem Nachweis, daß es am Selbst ist, Schöpfung über den Augenblick des Erschaffens von Seiendem fortzusetzen. Nur so konnte er das Seiende, das er als Schon-da-sein bezeichnete, trotz dessen endlicher Natur als Empfänger überzeitlicher Erlösung denken. Ein solcher Gedanke liegt Heidegger freilich fern, was nicht bedeutet, daß die Vorstellung der Zeitlichkeit für ihn nicht ebenfalls entscheidend ist. Doch müßte nach den bisherigen Ansätzen festgestellt werden, daß die vorlaufende Entschlossenheit das Dasein als endlich ausweist. Gilt das aber für das Sein? Bevor diese Frage aufgegriffen werden kann, soll noch einmal an die Bedeutung des Reiches in Rosenzweigs Konzeption erinnert werden, da sie Aufschluß sowohl über sein Verständnis der Zeitlichkeit des Daseins als auch über die Funktion des Selbst in dessen Vergegenwärtigung gibt. Die Zukunft, so stellt Rosenzweig fest, kann nur in der Erwartung erlebt werden. 124 Damit kennzeichnet er sie nicht als eine bloße Möglichkeit des Kommenden, das zwar in seiner Allgemeinheit gedacht, nicht jedoch als spezifisches Geschehen erfaßt werden kann. Statt dessen betont er eine Qualität des Erlebens von Zukunft, die das Erfahren von Gegenwart unmittelbar prägt. Es geht also gar nicht nur um das Erfahren dessen, was in einem zukünftigen Moment real stattfinden wird, sondern um das Erleben eines Nochnicht, das weder vage noch unbestimmt ist. Das Besondere der Erwartung liegt gerade in der Gewißheit des Bevorstehenden, die sich auf das Verhalten des Menschen auswirken kann. Daher sagt Rosenzweig, daß das Zukünftige nur »durch das Mittel der Vorwegnahme« zu fassen ist. 125 Zu Beginn seines Sterns der Erlösung hatte er mit nicht unerheblichem argumentativen Aufwand gezeigt, daß Schöpfung nicht abgeschlossen ist, sondern sich in andauernder Verwirklichung der Welt fortsetzt. Diesen Gedanken greift er nun wieder auf und betont, daß die Welt Ort der Vorwegnahme als einzig möglicher Annäherungsart an das Erwartete ist. Ihr beständiges Werden interessiert ihn hier nicht als Entwicklung beliebiger Möglichkeiten, sondern als Realisierungsgeschehen des Reiches. Werden ist Kommen, Verwirklichung des Ausstehenden, Erfüllung des Erwarteten. »So ist 124 125

Der Stern der Erlösung, II,III, S. 244. Der Stern der Erlösung, II,III, S. 244.

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sie jeden Zoll ein Kommendes, nein: ein Kommen. Sie ist das was kommen soll. Sie ist das Reich.« 126 Und später heißt es: »Zwar nicht fertig ist die Welt im Anfang geschaffen, aber mit der Bestimmung, fertig werden zu sollen. Die Zukunft ihres Fertigwerdens ist mit ihr zugleich geschaffen als Zukunft. Oder, […] das Reich, die Verlebendigung des Daseins, kommt von Anfang an, es ist immer im Kommen.« 127 Es ist bereits auf die Deutung des Nächsten hingewiesen worden, der ›zu nächst‹ steht. Diese in der früheren Erwähnung eher räumlich ausgerichtete Sicht wird nun unter dem Aspekt der Zeitlichkeit begriffen. Der Nächste steht immer »be-vor« und wird als solcher »vorweg-genommen«. Ist die Welt der Ort der Vorwegnahme des Reiches, 128 so ist dessen Verwirklichung nur durch den Menschen möglich, der sich dem Nächsten zuwendet – als Verwirklichung seiner ›Sendung‹. »Wir finden uns wieder. Wir finden uns vor. Aber wir müssen den Mut haben, uns in Wahrheit vorzufinden, den Mut, inmitten der Wahrheit unser Wahrlich zu sagen. Wir dürfen es. Denn die letzte Wahrheit – sie ist keine andre als unsre. […] Er [der Mensch] muß dort leben, wohin er gestellt ist; denn er ist von der Hand des Schöpfers hingestellt, nicht aus dem Schoße des Zufalls herausgefallen. Er muß dahin gehen, wohin er gesandt ist; denn er hat vom Worte des Offenbareres Richtung empfangen […].« 129

Der Mensch ist nicht in das Dasein geworfen, wie es in neuerer Existenzphilosophie verkündet wird. Er ist gestellt und gesandt, 130 in der Welt die Zukunft zu gründen und das Kommen des Reiches Gottes vorwegzunehmen. Ausgangspunkt dieses Wirkens ist der Stand, das Sein am Ort, der derselbe Ort sein wird, an dem es das Erwartete vorwegzunehmen gilt. Wird dieser zuletzt skizzierte Kontext mit Heideggers Aussagen in den letzten Paragraphen von Sein und Zeit verglichen, ergeben sich erstaunliche Parallelen. Zunächst soll noch einmal der Begriff der Ekstasen der Zeitlichkeit betrachtet werden. »Zukunft, Gewesenheit,

Der Stern der Erlösung, II,III, S. 245. Der Stern der Erlösung, II,III, S. 250. 128 »Das Reich Gottes setzt sich durch in der Welt, indem es die Welt durchsetzt.« Der Stern der Erlösung, II,III, S. 266. 129 Der Stern der Erlösung, III,III, S. 436 f. 130 »Stand und Sendung – zu beiden muß er […] sein Wahrlich sagen […].« Der Stern der Erlösung, III,III, S. 437. 126 127

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Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ›Auf-sich-zu‹, des ›Zurück auf‹, des ›Begegnenlassens von‹. […] Zeitlichkeit ist das ursprüngliche ›Außer-sich‹ an und für sich selbst. Wir nennen daher die charakterisierten Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart die Ekstasen der Zeitlichkeit.« 131 Das verbindende Kennzeichen dieser drei Ekstasen nennt Heidegger ihr »Außer-sich«. ›Außer-sich‹ heißt aber immer, ganz gleich, in welcher Perspektive Zeitlichkeit betrachtet wird, ›Sein-bei‹, 132 das wiederum stets in Zeit geschieht und folglich in einer Form zeitlicher Aufzeigung erfaßt werden kann. In allgemeiner Weise kann festgestellt werden, daß Zeitlichkeit des Seins also nicht primär auf eine chronologische Abfolge von Ereignissen verweist, sondern auf unterschiedliche Modi relationalen Seins. Das Benutzen eines zuhandenen Gegenstandes in der Vergangenheit gibt dieses ebenso zu erkennen wie die Zuwendung zum anderen Menschen, die in der Gegenwart stattfindet und sich in die Zukunft fortsetzen wird. Immer zeigt sich Zeitlichkeit in Erscheinungsformen der Sorge, als deren Merkmal das Sein-bei angeführt wurde. 133 Sein-bei läßt sich zwar abstrakt denken, doch soll dessen Stattfinden im Dasein überprüft werden, bedarf es der zeitlichen Verortung. Bereits hier kündigt sich an, daß Heidegger Zeitlichkeit und Räumlichkeit in besonders enger Weise aufeinander bezieht. Bevor letzterer Aspekt etwas näher betrachtet wird, soll jedoch noch für einen Moment die Aufmerksamkeit auf drei Begriffe gelenkt werden, die Heidegger verwendet, die sich aber auch im Stern der Erlösung fanden: Das ›Vorweg‹, die ›Erwartung‹ und der ›Augenblick‹. Dabei ist immer wieder zu berücksichtigen, daß Rosenzweig und Heidegger formal unterschiedliche Ziele verfolgen. Rosenzweig will eine theoretische Erklärung für die religiöse Vorstellung der Verwirklichung des Göttlichen in der Welt liefern. Heidegger formuliert diese als fundamentalontologische Analyse. Diese Differenzierung wirkt sich auf den Realisierungsanspruch beider Texte aus. Denn für Rosenzweig steht die Verwirklichung des Möglichen im Vordergrund. Diese kennzeichnet er eindeutig als Auftrag des Menschen, wie an der Begrifflichkeit von Stand und Sendung abzulesen war. Soll

Sein und Zeit, § 65, S. 329. Nicht im Sinne des »verfallenden Sein-bei« gemeint, wie es Heidegger in Sein und Zeit, § 65, S. 328 nennt. Es soll hier eher die Begründung des Außer-sich-sein-könnens bezeichnen. 133 »Zeitlichkeit ist der Seinssinn der Sorge.« Sein und Zeit, § 70, S. 367. 131 132

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»Dasein und Zeitlichkeit«

deren Bedeutung auch für nicht primär religiös Denkende nachvollziehbar sein, gilt es beide Bestandteile dieses Ausdrucks explizit zu erläutern: das Gestelltsein in das Sein und die Verpflichtung, die daraus entspringt. Heidegger verfolgt in Sein und Zeit zunächst die Absicht, Strukturelemente des Seins herauszuarbeiten. Methodisch geht er dabei von der Betrachtung unhinterfragter Gegebenheiten des Daseins aus, um aus dieser jene allgemein gültigen Muster zu isolieren, die ein Verstehen des Seins ermöglichen. Denn er kann sich ja gerade nicht mehr auf die absolute Gültigkeit einer im Sein selbst liegenden Anweisung zur Eigentlichkeit verlassen, wie sie für Rosenzweig unbezweifelbares Faktum gewesen ist. Vor diesem Hintergrund ist es dann natürlich interessant zu sehen, wie er Begriffe wie die drei genannten interpretiert. »Der formal indifferente Terminus für die Zukunft liegt in der Bezeichnung des ersten Strukturmoments der Sorge, im Sich-vorweg.« 134 Um es noch einmal zu betonen: Es geht hier nicht um eine Beschreibung von Entscheidungen und deren Auswirkungen für eine zukünftige Zeit. Vielmehr will Heidegger zeigen, wie sich Seiendes in die Zeitlichkeit entwirft, indem es seine Möglichkeit des Sein-könnens versteht. Selbst noch in dieser allgemeinen Charakterisierung wird deutlich, daß Zeitlichkeit nur auf dieses Sein-können bezogen zu erfassen ist. Für Heidegger ist es daher wichtig, vom »Sich-vorweg« zu sprechen und nicht, wie Rosenzweig, vom ›Vorwegnehmen der Zukunft‹. Da diese Gewißheit des Kommenden für Heidegger keinerlei Relevanz besitzt, formalisiert er das Element des vorgreifenden Verwirklichens zu der Aussage, daß Seiendes durch sein Sichvorweg gekennzeichnet wird. Ähnlich verhält es sich beim Begriff der Erwartung. Für Rosenzweig korrespondiert dieser unmittelbar dem Ausstehenden. Der Mensch existiert in der Erwartung des Reiches Gottes. Wie könnte eine Formalisierung dieses Gedankens aussehen? Der Mensch versteht das, was ist, und das, was sein wird, weil er es aus seinem Sein erschließen kann. Auf Rosenzweigs Überzeugung übertragen, hieß das: Der Mensch im Dasein begreift dieses als Schöpfung, versteht durch die Offenbarung aber auch jenen Aspekt, der über das Geschaffensein hinausweist, als Möglichkeit individuellen Tuns und zugleich als Schicksal der Gemeinschaft. Erwartung heißt damit Sein in der Bezogenheit des Noch-nicht. 134

Sein und Zeit, § 68a), S. 337.

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Vergleich

»Das Gewärtigen muß schon je den Horizont und Umkreis erschlossen haben, aus dem etwas erwartet werden kann. Das Erwarten ist ein im Gewärtigen fundierter Modus der Zukunft, die sich eigentlich zeitigt als Vorlaufen.« 135 So formuliert es Heidegger. Hierbei wird nicht danach gefragt, was erwartet wird, sondern es wird darauf verwiesen, daß Erwartung eine Weise der Bezogenheit auf Zeitlichkeit im Sein ist. Wird von der Betrachtung der Zukünftigkeit zu jener des Gegenwärtigen geschwenkt, gewinnt der Augenblick Bedeutung. »Das Phänomen des Augenblicks kann grundsätzlich nicht aus dem Jetzt aufgeklärt werden.« Zur Begründung dieser Folgerung hatte Heidegger auf den Gedanken der Entschlossenheit zurückgegriffen. »In der Entschlossenheit ist die Gegenwart aus der Zerstreuung in das nächst Besorgte nicht nur zurückgeholt, sondern wird in der Zukunft und Gegenwart gehalten. Die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene, mithin eigentliche Gegenwart nennen wir den Augenblick.« 136

Wiederum findet sich ein Begriff, den auch Rosenzweig verwendet, in allgemeiner Struktur. Diese zeigt den Augenblick nicht als Moment eines Geschehens, sondern als Bedingung der Möglichkeit, daß sich Seiendes als entschlossenes vergegenwärtigen kann. Rosenzweig spricht den Augenblick im Zusammenhang seiner Überlegung an, unter welchen Voraussetzungen eine Verwirklichung des Reiches vor der Zeit vorstellbar ist. Ist Zukunft un-vergänglich, so erfordert deren Vorwegnahme ein Aussetzen der Zeitlichkeit im Augenblick. »Ein unvergängliches Heute – aber ist es nicht wie jeder Augenblick pfeilschnell verflogen? und soll nun unvergänglich sein? Da bleibt nur ein Ausweg: der Augenblick, den wir suchen, muß, indem er verflogen ist, im gleichen Augenblick schon wieder beginnen, im Versinken muß er schon wieder anheben; sein Vergehen muß zugleich ein Wiederangehen sein.« 137 Der so verstandene Augenblick »darf nicht neu kommen, er muß wiederkommen«, um dadurch der Möglichkeit, immerwährend in der Zeit sein zu können, Vorschub zu leisten. Rosenzweig bindet diesen Gedanken explizit an seine Sicht des menschlichen Wirkens: »Im täglich und jährlich immer wiederholten Dienst der Erde spürt der Mensch in der Gemeinschaft der Menschen seine irdische Ewig-

135 136 137

Sein und Zeit, § 68a), S. 337. Sein und Zeit, § 68a), S. 338. Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 322.

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»Dasein und Zeitlichkeit«

keit; […].« 138 Diese Überzeugung scheint einen Vergleich mit der Deutung Heideggers gänzlich auszuschließen. Doch tatsächlich bleibt eine Gegenüberstellung unter der Voraussetzung möglich, daß die Aussagen in Sein und Zeit als Formalisierungen der Gedanken im Stern der Erlösung gelesen werden können. Heidegger bestimmt den Augenblick als die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene Gegenwart, als das Offenhalten des Möglichen in der Entschlossenheit. Diese verbürgt als vorlaufende Entschlossenheit in seiner Konzeption dreierlei: Eigentlichkeit, Zukünftigkeit und Bezogenheit. 139 Genau diese Merkmale kennzeichnen aber auch Rosenzweigs Sicht des Augenblicks, in dem sich das ganze dem Menschen mögliche Sein verwirklicht und so dem Reich Gottes auch im zeitlichen Sein der Welt Raum gibt. Daß Heidegger an dem Nachweis eines objektiven Bestehens von Zeit nicht interessiert ist, hat sich ergeben. Gilt eine ähnliche Voraussetzung auch für das Bestehen des Raumes? Er formuliert in diesem Zusammenhang einen interessanten Gedanken: »Das Sicheinräumen des Daseins wird konstituiert durch Ausrichtung und Ent-fernung. […] Weil das Dasein als Zeitlichkeit in seinem Sein ekstatisch-horizontal ist, kann es faktisch und ständig einen eingeräumten Raum mitnehmen.« 140 Denn Seiendes steht beständig in der Möglichkeit, sich auf anderes Seiendes besorgend zu beziehen. Im Verwirklichen dieser Möglichkeit bilden sich jeweils spezielle Beziehungskontexte, die durch Verfügbarkeit und Verstehen des zunächst befindlichen Seienden gekennzeichnet werden. »Sicheinräumen« bedeutet also nicht, einen Gegenstand an einem bestimmten Raumpunkt auffinden zu können, den er einnimmt. Statt dessen sucht sich Seiendes seinen Beziehungsraum, in dem es mit anderem Seienden in Kontakt tritt. Jede Form einer solchen Beziehung ist gewählt und geschaffen, indem sie sich als Ausdruck von Sorge realisiert. Als deren Sinn hatte Heidegger Zeitlichkeit benannt, die sich speziell als Zukünftigkeit verstehen läßt.

Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 323. »Das eigentliche Auf-sich-zukommen der vorlaufenden Entschlossenheit ist zumal ein Zurückkommen auf das eigenste, in seine Vereinzelung geworfene Selbst. Diese Ekstase ermöglicht es, daß das Dasein entschlossen das Seiende, das es schon ist, übernehmen kann. Im Vorlaufen holt sich das Dasein wieder in das eigenste Seinkönnen vor.« Sein und Zeit, § 68 a), S. 339. Hiermit führt Heidegger den Begriff der Wiederholung ein. 140 Sein und Zeit, § 70, S. 368 f. 138 139

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Vergleich

»Das Sicheinräumen ist als ausgerichtetes Gewärtigen von Gegend gleichursprünglich ein Nähern (Ent-fernen) von Zuhandenem und Vorhandenem. Aus der vorentdeckten Gegend kommt das Besorgen ent-fernend auf das Nächste zurück. […] Die Welt ist nicht im Raum vorhanden; dieser jedoch läßt sich nur innerhalb einer Welt entdecken.« 141

Noch klingen Rosenzweigs Worte nach, mit denen er das Verhältnis des Selbst zum Nächsten beschrieben hatte, der ihm »zu-nächst« steht. Raumabmessungen als Beziehungskoordinaten – in beiden Texten findet sich eine vergleichbare Konzeption. Denn beide gehen davon aus, daß sich erst in Relation das Dasein verwirklicht. Rosenzweig hatte darauf hingewiesen, daß dieses zunächst nichts anderes bezeichnet als das Schon-da-seiende. Damit dieses sich zur Welt verwirklicht, muß der Mensch das, was da ist, in Beziehung setzen, indem er sich zu ihm in Beziehung setzt. Gleiches gilt für den Gegenstand und den Nächsten. Heidegger differenziert die beiden Begriffe Dasein und Existenz. Letztere zeichnet sich dadurch aus, daß sich in ihr die Möglichkeitsstruktur des Seins ausdrückt. »Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein.« 142 Zeitlichkeit und Räumlichkeit erweisen sich als Wirkungs-Anzeigen von Eigentlichkeit.

141 142

Sein und Zeit, § 70, S. 368 f. Sein und Zeit, § 4, S. 12.

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III. Muster der Entsprechung

Ein Vergleich der Kapitel- und Paragrapheneinteilungen vom Stern der Erlösung und Sein und Zeit zeigt eine bemerkenswerte Parallelität in der Thematisierung bestimmter Inhalte, sowie in der Verwendung zentraler Begriffe. 1 Diese Entsprechung ist so prägnant, daß es sogar möglich wird, eine Gliederung von Sein und Zeit vorzunehmen, die den drei Teilen im Stern der Erlösung entspricht, zunächst in einer groben Auflistung, die dann noch weiter unterteilt werden kann. So korrespondieren Teil I: »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« die §§ 1–28; Teil II: »Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt« die §§ 29–44 und Teil III: »Die Gestalt oder die ewige Überwelt« die §§ 45–79. Im Folgenden soll eine direkte Gegenüberstellung beider Werke vorgenommen werden. Die Hauptaspekte des jeweiligen Argumentationsverlaufes, die hierfür zu benennen sind, stellen keine inhaltliche Erweiterung des bisher Gesagten dar, sondern sind als Zusammenfassungen zum Zwecke eines Strukturvergleiches zweier Schriften gedacht, deren frappierende Nähe nun erst in ihrem ganzen Umfang ersichtlich wird.

1 Überlegungen zur Konzeption von Sein und Zeit, jedoch ohne Bezug zum Stern der Erlösung, stellen etwa Dandelet/Dreyfus, Recording the beginning chapters of division II of ›Being and Time‹, S. 191 an. Nakahara versucht, Aufschlüsse über die Konzeption von Sein und Zeit durch einen Vergleich mit Vorlesungen Heideggers nach 1927 zu gewinnen, Versuch einer Rekonstruktion von ›Sein und Zeit‹. Dabei betont er, eine Bewertung von Sein und Zeit als »eine der größten Leistungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts« sei »erstaunlich, weil diesem Werk ja der wichtigste Abschnitt fehlt und der das ganze tragende Grundgedanke nirgends entfaltet ist.« S. 419. Es wäre zu überlegen, ob diese Einschätzung haltbar ist, wenn Sein und Zeit in Gegenüberstellung zum Stern der Erlösung gelesen wird.

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Muster der Entsprechung

III.1 »Über die Möglichkeit, das All zu erkennen« Ausgehend von der Forderung, daß Philosophie der existentiellen Verfassung des Menschen Rechnung zu tragen habe, wendet sich Rosenzweig gegen die Konzeption der Wirklichkeit, wie sie sich seiner Auffassung nach speziell im idealistischen Denken ausdrückt. Die hierfür repräsentative Idee vom All wird zurückgewiesen.

§ 1–8: »Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein« Heidegger übt Kritik an der Weise, in der bisher Metaphysik betrieben wurde, da diese es in eklatanter Weise unterläßt, die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen. Hieraus ergibt sich die Aufgabe einer Destruktion bisheriger Ontologien.

III.2 »Gott und sein Sein oder Metaphysik« Im ersten Teil seines Textes betrachtet Rosenzweig die drei Elemente Gott, Welt und Mensch, deren Darstellung er jeweils durch eine ähnlich konstruierte Formulierung einleitet: »Von Gott wissen wir nichts.«, »Was wissen wir denn von der Welt?« und »Vom Menschen – sollten wir auch von ihm nichts wissen?« Begegnen die drei Elemente nicht als Objekte des Wissens, erscheinen sie doch als Erfahrbares. Dieses zeigt Rosenzweig in seinem an-sich-Sein auf, noch unvermittelt und daher nur in einer Form prärationaler Erschließung zugänglich. Eine unmittelbare Entsprechung zu diesem Kapitel findet sich in Sein und Zeit verständlicherweise nicht. Daraus erklärt sich bereits der weitere Verlauf der heideggerschen Darstellung. Für Rosenzweig besteht keinerlei Notwendigkeit, eine primäre Verweisungsbegründung der Elemente zu artikulieren. Welt und Mensch sind Werk göttlichen Wirkens und damit bereits in eine existentielle und essentielle Relation zueinander gestellt. Heidegger muß diese Beziehungsstruktur hingegen erst aufdecken, wenn auch er sie als Kennzeichen des Seins präsentieren will. Seine Akzentuierung des Begriffes der Sorge verdeutlicht die Notwendigkeit, die existentielle Bezogenheit des Seienden strukturell kenntlich zu machen, ebenso wie die Herausarbeitung des Seins-Merkmals des Seins-bei. Mit beiden Verweisungen 202 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

»Gott und sein Sein oder Metaphysik«

liefert Heidegger die allgemein formale Ausweisung der Tatsache, daß Seiendes sich immer schon Sein verstehend zu anderem verhält. Anders als Rosenzweig kann er dieses Verstehen, das jeder Weise der Handhabung von Seiendem in der Welt zugrunde liegt, nicht auf die Stiftung einer präreflexiven Seins-Ordnung zurückführen, wie sie allein schon durch den Gedanken der Erschaffung der Welt verbürgt ist. Die existentielle Verbindung von Seiendem als geschaffen liegt für Rosenzweig immer schon in der Tatsache des gemeinsamen Ursprungs begründet. Heidegger muß diese Verbundenheit, die auch seiner Auffassung nach immer schon besteht, erst begründen. Der Begriff des Seins, das von Seiendem stets vorausgesetzt werden kann, noch bevor es explizit dessen Sinn erfragt, erfüllt in seinem Denken eine grundsätzlich vergleichbare Funktion. Es gewährleistet einen Horizont der Selbst-Vergewisserung, vor dem der Mensch sich in seiner Relation zu Anderem reflektieren kann. Nach der einleitenden Plazierung der Werke könnte der Eindruck entstehen, als könnten die Aufgaben, die Philosophie zugewiesen werden, nicht unterschiedlicher sein. Rosenzweig fordert sie als Medium, um die Erfahrung des Einzelnen, der sich der Endlichkeit seines Daseins konfrontiert sieht, im Verstehen des Sinnes von Sein auffangen zu können. Dabei sollte diese extrem auf den Einzelnen zugeschnittene Einleitung nicht täuschen. Es geht Rosenzweig nicht um die Formulierung einer individualpsychologischen Theorie, sondern um eine philosophische Deutung der jüdischen Religion. Seine Gedanken zur Zeitlichkeit spiegeln diesen Anspruch sehr genau, insofern Sein in der Zeit Sein in Erwartung des Reiches Gottes ist. Heidegger wiederum benötigt das Element der Zeitlichkeit nicht minder dringend für seine Begründung des Relationscharakters von Sein. Denn alles Dasein ist Sein im Entwurf auf Zukunft, wäre doch anders der Gedanke der Sorge, der es um Seiendes im Modus des Tatsächlichen geht, kaum erklärbar. Rosenzweig setzt als Faktizität der Erwartung voraus, was Heidegger formal als Wirkung des Nochnicht im Verhalten zu Seiendem erst begründen muß. Für eine Gegenüberstellung beider Texte muß dieser Umstand zwar immer wieder berücksichtigt werden, doch sollte er nicht zu ihrer grundsätzlich differenten Bewertung führen. Denn beide wollen das Ganze des Seins erfassen und unter einem entsprechenden Konzept zum Ausdruck bringen. Natürlich könnte eingewendet werden, daß darin letztlich das Ziel aller theologisch und ontologisch geführten Diskurse besteht. Was die vergleichende Lektüre vom Stern der Erlösung 203 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Muster der Entsprechung

und Sein und Zeit einzigartig macht, ist die Tatsache, daß Heidegger in der Entwicklung seiner Formalisierungsschritte exakt auf Rosenzweigs Argumentation reagiert.

§ 9–11: »Die Exposition der Aufgabe einer vorbereitenden Analyse des Daseins« Wenn es dennoch möglich ist, nach jenem Part zu fragen, der in Sein und Zeit kompositorisch diesem ersten Buch entspricht, dann ist es die formale Hinführung zum Begriff des »wir je selbst« als Seiendes, das es zu analysieren gilt. Damit bekundet Heidegger die Fokussierung seiner Betrachtung auf das Dasein, aus dem heraus die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen ist.

III.3 »Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik« Rosenzweig fragt: »Was wissen wir denn von der Welt?« Anders als es vielleicht zu vermuten wäre, weist er zur Beantwortung auf die Dinglichkeit der Welt hin. In dieser ersten Annäherung wird sie noch nicht als Ort menschlicher Tätigkeit beleuchtet, sondern als Hervorgegangene aus göttlicher Schöpfung. Die in der Einleitung zum zweiten Teil vorgenommene Ankündigung, Philosophie und Theologie in ihren jeweiligen Defiziten, aber auch in ihren spezifischen Reflexionsmöglichkeiten zusammenführen zu wollen, erinnert auffällig an frühere Entwürfe jüdischen Denkens, ganz besonders an den Führer der Unschlüssigen von Moses Maimonides aus dem 12. Jahrhundert. Die große zeitliche Differenz sollte nicht davon abhalten, hier eine vergleichbare Intention zu erkennen. Dem modernen Menschen, modern im 12. wie im 20. Jahrhundert, der meint, nicht mehr glauben zu können, und zugleich nicht der Philosophie zu vertrauen wagt, wollen Texte wie diese eine Orientierung bieten, die ihn gleichermaßen intellektuell wie spirituell anspricht. So ist der Stern der Erlösung vielleicht nicht, wie Rosenzweig selbst erklärt, als religiöses Buch zu verstehen, aber doch als religions-philosophische Theorie, die auf wissenschaftliches Denken ihrer Zeit Bezug nimmt. Dieses würde die Verwendung des Begriffes der Erscheinung erklären.

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»Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik«

§ 12–24: »Die Weltlichkeit der Welt« Für Heidegger wird Welt nicht in ihrem vorstellbaren An-sich erfaßbar, sondern immer als Ort des Geschehens. In seiner Sicht geht der Mensch mit Seiendem um, das ihm zuhanden ist, nicht als Ausdruck eines um-zu, das auf das Sein gerichtet wäre, sondern bereits in den ersten Ausführungen als Sein-bei. Auch situativ liegt diesem Hantieren eine jeweils variierende Absicht zugrunde, da andernfalls der Gedanke des Zeugs kaum sinnvoll wäre. Wenn gerade festgestellt wurde, daß eine zielgerichtete Auffassung der Wirklichkeit, die sich zu ihrem kommenden Sein entwirft, Heidegger völlig fremd sei, muß diese Ansicht allerdings auf den Kontext von Sein und Zeit eingeschränkt werden. Denn es wird sich zeigen, daß er in seiner späteren Vision eines kommenden Weltreiches des deutschen Volkes exakt Rosenzweigs Betrachtung des jüdischen Volkes aufgreift und entsprechend der eigenen Intention modifiziert. Auch Heidegger fragt also nach der Welt, gibt durch die jeweiligen Formulierungen aber bereits die spezifische Ausrichtung seines Fragens zu erkennen. »Wie gibt sich Welt?« Mit dieser Begrifflichkeit verweist er deutlich auf die phänomenologische Fundierung seines Textes, die er in den einleitenden Paragraphen explizit erläutert hatte. Denn die Weisen der Gegebenheit, in denen Erscheinungen Inhalt des Bewußtseins werden, sind Inhalt entsprechender Analysen. Dasein ist Sein in der Welt. Ihre Dinghaftigkeit betont auch Heidegger, widmet deren Untersuchung jedoch weitaus mehr Aufmerksamkeit als Rosenzweig. Ganz unabhängig von einem Vergleich seines Textes mit dem Stern der Erlösung zeigt Heidegger aufeinander aufbauende Formalisierungsschritte, die aus Beobachtungen des alltäglich Begegnenden Explikationen der Bezugsweisen zwischen Seiendem herausarbeiten. Hier von Abstraktion zu sprechen, wäre verfehlt. Denn es geht ihm nicht darum, allgemeine Aussagen über das Sein zu treffen, deren Gültigkeit auch noch in vollständiger Absehung von Seiendem bestehen könnte. Seine Konzepte sind eher als Aussagen über das Seiende zu lesen, in denen sich dieses in bezug zum Sein präsentiert. So ist beispielsweise eine Kennzeichnung wie die der Bewandtnisganzheit nicht notwendig aus sich verständlich, sondern aus dem umgehenden Verhalten, in dem Seiendes sich erschließt. Jeder Formalisierungsschritt, den Heidegger vornimmt, läßt sich anhand der ihm vorausgehenden Schritte auf das bestimmte Phänomen zurückverfolgen, aus dessen Seins-Weise er entwickelt wurde. Formalisierungsemblem 205 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Muster der Entsprechung

dieser Weise des Umgehens mit Seiendem innerhalb der Welt ist der Begriff des Besorgens. Besorgen ist verwirklichte Relation, weshalb Heidegger als Kennzeichen des In-der-Welt-seins die Bezogenheit nennt. Dieses ist zugleich die Antwort auf die Frage, wie sich Welt gibt. Die zweite Frage Heideggers lautet: »Wie kann Welt Zuhandenes begegnen lassen?« Aus dem Kontext möglicher Verweisungen und Verfügungsmodalitäten konstruiert er den gerade genannten Terminus der Bewandtnisganzheit. Dieser ist letztlich nur dann sinnvoll zu reflektieren, wenn wiederum jenes Merkmal isoliert wird, das seiner Verwendung gleichermaßen vorausgeht und sie ausdrückt – die Erschlossenheit. Bezogenheit und Erschlossenheit ergeben sich somit als Formalisierungen jener Paragraphen, die in unmittelbarer Gegenüberstellung zu Teil I.II im Stern der Erlösung gelesen werden können. Eine Betrachtung der Formalisierungsschritte in Sein und Zeit wird dieser Gegenüberstellung der einzelnen Kapitelinhalte der beiden Werke weiterhin folgen.

III.4 »Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik« Eingeleitet durch die Frage »Vom Menschen – sollten wir auch von ihm nichts wissen?« richtet Rosenzweig seine Aufmerksamkeit auf das Selbst des Menschen. Dieses ist nicht von Anfang an präsent, sondern als bloße Möglichkeit bedarf es der Aktualisierung, die nur als Vereinzelung aus dem als verbindlich geglaubten Gefüge gesellschaftlicher und sozialer Bindungen erfolgen kann. Deren Initiierung ist bereits Gegenstand existenzphilosophischer Theorie gewesen. So gelten die Betrachtungen von Angst und Verzweiflung in Søren Kierkegaards Schriften genau diesem Ziel – sie wollen veranschaulichen, wie ein Mensch zu jenem Bewußtsein gelangt, das ihn das ihm Mögliche und Gemäße erkennen läßt. Rosenzweig skizziert erneut die Todeserfahrung eines Menschen, die ihn aus aller Selbstverständlichkeit des alltäglich Gewohnten reißt und damit eine Selbstwahrnehmung einleitet, die als Gefühl der Entfremdung vom Vertrauten erlebt wird. Fremd im Dasein erfährt der Einzelne dieses als unheimlich.

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»Übergang«

§ 25–27: »Das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein« Heidegger leitet seine entsprechende Betrachtung durch die Frage nach dem »Wer des Daseins« ein. Unter ausdrücklicher Abgrenzung von anthropologischen Referenzen verweist er auf den Begriff des Ich-selbst. Da Dasein immer zugleich Mit-sein mit Anderen ist und Heidegger als Kennzeichnungen des In-der-Welt-seins Bezogenheit und Erschließung herausgestellt hatte, kann er diese nun auf das Sein des Menschen anwenden, dessen Charakteristikum in der Fürsorge besteht. Allmählich zeichnet sich im Verlauf dieser Gegenüberstellung zweier Schriften, die so unterschiedlich wirken und doch so bemerkenswerte Parallelen zeigen, eine höchst brisante Beobachtung ab. Wenn Heidegger, wie sich immer stärker bestätigt, in seiner Darstellung exakt dem Argumentationsgang Rosenzweigs folgt, und dieses sich sogar noch für den dritten Teil des Sterns der Erlösung nachweisen läßt, stellt sich die Frage, wie er mit Rosenzweigs Begriff vom Volk verfährt? Das bisher angewandte Formalisierungsverfahren ergibt hier nur einen einzigen Terminus, den der Zeitlichkeit. In Sein und Zeit geht Heidegger auf den Begriff des Volkes lediglich marginal ein, wohingegen er das Motiv des Rufes und des Hörens intensiv reflektiert. Wie seine späteren Äußerungen aber zeigen, greift er dort jene Merkmale zur Charakterisierung des jüdischen Volkes auf, mit denen Rosenzweig in seinem Text gearbeitet hatte, und interpretiert sie in seinem eigenen Sinne.

III.5 »Übergang« Nachdem im ersten Teil die drei Wirklichkeit konstituierenden Elemente Gott, Welt und Mensch vorgestellt wurden, gilt es im Folgenden, nach der Weise ihrer Verbindung zu fragen. Das Erschließen dieser Bezogenheit verwirklicht im Prozeß des Verstehens von Welt jene Verlebendigung, die Rosenzweig als die Entwicklung des Daseins deutet. Da-sein ist Faktizität, Dasein Dynamik.

§ 28: »Das In-Sein als solches« Mit diesem Paragraphen leitet Heidegger seine Erörterung des InSeins ein, die den Gedanken des In-der-Welt-seins aufgreift und for207 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Muster der Entsprechung

malisiert. Dabei hatte sich Erstaunliches gezeigt, das hier aufgrund seiner Bedeutung noch einmal kurz zusammengefasst werden soll. Heidegger selbst weist darauf hin, daß er in den einführenden Betrachtungen das In-Sein noch vor dessen theoretischer Freilegung vorausgesetzt habe. Der Zusammenhalt der einzeln zu beleuchtenden Aspekte des Welt-Seins sollte auf diesem Wege gewährleistet werden. In auffälliger Parallelität zu Rosenzweigs Anspruch, in den folgenden Kapiteln des Sterns der Erlösung die Elemente in jener Bezogenheit zu betrachten, die ein Ganzes der Wirklichkeit erst erwirken kann, kündigt Heidegger an, nun die Strukturganzheit des In-der-Weltseins zu erörtern, als deren Kennzeichnung er die Sorge ausweist. Der Begriff der Sorge fungiert als Formalisierungsemblem der Bezogenheit. Anders als Rosenzweig faßt Heidegger unter dem Gedanken des Strukturganzen nicht Gott, Welt und Mensch, sondern Welt, Mensch und Selbst zusammen. Es kann als direkte Bezugnahme auf Rosenzweigs Denken verstanden werden, daß Heidegger auf die Gleichursprünglichkeit der drei Elemente hinweist und damit deren Trias, die für Rosenzweig auch Welt und göttliches Sein umspannte, ganz in die Realität der Welt verlagert. Voraussetzung für seine geplante Explikation des In-Seins ist es, dieses aus dem Verfassungsmodus des Welt-seins, dem Da, zu entwickeln, das aus den Formen der Befindlichkeit und des Verstehens zu ermitteln ist. In der Konzeption des Sterns der Erlösung kommt dem kleinen Kapitel Übergang am Ende des ersten Teils eine entscheidende Funktion zu. Denn es artikuliert die Möglichkeit und zugleich die Notwendigkeit, die zuvor für sich betrachteten Elemente der Wirklichkeit nun zusammenzuführen. Aus ihrem separaten Bestand konnte noch keine Realität gebildet werden. Damit leitet er die Darstellung ein, die die beiden nächsten Teile umfassen und in dem Gedanken von »Stand und Sendung« münden wird. Geschaffenes ist, um zu schaffen. In Heideggers Terminologie kann dieser Satz umformuliert werden: Seiendes ist, um zu sein. Nutzt Rosenzweig den Gedanken der Liebe als Beziehung stiftenden Impuls, der Da-seiendes in Lebendiges verwandelt, stellt Heidegger das Formalisierungszeichen der Sorge heraus, das Relationalität benennt. Beide Denker werden an exakt derselben Position ihrer Schriften ein vorontologisches Zeugnis plazieren, um die nicht hinterfragbare Gültigkeit der DynamisierungsImpulse Liebe und Sorge zu belegen – Rosenzweig das Hohelied Salomos, Heidegger die Cura-Fabel.

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»Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge«

III.6 »Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge« Da Schöpfung nicht als abgeschlossenes Werk der Hervorbringung der Welt verstanden werden soll, sondern als immerwährender Prozeß ihrer Gestaltung, zeigt Rosenzweig diesen in seinen Realisierungsaspekten auf. Dabei thematisiert er das Da-sein der Welt und dessen fortgesetzte Verwirklichung, die zu einem nicht unerheblichen Anteil im Umgehen des Menschen mit den Dingen der Welt besteht. Diese werden zu »Zeigbarem« durch den verstehenden Gebrauch, der aus ihrer Bezeichnung ihre Funktion erkennt. Auch wenn diese Feststellung Rosenzweigs bei weitem nicht die Intensität der heideggerschen Theorie von Zeug und Zuhandenem aufweist, liegt doch der maßgebliche Gedanke, aus dem kundigen Anwenden des Gegebenen Welthaftigkeit zu erschließen, bereits hier zugrunde. Im Gegensatz zu Heidegger betont Rosenzweig einen Gedanken, der erklärt, wie Dinge zu Zeigbarem werden – durch die Benennung. Dabei wäre zu fragen, ob diese aus dem Charakter des Gegenstandes oder der benennenden Tätigkeit des Menschen folgt. Für Rosenzweig markieren diese beiden Möglichkeiten, wenn sie denn überhaupt unterschieden werden können, keine Alternativen, da Mensch und Welt von Gott geschaffen sind. Im Vergleich zu Sein und Zeit ergibt sich eine inhaltliche Verschiebung, insofern Heidegger die Dinglichkeit des Zeuges bereits untersucht hat.

§ 29–38: »Die existenziale Konstitution des Da« Um auf der nächsten Formalisierungsstufe die Struktur des Da analysieren zu können, leitet Heidegger aus der Adaption örtlicher Beziehung, dem ›Sich-befinden-in‹, das Motiv der Befindlichkeit ab. Dieses verweist eher auf eine ontische Verortung als eine emotionale Verfassung, auch wenn dieser Aspekt in dem Phänomen der Gestimmtheit impliziert ist. Eine Korrespondenz zu Rosenzweigs Skizzierung des Zeigbaren kann in Heideggers Aussage gesehen werden, daß sich Dienlichkeit und Verwendbarkeit von Zuhandenem aus einem Verstehen erschließen. Dieses wiederum bedingt die Möglichkeiten des Entwurfes, der das Mögliche vor-wirft. Entwurf ist also nicht umgesetzte Gestaltung, sondern Erfassen der zeitlichen Natur des Daseins, das sich als Sein des Da in Zukunft entwirft. Wiederum steht nicht der Gedanke im Mittelpunkt, daß eine Handlung in der Gegenwart 209 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Muster der Entsprechung

eingeleitet wird, deren Vollendung in der Zukunft zu erwarten ist. Vielmehr deckt Heidegger die solchem Funktionsmechanismus zugrundeliegende Möglichkeit auf, daß überhaupt ein Wirken in die Zukunft stattfinden kann. Nicht die Handlung will Heidegger betonen, sondern das Erfassen der Zeitlichkeit im Wirken, das als Entwurf charakterisiert wird. Zur Bezeichnung des Verstehens, das Grundlage des Sich-Entwerfens ist, nutzt er hier den Gedanken des ›Gelichtet-seins‹. Ohne eine plakative Entsprechung zu Rosenzweigs Deutung der Offenbarung konstruieren zu wollen, stellt sich doch die Frage nach der Wahl dieser Begrifflichkeit in beiden Texten. Daß Rosenzweig die Bildlichkeit von Licht und Antlitz nutzt, verwundert nicht im mindesten, ist sie doch aus biblischen Schriften bekannt. Hervorzuheben ist aber, daß er Offenbarung nicht ausschließlich als Geschehen deutet, in dem sich Göttlichkeit zu erkennen gibt, sondern daß er auch das Verstehen des Seins als ein Offenbaren bezeichnet. Im philosophischen Kontext überrascht diese Terminologie, die hier nicht auf das Licht der Vernunft rekurriert. Offenbarung meint vielmehr das Erschließen eines eigentlich schon immer Vertrauten, das nun in einer neuen Dimension zugänglich wird – nicht als ein rational zu Denkendes, sondern als ein seiend zu Erfahrendes. Zweimal spricht sich Rosenzweig gegen die Gleichsetzung von Denken und Sein aus, wie sie seiner Auffassung nach dem idealistischen Konzept vom All zugrunde liegt. Dagegen setzt er seine Theorie der Beziehung von Sein und Erfahrung, die erschließt, was ist, werden kann und sein wird. Heidegger verwendet das Bild der Lichtung in grundsätzlich vergleichbarer Weise. Denn in ihr erschließt sich das Dasein in seiner Strukturganzheit, die nichts anderes kenntlich macht als das Sein in seiner Möglichkeit.

III.7 »Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele« Bisher hatte Rosenzweig das Selbst des Menschen durch seine Isolierung von sozialen Bezügen gekennzeichnet. Nun, da es die Verbindung der drei Elemente zu betrachten gilt, zeigt er, wie das noch stumme Selbst in der Liebe zu Gott seine Bindungsbereitschaft erkennt. Zur Stützung dieses Gedankens greift er, wie gerade angedeutet, auf das Hohelied Salomos zurück, das er als »Kernbuch der Offenbarung« bezeichnet. Denn Liebe ist Ausdruck der Relations210 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

»Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs«

fähigkeit des Menschen schlechthin. Die Tatsache, daß er zur Fundierung seiner Überzeugung nicht auf philosophische Argumentation, sondern auf ein biblisches Zeugnis verweist, bezeugt ihre außerordentliche kontextuelle Bedeutung. Vor diesem Hintergrund wird die Einführung des Motives der Scham nachvollziehbar, mit dem Rosenzweig den Gedanken der Abhängigkeit des Menschen vom Nächsten darstellt. Heidegger wird in entsprechender Weise das Phänomen der Schuld skizzieren.

§ 39–44: »Die Sorge als Sein des Daseins« In Rosenzweigs Argumentation kommt der Einführung der LiebesThematik die Funktion zu, die Öffnung des verschlossenen Selbst zu veranschaulichen. Dieses bedarf eines Impulses, damit es das begreift, was es nur auf sich selbst konzentriert nicht zu verstehen vermag. In der Erfahrung der bedingungslosen Bindungsbereitschaft wird dann die Bedingung jenes Zeit-Erlebens liegen, aus dem heraus Rosenzweig die Möglichkeit der Verwirklichung des Reiches vor der Zeit reflektiert. Heidegger leitet mit § 39 die Analyse der Sorge ein. Da diese nun als Kennzeichnung des Seins erfaßt werden soll, muß er eine Weise benennen, in der das Dasein als Ganzes begreifbar wird. Aus der Erfahrung der Angst erschließt sich diese Möglichkeit, indem das ›nicht-mehr‹ formal als das ›sich-vorweg‹ gefaßt werden kann. Damit bereitet Heidegger seine Theorie der Zeitlichkeit vor, die genau diese vorschreitende Dynamik existentiellen Entwerfens zu erkennen gibt. Nur im sich-vorweg wird das Ganze des Daseins reflektierbar, nicht im Erleben, wohl aber im Verstehen. Da Sorge funktional als Wirken in das Noch-nicht gedacht werden kann, ist sie Repräsentation der Zeitlichkeit. Insofern sie zugleich das Dasein kennzeichnet, das sich über sein Da-sein hinaus entwirft, kann Heidegger sie als den Sinn des Daseins bezeichnen.

III.8 »Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs« Die Verwirklichung des eigentlichen Selbst beschreibt Rosenzweig als Erschließung zum ganzen Menschen. Denn nun weitet sich die vormals exklusiv auf Gott gerichtete Bezogenheit auf den Nächsten, der 211 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Muster der Entsprechung

als Einzelner die gesamte Welt zu repräsentieren vermag. Damit entsteht die Möglichkeit, das Ganze des Seins zu verstehen, das nun in seinen Elementen und in seinen Verwirklichungsmodifikationen denkbar geworden ist. Rosenzweig kann dieses Verstehen als Synonym für Offenbarung deuten, als Offenlegung des Seins in seiner Bedingtheit und in seiner immerwährenden Endlichkeit. Denn nun wird der Gedanke der Zeitlichkeit relevant, die nicht nur aus ihrem Bestand, sondern auch aus ihrem Ausstand ersichtlich wird. Die Orientierung auf das zukünftig Mögliche wird als Gewährleistung zukünftigen Seins lesbar. In den ersten beiden Teilen seines Sterns der Erlösung, die der Betrachtung von Schöpfung und Offenbarung gewidmet sind, formuliert er für die Erkenntnis des Seins relevante Gedanken: Sein erscheint als Welt in dinghafter Vielfalt, deren Tatsächlichkeit Bedingung für den Prozeß fortgesetzter Gestaltung ist. Der Mensch realisiert diese durch Gebrauch und Beziehung, die wiederum nur möglich sind, weil Welt in ihren partikulären Erscheinungen verstehbar ist. In der Verwirklichung der so erschlossenen Möglichkeiten des Seienden bestätigt und bezeugt sich das Verstehen des Seins als Ganzes. Partielles und umfassendes Verstehen leitet Rosenzweig in doppelter Weise her – aus den Erfahrungen, die das Da-sein eröffnet, und aus der Reflexion des Daseins in seiner Struktur der Bezogenheit. Dieser komplexe Vorgang des Begreifens ist Rosenzweigs Auffassung zufolge sowohl in ontologischer als auch in religiöser Begrifflichkeit artikulierbar. Seins-Verständnis korrespondiert der Offenbarung. Dabei wird deutlich, daß das, was sich in Offenbarung erschließt, kein Rezipieren gefügter Wahrheit ist, sondern erst die Einleitung eines andauernden Geschehens von Verwirklichung des Verstandenen. Dieses begründet Rosenzweigs Vorstellung der Vorwegnahme des Erwarteten, in der philosophische Betrachtung in religiöse Überzeugung mündet. Denn einerseits verweist die zeitliche Perspektive der Zukunft auf das Faktum der Zeitlichkeit in seiner Struktur des Nochnicht. Andererseits ist dieses eindeutig definiert, da es das Noch-nicht des Reiches Gottes ist. Erwirken des Erwarteten obliegt auch dem Menschen, der in der Welt Raum für dasjenige Sein schafft, das unter der Signatur des Reiches Gottes Ausdruck letztgültiger Verwirklichung des Möglichen ist.

212 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

»Schwelle«

III.9 »Schwelle« Das Bild des Sternes ist in zweifacher Weise bedeutend. Zum einen ist es dessen Leuchten, das dem Menschen Weg und Weisung ist. Zum anderen verdeutlicht Rosenzweig mit Hinweis auf den Davidstern, in dem sich zwei Figuren zu einer Gestalt schließen, das Gestaltwerden des Reiches. Bereits zu Beginn seines Werkes hatte er Gestalt und Schöpfung unterschieden, insofern sich in ersterer verwirklicht, was letztere als Möglichkeit und Auftrag setzt.

III.10 »Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten« Die Reflexion des Versuches, durch das Gebet das Kommen des Reiches vor der Zeit herbeizuführen, zeigt, daß der eigentliche Weg zu dessen Vorwegnahme nur in der Verwirklichung der Relationsstrukturen des Seins besteht. Das Wirken in der Welt, dem Nächsten zugewandt, schafft die Gestalt der Welt, in der das Ganze ihrer Möglichkeiten realisiert wird. Dieses Wirken des Menschen stellt ihn in den Bezug zur Gemeinschaft, den er als Schicksal begreift, und zugleich in den Dienst der Welt, der in den unterschiedlichsten Formen erfüllt werden kann. Das Wesentliche am »Dienst der Erde« wie am »Dienst des Kultes« besteht in dem Gleichmaß ihrer immer wiederholten Handreichungen, das dazu beiträgt, unendliche Zeitlichkeit als Zeit im Endlichen zu binden.

§ 45–60: »Dasein und Zeitlichkeit« In Heideggers Darstellung gewinnt das Motiv des Sich-vorweg zunehmend an Bedeutung. Dabei meint dieses zunächst kein Herbeiführen des Erwarteten, sondern das Annehmen des Ausstehenden, wie es sich im Sein zum Tode ausdrückt. Gleichwohl liegt auch hier in der Ausrichtung auf das Noch-nicht das zentrale Fundament eigentlichen Selbst-seins. In Rosenzweigs Konzeption mündet das verstehende Sich-Verhalten unmittelbar in der Tat, die Welt als Raum der Erlösung vorbereitet. Eine vergleichbare Annahme würde für Heidegger – zumindest in Sein und Zeit – keinen Sinn ergeben, denn hier analysiert er die formale Struktur des Daseins. Nicht einmal der Gedanke der 213 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Muster der Entsprechung

Eigentlichkeit wird in diesem Text zur Kennzeichnung des ethisch Besseren verwendet. Trotzdem deutet er eine funktional vergleichbare Seins-Demonstration an, die im Bezeugen des eigentlichen Selbst-seins besteht. Zur Veranschaulichung nutzt er den Motivrahmen von Gewissen und Schuld sowie das Bild des Rufes des Gewissens als Ruf der Sorge. Da es in Heideggers Denken keine externe Instanz gibt, von der aus der Ruf des Menschen ergehen könnte, konzipiert er diesen als Ausdruck des Sich-angesprochen-fühlens, in dem sich das Selbst zur Eigentlichkeit auffordert. In diesem Moment bekennt das Selbst sich als schuldig, womit es das einzige ihm mögliche Seins-Testat ausspricht. Es mag so wirken, als würden Heideggers Aussagen in diesem Kontext argumentativ ins Leere laufen. Denn Schuld ist hier kein Anzeichen von Fehlverhalten oder konkretem Vergehen, sondern ihm kommt lediglich die Funktion zu, den Ausdruck des ›ich bin‹ zu gewährleisten. Für Rosenzweig resultiert das Empfinden der Scham aus der Einsicht, auf die Anwesenheit des Anderen verwiesen zu sein, um selbst werden zu können. Dieses heißt aber zugleich, nicht selbst Grund dieser entscheidenden Entwicklung zu sein. In diesem Erleben zeichnete sich also die Weitung der in sich verschränkten Beziehungslosigkeit des Selbst zum Selbst in Relation ab. Wenn Heidegger den Begriff der Schuld vor dem Hintergrund des Grund-seins eines Mangels deutet, nutzt er exakt diesen Gedanken der Öffnung des Ich für das verstehende Einbeziehen des Anderen. Terminologisch faßt er dieses Geschehen als Entschlossenheit. In Heideggers Konzeption werden zwar auch Erschließen und Entschlossenheit bezeugt, doch wem gilt diese Demonstration? Sie kann als Ausdruck des Seins-Verständnisses gedeutet werden, womit dieses das philosophische Pendant zu Rosenzweigs Schöpfungs-Verständnis wäre. Sie könnte gerade im Kontext des gegenwärtigen Diskurses als frühe Artikulation ideologischen Denkens interpretiert werden. Mittlerweile zeichnet sich immer deutlicher ab, daß Heidegger trotz seiner Formalisierungsarbeit, mit der er Gedanken des Sterns der Erlösung fixiert, keineswegs davor zurückschreckt, auch Motive wie Volk, Schicksal, Gewissen und Geschichte zu erwähnen. Diese sind jedoch ihrer Natur nach nicht formalisierbar, da es sich nicht um Strukturen des Seins, sondern um Repräsentationsfiguren des Daseins handelt. Heidegger überträgt sie daher nahezu unverändert. Wie sich noch zeigen wird, ist deren Relevanz damit für ihn jedoch keineswegs erschöpft. Gerade in den Zeugnissen seines poli214 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

»Das Feuer oder das ewige Leben«

tisch-ideologischen Engagements werden diese Begriffe wieder auftauchen und zwar – so unglaublich es auch ist – grundsätzlich in exakt der Deutung, die ihnen Rosenzweig verlieh.

III.11 »Das Feuer oder das ewige Leben« In diesem letzten Teil seines Sterns der Erlösung nimmt Rosenzweig eine Charakterisierung des jüdischen Volkes vor, die seine Einzigkeit aus seiner Eigenheit ableitet. Hören und Schweigen werden als konstitutive Elemente der Gemeinschaft ausgewiesen.

§ 61–65: »Das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins und die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge« Aus dem Gedanken des Sich-vorrufen-lassens, den Heidegger aus den Motiven von Schuld und Ruf extrahiert hatte, kann er nun auf dasjenige Element schließen, das einer solchen Orientierung auf einen Zustand des Noch-nicht erst ermöglicht – die Zeitlichkeit. Dabei fällt sein Blick besonders intensiv auf die Zukunft, die er bereits anläßlich seiner Darstellung der Sorge beleuchtet hatte. Zukunft ist Ausstand ohne konkrete Realisierungsoption. Damit unterscheidet sich Heideggers Deutung in Sein und Zeit klar von derjenigen Rosenzweigs, für den das Ausstehende immer das Erwartete ist, dessen Verwirklichung vom Menschen vorbereitend erwirkt werden kann. Die Eingrenzung auf den Interpretationsrahmen von Sein und Zeit ist insofern erforderlich, als auch das Element der notwendigen Realisierung in der Zeit später von Heidegger genutzt wird, um den Auftrag des deutschen Volkes zu beschreiben und theoretisch zu rechtfertigen. Daß eine solche Adaption einer erschreckenden Dimension nicht entbehrt, sei hier im Vorgriff auf noch zu Zeigendes nur angedeutet.

III.12 »Die Strahlen oder der ewige Weg« Eine Gegenüberstellung jüdischer und christlicher Zeiterfahrung stellt den Begriff eines spezifischen Zeiterlebens des jüdischen Volkes heraus. Da es zu diesen Betrachtungen keine Formalisierung und kei-

215 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Muster der Entsprechung

ne direkte Übertragung in Sein und Zeit gibt, wird abermals auf die folgenden Überlegungen hingewiesen.

III.13 »Der Stern oder die ewige Wahrheit« Ontologisch und religiös akzentuierte Überlegungen fügen sich ineinander. Konnte Rosenzweig Sein als geschaffen denken und das Dasein des Menschen in der Welt zur Voraussetzung des verstehendes Gestaltens von Wirklichkeit fassen, kann er zugleich dieses Entwerfen von Welt als Realisierung des Reiches Gottes deuten. Sein ist in seiner Auffassung also immer Sein, dem es in seinem Sein um die Verwirklichung des Erwarteten geht. Dieses ist jedoch nicht in einer rein zukünftigen Ausrichtung zu verstehen, sondern auch als Ausdruck einer gemeinsamen Seins-Vision. Deren Bildung ist Folge tradierter Identifizierungsschritte, denen Rosenzweig eine Bedeutung zuspricht, die über die reine Überlieferung von Kult und Ritus hinausweist. Religiöse Praktiken können grundsätzlich auch als Handhabungen von Gegenständlichem, von Zuhandenem, im philosophischen Sinne gedeutet werden. Damit bleibt allerdings ihre Auswirkung auf die Gestaltung des zukünftigen Seins aus dem Wissen um dessen Bedingtheit unberücksichtigt. Gerade diesen Aspekt stellt Rosenzweig nun aber mit allem Nachdruck heraus. Die immer wieder ausgeführten kultischen Handlungen gewährleisten nicht nur die Möglichkeit für das jüdische Volk, Zusammengehörigkeit trotz territorialer Heimatlosigkeit zu erleben. Sie verwirklichen in dem immer wieder von neuem erfolgenden Austragen eine Form zeitlicher Unendlichkeit, da jeder Augenblick zwar in sich endlich, doch als solcher wiederum Grund eines neuen Augenblicks ist. Deren Folge, nicht ihre für sich betrachtete Endlichkeit, garantiert eine Vorwegnahme des Zeitlosen in der Zeit. Damit dieses geschehen kann, bedarf es aber einer Stätte, an der die Verzeitlichung des Ewigen, die zugleich Verewigung des Endlichen ist, Statt-finden kann. Vor diesem Hintergrund wird Rosenzweigs wiederholter Hinweis auf die Bedeutung des Hauses noch einmal nachvollziehbar. Dieses ist realer Raum, doch gleichermaßen symbolischer Ort der Einwohnung des Göttlichen. Es ist, wenn der Ausdruck nicht irreführend ist, Abmessung der Begegnung göttlichen und menschlichen Seins. Daß auch Heidegger verschiedentlich das Bild des Hauses nutzt, ist bereits angesprochen worden. Was bedeutet aber für ihn Haus und 216 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

»Der Stern oder die ewige Wahrheit«

Wohnen, wenn es Begriffe ohne religiöse Verweisungstendenz sind. Aber trifft das überhaupt zu? Die Momente innerhalb seiner Argumentationen, in denen Heidegger diese Bildlichkeit verwendet, sind durchweg von höchster Relevanz, wenn es darum geht, Ereignisräume des Seins auszuweisen, Relations-Verortungen zu benennen, in denen Sein geschieht. Damit sind nicht jene Formen phänomenologischer Auffälligkeit von Seiendem gemeint, aus denen Heidegger in Sein und Zeit seine ontologischen Betrachtungen gewinnt, sondern jene Formen existentieller Bezogenheit, die seiner Auffassung nach das Sein des Menschen in der Welt ausmachen. In der Sprache findet Heidegger eine solche Form. Doch auch im Wohnen, das er in 50er Jahren thematisiert und vor allem im Bild des »Gevierts« zeichnet. 2 Dieses ist die Verortung, in der sich »Göttliche und Sterbliche«, »Himmlische und Irdische« in der Beziehung reiner Ko-Existentialität zeigen. Ein genauer Vergleich von ›Stern‹ und ›Geviert‹ kann hier nicht erfolgen. Aber es läßt sich bereits an dieser Stelle festhalten, daß Rosenzweig und Heidegger in ihren jeweiligen Konzeptionen Modelle der Relation schaffen, die Sein als Ganzes umspannen. Das bedeutet nicht, daß ihr Ziel in einer Einebnung des Göttlichen oder des Ewigen bestehen würde, ganz im Gegenteil. Nicht Nivellierung der Differenz zum menschlich-endlichen Sein, sondern Integration des Unterschiedenen in einen Kontext des Seins soll erreicht werden. Für Rosenzweig visualisiert der Stern das Gefüge der Bezogenheit und daraus 2 In seinem 1951 gehaltenen Vortrag Bauen Wohnen Denken schreibt Heidegger: »Nennen wir die Sterblichen, dann denken wir schon die anderen Drei mit, doch wir bedenken nicht die Einfalt der Vier. Diese ihre Einfalt nennen wir das Geviert. […] Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vielfältige Schonen des Gevierts«, in: Vorträge und Aufsätze (1936–1953), S. 152 f. Diese gedankliche Konstruktion von vier aufeinander verweisenden Elementen variiert die Darstellung Rosenzweigs, in der er die drei Elemente Gott, Welt und Mensch – symbolisch gefaßt in der Figur der einen Hälfte des Sterns – aufeinander bezieht. Diese Quelle für die Konzeption des Gevierts zur Kenntnis zu nehmen, könnte die Überlegungen von Steinmann in Die Offenheit des Sinns, S. 338, ergänzen, der zunächst auf eine Herleitung des Gevierts aus Platons Gorgias verweist und dann erklärt: »Dennoch bleiben diese Hinweise solange wertlos, wie nicht erläutert werden kann, worin das genuin begriffliche Interesse an diesen Vorstellungen liegt. Woher die Vorstellungen kommen, ist zunächst weit weniger relevant als die Frage, was mit ihnen gedacht werden soll.« Die Funktion der Bezogenheits-Struktur der vier Elemente, die dem Bild vom Geviert zugrunde liegt, wird in den Überlegungen von Kapitel IV. DIE KONTINUIERLICHE AUSEINANDERSETZUNG der vorliegenden Darstellung beleuchtet.

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Muster der Entsprechung

resultierend die Forderung an den Menschen, dieses zu bezeugen und zu erhalten. Der Stern repräsentiert Stand und Sendung des Menschen, Verstehen dessen, was ist, und dessen, was sein kann. Das Geviert, das Heidegger skizziert, ist ebenfalls ein Gefüge reiner Bezogenheit, auch wenn die Göttlichen, die er in dessen Funktionsrahmen mit dem Menschen verbunden denkt, eher Verweisungen des Absoluten als Wesenheiten religiöser Konnotation sind. Wichtiger als deren Betrachtungen scheint es zu sein, die klare Forderung zu sehen, die Heidegger mit dem Hinweis auf das Geviert verbindet. Wohnen und Wahren sind in seiner Terminologie Anweisungen zum Verstehen und Achten des Seins, das es vor den Überdeckungen funktionaler Nutzbarmachung des Seienden in Welt und Um-Welt zu sichern gilt.

§ 66–79: »Zeitlichkeit und Alltäglichkeit/ Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit« Die Möglichkeit, sich in der Artikulation des Gewissens auf das eigene Sein vorrufen zu lassen, hat Heidegger dargestellt. Aus diesem Gedanken wird noch einmal die zentrale Bedeutung der Sorge ersichtlich, die nun als reines Struktur-Merkmal des Seins gewertet wird. Formal drückt Sorge die Tatsache aus, daß Sein immer Seinbei und Sein-mit ist, fundiert durch die Setzung des um-zu. Damit ist keine Zweckhaftigkeit gemeint, sondern Bezogenheit und Relationalität als Kennzeichnungen des Seins. Da Sorge, wie das ihr untergeordnete Phänomen des Entwerfens zeigt, immer auf ein zu Verwirklichendes zielt, tritt durch ihre Thematisierung das Element der Zeitlichkeit erneut in den Vordergrund. In den letzten Paragraphen von Sein und Zeit wird diese nicht nur unter der Perspektive der Zukünftigkeit, sondern als Geschehen der Geschichte betrachtet. In einer kurzen Replik geht Heidegger auf die Begriffe des Volkes, des Schicksals und des Erbes ein, beläßt es jedoch weitgehend bei deren Erwähnung. Charakteristisch ist es, daß sich Heidegger von einem Begriff von Geschichte abgrenzt, der Vorgänge in der Vergangenheit als historische Ereignisse begreift. Statt dessen bedeutet Geschichte Fundierung des Verstehens von Zeitlichkeit, ist damit also immer ebenso stark auf die Vorstellung von Zukünftigkeit wie auf jene von Gewesenheit ausgerichtet. Im letzten Paragraphen von Sein und Zeit kehrt Heidegger offenbar zu den ein218 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

»Tor«

leitenden Bemerkungen zurück, die sein Projekt methodisch erschließen sollten. So könnten seine Worte, er befinde sich auf dem Wege, als Anspielung an eine notwendige Fortführung der hier begonnenen Arbeit gelesen werden, Sein fundamentalontologisch zu deuten. Es wäre jedoch auch möglich, selbst sie noch als Adaption des Anspruches von Rosenzweig zu verstehen, das Gesagte nicht nur formal, sondern vielmehr existentiell als Vorbereitung zu begreifen. Dafür wäre das Bild des Weges, das Heidegger auch in späteren Jahren immer wieder aufgreifen wird, eine eindringliche Metapher.

III.14 »Tor« Die letzten Betrachtungen Rosenzweigs mögen zwar seinen Stern der Erlösung beschließen, sind aber tatsächlich sprachliche Formen, unter denen er die Öffnung des Gesagten vornimmt. Denn seine Ausführungen waren keine religiösen oder gar mystischen Reflexionen, die ihre Wahrheit nur dem Eingeweihten offenbaren, sondern Aussagen über die Schöpfung als das Sein. Gerade mit Blick auf die eben angesprochene Sicht, Stand und Sendung des Menschen beleuchten zu wollen, entzieht Rosenzweig seinen Text einer endgültigen Verwurzelung im Modus des Betrachtens und erschließt ihn für eine Fortwirkung. Die letzten Worte seines Sterns sind nicht grundlos in optischer Zuspitzung gesetzt. Denn so wird visuell der Begriff des Tores, der diesen letzten Zeilen vorangestellt ist, nicht nur lesbar, sondern geradezu erfahrbar. Das Sprechen über das Reich Gottes, über dessen Bereitung vor der Zeit, kann nur das Verstehen fördern; das Wirken zielt auf eine andere Ausrichtung – »Ins Leben« 3.

III.15 Zur Arbeit der Adaption In drei Schritten erfolgte die Betrachtung der beiden Schriften Der Stern der Erlösung und Sein und Zeit. Zunächst wurden in I. GEGENÜBERSTELLUNG deren Inhalte in relativer Weite skizziert, wo-

Unter Berücksichtigung der Parallelstruktur beider Schriften ist der Auffassung Altmans, Sein und Zeit sei als Verherrlichung des Krieges und seiner Helden zu lesen, zu widersprechen. Martin Heidegger and the First World War, S. 116 und 156.

3

219 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Muster der Entsprechung Der Stern der Erlösung SCHÖPFUNG

OFFENBARUNG

TEIL I

Sein und Zeit DIE ELEMENTE

Einleitung Kritik an Philosophie

§ 1–8

Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein

I.I

Gott

§ 9–11

ABSCHNITT I: Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins

I.II

Welt

§ 12–24 Weltlichkeit der Welt

In-der-Weltsein

I.III

Mensch

§ 25–27 Wer des Daseins

Mitsein und Selbstsein

Übergang

Relation denken

§ 28

In-sein

TEIL II

DIE BAHN

Analyse des In-seins

IN-SEIN

Einleitung Philosophie II.I

Da-sein

§ 29–38 Konstitution des Da

II.II

Liebe Hohelied

§ 39–44 Sorge Cura-Fabel

II.III

Erwartung Reich

Schwelle

Stern

ERLÖSUNG TEIL III

Sorge als Sein des Daseins

SORGE

DIE GESTALT

Einleitung Dienst

ABSCHNITT II: Dasein und Zeitlichkeit § 45–60 Daseinsmäßige Bezeugung

III.I

Volk, Hören § 61–65 Ganzseinkönnen des Daseins

III.II

Juden/ Christen

III.III

Stand und Sendung

Tor

Stern und Leben

§ 66–79 Geschichte, Volk

Ausstand und Ganzheit Ontologischer Sinn der Sorge

Geschichtlichkeit AUSSTAND

220 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Zur Arbeit der Adaption

bei es noch vornehmlich darum ging, diese in ihrer spezifischen Form und Eigenständigkeit darzustellen. Eine erste Verdichtung fand dann in II. VERGLEICH statt. Erste Bezüge zentraler Motive wurden erkennbar. In III. MUSTER DER ENTSPRECHUNG konnte schließlich in einem letzten Ansatz der Komprimierung die Parallelität der Kapitel und Paragraphen in beiden Texten rekonstruiert werden. Hierbei zeigt sich nun, daß Abschnitt I »Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins« aus Sein und Zeit den Teilen I und II im Stern der Erlösung entspricht, Abschnitt II »Dasein und Zeitlichkeit« dem III. Teil, jedoch in stark reduzierter Weise. Dieses Verfahren der Kontrastierung wurde gewählt, um dem Vorgehen Heideggers, so wie es hier für wahrscheinlich gehalten wird, möglichst nahe zu kommen. Drei Kennzeichnungen des Daseins formuliert Heidegger: Das »In-sein«, die »Sorge« und den »Ausstand«. Nun könnte der Eindruck entstehen, daß es sich hierbei um allgemeine Begriffe handelt, die auf dem Wege der Abstraktion gewonnen wurden. Ein solcher Gang der Ermittlung wäre dann von der zugrundeliegenden Bestimmung ihres Gebrauches geprägt, der darin besteht, in allgemeingültiger Form das Sein zu definieren. Gegen eine solche Sicht tradierter Ontologie wendet sich Heidegger jedoch vehement. Denn wird die Bildung wissenschaftlicher Begriffe durch deren Verwendung im bereits festgesetzten Kontext inspiriert und reglementiert, geschieht genau das, was er zu verhindern sucht – die Erscheinungen der Wirklichkeit werden in das Maß ihnen zugedachter Begrifflichkeit gezwungen. Abstraktion zum Zwecke der Erkenntnis läßt zwar das Objekt, an dem sie vollzogen wurde, denkbar werden, doch hat dessen Objekthaftigkeit nur noch wenig mit der ursprünglichen Faktizität des Gegenständlichen gemein. Der Begriff des Seins etwa, den Heidegger einer so eingehenden Neu-Bewertung unterzieht, sagte in seiner allgemeinen Form zwar aus, daß etwas ist, nicht jedoch, was es heißt, zu sein. Es gilt also, von der Aussage einer Gegebenheit zur Analyse ihrer Bedeutung für den Fragenden überzugehen. Genau dieses geschieht in der »Vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins«. Bereits in seinen frühesten Vorlesungen, speziell in jener des WS 1920/21 zur Phänomenologie des religiösen Lebens, verweist Heidegger auf das Verfahren der »formalen Anzeige«, das er der phänomenologischen Methodik zurechnet. Bei der Charakterisierung dieser Art der Kenntnisnahme »faktischer Lebenserfahrung«, auf die in Kapitel V.2 ERFAHRENDE PHILOSOPHIE etwas ausführlicher einzugehen sein wird, betont Heidegger gerade die Möglichkeit, den 221 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Muster der Entsprechung

Sinn des von ihr Angezeigten »in der Schwebe« zu halten, 4 um diesen aus der Befragung des Erfahrenen selbst ermitteln zu können. Vor allem wird aber an den wenigen Aussagen, die er zur Funktionsweise der formalen Anzeige trifft, ersichtlich, daß durch sie auf keinerlei Allgemeinheit der theoretischen Betrachtung hingewiesen werden soll. Statt dessen dient sie als formale Figur eines Denkens, das Sinn bereits voraussetzt. Denn dieser soll aus der Analyse der faktischen Lebenserfahrung ermittelt werden. Es kann nun davon ausgegangen werden, daß die drei Kennzeichnungen des Daseins in exakt dieser Weise zu denken sind – sowohl hinsichtlich ihrer Entstehung als auch hinsichtlich ihrer Funktion. Heidegger bildet sie nicht durch eine zunehmende Abstraktion eines Erfahrungsfundamentes. Im Gegensatz hierzu gewinnt er die Konzepte von In-sein, Sorge und Ausstand durch ein immer weiter geführtes Eindringen in die Funktionsmechanik der jeweils vorausgehenden Begriffe. Nicht Theoretisierung der Erfahrung soll hier erreicht werden, sondern ein Komprimieren der jeweiligen Bedeutungen von Erfahrungen, die als Erscheinungen 5 Inhalt des Denkens werden. Dabei steht hinter jeder Komprimierungsstufe der unbedingte Wille, stets noch den Sinn als Kennzeichnung der Beziehung zwischen Erscheinung und Denken kenntlich zu halten. Im Gegensatz zur Verallgemeinerung, die nur dadurch allgemein gültig sein kann, daß sie den Weg ihrer Entstehung ausblendet, soll die Komprimierung als Verfahren der Konzept-Bildung den ihr zugrundeliegenden Prozeß noch sichtbar werden lassen. Eine Kenneichung wie die der Sorge etwa macht keinen Sinn, wenn sie nicht als Teil ihrer Bedeutung aufzeigt, aus welchem Blick auf das Dasein sie gewonnen wurde. Doch was hat das mit Heideggers Adaption des Sterns der Erlösung zu tun? Es zeigt sich, daß Heideggers Arbeit der Komprimierung eine doppelte ist. Denn zum einen bezieht sie sich auf die Erfahrungen des faktischen Daseins. Zum anderen richtet sie sich auf Rosenzweigs Darstellung im Sinne einer komprimierenden Auslegung, für die hier die Bezeichnung der Konzeptualisierung gebraucht wird. Die drei Seins-Kennzeichnungen entsprechen dabei in »Der Bezug und Vollzug des Phänomens wird nicht im Voraus bestimmt, er wird in der Schwebe gehalten. Das ist eine Stellungnahme, die der Wissenschaft auf das Äußerste entgegengesetzt ist.« Einleitung in die Phänomenologie der Religion, zitiert nach: Phänomenologie des religiösen Lebens, § 12, S. 64. 5 »Jede Erfahrung – als Erfahren wie als Erfahrenes – kann ›ins Phänomen genommen werden‹, […].« Phänomenologie des religiösen Lebens, § 13, S. 63. 4

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Zur Arbeit der Adaption

auffallender Präzision den Inhalten der drei Bücher im Stern der Erlösung: Die Beschreibung der »Elemente« verdichtet Heidegger zum Begriff des In-seins, deren Bezogenheit in der »Bahn« zum Begriff der Sorge und deren Zukunftsorientierung in der »Gestalt« zum Begriff des Ausstandes. Es sei noch einmal daran erinnert: bei den drei Kennzeichnungen handelt es sich nicht um Abstraktionen, sondern um Bedeutungsembleme, denn sie zeigen jeweils an, was es bedeutet, Schöpfung zu leben, Offenbarung Raum zu geben und Erlösung zu erwarten. Schöpfung zu leben heißt, in der Welt zu sein, immer im Bezug zu stehen, immer angewiesen zu sein. Offenbarung Raum zu geben heißt, sich zum Anderen zu verhalten, sich auf ihn zu beziehen, sich zu sorgen. Und Erlösung zu erwarten heißt Dasein im Ausstand, in der existentiellen Ausrichtung auf ein Noch-nicht, dessen Möglichkeit gleichwohl das Dasein prägt. Ob Heideggers Arbeit am Text des Sterns der Erlösung nun als hermeneutisch oder phänomenologisch inspiriert bewertet wird, fügt dem Ergebnis keine wesentliche Dimension des Verstehens hinzu. Denn entscheidend ist letztlich die Beschaffenheit der literarischen Quelle und der Wille zu deren Interpretation. In Rosenzweigs Schrift fand Heidegger eine Darstellung des Daseins, die der seinen sehr nahe kam und diese sogar maßgeblich inspiriert hat. Auch wenn Rosenzweig »Erzählung« zur Form der erfahrenden Philosophie erklärt, 6 nutzt er zur Beschreibung des Seins Begriffe der Philosophie. So spricht er vom Da-sein und von der Welt, vom Verstehen und von der Erscheinung und überträgt damit die Vorstellungsbilder von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung in eine Terminologie der Denkbarkeit, die zum Teil, so könnten kritische Einschätzungen lauten, den Gehalt des Glaubens zu verfremden droht. Da Rosenzweig aber bei der Formulierung seiner philosophischen Sicht der Wirklichkeit dem Wunsch folgt, die Lebendigkeit religiöser Erfahrung im Sprach-System der Rationalisierung so weit wie irgend möglich zu erhalten, entspricht seine Darstellung in grundsätzlicher Sicht dem Vorhaben Heideggers. Aus dieser Perspektive betrachtet bot Der Stern der Erlösung also die nahezu ideale »Was heißt denn erzählen? Wer erzählt, will nicht sagen, wie es ›eigentlich‹ gewesen, sondern wie es wirklich zugegangen ist. […] An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens. Das Denken ist zeitlos, will es sein; […] Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen seinen Nährboden nicht verlassen; […].« Das neue Denken, S. 148 f.

6

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Muster der Entsprechung

Grundlage für eine Bearbeitung. Denn mit seiner Übertragung religiöser Erfahrung in philosophische Begrifflichkeit hatte Rosenzweig einen ersten Schritt in Richtung jener Komprimierung vorgenommen, die Heidegger dann weiter verfolgt. Es ist jedoch sinnvoll, Heideggers Adaption von Rosenzweigs Philosophie in zwei Phasen zu unterteilen. Würden lediglich die Hauptwerke beider verglichen, kann tatsächlich von einer Weiterentwicklung gesprochen werden, da Heideggers Konzeptualisierung Rosenzweigs Denken im weitesten Sinne fortschreibt. Es fällt jedoch auf, daß dieses Verfahren beim dritten Buch »Die Gestalt« fast zum Stillstand kommt. Zwar kann Heidegger seine Auffassung der Zeitlichkeit formulieren, doch widersetzen sich jene Aussagen Rosenzweigs, die dem jüdischen Volk und seiner Geschichte gelten, zwangsläufig der Bearbeitung. Wird der Blick auf Heideggers Texte nach 1927 gerichtet, wird eine zweite Phase der Adaption sichtbar, die sich von der ersten drastisch unterscheidet. Denn von nun an wird es Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit dem Stern der Erlösung für viele Jahre nicht mehr um ein Weiterdenken gehen, sondern um eine teils gewaltsame Aufhebung des Denkens von Franz Rosenzweig.

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IV. Die Kontinuität der Auseinandersetzung

Wie sich zeigen wird, ist Heideggers Auseinandersetzung mit dem Stern der Erlösung durch das Erscheinen von Sein und Zeit keineswegs abgeschlossen. Allerdings zeichnet sich eine auffällige thematische Verlagerung ab. Anhand der motivischen und argumentativen Parallelen zwischen beiden Werken konnte verdeutlicht werden, daß Sein und Zeit als Bearbeitung vornehmlich der beiden ersten Teile des Sterns der Erlösung gelesen werden kann. Auf den dritten Teil, in dem Rosenzweig die Gedanken der Erlösung und der Einzigkeit des jüdischen Volkes beleuchtet, verweisen Heideggers Aussage zur Zeitlichkeit und zur Geschichte, formalisiert im Begriff des Sich-vorwegseins. Daß eine weiterführende Auseinandersetzung mit den religiösen Überzeugungen Rosenzweigs hier nicht zu erwarten ist, wirkt nachvollziehbar, insofern diese nicht Gegenstand der philosophischen Reflexion im Sinne einer Konzeptualisierung werden können. Umso bemerkenswerter ist es, daß besonders diese Ansichten eine deutliche Interpretations-Spur in Heideggers weiteren Werken hinterlassen, die in den Ausführungen der Beiträge zur Philosophie ihren Höhepunkt findet. Es spricht daher vieles dafür, diesen Text als die noch ausstehende intensive Bearbeitung des letzten Teils aus dem Stern der Erlösung zu lesen. Zunächst gilt es jedoch in einigen ausgewählten Skizzen den Weg dorthin zu rekonstruieren.

IV.1 Vom Wesen des Grundes Um die These einer Verwurzelung der heideggerschen Philosophie im Denken Franz Rosenzweigs zu überprüfen, ist es unverzichtbar, deren Entwicklung nach Sein und Zeit bis zur Abfassung der Beiträge zur Philosophie zu verfolgen. Die Abmessung gerade dieser Zeitspanne ergibt sich aus der Feststellung, daß hier die umfassende Auseinandersetzung mit dem dritten Teils des Sterns der Erlösung erfolgt, die noch immer ausstand, da Heidegger in Sein und Zeit zwar eine 225 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Die Kontinuität der Auseinandersetzung

Formalisierung des Motivs des Vorlaufens vorgenommen, die Bearbeitung des Begriffes von Volk und Schicksal hingegen lediglich angezeigt hatte. Es gilt also zunächst das Schaffen Heideggers innerhalb der zehn Jahre, die zwischen seinen beiden großen Publikationen liegen, zu betrachten, um dem Entwicklungsgang seines Denkens in groben Zügen folgen zu können. Wie sich dabei zeigen wird, überlagern ideologische und zeitgeschichtliche Überlegungen zunehmend die philosophische Motivik, die immer stärker als Legitimationsinstrument genutzt wird, um den Geltungsanspruch der Theorie vom deutschen Volk zu fundieren. Bemerkenswert ist, daß Heidegger die aus dem Stern der Erlösung ermittelten Gedanken auch weiterhin nutzt, obwohl sie dort zur Veranschaulichung der Besonderheit des jüdischen Volkes gedient hatten. Daraus entsteht für ihn die Notwendigkeit, an den entscheidenden Argumentationsetappen, aus denen Rosenzweig die Einzigkeit begründet, einzugreifen und entsprechende interpretative Modifikationen vorzunehmen. Von zentraler Bedeutung sind hierfür die Interpretationen der Begriffe vom »Grund« und vom »Anfang«. Denn beide sind unverzichtbar, um das Bild eines geschaffenen Seins durch die Vorstellung eines sich selbst gründenden Seyns zu ersetzen, was dann Auswirkungen auf die Rechtfertigung des jeweiligen Verständnisses vom Volk hat. Das jüdische Volk ist geschaffen, das deutsche Volk erschafft sich selbst. Paradox an der Denkoperation Heideggers ist, daß er die philosophischen Aussagen Rosenzweigs zu einem erheblichen Anteil übernimmt und wenn nötig umdeutet, jedoch gänzlich andere Folgerungen daraus zieht. Fast wirkt es so, als hätte Rosenzweig das argumentative Gerüst vorgegeben, das Heidegger verwendet, um die Unvergleichlichkeit des eigenen Volkes zu erweisen. Da dieses Prädikat jedoch ausschließlicher Natur ist, geht es hier nicht nur um eine neue oder andere Interpretation philosophischer Theoreme und historischer Fakten, sondern um das argumentative Tilgen jenes Weges, auf dem Rosenzweig die Erwähltheit des jüdischen Volkes darstellte. Wenn gerade im Zusammenhang mit den Schwarzen Heften die Frage gestellt wird, ob Heidegger dem Nationalsozialismus mehr oder minder bedingungslos folgte oder ob seine Werke dessen Vorbereitung und Rechtfertigung seien, rückt ein anderer Aspekt nun in den Blick. Denn es ist möglich, Heideggers Denken als Versuch einer Negation der Möglichkeit jüdischer Philosophie zu verstehen. Ob es eine spezifisch ›jüdische Philosophie‹ tatsächlich gibt oder ob nicht das Denken, 226 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Vom Wesen des Grundes

wenn es philosophisch agiert, von jedweder religiösen Differenzierung unabhängig wirkt, ist noch immer Gegenstand der Diskussion. Mit Blick auf Rosenzweigs Schrift kann der Anspruch geltend gemacht werden, Philosophie als Auslegung religiöser Inhalte zu deuten. Die Aussagen Rosenzweigs zum jüdischen Volk sind zwar eher historisch intendiert, bedingen jedoch seine Interpretation des Begriffes der Erlösung. Wenn Heidegger nun exakt in diese Deutung eingreift und sie seiner eigenen Argumentations-Absicht zugrunde legt, bewegt er sich keineswegs auf historischem, sondern philosophischem Terrain. Faktizität der Tradition, auf die sich Rosenzweig beruft, wird in Heideggers willkürlich erdachter Konstruktion völkischer Identität zum Gegenstand der Widerlegung. Ob dieses aus historischer Perspektive überhaupt möglich ist, wäre zu überlegen. Aus philosophischer Sicht ist Heideggers Vorgehen deshalb erschreckend, weil es sich im Rahmen vermeintlich wissenschaftlicher Korrektheit bewegt. Diese Tatsache legt in erschütternden Ausmaßen die Verführbarkeit des Denkens offen, nicht durch ideologische Infiltration, sondern durch die Weite seiner eigenen Möglichkeiten. Es gilt, der Gefährdung bewußt zu sein, die einem Gebrauch der Rationalität gerade deshalb inhäriert, weil er auf dem Verfahren der Argumentation basiert. So können Thesen sehr wohl als bewiesen angesehen werden, ohne daß damit zugleich ihre ethische Angemessenheit erwiesen wäre. Eine Ansicht zu begründen, bedeutet zunächst nicht mehr, als die Möglichkeit ihrer Widerlegung auf ein Minimum zu reduzieren. Heideggers Philosophie veranschaulicht diese Gefahr in dramatischer Weise. Für eine grobe Rekonstruktion der gedanklichen Entwicklung von Sein und Zeit zu den Beiträgen zur Philosophie sind zunächst die 1929, also kurz nach Sein und Zeit erschienenen Schriften interessant, besonders Vom Wesen des Grundes. Denn dort greift Heidegger einerseits das Motiv des In-der-Welt-seins auf, zeigt aber andererseits, wie dieses als sich selbst gründend verstanden werden kann. Unter expliziter Bezugnahme auf den Begriff der Transzendenz akzentuiert er hier den Aspekt des Welt-Bildens, der in Sein und Zeit nicht im Vordergrund stand, da es dort darum ging, die formale Struktur des In-seins als Merkmal des Welt-seins zu kennzeichnen. Während er dort die Frage nach der Begründung von Sein zugunsten der Thematisierung seines Sinnes zurückgestellt hatte, greift er ihre Beantwortung nun in Gestalt der Frage nach dem Grund des Weltseins auf. Von Anfang an wird deutlich, daß die Betrachtung vom 227 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Die Kontinuität der Auseinandersetzung

Wesen des Grundes keine Frage nach Kausalität im Sinne einer Bestimmung des Entstehens von Sein ist. Statt dessen soll Grund als Ursprung des Welt-Bildens verstanden werden. Eng verbindet Heidegger die nun anstehende Suche mit dem Gedanken der möglichen Selbstheit des Seienden, die innerhalb der Bewegung des Übersteigens konstituiert wird, die er als Transzendieren bezeichnet. Wichtig ist es für Heidegger, daß Transzendieren Welt-bildendes Geschehen ist und daher gerade nicht auf eine Annahme außer-weltlicher Realität verweist. Ganz im Gegenteil: »Mit dem Faktum des Da-seins ist vielmehr der Überstieg da.« 1 So kennzeichnet er diesen als Wesensmerkmal jenes Faktischen, das sich vom Bestehenden zum Bildenden zu entwerfen, zu transzendieren vermag. »Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert, die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als In-der-Welt-sein.« 2 In den beiden zitierten Formulierungen fällt eine unterschiedliche Schreibweise des Begriffes ›Dasein‹ auf. War es nicht gerade Franz Rosenzweig, der im Stern der Erlösung das Graphem des Da-seins wählte, um die bloße Vorhandenheit von Seiendem zu markieren? Dieses ist seiner Deutung nach das Produkt der Hervorbringung im Akt der Schöpfung, aber beileibe nicht mit dem Sein der gestalteten Welt identisch. Faktizität des Da-seins ist somit gegründeter Grund jenes Gestaltungsprozesses, innerhalb dessen Welt konstituiert wird, jener zweiten Schöpfung, die als gemeinsames Werk von Gott und Mensch erscheint. Daß diese Weise des Wirkens für Heidegger nicht denkbar ist, ist bereits mehrfach betont worden. Umso interessanter ist es, daß er den Gedanken des Welt-Bildens teilt, ihn jedoch anders begründen muß. Da auch er nun zwischen dem Da-sein als Faktizität und dem Dasein als gestalteter Möglichkeit unterscheiden will, steht für ihn lediglich die Begründung des letzteren als Geschehen des In-der-Welt-seins zur Klärung an. Eine Entscheidung über »ein mögliches Sein zu Gott« will Heidegger mit seiner Deutung des Transzendierens nicht verknüpfen, 3 betont aber, daß aus der Interpretation des Daseins als Inder-Welt-sein überhaupt erst eine Frage nach dem »Gottesverhältnis des Daseins« formuliert werden kann. Wird Transzendenz von Heidegger durchaus konventionell als »Überstieg« verstanden, so ist 1 2 3

Vom Wesen des Grundes, S. 19. Vom Wesen des Grundes, S. 19. Vom Wesen des Grundes, S. 39, Anmerkung 56.

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noch einmal darauf hinzuweisen, daß das »Über« kein ›Über-hinaus‹ bedeutet, das die Bedeutung des Überstiegenen schmälert und es zugunsten des Eingangs in ein Anderes zur Disposition stellt. Es übersteigt nicht das Selbe auf ein Anderes, sonders das Selbst auf sich. 4 Dieses kann somit in keiner Weise willkürlich erfolgen, sondern immer »umwillen« eines anderen, das nicht an sich als anders zu begreifen ist, sondern als anderer Verwirklichungsmodus von Sein – als Dasein. »Im Sein dieses Seienden geht es um dessen Seinkönnen. Das Dasein ist so, daß es umwillen seiner existiert. Wenn aber die Welt es ist, im Überstieg zu der sich allererst Selbstheit zeitigt, dann erweist sie sich als das, worumwillen Dasein existiert.« 5

Selbst-Sein ist Sein, das sich verhält, zu sich und zu anderem. Sichverhaltendes Sein, Dasein, ist In-der-Welt-sein. Es ist bemerkenswert, wie sehr diese Auffassung Heideggers jener von Franz Rosenzweig ähnelt. In Anbetracht dieser starken Akzentuierung der Welt als Realisierungsraum eigentlichen Seins, das immer als Selbst-Sein bestimmt wird, tritt die Tatsache fast in den Hintergrund, daß Welt in Rosenzweigs Deutung auch Werk der Schöpfung Gottes, für Heidegger Werk der Konstituierung durch den Menschen ist. Denn dessen Welt-bildendes Wirken betont auch Rosenzweig als Zeugnis geschehender Offenbarung, nur gründet dieses Wirken in einer Faktizität von Seiendem, deren Ursache in Gott liegt. Die Frage nach der ErstVerursachung von Seiendem spielt für Heidegger keine Rolle, wodurch jedoch die Notwendigkeit sichtbar wird, die Bedingung des Welt-gründens zu untersuchen. Denn welchem Impuls folgt Seiendes, das sich zu sich selbst verhält und als Dasein Welt konstituiert? Die menschliche Wirk-Dynamik, wie sie im Stern der Erlösung thematisiert wird, steht in jedem Augenblick in bezug zum Göttlichen, das sich mit dem Werk des Menschen offenbart. Rosenzweig zeigte deutlich, daß Offenbarung nicht Voraussetzung dieses Geschehens ist, insofern dem Menschen dadurch etwa ein göttlicher Plan und Auftrag zugänglich würde. Indem der Mensch als Selbst seine immer schon gesetzte Bezogenheit auf Anderes realisiert, enthüllt er das Wesen des Seins in Gott und der Welt, das Sein in Relation ist. Trotz»Im Überstieg kommt das Dasein allererst auf solches Seiendes zu, das es ist, auf es als es ›selbst‹. Die Transzendenz konstituiert die Selbstheit.« Vom Wesen des Grundes, S. 18 f. 5 Vom Wesen des Grundes, S. 37. 4

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

dem bleibt in seiner Deutung menschliches Wirken stets durch den Stiftungskontext göttlichen Wirkens begründet, motiviert und gerechtfertigt. Heidegger kann sich auf diese dreifache Ausrichtung des Weltbildenden Geschehens nicht stützen. Mit seiner Frage nach dem »Wesen des Grundes« reagiert er auf diesen Umstand. Deutlich wird die Fokussierung seines Fragens am Begriff des »umwillen«. Auch wenn Rosenzweig diesen Ausdruck nicht mit entsprechender Gewichtung verwendet, würde er doch in seinem Denken Bezug zum Anderen, das das andere im Menschen, in der Dinglichkeit der Welt und in Gott ist, bedeuten. Indem sich ein Mensch im Selbst-sein auf den Nächsten bezieht, verwirklicht er seine Möglichkeit, nicht nur Welt-bildend, sondern vorgreifend auf das Reich Gottes wirken zu können. Damit erhält die Konzentration des Menschen zum Selbst eine über den Augenblick hinausgreifende Bedeutung. Heidegger faßt Transzendenz als Aktualisierung im Sein liegender Möglichkeiten, bindet diese aber konsequent in das Geschehen der Konstituierung von Welt. Übersteigen ist ein Selbst-bildendes Geschehen, durch das sich erst der Welt-Bezug des Seienden realisiert. Da Transzendieren immer ›umwillen‹ erfolgt, dieses aber nicht im Gedanken einer Sinnstiftung nach göttlichem Plan aufgefangen wird, erweist sich das ›umwillen‹ als selbst-zentrierte Motivation. 6 Wenn Heidegger aber in der WeltBildung die Aufgabe des Daseins sieht und eine externe Verursachung nicht in Betracht kommt, muß ihre Begründung allein in der Möglichkeitsstruktur des Da-seins liegen. »Der Überstieg zur Welt ist die Freiheit selbst. Demnach stößt die Transzendenz nicht auf das Umwillen als auf so etwas wie einen an sich vorhandenen Wert und Zweck, sondern Freiheit hält sich – und zwar als Freiheit – das Umwillen entgegen. In diesem transzendierenden Sichentgegenhalten des Umwillen geschieht das Dasein im Menschen, so daß er im Wesen seiner Existenz auf sich verpflichtet, d. h. ein freies Selbst sein kann.« 7

Ermöglichung und Begründung von Transzendenz ergeben sich zirkulär, woraus Heidegger letztlich ihre außerordentliche Wertigkeit ableitet. Wäre es möglich, »Wert und Zweck« für sie zu benennen, Die Gefahr, hierin eine egozentrische Ausrichtung zu sehen, ist Heidegger bewußt, weshalb er erklärt: »Der Satz: Das Dasein existiert umwillen seiner, enthält keine egoistisch-ontische Zielsetzung für eine blinde Eigenliebe des jeweils faktischen Menschen.« Vom Wesen des Grundes, S. 37. 7 Vom Wesen des Grundes, S. 43. 6

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würde ihr dadurch ein äußerer Maßstab der Wirkmotivation auferlegt, was zwar ihr Zustandekommen, jedoch zugleich ihre Bedingtheit erklären würde. Will Heidegger die Ermöglichung Welt-bildenden Geschehens unter Ausschluß einer solchen externen Begründung denken, benötigt er gleichwohl einen Anstoß, der Geschehen auslöst. In Sein und Zeit hatte seine Darlegung der Eigentlichkeit einen so ausgerichteten Blick vorbereitet. Nun wird die Frage nach dem Anfang explizit gestellt, denn selbst das Transzendieren bedarf einer Initiierung. Das einzige Element in Heideggers Welt-Konzeption, das der Veränderung in sich fähig ist, ist das Selbst. Rosenzweig hatte diesen Begriff genutzt, um die Verwandlung des in sich gekehrten, »edelstummen« Selbst zur Seele zu beschreiben, die wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, daß sie sich an den Nächsten zu binden vermag. Wie sich gezeigt hatte, ist dieser Prozeß der Transformation von dem Empfinden der Scham begleitet, diese Verwandlung nicht alleine bewirken zu können. Natürlich kann die liebende Hinwendung zum Nächsten, der das Göttliche repräsentiert, von Heidegger nicht gedacht werden. Doch findet sich in seiner Schrift Vom Wesen des Grundes eine Passage, die an die Formalisierungsbestrebungen aus Sein und Zeit erinnert. »Nur weil Dasein als solches durch Selbstheit bestimmt ist, kann sich ein Ich-selbst zu einem Du-selbst verhalten. Selbstheit ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der Ichheit, die immer nur im Du sich erschließt. Nie aber ist Selbstheit auf Du bezogen, sondern – weil all das erst ermöglichend – gegen das Ichsein und Dusein und erst recht etwa gegen die ›Geschlechtlichkeit‹ neutral.« 8

Die Konditionierung des Selbst-seins als relationales Geschehen nimmt auch Heidegger an, versucht aber sogleich, eine mögliche Deutung im Sinne menschlicher Interaktion zu blockieren. So bemüht er sich, das Prinzip, das dieser zugrunde liegt, kenntlich zu machen, indem er dessen ›Neutralität‹ betont. Ihm geht es nicht um eine Reflexion menschlicher Verhaltensweisen, sondern um die Begründung des Anfanges Welt-setzenden Geschehens. Transzendieren des Da-seins ist nur möglich, wenn dieses sich »selbst« übersteigt, wobei das Selbst-sein bereits Ausdruck und Beleg der Transzendenz ist. Heideggers Zurückweisung einer Assoziation, die bei der Rede von IchDu-Relation »Geschlechtlichkeit« vermutet, würde sich als eine Ab8

Vom Wesen des Grundes, S. 38.

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grenzung von Rosenzweigs Theorie verstehen lassen, der diese Relation als personales Geschehen gedeutet hatte. In einem Formalisierungsschritt leitet Heidegger nun vom ›Anfangen im Selbst‹ zum Gedanken des ›Von-selbst-anfangens‹ über, womit er eindeutig die Initiierung von Welt-Bildung ohne Zurückführung auf eine externe Ursache begründen will. Das Selbst-Sein läßt eine Veränderung vonselbst beginnen, weil es frei wirkt. »Freiheit allein kann dem Dasein eine Welt walten und welten lassen. Welt ist nie, sondern weltet.« 9 Um es noch einmal zu betonen – Heidegger ist aus Gründen, die Mitte der 20er Jahre vielleicht noch nicht klar erkennbar sind, an Rosenzweigs Konzeption der Welt-Bildung interessiert. Diesen Gedanken adaptiert er, muß nun aber alles daran setzen, ihn auch losgelöst von seiner ursprünglich religiösen Fundierung zu belegen. Der Ausdruck des »Weltens« mag Beispiel für die sprachliche Extravaganz Heideggers sein, ist aber vor allem eine Begriffsprägung, die exakt aus dieser Notwendigkeit resultiert. Welt-Bildung geschieht in sich selbst und aus sich selbst und ist damit Geschehnis von höchster Dynamik. Um es aber auch noch einmal zu erwähnen: diese Auffassung vertritt auch Franz Rosenzweig, nur schließt sie die Überzeugung ein, daß Welt als Da-sein, also als Faktizität des Seienden, fundiertes Sein ist. Insofern kann sich Rosenzweig immer auf eine Vorgängigkeit von Seiendem berufen, aus dem sich dann Dasein als Welt-Setzung verwirklicht. Verlangt die Frage nach dem Grund immer nach ursächlichem Zuvor, auf dem etwas gründet, bedarf in seiner Sicht diese Voraussetzung weder der Bestätigung noch der Widerlegung, da sie durch die Überzeugung, Sein als Geschaffenes zu denken, immer schon gewährleistet ist. Nicht so für Heidegger. Für ihn entsteht die Notwendigkeit, die Möglichkeit von Begründung aus Gleichursprünglichem zu erweisen. 10 Zwei argumentative Ansätze verfolgt er, um »Grund« aus dieser Bedingtheit erklären zu können. Zum einen deutet er den Begriff der Freiheit als Welten von Welt. Seiendes übersteigt sich nicht umwillen eines Anderen, sondern umwillen seiner, 11 also seinem Willen Vom Wesen des Grundes, S. 44. »Die Welt gibt sich dem Dasein als die jeweilige Ganzheit des Umwillen seiner, d. h. aber umwillen seines Seienden, das gleichursprünglich ist: das Sein bei … Vorhandenem, das Mitsein mit … dem Dasein Anderer und Sein zu … ihm selbst.« Vom Wesen des Grundes, S. 43. 11 »Der umwillentliche Überstieg geschieht nur in einem ›Willen‹, der als solcher sich auf Möglichkeiten seiner selbst entwirft.« Vom Wesen des Grundes, S. 43. 9

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folgend, mithin frei. Zum anderen intensiviert Heidegger sein Bemühen, die formale Struktur der Welt-Bildung hervorzuheben. Zu diesem Zweck gilt es, die Vorstellung der Gleichzeitigkeit von Seiendem nicht als Ausdruck realer Weisen des sich-Verhaltens zu verstehen, sondern als Bedingungen der Möglichkeit von Seins-Verhaltung schlechthin. »Der Weltentwurf ermöglicht zwar […] vorgängiges Verständnis des Seins von Seiendem, ist aber selbst kein Daseinsbezug zu Seiendem. Die Eingenommenheit [des Daseins von Seiendem] wiederum, die das Dasein inmitten von Seiendem […], von ihm durchstimmt, sich befinden läßt, ist kein Verhalten zu Seiendem. Wohl aber sind beide […] die transzendentale Ermöglichung der Intentionalität […].« 12

Während Rosenzweig die Konstituierung von Welt als ein Geschehen des gemeinsamen Wirkens von göttlicher und menschlicher Bindungsfähigkeit begreift, untersucht Heidegger die Frage, warum überhaupt Relation von Gleichursprünglichem denkbar ist. Mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß Seiendes sich immer ›umwillen von‹ übersteigt, betont er nicht Interaktion von Seienden, sondern die Möglichkeit von Seiendem, sich auf seine Möglichkeiten zu übersteigen. Zwei Aspekte, die in der Bestimmung vom Wesen des Grundes zusammenlaufen, hat Heidegger damit benannt. »Dieses ›erste‹ Gründen ist nichts anderes als der Entwurf des Umwillen« 13 oder die Transzendenz. Zu dieser Form des Gründens »als Stiften« tritt das Gründen »als Bodennehmen«. Damit greift er auf die Gleichursprünglichkeit von Seiendem zurück, das »inmitten von« Seiendem des Daseins ist, jedoch ohne hier auf dessen Faktizität zu deuten. »Dieses ›Inmitten von …‹ besagt aber weder Vorkommen unter anderem Seienden noch aber auch: sich eigens auf dieses Seiende, zu ihm sich verhaltend, richten. Dieses Inmitten-sein von … gehört vielmehr zur Transzendenz. Das Übersteigende und so sich Erhöhende muß als solches im Seienden sich befinden. Das Dasein wird als befindliches vom Seienden eingenommen so, daß es dem Seienden zugehörig von ihm durchstimmt ist.« 14

Das ›Inmitten-von‹ Seiendem muß als Bedingung und Ausdruck von Transzendenz gegeben sein, die ihrerseits das so aufeinander weisen12 13 14

Vom Wesen des Grundes, S. 47 f. Vom Wesen des Grundes, S. 45. Vom Wesen des Grundes, S. 45.

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de Seiende erkennbar und erfragbar werden läßt. Interessant ist es, daß Heidegger hier die Formulierung des »Spielraumes« 15 verwendet, um den Geschehens-Kontext von Transzendenz zu bezeichnen. In dieser noch formal gedachten Kennzeichnung bereitet er die spätere Benennung des »Zeit-Spiel-Raumes« vor, der in konkreter Dimensionierung Ort der Verwirklichung von Seyn wird. Die Rückführung dieses Begriffes auf Rosenzweigs Denken wird an der entsprechenden Stelle aufgezeigt werden. Die Begriffe ›Sein inmitten-von‹, ›sich befinden‹, ›eingenommen sein‹ und ›durchstimmt sein‹ erweisen sich als Fortsetzungen der Erläuterung des In-seins, die sich in Sein und Zeit findet. Dabei zeichnet sich eine nicht unwichtige Erweiterung ab. In-sein benennt die kategoriale Bestimmung des Enthalten-seins, dort bezogen auf das In-der-Welt-sein. Die genannten Ausdrücke fokussieren nun die Möglichkeits-Struktur dieses Welt-Seins. Da-Sein ermöglicht Transzendenz, die dieses, wie bereits angedeutet, nicht überschreitet, sondern es im Aktionsradius der Ermöglichung selbst auf sich zurückkommen läßt. Der so im Dasein selbst gegründete Verweisungskontext von Seiendem ist nicht als Rahmen von Verhaltensweisen aufzufassen, sondern als dessen Bedingung. Als solche fordert er keine Realisierung, sondern Verstehen. Dieses Seins-Verständnis liegt nicht mehr, wie noch in Sein und Zeit, der Frage nach dem Sinn von Sein zugrunde. Statt dessen führt Heidegger es nun an, um die Frage nach dem Grund des Daseins stellen zu können. »Das Seinsverständnis gibt als vorgängigste Antwort schlechthin die erstletzte Begründung. […] Dieses Begründen liegt allem Verhalten zu Seiendem ›zugrunde‹, so zwar, daß erst in der Helle des Seinsverständnisses Seiendes an ihm selbst […] offenbar werden kann.« 16

Damit formuliert Heidegger den dritten Aspekt, den er zu Kennzeichnung des Gründens neben dem Stiften und dem Bodennehmen in Aussicht gestellt hatte: das Begründen. Hier zeigt sich, daß es sich nicht um drei differente Formen des Gründens handelt, sondern um Modi des Gründens in ihrer formalen Charakterisierung. Das Stiften als »Entwurf von Möglichkeit seiner selbst« 17 geht mit dem Bodennehmen einher. Der Ausdruck mag irreführend sein. Wird er als Kennzeichnung der Eingenommenheit von Seiendem gelesen, ver-

15 16 17

Vom Wesen des Grundes, S. 46. Vom Wesen des Grundes, S. 49. Vom Wesen des Grundes, S. 46.

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weist er auf das Da-sein, aus dem und in das sich Seiendes entwirft. Diese beiden Formen des Gründens setzt Heidegger als gleichursprünglich und folgert: Die Ermöglichung des Sich-Entwerfens auf Möglichkeiten, selbst zu sein, die die Verwiesenheit auf das Dasein bezeugt, ist immer auch ein Verständnis von Sein. Dieses Verstehen bezeichnet Heidegger als Offenbarwerden, ohne damit das Enthüllen von bislang Verborgenem andeuten zu wollen. Vielmehr drückt sich im Offenbarwerden des Seienden dessen Gründung als Transzendenz aus. »Das Seinsverständnis gibt als vorgängigste Antwort schlechthin die erstletzte Begründung. In ihm ist die Transzendenz als solche begründend. […] Demnach besagt Grund: Möglichkeit, Boden, Ausweis. Das dreifach gestreute Gründen der Transzendenz erwirkt ursprünglich einigend erst das Ganze, in dem je Dasein soll existieren können.« 18

Heideggers Bestreben wird sichtbar, durch seine Interpretation von Transzendenz eine eventuelle Frage nach einer ursprünglicheren Ursache zu unterbinden. Alle drei Aspekte des Gründens sind ausschließlich auf Da-sein bezogen, dessen Sein als Sein in Möglichkeit sie sichtbar werden lassen. Speziell mit Blick auf das Begründen betont er, daß damit kein »Beweisen ontisch-theoretischer Sätze« 19 gemeint ist, sondern eher ein Zu-verstehen-geben der Beschaffenheit von Sein. So gilt es nicht zu erklären, warum dieses ist, sondern warum es werden kann – im Rahmen der Möglichkeiten seines Da-seins. Diese Eingrenzung ist stets zu berücksichtigen, selbst wenn Heidegger die Frage formuliert, warum überhaupt etwas ist. Sein, so könnte ergänzt werden, zeigt sich nie in bloßer Faktizität, sondern in seiner Entwurfs-Struktur, für deren Benennung Heidegger den Begriff des Existierens wählt. Mit dieser Bezeichnung geht freilich die Aussicht auf das dem Sein eigentlich zu eignende Sein-können einher, wodurch Heideggers Sicht abermals in bemerkenswerte Nähe zu derjenigen von Franz Rosenzweig rückt. Offenbarung interpretierte dieser durchaus eigenwillig als Freigabe jenes Blickes, der die Möglichkeit von Wirken im Gleichklang göttlicher und menschlicher Kompetenz zu erkennen gibt. Ausgerichtet war dieser Blick auf die Vorbereitung des Reiches, das die Welt nicht überformen oder gar ersetzen sollte, sondern diese »durchdringen«, wie es hieß. Offenbar18 19

Vom Wesen des Grundes, S. 49 f. Vom Wesen des Grundes, S. 48.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

werden im Sinne Heideggers kann bis zu dem Gedanken der Ausrichtung analog gelesen werden, wobei eine Äußerung am Ende von Vom Wesen des Grundes auffällt. Zunächst setzt Heidegger seinen dreifachen Begründungskontext der Auflistung der vier Ursachen, wie sie Aristoteles vorgenommen hat, entgegen. Denn diese können seiner Ansicht nach nicht jene Einheit aufweisen, die erforderlich ist, um das Ganze des Seins begründen zu können. 20 Seine eigene Definition zusammenfassend, schreibt er: »Das Wesen des Grundes ist die transzendental entspringende dreifache Streuung des Gründens in Weltentwurf, Eingenommenheit im Seienden und ontologische Begründung des Seienden.« 21 Die Titulierungen der drei Aspekte des Gründens variieren, nicht jedoch Heideggers Vorsatz, dieses als Geschehnis-Bedingung des Existierens auszuweisen. Doch nun findet sich eine Formulierung, die innehalten läßt. Ausgangspunkt ist die Frage, warum die drei Aspekte alle als Formen des Gründens bezeichnet werden. Die Feststellung, daß sie in »einer Hinsicht« identisch sind, kommentiert Heidegger wie folgt: »Die Aufhellung der Bedeutung aber, hinsichtlich deren sich die drei unzertrennlichen Weisen des Gründens einheitlich und doch gestreut entsprechen, läßt sich in der ›Ebene‹ der jetzigen Betrachtung nicht durchführen. Andeutungsweise genüge der Hinweis, daß Stiftung, Boden-nehmen und Rechtgebung je in ihrer Weise der Sorge der Beständigkeit und des Bestandes entspringen, die selbst wiederum nur als Zeitlichkeit möglich ist.« 22

Zunächst zeigt sich eine abermalige Umbenennung der drei Gründungsaspekte, die alles andere als beliebig ist. Denn nun beinhaltet ihre Markierung, die bislang der Kennzeichnung der Möglichkeitsstruktur des Seins diente, eine latent fordernde Inanspruchnahme, wenn vom »Boden-nehmen« und der »Rechtgebung« die Rede ist. Mit dieser Umwidmung verläßt Heidegger sogar die bisher vertretene ontologische Perspektive zugunsten einer moralisch-motivierenden, denn es beginnt sich hier abzuzeichnen, was er – wie er selbst ankündigt – an anderer Stelle ausführen wird. Wenn es zugespitzt formuliert werden darf, dann handelt es sich um die Umwandlung »Das Wesen ›des‹ Grundes läßt sich nicht einmal suchen, geschweige denn finden dadurch, daß nach einer allgemeinen Gattung gefragt wird, die sich auf dem Wege einer ›Abstraktion‹ ergeben soll.« Vom Wesen des Grundes, S. 50 f. 21 Vom Wesen des Grundes, S. 51. 22 Vom Wesen des Grundes, S. 51. 20

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des Ermöglichungs-Kontextes in den Ermächtigungs-Nachweis. Denn die Bestimmungen des Gründens legen nicht mehr nur die Beschaffenheit des Daseins aus, sondern dessen Auftrag. In dieser Deutung nimmt Vom Wesen des Grundes die entscheidende Schlüsselstellung zwischen Sein und Zeit und den Beiträgen zur Philosophie ein, was in dem entsprechenden Kapitel zu zeigen sein wird. Denn die »Sorge der Beständigkeit und des Bestandes« erweist sich als Sorge um das Volk. Eine der größten Auffälligkeiten im Vergleich der Theorien von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger besteht sicherlich darin, daß letzterer in weiten Strecken die Argumentationen aus dem Stern der Erlösung in mehr oder minder formalisierter Gestalt adaptiert, was bis zu dem Punkt realisierbar ist, an dem Rosenzweig sie zur Begründung der Einzigkeit des jüdischen Volkes und seiner Bestimmung einsetzt. In Sein und Zeit scheint Heideggers eigenes Interesse an der Erhebung des eigenen Volkes noch nicht stark genug ausgeprägt gewesen zu sein, um entsprechend vorzugehen. Dort findet sich nur ein knapper und recht unmotiviert wirkender Hinweis auf Volk und Geschick. In den dreißiger Jahren intensiviert sich dieses Interesse deutlich, weshalb nun auch die Bearbeitung des dritten Teils aus Rosenzweigs Schrift in Angriff genommen wird – jedoch in gänzlich anderer Absicht. Die kleineren Texte aus den Jahren 1928/29 sind als Texte der Vorbereitung und des Übergangs zu verstehen, ebenso die noch zu beleuchtende Auseinandersetzung mit der Dichtung Friedrich Hölderlins. Die Schrift Vom Wesen des Grundes erfüllt eine mehrfache Aufgabe. Sie geht unter Ausblendung der Frage nach der Erst-Verursachung von Seiendem den Bedingungen der Möglichkeit des Existierens nach, das sie als Entwurf des Seienden auf sich und auf Anderes deutet. Die dreifache »Streuung« der Transzendenz, die Heidegger für deren Erläuterung benennt, zeigt jedoch eine gewisse Analogie zu Rosenzweigs dreifacher Seins-Begründung in den Motiven von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. Denn wird der argumentative Gehalt betrachtet, den Rosenzweig aus seiner Interpretation dieser religiösen Gedanken schöpft, weist er eindeutig über rein religiöse Bedeutung hinaus und beansprucht philosophische Beachtung. Schöpfung wird von ihm als Erschaffung des Seins und Ermöglichung zu dessen fortgesetzter Entwicklung zur Gestalt der Welt gedeutet. Wird diese Auslegung von ihrer religiösen Fundierung gelöst, kann sie als Begründung des Sich-Entwerfens – als Stiftung – verstanden 237 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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werden. In der Offenbarung sieht Rosenzweig weniger ein einmaliges Geschehnis, in dem sich Göttliches dem menschlichen Auge darbietet, sondern vielmehr das Einblicknehmen in die Struktur der Wirklichkeit, die durch ihr ›Werden-Können‹, ihr ›Selbst-werdenkönnen‹ charakterisiert wird. Selbst-werden heißt für Rosenzweig aber nicht egoistische Verkapselung des Menschen, sondern Hinwendung zum Anderen. Mit dem Begriff des Eingenommenseins, wenn diese Titulierung des zweiten Gründungs-Aspektes ausgewählt wird, beschreibt Heidegger die relationale Natur des Daseins unter Akzentuierung der Möglichkeit des Überstiegs des Seienden auf sich, der jedoch das Andere einbezieht. Beide Aspekte zusammen erweisen sich als Bedingungen der Möglichkeit von Transzendenz als Entwurf, als Weltentwurf. In Rosenzweigs Deutung der Erlösung zeigt sich seine Überzeugung, daß das Verstehen dessen, was dem Menschen möglich ist, im ultimativen Verständnis seiner Bestimmung mündet. Heidegger skizziert den dritten Aspekt des Gründens als Begründen. Zwar verbindet er damit zunächst das Ausweisen ontologischer Wahrheit, doch wird diese Kennzeichnung durch die Benennung als Recht-geben in Richtung übergeordneter Interessen verschoben, wie sie im Gedanken von Bestand und Beständigkeit zu ahnen ist. Paradoxerweise kehrt Heidegger damit wieder zu Rosenzweigs Interpretation zurück, insofern das Verstehen der Möglichkeit des Seins die »Begründung« der Möglichkeit, Volk zu sein, formuliert.

IV.2 Überlegungen II–VI Wenn Franz Rosenzweig im Stern der Erlösung vom Volk spricht, dann geschieht es in der Unmittelbarkeit religiöser Gewißheit. Diese beinhaltet die Erwartung des kommenden Reiches ebenso wie das Bewußtsein der Identität des jüdischen Volkes, das den Erstreckungszeitraum seines Existierens von seiner Geschichte bis in seine noch ausstehende Zukunft umspannt. Entscheidend ist dabei, daß jeder Moment des vergangenen Seins auf die Erwartung des noch Unverwirklichten ausgerichtet ist, das wiederum das Ausstehende eines Seins in seiner Geschichte ist. Ein Blick auf Martin Heideggers Sein und Zeit hatte dort zwar auch die Erwähnung von Volk und Schicksal gezeigt, jedoch handelte es sich hierbei um Nennungen ohne weiterführende inhaltliche Klärung. So konnte der Eindruck entstehen, daß Heidegger Mitte der 238 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Überlegungen II–VI

20er Jahre an einer philosophischen Reflexion des Begriffes vom Volk noch nicht sonderlich interessiert gewesen ist. In den 30er Jahren gewinnt diese Thematik in seinen Texten zunehmend an Bedeutung, wobei sein Ziel im Nachweis der Sonderstellung des deutschen Volkes besteht. Wie sich im weiteren Verlauf der Darstellung bestätigen wird, ergibt sich hieraus eine philosophiegeschichtlich beispiellose Situation: Zwei Denker nutzen ein und dieselbe Deutung des Daseins in der Welt, um die Einzigkeit ihres eigenen Volkes belegen zu können. Daß die Konzeptionen des Daseins trotz ihrer differenten Fundierung im religiösen und im ontologischen Denken zu massive Parallelitäten aufweisen, um noch als Ergebnis zufälliger Ähnlichkeit interpretiert werden zu können, zeichnet sich immer deutlicher ab. Außer Frage steht Heideggers selbst bekundete Affinität zu Schriften, die entweder das nationalsozialistische Denken geprägt haben oder von diesem vereinnahmt wurden. In diesem Kontext ist natürlich jene in letzter Zeit vielzitierte Passage eines Briefes an seinen Bruder Fritz vom 31. Dezember 1931 zu nennen, in der Heidegger das »Hitlerbuch« trotz seiner Schwäche in den »selbstbiographischen Anfangskapiteln« empfiehlt: »Daß dieser Mensch einen ungewöhnlichen und sicheren, politischen Instinkt hat und eben schon gedacht hat, wo wir alle noch benebelt waren, das darf kein Einsichtiger mehr bestreiten.« 23 Die außergewöhnliche Nähe, in der Heideggers Konzeption des Volkes, die er argumentativ sichern will, zu Hitlers Auffassung steht, ist nicht nur Produkt einer halbherzigen Annäherung, sondern Zeichen grundsätzlicher geistiger Verwandtschaft. Denn in Mein Kampf heißt es: »Wie viele begreifen denn die Anzahl einzelner Erinnerungen an die Größe des Vaterlandes, der Nation, auf allen Gebieten des kulturellen und künstlerischen Lebens, die ihnen als Sammelergebnis eben den berechtigten Stolz vermitteln, Angehörige eines so begnadeten Volkes sein zu dürfen?« 24 Heidegger verfolgt mit eindeutigem Willen das Projekt, aus der Berufung auf deutsche Dichtung, die er in den Werken Friedrich Hölderlins findet, die Identität des Volkes heraufzubeschwören. Dabei spricht er diesem Vorhaben immer deutlicher eine seinsgeschichtliche Dimension zu, da das Zu-sich-finden des Volkes die Bedingung für die Verwirklichung des Seyns wird. Dieser Anspruch greift weit über nationale oder territoriale Interessen einer Gemeinschaft hinaus, da 23 24

Heidegger und der Antisemitismus, S. 21 f. Mein Kampf, I, S. 155.

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das Volk zum Hüter des Seyns ernannt wird. Die Aufgabe, »Hüter und Träger echter deutscher Art« zu werden, artikuliert auch Walther Darré in Neuadel durch Blut und Boden. 25 Besonders der Gedanke, tatsächlich einen ›neuen Adel‹ zu schaffen, wird hier ausgeführt, der in unverkennbarer Nähe zu Heideggers wiederholter Forderung steht, das Volk zu seiner wahren Identität zu führen. »Wir müssen einen echten Adel für unser Volk wieder ins Leben rufen.« 26 Die Formulierung eines Imperativs folgt: »Handle als Deutscher stets so, daß dich deine Volksgenossen zum Vorbild erwählen können.« 27 Diese existentielle Aufgabe kommt jedoch einzig den Deutschen zu, weshalb Heidegger deren Einzigkeit mit den Mitteln der Philosophie demonstrieren will. Daß auch einzelne Akzente, die Heideggers Argumentation charakterisieren, durchaus mit Formen des Denkens der 20er und 30er Jahre kompatibel sind, kann anhand weiterer Literaturempfehlungen gezeigt werden, die er seinem Bruder gegenüber ausspricht. So schenkt er diesem 1932 Deutschland in Ketten von Werner Beumelburg 28 und erklärt in dem begleitenden Brief: »Kennst Du Hans Grimm, ›Volk ohne Raum‹; wer’s noch nicht weiß, lernt hier, was Heimat ist und was Schicksal unseres Volks.« 29 Obwohl sich Heidegger kritisch zur Person Alfred Rosenbergs äußerte, zeigt ein Blick auf dessen Mythos des 20. Jahrhunderts doch ebenfalls eine markante Ähnlichkeit jenes Bedürfnisses, aus dem heraus sich der Wille zum Volk artikuliert. »Das Blut, welches starb [mit den Helden des Weltkrieges], beginnt lebendig zu werden. […] Gegenwart und Vergangenheit erscheinen plötzlich in einem neuen Licht und für die Zukunft ergibt sich eine neue Sendung.« 30 Darré, Neuadel aus Blut und Boden, S. 223. Neuadel aus Blut und Boden, S. 13. 27 Neuadel aus Blut und Boden, S. 59. 28 »Man braucht nur einmal diese ›Geschichte‹ Deutschlands mit klaren Augen zu sehen, um [zu] wissen, was es heute gilt.« Heidegger und der Antisemitismus, S. 26. 29 Heidegger und der Antisemitismus, S. 27. Im erwähnten Volk ohne Raum etwa heißt es: »Wann beginnt eines Menschen Geschichte? Das Schicksal kommt einen weiten Weg gegangen und die Geschichte jedes Mannes fängt bei seinem Volke an.«, S. 24. 30 Rosenberg, Der Mythos der 20. Jahrhunderts, Einleitung. Und an späterer Stelle bestimmt Rosenberg den »Mythus«, dessen Deutung wesentlich auf einer Abkehr von tradierten Werten basiert: »Die Werte des Charakters, die Linien des Geisteslebens, die Farbigkeiten der Symbole laufen nebeneinander her, verschlingen sich und ergeben doch einen Menschen. Aber nur dann in ganzer blutvoller Fülle, wenn sie selbst Folgen, Geburten aus einem Zentrum sind, das jenseits des nur erfahrungs25 26

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Auch ein Blick in weitere Texte, die in diesem Kontext relevant sind, belegt Heideggers durchaus ernstzunehmende Affinität zum Empfinden der Zeit, jener Mischung aus Kränkungsempfinden und Erwähltheitsphantasien, die teils Vorbereitung, teils Ausdruck des Identitätsbewußtseins im Nationalsozialismus ist. So heißt es in dem von ihm gerühmten Text Deutschland in Ketten: »Die Ereignisse, die dieses Buch bedenkt, beginnen mit der Stunde furchtbarster Demütigung, die Deutschland je in seiner bewegten Geschichte zu erdulden hatte. Erst heute vermögen wir schaudernd zu begreifen, wie tief uns das Schicksal damals beugte. […] Daß wir den Weg, den uns das Schicksal vorschreibt, mit Entschlossenheit und Kraft, als deutsches Volk und als Nation gehen mögen – das ist unser Gebet!« 31 Der Begriff der Entschlossenheit läßt natürlich sogleich an dessen Verwendung bei Heidegger denken. Doch ist darauf hinzuweisen, daß er – zumindest in Sein und Zeit, noch einer philosophischen Bedeutung folgt, die dem Verstehen des Seins-Ganzen als Akt des Bezeugens und der Einwilligung entspringt. Dieser Gebrauch schließt die spätere völkische Inanspruchnahme nicht aus, muß aber auch nicht zwingend nur vor ihrem Hintergrund rezipiert werden. Es ist hier nicht der Ort, die Bezüge von Heideggers Denken zu den Inhalten der genannten Schriften zu untersuchen. Statt dessen sei lediglich auf wenige thematische Entsprechungen hingewiesen, die sich zeigen. Heidegger versucht in verschiedenen Texten zwischen Sein und Zeit und den Beiträgen zur Philosophie die Möglichkeit zu betonen, daß die Geschichte des deutschen Volkes, die zur Bildung seiner Identität notwendig ist, durch das Volk selbst zu begründen ist. Das immer wiederkehrende Motiv des ›neuen Anfanges‹ ist Ausdruck hierfür. Die Rekonstruktion der Geschichte Deutschlands von »Versaille bis zum Youngplan«, wie der Titel von Beumelburgs Schrift ankündigt, spiegelt Heideggers Vorstellung, daß das eigentliche Sein der Deutschen, das Seyn, erst noch beginnt. Die Nennung des RaumBegriffes in Grimms Roman von 1926 bezieht sich zwar auf konkret territoriale Ansprüche. Doch erweist sich der Gedanke des Zeit-SpielRaumes als eines der zentralen Theoreme in Heideggers Texten dieser Zeit. Raum als Geschehnis-Ort, als Stätte des Ereignisses, das Seyn erwirkt, fokussiert ohne Frage einen anderen Aspekt. Doch wird mäßig Erforschbaren liegt. Diese nicht faßbare Zusammenfassung aller Richtungen des Ich, des Volkes, überhaupt einer Gemeinschaft, macht seinen Mythus aus.« S. 459. 31 Beumelburg, Deutschland in Ketten, Vorwort und S. 438.

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durch diese plakative Gegenüberstellung heideggerscher Denk-Motivik zu populären Verlautbarungen jener Jahre erkennbar, wie sehr das Philosophische offenbar dem Zeitgeist entspricht. Im weiteren Verlauf gilt es zu zeigen, daß sich Heideggers Aussagen in diesem Kontext von Problematisierung und Stilisierung des Begriffes vom Volk weitgehend auf Rosenzweigs Konzeption im Stern der Erlösung stützen. Dabei entsteht für ihn eine erhebliche gedankliche Herausforderung. Wie will er die Besonderheit des deutschen Volkes plausibel begründen, ohne auf eine historische Verbürgtheit seiner Zukunft zurückgreifen zu können, wie sie im Stern der Erlösung zu finden ist. Die Betrachtung seines Vortrages Vom Wesen des Grundes hatte gezeigt, wie er argumentativ vorgeht: Grund wird nicht als Kausalität gekennzeichnet, die als Ursächlichkeit von Sein in Anspruch genommen werden kann, sondern in dreifacher Ausprägung als Gründen im Da-sein. Dabei erscheint das Gegründete stets als sich selbst gründend, indem es sich auf sich und das Dasein hin entwirft. Begründung und Realisierung finden zeitgleich statt. Vor diesem Hintergrund wird der Nachweis für Heidegger extrem wichtig, daß Gründen als jeweils erster Anfang zu verstehen ist. Damit koppelt er seine Überlegungen von jeder eventuell noch implizierten Rückbindung an die Vorstellung einer Erstursache ab, die ihn in allzu große Nähe zur Annahme eines Schöpfergottes führen könnte. Doch schon mehrfach hatte sich gezeigt, daß er in seinem Bestreben, sich von Rosenzweigs Auffassungen zu distanzieren, Gedanken formuliert, die jenem gar nicht fremd wären. Nicht der Gedanke als solcher ist also allein entscheidend, sondern das Ziel, dem er folgt. Denn auch Rosenzweig plädierte dafür, Welt-Gestaltung nicht als Schöpfung eines letztlich abgeschlossenen Ganzen zu sehen, sondern als immer wieder von neuem anfangendes Geschehen, in dem sich der Mensch als Selbst auf anderes Seiendes bezieht und damit eine Stätte für das Kommen des Reiches in der Welt vorbereitet. Diese Motive tauchen auch verstärkt in Heideggers Überlegungen II–VI auf, die hier als begleitende Dokumente gelesen werden, um die Entwicklung seiner Ideen speziell im ideologischen Kontext rekonstruieren zu können. Als eine direkte Abkehr von Vorstellungen des Kommenden im religiösen Verständnis muten folgende Zeilen aus dem Jahr 1932 an: »Die wesenhafte Ungewißheit in der Übernahme des Auftrags – Abwehr der verderblichen Meinung: das Kommende sei damit errechnet und nur

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durch Wollen einfach zu erzwingen! Im Gegenteil: durch höchsten Willen und denkerische Klarheit wird gerade die Unberechenbarkeit, die Gefahr des Entzugs gesteigert und demnach erwiesen: dem Auftrag gegenüber keine Ruhe des Besitzes, sondern die volle Weite der Ausgesetztheit im Ganzen.« 32

Wird es als Charakteristikum der Schwarzen Hefte angesehen, daß hier nicht strukturiert vorgegangen, sondern teils spontan den Gedanken Ausdruck gegeben wird, schreckt diese Unmittelbarkeit in ihrer fast eruptiven Präsenz mitunter ab. So demonstrieren obige Zeilen in ihrer krassen Kontrastierung der ›errechneten‹ und der ›wissenden‹ Erwartung des Zukünftigen Heideggers Intention, die er in seinen philosophischen Schriften umzusetzen versucht. Auf Kommendes ist auch sein Denken gerichtet, nur unterscheidet sich dieses in – seiner Ansicht nach – größtmöglicher Weise von jener Selbstverständlichkeit, mit der dessen Eintreten »errechnet« und »erzwungen« werden soll. So hebt er drastisch das vermeintlich einzig wahre Erwarten hervor, dessen nur das deutsche Volk fähig ist. Für ihn ist die Akzentuierung der Tatsache, daß die Identität eines Volkes durch dessen Haltung der Zukunft gegenüber bestimmt wird, deshalb immens wichtig, weil er sie aus der Vergangenheit und Geschichte der Deutschen gerade nicht begründen kann. Die eine Hälfte der zeitlichen Erstreckungsdimension, auf die sich Rosenzweig berufen kann, fällt somit für ihn fort. Mithin steht für ihn fest: ein Volk wird zum Volk durch die Art und Weise, wie es sich zum Volk bildet. Das als halbherziges Errechnen diskreditierte Wirken des Gläubigen verblaßt in dieser verzerrten Wahrnehmung gegenüber der Haltung desjenigen, der in der ganzen Schwere des Schicksals den Auftrag, dem er sich konfrontiert sieht, trägt und austrägt. Aus diesem Grunde ist es für Heidegger unverzichtbar, das Erwirken des Kommenden als Kampf zu definieren, was sich besonders in seiner Hölderlin-Interpretation als äußerst problematisch erweisen wird. Die Gefährlichkeit von Heideggers Würdigung des Kampfes und sogar des Krieges als identitätsstiftendes Geschehen zeigt sich hier in verstörender Form. Denn sie ist kein Zugeständnis an das politische Denken jener Zeit, sondern notwendiger Bestandteil seiner philosophischen Argumentation. Die Frage, was der Mensch sei, die Heidegger 1929 in Kant und das Problem der Metaphysik stellte, hat inzwischen die Form des »Wer sind wir?« 33 angenommen, jenes fast 32 33

Überlegungen und Winke III, 19, S. 113. Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 229, S. 98.

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schicksalhaften Ausrufens, in dem Heideggers Vorstellung von Not und Würde des Deutschen laut wird. Kampf, so wird von nun an immer öfter zu lesen sein, verlangt und rechtfertigt es, daß sich der Einzelne in den Dienst ›der Sache‹ stelle. »Erst wieder dem Geheimnis von Brache und Saat, Keimen und Wachsen, Fest-im-Winde-stehen und Fruchtbarkeit – dienstbar werden. […] Darin liegt die geheime Weihe des Einzelnen für sein Volk, daß er reif werde zum Hüter des Segens des Da-seins […].« 34

Das Bild des Menschen als Hüter des Seins hatte Rosenzweig verwendet, und zwar nicht irgendeines Menschen, sondern jenes Kundigen, der durch seinen rituellen Dienst im Jahresablauf die immer wieder anhebende Erneuerung des Bandes zwischen Gott und Mensch erwirkt. Fast wortgleich heißt es bei ihm: »Im täglich und jährlich immer wiederholten Dienst der Erde spürt der Mensch in der Gemeinschaft der Menschen seine irdische Ewigkeit; in der Gemeinschaft – nicht als Einzelner; […].« 35 Zweifach ist die Form des Dienstes dort ausgewiesen, 36 durch den die Stätte bereitet wird, um dem Geschehen der Verwiesenheit von Menschlichem und Göttlichem aufeinander Raum zu geben. Es wirkt in Anbetracht dieser Parallelität mehr als auffällig, wenn Heidegger am 27. Mai 1933 in seiner Rektoratsrede vom Dienst des deutschen Studenten spricht. »Die drei von da entspringenden Dienste – Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst – sind gleich notwendig und gleichen Ranges.« 37 Und es läßt aufhorchen, wenn er in seinen Schwarzen Heften notiert: »Erst wenn und solange diese ursprüngliche Alleinheit des Daseins erfahren ist, kann wahre Gemeinschaft bodenständig erwachsen; nur so [ist] jede Öffentlichkeit der Zusammengeratenen und Zusammengetriebenen 34 Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 153, S. 59. Siehe dazu Darré, Neuadel aus Blut und Boden, S. 61: »Unser Volk ist heute in seinem wirtschaftlichen Denken krank geworden und bildet sich ernsthaft ein, daß alles, was die Geldwirtschaft fördert, gleichzeitig ein kultureller Fortschritt sei.« Dagegen betont er: »Grund und Boden ist dem deutschen Volk sowohl sein Ernährer als auch der gesunde Untergrund zur Erhaltung und Mehrung seines guten Blutes.« S. 84. 35 Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 323. 36 »Aber nicht umsonst ist das Wort für Kultur und Kult, Erddienst und Gottesdienst, Bau des Ackers und Bau des Reichs in der heiligen Sprache ein und dasselbe.« Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 324. 37 Die Selbstbehauptung der Universität, in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, S. 114.

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zu überwinden.« 38 Denn damit greift er exakt zwei der Kennzeichnungen des jüdischen Volkes auf, die Rosenzweig formuliert – Ermangelung eines Territoriums und Verstreutheit in alle Welt. 39 Die selbstverständliche Bindung an den Boden, der bereitet wird, um wahres Werden sprießen zu lassen, der unhinterfragt-wissende Gleichmut des Hirten, der mit immer gleichem festen Schritt seines Weges geht, 40 mögen vor dem Hintergrund nationalsozialistischer »Blut-und-Boden«-Ideologie gelesen werden, obgleich eine Verortung von Heideggers Denken in diesem Kontext sicherlich zu kurz greift, da die nationalsozialistische Besetzung des Begriffes vom Boden seiner Ansicht nach die wahre Bedeutung verfehlt. 41 Vor allem ist die Aussage in den Überlegungen aber eines: ein passgenau kalkulierter Gegenentwurf zu Rosenzweigs Charakterisierung des jüdischen Volkes. Diese Ansicht wird durch eine Passage aus den Überlegungen von 1938/39 bestätigt, wo Heidegger explizit die »Bodenlosigkeit« als Voraussetzung dafür benennt, daß dieses Volk sich alles »dienstbar« machen und somit nur einen verzerrten Kampf führen könne, dem keine seynsgeschichtliche Dimension zukommt. »Aber der eigentliche Sieg, der Sieg der Geschichte über das Geschichtslose, wird nur dort errungen, wo das Bodenlose sich selbst ausschließt, weil es das Seyn nicht wagt, sondern immer nur mit dem Seienden rechnet und seine Berechnung als das Wirkliche setzt.« 42 Immer wieder zeigt sich, wie genau Heidegger abwägt, welche Begründungsaussagen Rosenzweigs er adaptieren kann, weil sie philosophisch neutral gehalten sind, und welche er durch gedankliche Überformungen verdecken muß, weil sie nur dem jüdischen Volk Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 153, S. 59. »[…] Land Sprache Sitte und Gesetz ist uns schon lang aus dem Kreise des Lebendigen geschieden und ist uns aus Lebendigem zu Heiligem erhoben; wir aber leben noch immer und leben ewig; mit nichts Äußerem mehr ist unser Leben verwoben, in uns selbst schlugen wir Wurzel, wurzellos in der Erde, ewige Wanderer darum, doch tief verwurzelt in uns selbst, in unserm eignen Leib und Blut.« Der Stern der Erlösung, III,I, S. 338 f. 40 »[…] wenn der Hirt langsam-versonnenen Schrittes sein Vieh den Hang hinauftreibt, […] dann ist meine Arbeit von derselben Art.« Aus der Erfahrung des Denkens, S. 9. 41 »Man predigt ›Blut‹ und ›Boden‹ und betreibt eine Verstädterung und Zerstörung des Dorfes und des Hofes in Ausmaßen, wie sie vor kurzem noch niemand zu ahnen vermochte.« Überlegungen XI, 1, S. 361. 42 Überlegungen VIII, 4, S. 97. 38 39

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galten. Am deutlichsten wird dieser Akt der geistigen Enteignung wohl in obigen Worten, wenn Heidegger vom »Segen des Da-seins« spricht. Wenn zum Schabbat die Kerzen entzündet werden, verbinden sich Bitte um Segen und Segnung, die auch dem Haus des Gläubigen gelten. 43 Dieses symbolisiert die Stätte der Anwesenheit des Göttlichen in der Welt – ein Gedanke, den Heidegger in gewandelter Form immer wieder aufgreifen wird. In Rosenzweigs Deutung ist dieses zugleich der Ort der Vorbereitung des Kommenden, also Verräumlichung des Zukünftigen. In deutlicher Entsprechung schreibt Heidegger: »Wohin der Mensch sich loswirft, dahin entfaltet er das Vor-gefühl seiner Richtung, ›da‹ entsteht das ›Da‹, die ursprüngliche offene Geräumigkeit und von da der Raum. Durch diesen Raum wirft sich der Schwung der Zeit – ›in‹ Raum-Zeit [?] bildet sich die Welt.« 44 Die Auslegung des Begriffes der Raum-Zeit, der hier zunächst als Möglichkeit angedeutet wird, findet sich in späteren Texten Heideggers, ganz besonders intensiv in den Beiträgen zur Philosophie. Die Stätte der Vorbereitung des Erwarteten aus Rosenzweigs Darstellung modifiziert Heidegger zum Ort des Anfangens der Geschichte des Volkes. Dabei können durchaus unterschiedliche Nuancen extrahiert werden, in denen Heidegger diesen Ort beschreibt: als Stätte des wirkenden Dienstes in den 30er Jahren, als Raum des Erwartens rund zehn Jahre später. 45 Mit Blick auf den 1926 erschienenen Roman Volk ohne Raum von Hans Grimm, der sich großer Beliebtheit erfreute, konstatiert er: »Volk ohne Raum! – Allerdings – ohne wesentliche Welt und ohne wesende Wahrheit – in der es sich überhöhen kann – um erst – es selbst zu sein.« 46 Im Vergleich zu dieser idealisierenden Interpretation von Boden und Raum verfehlt seiner Ansicht nach die Deutung der NS-Ideologen sowohl die visionäre Energie als auch die identitätsstiftende Tiefe, der es bedarf, um ein Volk zu sich selbst zu führen. Diesen Vorwurf erhebt er verschiedentlich, was seine Enttäuschung durch die nationalsozialistische Bewegung spiegelt. 47 Seine »Gelobt seist Du, unser Gott, König der Welt, der Du uns durch Dein Gebot geheiligt hast, das Licht des Schabbat zu entzünden.« Segensspruch zum Schabbat. 44 Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 189, S. 78. 45 »Zu solcher tut nur dieses not: die Wurzeln der Besinnung des wesentlichen Denkens tiefer treiben und still halten und warten. Dieses Nicht-Handeln ist kein Nichtstun. Es bereitet den Spiel-Raum der Lichtung des Seyns.« Anmerkungen I, S. 23. 46 Überlegungen und Winke III, 210, S. 195. 47 »Der eigentliche Irrtum des ›Rektorats 1933‹ war nicht so sehr, daß ich, wie andere Klügere, nicht ›Hitler‹ in seinem ›Wesen‹ erkannte und mit jenen in der Folgezeit 43

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eigene Vision jenes Auftrages, den das deutsche Volk zu erfüllen hat, wenn es sich bereit erklärt, im Dienste dieses höheren Zieles zu wirken, artikuliert er in seinsgeschichtlicher Dimension, das Pathos der Schicksalsergebenheit nicht scheuend. »Ob wir es vermögen, zu erfahren und zu erfragen, welcher Vorrang unserem Volk vom Schicksal zugemessen ist? Die Ausgesetztheit in das Seiende (Geworfenheit) anfänglich aufzunehmen und in ihre harte Vereinzelung und fragende Klarheit umzugestalten!« 48 Gerade diese Aufgabe weist seiner Auffassung nach unvergleichlich weit über eine Sicht des eigenen Volkes hinaus, das sich der Erwähltheit Gottes gewiß zu sein glaubt, doch das Seiende nicht »umzugestalten« vermag. Warum sollte es das in Rosenzweigs Sicht aber auch versuchen, da das gesamte Dasein des Menschen ein einziges Gestalten der Welt im Sinne kooperativen Wirkens ist. Interessant ist es, daß sich Heidegger einer sprachlichen Bildlichkeit bedient, die sich in ähnlicher Weise auch im Stern der Erlösung findet, wenn Rosenzweig von der »edelstummen Einsamkeit« des Selbst spricht, das sich zum kundigen Gestalter der Wirklichkeit entwickelt. Bezeichnend ist aber auch die Umdeutung, die dieses Motiv bei Heidegger erfährt – die »harte Vereinzelung« stellt den Menschen in den Kampf. Der Hintergrund einer solchen Interpretation hatte sich bereits zeigen lassen. Während Heidegger das Faktum der Erwartung des Kommenden als errechnendes Warten diffamiert, muß das eigene Geschick der Deutschen in Not und Krieg errungen werden, um verdient zu sein. Die Bewährungsmetaphorik, die einer solchen Sicht entspringt, wird seine Texte der nächsten Jahre nicht mehr verlassen. In diesem Kontext verwendet Heidegger einen äußerst markanten Ausdruck. »Die Ermächtigung des Seins! und nur dieses gilt es. Und diese nicht bewerkstelligen durch Darstellen von ›Ontologie‹ und dergleichen, sondern allein durch die bildende Prägung des Seinswesens selbst.« 49 Zunächst überraschen der Anspruch, das »Seinswesen« selbst formen zu wollen, und die Anmaßung, es zu können. Auch wenn der Begriff der Ermächtigung hier philosophisch als Befähigung und

grollend daneben stand, […] sondern daß ich meinte, jetzt sei die Zeit, nicht mit Hitler, aber mit der Erweckung des Volkes in seinem abendländischem Geschick anfänglich – geschichtlich zu werden.« Anmerkungen I, S. 98. 48 Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 229, S. 97. 49 Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 101, S. 36.

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Rechtfertigung zu verstehen ist, signalisiert seine Wahl ein Geschehen von außerordentlicher Bedeutung, wird doch damit die Berufung auf eigenes Recht assoziiert. Ermächtigungsgesetze sind keine Erfindung der Nationalsozialisten, doch markiert dasjenige vom 23. März 1933 50 gewiß eine entscheidende Etappe seiner Durchsetzung. Die Vorstellung der Ermächtigung des Seins setzt dessen bestehende Deutungen, wie sie in Ontologien formuliert wurden, also teilweise außer Kraft und öffnet den Raum zum Entwurf des Seins – nach eigener Ermächtigung, was nichts anderes heißt als: nach eigenem Recht. 51 Schuldig bleibt Heidegger freilich jede verbindliche Auskunft über dessen Beschaffenheit. Doch vermutlich liegt diese, wenn sie denn überhaupt möglich wäre, nicht in seinem Interesse. Zu sehr scheint er sich in der Stilisierung zum Künder des Kommenden zu gefallen und damit durchaus an die Selbstinszenierung Friedrich Nietzsches zu erinnern, der wohl prophezeit, daß eine andere Philosophie und ein anderer Mensch kommen werden, sich selbst jedoch als Denker des Übergangs versteht, der in demütig-stolzem Gestus sein berühmtes »Andere Vögel werden weiter fliegen!« 52 formuliert. Als Denker des Übergangs sieht sich auch Martin Heidegger. »Wir sind am Umbau der Wege des Übergangs – aber dieses ist unser Schicksal – und wenn wir es übernehmen, entfaltet es sich als das Erregende.« 53 Erneut ist darauf hinzuweisen, daß auch Rosenzweig das Bild des Übergangs wie auch der Bahn verwendet, um den in der Entfaltung befindlichen Prozeß der Gestaltung von Welt zu veranschaulichen. »Die Bahn aber ist jene des Sichloswerfens des Menschen in das (Wesen); auf dieser Bahn eröffnet sich ihm das Wesen des Seins.« 54 Dies schreibt Martin Heidegger, der sich als Philosoph gefordert sieht, jenen entscheidenden Gang des Volkes zu begleiten, in dem es zu sich kommt. Von Adolf Hitler zur Abstimmung gebrachtes Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. 51 »Es muß vielmehr die weit aus dem Verborgenen genährte Unumgänglichkeit des Werkes der Wesensermächtigung in den wenigen Einzelnen erfahren und verwahrt werden. […] Gerade weil es sich nicht darum handeln kann, eine ›Grundlegung‹ zu schaffen, sondern das Seiende im Ganzen zu Raum und Bahn eines großen Daseins zu bringen.« Winke x Überlegungen (II) und Anmerkungen, 218, S. 92. 52 Nietzsche, Morgenröte, V, 575, S. 331. 53 Überlegungen und Winke III, 43, S. 120. 54 Winke x Überlegungen (II) und Anmerkungen, 193, S. 79. 50

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»Wir werden, die wir sind, indem wir sind, als die wir werden; indem wir die Werdenden sind, dem Werdegesetz uns fügen, nichts erzwingen, aber auch nichts verschleudern.« 55 Hätte Rosenzweig diese Zeilen verfaßt, wäre es klar gewesen, daß das »Werdegesetz« religiöser Überzeugung entspringt. Von Anfang an stehen die Elemente, die das Werden bedingen und die sich im Werden wechselseitig rechtfertigen, fest. Hier wäre keine Ermächtigung erforderlich, die ein neues Sein ausruft, denn das Sein ist so, wie es sein soll – nämlich werdend. Heidegger ist von der seinsgeschichtlichen Dimension jenes Wirkens, zu der einzig das deutsche Volk fähig ist, so bedingungslos überzeugt, daß er sogar vom »deutschen Dasein« 56 spricht. Allerdings ist ihm auch bewußt, daß der Aufruf zur Verantwortung hierfür ein Volk kaum zu motivieren vermag. Dort, wo kein göttliches Wort den Menschen anspricht und fordert, ermutigt und in der Sicherheit des Vertrauens wiegt, versagt Philosophie womöglich, nicht jedoch das Wort des Dichters. »Jetzt kommt es an den Tag, daß wir seit langem schon und für lange noch im Weltalter der scheidenden Götter leben. […] Die Erkämpfung des Gottes – das Im-Bereiten seiner Stätte – im Dasein des Dichtens und des Denkens.« 57

Wenn Heidegger als Denker sich allein schon nicht dazu in der Lage sieht, sein Volk zu sich selbst zu führen, dann wählt er Friedrich Hölderlin zu seinem Verbündeten im Geiste und erklärt sich selbst zu dessen Exegeten. Daß er damit der Dichtung Hölderlins bisweilen durchaus gewaltsam begegnet, um sie seiner eigenen Absicht zu unterwerfen, belegt vor allem den unbeugsamen Willen Heideggers, in dem er dieses Bündnis der Sprache schließt, selbst um den Preis der partiellen Verfremdung jener angeblich so verehrten Dichtung. »Wer es vermag, z. B. die Abhandlung über das Sein zum Tode mit dem ›Wesen des Grundes‹ und beide mit dem Vortrag über ›Hölderlin und das Wesen seiner Dichtung‹ wahrhaft zusammenzudenken, d. h. die ursprünglichen und unausgesprochenen Bezüge zu begreifen – diejenigen zwischen dem Wesen des Seyns und seiner Gründung im Da-sein – der kommt auf den Weg zu jenem, was mein Suchen im

Überlegungen IV, 114, S. 243. »Wenn das anbrechende deutsche Dasein groß ist, dann trägt es Jahrtausende vor sich her […].« Überlegungen und Winke III, 42, S. 119. 57 Überlegungen und Winke III, 132/134, S. 167. 55 56

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Vorblick hat.« 58 Gerade am Ende dieser Überlegungen kann der Einwand erhoben werden, daß die Charakterisierungen des vermeintlichen Wesens des jüdischen Volkes Gemeingut völkisch-nationalistischen Denkens jener Zeit gewesen sind, so daß Heidegger nicht erst auf den Stern der Erlösung schauen mußte, um diese kennenzulernen. Dieser Einwand berührt die grundsätzliche Beobachtung, daß auch Rosenzweigs Aussagen sich teilweise mit jenen Gedanken dekken, die zum Grund antisemitischer Verbalisierungsstrategien erklärt wurden. Die Argumentation Heideggers in seinen verschiedenen Schriften nach 1927 greift aber so exakt Rosenzweigs Bestimmungsmerkmale des jüdischen Volkes auf, daß hier – vielleicht parallel zu ideologisch-doktrinärem Zeitgeist – von einer unmittelbaren Bezugnahme auf den Stern der Erlösung auszugehen ist.

IV.3 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« Die Auslegung der Dichtung Friedrich Hölderlins ist nicht primär als der Versuch zu werten, dem Denken des Dichters möglichst nahe zu folgen, sondern sie dient in Heideggers konzeptionellem Vorgehen einem ganz bestimmten Zweck. 59 Einerseits betont er immer wieder, daß dem deutschen Volk sein Entwurf in die Zukunft erst noch bevorsteht, insofern es seine Identität nicht aus einer sinnstiftenden Tradition ableiten kann, wie es für das jüdische Volk möglich ist. Andererseits erweist sich dieser Mangel an Tradition, der nicht mit einem Fehlen von Geschichtlichkeit identisch ist, als problematisch. Denn wie soll ein Volk zu sich selbst gebracht werden, wenn dieses sich auf keine gemeinsame Quelle seiner Selbsterfahrung besinnen kann. In der Thora, so könnte argumentiert werden, ist das Wissen des jüdischen Volkes um seine Gemeinschaft im Glauben fixiert. Hölderlins Dichtung erhebt Heidegger in die Funktion, ein vergleichbares Wissen des Deutschen heraufzubeschwören. Damit steht jedoch von Anfang an fest, daß dieser Dichtung eine bestimmte Aufgabe zugewiesen wird, die sie zu erfüllen hat. Es geht nicht zu weit, hier von einem Akt der Vereinnahmung, ja der Bemächtigung zu sprechen, da HeiÜberlegungen IV, 264, S. 290. Es sei darauf hingewiesen, daß Heidegger nicht erst in den 30er Jahren auf die Dichtung Friedrich Hölderlins aufmerksam wurde. Bereits 1908 scheint diese ihm begegnet zu sein.

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Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«

degger vorgibt, sich in den »Machtbereich der Dichtung« zu begeben. Dies bedeutet aber, anderen Lesarten die Legitimation abzusprechen, wie es sogar mit Blick auf Oswald Spengler und Alfred Rosenberg 60 geschieht. Heidegger lehnt es ab, Dichtung als »Kulturleistung« zu betrachten – aus seiner Sicht unumgänglich, will er ihr doch eine weitaus größere Gewichtung zusprechen. So versucht er, seine eigene Inanspruchnahme der Dichtung als einzig wahre Herangehensweise auszuweisen, wenn er fordert: »Also müssen wir das Gedicht als nur vorhandenes Lesestück überwinden. Das Gedicht muß sich verwandeln und als Dichtung offenbar werden.« 61 Dasjenige, das offenbar werden soll, ist jedoch nicht das Schriftstück als solches in seiner sprachlichen Schönheit oder poetischen Vollendung, sondern Dichtung selbst. Sie offenbart nicht etwas, sondern sich selbst 62 als Grund des Wissens eines Volkes um sich selbst. 63 »Einrücken« in den »Machtbereich der Dichtung« ist also alles andere als ein rezeptives Wohlgefallen ästhetischer Natur. Statt dessen inszeniert Heidegger es als Bekenntnis des Menschen zu seiner Geschichte, die aus der Dichtung erscheint, und zu seinem Schicksal, das ihm die Dichtung weist. Markieren aber Gewesenheit und Werden die beiden zeitlichen Erkenntnisdimensionen, in denen ein Volk sich seiner Identität bewußt wird, muß Heidegger zeigen, wie dieses Bewußtsein »erweckt« 64 werden kann. Diese Aufgabe weist er der Dichtung Friedrich Hölderlins zu, die er damit in den identitätsstiftenden Rang eines religiösen Wortes erhebt. Das Wissen des jüdischen Volkes um sich selbst entstammt diesem Grund. Für Heidegger heißt das, dem Wissen des deutschen Volkes um sich selbst einen eigenen Grund weisen zu müssen. Tatsächlich bedeutet dies jedoch, daß er sich damit zum Wortführer des Dichters erhebt, denn seiner Konstruktion zeitgeschichtlicher Verirrung gemäß hat es das Volk verlernt, dem Dichter zu folgen. Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 4, S. 26 und S. 35. Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 3, S. 19. 62 »Wir bestimmen das Dichten in Anlehnung an die Grundbedeutung des Wortstammes als ein Sagen in der Art des weisenden Offenbarmachens.« Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 4, S. 31. 63 »[…] wenn es wahr sein sollte, daß das Dasein der Völker je aus der Dichtung entspringt, […].« Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 3, S. 20. 64 »Die fügende und prägende Eröffnung der Wahrheit des geschichtlichen Daseins eines Volkes geschieht in einer und aus einer Grundstimmung, […]. Die Grundstimmung selbst muß aber zuvor überhaupt erweckt werden.« Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 11, S. 146. 60 61

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»Die Grundstimmung, und das heißt die Wahrheit des Daseins eines Volkes, wird ursprünglich gestiftet durch den Dichter. Das so enthüllte Seyn des Seienden aber wird als Seyn begriffen und gefügt und damit erst eröffnet durch den Denker, und das so begriffene Seyn wird in den letzten und ersten Ernst des Seienden, d. h. in die be-stimmte geschichtliche Wahrheit gestellt dadurch, daß das Volk zu sich selbst als Volk gebracht wird.« 65

Der Dichter und der Denker zeichnen seiner Bestimmung nach den Weg, dem ein Volk – unterwegs zu sich selbst – zu folgen hat. Mit dieser Positionierung als »Denker« im Geleit des »Dichters« ordnet sich Heidegger eine überaus gewichtige Funktion zu. Denn er erhebt damit nicht nur den Anspruch, als Einziger dessen Wort in rechter Weise auszulegen, sondern als dieser das Volk zu sich aufzurufen. Der Philosoph als Lehrer des Volkes – kein neues Bild innerhalb der Geschichte der westlichen Rationalität, doch unter dem Postulat des einzig wahren Weges, das Heidegger formuliert, gewiß keine unproblematische Vorstellung. Denn die Basis, auf der er seine Vision vom deutschen Volk und seinem seinsgeschichtlichen Auftrag aufbaut, ist letztlich Fiktion einer Geschichtlichkeit, die er meint, in die Dichtung Hölderlins projizieren zu können. Es geht Heidegger ja nicht um eine Bestimmung der Eigenschaften, die den Deutschen möglicherweise tatsächlich zukommen, und nicht um Berufung auf Tradition und Kultur. Diese Elemente stellt im Gegensatz Franz Rosenzweig heraus, um das jüdische Volk zu charakterisieren. Und in den 40er Jahren reflektiert Simone Weil etwa die Frage, ob es eine Methode gibt, »einem Volk eine Inspiration einzuhauchen«. 66 In beiden Fällen geht es aber nicht darum, einen Begriff vom Schicksal eines Volkes zu konstruieren, der nicht aus seiner vermeintlichen Geschichte abzuleiten, sondern ausschließlich Spiegelung des eigenen Wunsches ist. Die Monstrosität dieses Unterfanges läßt sich daran ablesen, wie Heidegger versucht, den Deutschen ein Exklusivrecht auf philosophische Terminologie zu garantieren. »Die Wahrheit eines Volkes ist jene Offenbarkeit des Seins, aus der heraus das Volk weiß, was es geschichtlich will, indem es sich will, es selbst sein will.« 67 Wahrheit, wenn dieser Begriff denn überhaupt auf das Wesen eines Volkes angewendet werden kann, ist kein Anzeichen eines Urteilsaktes mehr, der über einen Sachverhalt ausgesprochen wird, also kein Testat von 65 66 67

Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 11, S. 144. Weil, Die Verwurzelung, S. 173. Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 11, S. 144.

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Bestehendem, sondern sie wird zum Postulat, dem sich Bestehendes anzupassen hat. Dabei gerät die Legitimation dieser Forderung, was Wahrheit sein soll, zur Beliebigkeit und damit in die Verfügungsgewalt individueller Zwecke. In noch speziellerer Form zeigt sich Heideggers Wille, Sprache in seine Absicht zu zwingen, wenn er gar unter Berufung auf Hölderlin Schicksal zu einem deutschen Wort erklärt: »Aber wir dürfen Hölderlins Wissen um das Schicksal nicht dem griechischen gleichsetzen. Wir müssen lernen, dieses wesentliche deutsche Wort als Nennung eines wesentlichen Seyns in seinem wahren deutschen Gehalt wesentlich zu gebrauchen, und das heißt auch: selten.« 68 Diese beiden Beispiele sollen hier genügen, um auf Heideggers Anspruch zu verweisen, die Sprache der Ontologie einzudeutschen. Aus seiner Perspektive ist dieses Vorgehen notwendig, um die buchstäbliche Unvergleichlichkeit des Volkes auszurufen. Heidegger geht von einem Volk ohne Identität aus und stilisiert das Werk, diese zu erwerben, als einzig wahres Ringen, als den Kampf, der in dieser Überhöhung zum einzig Wahren nur eines wird: wahre Ermächtigung. Nur das erkämpfte Dasein erfüllt die Bestimmung des Seyns, so lesen sich seine Aussagen zu Hölderlin. Gerade in diesem Punkt stellt sich die Frage, ob er diesem gerecht werden kann, wenn er den Kampf auch als das tragende Element der großen Hymnen Germanien und Der Rhein interpretiert? Laut Heidegger besteht eine tiefe gedankliche Beziehung Hölderlins zu Heraklit. 69 Inwieweit dieses nicht Hölderlins Gedanken des »Harmonisch-Entgegengesetzen« widerspricht, aus dessen Relation sich Dasein gestaltet, und ob sein Begriff der »Innigkeit« 70 wirklich Ausdruck des Streites und der ringenden Dynamik gegensätzlicher Kräfte ist, kann hier nicht entschieden werden. Auch wäre die Frage an anderer Stelle zu verfolgen, wie nahe Heidegger mit seiner ontologischen Identifizierung von Vaterland und Seyn dem Denken Hölderlins kommt. 71 Erneut zeigt sich, daß sich HeidegHölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 12, S. 173. »Hölderlins ganzes Denken und Verständnis des Seyns im seinsstiftenden Dichten stand unter der Macht Heraklits, […].« Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 10, S. 128. 70 »Das Wort hat bei Hölderlin nichts vom Beigeschmack einer verträumten tatenlosen Empfindsamkeit. Ganz im Gegenteil. Es meint erstens höchste Kraft des Daseins. Zweitens: diese Kraft bewährt sich im Bestehen der äußersten Widerstreite des Seyns von Grund aus.« Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 10, S. 117. 71 »Das ›Vaterland‹ ist das Seyn selbst, das von Grund aus die Geschichte eines Volkes 68 69

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ger mit seiner Inanspruchnahme des Bildes vom Vaterland gerade auf eines jener Elemente beruft, das laut Rosenzweigs Beschreibung dem jüdischen Volk nicht zuteil wurde. Die starke argumentative Bindung an den Stern der Erlösung wird besonders in der Verwendung des Motivkomplexes von Rede und Hören sichtbar. So zitiert Heidegger zur Beantwortung der Frage »Wer sind wir« zwar das Wort Hölderlins: »Kraft der Sprache ist der Mensch der Zeuge des Seyns. […] Seit ein Gespräch wir sind« 72, verbindet diese Zeile aber sofort mit seiner Konstruktion des Anfanges. »Im Gespräch geschieht die Sprache, und dieses Geschehen ist eigentlich ihr Seyn. Wir sind – ein Sprachgeschehnis, und dieses Geschehen ist zeitlich, […] der Sprachgebrauch ist der Anfang und Grund der eigentlichen geschichtlichen Zeit des Menschen.« 73 Und: »Unser Seyn geschieht als Gespräch, im Geschehen dessen, daß die Götter uns ansprechen, uns unter ihren Anspruch stellen, uns zur Sprache bringen, […] Nur wo Sprache geschieht, eröffnen sich Sein und Nichtsein. Diese Eröffnung und Verhüllung sind wir selbst.« 74 Sprache kennzeichnet auch für Rosenzweig den Anfang des Seins-Geschehens in seiner unverwechselbaren Dynamik, und zwar in doppelter Weise: das schöpferische Wort Gottes, das das Werk der Hervorbringung von Sein begleitet, und das sich mitteilende Wort der Offenbarung, in dem der Mensch göttliches Sein als sein Dasein erschließt. Noch einmal sei an dieser Stelle an die Bedeutung des Aufrufes »Höre Israel!« erinnert, in dem sich immer wieder von neuem die Relation von göttlichem und menschlichem Sein in der Welt bestätigt. In Rosenzweigs Denken tritt schließlich zu diesem zweifachen Wort noch eine dritte Artikulation, in der sich Schöpfung und Offenbarung zur Erlösung fügen. Es ist auch deshalb sinnvoll, diese Auffassung hier zu erwähnen, weil sie zu einer Formulierung führt, die Heidegger aufgreifen wird. als eines daseienden trägt und fügt: die Geschichtlichkeit seiner Geschichte.« Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 10, S. 121. 72 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 7, S. 68. 73 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 7, S. 69. In seiner Untersuchung Hölderlin und Heidegger deutet Bojda Heideggers Sprechen kritisch: »Den Anfang versteht er nicht im Sinne eines vorherigen, historischen Beginns, eines von ›außen‹, von einem Anderen Geleisteten, sondern er meint einen ›inneren‹, immanenten Anfang aus und in einem Seinselement. Die ontologische Identifizierung des Begründenden, Anfangenden mit dem Begründeten, Werdenden führt aber notwendig zur Unkontrollierbarkeit der Adäquatheit des subjektiven Verhaltens.« S. 199 f. 74 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 7, S. 70.

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»[…] Mensch und Welt müssen es [das Gemeinsame] gleichen Atems singen können; an Stelle des göttlichen Ichs, das nur Gott selber sprechen konnte, muß der göttliche Name treten, den auch Mensch und Welt im Herzen tragen können, und von ihm muß es heißen: er ist gut. Dies ist der Stammsatz der Erlösung, das Dach über dem Haus der Sprache, der an sich wahre Satz, […].« 75

Wiederum mag diese Aussage Rosenzweigs zu tief im Religiösen verwurzelt wirken, um sich noch für einen Vergleich mit Heideggers Denken anzubieten. Doch der Eindruck täuscht. Denn was beschreibt Rosenzweig und worauf zielt Heidegger? Für Rosenzweig wird erst im Zusammenwirken von Gott und Mensch Welt als Ort der Zukünftigen gestaltet. Gestalten ist aber keine Wirkung von Tat, sondern bereits im tathaften Wirken der Sprache begründet. 76 Dieser Auffassung entspricht durchaus Heideggers Sicht, die er hier durch Bezugnahme auf Hölderlins Dichtung bestätigen will. Sprache als Wirken ist jedoch, nicht nur nach kabbalistischer Deutung, eine zutiefst religiöse Vorstellung, deren Übernahme in säkularisierter Form Heidegger grundsätzlich nicht schreckt. Denn in dem Moment, in dem er Sein als Seyn bezeichnet, setzt er es als Dimension des Zukünftigen, noch Ausstehenden, dessen Verwirklichung er allein der Verfügung der Deutschen zuspricht. Zugleich bedeutet dies für ihn aber, daß er es nicht als das zu Erwartende fassen kann, da es in seinem Denken keine Macht und keine transzendente Autorität gibt, die es zur Verwirklichung freigeben könnte. So entsteht die bereits angedeutete Forderung, daß das Seyn zu erkämpfen ist, da es nur selbst vom Volk herbeigeführt werden kann. Nur im gemeinsamen Wirken kann diese Aufgabe bewältigt werden, weshalb Heidegger schreibt: »Seit ein Gespräch wir sind, sind wir ausgesetzt in das sich eröffnende Seiende, seitdem kann überhaupt erst das Sein des Seienden als solches uns begegnen und Der Stern der Erlösung, II,III, S. 257 f. 1939 schreibt Heidegger in Das Wort – Das Zeichen – Das Gespräch – Die Sprache: »Sprache ›ist‹ im Sprechen. Sprechen geschieht als Rede. Die Rede ist Geschichte als Gespräch. Das Gespräch ist Dasein, inständiges Er-hören.« Und: »Da-sein ist Inständigkeit in der Erschweigung der Wahrheit des Seyns: Er-schweigung und Hören, Erschweigung ist die Verant-wortung des Wortes«, enthalten in: Zum Wesen der Sprache und zur Frage nach der Kunst, S. 129 und S. 135. Die beiden Begriffe »Erschweigung« und »Hören« sind durch einen gezeichneten Bogen miteinander verbunden, der in der Tat wie ein symbolisiertes Dach wirkt. Nicht nur diese Assoziation, sondern die Auffassung von Sprache, die Heidegger hier artikuliert, steht in äußerster Nähe zum Sprachdenken Rosenzweigs.

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bestimmen. […] Gemeinschaft ist durch die vorgängige Bindung jedes Einzelnen an das, was jeden Einzelnen überhöhend bindet und bestimmt.« 77 Eindeutig weisen die Begriffe ›Bindung‹ und ›Bestimmung‹ über das bloß Faktische des Seienden auf das Mögliche des Seyns hinaus. Verstehen des Seins ist hierfür die Voraussetzung, da es erschließt, was ist, um zu werden. In Rosenzweigs Terminologie heißt dies, daß das Hören auf das Wort der Schöpfung Offenbarung als gemeinsames Wirken von Gott und Mensch erwirkt. Auf diesem Wege wird Erlösung möglich, ohne dadurch jedoch bereits vollständig realisierbar zu sein. Er verwendet die Ausdrücke »Stand und Sendung«, um die Bindung und Bestimmung des Menschen zu benennen, und verdeutlich, daß Erlösung aus und in der Welt geschieht. »Es [das Schicksal] wird erfüllt von der Welt her; es ist, indem der Mensch darin in das eigene Schicksal eingeht, zugleich das vertraute Eingehn des Menschen in das, was von der Welt her ist, in die Schöpfung.« 78 Verstehen und Schaffen sind für Rosenzweig und Heidegger zwei Akte der Welt-Begegnung, die unverzichtbar für die Bereitung des Kommenden sind. Es könnte nun so aussehen, als würden sich dessen Deutungen grundlegend unterscheiden. Die Vorstellung der Erlösung, von der Rosenzweig spricht, entstammt religiösem Empfinden. Doch akzentuiert er die Überzeugung, daß das kommende Reich die Welt durchwirken wird, vor ontologischem Hintergrund, wodurch seine Aussagen über dessen Vorbereitung letztlich zu Aussagen über das Dasein werden. Genau diese Überzeugung findet sich in Heideggers Denken, wenn er die Transformation vom Sein zum Seyn reflektiert. Doch ohne Zeugnis, auf dessen Gehalt er sich berufen könnte, und ohne Zeugen, dessen Stimme er vorübergehend zu der seinen erklären kann, will er diese Theorie scheinbar nicht präsentieren. Daß er Hölderlin in die Rolle des Garanten dieser Umgestaltung zwingt, zeigt Heidegger in seiner Vorlesung. Fast paradox mutet es an, daß er im Laufe dieser Vereinnahmung mit einem Motiv konfrontiert wird, das ihn wiederum in erstaunliche Nähe zu Rosenzweigs Konzeption führt. Denn Hölderlins Nennung des Göttlichen entspringt zwar einer anderen Quelle als diese, stellt Heidegger aber in jedem Fall vor die Herausforderung einer Interpretation. Die Deutungsmaßnahme, die er ergreift, belegt abermals sei77 78

Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 7, S. 72. Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 308.

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nen Willen, das Wort des Dichters in seinem Sinne zu brechen. Es hatte sich bereits gezeigt, daß Heidegger zwingend einen Anfang für die Selbst-Besinnung des deutschen Volkes kennzeichnen muß, um den Mangel an historisch verbürgter Tradition und Identität ausgleichen zu können. Auch sollte dieses Zu-sich-selbst-finden qualitativ vom Immer-schon-bei-sich-sein des jüdischen Volkes abgehoben werden, um die Vision der Einzigkeit der Deutschen zu legitimieren. Hölderlins Bild von der Flucht der Götter und der Not des Menschen, das dessen Entscheidung, noch einmal zu sich zu finden, umso drängender spürbar werden läßt, paßt exakt in diese argumentative Leerstelle. Denn aus der Not, die sich auch ideologisch als Not der Deutschen fassen läßt, erhebt sich der letzte und alles entscheidende Kampf um die Möglichkeit, wahrhaft, das heißt einzig zu sein. Dieses Ringen um das eigene Seyn erlangt dadurch, daß Heidegger das Wort vom Göttlichen nahezu unkommentiert von Hölderlin übernimmt, erst die eigentliche Weihe, auch wenn das bedeutet, die Vorstellung des Göttlichen als des Anderen zur Staffage einer weltgeschichtlichen Inszenierung nach eigenem Maß zu degradieren. Wenn Hölderlin vom Aufenthalt der Götter auf Erden spricht und dieser Präsenz des Gewahrens eine Stätte unter den Menschen zuweist, wie es in der Metapher des Wohnens eindringlich geschieht, deutet Heidegger diese Verortung als Raum des Seyns. 79 Das Motiv des Wohnens als »Trotz der schon recht vielfältigen Vorbereitung haben wir das eine noch nicht bedacht, daß die Stimme des Sagens gestimmt sein muß, daß der Dichter aus einer Stimmung spricht, welche Stimmung den Grund und Boden be-stimmt und den Raum durchstimmt, auf dem und in dem das dichterische Sagen ein Sein stiftet.« Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 8, S. 79. Bojda, S. 240: »Heidegger verwirklicht das, was Kierkegaard abgelehnt hatte: Er bemächtigt sich des hölderlinschen Spruchs, der Mensch ›wohnet‹ ›auf dieser Erde‹ ›dichterisch‹, und legt ihn in einer immanentistischen Auffassung der Erde (des Seins) aus. Das Wohnen auf der Erde wird mit dem Wohnen im eigenen ›Da‹, in eigener Endlichkeit, gleichgesetzt.« Eine Einbeziehung der Tatsache, daß Heidegger mit seiner Verwendung des Begriffes vom Wohnen bereits auf Rosenzweigs Denken zurückgegriffen hat, wäre hier sinnvoll, um die Einschätzung des Immanentismus zu überprüfen. Gleiches träfe auf die Charakterisierungen der Lichtung zu (S. 198 und 220), wo zu erwägen wäre, ob sie im Wissen um Heideggers Bezug zu Rosenzweigs Vorstellung der Offenbarung anders zu akzentuieren wären. Figal konstatiert, erst Heidegger habe das Bild des Wohnens als philosophischen Gegenstand entdeckt, Unscheinbarkeit: der Raum der Phänomenologie, S. 193. Ein Blick auf den Stern der Erlösung zeigt, daß das Wohnen bereits dort thematisiert wird. Die vermeintlich religiöse Bestimmung dieses Begriffes hat für Rosenzweig unmittelbare philosophische Konsequenzen, wie seine Konzeption der Welt-Gestaltung zeigt.

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Raum-geben und Vor-bereiten des Eigentlichen wird er nie mehr aufgeben und speziell in seinen Vorträgen der 50er Jahre Dichterisch wohnet der Mensch und Bauen Wohnen Denken in freilich gewandeltem Sinne auslegen. In seiner Vorlesung kommentiert er die Zeilen aus Hölderlins Gedicht In lieblicher Bläue: »[…] ›dichterisch‹, dichtungshaft – das ist hier Jenes, was das Seinsgefüge des Menschen als eines geschichtlichen Daseins inmitten des Seienden im Ganzen von Grund aus trägt. […] Aus diesem dichterischen Wohnen können die Menschen und kann ein Volk ausgestoßen sein, aber auch dann noch sind die Menschen, ist ein Volk.« 80

Es wurde jedoch bereits darauf hingedeutet, daß auch Rosenzweig exakt dieses Verständnis der Stätte, an dem Gespräch zwischen Gott und Mensch statt-findet, ausdrückt. Mit seiner Ausführung stützt sich dieser auf die kabbalistische Vorstellung der Schechina. Ideengeschichtlich wäre die Frage interessant, inwieweit Hölderlin eventuell hiervon hat Kenntnis nehmen können. Die Vertrautheit Schellings mit Grundzügen der Kabbalah ist nachweisbar. 81 Daß Heidegger einer Interpretation von Sprache, die letztlich aus diesem Grund resultiert, stärker verbunden ist, als zu vermuten wäre, wird auch am Motiv des Schweigens deutlich. »Die Sprache selbst hat ihren Ursprung im Schweigen. Erst muß in diesem dergleichen wie ›Seyn‹ sich gesammelt haben, um dann als ›Welt‹ hinausgesprochen zu werden. Jenes vorweltliche Schweigen ist mächtiger als alle menschlichen Mächte.« 82 Ist diese Sicht tatsächlich mit Hölderlins Denken vereinbar? Oder entstammt sie nicht gerade dem Kontext jüdisch-christlicher Auffassung, der zufolge Schöpfung Sprachwirken ist? Rosenzweig betont, daß göttliches Sein sich erst in der Offenbarung als Sein Gottes zu erkennen gibt. 83 Damit wird die unendliche Potenz der göttHölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 4, S. 36. In seiner Untersuchung Zimzum. Gott und Weltursprung geht Schulte auch dieser Frage nach, S. 289 ff. Idel stellt in Franz Rosenzweig and the Kabbalah fest, daß zumindest von einer groben Vertrautheit mit Motiven der lurianischen Kabbalah ausgegangen werden kann, S. 166. 82 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 15, S. 218. Auf S. 269 im § 20 stellt Heidegger diese Sichtweise der Macht in Zusammenhang zur Ermächtigung. 83 »Die Offenbarung grade in ihrer unbedingten Augenblicksentsprungenheit ist so das Mittel, durch welches die Schöpfung im Gestalthaften befestigt wird.« Der Stern der Erlösung, II,II, S. 180. 80 81

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lichen Erschaffung des Seins in der Faktizität ihres Daseins erfahrbar – für Rosenzweig unverzichtbare Voraussetzung dafür, daß das Geschehen des Erfahrens stattfinden kann. Dieses realisiert sich seiner Deutung nach im Dialogischen. »Dem Ich ant-wortet in Gottes Innerem ein Du. […] Aber so wenig wie das Du ein echtes Du ist, denn es bleibt noch in Gottes Innerem, so wenig ist das Ich schon ein echtes Ich; denn es ist ihm noch kein Du gegenübergetreten; erst indem das Ich das Du als außer sich anerkennt, also erst indem es vom Selbstgespräch zum echten Dialog übergeht, wird es zu jenem Ich; […].« 84

Der Gedanke des »vorweltlichen Schweigens«, so deutet es sich hier an, ist in jedem Fall dem Bild vom »gestaltlosen Dunkel« 85 vergleichbar, mit dem Rosenzweig den Grund des Gestalt-Werdens der Welt als dynamisches Geschehen, das heißt als Dialog, illustriert. 86 Zu fragen ist hingegen, ob diese Konzeption auch Hölderlin vertritt. Im weiteren Verlauf seiner Kommentierung der Hymne Der Rhein stellt Heidegger die Verknüpfung von Seyns-Stiftung und Erwartung eines Kommenden her, wenn er schreibt: »Dichten ist als Stiften, als jenes Schaffen, das keinen Gegenstand hat und nie Vorhandenes nur be-singt, immer ein Ahnen, ein Harren, ein Kommensehen.« 87 Diese Zeilen würden vielleicht isoliert betrachtet noch nicht auffallen, könnten sie doch als Ausdruck der Überzeugung gelesen werden, daß Dichtung von Zukünftigem kündet. Doch gerade das ist hier nicht der Fall. Statt dessen erklärt Heidegger, daß Dichtung selbst dieses Ahnen des Kommenden ist. Damit wird sie selbst zu jenem Erwarteten, das Rosenzweig als Geschehen innerhalb jenes Ortes sah, an dem sich göttliches und menschliches Sein verschränken. Besonders in den Beiträgen zur Philosophie wird Heidegger diesen Ort als »Spielraum« oder auch »Zeitspielraum« bezeichnen. In seiner Hölderlin-Vorlesung gibt er diesem Gedanken eine eindeutig nationale Konnotation. Denn nun bezieht er sich einerseits auf Hölderlins BeDer Stern der Erlösung, II,II, S. 194 f. »Der Schöpfer konnte noch hinter der Schöpfung ins gestaltenreiche und grade deshalb selber gestaltenlose Dunkel zurücktreten; […] aber der Offenbarer in seiner allzeitlichen Gegenwärtigkeit kann ihn [den Ursprung] jeden Augenblick im Hellen, Offenbaren, Unverborgenen, eben in der Gegenwart festhalten, […].« Der Stern der Erlösung, II,II, S. 180. Rosenzweig verwendet die Formulierung »Sprache der stummen Vor-Welt« mit Blick auf die Mathematik, S. 139. 86 Inwieweit Rosenzweig damit bereits im Stern der Erlösung das Verständnis des Dialogischen teilt, das Martin Buber artikuliert, kann hier nicht thematisiert werden. 87 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 19, S. 257. 84 85

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griff des »Nationellen«, der das Mitgegebene bezeichnet, das es in das Aufgegebene zu verwandeln gilt, 88 nennt dieses Mitgegebene aber andererseits die »Mitgift«. Der »Spielraum« ist jener Ort, an dem diese Verwandlung stattfinden soll, die alles andere als ein beliebiges Geschehen ist. Denn in ihr »gründet und stiftet« das deutsche Volk »selbst sein Dasein«, 89 leistet also im Kampf genau das, was ein Volk Heideggers Auffassung nach zum einzig wahren Hüter des Seyns werden läßt. Immer wieder beharrt Heidegger darauf, daß dieses Volk sich selbst gründet, und hatte zu diesem Zweck in der Schrift Vom Wesen des Grundes eine entsprechende Interpretation der Möglichkeit, Grund zu sein, geliefert. Warum spricht er dann aber von der »Mitgift«, die es sich anzueignen gilt. Und warum bezieht er sich auf Hölderlins Bild vom »Brautfest«, das »Menschen und Götter« feiern? 90 Der Bedeutung des Begriffes der Götter in Hölderlins Dichtung kann hier nicht nachgegangen werden. 91 Entscheidend für den vorliegenden Kontext ist das Bild des Brautfestes als Metapher der Vereinigung des Menschen mit dem Anderen, das jedoch nicht nur zur Bildsprache Hölderlins zählt. Ein Blick zurück zum Stern der Erlösung erinnert an Rosenzweigs Äußerungen zum Hohelied Salomos, in dem das Brautfest als Begriff der Selbst-Werdung des Menschen in der Hinwendung zum Anderen aufgegriffen wurde. Natürlich findet sich der Gedanke des Wirkens und vielleicht auch des Ringens von Göttern und Menschen auch bei Hölderlin. Doch deutet die Verwendung dieser spezifischen Bildlichkeit darauf hin, daß Heidegger hier eine Vermischung seiner Bezugsquellen vornimmt oder zuläßt. Heidegger nutzt Hölderlins Dichtung als Autorität, durch deren Zeugnis er sein eigenes Denken zu legitimieren sucht, und macht selbst kein Hehl daraus, daß er diesen Bezug als Ermächtigung verstanden wissen will. Wenn in den Hymnen und Gedichten vom Vaterland, vom »Nationellen«, die Rede ist, dann scheint Heidegger daHölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 24, S. 292. Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 24, S. 289. 90 »Dann ist, wenn auch nur für eine Weile, jener Einklang der ›unbedürftigen‹ […], jener, die an ihrer eigenen Seligkeit genug haben, der Götter (Erde und Himmel), mit den Un-bedürftigen, d. h. dem Volke, sofern es sich wieder die Feiertage geschaffen, wo das Brautfest feiern Menschen und Götter.« Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 24, S. 289. 91 Bojda charakterisiert Heideggers Verwendung der Formulierung »die Götter« im Sinne einer »skurrilen rhetorischen Figur«, S. 308. 88 89

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durch eine Inanspruchnahme in seinem Sinne garantiert zu sehen. Daß er damit Hölderlins Denken keineswegs gerecht wird, steht außer Frage. Doch noch etwas anderes wird erkennbar. Die Differenz zwischen Hölderlins und Rosenzweigs Auffassungen speziell des Raum-Gebens als Realitäts-Stiftung und der Sprache als Geschehen ist eindeutig geringer, als zu vermuten gewesen wäre. So gerät Heideggers Berufung auf Hölderlin unversehens zu einer Bestätigung des rosenzweigschen Denkens in diesen Punkten. Der einzige Aspekt, der sich wirklich nur bei Hölderlin findet, ist jener der Flucht der Götter und der Not der Erde. Ihn zu übernehmen, bietet Heidegger die Möglichkeit, die seiner Ansicht nach einzigartige Bedeutung jenes Kampfes des deutschen Volkes zu postulieren, in dem es zu sich selbst findet und dadurch das Seyn wieder an sich bindet. »Seit der Flucht der Götter ist die Erde weglos. Weder der Mensch kann den Weg finden, noch zeigen ihn unmittelbar die Götter. Aber im rauschenden, seiner selbst sicheren Zug des Stromes erfüllt sich ein Geschick, erwirkt sich Land und Erde Grenze und Gestalt, wird Heimat den Menschen und damit die Wahrheit dem Volke.« 92

IV.4 Der Ursprung des Kunstwerkes Die Motive des Raum-Gebens und der Realitäts-Stiftung, die Heidegger bislang noch eher angedeutet hatte, gewinnen in seinen Arbeiten der folgenden Jahre zunehmend an Bedeutung. An dem Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes von 1935 wird eine erste Intensivierung sichtbar, auch wenn zunächst die Untersuchung eines anderen Begriffes im Vordergrund steht. Denn dort setzt Heidegger die Begriffe der Offenheit und der Wahrheit in jene Relation zueinander, die seine Deutung des Spielraumes als Ort des Ereignisses begründet. Daß Wahrheit von ihm nicht als Ergebnis einer logischen Operation verstanden wird, hatte sich bereits gezeigt. Nun wird ihre GeschehnisStruktur in den Fokus gerückt. Thematisch verfolgt der Vortrag die Absicht, das sich im Kunstwerk Ausdrückende zu bedenken. Zu diesem Zweck stellt Heidegger verschiedene Überlegungen zu den Begriffen des Dinges und des Werkes an, wobei letzterer in einem ganz bestimmten Sinn relevant wird. Kunst sei das »ins-Werk-Setzen der

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Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, § 16, S. 224.

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Wahrheit des Seienden« 93, so heißt es. Damit wird das Werk Versichtbarungs-Moment eines Geschehens, dessen Statt-finden als Wahrheit begreifbar wird. Von Anfang an eignet Wahrheit in diesem Verständnis ein hohes Maß an dynamischer Relationalität, insofern sie als Ausdruck einer Beziehung gedeutet wird, in deren Setzung sich Sein selbst als Bezugssinn von Seiendem zu erkennen gibt. »Aber wie geschieht Wahrheit? Wir antworten: Sie geschieht in wenigen wesentlichen Weisen. Eine dieser Weisen, wie Wahrheit geschieht, ist das Werksein des Werkes. Aufstellend eine Welt und herstellend eine Erde ist das Werk die Bestreitung jenes Streites, in dem die Unverborgenheit des Seienden im Ganzen, die Wahrheit, erstritten wird.« 94

Zunächst gilt es eine Assoziation zu vermeiden, die sich beim Lesen des Wortes »Streit« einstellen könnte. Heidegger drückt damit, wie er selbst betont, kein gewaltsames, aus einem Konflikt entspringendes Wirken zweier Kräfte gegeneinander aus, sondern jene produktive Reibung von Verschiedenem, das dennoch aufgrund seines Seins stets ein Gemeinsames ist. Diese Verweisungsstruktur des Seienden zeigt sich an der vermeintlichen Gegenüberstellung von Erde und Welt. Während Erde Inbegriff des Faktischen ist, der elementare Grund, nicht des Seins, sondern des Werdens, 95 gründet Welt in dieser als ihr gestifteter Zusammenhang. Bemerkenswert ist es, daß Heidegger diesen als »Geschick eines geschichtlichen Volkes« 96 ausweist, womit er Welt als Stiftungskontext des Gewordenen kennzeichnet. In der Dichtung findet dieser seinen Ausdruck: »Die jeweilige Sprache ist das Geschehnis jenes Sagens, in dem geschichtlich einem Volk seine Welt aufgeht und die Erde als das Verschlossene aufbewahrt wird.« 97 Diese Auffassung Heideggers ist deshalb bedeutsam, weil sie die Bestätigung der Weise, vom Volk zu sprechen, liefert. Es ist das geschichtlich Gefügte, das eine gemeinsame Sprache führt. Der erste Aspekt fokussiert das Geschick eines Volkes, sein bestimmend»So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden.« Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 30. 94 Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 54. 95 »Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende, und zwar als ein solches zurückbirgt. Im Aufgehenden west die Erde als das Bergende.« Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 44. 96 »Die Welt ist die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes.« Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 45. 97 Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 76. 93

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bestimmtes Sein, das auch als dessen Welt-bildende Eigentlichkeit verstanden werden kann. Diese Erwähnung des Begriffes vom Volk korrespondiert durchaus der Auffassung Rosenzweigs. Denn im letzten Teil seines Sterns der Erlösung hatte er die Einzigkeit des jüdischen Volkes aus dessen Geschichte und Tradition erwiesen. In Rosenzweigs Sicht gründet in der Geschichte des Volkes stets dessen Zukünftigkeit als Ausstehendes. Wie sich aber auch bereits gezeigt hat, kann Heidegger diese Folgerung nicht akzeptieren, da es keine vergleichbare geschichtlich verbürgte Identität des deutschen Volkes gibt. Dessen Geschichte muß also mit seinem Sein beginnen, eine Verbindung, die im Begriff des Seyns angezeigt werden soll. Denn Seyn ist beginnendes Sein. Auch diese Auffassung kann jedoch auf ein Identitäts-bildendes Element nicht verzichten, das Heidegger in der Sprache findet. Seine Hölderlin-Vorlesung war hierfür Beleg. Im Kunstwerks-Vortrag weitet sich das Interesse an Sprache nun zur Betrachtung der Kunst insgesamt, wobei die Intention ihrer argumentativen Inanspruchnahme allerdings unverändert bleibt: »Immer wenn Kunst geschieht, d. h. wenn ein Anfang ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an. Geschichte […] ist die Entrückung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Einrükkung in sein Mitgegebenes.« 98 Obige Zeilen veranschaulichen, daß Heidegger die Möglichkeit, einen Anfang zu denken, an das Geschehen von Kunst, besonders von Dichtkunst, bindet. Das Wortspiel von ›aufgeben‹ und ›mitgeben‹ signalisiert darüber hinaus die Ableitung der Bestimmung des Volkes durch das ihm Mögliche, eine zutiefst gefährliche Annahme, wie sich zeigen wird. Denn die Legitimation, zu sein, resultiert aus der Forderung, zu werden, und nur aus dieser. Kein Gedanke gilt in diesem Kontext etwa der Erwägung eines Miteinanders von Völkern, getragen von Toleranz und Wertschätzung. Immer wieder wird sich diese Überzeugung Heideggers zeigen, die jenem Volk das Recht zuspricht, sich zu erwirken, das über die Fähigkeit verfügt, seinen eigenen Anfang zu denken. Weil aber nur die Deutschen der Sprache des dichtenden Denkens fähig sind, steht es auch nur ihnen zu, sich selbst als Volk zu begründen. Eine fatale Erweiterung erfährt diese Überzeugung dadurch, daß in der Sprachmacht des Volkes Wahrheit gründet, die es nicht nur auszudrücken, sondern zu bewahren und zu bewähren gilt, womit wiederum der Rückgriff auf den Gedanken des Ge98

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schicks erfolgt. In dieser gedanklichen Herleitung ersetzt also die Sprache als Befähigung die historisch verbürgte Auserwähltheit 99 des jüdischen Volkes, womit Heidegger zwar einerseits die Anfänglichkeit des neuen Volkes begründet, andererseits aber auch die Vorstellung der Ansprache als Aufruf zur Bestimmung, die Rosenzweig im Stern der Erlösung thematisiert, teilt. Mehrfach ist nun der Begriff der Wahrheit bereits genannt worden, ohne daß deren Charakterisierung in diesem Text Heideggers erläutert wurde. Wahrheit geschieht, soviel hatte sich bisher gezeigt, doch was bedeutet dieses? Heidegger diagnostiziert ein Verfehlen des tatsächlichen Denkens der Wahrheit als »aletheia«, als Unverborgenheit, bei den »Griechen und erst recht in der nachkommenden Philosophie«. 100 Was genau bleibt also ungedacht und bedarf der Erklärung? In Heideggers Sicht ist Wahrheit an sich nicht erkennbar, wenn darunter das Erfassen eines sich der Erkenntnis Darbietenden verstanden wird. Statt dessen besagt der Ausdruck, Wahrheit geschieht, daß sie erwirkt werden will, nicht Ergebnis eines bloßen Ablesens und Ableitens ist, sondern der Akt des Wirkens aus ›neuanfänglichem Anfang‹ ist. Hieraus folgt die Notwendigkeit einer Annahme, die für das griechische Verständnis der Wahrheit, so wie Heidegger es deutet, nicht bestand. Das Geschehen der Wahrheit benötigt einen Austragungsort, an dem es ›Statt‹ finden kann. Die Vorstellung, daß Wahrheit Raum benötigt, mag auf den ersten Blick befremden, wird aber nachvollziehbar, wenn die Frage nach dem Charakter des Geschehens, das Wahrheit ist, gestellt wird. »Wahrheit geschieht nur so, daß sie in dem durch sie selbst sich öffnenden Streit und Spielraum sich einrichtet.« 101 Der Begriff des Spielraumes, der in den Beiträgen zur Philosophie auch in der Form des Zeit-Spiel-Raumes erscheint, ist im vorliegenden Kontext äußerst relevant. Als Stätte eines konträren Wirkens vermeintlich gegensätzlicher Elemente wird er von Heidegger gedeutet, als Geschehnis-Ort, 102 im Vortrag mit dem Kunstwerk verWenn wiederholt auf Heideggers Gedanken hingewiesen wird, daß das deutsche Volk über keine Geschichte verfüge, dann gilt diese Aussage der Ermangelung tradierter Gewißheit der Auserwähltheit, nicht einer Betrachtung historischer Fakten. 100 Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 49. 101 Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 61. 102 Der Gedanke des Gevierts korrespondiert dieser Vorstellung. Casper sieht in dem Wirkspiel von Göttlichen und Sterblichen, Erde und Himmel im Grunde eine Dreiheit von Wirkkräften, bestehend aus dem sterblichen Da-sein, den Unsterblichen und der 99

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bunden. Die Vorstellung eines Raumes, in dem etwas geschieht, das Wahrheit zur Geltung kommen läßt, macht aber nur Sinn, wenn das Geschehende als Stiftung von Relationen verstanden wird, die Heidegger hier mit dem Ausdruck des Streites bezeichnet. Aufeinander Ein-Wirken als gemeinsames Erwirken einer bisher nicht realisierten Verortung ist nicht zwingend als tatsächliche Einräumung einer Maßeinheit aufzufassen, sondern als Raum-geben im umgreifenden Sinne. Diese Bezugs-Struktur plaziert sich ihrerseits inmitten des Seienden und gibt innerhalb der Faktizität zu erkennen, was selbst Faktizität trägt, jedoch nicht ausdrückt – das Wesen der Wahrheit. Diese liegt in der relationalen Natur des Seins, die nur in einem Raum, in dem Bezüge denkbar werden, stattfinden kann und daher nicht als Inhalt einer Erkenntnis, sondern als Erfahrung von Offenheit zu begreifen ist. Denn der Spielraum öffnet vom Seienden ausgefüllten Raum und setzt dessen Bezüge funktionaler Verwiesenheit aus. »[…] über das Seiende hinaus, aber nicht von ihm weg, sondern vor ihm her, geschieht noch ein Anderes. Inmitten des Seienden im Ganzen west eine offene Stelle. Eine Lichtung ist. Sie ist, vom Seienden her gedacht, seiender als das Seiende. […] Nur die Lichtung schenkt und verbürgt uns Menschen einen Durchgang zum Seienden, das wir selbst nicht sind, und den Zugang zu dem Seienden, das wir selbst sind.« 103

So ist der Spielraum Ermöglichungsrahmen eines umfassenden Begreifens, das Seiendes zu sich kommen und damit die Beziehung zum Anderen entstehen läßt. 104 Nur vor diesem Hintergrund ist Heideggers Verweis auf das Volk in diesem Kontext nachvollziehbar. Denn auch dieses ist relationales Gefüge, bei sich, als in sich identifizierbar. Hier fügt sich unmittelbar der Gedanke der Bestimmung an, da Spielraum auch Erfüllungsstätte dessen ist, was sein soll, weil es möglich und dem Seienden gemäß ist. Geschehen als Geschick verstanden, entfaltet eine Komplexität des Seins, die Seiendes erst eigentlich zu Welt. ›Ereignis‹. Bemerkungen zu Franz Rosenzweig und Martin Heidegger, in: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, S. 73. Damit betont er eine deutliche Nähe beider Denker, die er folgendermaßen kommentiert: »Durch meine Überlegungen soll keine Bezugnahme Heideggers auf Rosenzweig behauptet werden. Diese ist historisch gesehen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gegeben«, S. 67. Die Formulierung »mit großer Wahrscheinlichkeit« läßt die Möglichkeit der Tatsächlichkeit zu. 103 Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 51. 104 »[…] die Eröffnung des Seienden in seinem Sein: das Geschehnis der Wahrheit.« Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 33.

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dessen Gestalt werden läßt. Das Kunstwerk verdinglicht diesen Gedanken des Spielraumes in besonderer Weise, weil es als Werk Raumstruktur in Zwei- oder Dreidimensionalität abbildet und als Gewirktes das Geschehen des Raum-Schaffens repräsentiert. Für den ersten Aspekt ist das Bild des Tempels, das Heidegger heraufbeschwört, sicherlich das stärkste Beispiel. »Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschickes gewinnen.« 105 Kaum deutlicher könnte Heidegger das dynamische Potenzial beschreiben, das innerhalb des Tempels herrscht und sein Entstehen bewirkte. Dabei zeigt sich eindeutig, daß auch die Möglichkeiten des »Verfalls« und der »Schmach« bestehen, wodurch die Aufgabe, aus dem Walten einer absoluten Options-Offenheit Wahrheit zu schaffen, noch umso dramatischere Ausmaße annimmt. Das Geschick entwindet sich dem Streit der Möglichkeiten – diese Feststellung gilt für den einzelnen Menschen wie auch für sein Volk. »Die waltende Weite dieser offenen Bezüge ist die Welt dieses geschichtlichen Volkes. Aus ihr und in ihr kommt es erst auf sich selbst zum Vollbringen seiner Bestimmung zurück.« 106 Gerade das Beispiel des Tempels kündigt auch die Deutung zweier Begriffe in Heideggers Werk an, die sich eindeutiger Interpretation schnell entziehen – »Gott« oder: »die Götter«. Daß hier kein Rekurrieren auf religiöse Vorstellungen vorliegt, bedarf wohl keiner Erläuterung mehr. Auch die Tatsache, daß sich Heidegger bei der Verwendung dieser Ausdrücke tief dem Denken Hölderlins verbunden fühlt, ist offensichtlich. Doch wofür steht dann das Wort ›Gott‹ ? Gerade im Kunstwerks-Vortrag wird eine Erklärung hierfür sichtbar: Es ist eine Geschehnis-Metapher. »Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst. Diese Sicht bleibt so lange offen, als das Werk ein Werk ist, so lange als der Gott nicht aus ihm geflohen. […] Es ist kein Abbild, damit man an ihm leichter zur Kenntnis nehme, wie der Gott aussieht, aber es ist ein Werk, das den Gott selbst anwesen läßt und so der Gott selbst ist.« 107 105 106 107

Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 37. Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 37. Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 39.

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Im Geschehen, das Spielräume eröffnen, findet Seiendes zu sich, so wie es sein soll. Nicht zufällig spricht Heidegger in diesem Zusammenhang von Bestimmung und Geschick. Die Antwort auf die Frage, wie Seiendes sein soll, bleibt er allerdings schuldig, solange eine eindeutige Definition verlangt wird. Und doch ist eine Erschließung möglich, die zum Begriff der Wahrheit zurückführt. Diese geschieht, so schreibt Heidegger, ist also kein Entdecken, sondern ein Begreifen, das verbindet. Daher sind die Umschreibungen des Streites so wichtig, den es innerhalb der Ereignis-Räume auszutragen gilt. Das Kunstwerk gibt diesem Statt, was allerdings nur dadurch möglich ist, daß es in seiner Präsenz den Menschen auffordert, in seinem Tun innezuhalten und zu sehen. »Je einsamer das Werk, festgestellt in die Gestalt, in sich steht, je reiner es alle Bezüge zu den Menschen zu lösen scheint, um so einfacher tritt der Stoß, daß solches Werk ist, ins Offene, um so wesentlicher ist das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen.« 108 Das Ungeheure erinnert natürlich an das Unheimliche aus Sein und Zeit. Auch dort wurde ein dramatischer Perspektivwechsel angedeutet, der den Menschen, der sich der Endlichkeit seines Seins bewußt wird, aus dem Bekannten und Vertrauten reißt. Aber auch dort zeigte sich, daß die vermeintliche Fremdheit des Unheimlichen Einblick in das Sein als Ganzes öffnet. Begrifflich nähert sich Heidegger in obigen Zeilen unverkennbar religiöser Terminologie. Das Ungeheure ist auch das Sakrale, den Blicken Verborgene. Im Offenen wird es gleichwohl zugänglich, so wie sich in der Offenbarung das Göttliche zu erkennen gibt. Wenn Heidegger diese Assoziationen hätte nutzen wollen, wäre seine Deutung der Wahrheit als Geschehnis überflüssig gewesen. Denn dann hätte er sich darauf berufen können, daß das Wahre sich offenbart, in der Unverborgenheit zeigt. Doch nicht dem Wahren, sondern der Wahrheit, ja sogar ihrem Wesen gilt seine Aufmerksamkeit. Es ist an der Zeit, den Blick erneut auf Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung zu lenken. Im zweiten Teil seiner Schrift geht er, wie bereits dargestellt wurde, auf den Begriff der Offenbarung ein und deutet diesen in interessanter Weise. Denn mit ihr beginnt der Prozeß der zweiten Schöpfung, die in dem gemeinsamen Wirken von Gott, Welt und Mensch gründet. Es wäre sogar möglich, hier von der eigentlichen Schöpfung zu sprechen, da er das Erschaffen des Seienden 108

Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 67.

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– die erste Schöpfung – eher als Hervorbringung von Tatsächlichem interpretiert. Offenbarung ist weniger das Außergewöhnliche, das Gott momenthaft erkennbar werden läßt, als das Freisetzen der Göttlichkeit als Bestandteil des Wirkkomplexes der Wirklichkeit. Da in diesem die drei konstituierenden Elemente erst in die ihnen gemäße Relation zueinander treten, kann Rosenzweig Offenbarung als zweiten Anfang verstehen, in dem entsteht, was im göttlichen Schöpfungswerk vorbereitet wurde. Im neuen Anfang verlagert sich die Aufgabe der Vorbereitung ganz in das Wirken des Menschen, der nun dazu aufgerufen ist, das Kommen des Reiches zu erwirken. Diese Vorbereitung denkt Rosenzweig in räumlicher Struktur, nicht als Abmessung von Umgrenztem verstanden, sondern als Ort der Einwohnung des Göttlichen im Da-sein. Hieraus begründet sich die besondere Bestimmung des jüdischen Volkes. Der Mensch, »der andre Pol der Offenbarung« 109 wird zum Hüter und Bewahrer der Wahrheit des Seins, die die Wahrheit der erneuten Schöpfung ist. So unterscheidet Rosenzweig zwei Offenbarungen, die nicht nur für den Menschen, sondern interessanterweise auch für Gott bedeutsam sind. In der ersten Offenbarung als Schöpfung bringt Gott zwar Seiendes hervor, droht aber nach vollbrachtem Werk in das Dunkel der Unkenntlichkeit zu sinken. Rosenzweig will die fortgesetzte Präsenz Gottes denken, der an-wesend dem Sein dazu verhilft, wesentlich zu werden, was soviel bedeutet wie: erst wirklich zu entstehen, denn Entstehen ist Stehen in Relation. Die zweite Offenbarung, in der Gott präsent wird, beschreibt er wie folgt: »Eine Offenbarung also muß das sein, die nichts ›setzt‹, nichts aus sich heraus ins Leere schafft; ein solches Offenbarwerden war zwar auch Offenbarwerden, aber nur ›auch‹ ; wesentlich und vor allem war es Schöpfung; das Offenbarwerden, das wir hier suchen, muß ein solches sein, das ganz wesentlich Offenbarung ist und nichts weiter; das heißt aber: es darf nichts sein als das Sichauftun eines Verschlossenen, […]. Im Aufleuchten eines solchen Augen-blicks wohnt die Kraft, das geschaffene Sein, das von diesem Aufleuchten getroffen wird, aus dem geschaffenen ›Ding‹ umzufärben in ein Zeugnis eines geschehenen Offenbarens.« 110

Diese letzten Worte stellen den deutlichsten Bezug zum Denken Martin Heideggers und den Schlüssel zum Verständnis seines Begriffes von Wahrheit dar. Denn deren Geschehen, das er explizit betont, ist 109 110

Der Stern der Erlösung, II,II, S. 186. Der Stern der Erlösung, II,II, S. 179 f.

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nichts anderes als dieses ›Umfärben‹ des Seins in ein Zeugnis, das die Möglichkeit dieses Geschehens bekundet. Wahrheit ist kein Erkenntnis-Ertrag, sondern eine Seins-Modifikation. Deshalb kann sich Heidegger nicht unkritisch auf die Vorstellung der Wahrheit als Unverborgenheit, wie er sie im Denken der Griechen ausgedrückt findet, berufen. Denn es wird nichts enthüllt und der Verborgenheit entwunden, sondern Seiendes selbst gewinnt den Standpunkt, von dem aus es sich in Relation zum Sein erfassen und dadurch die Möglichkeit von Wahrheit bezeugen kann. Jener Prozeß, den Rosenzweig in unvergleichlicher Schlichtheit als ›Umfärben‹ bezeichnet, verwandelt ein Ding von einem isoliert bestehenden Seienden zu einem Seienden in Relation, wodurch sich Sein konstituiert. Nicht nur das Begreifen dieses Prozesses versteht Rosenzweig als Offenbarung, sondern dessen Geschehen selbst. Kaum deutlicher könnte die Tragweite dieses Gedankens ausgedrückt werden als in den Worten »Wenn ihr mich bezeugt, so bin ich Gott, und sonst nicht – […].« 111 Heidegger betont in seinem Vortrag mit Blick auf den »dichtenden Entwurf der Wahrheit«: »Deshalb muß alles dem Menschen Mitgegebene im Entwurf aus dem verschlossenen Grund heraufgeholt und eigens auf diesen gesetzt werden. So wird er als der tragende Grund erst gegründet. Weil ein solches Holen, ist alles Schaffen ein Schöpfen […]. Die Stiftung der Wahrheit ist Stiftung nicht nur im Sinne der freien Schenkung, sondern Stiftung zugleich im Sinne dieses grund-legenden Gründens. […] Schenkung und Gründung haben in sich das Unvermittelte dessen, was wir einen Anfang nennen.« 112

Und bei Rosenzweig heißt es: »Erst so, nicht mehr Zeugnis einer überhaupt geschehenen, sondern Äußerung einer im Augenblick ›soeben‹ geschehenden Offenbarung, tritt das Ding aus seiner wesenhaften Vergangenheit in seine lebendige Gegenwart.« 113

Daß Rosenzweigs Denken auf religiösen Vorstellungen basiert und damit aus Voraussetzungen schöpft, die Heidegger verschlossen sind, muß immer wieder betont werden. Gerade der Vortrag Über den Ursprung des Kunstwerkes zeigt aber, wie nahe sich die Auffassungen beider Denker in der Formulierung des anfänglichen Geschehens der 111 112 113

Der Stern der Erlösung, II,II, S. 191. Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 78. Der Stern der Erlösung, II,II, S. 180.

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Wahrheit kommen. Diese Tatsache mag auch dadurch erklärt werden, daß Rosenzweig eine Sicht von Offenbarung vertritt, die Gott in das Geschehnis der Konstituierung von Wirklichkeit integriert. Er ist nicht nur Erstverursacher von Sein, sondern am Prozeß von dessen Modifikation, der ›Umfärbung‹, beteiligt. Im gemeinsamen Wirken von Gott und Mensch wird der eigentliche Grund der Schöpfung gelegt, die nicht nur Da-sein bezeichnet, sondern Gestalt gewinnt. Erst als Gestaltetes ist Sein wahres Sein. Heidegger nutzt den Gedanken des Anfangs in analoger Weise, wenn er vom grund-legenden Gründen der Wahrheit spricht. Wie sich bereits gezeigt hat, benötigt er die Denkbarkeit eines Anfangs eigener Prägung unverzichtbar zur Begründung der Identität des Volkes. Wenn vom ›Mitgegebenen‹ die Rede ist, von der ›Schenkung‹, dann verweisen diese Ausdrücke noch entfernt auf die Frage nach dem Ursprung des Seins, ohne diese jedoch artikulieren zu wollen. In leichtester Assoziation können diese Begriffe an Rosenzweigs Deutung der ersten Schöpfung erinnern, die pures Hervorbringen von Sein ist. Dessen tatsächliche Gestaltung erfolgt durch das Geschehen des Wirkens in Relation, dem in Heideggers Begrifflichkeit die ›Stiftung‹ entspricht. Zu Beginn dieser kurzen Anmerkungen zum Kunstwerk-Vortrag war verschiedentlich auf den Begriff des Spielraumes hingewiesen worden. Nachdem die Betrachtung nun auf die Idee der zweiten Offenbarung im Sinne Rosenzweigs fokussiert ist, soll er nochmals berücksichtigt werden. »Wahrheit geschieht nur so, daß sie in dem durch sie selbst sich öffnenden Streit und Spielraum sich einrichtet« 114, so formuliert Heidegger. Einen Gedanken frappierender Ähnlichkeit artikuliert Rosenzweig am Ende seines Sterns der Erlösung: »Die Schechina, die Niederlassung Gottes auf den Menschen und sein Wohnen unter ihnen, wird vorgestellt als eine Scheidung, die in Gott selbst vorgeht. Gott selbst scheidet sich von sich, er gibt sich weg an sein Volk, er leidet sein Leiden mit, er zieht mit ihm in das Elend der Fremde, […].« 115 Werden diese Zeilen berücksichtigt, erklärt sich nicht nur das Motiv des Wohnens, das in Heideggers Schriften immer wieder zu finden ist, sondern vor allem auch sein Verständnis des Göttlichen, wie es sich im Ursprung des Kunstwerkes ankündigt und in den Beiträgen zur Philosophie vollständig entfaltet präsentiert. Die Weise, in 114 115

Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 61. Der Stern der Erlösung, III,III, S. 455.

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der Gott das Schicksal seines Volkes zu dem seinen macht, führt Rosenzweig, der in diesem Kontext mystischen Spuren folgt, zu der Auffassung, daß auch das göttliche Wesen der Erlösung bedarf. Kaum drastischer könnte das Gewicht der Verantwortung hierfür dem Menschen übertragen werden, der durch sein Tun und seinen Glauben den Ort hierfür vorzubereiten hat. Im Motiv des Ortes und des Wohnens präformieren Rosenzweigs Worte Heideggers Bild des Spielraumes und ebenfalls jenes des Wohnens, das sich auch aus der Dichtung Hölderlins speist, doch nicht nur aus dieser, wie sich zeigt. »Der jüdische Mensch und das jüdische Gesetz – zwischen beiden spielt sich da nicht weniger ab als der gott-, welt- und menschumfassende Vorgang der Erlösung. […] Das Nurjüdische des Gefühls verklärt sich zur welterlösenden Wahrheit. In der innersten Enge des jüdischen Herzens leuchtet der Stern der Erlösung.« 116

Kein Geschehen von dramatischeren Ausmaßen läßt sich erdenken als dasjenige, das sich innerhalb der Wohnstatt des Göttlichen ereignet, »abspielt«, wie Rosenzweig schreibt. Es wäre natürlich übertrieben, aus diesem Verb auf die Entstehung von Heideggers Begriff des »Spielraumes« schließen zu wollen. Doch nicht das Wort allein signalisiert Entsprechung, sondern die Vorstellung des Geschehens als solche. Erlösung geschieht, nicht als Folge sich auf den Menschen senkender Gnadenwirkung, sondern als relational erwirktes Ereignis, das Gott, Welt und Mensch zu sich und zu einander führt. Dieses ist die »welterlösende Wahrheit«, deren Gleichnis Rosenzweig im Bild des Sterns mit seinen verschränkten Formen findet, die erst in der Überlagerung die vollendete Gestalt bilden. Erlösung ist jedoch ein Begriff, der für Heidegger nicht denkbar ist, solange er an den Glauben an einen schaffenden Gott gebunden bleibt. Doch was faszinierte Heidegger an der Bedeutung dieses Begriffes so sehr, daß er sie zu einem nicht unerheblichen Teil seinem eigenen Denken zugrunde legte? »Wahrheit geschieht« als Austragung des Streites zwischen Himmel und Erde, so heißt es im Kunstwerks-Text – zwischen Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen, so wird es als Charakterisierung des Gevierts zu lesen sein. Es könnte der Einwand erhoben werden, daß es in diesem Text lediglich um eine Bestimmung der Natur des Kunstwerkes geht, nicht um Aussagen zum Wesen der Wahrheit. Doch erweist sich diese Er116

Der Stern der Erlösung, III,III, S. 457.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

wägung bereits während ihrer Formulierung als unzutreffend. Denn Heidegger selbst nutzt die Beschreibung des Geschehens der Wahrheit zur Annäherung an das Thema von Volk und Geschichte. Darüber hinaus sind seine Darstellungen des Schaffens, die dem Entstehen des Kunstwerkes zu gelten scheinen, Darlegungen jenes Raum-gründenden Wirkens, das Wahrheit Statt finden läßt. Es handelt sich also weniger um Betrachtungen zur Ästhetik, sondern um deren Einsetzung als Metapher des Wirk-Prozesses schlechthin. Wirken, so zeigt er in seinem Vortrag, setzt den Anfang, von dem aus Geschichte beginnt. Gerade diese Überzeugung wird in seinen Beiträgen zur Philosophie entscheidend sein, da er auch dort darauf hinweisen wird, daß die Geschichte des Volkes der Deutschen beginnen muß, um damit die Vorstellung der Geschichtlichkeit des jüdischen Volkes außer Kraft zu setzen. Vor diesem Hintergrund, und nicht nur vor ihm, berührt es zutiefst, wenn Rosenzweig aus leidvoller Erfahrung und ahnungsvoller Hellsichtigkeit schreibt: »Dies Dasein des Juden zwingt dem Christen in alle Zeit den Gedanken auf, daß er nicht bis ans Ziel, nicht zur Wahrheit kommt, sondern stets – auf dem Weg bleibt. Das ist der tiefste Grund des christlichen Judenhasses, der das Erbe des heidnischen angetreten hat.« 117

IV.5 Beiträge zur Philosophie Martin Heideggers erstes systematisches Werk Sein und Zeit zeigt sich als Konzeptualisierung von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung. Eine direkte Gegenüberstellung der Themenabfolge hatte sichtbar gemacht, daß Heidegger sehr präzise der gedanklichen Struktur dieses Textes folgt, was mit Blick auf die beiden ersten Teile des Sterns durchaus möglich war. Denn obwohl Rosenzweig seiner Darstellung religiöse Überzeugung und Terminologie zugrunde legt, weist er selbst diese zugleich als philosophisch relevant aus, was etwa seine Verwendung des Begriffes von Sein und Da-sein belegt. Die Möglichkeit einer Formalisierung dieser Aspekte war für Heidegger somit gewährleistet. Anders ist die Sachlage im Falle des dritten Teils, insofern Rosenzweig dort explizit den Gedanken der Erlösung und dessen Bedeutung für das jüdische Volk beleuchtet. Der eine Gedanke, den Heidegger in Parallelität hierzu konstruiert, ist jener der 117

Der Stern der Erlösung, III,III, S. 459.

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Beiträge zur Philosophie

Zukünftigkeit, der im Phänomen des Sich-vorrufen-lassens greifbar wird. In Sein und Zeit wird damit jedoch zunächst nur ein allgemeines Kennzeichen des Seins betont, das zu keinerlei Aussagen über dessen mögliche Beschaffenheit führt. Die Erwähnung vom Volk, die sich in diesem Kontext findet, wirkt eher unvermittelt und überraschend. In Verbindung mit der Charakterisierung der Geschichte erfolgt hier die Aufweisung der Zeitlichkeit des Seins. In Rosenzweigs Schrift ist diese aber niemals nur Kennzeichen von Veränderung, sondern Maß, um die Dimensionierung des Seins erschließen zu können. Denn seine Betrachtung des Ausstehenden, das sich in der Zukunft verwirklichen wird, ist nicht nur formale Bezeichnung von Zeit, sondern existentielle Bestimmung des Seins als Schöpfung. Zu diesem gehört die Verwirklichung des Kommenden, das erwartet wird und im Tun des Menschen vorbereitet werden kann. Ohne eine Berücksichtigung dieser Bestimmung würde in Rosenzweigs Sicht jede Interpretation von Sein unvollständig und damit letztlich sinnlos bleiben. Das Ausstehende, das Erwartete, das Kommende – alle drei Begriffe verweisen auf ein konkretes Wesensmerkmal des Seins. Stellt sich damit die Frage, ob dieses trotz seiner noch bevorstehenden Verwirklichung überhaupt thematisierbar sein kann, beantwortet Rosenzweig diese eindeutig. »Während nämlich das Vergangene, das schon Fertige daliegt von seinem Anfang bis zu seinem Ende und daher er-zählt werden kann – […], ist das Zukünftige als das was es ist, nämlich als Zukünftiges, nur zu fassen durch das Mittel der Vorwegnahme. Wollte man auch das Zukünftige er-zählen, so würde man es unabwendbar zum starren Vergangenen machen. Das Zukünftige will vorausgesagt werden. Die Zukunft wird erlebt nur in der Erwartung.« 118

Woraus entspringt aber ein Denken, das voraussagt, was erwartet wird? Aus der Erfahrung dessen, was möglich ist. Möglich ist die Überformung des Gegenwärtigen durch ein Ausstehendes, weil die Struktur des Seins in seiner Zeitlichkeit besteht. Sowohl Rosenzweig als auch Heidegger hatten in ihren einleitenden Analysen Da-sein/ Dasein als Faktizität des Seienden betrachtet, dessen jeweilige Verwirklichungsmomente als Entwurf in ein Zukünftiges gedeutet wurden. Wie sich gezeigt hat, hebt Rosenzweig dabei einen Aspekt besonders hervor: Schöpfung ist nicht als Hervorbringung zu verstehen, 118

Der Stern der Erlösung, II,III, S. 244.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

deren Vollendung mit dem letzten Akt des Erschaffens einhergeht. Statt dessen setzt das Gestalten der Wirklichkeit auf der Grundlage der geschaffenen Welt ein, wodurch das scheinbar Letzte des Wirkens Gottes das Erste der Begründung zukünftigen Seins wird. Eine analoge Konzeption vertritt Rosenzweig mit Blick auf den Menschen, der der Erlösung empfänglich ist. »Und andrerseits wird im ewigen Weg wirklich wieder bei der anerschaffenen Gottebenbildlichkeit des Menschen begonnen; die Erlösung geschieht hier durch den neuen Adam, den sündlosen, nicht gefallenen, und ist in ihm schon da; so wird hier der Mensch, der beseelte Mensch, […] schon Erbe der Erlösung, einer Erlöstheit, die ihm von uran, von der Schöpfung her eignet und nur der Aneignung harrt […].« 119

Auch wenn es so wirken mag, als würden sich diese Worte jedem Vergleich mit Heideggers Denken entziehen, da sie ein Geschehen benennen, zu dem es dort keinerlei Entsprechung gibt, wird sich das Gegenteil erweisen. 120 Für den Augenblick sei Rosenzweigs sprachliche Abwägung von ›eignen‹ und ›Aneignung‹ festgehalten, die eines verdeutlicht: Erlösung ist dem menschlichen Sein immer schon eingeschrieben, bedarf aber zu ihrer Verwirklichung eines Aktes der Vorbereitung. Für Rosenzweig steht es außer Frage, daß diese einer Umkehr gleichkommt, da das scheinbar Fertige sich in das Zugrundeliegende verwandelt, der lebendige Mensch zum »neuen Adam« wird. Diese Umkehr bedeutet insofern eine Zäsur in der Zeit, als sie einen neuen Anfang darstellt, der beginnen läßt, was möglich war. Doch was wäre eine bloße Möglichkeit, wenn sie nicht von demjenigen, der sie zu verwirklichen wagt, zu eigen gemacht würde? So stellt der Vorgang der Aneignung, in dem der Mensch das von Gott Vorgesehene erkennt und zu seiner Sache macht, das wesentliche Merkmal der Verwandlung von Da-sein in Dasein dar, von faktischer Gegebenheit des Seins in die bezeugte Weise, zu sein. Bereits an früherer Stelle war auf Rosenzweigs Gedanken von »Stand und Sendung« 121 hingewiesen worden, der nun noch einmal aufgegriffen werden soll. Der Stern der Erlösung, III,III, Tor, S. 466. Gordon, Redemption in the world, S. 211: »[…] Rosenzweig and Heidegger share a vision of what life might be like if one were to resist the falsifying attachments of publicity, and they both imagine the possibility of a more authentic or self-sustaining existence – a life of splendid isolation. Rosenzweig calls this condition ›Erlösung‹ […].« 121 »Er [der Mensch] muß dort leben, wohin er gestellt ist; denn er ist von der Hand des Schöpfers hingestellt, nicht aus dem Schoße des Zufalls herausgefallen. Er muß 119 120

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Beiträge zur Philosophie

Das Zu-eigen-machen dessen, was Offenbarung erschließt, bedarf immer noch der Bestätigung durch das Verstehen, was Rosenzweig als das »Wahrlich« des Menschen deutet. Ohne diese Antwort bliebe das erhellende Wort folgenlos, weil seine Wahrheit nicht erkannt würde. »Die Wahrheit, die von Gott urspringt, erkannten wir als das Wesen der Wahrheit überhaupt. So muß sie auch dem Menschen als Seine Wahrheit kommen, und als solche kann er sie nicht anders erfahren, als indem er sie sich im Wahrlich zu seiner zueignet. Denn nur was man als Gabe empfängt, nur das lehrt einen den Geber erkennen.« 122

In seiner Konzeption von Wahrheit drückt Rosenzweig noch einmal seine Überzeugung von der existentiellen Verschränkung göttlichen und menschlichen Seins aus. Auch wenn er in dem ersten Teil seines Sterns versuchte, die Wirklichkeit konstituierenden Elemente in größtmöglicher Annäherung aneinander zu beleuchten, bleibt die Tatsache einer Differenz ihrer jeweiligen Seins-Formen bestehen, die er zu keinem Zeitpunkt leugnen will. In der Thematisierung jener Aneignung der Wahrheit göttlichen Seins-Entwurfes, der nur in menschlicher Fortsetzung verwirklicht werden kann, geht es nicht mehr um Darstellung von Analogien zwischen den Elementen, sondern um ihre Relation. So versteht Rosenzweig das menschliche »Wahrlich« als Ansetzen eines neuen Anfangs innerhalb der Zeit, eines zweiten Anfangs von Zeitlichkeit sogar. Denn das scheinbar Vollendete ver-kehrt sich in sein Gegenteil, das Ursprüngliche. »Diese Verkehrung der Zeitfolge, wo also für die Welt das Erwachen dem Sein vorhergeht, begründet das Leben des ewigen Volkes. Sein ewiges Leben nämlich nimmt ständig das Ende vorweg und macht es so zum Anfang. In dieser Umkehrung verleugnet es die Zeit so entschieden wie nur möglich und stellt sich aus ihr heraus.« 123

Die beiden Formulierungen »Verkehrung« und »Umkehrung« werden für die weiteren Betrachtungen von ausschlaggebender Bedeutung sein. In der Vorbereitung der Erlösung sieht Rosenzweig die entscheidende Auszeichnung des jüdischen Volkes und zugleich den Ursprung des Judenhasses, wie gerade zu lesen war. Ahnungsvoll ardahin gehen, wohin er gesandt ist; denn er hat vom Worte des Offenbarers Richtung empfangen, […].« Der Stern der Erlösung, III,III, S. 437. 122 Der Stern der Erlösung, III,III, S. 437. 123 Der Stern der Erlösung, III,III, S. 467.

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tikuliert er damit einen Gedanken, dessen Bestätigung Realität wird. In einer kurzen Passage im Kapitel, das mit dem Titel »Schwelle« überschrieben ist, kommentiert Rosenzweig das Wesen des Sterns, der aus zwei Dreiecken gebildet wird. Das eine verbindet die Elemente Gott, Welt und Mensch, das andere Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. Doch erst im Moment, in dem beide Figuren, die bislang nur in der Verknüpfung dreier Punkte durch Linien bestehen, sich übereinander legen, entsteht »Gestalt«. 124 Der Überblendungsraum, der so geschaffen wird, ist weitaus mehr als nur Symbol. Er ist der Ort existentiellen Geschehens, innerhalb dessen sich Schöpfung in Erlösung ver-kehrt. Mehrfach war bereits auf die Bedeutung des Hauses hingewiesen worden, das als Stätte ritueller Handlungen der Präsenz des Göttlichen Statt gibt. Dieses Motiv des Einräumens der Gegenwärtigkeit ist im Stern der Erlösung Ausdruck religiöser Überzeugung. Umso erstaunlicher ist es, daß es in gewandelter Form neben dem Gedanken der Verkehrung der Zeitfolge zu den tragenden Elementen in Martin Heideggers Beiträgen zur Philosophie. Vom Ereignis wird. 125 Zwei bereits bekannte Gedanken stehen im Mittelpunkt seiner Überlegungen: Der »andere Anfang« und der »Zeitspielraum«. Deren Analogie zu Rosenzweigs Aussagen gilt es nun weiter zu verfolgen. Dabei wird der Fokus auf dem Nachweis liegen, daß Heideggers Beiträge zur Philosophie als Konzeptualisierung des dritten Teils aus Rosenzweigs Stern der Erlösung verstanden werden können, die in Sein und Zeit erst rudimentär erfolgt war. Schwierig ist die Beantwortung der Frage, warum Heidegger auf diese erst rund zehn Jahre später zurückgekommen ist, auch wenn Planungen offenbar schon seit 1932 vorlagen. Ein Blick auf diese beiden Texte zeigt eine deutliche Akzent-Verschiebung. Während Sein und Zeit in weiten Strecken als Analyse der Seins-Weise des Seienden erscheint und sich damit erklärtermaßen am Bestand des tatsächlich Vorfindlichen orientiert, das freilich auf seine Möglichkeit, zu sein, befragt wird, präsentieren sich die Beiträge zur Philosophie als Ausblick in die Künftigkeit des Seyns. Damit soll keinesfalls angedeutet werden, daß hier ein vager Der Stern der Erlösung, III,III, S. 285. Froman, Rosenzweig and Heidegger on ›the moment‹, S. 228: »Today the issue requires re-examination because the proportions of a comparison are by necessity much larger after the publication of pre-Being and Time lecture manuscripts by Heidegger as well as his later work, which takes its point of departure in the unfinished Beiträge zur Philosophie: Vom Ereignis.«

124 125

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Beiträge zur Philosophie

Entwurf eines noch Ausstehenden vorgenommen wird, der dann nur noch in der Sprache der Prophezeiung oder der Vision zu artikulieren wäre. Auch wenn Heideggers Begrifflichkeit in diese Richtung deuten mag, erweist sich Seyn nicht als Gegenentwurf zum Sein, der vielleicht erst zukünftig vorstellbar ist. Statt dessen verwandelt sich im Seyn das, was ist, unter radikaler Inanspruchnahme seiner Möglichkeit, Statt zu geben. Auf diesen Gedanken wird im weiteren Verlauf einzugehen sein. Zunächst bieten Heideggers Überlegungen zum Titel der Schrift ein bemerkenswertes Ergebnis. Denn sie zeigen deren Positionierung an der Schnittstelle von Text und Weisung, oder anders ausgedrückt: von Philosophie und Ereignis. Wie bereits in Sein und Zeit leitet Heidegger seine Ausführungen durch die Frage danach ein, was es heißt, zu fragen. »Die Seinsfrage ist die Frage nach der Wahrheit des Seyns.« 126 Damit richtet sich der Blick auf Philosophie, die das fragende Denken zu artikulieren hat, nicht im Sinne eines neuen Systems, 127 sondern als formale Vorbereitung des Ereignisses der Wahrheit des Seyns. In ungewöhnlicher Weise erfolgt hier eine Umdeutung des Gedankens der Form, in der Gedachtes sich ordnet. »Die ›Beiträge‹ fragen in einer Bahn, die durch den Übergang zum anderen Anfang, in den jetzt das abendländische Denken einrückt, erst gebahnt wird. Diese Bahn bringt den Übergang ins Offene der Geschichte und begründet ihn als einen vielleicht sehr langen Aufenthalt, in dessen Vollzug der andere Anfang des Denkens immer nur das Geahnte aber doch schon Entschiedene bleibt.« 128

In fast bedrückender Intensität wird in diesen Zeilen erkennbar, daß die Form des Denkens niemals nur bloß äußerlicher Aspekt ist, sondern gleichsam in einer Visualisierungsmetapher dem Gedachten Raum gibt. Dabei will Heidegger nicht auf den »Übergang« von Theoretischem in Praktisches rekurrieren, denn dasjenige, was das »Offene der Geschichte« bezeichnet, gilt es zunächst unter existential-ontologischer Perspektive zu begreifen. Es soll eine Möglichkeit im Sein aufgewiesen werden, die nicht mehr, wie noch in Sein und Zeit, aus einem vorgängigen Verstehen von Seiendem folgt, sondern die dessen Umdeutung, in die auch der Mensch einbezogen ist, signalisiert.

126 127 128

Beiträge zur Philosophie, I,2, S. 6. »Die Zeit der ›Systeme‹ ist vorbei.« Beiträge zur Philosophie, I,1, S. 5. Beiträge zur Philosophie, I,1, S. 4.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

»Nicht mehr handelt es sich darum, ›über‹ etwas zu handeln und ein Gegenständliches darzustellen, sondern dem Er-eignis übereignet zu werden, was einem Wesenswandel des Menschen aus dem ›vernünftigen Tier‹ (animal rationale) in das Da-sein gleichkommt.« 129 Denken gibt dem Gedachten statt, nicht als Regel oder Plan, dessen Verwirklichung dann etwas zuvor nicht Bestehendes erzeugt. Statt dessen zielt Heidegger auf eine tatsächliche Umdeutung des Bestehenden, die er als Er-eignis bezeichnet. Eine entsprechende Auffassung hatte sich auch im Stern der Erlösung gezeigt. In der Vorbereitung der Erlösung eignet sich der Mensch deren Möglichkeit als Seins-Grund an, der sich allerdings erst vom Augenblick der Aneignung als solcher eröffnet. Vor diesem Hintergrund hatte Rosenzweig vom »neuen Adam« gesprochen, dessen Sein nicht mehr begründet, sondern gründend vorzustellen ist. Hier tauchte auch erstmals der Begriff der Umkehrung auf, der das scheinbar Abgeschlossene in einen anderen Anfang verwandelt. Für Rosenzweig ist es eindeutig, daß verwandeltes Sein erlöstes Sein ist, daß Welt zum Ort des Reiches werden kann, das sich nirgendwo sonst denken läßt als an der Stätte seiner Vorbereitung. 130 Auch Rosenzweig hatte von der »Bahn« gesprochen und dabei einen besonderen Gedanken-Übergang aufgezeigt. So wie sich die isoliert bestehenden Punkte innerhalb der geometrischen Figur zweier Dreiecke durch die Linien-Bahn zur Gestalt des Sterns verknüpfen, schafft das Zusammenwirken der Elemente den Wirk-Raum der Erlösung. Gestalt und Raum erweisen sich damit in Rosenzweigs Schrift als analoge Begriffe, auch wenn sie unterschiedlichen Kontexten entstammen. Gestalt ist graphische Signatur, Raum existentieller Ort. Das Überraschende an ihrer extremen Verweisung liegt darin, daß der Stern nicht bloßes Zeichen des zukünftigen Ortes ist, das vielleicht in der Rede dessen theoretische Möglichkeit repräsentiert. Der Stern steht nicht für den Ort, er schafft ihn. Natürlich ist dieses eine extrem verkürzte und dadurch simplifizierende Formulierung. Sie soll zeigen, wie entscheidend es für Rosenzweig ist, Graphem und Ereignis aufeinander zu beziehen. Es wäre zu überlegen, ob es für die Möglichkeit, eine solche Verweisung zu denken, innerhalb der Traditionslinie des griechischen Denkens, die Beiträge zur Philosophie, I,1, S. 3. »Das Reich Gottes setzt sich durch in der Welt, indem es die Welt durchsetzt.« Der Stern der Erlösung, II,III, S. 266. 129 130

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westliche Rationalität so maßgeblich geprägt hat, überhaupt ein Muster gibt? Falls das nicht so sein sollte, läge damit ein Element vor, das dem philosophischen Diskurs, der sich noch heute in weiten Teilen aus dieser Quelle speist, hinzugefügt wurde. Denker wie Franz Rosenzweig oder in neuester Zeit Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida plädieren für eine entsprechende Ausweitung des Denkens. Mit Blick auf Martin Heidegger würde sich eine philosophiehistorisch höchst ungewöhnliche Konstellation ergeben. Denn obwohl er in seinen Schriften unablässig darum bemüht ist, die Verwurzelung seines Denkens in der Philosophie der Griechen zu betonen, stützt er sich auch auf ein gedankliches Modell anderer Provenienz, das er jedoch konsequent verschweigt. Gründe hierfür zu benennen, weist in den Bereich der Spekulation. Doch wäre eine Erklärung unter Berücksichtigung der Zeit, in der Heideggers wichtigste Texte formuliert wurden, nicht von der Hand zu weisen. Ausdrücke wie »Bahn« und »Übergang«, so könnte eingewendet werden, sind beileibe nicht charakteristisch genug, als daß aus ihrer Verwendung Heideggers Vertrautheit mit Rosenzweigs Stern der Erlösung nachgewiesen werden könnte. Für einzelne Begriffe trifft dieser Einwand ohne Frage zu, doch zeigt sich gerade in den Beiträgen zur Philosophie eine solche Fülle terminologischer und inhaltlicher Überschneidungen, daß die Annahme lediglich zufälliger Parallelität aufgegeben werden kann. Denken des Seyns geschieht bereits im Modus des Seyns. So ist es verständlich, daß Heidegger das Werk der Philosophie nicht in einem Erwägen von »etwas« sieht, sondern darin, Weg zu bahnen, Bahn zu sein. Rosenzweig verknüpft die drei Teile seines Sterns jeweils durch kurze Kapitel zur Überleitung und Öffnung des folgenden Kontextes. So verweist »Übergang« auf »Offenbarung« und »Schwelle« auf »Erlösung«, wohingegen »Tor« als letzte Betrachtung die finale Öffnung darstellt, die den Schritt vom Buch zum Leben markiert. Allen drei Titeln kommt eine außergewöhnliche transformierende Energie zu, da sie von etwas sprechen, das sie aufgrund seines Noch-nicht nicht beschreiben, nicht er-zählen können, wie es heißt. Gleichwohl ist das solcherart Angekündigte unmittelbarer Inhalt des Textes und gerade in seiner Noch-nicht-Präsenz anwesend. Ein Blick auf die Überschriften, die Heidegger den Sektionen seiner Beiträge zur Philosophie voranstellt, zeigt, daß sie in ähnlicher Weise darauf angelegt sind, das Noch-nicht zu verbalisieren. »Anklang«, »Zuspiel«, »Sprung«, »Gründung«, »Die Zu-künftigen« und 279 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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»Der letzte Gott«. Beide Denker schaffen durch das Aussetzen von definierbarer Bedeutung kontextuelle Zäsuren, die nicht zur Installierung prophetischer Variablen dienen, sondern als Öffnungen des Textkörpers, die es erlauben, letztlich Unsagbares zu besprechen. 131 Rosenzweig bezieht sich damit auf das kommende Reich Gottes. Eine vergleichbare Identifizierung sollte in Heideggers Werk schwerfallen. An dieser Annahme wird momentan auch folgende Feststellung nichts ändern, in der Heidegger den »Aufriß« seiner Beiträge kommentiert: »Er ist ein Vorriß des Zeit-Spiel-Raumes, den die Geschichte des Übergangs als ihr Reich erst schafft, um aus ihrem Gesetz über die Zukunftslosen, d. h. die immer nur ›Ewigen‹, und die Zukünftigen, d. h. die Einmaligen, zu entscheiden.« 132 Wie konkret Heidegger diese Entscheidung denkt, bleibt im »Vorblick« ahnungsvoll verdunkelt. Der sprachliche Gestus, den er hier einnimmt, ähnelt stark jenem Friedrich Nietzsches, der sich selbst als Denker des Übergangs inszeniert und mit visionärer Kraft des Bildes heraufbeschwört, was kommen mag. 133 Daß Heidegger sich einer Sprache bedient, die einzig dem Zweck dient, von etwas zu sprechen, das nicht ist, ist offensichtlich. Damit ist jedoch noch in keiner Weise ausgemacht, ob er das Eintreten des Noch-nicht-Bestehenden generell für möglich hält und ob er ihm, falls es so sein sollte, eine politische Dimension zuweist. Da hier gezeigt werden soll, daß Heidegger mit den Beiträge zur Philosophie auf den dritten Teil aus Rosenzweigs Stern der Erlösung reagiert und dort die Einzigkeit des jüdischen Volkes in seiner geschichtlichen Dimension beleuchtet wird, kann davon ausgegangen werden, daß diese auch in Heideggers Adaption zu finden ist – freilich auf das deutsche Volk übertragen. Darauf wird zurückzukommen sein. Worin sieht Heidegger nun die Forderung, die an das Denken zu stellen ist? »Die Zeit der Erbauung der Wesensgestalt des Seienden aus der Wahrheit des Seyns ist noch nicht gekommen. Inzwischen muß die Philosophie im 131 »Hier wird nicht beschrieben und nicht erklärt, nicht verkündet und nicht gelehrt; hier ist das Sagen nicht im Gegenüber zu dem zu Sagenden, sondern ist dieses selbst als die Wesung des Seyns.« Beiträge zur Philosophie, I,1, S. 4. 132 Beiträge zur Philosophie, I,1, S. 6. 133 Nietzsche verschweigt die Skepsis, die das Voranstreben des Denkens begleiten mag, keineswegs. »Wir Luft-Schifffahrer des Geistes! […] Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, – dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern?« Morgenröte, V, 575, S. 331.

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Übergang zum anderen Anfang ein Wesentliches geleistet haben: den Entwurf, d. h. die gründende Eröffnung des Zeit-Spiel-Raumes der Wahrheit des Seyns.« 134

Bevor der Begriff des »Zeit-Spiel-Raumes« zu thematisieren ist, soll noch einmal das Motiv des »anderen Anfangs« betrachtet werden. Wie bereits angedeutet, geht es nicht mehr darum, Seiendes auf sein Sein zu befragen, sondern es aus der Wahrheit des Seyns zu begreifen. Die Vorstellung »Wesensgestalt«, die Heidegger hier nennt, korrespondiert Rosenzweigs Begriff der Gestalt, zu der sich das Sein, das zwar in der Schöpfung hervorgebracht, doch in sich noch keineswegs als fertig zu betrachten ist, formieren wird. Für dieses vorfindliche, doch der Gestaltung bedürftige Seiende verwandte er den Begriff des Da-seins, der sich in exakt derselben Schreibweise ebenfalls in den Beiträgen findet. In zusammenfassender Weise können im Stern der Erlösung drei Phasen der Verwirklichung von Sein ausgemacht werden: Hervorbringung, Gestaltung und Verwandlung. Als Verwandlung deutete Rosenzweig die aus der Umkehrung der Zeitfolge resultierende neue Begründung des Geschaffenen, die nun nicht mehr ein Akt der Kausalität, sondern der Transformation ist. Der neue Adam, so hatte er gezeigt, setzt als erlöster Mensch einen neuen Anfang, indem die offenbarte Wahrheit Grundlage des Seins wird. »Der andere Anfang des Denkens ist so genannt, nicht weil er nur andersförmig ist als beliebige andere bisherige Philosophien, sondern weil er der einzig andere aus dem Bezug zu dem einzig einen und ersten Anfang sein muß.« 135 Mit Bedacht ist zunächst nicht darauf hingewiesen worden, von wem diese Worte stammen, um eine erste unvoreingenommene Lektüre nicht zu behindern. Erstaunlicherweise ist nicht Rosenzweig, sondern Heidegger ihr Verfasser. Der neue Anfang ist also niemals voraussetzungslos, sondern er verkehrt Bedingtes und Bedingendes. In Rosenzweigs Sicht ist das Bedingte der Schöpfung das Bedingende der Erlösung. Es ereignet sich eine Verwandlung des Bestehenden, keine Begründung einer grundsätzlich differenten Wirklichkeit. Doch kann dieser Auffassung überhaupt etwas im Denken Heideggers entsprechen? In den einführenden Aussagen seines »Vorblicks« konzentriert er sich auf die Aufgabe der Philosophie, so daß es fast so wirken könnte, als würde es sich bei der Idee des anfänglichen Denkens um ein philosophie-internes Erneuerungs134 135

Beiträge zur Philosophie, I,1, S. 5. Beiträge zur Philosophie, I,1, S. 5.

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programm handeln. »Das übergängliche Denken leistet den gründenden Entwurf der Wahrheit des Seyns als geschichtliche Besinnung.« 136 Und: »Dieses aber ist es, was der andere Anfang leisten will und leisten muß: den Einsprung in die Wahrheit des Seyns, dergestalt, daß dieses selbst das Menschsein gründet und zwar nicht einmal unmittelbar, sondern das Menschsein erst als eine Folge der und als die Angewiesenheit auf das Dasein. […] Jetzt aber ist not die große Umkehrung, die jenseits ist aller ›Umwertung aller Werte‹, jene Umkehrung, in der nicht das Seiende vom Menschen her, sondern das Menschsein aus dem Seyn gegründet wird.« 137

Diese beiden Aussagen, einmal dem »Vorblick« und einmal dem »Zuspiel« entnommen, markieren den Übergang von der vorbereitenden Arbeit des Denkens zur Bezeugung der Wahrheit des Seyns, oder, um auf die Frage des Titels dieser Schrift Heideggers zurückzukommen: vom Beitrag zur Philosophie zum Ereignis. Um es noch einmal zu betonen – zwischen beiden herrscht nicht die Differenzierung von Theorie und Umsetzung, denn das Denken gibt dem Geschehen der Umkehrung Statt. Immer wieder ist es wichtig, auf diese dem ersten Anschein nach ungewöhnliche Vorstellung hinzuweisen. Für Rosenzweig stand es völlig außer Frage, daß Denken nicht im Abstrahieren vom Seienden bestehen kann, sondern daß es unmittelbar Wirklichkeit prägt. Wie sich nun in den Beiträgen zeigt, nähert sich auch Heidegger dieser Auffassung. In der Thematisierung des Begriffes der Wahrheit wird dieser Umstand erkennbar. »Niemand versteht, was ›ich‹ hier denke: aus der Wahrheit des Seyns (und d. h. aus der Wesung der Wahrheit) das Da-sein entspringen lassen, um darin das Seiende im Ganzen und als solches, inmitten seiner aber den Menschen zu gründen.« 138 In der zuvor zitierten Bemerkung hatte sich Heidegger von Nietzsches Theorie einer Umwertung der Werte distanziert und darauf verwiesen, daß sein eigenes Denken als umfassende Umkehr zu verstehen sei. Hier wird dieser Anspruch nun greifbarer. Wahrheit wird nicht ermittelt, schon gar nicht auf dem Wege der logischen Operation, sondern sie ist gegeben, prärational und von uneingeschränkter Gültigkeit. In seinem Kunstwerks-Vortrag wenige Jahre zuvor hatte er bereits den Geschehnis-Charakter der Wahrheit skiz136 137 138

Beiträge zur Philosophie, I,1, S. 5. Beiträge zur Philosophie, III,91, S. 184. Beiträge zur Philosophie, I,3, S. 8.

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ziert. Die Aufgabe des Denkens besteht also nicht mehr darin, Wahrheit aus dem Seienden zu schließen, sondern das Sein aus der Wahrheit zu begreifen. Sie ist der Frage nach dem Sein vorgängig, doch nicht mehr in dem Sinne, den noch Sein und Zeit darstellte. Denn dort erschloß sich der Sinn von Sein aus einem immer schon gegebenen Verstehen des Seienden auf seine Struktur hin. Diese fand Heidegger in der Sorge. Die deutliche phänomenologische Prägung dieser Betrachtung zeigte sich unter anderem darin, daß Heidegger in seiner frühen Schrift von dem Erscheinen des Seienden ausging und dieses auf seine zugrundeliegenden Strukturen befragte. Wenn es nun in den Beiträgen zur Philosophie heißt, daß das Seiende aus der Wahrheit zu begründen sei, liegt damit tatsächlich eine Umkehrung der Perspektive vor, in der Sein betrachtet wird. Hierbei geht es um die Frage des Begreifens des Seins in seiner Wahrheit – des Begreifens von Seyn. Assoziationen an einen argumentativen Schwenk zur Problematik der Verursachung von Seiendem mögen sich anbieten, zumal Heidegger von »Begründung« spricht. Doch läßt er sich auch in diesem Text nicht auf die Thematik möglicher Kausalität ein. Statt dessen gilt seine ganz Aufmerksamkeit der Beschreibung jener Transformation von Sein, die Folge der Umkehrung des Denkens von Sein ist. 139 »Der erste Anfang erfährt und setzt die Wahrheit des Seienden, ohne nach der Wahrheit als solcher zu fragen […]. Der andere Anfang erfährt die Wahrheit des Seyns und fragt nach dem Seyn der Wahrheit, um so erst die Wesung des Seyns zu gründen und das Seiende als das Wahre jener ursprünglichen Wahrheit entspringen zu lassen.« 140

Diese wenigen bislang zitierten Passagen zeigen eine deutliche Akzentverschiebung in bezug auf die ontologische Wertigkeit des Seienden. Es ist nicht mehr dasjenige, aus dem sich Wahrheit erschließt, sondern dasjenige, das unter dem Primat der Wahrheit erfaßt wird. Es ist nicht mehr Mittel zur Wahrheitsfindung, sondern selbst in der Wahrheit verwandelt. Denn vor allem will Heidegger zeigen, was Sein aus und an sich selbst sein kann. Daß es diese Möglichkeit nicht 139 »Die ursprüngliche Zueignung des ersten Anfangs (und d. h. seiner Geschichte) bedeutet das Fußfassen im anderen Anfang. Dieses vollzieht sich im Übergang von der Leitfrage (was ist das Seiende?, Frage nach der Seiendheit, Sein) zur Grundfrage: was ist die Wahrheit des Seyns? (Sein und Seyn ist dasselbe und doch grundverschieden).« Beiträge zur Philosophie, III,84, S. 171. 140 Beiträge zur Philosophie, III,91, S. 179.

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immer schon verwirklicht, läßt die Notwendigkeit eines neuen Anfangs im Denken des Seins spürbar werden. Damit ist freilich nicht nur eine Perspektivänderung im Verstehen des Seins gemeint. Das Seiende verwandelt sich in der Wahrheit und in ihm auch der Mensch, so deutet es Heidegger an. Der Wahrheit kommt dabei also keine logische Funktion zu, sondern eine, für deren Bezeichnung es eine neue Begrifflichkeit zu finden gilt. »Diese Wahrheit des Seyns ist gar nichts vom Seyn Verschiedenes, sondern sein eigenstes Wesen, und deshalb liegt es an der Geschichte des Seyns, ob es diese Wahrheit und sich selbst verschenkt oder verweigert und so erst eigentlich in seine Geschichte das Abgründige bringt.« 141 Die Wahrheit, von der Heidegger spricht, bedarf nicht der Affirmation, sondern der Bewährung, die Bewahrung ist. Unmittelbar lenkt dieser Gedanke zu einer auffallend ähnlichen Formulierung im Stern der Erlösung. Dort bedeutet Bewährung der Wahrheit 142 das Bezeugen des Verstehens, in der Möglichkeit der Erlösung zu existieren. Das Bewahren hält diese Möglichkeit offen, indem ihrem Geschehen vorbereitend Statt gegeben wird. Das Sein der Schöpfung ist immer schon Sein in der Erlösung, wenn auch freilich noch nicht erlöstes Sein. In Heideggers Konzeption liest sich dieser Gedanke so: Sein ist immer schon Sein in der Wahrheit, wenn auch nicht Seyn der Wahrheit. Diese begriffliche und inhaltliche Engführung basiert nun allerdings auf der Behauptung, daß eine innere Verbindung zwischen den Gedanken von Erlösung und Seyn besteht. Beide Vorstellungen gehen von der Überzeugung aus, daß Sein in eine Möglichkeit eingehen kann, die zwar in der internen Seins-Struktur angelegt ist, deren Verwirklichung jedoch diese Struktur grundsätzlich verkehren, nicht jedoch aufheben wird. Zu Beginn seiner Beiträge hatte Heidegger die Aufgabe der Philosophie benannt, diese »Kehre« zu denken, im Bewußtsein, damit ein bislang Undenkbares zu fordern. 143 Einige Aussagen Heideggers 141 »Es ist hier nötig, vielleicht sogar weitläufig zu sagen, was mit dem Wort von der Wahrheit des Seyns nicht gemeint ist. Der Ausdruck bedeutet nicht: die ›Wahrheit‹ ›über‹ das Seyn, etwa gar eine Folge richtiger Sätze über den Begriff des Seyns oder eine unumstößliche ›Lehre‹ vom Seyn. Der Ausdruck besagt aber auch nicht: das ›wahre‹ Seyn, […].« Beiträge zur Philosophie, I,44, S. 92 f. 142 »Das ist die Heimkehr der Er-fahrung, das Be-währen der Wahrheit. Die Wahrheit liegt hinter dem Weg.« Der Stern der Erlösung, III,II, S. 422. 143 »Die abendländische Geschichte der abendländischen Metaphysik ist der ›Beweis‹ dafür, daß die Wahrheit des Seyns nicht zur Frage werden konnte, und der Hinweis

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zum Seyn sollen verdeutlichen, daß es in seiner Funktion der Erlösung vergleichbar ist. Natürlich heißt das nicht, daß beide Vorstellungen identisch wären, sondern daß ihre grundsätzliche Bedeutung eine klare Parallelität aufweist. Beide, sowohl Erlösung als auch Seyn, verweisen in dem Sinn, in dem Rosenzweig und Heidegger sie denken, nicht auf etwas, das dem Menschen geschieht, sondern das er sich an-eignet. Beide erscheinen nicht als endzeitliche Visionen, sondern als Modifikationen des Seins in der Zeit, was allerdings die Transformation von Zeitlichkeit im Sein voraussetzt. In Rosenzweigs Gedanken der Ver-ewigung des Augenblicks wurde diese Annahme sichtbar. Ob ihr in Heideggers Setzung des Seyns etwas entspricht, wird noch zu klären sein. Verwandlung des Seins setzt das Bestehen der entsprechenden Möglichkeit voraus. Diese Feststellung mag banal klingen, deutet aber darauf hin, daß dem Sein nichts widerfährt, was nicht immer schon in ihm angelegt gewesen wäre. Im Stern der Erlösung zeigt es sich deutlich, daß Erlösung erwirkt, zumindest aber vorbereitet werden kann und muß. Sie ist damit nicht zum bloßen Resultat menschlichen Verhaltens degradiert, kann aber zu einem gewissen Teil doch als dessen Fortsetzung aufgefaßt werden. Erlösung durchsetzt die Welt, so hatte es Rosenzweig formuliert und dadurch die Notwendigkeit signalisiert, Welt als Ort des modifizierten Seins zu begreifen. Die ungewöhnlich starke Fokussierung auf die Faktizität der Welt zu Anfang der Schrift erlangt von dieser Perspektive aus noch einmal eine zusätzliche Betonung. Erlösung als Aussetzung des Seins – so könnte die stark komprimierte Deutung lauten, die sich aus Rosenzweigs Darstellung ergibt. Doch nicht nur die Betrachtung der Welt wird so gerechtfertigt, sondern auch diejenige des Selbst, dem eine weite Argumentation im Stern gewidmet ist. Als edel stummes Selbst hatte Rosenzweig jenen Zustand des vorbereiteten Bewußtseins beschrieben, den ein Mensch erlangen kann, nachdem er es wagte, die Endlichkeit des Daseins zu begreifen. Gerade in seiner in-sich-Verschlossenheit demonstriert das Selbst dieses hohe Maß an Bewußtheit, das ihm bislang selbstverständlich geglaubte Bezüge des Daseins fragwürdig erscheinen läßt. Fragwürdig meint dabei nicht ein grundsätzliches Zweifeln an Sinn und Notwendigkeit des Existierens, son-

auf die Gründe dieser Unmöglichkeit. Die gröbste Verkennung der Wahrheit des Seyns läge aber in einer ›Logik‹ der Philosophie.« Beiträge zur Philosophie, I,44, S. 94.

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dern das grundsätzliche Verstehen-wollen des Seins. Reflektiertheit in dieser Form akzentuiert das Empfinden, unheimisch im Sein zu sein, 144 jedoch nicht als zu erreichenden Zielzustand menschlicher Erfahrung. Statt dessen ist es Bedingung dafür, sich verstehend auf anderes Seiendes beziehen zu können, in ultimativer Weise verwirklicht in der Beziehung zur Andersartigkeit des Göttlichen. Begrifflich faßt Rosenzweig das reflektierende Selbst, das sich in seiner Bewußtheit zu binden versteht, als Seele. Reflektierende Bindungsfähigkeit zeichnet denjenigen Menschen aus, dessen Wirken als eine Vorwegnehmen des Reiches Gottes auf Erden, des modifizierten Seins, gedeutet wird. In den Beiträgen zur Philosophie heißt es: »Kommt nun dem Menschen die Ahnung des Seyns? Woher wissen wir dieses Ausschließliche? Und ist dieses Ahnen des Seyns die erste und wesentliche Antwort auf die Frage, was der Mensch sei? Denn die erste Antwort auf diese Frage ist die Wandlung dieser Frage in die Form: wer der Mensch sei. Der Mensch ahnt das Seyn, ist der Ahnende des Seyns, weil das Seyn ihn sich er-eignet, und zwar so, daß die Er-eignung erst ein Sicheigenes braucht, ein Selbst, welche Selbstheit der Mensch zu bestehen hat in der Inständigkeit, die innestehend im Da-sein den Menschen zu jenem Seienden werden läßt, das nur erst in der Wer-frage getroffen wird.« 145

Ist es zuviel behauptet, in diesen Zeilen eine Entsprechung zur Auffassung Rosenzweigs zu sehen? Natürlich bleibt die Bedingung dieses Geschehens, die dieser in der Präsenz des Göttlichen sieht, unvergleichbar. Doch hängt die Modifizierung des Seins letztlich von der initiierenden Kraft ab? Auf Heideggers Verständnis des Göttlichen ist hier noch nicht einmal geschaut worden, doch es wird sich zeigen, daß sie nicht Ausdruck eines Glaubens an einen personalen Gott ist. Im Moment steht die Verfassung des Menschen im Fokus, der zum »Sucher, Wahrer, Wächter« der Wahrheit des Seyns 146 wird. Empfangsbereitschaft kennzeichnet ihn in beiden Schriften, Empfänglichkeit für die Ahnung, daß es seinem Sein entspricht, zu seyn. Denn Seyn meint die letzte Möglichkeit des dem Sein Entsprechenden, das Dieses Motiv nutzt Rosenzweig auch im Kontext einer Rekonstruktion aufeinander folgender Weltbilder: »Aber nachdem man nun in die Welt der Offenbarung eingetreten war, wurde dies gleiche zuvor heimelige Bild der alten Welt, dieser platonisch-aristotelische Kosmos, plötzlich unheimelige, unheimliche Welt.« Der Stern der Erlösung, II,III, S. 246. Im Zusammenhang seiner Thematisierung der Angst verwendet Heidegger in Sein und Zeit das Bild der Unheimlichkeit. 145 Beiträge zur Philosophie, IV,128, S. 245. 146 Beiträge zur Philosophie, I,5, S. 17. 144

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ihm eignet und es so lange in einer Form von Selbstenteignung hält, solange ihm nicht Ausdruck gegeben wird. Der Begriff der Verwirklichung trifft dieses Geschehen nur unzureichend, wenn darunter eine beliebige Aktualisierung verstanden wird. Heidegger will ein Zu-sich-selbst-kommen beschreiben, und beschreibend, eher kündend als argumentierend, ist sein Vorgehen in den Beiträgen tatsächlich. Denn immer schwingt in seinem Wort vom Seyn ein letztlich nicht Denkbares, sich der eindeutigen Festschreibung Entziehendes mit, das eines aussagt: zu seyn heißt nicht, zu werden, sondern in der Offenheit des Seyns zu stehen. Daß dieses kein solitärer Akt ist, geht aus folgender Formulierung hervor: »Die Inständigkeit in diesem Geschehnis des Eigentums ermöglicht erst dem Menschen, geschichtlich zu ›sich‹ zu kommen und bei-sich zu sein. Und erst dieses Bei-sich ist der zureichende Grund, um das Für Andere wahrhaft zu übernehmen. Aber das Zu-sich-kommen ist eben nie eine zuvor abgelöste Ich-vorstellung, sondern Übernahme der Zugehörigkeit in die Wahrheit des Seins, Einsprung in das Da.« 147

Auch wenn Heidegger hier vom »zureichenden Grund« spricht, erweisen sich die Seins-Modi des »Bei-sich« und des »Für Andere« doch zirkulär bedingt, wie die Zurückweisung einer vorausgehenden »Ich-vorstellung« signalisiert. Das Zu-sich-kommen gelingt nur in der wissenden Positionierung im Dasein, dessen für Heidegger neue Schreibweise als Da-sein sich hier ankündigt. ›Da‹ ist das Sein aufgrund seiner Faktizität, die ihre Geschichtlichkeit impliziert. ›Da‹ verweist auf die Verortung des Geschehnis-Raumes, in dem die Er-eignung durch das Seyn stattfindet. 148 Im Selbst zeigt sich also keine Separierung von Faktizität und Geschichte, sondern dessen Bezeugung, die ein Bekenntnis der Zugehörigkeit voraussetzt, das wiederum erst durch das Selbst-sein bestätigt wird. Immer wieder könnte der Einwand erhoben werden, daß einzelne Gedanken zu unspezifisch sind, um auf eine Verwandtschaft des Sterns der Erlösung und der Beiträge zur Philosophie hinweisen zu können. Auf jeden einzelnen Gedanken bezogen greift diese Feststellung gewiß. Denn es könnte eine ähnliche Relation von Selbst-sein und im Bezug-zum-Anderen-sein unschwer etwa im Werk Søren Beiträge zur Philosophie, V,197, S. 320. »Das Da das offene, lichtend verbergende Zwischen zu Erde und Welt, die Mitte ihres Streites und damit die Stätte der innigsten Zu-gehörigkeit und so der Grund des Zu-sich, des Selbst und der Selbstheit.« Beiträge zur Philosophie, V,198, S. 322. 147 148

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Kierkegaards nachgewiesen werden. Immer wieder kann aber auch betont werden, daß es nicht die einzelnen Begriffe und Motive sind, die einen Vergleich beider Schriften rechtfertigen, sondern vor allem ihre kompositorische Dichte. Wenn Parallelitäten und Überschneidungen so zahlreich zu finden sind, verliert die Weigerung gegen einen gegenüberstellenden Blick allmählich an Gewicht. So trägt die Betrachtung der Konzeption vom Selbst-sein durchaus zur Stützung dieser Ansicht bei. Denn beide Denker verbinden damit die Vorstellung der ins Extrem gesteigerten Empfänglichkeit des Menschen für die Ahnung, daß Seyn wirken kann. Dieses ›ereignet sich nicht über‹ die Welt als ein Geschehen, das Dasein aussetzt und aus der Faktizität in einen nicht mehr vorstellbaren Zustand der Transzendenz versetzt, sondern es ›er-eignet‹ sich Welt. In dieser Überzeugung konvergieren die Gedanken vom Reich und vom Seyn, nicht im Sinne ihrer Denomination und Kausalbestimmung, doch sehr wohl im Sinne ihrer Bedeutung für das Sein der Welt. Verwandelt in die Tatsächlichkeit der Wahrheit, so könnte es formuliert werden, um beiden Kontexten gerecht zu werden. Es geht dabei keinesfalls darum, eine Schnittmenge zweier divergierender Vorstellungen zu erzwingen. Vielmehr werden beide auf die ihnen inhärierende Wirk-Struktur befragt, die letztlich wenig überraschend eine analoge Beschaffenheit aufweist. Erwirkte Transformation des Seins zeigt sich in der wirkenden Verwandlung des Daseins. Wird die charakteristische Schreibweise als Da-sein betrachtet, fand sich diese im Stern der Erlösung zur Kennzeichnung des Faktums der Vorhandenheit, des schon-da-seins, als Hervorgehen des Seienden aus der Schöpfung. Hier wird Da-sein mithin als Grundlage des Transformationsprozesses verstanden, ohne die er jedoch niemals stattfinden könnte. In Heideggers Diktion, die den Gedanken der Erschaffung des Seins nicht zu berücksichtigen braucht, taucht der Begriff des Da-seins zur Bezeichnung des Geschehensortes des Seyns auf. »Das Da-sein als der Zeit-Raum, nicht im Sinne der üblichen Zeitund Raumbegriffe, sondern als die Augenblicksstätte für die Gründung der Wahrheit des Seyns.« 149 Mit den beiden Begriffen des »Zeit-Raumes« und der »Augenblicksstätte« erscheinen nun zwei Bezeichnungen in deutlichster Analogie zur Raum-Vorstellung im Stern der Erlösung, ja der Stern ist sogar deren Graphem. In Rosenzweigs Denken korrespondiert das 149

Beiträge zur Philosophie, V,200, S. 323.

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Beiträge zur Philosophie

Verständnis der Welt als Ort des Geschehens der Einwohnung Gottes nach kabbalistischer Deutung. Wie auch für Heidegger geht es ihm dabei nicht um einen Rückgriff auf Raum und Zeit in herkömmlichem Sinne. Vielmehr fungieren die Begriffe als Markierungslinien zur Kennzeichnung jenes Ortes, an dem das Geschehen einer Verwandlung von Sein Statt finden kann. In physikalischer und auch metaphysischer Terminologie müßte ein undifferenzierter Gebrauch der Ausdrücke Raum, Ort und Stätte gewiß für Irritation sorgen. Weder Heidegger noch Rosenzweig wäre aber an einer eindeutigen Unterscheidung gelegen, da alle drei Begriffe ein und dasselbe Areal benennen, ohne damit eine territoriale Eingrenzung vornehmen zu wollen. Im Vordergrund steht der Anspruch, Seins-Raum als Ort der Vorbereitung zu beschreiben, der bereitet wird, um dem Er-eignis der Wahrheit des Seyns Statt zu geben. Der Raum wird bereitet – für Rosenzweig liegt hierin ein Gedanke, der sich zutiefst der Verwurzelung im Religiösen verdankt. Er hatte gezeigt, daß die rituellen Handreichungen in exzeptioneller Weise diesen bereitenden Charakter haben, indem sie die Präsenz des Göttlichen im Dasein ermöglichen. In diesen Augenblicken finden tatsächliche Vor-kehrungen statt, die das Dasein in einen Grund der Einwohnung Gottes verkehren. So verwundert es nicht im mindesten, daß im Stern der Erlösung das Wissen um diese Vor-bereitung geschichtliches Wissen ist, denn es setzt seine Tradition als seine eigene Vergangenheit fort. Und da diese Tradition diejenige des jüdischen Volkes ist, gilt Rosenzweigs Augenmerk im letzten Teil der Beschreibung dieses Volkes und seiner Einzigkeit. In der konkreten Terminologie dieses Kontextes erlangen die Begriffe des Hauses und des Wohnens auch philosophische Bedeutung, da das Haus der Ort der Einwohnung des Göttlichen und damit der Verwandlung des Seins in ein Sein, das diesem Statt gibt, ist. Dieser Gedanke soll nun auf Heideggers Aussagen in den Beiträgen zur Philosophie angewandt werden: Sein ist Seyn, das der Wahrheit Statt gibt. Dabei ist lediglich die Vorstellung vom Göttlichen durch die der Wahrheit ersetzt worden, was dadurch gerechtfertigt erscheint, daß Wahrheit im Sinne Heideggers nicht logischer, sondern performativer Natur ist. Denn das Er-eignis deutet auf ein Geschehen hin, innerhalb dessen das Wissen vom Seyn vom Menschen Besitz ergreift. Während es für Rosenzweig unverzichtbar war, dieses Geschehen mit Blick auf die Tradition zu verorten und ihm einen Raum zuzuweisen, der dafür ausgewiesen ist, das Göttliche zu empfangen, besteht für Heidegger keine vergleichbare Notwendig289 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Die Kontinuität der Auseinandersetzung

keit. Der Gedanke, daß Dasein sich in Da-sein verwandelt, indem es die Wahrheit des Seyns birgt, hätte grundsätzlich als Hinweis auf die Tatsächlichkeit des Er-eignisses ausgereicht. Vor welchem Hintergrund führt er dann aber das Motiv des Zeit-Spiel-Raumes ein? »Das Seyn zum Tode als Bestimmung des Da-seins zu begreifen und nur so. Hier vollzieht sich die äußerste Ausmessung der Zeitlichkeit und damit das Beziehen des Raumes der Wahrheit des Seyns, die Anzeige des Zeit-Raumes. Also nicht, um das ›Seyn‹ zu verneinen, sondern um den Grund seiner vollwesentlichen Bejahung zu stiften.« 150 Das Seyn zum Tode gibt dem Wissen um das Da-sein Raum, nicht weil er dadurch entstünde, sondern weil er im Dasein eingeräumt wird. Vielleicht kommt eine Deutung diesem Gedanken nahe, die Raum über das Maß der Bewußtheit faßt. Eine Vorstellung gewinnt Präsenz, wenn sie zu Bewußtsein gelangt, und nimmt so Raum im Denken des Menschen ein. Zeit-Spiel-Raum ist damit Präsentationsareal verstandener Wahrheit, die das Denken er-eignet. Weist Heidegger hier erneut auf die »äußerste Ausmessung der Zeitlichkeit« hin, die Dasein als endlich denkt, widerspricht dieses zunächst nicht Rosenzweigs Auffassung. Denn auch er gründet die Möglichkeit des Menschen, Selbst zu werden, auf die Erfahrung der Endlichkeit des Daseins. 151 Gleichwohl reflektiert Rosenzweig die Möglichkeit eines Aussetzens der Endlichkeit, indem er den Gedanken des Immerwährenden einführt. Immerwährend heißt jedoch nicht Unendlichkeit im Sinne ununterbrochener Erstreckung in der Zeit, sondern immer wieder von neuem stattfindendes Einsetzen von Zeitlichkeit im Dasein. Heidegger schreibt: »Das Ewige ist nicht das Fort-währende, sondern jenes, was im Augenblick sich entziehen kann, um einstmals wiederzukehren. Was wiederkehren kann, nicht als das Gleiche, sondern als das aufs neue Verwandelnde, EineEinzige, das Seyn, so daß es in dieser Offenheit zunächst nicht als das Selbe erkannt wird!« 152

Beiträge zur Philosophie, IV,162, S. 284. »Aber nicht jeder braucht dieses Seyn zum Tode zu vollziehen und in dieser Eigentlichkeit des Selbst des Da-seins zu übernehmen, sondern dieser Vollzug ist nur notwendig im Umkreis der Aufgabe der Grund-legung der Frage nach dem Seyn, eine Aufgabe, die allerdings nicht auf die Philosophie beschränkt bleibt.« Beiträge zur Philosophie, IV,162, S. 285. 152 Beiträge zur Philosophie, V,238, S. 371. 150 151

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Beiträge zur Philosophie

Eindeutig bestätigen diese Zeilen die Annahme einer Verwandlung des Seins, das Selbes bleibt und doch als Seyn zu denken ist. Diese Verwandlung kann jedoch nur innerhalb eines Relationsgefüges vorgestellt werden, in dem sich die Elemente der Wirklichkeit dynamisch aufeinander beziehen. Rosenzweig situiert das Innere des Sterns als symbolische Stätte dieses Seins in Verweisung. Heidegger entwirft eine ähnliche Konzeption im Bild des Zeit-Spiel-Raumes. In seinem weiteren Denken erscheint dieses Bild als Konstruktion des »Gevierts«, das bereits in den Beiträgen vorbereitet wird, wenn er Mensch und Götter, Welt und Erde im Er-eignis aufeinander bezieht. 153 Sehr interessant sind in diesem Zusammenhang Heideggers Aussagen zu einer möglichen Quelle der Vorstellung vom ZeitRaum. Forschend, beinahe suchend beleuchtet er kurz mögliche Ursprünge, um schließlich zu konstatieren: »Doch all dieses ohne Ahnung des Zeit-Raums.« 154 Bei seiner Suche beschränkt sich Heidegger jedoch auf mögliche Begründungskontexte des abendländischen Denkens. Zeit-Raum bezeichnet in seiner Diktion also nicht Dauer, sondern Ermöglichungs-Kontinuum, in dessen Fundierung Wahrheit das Sein er-eignet. Exakt dieser Gedanke führt ihn zu seinen Aussagen über das Volk im Kontext der Beschreibung der »Entscheidung«. »Die schon längst im Verborgenen und Verstellten angebrochene Entscheidung ist die zur Geschichte oder zum Geschichtsverlust. […] Die Entscheidung fällt dadurch, daß die Notwendigkeit des äußersten Auftrags aus der innersten Not der Seinsverlassenheit erfahren und zur bestandhaften Macht ermächtigt wird. Der Auftrag aber im Lichte und in der Bahn der Entscheidung ist: die Bergung der Wahrheit des Ereignisses aus der Verhaltenheit des Daseins in die große Stille des Seyns. […] Die Entscheidung muß jenen Zeit-Raum, die Stätte für die wesentlichen Augenblicke schaffen, […].« 155

Der Gedanke der Beauftragung des Menschen findet sich sowohl bei Heidegger als auch bei Rosenzweig. Doch während diese bei ersterem aus der Wahrheit des Seins erkennbar wird, ergeht sie bei letzterem aus der Ansprache Gottes an den Menschen. Doch sollte die vermeintlich differente Natur dieser Weisung, der es zu folgen gilt, nicht über ihre Funktion, verwandelte Realität zu schaffen, hinwegtäuschen. Denn ontologische Forderung und reli153 154 155

Beiträge zur Philosophie, V,190, S. 310. Beiträge zur Philosophie, V,239, S. 373. Beiträge zur Philosophie, I,45, S. 96 ff.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

giöse Aufforderung mögen sich in der Weise ihrer Artikulation und ihres Verstehens unterscheiden. In ihrer Bedeutung nähern sie sich einander an, basieren doch beide auf dem Bewußtsein von Geschichtlichkeit. Für Rosenzweig resultiert es aus dem Wissen um die Tradition des Volkes, für Heidegger aus der Einsicht in die Möglichkeit zu seyn. Selbstgewißheit der gemeinschaftlichen Identität, so wie sie Rosenzweig aus der Geschichte des jüdischen Volkes gewinnt, scheint Heidegger fremd zu sein. Denn die Entscheidung »zur Geschichte«, die er heraufbeschwört, wirkt wie eine Begründung jenes Zeit-Raumes als »Stätte für die wesentlichen Augenblicke« und damit wie der Anbeginn etwas noch nicht Gewesenen. Aber charakterisiert dieses Merkmal nicht auch jene Vorstellung von Erlösung, die Rosenzweig beschreibt? Wenn er von »Stand und Sendung« des Menschen spricht, verweist auch er auf die Gegebenheit des Seins, die jedoch immer nur Voraussetzung jenes Prozesses sein kann, der geschaffenes in erlöstes Sein verwandelt. Sinnbildlich faßt er diesen Gedanken am deutlichsten im Begriff des »neuen Adam«, des Menschen, der die Faktizität seines Da-seins in die Möglichkeit seiner eigentlichen Existenz transzendiert. Jener Automatismus einer Erfüllung des Verheißenen, den Heidegger religiösen Erlösungsphantasien attestiert, um ihre Untauglichkeit für eine tatsächliche Entscheidung zum Seyn zu behaupten, findet sich im Denken Franz Rosenzweigs keineswegs. Der neue Adam wird nicht erlöst, sondern er erlöst sich – und Gott – gleichermaßen. Bedingung hierfür ist auch bei ihm das Verstehen des Seins. Denn keinem anderen Ziel dient Rosenzweigs Stern. Er führt in die ontologischen Voraussetzungen der Erlösung ein. In den ersten beiden Büchern seiner Schrift schafft er das Fundament jener Erkenntnis des Seienden, die unabdingbar für seine Transformation in erlöstes Sein ist. Daß er diese gerade nicht als selbstverständliches Eintreten des Erwarteten deutet, wie es Heidegger denken möchte, zeigt der letzte Teil seines Werkes. Dort verwandelt sich die Perspektive der Betrachtung. Es geht nicht mehr um die Darstellung ontologischer Sachverhalte, sondern um die Deutung der Geschichte des jüdischen Volkes. Wenn Heidegger vom »Geschichtsverlust« spricht, wählt er einen Begriff, mit dem er seine Forderung nach einem neuen Anfang im Sein rechtfertigen kann. Denn es könnte durchaus bezweifelt werden, ob sein Gedanke, die Deutschen müßten sich selbst ihre Identität und damit ihr Schicksal selbst erschaffen, wirklich überzeugt. Es geht 292 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

Beiträge zur Philosophie

also nicht um historische Faktizität, sondern um das Bewußtsein von Geschichtlichkeit, das es neu zu erwecken gilt. Nicht die tatsächlich verbürgte Tradition eines Volkes soll Voraussetzung seines Selbstgestaltungswillens sein, sondern der Identifizierungs-Gestus, mit dem es seinen Willen, zu sich selbst zu finden, bezeugt: »aus der Verhaltenheit des Daseins in die große Stille des Seyns«. Heidegger fordert, einen anderen Anfang zu denken, was einem anderen Anfang des Denkens gleichkommt. Dieses soll nicht mehr aus dem Gegebenen das Mögliche ableiten, sondern das Mögliche das Gegebene er-eignen lassen. Das Erwirken der Entscheidung schöpft aus dem Wissen um dasjenige, das dem Sein gemäß ist, ohne dieses auf eine Qualität oder Eigenschaft reduzieren zu wollen. Dabei steht also nicht ein tatsächliches Agieren im Vordergrund, sondern eine Verhaltung zum Sein, innerhalb dessen sich ein Mensch von ihm überkommen läßt, nicht als Akt der Erleuchtung verstanden, sondern als extreme Bereitschaft, zu empfangen. Wenn Heidegger in den Beiträgen wiederholt von der »Bahn« spricht, nutzt er damit einen der entscheidenden Begriffe des Sterns der Erlösung, der dort die Weisung des Sterns kennzeichnet. Diese führt zum Reich, oder in der Terminologie Heideggers, zum Seyn. Dieses waltet als Stille, im Schweigen, denn aufgerufen zur Wahrheit des Seyns verstummt alle Zielorientiertheit im Denken und Handeln, womit das Motiv des Zeit-Spiel-Raumes erneut anklingt. Dieser ist gerade nicht durch Funktionalität und Geschäftigkeit gekennzeichnet, sondern durch jene tiefe Stille, die das Andere zur Geltung kommen läßt. 156 Anders als in Sein und Zeit widmet Heidegger in seinen Beiträgen dem Menschen äußerste Aufmerksamkeit. Auch in der früheren Schrift wurde er gedacht, doch kaum benannt. Seine thematische Einführung löste ihn aus dem argumentativen Kontext der Anthropologie und kennzeichnete ihn als das »Wer des Daseins«. Die Charakterisierungen der Eigentlichkeit verwiesen zwar bereits auf ein ihm Angemessenes, doch erschöpfte dieses sich in seinem Bezug zum Mit-Seienden, also zum bereits Vorfindlichen. Aus der Analyse der Zuhandenheit ging eine nicht unerhebliche Bedingtheit dieser Bezüge durch das bereits Gegebene hervor, wodurch ein Dasein im Sinne der Eigentlichkeit ein Sein in Verbundenheit, in Gebundenheit an das Bestehende ist. Von dieser Sicht des Menschen unterscheidet 156 »Also muß erst die große Stille über die Welt für die Erde kommen. Diese Stille entspringt nur dem Schweigen.« Beiträge zur Philosophie, I,13, S. 34.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

sich die nun vertretene Deutung nicht unerheblich. Sein in Verbundenheit besteht nach wie vor, doch schuldet der Mensch sie jetzt nicht mehr dem Gegebenen, sondern dem Möglichen. Darum heißt es nun: »Wer ist der Mensch? Jener, der gebraucht wird vom Seyn zum Ausstehen der Wesung der Wahrheit des Seyns.« 157 Auf die Titulierung als Sucher, Wahrer und Wächter des Seyns ist bereits hingewiesen worden. Ebenso hatte sich bei der kurzen Betrachtung der Konzeption vom Selbst gezeigt, daß dieses ein Zu-sichkommen meint, das wiederum unverzichtbare Voraussetzung dafür ist, das Andere kommen zu lassen. Inwieweit Heidegger tatsächlich an dessen Personalisierung interessiert ist, ist schwer zu entscheiden. Auch in dieser Schrift findet sich kein Gedanke, der als Grundlage einer Ethik wirklich taugen würde. So stellt er das »für Andere« zwar als Bestandteil der Beauftragung des Menschen vor, bleibt aber die Erklärung darüber schuldig, ob dieses dem Anderen zum Guten gereicht. Eine Theorie des Miteinanders findet sich in den Beiträgen nicht, es sei denn, man liest die vereinzelten Aussagen über die Zukünftigen, die das Seyn zu erdenken wagen, in dieser Perspektive. Die einzig annähernd präzise Auskunft gibt Heidegger zur Bedeutung des Volkes, die er bezeichnenderweise über die Frage nach der »Philosophie eines Volkes« einleitet. »Die Philosophie ›eines Volkes‹ läßt sich daher nicht aus irgendwelchen Anlagen und Fähigkeiten errechnen und vorschreiben, im Gegenteil, volkhaft ist hier das Denken über die Philosophie nur, wenn es begreift, daß diese ihren eigensten Ursprung selbst zu erspringen hat und dieses nur glücken kann, wenn die Philosophie überhaupt noch ihrem ersten wesentlichen Anfang zugehört. Nur so vermag sie das ›Volk‹ in die Wahrheit des Seyns zu rücken, statt umgekehrt von einem angeblichen Volk als einem seienden ins Unwesen genotzüchtigt zu werden.« 158

Daß sich Heidegger hier in offensichtlicher Polemik gegen ein bestimmtes Denken wendet, scheint unverkennbar zu sein. Und wenn seine Distanzierung Rosenzweigs Herausstellung des jüdischen Volkes gilt? Im letzten Teil des Sterns findet sich die bereits angesprochene Explikation jener Eigenheit, die aus dem Fehlen bestimmter identitätsbildender Faktoren resultiert, wie sie für andere Völker durchaus gegeben sind. Rosenzweig weist dabei auf Land, Sprache

157 158

Beiträge zur Philosophie, V,195, S. 318. Beiträge zur Philosophie, I,15, S. 43.

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und Kultur hin, hebt aber im Gegenzug die einzigartige geschichtliche Prägung des jüdischen Volkes hervor. Diese bindet es nicht in der Vergangenheit, sondern verweist es auf eine Zukunft, die nur ihm zu erwarten obliegt. Ob Rosenzweig jedoch sein Denken der Begründung einer »Philosophie des Volkes« widmen will, kann bezweifelt werden. Heidegger befindet sich argumentativ in einer recht brisanten Position. Denn einerseits will er die Verwurzelung des SeynsDenkens in der Vorstellung eines Volkes und seiner Geschichte begründen und findet einen entsprechenden Entwurf im Stern der Erlösung. Andererseits muß er die Vorstellung der Einzigartigkeit des jüdischen Volkes verschweigen und durch jene eines anderen Volkes ersetzen. In den Beiträgen zur Philosophie ist eine konkrete Identifikation mit dem deutschen Volk nicht zweifelsfrei nachzuweisen. Aus den politischen Äußerungen und besonders aus den Schwarzen Heften ist diese jedoch bekannt. Wie definiert Heidegger nun also Volk, wenn es eindeutig ist, daß diesem als Angesprochenem im Er-eignis die fundamentale Funktion zukommt, Wahrheit im Seyn zu halten? »Ein Volk ist nur Volk, wenn es in der Findung seines Gottes seine Geschichte zugeteilt erhält, jenes Gottes, der es über sich selbst hinwegzwingt und es so in das Seiende zurückstellt. […] Aber wie soll es den Gott finden, wenn nicht jene sind, die für es verschwiegen suchen und als diese Sucher sogar dem Anschein nach gegen das noch nicht volkhafte ›Volk‹ stehen müssen!« 159

Während Rosenzweig die Geschichte und Tradition des jüdischen Volkes benennt, um seine Empfänglichkeit für das Ausstehen des Reiches zu begründen, setzt Heidegger auf den Gedanken einer Gründung des Volkes in der Wahrheit des Seyns, die ihrerseits noch aussteht. Das Identitätsbewußtsein des Volkes, das Rosenzweig aus der Vergangenheit herleitet und als Bedingung der zukünftigen Existenz ausweist, muß sich in Heideggers Sicht erst bilden. Insofern ist ihm der Hinweis auf die »Sucher«, die »Sichgehörenden« unverzichtbar, da sie die Sammlung des Volkes erahnen und erwirken. »Das Wesen des Volkes gründet in der Geschichtlichkeit der Sichgehörenden aus der Zugehörigkeit zu dem Gott. Aus dem Ereignis, worin diese Zugehörigkeit geschichtlich sich gründet, entspringt erst die Begründung, warum ›Leben‹ und Leib, Zeugung und Geschlecht, Stamm, im Grundwort gesagt: die Erde, zur Geschichte gehören und in ihrer Weise wieder die 159

Beiträge zur Philosophie, VI,251, S. 398.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

Geschichte in sich zurücknehmen und in alldem nur dem Streit von Erde und Welt dienstbar sind […].« 160

Das Bild vom Streit zwischen Erde und Welt ist bereits aus den Hölderlin-Vorlesungen und dem Kunstwerks-Vortrag bekannt. Hier wird nun die seynsgeschichtliche Dimension dieser Bildungs-Dynamik welthaften Seins, das für Heidegger die Dimension des Seynkönnens erschließt, ergänzt. Im Streit zwischen beiden wird sich entscheiden, ob es gelingt, daß Welt Erde durchwirkt. Damit bleibt allerdings die Frage nach dem Wesen des Volkes, die Heidegger zu Anfang der Passage beantwortet, noch unberücksichtigt. Daß hier kaum die Fundierung theologischen Denkens vorliegt, bedarf keiner Erklärung mehr. Doch was sagen dann Begriffe des Gottes oder der Götter, wie es an anderer Stelle heißt, überhaupt aus? Der Ausdruck des Gehörens, den Heidegger hier variiert, ist aufschlußreich. Diejenigen, die sich gehören, sind hierzu nur deshalb befähigt, weil sie einem Anderen zugehören. Von hier aus hätte doch durchaus die Möglichkeit bestanden, das Göttliche als das Andere schlechthin zu deuten und es zum Inbegriff des noch ausstehenden Waltens der Wahrheit im Seyn zu erklären. Damit wäre es nach wie vor verwunderlich, warum Heidegger sich überhaupt auf die Nennung eines Gottes einläßt. Zur Begründung auf seine tiefe Bewunderung für das Werk Friedrich Hölderlins zu verweisen, trifft sicherlich zu, reicht jedoch zur vollständigen Erklärung kaum aus. Umso erstaunlicher und im ersten Moment befremdlicher ist es nämlich, daß Heidegger auch Ausdrükke verwendet, denen eine personalisierende Assoziation nicht abgesprochen werden kann. »Die einfachsten, aber äußersten Gegensätze wird dieser Gott über seinem Volk aufrichten als die Bahnen, auf denen es über sich hinauswandert, um sein Wesen einmal noch zu finden und den Augenblick seiner Geschichte auszuschöpfen.« 161 Wo Gegensätze bestehen, ist das Austragen der Entscheidung unverzichtbar – das trifft auch auf das Kommen oder Fernbleiben Gottes zu. An diesem Punkt bietet es sich an, auf das Bild des ZeitSpiel-Raumes zurückzukommen. Wird dieser als Inbegriff eines Geschehnis-Rahmens gedeutet, erklärt sich der zutiefst interaktive Charakter jener Wesung des Seyns, die Heidegger an den Grenzen des Sagbaren zu thematisieren sucht. Auch wenn sich vereinzelt Aussagen finden, die auf eine personale Göttlichkeit hinweisen könnten, 160 161

Beiträge zur Philosophie, VI,251, S. 399. Beiträge zur Philosophie, VI,252, S. 399.

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Beiträge zur Philosophie

insofern Gott als derjenige genannt wird, der dem Menschen etwas auferlegt, erweist sich die Deutung als sinnvoller, die Göttlichkeit als Interaktionsmetapher faßt. »Der Gott ist weder ›seiend‹ noch ›unseiend‹, auch nicht gleichzusetzen mit dem Seyn, sondern das Seyn west zeit-räumlich als jenes ›Zwischen‹, das nie im Gott gegründet sein kann, aber auch nicht im Menschen als vorhandenem und lebendem, sondern im Da-sein.« 162 Diese Formulierung greift einen Gedanken auf, dessen Denkbarkeit tiefe Beunruhigung inhäriert. Daß Heidegger an die Möglichkeit einer Transformation des Seins glaubt, hatte sich bereits gezeigt. Unklar war jedoch bislang, ob er diese als eine Verwandlung im Konkreten denkt. Tatsächlich scheint er hier eine absolute Umstrukturierung zu erwägen, eine geschichtliche Umwandlung des Daseins von nicht absehbarem Ausmaß, weil das Maß dieses Wandels Ausdrucks- und Vorstellungsfähigkeit übersteigt. Wie anders wäre der obige Hinweis zu verstehen, daß das Seyn nicht im vorhandenen und lebenden Menschen gegründet sein kann, ja nicht einmal im Göttlichen, sondern im Wirkraum beider? Wie anders läßt sich die Rede vom »Letzten Gott« deuten als unter radikaler Abhebung vom bisher Gedachten? Enigmatisch stellt Heidegger dem VII. Teil seiner Beiträge, der mit dem Titel »Der letzte Gott« überschrieben ist, die Worte voran: »Der ganz Andere gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen«. So ist der andere Anfang, der im Denken des Seyns eingefordert wurde, weitaus drastischer zu verstehen als nur im Sinne einer Neubestimmung des Philosophierens. In der schwebenden Unbestimmtheit apokalyptischer Intonierung spricht Heidegger vom »Unter-gang« als dem »Gang zur verschwiegenen Bereitung des Künftigen« und den »Untergehenden« als jenen, die »das Kommende unterlaufen und ihm als sein künftiger unsichtbarer Grund sich opfern«. 163 Dabei stellt sich zwangsläufig die Frage, in welcher Radikalität diese Ankündigung zu begreifen ist? In einer der seltenen Passagen, in denen Heidegger die teils analysierende, zumeist ahnungsvoll kündende Sprache zugunsten der Artikulation des »wir« aufgibt, heißt es: »Wir müssen die Gründung der Wahrheit vorbereiten, und das sieht so aus, als werde damit schon die Würdigung und damit die Bewahrung des letzten Gottes vorbestimmt. Wir müssen zugleich wissen und uns daran halten, daß die Bergung der Wahrheit in das Seiende und damit die Geschichte der 162 163

Beiträge zur Philosophie, IV,143, S. 263. Beiträge zur Philosophie, VI,250, S. 397.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

Bewahrung des Gottes erst durch ihn selbst und die Weise, wie er uns als da-seinsgründende braucht, gefordert wird; […].« 164

Noch einmal klingt die extreme Geschehnis-Dynamik an, die im Innersten des Zeit-Spiel-Raumes, im Innersten des Gevierts, herrscht. Erde und Welt liegen im Streit, damit aber im höchsten Maß der Bezogenheit; Gott und Mensch wirken gefordert, gebraucht und in dieser nicht mehr intensivierbaren Verwiesenheit legitimiert. Es geht Heidegger um diesen Gedanken der im Widerstreit ausgetragenen Vorbereitung des Seyns, wobei keines der widerstreitenden Elemente nivelliert werden dürfte, erhalten und tragen sie sich doch in ihrer Wirkung. Die Entscheidung darüber, ob der Wahrheit des Seyns Statt gegeben werde, resultiert nicht aus einer Aufhebung der extremen Spannung zwischen den vier Elementen, sondern aus dem Gelingen ihres Austragens. »Dieser geschichtliche Augenblick ist kein ›Idealzustand‹, weil dieser jedesmal dem Wesen der Geschichte zuwidergeht, sondern dieser Augenblick ist die Ereignung jener Kehre, in der die Wahrheit des Seyns zum Seyn der Wahrheit kommt, da der Gott das Seyn braucht und der Mensch als Da-sein die Zugehörigkeit zum Seyn gegründet haben muß.« 165

Der Zeit-Spiel-Raum ist Austragungsstätte jener Reibung, die aus der Verwiesenheit des Heterogenen entsteht. Das Geschehen innerhalb dieses Relationsgefüges versteht Heidegger nicht als geschichtlich begründet, sondern geschichtlich gefordert – ganz im Gegensatz zu Rosenzweigs Sicht. Leitet dieser die Besonderheit des Volkes aus seiner Geschichte ab, meint Heidegger, darauf nur mit der Vorstellung eines zu gründenden Volkes kontern zu können. Dessen Einzigkeit darf auf keine bestehende Definition oder Rechtfertigung zurückzuführen sein, sondern sie muß so unvergleichlich gedacht werden, wie es nur einem gänzlich neuen Anfang des Denkens zukommt. So gilt für ihn nicht die Annahme eines Volkes, das bereits erwählt wurde und aus dieser Erwähltheit sein zukünftiges Schicksal ableitet. Statt dessen muß sich das Volk, das Heidegger denkt, selbst erwählen und sein Schicksal selbst bestimmen, im Austragen jener Entscheidung, die im Inneren des Zeit-Spiel-Raumes stattfindet. Heideggers deutliche Ablehnung des Gedankens der Erlösung, ob sie sich nun direkt auf Rosenzweig bezieht oder nicht, kommt in folgenden Worten ex164 165

Beiträge zur Philosophie, VII,256, S. 413. Beiträge zur Philosophie, VII,256, S. 415.

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Beiträge zur Philosophie

emplarisch zum Ausdruck: »Hier geschieht keine Er-lösung, d. h. im Grunde Niederwerfung des Menschen, sondern die Einsetzung des ursprünglicheren Wesens (Da-seinsgründung) in das Seyn selbst: die Anerkennung der Zugehörigkeit des Menschen in das Seyn durch den Gott, das sich und seiner Größe nichts vergebende Eingeständnis des Gottes, des Seyns zu bedürfen.« 166 Es zeigt sich etwas unvergleichlich Kurioses. In seinem Bestreben, Rosenzweigs Verständnis der Erlösung des erwählten Volkes auszumerzen, setzt er auf den Gedanken der Selbstschöpfung im Sinne der Da-seins-Gründung. Damit formuliert er aber exakt jene Auffassung von Schöpfung aus dem Stern der Erlösung. Rosenzweig hatte keineswegs den Menschen in eine eher passiv-rezeptive Haltung gebannt, in der er Empfänger der Schöpfungs-Gabe ist, sich dann aber innerhalb der geschaffenen Welt auf deren Faktizität stützen kann. Statt dessen vertritt er mit großer argumentativer Kraft den Gedanken, daß erst das Zusammenwirken der drei Elemente Gott, Welt und Mensch Schöpfung im eigentlichen Sinne ermöglicht und fortsetzt. Dabei wird das Da-sein, das Rosenzweig als Vorhandenheit des Seienden versteht, in veränderbares Dasein umgewandelt. Dieses gründet dann den Raum, den – vom Menschen vorbereitet und erwirkt – auch Göttliches durchwirken wird. Es mag eine interpretative Überfrachtung sein, doch spricht einiges dafür, die Schreibweisen vom Dasein genauer zu betrachten. Da-sein im Stern ist Voraussetzung dieser Durchwirkung des Seins. In den Beiträgen zur Philosophie ist es der Wirk-Raum des Seyns, was wie eine Folge eines Vorhergehenden wirken mag. Tatsächlich ist es aber auch Voraussetzung, und zwar des Austragens der Entscheidung. Obwohl Rosenzweig von der Erschaffung der Welt ausgeht, versteht er doch die eigentliche Wirklichkeit als Werk der Relation, des Geschehens der Angewiesenheit des Menschen auf das Schaffen Gottes, doch auch Gottes auf die Fortsetzung dieses Schaffens durch den Menschen. Der Stern ist symbolische Versichtbarung dieser Interaktion, die im Inneren dieses Gefüges der Verwiesenheit Raum für die Einsenkung des zukünftigen Seins schafft. Die Frage, woher Seiendes stammt, interessiert Heidegger nicht. Doch ausgehend vom Seienden konstruiert er eine Theorie für dessen Verwandlung. Diese läßt die Bestimmung des Menschen erkennen, Da-seins-Gründer zu sein. Diese Bestimmung gilt dem Menschen 166

Beiträge zur Philosophie, VII,256, S. 413.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

und den Göttern, so müßte freilich ergänzt werden, denn aus einer konzeptionellen Ausgewogenheit muß er an dem Gedanken auch des Göttlichen festhalten. Erklärt Rosenzweig den Menschen zum »Empfänger der Offenbarung«, 167 bestimmt Heidegger das Göttliche als das unverzichtbare Gewichtungspendant des Menschen, um die Bedingung des Streites zwischen Entgegengesetztem für die Transformation des Seins zu gewährleisten. Für ihn sind die Götter Legitimatoren der Seyns-Begründung. Gerade diese Überlegung scheint sich als zutreffend zu erweisen. In einer leichten Wendung führt dieser Gedanke zum Thema des Volkes zurück. Werden die Beiträge zur Philosophie tatsächlich als Bearbeitung des dritten Teils des Sterns der Erlösung gelesen, ist die Annahme einer Seins-Transformation von schicksalhafter Bedeutung offenbar äußerst attraktiv. Soll das neue Volk, das zunehmend dem deutschen Volk zu entsprechen beginnt, den Platz des jüdischen Volkes einnehmen, muß das Gewicht der Seins-Transformation jenem der Einsenkung des Göttlichen mindestens gleichwertig sein. Heidegger hätte es niemals riskieren können, auf die Vorstellung Gottes oder der Götter zu verzichten, da er sie als ein Element seiner Konstruktionsgeschichte menschlichen Identitätsstrebens benötigt, das er dann dem Identitätsbewußtsein des Volkes zugrundelegt. Muß es betont werden, daß diese Überlegungen nur mit äußerstem Unbehagen artikuliert werden? Natürlich kann darauf verwiesen werden, daß Heidegger sich auch auf die Schriften von Nietzsche und Hölderlin bezieht, so daß seine Theorie vom Volk einer mélange verschiedenster Quellen gleicht, die zu einem einzigen Zweck erzeugt wird – den Glauben an die seinsgeschichtliche Einzigkeit des deutschen Volkes argumentativ zu rechtfertigen. Zu Beginn seiner Konzeptualisierung des Sterns der Erlösung in Sein und Zeit mag dies noch nicht seine Intention gewesen sein. Zu unvermittelt und kontextuell folgenlos bleibt dort die Erwähnung von Volk und Geschichte. Doch die Beiträge zur Philosophie, seit 1932 in Planung und ab 1936 realisiert, stehen auch unter einem anderen Einfluß. Zunächst sollen die Beiträge noch einmal auf ihren konkret ideologischen Gehalt hin befragt werden. Daß Sie eine komplexe Theorie der SeynsTransformation beinhalten, ist das eine; doch die Überlegung, ob ihr auch eine realpolitische Dimension entspricht, das andere.

167

Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 118.

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Beiträge zur Philosophie

»Das härteste Hindernis aber findet das anfängliche Denken an der unausgesprochenen Selbstauffassung, die der Mensch heute von sich hat. Von den einzelnen Auslegungen und Zielsetzungen ganz abgesehen, nimmt sich der Mensch als ein vorhandenes ›Exemplar‹ der Gattung ›Menschenwesen‹. Das überträgt sich auch auf das geschichtliche Sein als ein Vorkommen innerhalb einer gewordenen Zusammengehörigkeit. Wo diese Auslegung des Menschseins (und damit auch des Volkseins) herrscht, fehlt jede Ansatzstelle und jeder Anspruch auf eine Ankunft des Gottes, nicht einmal der Anspruch auf die Erfahrung der Flucht der Götter.« 168

Zeigen diese Zeilen ein offenbar nicht nur philosophisch motiviertes Denken, folgt eine deutliche Erwägung der Möglichkeit, Identitätsbewußtsein in einer Gemeinschaft zu wecken. »Die Herrschaft über die frei (d. i. bodenlos und eigensüchtig) gewordenen Massen muß mit den Fesseln der ›Organisation‹ errichtet und gehalten werden. Kann auf diesem Wege das so ›Organisierte‹ in seine ursprünglichen Gründe zurückwachsen, das Massenhafte nicht nur eindämmen, sondern verwandeln? […] Das Entgegentreten der unaufhaltsamen Entwurzelung, das Haltgebieten soll keiner unterschätzen, es ist das Erste, was geschehen muß. […] Hier bedarf es einer anderen Herrschaft noch, einer verborgenen und verhaltenen, langehin vereinzelten und stillen. Hier müssen die Zukünftigen bereitet werden, die neue Standorte im Sein selbst schaffen, aus denen wieder eine Beständigkeit im Streit von Erde und Welt sich ereignet.« 169

Zwei Herrschaftsformen sollen sich somit ergänzen, die eine bindend, die andere schaffend, die eine organisierend, die andere denkend. In sehr beunruhigender Weise verknüpft Heidegger hier das Motiv des Zeit-Raumes, der »Standorte im Sein«, mit der Erwägung von Maßnahmen, die Ahnungslosen zu einem Bewußtsein ihrer Bestimmung zurückzuführen. Dabei verwendet er wiederholt das Motiv des Untergangs. Dieses ist nun zwar nicht zwingend als Aufforderung zur Destruktion zu lesen, sondern vorgeblich als Bewegung, in der sich der Mensch dem Kommenden unterwirft und ihm den Boden bereitet. Doch ändert diese Deutung wenig an der unguten Assoziation, die sich einstellt, wenn von Untergang die Rede ist. »Stürzen und Steigen« 170, so könnte betont werden, sind zwei Formen dynamischer Beiträge zur Philosophie, I,24, S. 61. Beiträge zur Philosophie, I,25, S. 61 f. 170 »Auf diesem ›Weg‹, wenn das Stürzen und Steigen so heißen kann, wird immer die selbe Frage nach dem ›Sinn des Seyns‹ und nur sie gefragt.« Beiträge zur Philosophie, I,42, S. 84. 168 169

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

Verwandlung des Seins, die auch Rosenzweig benennt. Doch selbst wenn festgestellt wird, daß die Begründung von neuem das Bestehende nicht unverändert läßt, ist ebenso die Entstehungszeit der Beiträge festzuhalten. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler liegt drei Jahre zurück, ebenso Heideggers Rektoratsrede. Eine ideologische Konnotation läßt sich aus seinem Denken zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ausblenden. Unter dieser Perspektive erfährt der an sich neutrale Gedanke der notwendigen Verwirklichung des Möglichen eine höchst problematische Ausweitung. In Sein und Zeit verwies der Begriff der Eigentlichkeit auf ein Bewußtsein dessen, was dem Menschen als Daseiendem gemäß ist. In den Beiträgen zur Philosophie wird diese Vorstellung durch die Ahnung der Wesensbestimmung des Menschen ergänzt. »Der Mensch hat sein Wesen (Wächterschaft des Seyns) zu seinem Eigen-tum, sofern er in das Da-sein sich gründet. Das Wesen zum Eigen-tum haben bedeutet aber: Aneignung und Verlust dessen, daß er und wie er der Ereignete (in das Seyn Entrückte) ist, inständlich vollziehen müssen.« 171 Nun zeigt Heidegger, daß aus dem Wesen die Forderung zur Verwirklichung entspringt – und nur aus ihm. Wesen ist Wesen nur als »inständlich« vollzogen, also als jenen Raum schaffend, in dem die Wahrheit des Seyns Stand gewinnt. Diese Forderung impliziert die Bereitschaft zur Selbst-Opferung 172 im Geiste der Gründung des Seyns. Doch ergeht diese sehr drastische Forderung letztlich aus der Wesensbestimmung des Menschen selbst, hat also als moralisches Regulativ lediglich die Vorstellung eines Möglichen, das in die Obliegenschaft des »Eigentums« gegeben wurde. Verschmelzen in dieser Weise die Forderung an den Menschen unter dem vermeintlichen Primat eines höheren Zweckes und das Bewußtsein seines Wesens, kann letztlich jede Forderung unter Hinweis hierauf legitimiert werden. Heidegger jedoch versucht, eine Überlegung wie diese gar nicht erst aufkommen zu lassen. Statt dessen weist er eine mögliche Deutung seines Begriffes der Entscheidung als planende Abwägung zurück. »Wir können aber dann das Seyn nicht als das scheinbar Nachträgliche erklären, sondern müssen es als den Ursprung begreifen, der erst Götter und Men-

Beiträge zur Philosophie, VIII,271, S. 489. »Zu Zeiten müssen jene Gründer des Abgrundes im Feuer des Verwahrten verzehrt werden, damit dem Menschen das Da-sein möglich und so die Beständigkeit inmitten des Seienden gerettet werde, […].« Beiträge zur Philosophie, I,2, S. 7 171 172

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Beiträge zur Philosophie

schen ent-scheidet und er-eignet.« 173 Entscheidung meint also Aufhebung von Distanz, die eine Verbindung unmöglich werden läßt. Heideggers Beiträge zur Philosophie können in der Tat als Reaktion auf den dritten Teil von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung verstanden werden. Denn mit dem zentralen Gedanken seiner Schrift, der Transformation des Seins, schafft Heidegger die philosophische Entsprechung zur Vorstellung des Kommenden, wie sie Rosenzweig in der Gewißheit des Glaubens formuliert. Um die Gründe und Bedingungen des Verwandlungsprozesses benennen zu können, greift Heidegger auf das Motiv des Spiel-Raumes zurück, das als Konzeptualisierung des Gedankens der Schechina betrachtet werden kann – ein geistesgeschichtliches Kuriosum, für das es keine Entsprechung gibt. In jüdischer Vorstellung kennzeichnet dieser Begriff den Ort der Einwohnung des Göttlichen; Heidegger bestimmt den Spiel-Raum als Stätte des Streites. In beiden Fällen erfolgt eine Verräumlichung der Gestaltung des Kommenden im Sinne einer Geschehnis-Stätte. In seinem absoluten Willen, Eigenständigkeit des Denkens zu demonstrieren, wenn es um die Legitimation völkischen Identitäts-Anspruches geht, charakterisiert Heidegger das Geschehen als Streit zwischen Erde und Welt, in dessen Austragung dasjenige denkbar wird, das er notwendig erweisen muß – ein Anfang der Geschichte des Seyns. Wie nahe er damit jedoch letztlich Rosenzweigs Auffassung vom ›neuen Anfang‹ kommt, ist gezeigt worden. Denn auch für ihn gewinnt erst im Zusammenwirken der drei Elemente Gott, Welt und Mensch jene Wirklichkeit Gestalt, die sich in die Zukunft fortsetzen wird. Die Texte Vom Wesen des Grundes, Überlegungen II–VI, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« sowie Der Ursprung des Kunstwerkes füllen die rund zehn Jahre zwischen Sein und Zeit und den Beiträgen zur Philosophie mit Detailbetrachtungen, die vornehmlich dem Gedanken des selbstverursachten Anfanges gelten. Ihre jeweiligen Erträge verknüpft Heidegger schließlich in der Theorie der Transformation des Seins. Die Konzeptualisierungsmetaphern aus Sein und Zeit wie die Sorge, das In-Sein und der Ausstand können allgemein philosophische Relevanz beanspruchen und tragen dazu bei, daß dieses letztlich auch für Rosenzweigs Darstellungen gilt. Denn wären diese in der sprachlichen und argumentativen Besonderheit des Sterns der Erlösung wahrscheinlich zu speziell gewesen, um 173

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Eingang in den philosophischen Diskurs zu finden, erlangen sie durch Heideggers Bearbeitungen eine theoretische Klarheit, die den modernen ontologischen und existenzphilosophischen Diskurs entscheidend geprägt hat. Dieses gilt für die Formalisierung, die Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie vornimmt, in keiner Weise. Zwar ist die Transformation des Seins ein Gedanke ontologischer Gültigkeit, doch bricht Heidegger diese selbst, indem er das Werk der Verwandlung zum Seyn als Auftrag des deutschen Volkes postuliert.

IV.6 Das Äußerste Es hatte sich gezeigt, daß Martin Heideggers Sein und Zeit als Formalisierung von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung gelesen werden kann. Dabei ließen sich aus den drei großen Themen dieser Schrift – Schöpfung, Offenbarung und Erlösung – die Konzeptualisierungsembleme 174 In-Sein, Sorge und Ausstand isolieren. Im Verlauf dieser Darstellung wurde auch skizziert, daß Heideggers Adaption des Sterns damit keineswegs abgeschlossen ist, sondern sich motivisch detailliert besonders in Schriften der 30er Jahre fortsetzt. Nun gilt es den Gedanken aufzugreifen, daß die Beiträge zur Philosophie eine Sonderstellung innerhalb dieser fortlaufenden Rezeptionsgeschichte einnehmen, insofern sie als Konzeptualisierung des letzten Buches des Sterns der Erlösung, speziell des Kapitels, das den Titel »Tor« trägt, verstanden werden können. In dreierlei Hinsicht sind die wenigen Seiten, die dieser Teil enthält, bemerkenswert. Zum einen entwirft Rosenzweig hier das oben schon zitierte Bild des »neuen Adam«, jenes Menschen, der Erlösung vergegenwärtigt. »[…] die Erlösung geschieht hier durch den neuen Adam, den sündlosen, nicht gefallenen, und ist in ihm schon da; so wird hier der Mensch, der beseelte Mensch, indem er sich diese mit der wunderbaren Geburt des zweiten Adam erneuerte gottebenbildliche Geschaffenheit aneignet, schon Erbe der Erlösung, einer Erlöstheit, die ihm von uran, von der Schöpfung her

174 Zur Kennzeichnung des Verfahrens, das Heidegger zur Bearbeitung des Sterns der Erlösung anwendet, wird sowohl der Begriff der Formalisierung als auch jener der Konzeptualisierung verwendet. Ersterer verweist auf den Prozeß der Komprimierung, durch den Heidegger die ontologisch relevanten Aspekte der rosenzweigschen Begriffe ermittelt, letzterer auf die Weise ihrer Benennung.

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eignet und nur der Aneignung harrt; also daß es wahr wird, daß vom Menschen her eigentlich schon die Schöpfung die Erlösung sei.« 175

Es ist hier nicht möglich, auf die theologischen Implikationen dieser Aussage Rosenzweigs einzugehen. Doch ist es sinnvoll, sie auf ihre Bedeutung für Heideggers Theorien zu befragen. In seinen Beiträgen zur Philosophie verweist er auf die Notwendigkeit, einen neuen Begriff des Menschen zu denken. Notwendigkeit meint hier jene existentielle Unerläßlichkeit, die für Heidegger mit der Gründung des Seyns einhergeht. So erklärt er den Begriff »Da-sein« wie folgt: »nicht solches, was am vorhandenen Menschen einfach vorfindbar sein könnte, sondern der aus der Grunderfahrung des Seyns als Ereignis ernötigte Grund der Wahrheit des Seyns, durch welchen Grund (und dessen Gründung) der Mensch von Grund aus gewandelt wird. Der Sturz des bisherigen ›Menschen‹ [ist] nur möglich aus einer ursprünglichen Wahrheit des Seyns.« 176

Es konnte an früherer Stelle bereits darauf hingewiesen werden, daß Heidegger hier keine kausale Relation im Sinne zeitlicher Abfolge, sondern im Sinne sich bedingender Bedingtheit voraussetzt. Der Mensch verwandelt sich im Seyn und begründet dieses als gewandelter Mensch. Wie Rosenzweig ist Heidegger der Überzeugung, daß jenes Geschehen, das es vorzubereiten gilt, den Menschen unter veränderte Bedingungen der Seins- und Selbstwahrnehmung stellt. Denn was sonst könnte die Rede vom neuen Menschen bedeuten? Schöpfung und Sein begreifen beide Denker als Determinierungen des Daseins, die menschliches Existieren gleichermaßen prägen wie fordern. Wenn es innerhalb dieser unabänderlichen »Geworfenheit« Variablen der Situierung im Sein gibt, können diese ausschließlich als modifizierte Erfahrungen 177 des Da-seins vorgestellt werden. Genau dieses beschreibt Rosenzweig in den gerade zitierten Worten, wenn er darauf hinweist, daß Schöpfung bereits als Erlösung erfahren werden Der Stern der Erlösung, Tor, S. 466. Beiträge zur Philosophie, V,170, S. 294. 177 Daß Rosenzweig den Begriff der Erfahrung programmatisch zur Kennzeichnung einer nicht rational begründeten Vergegenwärtigung von Sein verwendet, hat sich gezeigt. Obwohl Heidegger ihn nicht nutzt, wird er hier auch zur Charakterisierung seines anfänglichen Denkens angewandt. Auch dieses kann nicht ausschließlich als Akt der Rationalität verstanden werden, sondern rekurriert auf eine erweiterte und die Öffnung des Seins-Gewahrens erweiternde Erkenntnisweise des Menschen. Da auch Heidegger deren Verwurzelung im Verständnis des Seienden nicht aufkündigt, spricht im vorliegenden Kontext nichts gegen ihre Titulierung als Erfahrung. 175 176

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kann. Die »Grunderfahrung des Seyns«, die Heidegger erwähnt, entspricht diesem Gedanken insofern, als Seyn keine an sich verwandelte Form von Sein, sondern dessen modifizierte Erfahrungsstruktur darstellt. Diese nimmt jedoch in seiner Deutung eine Dimension an, die Rosenzweig fremd ist. Denn die Gründung des neuen Menschen versteht Heidegger als radikales Geschehen, 178 wie der Ausdruck des »Sturzes« veranschaulicht. Daß er sich hiermit möglicherweise von Rosenzweigs Vorstellung der Verwandlung des Daseins in der Erlösung distanzieren will, ist bereits angemerkt worden. Denn wiederholt hatte Heidegger betont, daß verwandeltes Sein, das nicht errungen und erkämpft ist, nicht wahres und einziges Seyn sein kann. Wenn im Moment Rosenzweigs Konzeption der Erlösung und Heideggers Begriff des Seyns parallel gesetzt werden, muß doch festgestellt werden, daß sich die Wege ihrer Fundierung unterscheiden. In Rosenzweigs Sicht müßte eine erkämpfte Erlösung letztlich eine widersinnige Annahme sein, da sie das vorübergehende Brechen mit der Ordnung der göttlichen Schöpfung bedeuten würde. Eine solche Ordnung kann Heidegger nicht voraussetzen, weshalb es aus seiner Sicht der Initiative des Menschen bedarf, um eine Seins-Ordnung zu schaffen. Ob er diese auch als gesellschaftliche und politische Realität begreift oder als Ermöglichung, das Äußerste des Seins, nämlich seine Wahrheit, denken zu können, ist nicht eindeutig zu entscheiden. In den hier angestellten Überlegungen wird jene zweite Deutung akzentuiert, um deren Gegenüberstellung zu Rosenzweigs Auffassung zu schärfen. Was meint dessen Begriff der Erlösung unter ontologischer Befragung? Er bedeutet eine verwandelte Erfahrung des Daseins im Bewußtsein, daß das noch Ausstehende bereits als dessen Merkmal der Dauerhaftigkeit erlebt werden kann. Es geht an dieser Stelle keineswegs darum, die Theorien von Rosenzweig und Heidegger unter unzulässiger Einebnung ihrer Differenzen sehen zu wollen. Vielmehr wird Rosenzweigs Ansatz verfolgt, der eine Verschränkung ontologischer und religiöser Standpunkte für legitim erklärt. Dann ist es statthaft, zu fragen, in welcher Weise die religiöse Gewißheit der Erlösung die Erfahrung des Daseins verändert. Für die interpretative Engführung der Termini Erlösung und Seyn ergibt sich, daß es sich bei beiden um Kennzeichnungen verwandelter Seins-Erfahrung handelt, die 178 »Jetzt erst der Sturz des animal rational, in das wir kopfüber erneut zurückzufallen dabei sind […].« Beiträge zur Philosophie, V,170, S. 294.

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auf einem intensiven Verständnis der Faktizität des Daseins gründen. Diese Feststellung wird etwas später erneut aufzugreifen sein. Nur auf der Basis eines solchen Verstehens kann, darin sind sich beide Denker einig, die Bereitschaft des Menschen basieren, das Äußerste der Möglichkeit des Seins zu denken. Rosenzweig bezeichnet dieses Äußerste als Gott. In Heideggers Formulierungen der Beiträge zur Philosophie wird eben diese Bezeichnung auftauchen, nicht durchgängig, aber an entscheidender Stelle. Für beide steht nicht die Beschreibung dieses Äußersten im Vordergrund, die auch gar nicht zu leisten wäre, soll es als das noch Unverwirklichte vorgestellt werden. Statt dessen fragen sie danach, inwieweit das Denken, wenn es sich auf das Ausstehende, also das Äußerste seiner eigenen Möglichkeit fokussiert, das Verständnis des Daseins und des Menschen verändert. Bevor diese Frage verfolgt wird, sei zunächst kurz der zweite Aspekt in Rosenzweigs »Tor« angesprochen, der für Heideggers Rezeption bedeutsam wird: die »Umkehrung der Zeitfolge«. »Der Welt geschieht ja in ihrer Schöpfung das Erlebnis des Erwachens zum eignen offenbaren Bewußtsein ihrer selbst, nämlich zum Bewußtsein der Kreatur, und in der Erlösung erst wird sie eigentlich geschaffen, erst da gewinnt sie jene feste Dauerhaftigkeit, jenes beständige Leben statt des augenblicksgeborenen immer neuen Daseins. Diese Verkehrung der Zeitfolge, wo also für die Welt das Erwachen dem Sein vorhergeht, begründet das Leben des ewigen Volks.« 179

Hier hebt Rosenzweig zunächst die kausale Ordnung, die das »Erwachen« dem »Sein« folgen ließe, auf, um zirkuläre Begründungsdynamik von Erlösung denken zu können. Denn sie soll sich, ganz anders, als es Heidegger suggeriert, nicht am Volk ereignen und es dadurch in eine Haltung des Erwartens fügen, sondern dieses kann das Sein der Erlösung zum Teil vorbereiten und erwirken. Die eigentliche »Umkehrung der Zeitfolge« streift Rosenzweig im Anschluß an die gerade zitierten Worte, wenn er schreibt: »Sein [des Volkes] ewiges Leben nämlich nimmt ständig das Ende vorweg und macht es so zum Anfang.« 180 Als Beständigkeit in der Gegenwart wird Zeitlichkeit, ja sogar Ewigkeit erfahrbar, womit die Geschiedenheit des Gegenwärtigen von der Zukunft relativiert werden soll. Was werden kann, kann bereits sein und die Erfahrung des Möglichen im bestehenden Augen179 180

Der Stern der Erlösung, Tor, S. 467. Der Stern der Erlösung, Tor, S. 467.

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blick vergegenwärtigen. Erfahrung des Möglichen kennzeichnet für Rosenzweig grundsätzlich die Erfahrung des Daseins, die sich, wie sich in der Betrachtung seiner vorausgehenden Aussagen gezeigt hatte, mit der Selbsterfahrung des jüdischen Volkes deckt. Die Worte, in denen Heidegger von jenem Neuen spricht, das dem Menschen durch einen »Sprung« als Reflexionsbewegung des Seins zugänglich wird, entstammen einer anderen Begrifflichkeit. »Der Mensch wird sich, wenige und sich nicht Kennende, in den Zeit-SpielRaum des Da-seins vorbereiten und auf eine Nähe zum Seyn sammeln […] Während die Zerstörung der bisherigen Welt als Selbstzerstörung ihre Triumphe hinausschreit ins Leere, sammelt sich das Wesen des Seyns in seine höchste Berufung: […] Das Seyn als Er-eignis ist der Sieg des Unumgänglichen in der Bezeugung des Gottes.« 181

Vorbereitung, Sammlung und Bezeugung sind jene drei Geschehnisweisen, in denen laut Heidegger die Gründung des Seyns stattfindet. In Solidarität stiftender Form schreibt er dann weiter: »Wir müssen die Gründung der Wahrheit vorbereiten, und das sieht so aus, als werde damit schon die Würdigung und damit die Bewahrung des letzten Gottes vorbestimmt. Wir müssen zugleich wissen und uns daran halten, daß die Bergung der Wahrheit in das Seiende und damit die Geschichte der Bewahrung des Gottes erst durch ihn selbst und die Weise, wie er uns als da-seinsgründende braucht, gefordert wird […] Hier geschieht keine Erlösung, d. h. im Grunde Niederwerfung des Menschen, sondern Einsetzung des ursprünglichen Wesens (Da-seinsgründung) in das Seyn selbst: die Anerkennung der Zugehörigkeit des Menschen in das Seyn durch den Gott, das sich und seiner Größe nichts vergebende Eingeständnis des Gottes, des Seyns zu bedürfen.« 182

Vorbereitung, Sammlung und Bezeugung sind exakt jene Aktionsformen, durch die Rosenzweig die Befähigung des Menschen charakterisiert, Gegenwart zu verunendlichen oder, anders ausgedrückt, das Ewige zu vergegenwärtigen. 183 Immer deutlicher zeichnet sich der vorbereitende Charakter jener Seins-Modifikation ab, deren Werk Heidegger als Seyn bezeichnet. Höchst aufschlußreich für einen VerBeiträge zur Philosophie, IV,116, S. 227 f. Beiträge zur Philosophie, VII,256, S. 413. 183 Die Vorbereitung jener Stätte, die die Einwohnung Gottes auf Erden ermöglicht; die Sammlung als Versammlung der Menschen an eben dieser Stätte und die Bezeugung der göttlichen Wahrheit durch den Menschen. Auf alle Aspekte ist in den Kapiteln I–III hingewiesen worden. 181 182

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gleich mir Rosenzweigs Denken ist es, wie Heidegger die Relation von Mensch und Gott zeichnet, die er hier tatsächlich als Bezogenheit ausweist. Die einzigen positiven Aussagen, die Heidegger in diesem Zusammenhang über Gott trifft, bestehen darin, daß er den Menschen »braucht« und des Seyns bedarf. Dieses ist das »Eingeständnis des Gottes«, eine Feststellung, die, würde man sie im theologischen Kontext lesen, nicht unproblematisch wäre, würde sie doch die Annahme einer defizitären Natur Gottes nahelegen. Wodurch bereitet der Mensch in Rosenzweigs Verständnis die Stätte für dieses Ereignis der extremen Zuwendung? Durch die stetige Wiederholung ritueller Handreichungen, so schreibt er im religiös ausgerichteten letzten Teil seines Sterns. Und in dessen ontologisch motivierten Passagen verweist er mit Nachdruck auf die Bedeutung der Dinge in der Welt, derselben Dinge, deren Gebrauch im rituellen Umgang gewürdigt wird. Um die argumentative Dichte von Heideggers Gedankengang zu dieser Sicht Rosenzweigs akzentuieren zu können, wurden in obigem Zitat einige Zeilen zur göttlichen Forderung an den Menschen zunächst ausgespart, die es nun nachzutragen gilt: »[…] gefordert nicht nur [durch] eine Gebotstafel, sondern ursprünglicher und wesentlich so, daß sein [des Gottes] Vorbeigang eine Beständigung des Seienden und damit des Menschen inmitten seiner fordert; eine Beständigung, in der erst das Seiende je in der Einfachheit seines zurückgewonnenen Wesens (als Werk, Zeug, Tat, Blick und Wort) dem Vorbeigang standhält, ihn so nicht still legt, sondern als Gang walten läßt.« 184

Die ontologische Interpretation des Zeughaften hatte Heidegger in Sein und Zeit thematisiert und war mit der Detailliertheit seiner Betrachtungen weit über Rosenzweigs Äußerungen hinausgegangen. Und nun nutzt er einen erneuten Blick auf dieses Seiende, um dessen »Beständigung« als Merkmal der Relation Gottes zum Menschen zu bezeichnen. Beständigung heißt, Dauerhaftigkeit im Seienden zu denken, also gerade dort, wo sie am wenigsten zu vermuten wäre, da Seiendes der zeitlichen Veränderung unterliegt. Es kommt Heidegger darauf an, die Relevanz von Weltlichkeit für den Entwurf des Seyns zu betonen, ja mehr noch, in ihr die Ermöglichung des »Vorbeigangs« des Gottes zu sehen. Wenn es an dieser Stelle zulässig ist, die komplexe Frage, was Heidegger unter dem Graphem ›Gott‹ versteht, auf 184

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die Antwort zu verkürzen, daß darin die verwandelte Seins-Relation des Menschen symbolisiert wird, kann hier eine Folgerung gezogen werden. Das bedeutsamste Maß dieser Seins-Relation, die mit einer ins Extrem gesteigerten Bewußtheit des Menschen für die Möglichkeit, zu seyn, einhergeht, korrespondiert dem Maß der Erfahrung welthafter Faktizität, des Seienden. Die Zurückweisung eines vermeintlich religiösen Begriffes von »Er-lösung« erlaubt einen Vergleich mit Rosenzweigs Deutung. Denn mitnichten versteht er dieses Geschehen als eine »Niederwerfung des Menschen«, wie Heidegger schreibt, sondern letztlich so, wie dieser sie im Anschluß charakterisiert: als Prozeß, in dem sich die DaseinsErfahrung des Menschen grundlegend wandelt. Es hatte sich bereits angedeutet, daß Rosenzweig und Heidegger vor einer nicht unerheblichen Schwierigkeit stehen, wenn sie einerseits durch die Gedanken der Umkehrung der Zeitfolge und des neuen Menschen eine neue Konstituierung des Daseins nahelegen wollen, andererseits aber dabei an dessen determinierte Natur als endliches Sein gebunden bleiben. Verwandlung des Seins können beide folglich nur als Verwandlung der Erfahrung von Sein deuten. Hier stellt sich nun die Frage, ob sich jene Vorstellungen verwandelten Seins, wie sie Rosenzweig und Heidegger unter den Termini der Erlösung und der Er-lösung fassen, entsprechen. Bislang hatten Heideggers Formulierungen vom Kampf und dem Sturz des bisherigen Menschen, von der Entscheidung und dem Untergang eher den Eindruck erweckt, daß dieses nicht möglich sei. Denn der erzwingende Ton, den Heidegger seinem Sprechen von der Bereitung des Seyns als Vorbereitung eines noch Ausstehenden verleiht, findet sich in Rosenzweigs gesamter Schrift an keiner Stelle. Wozu sollte er ihn auch anschlagen, kann er doch aus der tiefen Gewißheit des Glaubens sprechen, die das zu Erwartende immer schon im Seienden verbürgt weiß. Ihm ist die Vorstellung eines Seins-Verlustes, wie sie Heidegger formuliert, gänzlich fremd. Und wenn der Mensch in seinem Denken das Kommende vorzubereiten sucht, dann geschieht dieses aus keiner Not heraus, sondern aus dem reichen Selbstverständnis des Möglichen. Dieser Umstand darf jedoch nicht zu jener Folgerung verleiten, die Heidegger bisweilen artikuliert, wenn er einzig dem deutschen Volk, das das Seyn erringt, die Würde zusprechen will, es zu verdienen. Einen Versuch, dieses auf anderem Wege als dem Kampf zu gewinnen, verwirft er als untaugliches Verfahren, wie sich besonders mit Blick auf die Schwarzen Hefte ergeben hatte. 310 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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Wird die Ebene eher polemischer Erwähnungen zugunsten argumentativer Erfordernisse verlassen, zeigt sich folgendes Bild: Rosenzweig hatte jene Verkehrung der Zeitfolge, in der das Erwachen dem Sein vorausgeht, als Begründung des Lebens des »ewigen Volkes« bezeichnet. Es ist also letztlich konsequent, daß Heidegger in seinen Beiträgen genau hierauf reagiert, kann und darf es doch nur ein einziges ewiges Volk geben. Auch er muß also, wenn er wirklich Rosenzweigs Begründung der Sonderstellung des Volkes widerlegen will, Dauerhaftigkeit zu einem Attribut der Zeit des Seins erklären. Denn ewig ist die Zeit des Volkes schon im Jetzt, also in der Faktizität, in Rosenzweigs Denken durch die Betonung des rituellen Gebrauches von Seiendem versinnbildlicht. Hierfür hat sich nun im angeführten Verweis auf das »Zeug« eine Entsprechung in Heideggers Text gezeigt. Beide Denker legen besonderen Wert auf den Gedanken der Vorbereitung des Ausstehenden, womit zunächst dessen Ermöglichung gemeint ist, in weiter gefaßtem Sinn aber auch ein Eingreifen in die Zeitfolge von Kausalität. Denn indem Vorbereitungen getroffen werden, wird die Stätte für das Erwartete bereitet, das eintreten kann, weil es an der Zeit ist. Wenn im bisherigen Verlauf der Darstellung die Begriffe Seyn und Erlösung synonym verwendet wurden, insofern sie jeweils parallele Funktionen im Werk beider Theoretiker einnehmen, kann nun ergänzt werden, daß beide Begriffe vorbereitende Seins-Modi bezeichnen. Sehr deutlich spricht Heidegger diesen Gedanken aus. »Das Land, das durch den Weg und als Weg des Er-denkens des Seyns wird, ist das Zwischen, das er-eignet das Da-sein dem Gott, in welcher Er-eignung erst der Mensch und der Gott sich ›erkennbar‹ werden, zugehörig in der Wächterschaft und Notschaft des Seyns.« 185

Das »Er-denken des Seyns« verwirklicht dieses noch nicht zur Gänze, sondern schafft den Ort, von dem aus es denkbar wird. Auch hier versagt die Chronologie von Kausalität, da keine lineare Abfolge von Vorhergehendem und Folgendem mehr auszumachen ist. In der Vorstellung zirkulärer Ursächlichkeit verwirklicht sich Gedachtes, indem es als zu Denkendes die Möglichkeit seiner Denkbarkeit schafft. Die Formulierung des »Zwischen« verwendet Heidegger zur Kennzeichnung des Seins, das bereit ist, in höchster Angespanntheit des Bewußtseins das Äußerste seiner eigenen Möglichkeit zu denken, das 185

Beiträge zur Philosophie, I,43, S. 86 f.

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heißt: Seyn zu sein. Im vorliegenden Kontext, in dem es nicht darum gehen kann, die religiöse Metapher »Gott« in Heideggers Schriften zu dechiffrieren, wird dieser Gedanke als stellvertretende und damit provisorische Deutung verwendet. Wichtig ist dabei, daß diese enigmatische Bildlichkeit, wie immer sie inhaltlich aufgelöst werden soll, Ausdruck des letzten noch Ausstehenden ist. An diesem Punkt schließt sich die Betrachtung der Beiträge zur Philosophie an jene von Sein und Zeit an. Dort hatte sich gezeigt, daß »Ausstand« Heideggers erste Konzeptualisierung von Rosenzweigs Begriff der Erlösung ist. Die zweite Konzeptualisierung zum Begriff des Seyns erfolgt nun in den Beiträgen zur Philosophie. Wie schon ein Blick auf die Kapitelüberschriften der Beiträge erkennen läßt, ist diese Schrift als Explikation des ontologischen Motivs des Ausstandes konzipiert. Unterschiedliche Perspektiven nimmt die Betrachtung dabei ein. Die Sektion »Anklang« verdeutlicht das Faktum, daß etwas aussteht, 186 ohne dieses bereits kennzeichnen zu können, fungiert somit als Anzeige eines Denkbaren. Als formale Ermöglichung, dieses Denkbare zu denken, setzt Heidegger seine Überlegungen zum »Zuspiel« ein, als »ein erstes Brückenschlagen des Übergangs, eine Brücke aber, die ausschwingt in ein erst zu entscheidendes Ufer«. 187 Hier formuliert Heidegger die Notwendigkeit des »anfänglichen Denkens«, die es noch zu berücksichtigen gilt. Die Aussagen dieser beiden Abschnitte kreisen um die Denkbarkeit des Ausstehenden, wohingegen der Teil, den Heidegger mit dem sinnfälligen Begriff »Sprung« überschreibt, eher der Frage konkretisierender Vorbereitung im Denken gewidmet ist. Die Assoziation zu Søren Kierkegaards Theorie des Sprunges ist offensichtlich. Denn für ihn markiert dieses Bild die Bereitschaft des Menschen, sich derjenigen Erfahrung zu öffnen, die die Erfordernisse des Daseins als Forderungen der Ethik überformt. Kierkegaard sieht in dieser Erfahrung das Erleben des Religiösen. Heidegger hält den Sprung noch in der Schwebe der Entscheidung, die zwischen der Verhaftung im Sein und der Bereitschaft, dem Seyn Statt zu geben, zu wählen hat. »Der Sprung, das Gewagteste im Vorgehen des anfänglichen Denkens, läßt und wirft alles Geläufige hinter sich und erwartet nichts unmittelbar 186 »Der Anklang des Seyns als Verweigerung in der Seinsverlassenheit des Seienden – dies sagt schon, daß hier nicht ein Vorhandenes beschrieben oder erklärt oder in eine Ordnung gebracht werden soll.« Beiträge zur Philosophie, II,51, S. 108. 187 Beiträge zur Philosophie, III,81, S. 169.

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vom Seienden, sondern erspringt allem zuvor die Zugehörigkeit zum Seyn in dessen voller Wesung als Ereignis.« 188 Zur Ergänzung dieser drei Ansätze der Betrachtung, in denen Heidegger die Dringlichkeit des anfänglichen Denkens anführt, werfen seine Überlegungen zur »Gründung« vereinzelte Schlaglichter auf den Menschen als den Denkenden dieses Anfangs. Daß Heidegger es hier wagt, ein neues Bild des Menschen zu entwerfen und zu fordern, wurde bereits angesprochen. Die vier Motive von Anklang und Zuspiel, Sprung und Gründung zusammengefaßt, ergibt sich das Bild extremer Konzentration, die Heidegger auf die Thematisierung des anfänglichen Denkens richtet. Da dieses der dritte Aspekt ist, der seine Beiträge zur Philosophie mit Rosenzweigs Stern der Erlösung verbindet, soll der Blick einen Moment bei seinem Gedanken verweilen. Beide Theoretiker gehen von einer Zäsur aus, die zwei qualitativ different wirkende Formen der Seins-Begegnung unterscheidet. Rosenzweig formuliert fast im Ton mystischer Texte: »Er [Gott] ließ sich schauen. Er führte mich an jene Grenze des Lebens, wo die Schau verstattet ist. Denn kein Mensch bleibt im Leben, der ihn schaut. So mußte jenes Heiligtum, darin er sich mir zu schauen verstattete, in der Welt selber ein Stück Überwelt, ein Leben jenseits des Lebens sein. Aber was er mir in diesem Jenseits des Lebens zu schauen gab, das ist – nichts andres als was ich schon in der Mitte des Lebens vernehmen durfte […].« 189

Es ist kein Zufall, daß Rosenzweig vom ›Verstatten‹ spricht. Denn damit bezeichnet er nicht nur Einwilligung in etwas bisher Versagtes, sondern auch Geschehen an einem Ort, der für dieses Zugeständnis unabdingbar ist. In seiner Theorie handelt es sich, wie bereits an früherer Stelle festgestellt wurde, um jene Verortung der Schechina, der Einwohnung Gottes im Dasein. Interessant ist es nun, daß er das Schauen nicht als erkennende Aufmerksamkeit skizziert, die das Bewußtsein gänzlich aus dem Dasein ablenkt und auf eine Realität des ganz Anderen fokussiert. Vielmehr betont er, daß die Schau eben nicht bislang Verschlossenes offenlegt, sondern das Dasein selbst als Grund des verständigen Gewahrens des Göttlichen erschließt. Rosenzweig nutzt die Bildlichkeit der Grenze also nicht dazu, die Vorstellung einer Überwelt als Kontrast zur erfahrbaren Welt des Menschen zu inszenieren, sondern um den Menschen an einen Wendepunkt der

188 189

Beiträge zur Philosophie, IV,115, S. 227. Der Stern der Erlösung, Tor, S. 471.

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Bewußtheit zu führen. Für einen kurzen Augenblick imaginiert er die Begrenzung der Erfahrung, um sie, unter gewendeter Perspektive, durch das Bewußtsein ihrer eigentlichen Bedeutung angereichert, wieder in ihre erkenntnistragende Funktion einzusetzen. Somit kann in seiner Sicht niemals eine Abwertung der faktischen Realität erfolgen, da es nicht gilt, sie zu transzendieren, sondern ihre Erkenntnis zu transformieren. Einige Jahre nach dem Erscheinen des Sterns der Erlösung kommentiert Rosenzweig in einem knappen Text sein Programm des »Neuen Denkens« und benennt dort Erfahrung als Voraussetzung der Seins-Erschließung. 190 Wenn sich nun herausstellt, daß Heidegger ein »anfängliches Denken« fordert, wirft dies die Frage auf, ob sich beide Konzepte berühren, vielleicht sogar überschneiden und damit Rosenzweigs Empfinden, in Heidegger einen Denker ähnlichen Geistes gefunden zu haben, am Ende doch bestätigt wird. 191 »Das künftige Denken ist Gedanken-gang, durch den der bisher überhaupt verborgene Bereich der Wesung des Seyns durchgangen und so erst gelichtet und in seinem eigensten Ereignischarakter erreicht wird. […] Die ›Beiträge‹ fragen in einer Bahn, die durch den Übergang zum anderen Anfang, in den jetzt das abendländische Denken einrückt, erst gebahnt wird.« 192 Die Bildlichkeit vom »Gedanken-gang«, die Heidegger hier verwendet, läßt Rosenzweigs Heranführen an jene Grenze, von der aus die »Schau« des Göttlichen »verstattet« ist, anklingen. Für Rosenzweig bedeutete das Bezeichnen dieser Position, von der aus eine erweiterte Erkenntnis des Seins erfolgen kann, keinesfalls eine Minimierung von dessen Wertigkeit. Seine argumentative Intention besteht vielmehr in dem Nachweis, daß nur aus dem Dasein heraus überhaupt Schau des Göttlichen erfolgen kann. Das übergängliche Denken, das Heidegger vorstellt, basiert ebenfalls auf jenem Gedanken einer transitorischen Bewegung des Erkennens, die Dasein als Bedingung, jedoch nicht als ausschließlichen Inhalt begreift. Es gibt, so hatte sich gezeigt, auch in Heideggers Text einen Hinweis darauf, daß das erkennende Durchschreiten des Seins keine Distanzierung von dessen Faktizität fordert. 190 »Wir wissen aufs genaueste, wissen es mit dem anschaulichen Wissen der Erfahrung, was Gott, was der Mensch, was die Welt für sich genommen ›ist‹ […].« Das neue Denken, S. 145. 191 Eingangs wurde bereits darauf hingewiesen, daß Rosenzweig tatsächlich über Heideggers Denken der frühen Jahre nur aus zweiter Hand informiert gewesen ist. 192 Beiträge zur Philosophie, I, Vorblick, S. 3 f.

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Das Äußerste

Es muß jedoch zugleich berücksichtigt werden, daß Sätze wie die gerade zitierten nicht losgelöst von den seinsgeschichtlichen Assoziationen gelesen werden können, die Heidegger mit ihnen verknüpft. Heißt das aber, daß sie ausschließlich vor diesem Hintergrund zu rezipieren sind? Gibt es nicht trotz dieser eindimensionalen Intonation die Möglichkeit, Heideggers Suche nach einem neuen Denken zu sehen, die ihn als jungen Denker bereits motivierte und ihm womöglich Rosenzweigs Philosophie viel näher brachte, als er sich eingestehen konnte? »Die Zeit der ›Systeme‹ ist vorbei. Die Zeit der Erbauung der Wesensgestalt des Seienden aus der Wahrheit des Seyns ist noch nicht gekommen. Inzwischen muß die Philosophie im Übergang zum anderen Anfang ein Wesentliches geleistet haben: den Entwurf, d. h. die gründende Eröffnung des ZeitSpiel-Raumes der Wahrheit des Seyns.« 193

Immer wieder verwendet Heidegger speziell seit den 30er Jahren das Bild des Spiels. Es bedarf nicht erst der Erinnerung an Friedrich Schillers Würdigung des Spieles, um hier ein gezieltes Aussetzen formaler Reglementierungen des Denkens zu vermuten. In komprimierter Weise erklärt Heidegger: »Das Zuspiel der Geschichte des erstanfänglichen Denkens ist aber keine historische Bei- und Vorgabe zu einem ›neuen‹ ›System‹, sondern in sich die wesentliche, Verwandlung anstoßende Vorbereitung des anderen Anfangs.« 194 Spiel setzt, in stark vereinfachter Form ausgedrückt, die Regeln des philosophischen Diskurses außer Kraft, um kraft dieser Freisetzung den Raum für das Seyn des Seins denken zu können. In seiner Andeutung der Angewiesenheit Gottes auf den Menschen 195 hatte Heidegger gezeigt, daß auch ihm daran liegt, menschliches Bewußtsein nicht aus der Ausrichtung auf das Dasein zu lösen, um Wahrheit erfassen zu können. Ganz im Gegenteil – seine Beiträge dienen dem Zweck, Vorbereitungswege der Verortung des Denkens im Seyn zu zeichnen, was letztlich heißt, das Bewußtsein auf eine noch unrealisierte Erfahrung des Seins zu lenken. Wenn in den letzten Zeilen wiederholt der Begriff des Bewußtseins verwendet wurde, dann ge193 Beiträge zur Philosophie, I,1, S. 5. Die Zurückweisung der »Systeme« betrifft nicht Rosenzweigs Feststellung, sein Denken sei als System zu verstehen, da er einen modifizierten Begriff von ›System‹ verwendet. 194 Beiträge zur Philosophie, III,82, S. 169. 195 »Wie weit entfernt ist von uns der Gott, der uns zu Gründenden und Schaffenden ernennt, weil sein Wesen diese braucht?« Beiträge zur Philosophie, I,7, S. 23.

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

schah es nicht im Rückgriff auf die Terminologie Heideggers, sondern zur Kennzeichnung des Gewahrens jenes Perspektivwechsels, für den er wie auch Rosenzweig eintreten. Ebenso gut könnte vom Gewahren gesprochen werden, oder von der Vergegenwärtigung. In jedem Fall soll eine Qualität der Erfahrung des eigenen Daseins angedeutet werden, die der Mensch, einhelligem Testat beider zufolge, bislang nicht in Anspruch nahm. Gerade diese Möglichkeit gilt es zu erschließen. Die Überzeugung, daß Philosophie in ihrer tradierten Form hierfür ungeeignet ist, vertreten beide Denker. Zur Veranschaulichung seien zwei kurze Passagen zitiert, die vor allem eines zeigen – Philosophie ist seins-bildendes Geschehen, das vom Denkenden die außerordentliche Bereitschaft fordert, für das neue Denken einzutreten. Rosenzweig schreibt: »Der Philosoph muß mehr sein als die Philosophie. Wir hörten: er muß Mensch sein, Fleisch und Blut. Aber es genügt nicht, daß er das bloß ist. Er muß als Fleisch und Blut, das er ist, das Gebet der Geschöpfe beten, das Gebet zum eigenen Schicksal, worin eben das Geschöpf sich unbewußt als Geschöpf bekennt.« 196 Und in Heideggers Schrift heißt es: »Der andere Anfang ist die ursprünglichere Übernahme des verborgenen Wesens der Philosophie, das selbst aus dem Wesen des Seyns entspringt […].« 197 Dieses kurze Innehalten, das das Kapitel »Tor« aus Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung und Martin Heideggers Beiträge zur Philosophie in einem vergleichenden Blick verknüpfte, hat drei inhaltliche Überschneidungen gezeigt: Den Gedanken der Umkehrung der Zeit, das Bild vom neuen Menschen und die Forderung eines neuen Denkens. Die Ähnlichkeiten in der Auslegung dieser Theoreme soll keinesfalls über die größte Differenz hinwegtäuschen, die darin besteht, daß Heidegger unverhohlen mit der Vorstellung des Untergangs liebäugelt, wobei es nicht eindeutig festzulegen ist, was dieser genau einschließt. Den Sturz des Menschen als animal rationale spricht er an, doch ist er auch für gesellschaftliche Ordnung als Konkretion des Daseins unumgänglich? Inwieweit ist die Zerstörung des Alten tatsächlich philosophisch unverzichtbare Voraussetzung zur Etablierung eines neuen Seyns-Verständnisses oder möglicherweise eher gedankliche Konzession an die Zeit? Zur Vorbereitung einer Antwort, die an anderer Stelle zu formulieren wäre, ging es hier darum, zunächst die Kontinuität in Heideggers Auseinandersetzung mit 196 197

Der Stern der Erlösung, III, Einleitung, S. 329. Beiträge zur Philosophie, VIII,259, S. 436.

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Das Äußerste

Rosenzweigs Denken festzustellen. Dabei wird sichtbar, daß die drei Forderungen, die Heidegger hinsichtlich der Zeitlichkeit, des Menschen und des Denkens erhebt, alle in unmittelbarer Relation zu Rosenzweigs Aussagen stehen. In Sein und Zeit konnte ›Ausstand‹ als ontologisch relevanter Gehalt von Rosenzweigs Deutung der Erlösung festgestellt werden. In den Beiträgen zur Philosophie geht es nun nicht mehr darum, ›Ausstand‹ als formales Kriterium von Zeitlichkeit zu fassen, sondern ihn zu kontextualisieren, das heißt zu fragen, was das Seins-Merkmal des Ausstandes für das Verstehen der Wahrheit des Seins im Dasein bedeutet. Derselben Überlegung folgt Rosenzweig in jenen letzten Seiten seiner Schrift, die er rückblickend als Übergang vom Buch zum »Nichtmehrbuch« bezeichnen wird. 198 Es ist das eine, formale Merkmale des Seins zu ermitteln, die es situationsunabhängig kennzeichnen, das andere, im Wissen um diese Bestimmungen situativ das Dasein zu denken. Daß weder Rosenzweig noch Heidegger hier erklären wollen, wie Theorie anwendbar sein kann, wird dadurch ersichtlich, daß beide diese Differenzierung in ihren Vorstellungen von einem neuen Denken überformen. Damit ist keine Nivellierung gemeint, sondern der Versuch, eine Bewußtheit für das im Dasein Mögliche zu schaffen. Die ihrer Ansicht nach nur zu Unrecht bestehende Alternative zwischen Erfahren und Denken wollen beide überbrücken, was in jenen Aussagen am deutlichsten wird, die der Erlösung gelten. Das Gewahren von Göttlichem sprechen sie an, Heidegger als Synonym für das Denken des Ausstehenden. Beiden ist es aber wichtig, ein Verflüchtigen des Denkens in der Konzentration auf das Äußerste zu vermeiden, weshalb sie die Bewegung des Denkens am Punkt seiner vermeintlichen Überschreitung der Erfahrung in einer entschlossenen Geste umkehren 199 und auf das Dasein selbst beziehen. Diese Umkehrung läßt sich auch im Denken der Zeitlichkeit wiederfinden. Ewigkeit wird zum Zeichen der Endlichkeit. Die Vorbereitung des Ausstehenden bricht dessen Zukünftigkeit und schafft die Stätte für seine Wirkung innerhalb der »Hier schließt das Buch. Denn was nun noch kommt, ist schon jenseits des Buchs, ›Tor‹ aus ihm heraus ins Nichtmehrbuch. […] Das Buch ist kein erreichtes Ziel, auch kein vorläufiges. Es muß selber verantwortet werden, statt daß es sich selbst trüge oder von andern seiner Art getragen würde. Diese Verantwortung geschieht im Alltag des Lebens.« Das neue Denken, S. 160. 199 Heideggers Begriff der »Kehre« wurde nicht berücksichtigt, da die vielfältigen Implikationen seiner Deutung den gegebenen Kontext zu stark ausgeweitet hätten. Gleichwohl wäre ein Vergleich mit Rosenzweigs Begriff der »Umkehrung« lohnend. 198

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Die Kontinuität der Auseinandersetzung

Gegenwart. Beide Denker suchen für diese Verortung eine geeignete Bildlichkeit. Rosenzweig findet sie im traditionellen Motiv der Schechina, Heidegger schafft das neue Bild des Zeit-Spiel-Raumes. Es wäre sicherlich übertrieben, den alleinigen Impuls für Heideggers Ausformung seines Begriffes vom Seyn in Rosenzweigs Stern der Erlösung sehen zu wollen. Doch kann die These verfolgt werden, daß die Konzeption dieses Begriffes durch Heideggers weiterführende Auseinandersetzung mit dieser Schrift gefördert wird. Es ergibt sich folgender Gang der Adaption: Heidegger entwirft in seinen Beiträgen zur Philosophie die drei inhaltlichen Motive des neuen Anfanges, des neuen Menschen und des anfänglichen Denkens in Korrespondenz zum Stern der Erlösung und formalisiert diese in den Realisierungsmetaphern von Anklang, Zuspiel, Sprung und Gründung. Indem er diese wiederum mit dem Ertrag seiner Formalisierung des Begriffes der Erlösung, dem Gedanken des Ausstandes, verbindet, ist er in der Lage, seine Konzeption des Seyns zu begründen. Denn dieses Emblem vereint in sich in der Konzeption des Ausstandes die ontologische Kennzeichnung des Seins, das immer auf seine Zukünftigkeit ausgerichtet ist, und die Reflexion seiner Denkbarkeit, expliziert in den genannten vier motivischen Variablen 200 aus den Beiträgen zur Philosophie. Der Stern der Erlösung

ERLÖSUNG TEIL III

Sein und Zeit

DIE GESTALT

Beiträge zur Philosophie

ABSCHNITT II Dasein und Zeitlichkeit AUSSTAND

Tor

Umkehrung der Zeit Neuer Adam Neues Denken

Neuer Anfang Neuer Mensch Anfängliches Denken

ANKLANG ZUSPIEL SPRUNG GRÜNDUNG DIE ZUKÜNFTIGEN DER LETZTE GOTT

Die beiden hierauf folgenden Abschnitte der Beiträge zur Philosophie, die Heidegger mit den Titeln »Die Zu-künftigen« und »Der letzte Gott« versieht, werden hier nicht berücksichtigt.

200

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SEYN

V. Nachgeordnete Begründung

V.1 Vor Sein und Zeit Ein möglicher Einwand gegen die Ansicht, Heidegger habe Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung gekannt und zur Grundlage seines Denkens gemacht, wie er es erstmals voll entfaltet in Sein und Zeit präsentiert, könnte unter Hinweis darauf erhoben werden, daß sich zentrale Motive dieses Denkens bereits in den Verlautbarungen vor 1927 finden lassen. Gadamer erinnert an die gespannte Aufmerksamkeit, mit der die Studenten das Wirken Heideggers verfolgten, in dem Bewußtsein, der Artikulation eines außergewöhnlichen Denkens beizuwohnen. 1 Nun sollte in komprimierter Form all das zum Ausdruck gebracht werden, was Heidegger bereits in seinen Vorlesungen thematisiert hatte. Tatsächlich hat Heidegger bereits in seinen frühesten Texten und Vorlesungen Gedanken formuliert, die für sein weiteres Wirken charakteristisch wurden. 2 Doch widerspricht diese Tatsache in keiner Weise der Annahme einer Beeinflussung durch Rosenzweigs Schrift. Wie ein Blick auf die Veröffentlichungen vor Sein und Zeit zeigt, gibt es tatsächlich eine unübersehbare motivische Zäsur im Jahr 1921, dem Erscheinungsjahr des Sterns der Erlösung. Heideggers Interesse gilt zunächst vor allem logischen und sprachphilosophischen Fragen, wie seine Dissertation von 1913 Die Lehre vom Urteil im Psychologismus und seine Habilitationsschrift von 1915 Die Kategorien – und Bedeutungslehre des Duns Scotus veranschaulichen. 3 Dennoch enthält die Dissertation schon drei Aspekte, denen im späteren Werk Bedeutung zukommen wird: die Frage nach dem Sinn, die Klärung des Fragens und die ThematisieGadamer, Erinnerungen an Heideggers Anfänge, in: Hermeneutik im Rückblick, S. 8 f. 2 Die umfassendste Darstellung der Philosophie vor Sein und Zeit findet sich in Kisiel, The genesis of Heidegger’s ›Being and Time‹. 3 In komplexer Weise untersucht Yfantis die Vorlesungen Heideggers vor Sein und Zeit, in: Die Auseinandersetzung des frühen Heidegger mit Aristoteles. 1

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Nachgeordnete Begründung

rung des Daseins. Daß diese hier bereits genannt werden, heißt freilich nicht, daß sie auch schon im Sinne der späteren Deutung reflektiert werden. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit Heinrich Maiers Psychologie des emotionalen Denkens referiert Heidegger dessen Frage nach dem »Sinn des ›Seins‹ im Urteil«, 4 plädiert jedoch sogleich für eine klare Trennung der Urteilsfunktion und möglicher psychischer Begleitfaktoren, 5 was in die Feststellung mündet: »Die Problematik des Urteils liegt nicht im Psychischen.« 6 Die seiner Ansicht nach unzulässige Verbindung zweier differenter Problemkontexte wird auch in der unterschiedlichen Fragestellung sichtbar, in der sich Logik und Psychologie auf ihren – so wie es Heidegger bewertet – je eigenen Gegenstand beziehen. 7 Eine Hinführung zu der expliziten Thematisierung der Natur und Bedingtheit des Fragens in den ersten Seiten von Sein und Zeit bietet sich hier zwar durchaus an. Doch wenn Heidegger schließlich bereits in seiner Dissertation nach dem Dasein fragt, dann gilt seine Aufmerksamkeit zu diesem Zeitpunkt lediglich der Weise, in der dieses im Urteil bedacht werden kann. 8 Bislang sieht es eher so aus, als müsse Heideggers Bemühen, die Funktionsweise der Logik klar zu umgrenzen, ihn von einer Auseinandersetzung mit Rosenzweigs Denken grundsätzlich abgehalten haben. Denn dieses ist zu stark vom Sprachdenken der Kabbalah geprägt, als daß es sich auf den ersten Blick einer formal-logischen Analyse unterziehen ließe. Fakt ist allerdings auch, daß Heidegger selbst diese Perspektive nicht dauerhaft beibehalten wird. Schon in seiner Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? am 24. Juli 1929 in der Universität Freiburg erklärt er: »Wenn so die Macht des Verstandes im Felde der Fragen nach dem Nichts und dem Sein gebrochen wird, dann entscheidet sich damit auch das Schicksal der Herrschaft Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, II, I, S. 35. »Sobald man erkannt hat, daß der Gegenstand der Logik etwas völlig Apsychologisches darstellt, wird auch evident, daß die Frage nach dem elementaren Urteil der Logik, und die psychologische Frage nach der primitiven Urteilsfähigkeit radikal auseinandergehen. […] wohl dagegen muß – […] die Analyse der Logik gleichsam durch das Psychologische hindurch.« Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, II, II, S. 52 ff. 6 Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, V, I, S. 106. 7 »Der Psychologismus ist auch eine Fragestellung, und zwar eine solche im Bereich der Logik unter Verkennung der Eigenwirklichkeit des logischen Gegenstandes.« Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, V, I, S. 102 f. 8 Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, V, II, S. 111. 4 5

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Vor Sein und Zeit

der ›Logik‹ innerhalb der Philosophie. Die Idee der ›Logik‹ selbst löst sich auf im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens.« 9 In seinem Brief Über den Humanismus von 1946 verwendet Heidegger mehrfach die Formulierung, die bereits Rosenzweig gebrauchte: »Vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört.« 10 Und in dem 1950 gehaltenen Vortrag Die Sprache heißt es: »Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören.« 11 Wird die Reihe der Arbeiten vor Sein und Zeit chronologisch betrachtet, ist die Habilitationsschrift als nächstes zu nennen. Eine Berücksichtigung ist im vorliegenden Kontext jedoch nicht lohnend, da sie eine intensive Auseinandersetzung mit der Kategorienlehre des Duns Scotus darstellt. Damit bestätigt sie zwar den Eindruck thematischer Ausrichtung in Heideggers frühem Denken, bietet darüber hinaus jedoch kaum nennenswerte Hinweise für eine Rekonstruktion seines eigenen philosophischen Ansatzes, die hier zu berücksichtigen wären. In den ersten Vorlesungen, die Heidegger hält, erweitert sich das Themenspektrum. So spricht er von dem »Sprung in die Welt«, 12 jenem »Umwelterlebnis«, 13 das sich das Ich in der Haltung des Fragens zu erschließen sucht. 14 In dem ausdrücklichen Interesse an dem Akt des Fragens nach dem Sein und der Form, in der es zu aktualisieren sei, kann gewiß eine der gedanklichen Konstanten gesehen werden, die Heideggers Werke von frühester Zeit an durchziehen. Ging es ihm bisher aber eher um die Klärung der Art und Weise, in der formal korrekt über Seiendes geurteilt werden kann, verschiebt sich seit den 20er Jahren der Fokus auf die Erfragung der Bezugsweise, in der Welt Objekt menschlichen Bewußtseins wird, eine Thematik, die auch durch Heideggers frühe Prägung durch das Denken Edmund Husserls bedingt sein wird. 15 Im WS 1919/20 kommentiert HeidegWas ist Metaphysik?, S. 37. Über den Humanismus, S. 21 f. 11 Die Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 33. 12 Zur Bestimmung der Philosophie, § 13, S. 63. 13 Zur Bestimmung der Philosophie, § 14, S. 70. Nach Yfantis bereitet die Vorlesung aus dem Kriegsnotsemester 1919 die Umweltanalyse von Sein und Zeit vor. In: Die Auseinandersetzung des frühen Heidegger mit Aristoteles, S. 65. 14 Zur Bestimmung der Philosophie, § 13, S. 69. Gander macht in Phänomenologie der Lebenswelt, S. 139 darauf aufmerksam, daß Heidegger speziell in diesem Kontext seine Kritik an Husserls Konzeption der »Dingwahrnehmung« übt. 15 Den Differenzierungsansätzen Heideggers geht Bernet in Heidegger und Husserl 9

10

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Nachgeordnete Begründung

ger in seiner Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie die Formen der Begegnungsmodalitäten von Welt in den Formen etwa von Selbst- und Mitwelt. Damit tritt nun erstmals explizit die Bedeutung und Funktion des Fragens nach dem Selbst in den Kontext der Untersuchungen. Zusammen mit dem Begriff der Welt sind so zwei wichtige Inhalte des theoretischen Interesses bezeichnet. Im SS 1920 16 treten in den Ausführungen zur Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks die Aspekte der »Sinnzusammenhänge« und der »Bezugscharakteristik« hinzu. Der Umstand, daß es sich hierbei nicht um ethisch inspirierte Überlegungen handelt, sondern um Klärungen der Begegnisweisen von Erscheinungen für das Bewußtsein, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Heideggers Denken damit seine Ausrichtung auf den relationalen Charakter des Seins erlangt. Eine stärkere Orientierung an den faktisch-existentiellen Dimensionen des Daseins kann in der Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion aus dem WS 1920/21 beobachtet werden. Denn hier stellt Heidegger Welt-Begegnung nicht mehr nur als Funktion des Bewußtseins, sondern als Geschehnis der Erfahrung dar. Hierin gründet Philosophie, so wie sie seiner Ansicht nach verstanden werden sollte – gerade nicht als Wissenschaft. 17 Charakteristisch für die Bestimmung von Philosophie ist der Gedanke der Lebenserfahrung, in der der Mensch nicht nur seine Relation zur Welt, sondern auch zu sich selbst als Erfahrendem vergegenwärtigt. 18 Bei der Betrachtung dieser Vorlesung ist zu berücksichtigen, daß sie lediglich in Form von drei Mitschriften erhalten ist. So begleitet die Lektüre nach. So wende dieser sich gegen Husserls Konzept der Egologie, da sie ein ontologisches Verständnis des Mitseins nicht zulasse, S. 54. Faktizität setze Heidegger an Stelle des Transzendentalen, S. 57. 16 Yfantis, S. 69 betont, die Vorlesung aus dem Sommersemester 1920 »bekundet die ersten unmißverständlichen Anzeichen einer konkreten Einarbeitung der existentiellen Problematik«. 17 »Wir vertreten die These: Wissenschaft ist prinzipiell verschieden von Philosophie.« Einleitung in die Phänomenologie der Religion, zitiert nach: Phänomenologie des religiösen Lebens, § 3, S. 9. In dieser Vorlesung taucht laut Yfantis das Motiv der Zeitlichkeit zum ersten Mal auf, S. 89. 18 »Ich erfahre mich selbst im faktischen Leben weder als Erlebniszusammenhang, noch als Konglomerat von Akten und Vorgängen, nicht einmal als irgendein Ichobjekt in einem abgegrenzten Sinn, sondern in dem, was ich leiste, leide, was mir begegnet, in meinen Zuständen der Depression und Gehobenheit u. ä. Ich selbst erfahre nicht einmal mein Ich an Abgesetztheit, sondern bin dabei immer der Umwelt verhaftet.« Phänomenologie des religiösen Lebens, § 3, S. 13.

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Vor Sein und Zeit

die Unsicherheit, inwieweit hier tatsächlich Heideggers Sprache authentisch festgehalten wurde. Zumindest kann aber unter Vorbehalt davon ausgegangen werden, daß die Themenwahl sich auf diese Weise rekonstruieren läßt. Diese notwendige Einschränkung interpretativer Verbindlichkeit ist deshalb umso bedauerlicher, als gerade in dieser Vorlesung eine markante Verschiebung innerhalb Heideggers thematischem Portfolio zu erfolgen scheint. Die formal-logische Akzentuierung seiner ersten Arbeiten tritt zugunsten einer phänomenologischen Sicht zurück. Nun gilt es nicht zu fragen, wie Welt Inhalt des Bewußtseins wird, sondern wer derjenige ist, dessen Bewußtsein von ihr affiziert wird – nicht als Inhalt der Erkenntnis, sondern als Gegenstand der Erfahrung. Die Tatsache, daß der Mensch auch im Augenblick der Selbsterfahrung der Umwelt »verhaftet« ist, kündigt die komplexen Ausführungen zur Gestimmtheit als Befindlichkeit in Sein und Zeit an. Wenn die Annahme zutrifft, daß Heidegger Rosenzweigs Stern der Erlösung gekannt und als kompositorische Vorlage für Sein und Zeit genutzt hat, wäre es möglich, daß sich ab 1921 diese Lektüre auch in seinen Vorlesungen niederschlägt. Im Sommer 1921 liest er zu Augustinus und der Neuplatonismus. Die dort zu verfolgende ausschließliche Konzentration auf das augustinische Werk läßt noch keine auffällige Motiverweiterung erkennen. Da Rosenzweigs Schrift im Frühjahr dieses Jahres erschien, wäre eine Parallelität zu diesem Zeitpunkt eher unwahrscheinlich. Festzuhalten bleibt aber dessen ungeachtet die Hinwendung zur phänomenologischen Betrachtung von Religion. Heidegger hielt seine Vorlesungen als Privatdozent in Freiburg, wo Rosenzweigs Promotion 1912 stattgefunden hatte. In der Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 zeigt sich dann aber tatsächlich eine bemerkenswerte Ausweitung des terminologischen und inhaltlichen Horizontes, die auch als die endgültige Hinwendung zu ontologischem Denken betrachtet werden kann. In seiner Dissertation hatte Heidegger vom Dasein als Bestandteil der Urteilsfunktion gesprochen. Hier erfolgt nun der Übergang zu seiner Verwendung als ontologischem Begriff. »In den fixierten verbalen und nominalen Bedeutungen des Ausdrucks ›Leben‹ schlägt nun im Umkreis der angezeigten Ausdrucksrichtungen ein eigentümlich durchgängiger Sinn an: Leben = Dasein, in und durch Leben ›Sein‹.« 19 Dasein als Bezogen-Sein legt in 19

Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, III,1,A, S. 85.

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Nachgeordnete Begründung

der Perspektive, in der Heidegger Aristoteles kommentiert, auch die entscheidende Kennzeichnung jener Verhaltungsweise offen, in der diese Verweisungsstruktur sichtbar wird – Sorge. 20 Weitere für Sein und Zeit, aber auch für den Stern der Erlösung kennzeichnende Begriffe werden von nun an kontinuierlich präsentiert. Im Sommer 1923 erfolgt die Fokussierung des Aspektes der Faktizität des »da« im Dasein, das nun als »jeweilig dieses Dasein« bezeichnet wird. 21 In dem Vortrag Der Begriff der Zeit im Jahr 1924 konkretisiert Heidegger die Ausweisung des ›da‹, die das Dasein als solches kennzeichnet, zur Bestimmung des In-Seins und formalisiert damit die ontische Gegebenheit von Seiendem im Modus der Faktizität zur ontologischen Signatur seines relationalen Charakters, 22 der sich im Phänomen des Besorgens erschließt. 23 Mit der Einführung der Begriffe von Unheimlichkeit und Angst, Tod und Bevorstehen liegen ab jetzt ebenfalls jene existentiellen Motivkomplexe vor, die er in Sein und Zeit in kompositorischer Komplexität darstellen wird. In der Vorlesung im SS 1924, die er zu dem Thema Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie hält, bezieht Heidegger zentrale Aspekte seines eigenen Denkens auf Begriffe und theoretische Vorgaben des Aristoteles. Da auch diese Vorlesung bedauerlicherweise nur aus Nachschriften rekonstruiert werden kann, ist bezüglich der tatsächlichen Formulierungen Heideggers Skepsis geboten. Die inhaltlichen Bezüge seiner Ausführungen zu einzelnen Aspekten des aristotelischen Denkens können jedoch, wiederum unter Vorbehalt, einer Deutung zugrunde gelegt werden. So bezieht er seine Interpretation des Todes auf die Vorstellung des »telos«, des Endes, das die Weise des Seienden, zu sein, prägt. Worin der bestimmende Einfluß der finalen Zentriertheit des Daseins in aristotelischer Sicht besteht, läßt Heidegger eher unkommentiert.

20 »Leben, in verbalem Sinn genommen, ist nach seinem Bezugssinn zu interpretieren als Sorgen […].« Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, III,1,B,a), S. 90. Der Vorlesungstext entspricht Heideggers Manuskript. 21 »Faktizität ist die Bezeichnung für den Seinscharakter ›unseres‹ ›eigenen‹ Daseins. Genauer bedeutet der Ausdruck: jeweilig dieses Dasein […], sofern es seinsmäßig in seinem Seinscharakter ›da‹ ist.« Ontologie, § 1, S. 7. 22 »Dasein besagt: in einer Welt sein. Die Welt ist das worin solchen Seins. Das ›In=der=Welt=sein‹ hat den Charakter des Besorgens.« Der Begriff der Zeit, S. 19 f. 23 »Vielmehr besagt dieser Seinscharakter des ›Inseins‹ : die Welt in einer jeweilig umgrenzten Erschlossenheit halten. In=der=Welt=sein ist als solches erschließen.« Der Begriff der Zeit, S. 31.

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Vor Sein und Zeit

Zwei Themen, deren Bearbeitung sowohl den Stern der Erlösung als auch Sein und Zeit in maßgeblicher Weise charakterisieren, stellt Heidegger als Auslegungen einzelner Passagen der Nikomachischen Ethik vor. Zunächst leitet er eine Bestimmung des menschlichen Seins als Miteinandersein aus der Möglichkeit des Sprechens ab. 24 Sprechen und Hören erscheinen hier noch in der eher funktionalen Form sich ausdrückender Vermittlung. Dennoch wäre zu fragen, ob Heidegger dieser Fundierung des Miteinanderseins nicht eine stärkere Bedeutung zuspricht als Aristoteles. Das zweite für den vorliegenden Kontext entscheidende Thema, das in dieser Vorlesung berücksichtigt wird, ist dasjenige des Ortes. Wie gezeigt werden konnte, ist Heideggers Formulierung des Zeit-Spiel-Raumes in seinen späteren Werken von zentraler Bedeutung. In der Betrachtung des OrtsBegriffes kann eine nicht unwichtige Vorbereitung hierfür gesehen werden. Natur, so gibt die Nachschrift zu verstehen, ist das »Schonimmer-Dasein der Welt«. 25 Als Orientierungszentrum menschlichen Sorgens wird die Erde genannt, 26 als positive Bestimmung des Seins der Ort. 27 Die Vorlesung aus dem SS 1925 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes läßt eine größere Deutungssicherheit zu, da sie als Manuskript Heideggers vorliegt. Erneut wird hier die Thematik der Rede aufgegriffen, nun aber in modifizierter Weise. Denn es geht Heidegger nicht mehr nur darum, Sprache als Kennzeichen menschlichen Seins zu benennen, sondern darauf hinzuweisen, dieses Sein zur Möglichkeit seines Selbst-Seins aufzurufen. Neben die kommunikative Funktion des etwas-Mitteilens tritt jetzt die imperativische Dimension der Aufforderung zum eigentlich Gemäßen. Die Mitteilung der Rede orientiert sich damit nicht mehr am Faktischen, sondern evoziert das Mögliche – in der Form der Aussetzung mitteilender Funktionalität. Schweigen im Miteinandersein kann das Dasein »zu seinem eigensten Sein aufrufen und zurückholen«. 28 Damit erweitert Heidegger die analysierende Ebene seiner Überlegungen, die Sein als solchem gilt, um die normative Dimension, die aufzeigt, was Sein zu werden vermag und werden sollte. Dasein wird nun zu einem Sein

24 25 26 27 28

Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, I,III, § 13, S. 104. Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, I,III, § 22, S. 266. Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, I,III, § 22, S. 266. Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, I,III, § 22, S. 267. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, I,IV, § 28, S. 369.

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Nachgeordnete Begründung

›um zu‹, einem Sein, das sich selbst im defizitären Modus des ›nochnicht‹ reflektiert und versteht, diesen in der Vorstellung des ihm Möglichen zu transzendieren. Kein Wunder, daß Heidegger in diesem Kontext den Begriff der Sorge erneut thematisiert und ihn nun in seiner zeitlichen Bedeutung als Sich-vorweg-sein erfaßt. 29 Bereits an dieser Stelle verweist Heidegger, wie auch in Sein und Zeit, auf die Cura-Fabel und versieht ihre Nennung mit einer interessanten Anmerkung. Bereits vor sieben Jahren sei er auf diesen Text anläßlich seiner Beschäftigung mit Augustinus gestoßen, auch wenn diesem der Gedanke der Sorge fremd sei. 30 Es mag sich um eine Bemerkung ohne tiefere Bedeutung handeln; oder um Heideggers Bestreben, diesen Quellenfund, der in Sein und Zeit immerhin exakt an der Parallelstelle zum Hohelied Salomos im Stern der Erlösung angeführt wird, eindeutig vor dessen Erscheinen zu datieren. Sorge als Ausrichtung auf ein Zukünftiges setzt in jedem Fall ein Wissen um dessen Möglichkeit voraus. Dieses betrifft nicht nur das Besorgen im umweltlichen Kontext, sondern vor allem das Sorgen um ein Selbst-sein-können, das sich in der Wahl ausdrückt, durch die ein Mensch die Möglichkeit seines Selbst-seins fixiert. In diesem Zusammenhang verwendet Heidegger den später als Ausdruck ideologischer Verzerrung unter Verdacht geratenen Begriff der Entschlossenheit. 31 Wahl und Entschlossenheit, Aufruf zum eigenen Sein – spätestens jetzt nutzt Heidegger in großem Umfang das Repertoire existenzphilosophischer Terminologie. So verwundert es nicht, daß zu diesem jetzt auch die Gedanken um Schuld und Gewissen hinzugefügt werden. »Die genuine entsprechende Seinsart des Daseins zu seiner äußersten und eigensten Möglichkeit […] ist das gekennzeichnet Vorlaufen des Gewissenhabenwollens, was zugleich besagt, das Wählen des wesenhaften Schuldigseins des Daseins, sofern es ist.« 32 Selbst eine extrem knappe chronologische Auflistung der zentralen Motive, denen sich Heidegger zuwendet, macht auf alle Fälle eines deutlich: Ab 1921 erfolgt eine markante Akzentuierung bisher unberücksichtigter Themen. Diese Tatsache muß freilich nicht auf den Einfluß Rosenzweigs schließen lassen, da es sich auch um eine 29 30 31 32

Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, I,IV, § 31, S. 412. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, I,IV, § 31, S. 418. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, II, § 35, S. 440. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, II, § 36, S. 441.

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Erfahrende Philosophie

Entwicklung in Heideggers eigenem Denken handeln kann, die anderen Gründen folgt. Eine zunehmende Distanzierung von Husserls Phänomenologie wäre hier zu nennen, die Heidegger selbst in einem Brief an Karl Jaspers 1926 artikuliert. 33 Doch spricht zunächst auch nichts dagegen, eine Bereicherung von Heideggers philosophischem Themenspektrum durch eine Lektüre des Sterns der Erlösung anzunehmen. Denn selbst seine gedankliche Neu-Orientierung könnte Folge einer gänzlich anderen Bewertung von Philosophie sein, die Rosenzweig in seiner Schrift vornimmt. »Wogegen ich, freilich nur indirekt, schreibe, ist die Scheinphilosophie, wofür ich kämpfe, ist das Verständnis dessen, was wir in der Philosophie als das zentral Mögliche nur wiederholen können – aber auch müssen.« 34 Unerklärt bleibt in dieser Feststellung, was er genau unter »Scheinphilosophie« versteht und was unter dem »zentral Möglichen«. Doch es zeichnet sich hier eine neue Ausrichtung des eigenen Denkens ab, aus einer Unzufriedenheit mit dem bestehenden Bild von Philosophie. Dabei beruft sich Heideggers Denken auf etwas Grundlegendes, das es erneut zum Ausdruck zu bringen gilt.

V.2 Erfahrende Philosophie Immer wieder mag es verwundern, daß sich Heidegger auf ein Werk beziehen konnte, das hinsichtlich seiner religiösen Fundierung und seines expressiven Stils mit seinem eigenen Denken doch zunächst kaum Gemeinsamkeiten aufzuweisen scheint. Um eine zusätzliche Erklärung anzubieten, sei an dieser Stelle auf eine außergewöhnliche Ähnlichkeit der Konzeptionen von Philosophie hingewiesen. Sowohl Rosenzweig als auch Heidegger fragen explizit nach dem Selbstverständnis von Philosophie und kommen zu der übereinstimmenden Auffassung, daß sie deutlich von Wissenschaft zu unterscheiden ist. Diese Divergenz ergibt sich aus dem Grund, aus dem Philosophie entsteht, aber auch aus ihrer spezifischen Weise der Artikulation. Denn darauf macht besonders Heidegger aufmerksam: Das Verhältnis philosophischer Aussagen zu ihrem Gegenstand darf niemals nur benen»Wenn die Abhandlung ›gegen‹ jemanden geschrieben ist, dann gegen Husserl, der das auch sofort sah, aber sich von Anfang an zum Positiven hielt.« Brief Heidegger an Jaspers vom 26. 12. 1926, in: Briefwechsel Martin Heidegger – Karl Jaspers, 39, S. 71. 34 Briefwechsel Martin Heidegger – Karl Jaspers, 39, S. 71. 33

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nend, sondern es muß erhaltend, offen-haltend sein. Daraus folgt für ihn, daß »das Verstehen philosophischer Begriffe ein anderes ist als das der wissenschaftlichen Begriffe.« 35 In der Einleitung seiner Vorlesung aus dem WS 1920/21 zur Einleitung in die Phänomenologie der Religion gibt Heidegger in erstaunlicher Deutlichkeit Einblick in seine Sicht von Philosophie, die er im Anspruch präsentiert, Versäumnisse in ihrer tradierten Definition zu korrigieren. »Das Problem des Selbstverständnisses der Philosophie wurde immer zu leicht genommen. Faßt man das Problem radikal, so findet man, daß die Philosophie der faktischen Lebenserfahrung entspringt.« 36 Zur selben Zeit kommentiert Heidegger in einem Brief an Karl Löwith sein eigenes Denken: »Ich mache letztlich, was ich muß und für nötig halte, und mache es so, wie ich es kann, ich frisiere meine philosophische Arbeit nicht auf Kulturaufgaben für ein ›allgemeines Heute‹. […] Ich arbeite konkret faktisch an dem ›ich bin‹ – aus meiner geistigen, überhaupt faktischen Herkunft – Milieu – Lebenszusammenhängen, aus dem, was mir von da zugänglich ist als lebendige Erfahrung, wo ich lebe. Diese Faktizität ist als existenzielle kein bloßes, lebendiges Dasein; es liegt das mit in der Existenz; d. h. aber, ich lebe es – das ›ich muß‹, von dem man nicht redet.« 37

Ein seltenes Bekenntnis zu philosophischer Authentizität wird hier sichtbar. Denn es geht nicht mehr nur darum, Erkenntnis zu begründen, sondern Auskunft über ein Bedürfnis zu geben, dem Erkennen folgt. Daß dieses durchaus individuell zu begreifen ist, verschleiert Heidegger keineswegs. Gerade als Individuum ist der Denkende selbst faktisch existent und kann daher diese eigene Weise, faktischzu-sein, niemals aus seiner Erfahrung der Lebenswirklichkeit ausklammern. Der philosophische Glaube an Objektivität als Bedingung und Form von Wahrheit wird in Anbetracht dieser Überzeugung fragwürdig. 38 Der Anspruch, authentisch zu denken, differiert klar Einleitung in die Phänomenologie der Religion, zitiert nach: Phänomenologie des religiösen Lebens, § 1, S. 4. Auch an dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, daß das Vorlesungsmanuskript nicht mehr vorliegt, so daß auf Mitschriften zurückgegriffen werden muß. 36 Phänomenologie des religiösen Lebens, § 2, S. 8. 37 Brief vom 19. 8. 1921, in: Heidegger-Löwith Briefwechsel 1919–1973, S. 53. 38 »Die Auffassung, als seien Philosophie und Wissenschaft objektive Sinngebilde, abgelöste Sätze und Satzzusammenhänge, muß beseitigt werden. […] Wir vertreten die These: Wissenschaft ist prinzipiell verschieden von Philosophie.« Phänomenologie des religiösen Lebens, § 3, S. 9. 35

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von der Forderung nach einer Erkenntnis-begleitenden Selbstreflexion des Subjekts. Denn diese bewirkt nach der Deutung Heideggers und Rosenzweigs bereits eine Distanzierung von Erkennendem und Erkanntem, weil selbst die Vorstellung des erkennenden Subjekts dem Primat der Objektivierung des Erkannten folgt. 39 Wenn Heidegger und Rosenzweig in bemerkenswerter Einmütigkeit die Fundierung des Philosophierens, das eben nicht als Wissenschaft ›Philosophie‹ verstanden werden soll, proklamieren, geraten sowohl dessen Inhalt als auch dessen Medium unter Klärungsbedarf. Heidegger stellt sich dieser doppelten Aufgabe vor allem in der Einleitung seiner Vorlesung zum religiösen Leben. »Die faktische Lebenserfahrung ist etwas ganz Eigentümliches; es wird in ihr der Weg zur Philosophie ermöglicht, in ihr vollzieht sich auch die Umwendung, die zur Philosophie führt. […] Lebenserfahrung ist mehr als bloße kenntnisnehmende Erfahrung, sie bedeutet die ganze aktive und passive Stellung des Menschen zu Welt: […].« 40

Das Erfahrene, so betont er ausdrücklich, soll nicht mehr als »Objekt«, sondern als »Welt« bezeichnet werden. Erfahrung als Weise der Begegnung mit der Welt akzentuiert deren faktische Gegebenheit im Sinne Subjekt-unabhängigen Bestehens. Dieses schließt, um es noch einmal zu betonen, das erfahrende Individuum ein, das sich dadurch selbst Erfahrbares werden kann. Fast bruchlos scheint sich Franz Rosenzweigs Äußerung aus dem kürzeren Text Das neue Denken anzuschließen, den er 1925 in der Zeitschrift Der Morgen veröffentlichte: »Noch immer werden unermüdet die Möglichkeiten der ›Zurückführung‹ eines jeweils einen auf sein jeweils andres durchpermutiert, […]. Insbesondere natürlich der Lieblingsgedanke der Neuzeit, die Zurückführung auf ›das‹ Ich. Diese Zurückführung oder ›Begründung‹ der Welt- und Gotteserfahrung auf das Ich, das diese Erfahrungen macht, ist dem wissenschaftlichen Denken noch heute so selbstverständlich, daß jemand, der an dieses Dogma nicht glaubt, […] einfach nicht ernst genommen wird.« Rosenzweig, Das neue Denken, S. 143. 40 Phänomenologie des religiösen Lebens, § 3, S. 11. Nelson in Die formale Anzeige der Faktizität als Frage der Logik schreibt: »In Heideggers frühesten Vorlesungen finden wir den Versuch, eine Logik des Einzelnen zu entfalten, die er kurz danach als eine hermeneutische Logik des faktischen Lebens, d. h. als formale Anzeige der Faktizität entfalten sollte. Dieses Projekt eröffnet den Zugang zur Erfahrung des Kategorischen im Einzelnen.« S. 31 f. Fischer in Religiöse Erfahrung in der Phänomenologie des frühen Heidegger, S. 210 merkt an, daß Heidegger »bewusst im Dunkeln« ließ, was er mit der formalen Anzeige »genau meinte«. 39

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»Denn die Erfahrung weiß ja nichts von Gegenständen; sie erinnert sich, sie erlebt, sie hofft und fürchtet. Allenfalls den Inhalt der Erinnerung könnte man als Gegenstand verstehen; das wäre dann eben ein Verstehen, und nicht der Inhalt selbst. […] Die Erfahrung erfährt also nicht die Dinge, die beim Denken über die Erfahrung allerdings als letzte Tatsächlichkeiten sichtbar werden; aber was sie erfährt, erfährt sie an diesen Tatsächlichkeiten.« 41

Trotz der unterschiedlichen Diktion, die sicherlich auch der Adressatenschaft der jeweiligen Verlautbarungen geschuldet ist, steht beiden Denkern dieselbe Problematik vor Augen. Beide wollen die Unmittelbarkeit des Welt-Erlebens auf dem Wege der Erfahrung zugänglich werden lassen. Und beide sind sich der Schwierigkeit bewußt, wie diese über den Augenblick der Erfahrung hinweg in möglichst großer Unverfälschtheit bewahrt werden kann. Das Erinnern bedeutet bereits eine Trübung, das Reflektieren in noch weitaus stärkerem Maße, da das ursprünglich Erfahrung Initiierende bereits gänzlich in seiner Repräsentationsform aufgegangen ist. Rosenzweig versucht, diese Entfremdung durch die Unterscheidung der Begriffe vom »Ding« und von den »Tatsächlichkeiten« zu veranschaulichen. Im Stern der Erlösung hatte sich die Betonung der Tatsachenfülle der Welt im Kontext seiner Aussagen zur Schöpfung mit dem Begriff der »Faktizität« verbunden. Wenn Heidegger von der faktischen Lebenserfahrung spricht, stellt sich auch für ihn die Frage, wie deren Unbedingtheit möglichst lange noch unter dem Eingehen in die formale Struktur der Denkbarkeit konserviert werden kann. Konsequenterweise bedeutet für beide Denker die Überzeugung, eine gänzlich neue Philosophie zu begründen, auch eine neue Bestimmung ihrer formalen Gestaltung. Rosenzweig, der seinen Ansatz als »des Denkens vollkommene Erneuerung« 42 bezeichnet, wendet sich gegen den Anspruch der tradierten Philosophie, mit der Frage, was etwas »ist«, immer schon dessen vermeintlich unabänderliches Wesen festzusetzen. Dagegen betont er: »Die Erfahrung entdeckt im Menschen, so tief sie eindringen mag, immer wieder nur Menschliches, […]. Finis philosophiae? Aber ich glaube nicht, daß es so schlimm kommt. Vielmehr kann an diesem Punkt, wo die Philosophie mit ihrem Denken allerdings an ihrem Ende wäre, die erfahrende Philosophie beginnen.« 43 41 42 43

Das neue Denken, S. 147. Das neue Denken, S. 140. Das neue Denken, S. 144.

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In dieser gewiß vielversprechenden Aussicht verbirgt sich jedoch eine nicht unerhebliche Schwierigkeit. Daß einem Menschen die Welt, in der er existiert, im Erfahren zugänglich wird, leuchtet ein. Doch wie kann Philosophie Erfahrungen handhaben? Nur dadurch, so zeigt Rosenzweig, daß zwischen der Erkenntnis, die dem vermeintlichen Wesen eines Objektes gilt, und einem tatsächlichen Erlebnis, das Erleben der Tatsächlichkeiten in der Welt ist, unterschieden wird. Diese lassen sich keinesfalls einem allgemeinen Begriff subsumieren, sondern nur in immer neuen Ansätzen, in immer neuen Sätzen formulieren. Damit erweist sich Erfahrung als Welt-Begegnung unter dem Begriff der Zeitlichkeit, da sie von der Veränderbarkeit des Faktischen geprägt wird, die es ausdrücklich zu respektieren gilt. Ist das Erfahrene zeitlich bedingt, so muß nach Rosenzweigs Überzeugung Gleiches auch für die Mitteilung des Erfahrenen in der Philosophie zutreffen, woraus er folgert: »An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens« 44, genau gesagt des Erzählens. 45 Bei allem Wunsch, ein dynamisches Philosophieren zu ermöglichen, das dem Bedürfnis des Menschen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entspricht, stellt sich doch die Frage, ob Rosenzweig nicht einen allzu simplen Weg einschlägt. Sprechen und Erzählen als Akte des Dialogischen zu bezeichnen, als Ermöglichungselemente interpersonellen Geschehens, überzeugt sofort. Doch bedeutet das zugleich, daß hier von einer »Methode« gesprochen werden kann? Oder müßte statt dessen anerkannt werden, daß Rosenzweig in weitaus entschlossenerer Weise mit der tradierten Auffassung von Philosophie bricht als Martin Heidegger, der doch durch den Verweisungsakt der »formalen Anzeige« die Möglichkeit von Philosophie, Aussagen über die faktische Lebenserfahrung treffen zu können, aufrechterhalten will? Ist die Form der Erzählung, von der Rosenzweig selbst sagt, daß er sie im zweiten Buch seines Sterns der Erlösung angewendet hat, noch geeignet, Strukturen des Faktischen offenzulegen, die letztDas neue Denken, S. 151. »Eine erzählende Philosophie hat Schelling in der Vorrede seines genialen Fragments Die Weltalter geweissagt. […] Die Zeit nämlich wird ihm [dem Erzähler] ganz wirklich. Nicht in ihr geschieht, was geschieht, sondern sie, sie selber geschieht. […] In dieser Methode konzentriert sich das, was von dem Buch an Erneuerung des Denkens ausgehen kann.« Das neue Denken, S. 148 und 152. Als Vordenker und Weggefährten bezeichnet Rosenzweig anschließend Ludwig Feuerbach, Hermann Cohen, Eugen Rosenstock-Huessy, Hans Ehrenberg und Victor von Weizsäcker.

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lich dessen Verstehen ermöglichen? Hält Rosenzweig selbst die Methode der Erzählung konsequent durch, wenn er von Schöpfung und Offenbarung spricht und dabei deren Bedeutung über bloß situative Gültigkeit hebt? Und was heißt es, zu erzählen? Die knappen Erläuterungen, die Rosenzweig formuliert, kreisen gerade um das Situative dieser Geschehnisform der Mitteilung: »Wenn etwa das alte [Denken] sich das Problem stellte, ob Gott transzendent oder immanent sei, so versucht das neue zu sagen, wie und wann er aus dem fernen zum nahen Gott wird […].« 46 Die Auskunft über das »wie und wann« dieser Ermöglichung, Göttliches zu erfassen, basiert auf Erfahrung als der individuell erlebten und in der Zeit erfolgenden Begegnung, die mit dem Begriff des Gewahrens bezeichnet werden kann. Denn es handelt sich bei der Art der Erfahrungen, die Rosenzweig dem neuen Denken zugrunde legt, immer um spezifische Erschließungsmomente, in denen etwas als für das eigene Begreifen relevant erkannt wird. Rosenzweig gibt sehr wenige Hinweise, wie dieses sich realisiert. Soviel läßt sich sagen: Es ist immer Veränderung, die die virtuelle Erlebnisgrenze des ›bishernoch-nicht‹ transzendiert. Für ihn ist der Gedanke dabei von immenser Bedeutung, daß dieses Überschreiten immer wieder von neuem geschieht, da er letztlich seiner Vorstellung immerwährender Schöpfung korrespondiert. Als immer von neuem sich Ereignendes müßte sich Erfahrung konsequent einer theoretischen Fixierung im Sinne allgemeingültiger Definition widersetzen. Und dennoch ist Versprachlichung seiner Auffassung nach notwendig, da sie selbst Bestandteil der Prozesshaftigkeit von Erfahrung ist. Doch gilt das gleiche auch für die Frage nach der Möglichkeit, diese so weit zu formalisieren, daß sie Inhalt philosophischer Aussagen werden kann? An diesem Punkt kann Rosenzweig auf eine Gewißheit des Glaubens zurückgreifen, die Heidegger nicht in vergleichbarer Weise zugänglich ist. Im Stern der Erlösung findet sich der Hinweis, daß die menschliche Sprache eine Übertragung ursprünglicher Sprache ist, wie sie dem Menschen an sich verschlossen bleibt und sich nur in ihrer Über-Setzung erschließt, in jenem Moment also, in dem das Sein als pure Möglichkeit in Gott Faktizität erlangt. Sprache ist Teil dieser geschaffenen Tatsächlichkeit, die sich aber erst zur wirklichen Gestaltung der Welt formieren muß. So betrachtet wird Sprache selbst Geschehen, wie es Rosenzweig in Das neue Denken mit dem 46

Das neue Denken, S. 148.

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Verweis auf das Dialogische im Moment des Sprechens betont. Und in verlängerter Perspektive kann auch das Sprechen der Philosophie, wenn sie sich als erzählend geriert, nicht nur als theoretisches Verhandeln über etwas verstanden werden, sondern selbst als Teil des Welt-bildenden Geschehens. Philosophie wird damit von dem Anspruch, Wissenschaft sein zu sollen, die Wirklichkeit analysiert und in Sätzen allgemeingültiger Verbindlichkeit fixiert, teilweise befreit. Doch was tritt an die Stelle dieser jahrhundertelang tradierten Aufgabe? Mit seinem Postulat, erfahrende Philosophie selbst zu einem Gegenstand der Erfahrung werden zu lassen, wird Rosenzweig nur sehr wenige seiner Zeitgenossen wirklich überzeugt haben. Bis heute findet ein Großteil der Rezeption seines Wirkens im theologischen oder allenfalls pädagogischen Kontext statt. Was tritt also an die Stelle des Kritisierten? Exakt diese Frage kann auch an Martin Heidegger gerichtet werden, der versucht, eine Antwort zu formulieren. »[…] Wissenschaft ist prinzipiell verschieden von Philosophie« 47 – so hatte er bereits erklärt. »Man stellt sich nicht die Frage, ob es nicht vielleicht unmöglich ist, den Sinn des faktischen Daseins mit den heutigen philosophischen Mitteln zu fassen. Man fragt nicht, wie das faktische Dasein ursprünglich zu explizieren ist, d. h. philosophisch zu explizieren. Es ist hier also scheinbar eine Lücke im heutigen philosophischen Kategoriensystem auszufüllen. Es wird sich aber zeigen, daß durch die Explikation des faktischen Daseins das gesamte traditionelle Kategoriensystem gesprengt wird: so radikal neu werden die Kategorien des faktischen Daseins sein.« 48

In der Weise philosophischer Artikulation unterscheiden sich die Schriften von Rosenzweig und Heidegger überdeutlich. Wo ersterer sich der Deskription des Seins und seiner Erscheinungsformen widmet, fordert letzterer dessen Analyse, um es erst eigentlich zum Gegenstand philosophischer Betrachtung erklären zu können. Doch müssen beide zeigen, warum und – was noch um ein Vielfaches schwieriger ist – wie faktische Lebenserfahrung Grund der Philosophie werden kann. Dabei bewegen sich Heideggers Argumentationen um 1920 noch im Rahmen der Phänomenologie, deren Begrifflichkeiten er zum Großteil verwendet. Für beide Denker kommt es aber ungeachtet der deutlichen methodischen Differenz darauf an, die Erfahrung als Inhalt philosophischer Betrachtung unter Loslösung von 47 48

Phänomenologie des religiösen Lebens, § 3, S. 9. Phänomenologie des religiösen Lebens, § 10, S. 54.

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der vermeintlichen Dominanz des tradierten Diskurses auszuweisen. Der Radikalität ihres Anspruches sind sich beide, wie ihre Kommentare des eigenen Wirkens belegen, bewußt. Heideggers Ankündigung radikal neuer »Kategorien des faktischen Daseins« weist bereits auf eine grundsätzliche Problematik hin, die die Verwirklichung seines leidenschaftlich beschriebenen Vorhabens behindern, wenn nicht gar vereiteln kann. Denn sollen die Erfahrungen des faktischen Daseins eben doch noch in Kategorien aussagbar sein, müßte der Begriff der Kategorie als solcher so weit gefaßt werden, daß er keinerlei Element der Strukturalisierung mehr beinhaltet. Der Begriff der »formalen Anzeige« soll diesem Anspruch Rechnung tragen. Philosophie soll auch in seinem Verständnis Spezifisches in erkennbarer Form benennen. Dieses Erkennen ist aber ein Wieder-Erkennen eines Erlebten, dessen stellvertretende Wiederholung, so könnte es formuliert werden. Wenn Heidegger von den unterschiedlichen Stimmungen in einer Unterhaltung und einem Konzertbesuch spricht, 49 kann diese Nennung gar nicht mehr die Erfahrung des Erlebten erreichen, weil ihr Vergleich bereits dem vergleichenden Begriff der Stimmung untergeordnet wurde. Mit Blick auf die Ausführungen seiner Vorlesung setzt Heidegger den Begriff des Historischen zur Überprüfung seiner Frage, ob es eine nicht objektivierende Weise des Erfahrungs-Bezuges geben könne. 50 Diesen als formale Anzeige zu kennzeichnen, soll dazu dienen, die Annahme einer Allgemeingültigkeit des Historischen, die jede Betrachtung im Sinne vorurteilender Perspektivierung lenkt, auszuschließen. »Den methodischen Gebrauch eines Sinnes, der leitend wird für die phänomenologische Explikation, nennen wir die ›formale Anzeige‹. […] Das Gemeinsame von Formalisierung und Generalisierung ist, daß sie in dem Sinn von ›allgemein‹ stehen, während die formale Anzeige mit Allgemeinheit nichts zu tun hat. […] Sie fällt außerhalb des einstellungsmäßig Theoreti-

Phänomenologie des religiösen Lebens, § 4, S. 16. Im Anschluß an das Beispiel heißt es: »Die Mannigfaltigkeit der Erfahrungen kommt mir nur im erfahrenen Gehalt zum Bewußtsein. Die Weise des Dabeiseins und von der Welt Mitgenommenwerdens des Ich ist also eine indifferente, […].« 50 »Es kommt darauf an, aus der faktischen Lebenserfahrung Motive für das Selbstverständnis des Philosophierens zu gewinnen. Aus diesem Selbstverständnis ergibt sich für uns erst die ganze Aufgabe einer Phänomenologie der Religion. Dies ist durchherrscht von dem Problem des Historischen. […] Wir müssen daher das Historische aus dem faktischen Leben entnehmen.« Phänomenologie des religiösen Lebens, § 7, S. 34. 49

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schen. […] In der formalen Anzeige dagegen handelt es sich nicht um Ordnung. Man hält sich bei ihr fern von jeder Einordnung, man läßt gerade Alles dahingestellt.« 51

Der Versuch, eine Präjudizierung formaler Aussage zu verhindern, konfrontiert Heidegger mit einer grundsätzlichen Schwierigkeit, deren Auswirkung in seinen Formulierungen erkennbar ist. Die Ausdrücke, alles »dahingestellt« lassen, in der »Schwebe« halten, wie es auch heißt, sollen zwar einerseits die Offenheit der Kenntnisnahme faktischer Lebenserfahrung ermöglichen, indem diese nicht verallgemeinert und zu einem Begriff allgemeiner Gültigkeit und allgemeingültigen Sinnes komprimiert wird. Doch wenn Heidegger das Verfahren der formalen Anzeige am Historischen vorführt und dessen Fundierung in der Erfahrung aufzeigt, bleibt eine Tatsache bestehen. Der Begriff des Historischen, wie immer er bestimmt wird, ist Begriff und als solcher bereits repräsentativ für das Besondere, das er denkbar werden läßt. Hatte obige Charakterisierung aufgelistet, wie die formale Anzeige nicht zu verstehen ist, beschreibt Heidegger ihre Beschaffenheit wie folgt: »Sie gehört als methodisches Moment der phänomenologischen Explikation selbst zu. Warum heißt sie ›formal‹? Das Formale ist etwas Bezugsmäßiges. Die Anzeige soll vorweg den Bezug des Phänomens anzeigen – in einem negativen Sinn allerdings, gleichsam als Warnung! Ein Phänomen muß so vorgegeben sein, daß sein Bezugssinn in der Schwebe gehalten wird. […] Das ist eine Stellungnahme, die der Wissenschaft auf das Äußerste entgegengesetzt ist.« 52

Die formale Anzeige des Historischen, die Heidegger hier thematisiert, deckt dessen »Bezugssinn« als offene Struktur auf, wobei nicht die Tatsache des Bezuges, die Bestandteil phänomenologischer Auf51 Phänomenologie des religiösen Lebens, § 11, S. 55, S. 59 und S. 64. Imdahl, Das Leben verstehen, S. 142 f.: »Mit dem Ansatz der formalen Anzeige bekräftigt der frühe Heidegger seine Grundhaltung, daß der philosophische Begriff seinen Gehalt nicht erschöpfend mitteilen, sondern nur anzeigen kann und dem Vollzug des Philosophierens die Aufgabe zuweist, den Begriff in seinem Gehalt zu aktualisieren.« Und bei Thonhauser heißt es in Ein zweifelhaftes Zeichen, S. 187: »Eine Analyse des faktischen Lebens kann daher nicht von außen an dieses Phänomen herangehen, sondern muss sich als Mitgehen mit den konkreten Begegnungen faktischen Lebens vollziehen. Die Begrifflichkeiten, die dabei für die Beschreibung verwendet werden, müssen so beschaffen sein, dass sie Raum lassen für die eigenständige Beweglichkeit des untersuchten Phänomens.« 52 Phänomenologie des religiösen Lebens, § 13, S. 63 f.

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weisung ist, sondern deren vermeintlich vor-urteilende Funktion in der Negation ausgesetzt wird. Heideggers Ausführungen gelten primär der Überlegung, wie eine Erfahrung dem Bewußtsein zugänglich werden kann. Hier sieht er in dem bestehenden Verständnis von Philosophie massive Defizite, indem Formalisierung mit Allgemeinheit gleichgesetzt wird. 53 Unberührt von diesem Willen zur Korrektur einer falsch zentrierten Ausrichtung von Philosophie bleibt allerdings die Frage der Genese jener Begriffe, die innerhalb der Philosophie alter und neuer Definition verwendet werden. Heidegger stellt diese mit Blick auf das Historische zu keinem Zeitpunkt, 54 sondern überprüft, was »in der faktischen Erfahrung ursprünglich die Zeitlichkeit« ist. 55 Wie begründet sich jedoch der Begriff der Zeitlichkeit, der hier verwendet wird? Heidegger kündigt die Formulierung radikal neuer »Kategorien des faktischen Daseins« an. Deren Beschaffenheit und Funktionsweise gilt es zu hinterfragen, nicht deren Berechtigung innerhalb der Philosophie. Insofern besteht für ihn keinerlei Veranlassung, die Frage nach der Genese von Sprachlichkeit schlechthin zu stellen. Und was zeigt ein vergleichender Blick zum Stern der Erlösung? Auch Rosenzweig thematisiert in der ihm eigenen Diktion »die Frage des Wie, der ›Methode‹«. »Und um eine Frage des Wie handelt es sich hier. Wie kann die Möglichkeit, das Wunder zu erleben, die uns in der Schöpfung aufging, wie kann diese Möglichkeit in der Schöpfung selber erkannt werden? Oder stofflicher – scheinbar stofflicher – gefragt: wo ist im Kreise der Schöpfung das ›Geschöpf‹, wo im Reiche der Philosophie der ›Gegenstand‹, der auf seinem Antlitz das sichtbare Zeichen der Offenbarung trägt?« 56 Die Parallelisierung von »Geschöpf« und »Gegenstand« ist bemerkenswert, denn durch sie signalisiert Rosenzweig seinen Anspruch, Aussagen religiöser und philosophischer Natur analog zu »Wir hatten uns die Frage gestellt: Inwiefern darf das Allgemeine als letzte philosophische Bestimmung angesetzt werden? In welchem Sinn ist Generalisierung Verallgemeinerung; in welchem ist Formalisierung Verallgemeinerung?« Phänomenologie des religiösen Lebens, § 12, S. 60. 54 »Wird das Historische als das Formal-Anzeigende genommen, so wird damit nicht behauptet, daß die allgemeinste Bestimmung von ›historisch‹ als ›ein Werdendes in der Zeit‹ einen letzten Sinn vorzeichnet. […] ›Zeitlich‹ ist vorläufig noch in einem ganz unbestimmten Sinn genommen, man weiß gar nicht, von welcher Zeit gesprochen wird.« Phänomenologie des religiösen Lebens, § 13, S. 64 f. 55 Phänomenologie des religiösen Lebens, § 13, S. 65. 56 Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121. 53

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führen. Hier von Analogie zu sprechen, mag unangebracht wirken. Denn Rosenzweig erfragt die Möglichkeit der Erkennbarkeit von Schöpfung. Wenn diese gegeben ist, kann sie aber nur aus der Erfahrung des faktischen Daseins resultieren, das erst philosophische Reflexion, die ihrerseits Inhalt des Erfahrens wird, ermöglicht. In einer Dimension berühren sich Heideggers und Rosenzweigs Überlegungen also. Denn beide suchen faktische Lebenserfahrung zum Grund von Philosophie zu erklären, deren Verständnis es unter einem solchen Primat deutlich zu modifizieren gilt. In einer zweiten Dimension divergieren die Standpunkte beider unverkennbar. Heideggers Interesse bezieht sich ausschließlich auf das faktische Dasein. In Rosenzweigs Sicht ist dieses die Erscheinungsform elementaren Seins, wie er im ersten Buch seines Sterns gezeigt hatte. Spricht er vom »Gegenstand«, dann in doppelter Bedeutung: Er ist als Phänomen Bezugspunkt philosophischer Betrachtung und als Erscheinung Gestalt der Schöpfung. In entsprechender Weise zeigt sich auch Sprache in zweifacher Bedeutung: als jene des Menschen und als »Elementarworte«, die in ihr hörbar werden, in ihr erscheinen. 57 Gerade weil Erfahrung für Rosenzweig der Erschließungsgrund des Göttlichen, aber ebenso des Daseins, in dem dieses sich zu erkennen gibt, ist, kann sein Stern der Erlösung in religiöser und in philosophischer Perspektive gelesen werden. Dabei zeigen sich etwa in der besonderen Akzentuierung von gegenständlicher Wirklichkeit und Erfahrung des Faktischen Ansätze einer phänomenologischen Ausrichtung seines Denkens. Inwieweit er mit Theorien Edmund Husserls vertraut gewesen ist, läßt sich bislang nicht zweifelsfrei klären. Die grundsätzliche Nähe in den beiden wichtigen Aspekten des Erfahrungs-gegründeten Denkens und der Neubestimmung von Philosophie, die Heideggers Einleitung in die Phänomenologie der Religion von 1920 und Rosenzweigs Stern der Erlösung, aber auch seine kurze Erläuterung Das neue Denken von 1925 zu erkennen geben, ist für den vorliegenden Kontext aufschlußreich. Denn sie zeigt zwei im Feld der Methodik situierte Lösungsansätze für das Problem, Erfahrung Philosophie-bildend zu denken.

»Es waren von der lebendigen Sprache her gesehen die ›Urworte‹, die als geheime Gründe unter jedem einzelnen offenbaren Wort verborgen liegen und in ihm ans Licht steigen. Elementarworte gewissermaßen, die den offenbaren Lauf der Sprache zusammensetzten […].« Der Stern der Erlösung, II, Einleitung, S. 121.

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Ausklang

Die Rekonstruktion von Heideggers Auseinandersetzung mit Franz Rosenzweigs Philosophie ergab ein Bild unterschiedlicher Nuancierung. Zum einen zeigt sich Sein und Zeit als präzise Konzeptualisierung des Sterns der Erlösung. Heidegger nutzt vor allem die Komposition dieser Schrift, um ihr entsprechend seine eigene Darstellung zu konstruieren. Die Auslegung der drei großen religiösen Motive von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, die Rosenzweig auch philosophisch interpretiert, verdichtet Heidegger bis zur Formulierung der drei Daseins-Kennzeichnungen »In-sein«, »Sorge« und »Ausstand«. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Verfahren der Abstraktion, sondern um ein Befragen der grundsätzlichen Bedeutung, die diese Motive für den Menschen haben. Diese Methode kann als Konzeptualisierung bezeichnet werden. Denn durch ihre Anwendung soll das Spezifische der Erfahrung weder ignoriert noch generalisiert, sondern in seiner Struktur als Erlebnisinhalt kenntlich gemacht werden. In Rosenzweigs Sicht wird aus dem Erkennen des Erlebten ein permanent sich fortsetzendes Wiedererkennen des Erlebens. Dieses versucht er in sprachlicher Form angemessen zu fixieren, ohne es dabei seiner qualitativen Besonderheit zu berauben. Im Stern der Erlösung setzt er zu diesem Zweck auf die Möglichkeit, begriffliche Mitteilung als Sprachgeschehen zu inszenieren, in dem klaren Wissen, damit den normativen Charakter philosophischer Diskurse zu negieren. »Das neue Denken«, dessen Begründung er anstrebt, bricht mit der philosophischen Tradition sowohl hinsichtlich der Form als auch des Gegenstandes der Artikulation. Rosenzweig geht es nicht mehr darum, eine Vorstellung vom All zu entwerfen, da diese seiner Ansicht nach zwangsläufig der Darstellungsmöglichkeit von Erfahrung zuwiderläuft. Statt dessen konzentriert er sich auf die Beschreibung des Ganzen des Daseins, das niemals ganz im Sinne der Summe seiner Phänomene, sondern im Sinne seiner Erscheinungsvielfalt zu begreifen ist. In seinem Anspruch, Philosophie als ein Medium zu deuten, das 338 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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die individuellen Erfahrungen des Menschen thematisiert, gewinnt die Sprachform individueller Mitteilung außerordentliche Bedeutung. Denn Rosenzweig begreift sie tatsächlich als Mit-teilung, als Teilhaben-Lassen am höchst individuellen Erleben des Denkenden und des Denkens. Der expressive Stil, in dem er seinen Stern der Erlösung formuliert, bezeugt diese extreme Bereitschaft, erfahrend und denkend im Geschriebenen in Erscheinung zu treten, fast in greifbarer Anschaulichkeit. Zugleich gewinnt sein Text durch diese Einstellung eine außergewöhnliche Offenheit – Vorzug und Gefährdung zugleich. Denn bietet er auf der einen Seite die Möglichkeit des Verstehens jenseits der Regelhaftigkeit wissenschaftlicher Definition, riskiert er auf der anderen Seite, als unwissenschaftlich diskreditiert zu werden. Das »neue Denken« Franz Rosenzweigs hat von seiner kreativen Kraft und innovativen Unmittelbarkeit bis heute nichts verloren; noch immer vermag es gleichermaßen zu inspirieren wie zu irritieren. Eine Würdigung des Sterns der Erlösung im Kontext postmodernen Sprachdenkens steht noch immer aus. Martin Heidegger findet 1921 einen Text vor, der in vielen Punkten sein eigenes Verständnis von Philosophie präformiert. Rosenzweigs starke Akzentuierung des Begriffes der Welt als Kennzeichnung faktischer Existenz spiegelt den phänomenologischen Anspruch, Welt-Bezug zu denken. Seine Deutung des Da-seins als Sein des »Da« antizipiert in frappierender Weise die Annahme eines Geschehnis-Kontextes – hier jedoch in deutlicher Korrespondenz zur kabbalistischen Bildlichkeit der Schechina. Auch wenn Heidegger für den Gedanken eines Ereignis-Raumes zur Entstehungszeit von Sein und Zeit noch keine unmittelbare Verwendung hat, wird er doch sein späteres Denken in entscheidender Weise beeinflussen und im Konstrukt des »Gevierts« seine Entsprechung finden. Heidegger kann im Stern der Erlösung aber auch den Versuch sehen, Verbalisierung jenseits der Verallgemeinerung zu ermöglichen. Speziell im WS 1920/21, genau zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Schrift also, sucht er durch seine Konzeption der »formalen Anzeige« einen eigenen Weg der Umsetzung dieses Anspruches. Was spricht also dagegen, diesen bemerkenswerten, aber letztlich nach eigener Sicht unfertigen Text zur Grundlage der Bearbeitung zu wählen? Unfertig muß er Heidegger erscheinen, da Rosenzweigs Aussagen zu Welt und Dasein, Zeit und Geschichtlichkeit, Relation und Bezeugung, Erwartung und Erwirkung im Stil der Erzählung formuliert wurden. Sie zeigen, ganz im Sinne ihres Ver339 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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fassers, noch die ungebrochene Lebendigkeit individueller Erfahrungsbedingtheit. Heidegger, der nach gänzlich neuen Kategorien der Philosophie sucht, kann hier eine ideale Vorlage finden, um seine Fundamentalanalyse des Daseins zu konstruieren. Rosenzweig hatte existentielle Phänomene beschrieben und vor allem durch die Konzeption seiner Schrift in eine überzeugende Systematik gesetzt. Wurde diese von ihrer Fundierung im Religiösen gelöst, bot sie Heidegger eine passende Adaptions-Grundlage. Denn er konnte an Rosenzweigs Darstellungen sein Verfahren der Konzeptualisierung anwenden, gerade weil diese noch nicht zur Gänze strukturalisiert waren. Es ist das eine, eine inhaltliche Bezugnahme festzustellen, das andere, sie zu bewerten. Tatsächlich kann Heideggers Bearbeitung von Rosenzweigs Philosophie, solange diese lediglich mit Blick auf Sein und Zeit betrachtet wird, unter ambivalenter Beurteilung erscheinen. Die Konzeptualisierung der Vorstellungen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung in den existentiellen Kennzeichnungen von In-sein, Sorge und Ausstand verschafft Rosenzweigs eigenen Übertragungen dieser religiösen Inhalte eine nicht unerhebliche theoretische Tragweite – allerdings stets unter dem Siegel anonymer Urheberschaft. Fraglich ist, ob sie diese ohne Heideggers Eingreifen jemals erlangt hätten. Es kann vor diesem Hintergrund sogar überlegt werden, ob die Rezeption der Philosophie Martin Heideggers speziell in Frankreich dadurch nicht auch in weitem Umfang eine indirekte Rezeption des Denkens von Franz Rosenzweig ist. Ein solch positiver Effekt trägt jedoch den Makel, daß die Adaption Heideggers ohne Berufung auf ihre Quelle erfolgt. Die Entscheidung darüber, ob hierin ein Akt üblicher philosophischer Vorgehensweise oder der Verschleierung zu sehen ist, verweist in den Bereich persönlicher Wertsetzungen. Ein anderes Bild zeigt Heideggers Auseinandersetzung mit Rosenzweigs Charakterisierung des jüdischen Volkes. In seinen wichtigsten Arbeiten nach Sein und Zeit bis zur Niederschrift der Beiträge zur Philosophie 1936 entwickelt er ein engmaschiges Konstrukt zur Widerlegung dieser Aussagen, das einem einzigen Ziel dient: Es soll den durch sie vermittelten Anspruch des jüdisches Volkes tilgen und an dessen Stelle die Einzigartigkeit des deutschen Volkes belegen. Zwei entscheidende Konzepte werden sich dabei als zentral erweisen: der »andere Anfang«, der Geschichte mit der Selbstwahl des Volkes beginnen läßt, und der »Zeit-Spiel-Raum« als Austragungsstätte seynsgeschichtlichen Wirkens. Diese beiden Demonstrations-Figuren 340 https://doi.org/10.5771/9783495817087 .

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fügen sich so paßgenau in Rosenzweigs Darstellung, daß sie – so absurd es auch ist – Heideggers Vertrautheit mit dieser belegen. Hinsichtlich der aktuell diskutierten Problematik, inwieweit sich bereits in Sein und Zeit Denkstrukturen finden, die auf die nationalsozialistische Einstellung Heideggers verweisen, ergibt sich ein mehr als aufschlußreicher Befund. Gerade die starke Orientierung dieser Schrift an Rosenzweigs Auffassungen kann sie in dieser Zeit noch vor einer Interpretation in entsprechendem Sinne bewahren. Denn speziell die Begriffe des Bezeugens, der Eigentlichkeit und ganz besonders das Begriffspaar aus Erschlossenheit und Entschlossenheit entstammen ursprünglich dem Stern der Erlösung. Doch ebenso beinhaltet Rosenzweigs Text seine Aussagen zu Geschichte und Wesen des jüdischen Volkes, die Heidegger aufgreifen und argumentativ für ungültig erklären wird. Dieses geschieht in den Arbeiten nach 1927. Diese zweite Seite seiner Auseinandersetzung mit dem Denken Franz Rosenzweigs geriert sich zwar vordergründig nach wie vor als philosophisch korrekt und nur dem Postulat der reinen Denkbarkeit verpflichtet. Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch um eine ideologisch motivierte Instrumentalisierung von Philosophie, die deren Wert der Wahrheit letztlich willkürlicher Entfremdung unterwirft. Zu keinem Zeitpunkt bekennt sich Heidegger zu jener Quelle, die sein Denken in so entscheidendem Maße geprägt hat. Doch selbst Ungesagtes drückt mitunter mehr aus als es verschweigt. Daß dem Bedeutungskontext des Sterns in Heideggers Philosophie besondere Wichtigkeit zukommt, hat sich gezeigt. Das Bild des Sterns taucht jedoch weniger in seinen theoretischen Schriften, als vielmehr in seinen poetischen Texten auf – dort allerdings immer wieder von neuem. In einer Zeile aus dem Gedicht Die Gedanken, vermutlich Ende der 30er Jahre entstanden, wird vielleicht am deutlichsten, wie sehr Heidegger mit ihm Erwartung und Ausstand, Not und kaum eingestandene Hoffnung verbindet: »Ist es einstig je ein Stern« 1, heißt es dort. Es ist aber auch sichtbar geworden, daß die Ausrichtung auf das Kommende in Heideggers Verständnis keine beruhigte Gewißheit ist, sondern Ausdruck seinsgeschichtlichen Rin1 Gedachtes, S. 81. Es sei an dieser Stelle nur kurz darauf verwiesen, daß sich das Bild des Sterns in der Zeit des Ersten Weltkrieges und in den folgenden Jahren offenbar großer Beliebtheit erfreute, wie etwa der 1913 erschienene Gedichtband Der Stern des Bundes von Stefan George zeigt.

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gens. So vereint sein Gebrauch des Bildes vom Stern zweierlei – Vertrauen in das dem Menschen Mögliche, das sich für eine gewisse Zeit seines Schaffens mit der Vorstellung überlagert, nur das Errungene sei wert, als verwirklichte Möglichkeit betrachtet zu werden. Der Stern ist mithin auch Symbol des heideggerschen Denkens, das sich in seiner unauflösbaren Ambivalenz bisweilen selbst zu brechen scheint. * * * Ich danke Herrn Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber für die Idee zu dem Begriff »Sternschatten«, der diesen Umstand in unvergleichlicher Weise ausdrückt.

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