Anfang und Ende in der Philosophie: Eine Untersuchung zu Heideggers Aneignung der aristotelischen Philosophie und der Dynamik des hermeneutischen Denkens [1 ed.] 9783428496624, 9783428096626

Der Autor stellt sich in der vorliegenden Untersuchung die Aufgabe, die innere Dynamik bei Heidegger aufzuhellen. Weil d

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Anfang und Ende in der Philosophie: Eine Untersuchung zu Heideggers Aneignung der aristotelischen Philosophie und der Dynamik des hermeneutischen Denkens [1 ed.]
 9783428496624, 9783428096626

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B R I A N ELLIOTT

Anfang und Ende in der Philosophie

Philosophische Schriften Band 45

Anfang und Ende in der Philosophie Eine Untersuchung zu Heideggers Aneignung der aristotelischen Philosophie und der Dynamik des hermeneutischen Denkens

Von Brian Elliott

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Elliott, Brian: Anfang und Ende in der Philosophie : Eine Untersuchung zu Heideggers Aneignung der aristotelischen Philosophie und der Dynamik des hermeneutischen Denkens / Brian Elliott. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Philosophische Schriften ; Bd. 45) Zugl.: Freiburg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09662-2

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-09662-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Großeltern zum Gedächtnis

Vorwort εις κοίρανος έστω (Homer) In der Metaphysik muß man unzählige Male den Weg zurück tun,weil man findet, daß er dahin nicht fiihrt, wo man hin will (Kant) Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist (Hegel)

Diese Untersuchung wurde im Juni 1998 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommen. Die Arbeit will sich als Sache des Suchens verstehen, sowohl für den Schreiber als auch den Leser. Mein aufrichtiger Dank gilt vor allem Herrn Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, ohne dessen Großherzigkeit ich meine Studien in Freiburg nie hätte beginnen, geschweige denn erfolgreich abschließen können. Für die sorgfältige und geduldige Korrektur der Arbeit danke ich Dr. Martin Brasser, Ivo de Gennaro und Dr. Günther Neumann. Durch stets rege Diskussion hat Herr Prof. Dr. Friedrich Uehlein mein Interesse am griechischen Denken gefördert und erweitert. Meine Studien in Deutschland wurden zum Teil vom Deutschen Akademischen Austausch Dienst unterstützt.

Edinburg, Juni 1999

Brian Elliott

Inhalt Einleitung 1. Vorgängige Klärung des Weges und des Ziels der vorliegenden Untersuchung . . . .19 2. Umriß der Untersuchung

20

a) Thematische Gliederung

20

b) Rahmen der zugrundegelegten Textbasis

22

Hinleitung

Über die Wahrheit § 1. Das nächste Verständnis des Seienden

25

§ 2. Die Wahrheit des Urteils

27

a) Herausfassen und Erschließen des eigentümlichen Merkmals am Gegenstand. 27 b) Wahrheit als Übereinstimmung des Geistes mit den Sachen § 3. Die Wahrheit der öffentlichen Rede

28 29

a) Rhetorische Wahrheit und δόξα

29

b) Das Ideal der öffentlichen Rede als Erhellung der konkreten Situation

30

§ 4. Die Wahrheit der Anschauung. Der phänomenologische Wahrheitsbegriff... .31 a) Evidenz als Erlebnis der Wahrheit bei Husserl

31

b) Phänomenologie als Methode und Erschließung des Apriori

32

c) Sein und Wahrheit. Das ,ist' der Kopula

33

§ 5. Rückbeziehung des phänomenologischen Wahrheitsbegriffes auf die griechische Philosophie

35

a) Die Wahrheit der Wahrnehmung bei Aristoteles

35

b) Radikalisierung des Wahrheitsbegriffes und die Überwindung der herkömmlichen Ontologie

36

§ 6. Die Wahrheit der Existenz

37

a) Der Grundcharakter des λόγος als δηλούν (das Offenbarmachen)

37

Inhalt

10

b) Wahrheit als ein Existenzial

39

c) Die Transzendenz des Daseins als letzte Quelle der Wahrheit

40

§ 7. Rekapitulation

43

Erstes Kapitel Wahrheit und Rede § 8. Die Sprache als Leitfaden

44

a) Der Zug zum Allgemeinen im λόγος bei Aristoteles

44

b) Die Grundcharaktere des λόγος nach Aristoteles

48

α) όνομα und λόγος

48

β) όνομα als σύμβολον

49

γ) Enstehung des όνομα κατά σύθηκην. Λέγειν als Sammeln

52

c) Die Unselbständigkeit des λόγος im griechischen Denken

54

d) Rede und Sprache bei Heidegger

56

e) Die Grenzen der Dialektik nach Aristoteles

59

§ 9. Wahrheit und Urteil

60

a) Der λόγος άποφαντικός und die συμπλοκή im Denken

60

b) Husserls Entdeckung eines ursprünglicheren Wahrheitsphänomens

64

c) Das Sein im Sinne des Wahren bei Aristoteles

66

d) Heideggers Interpretation von Metaphysik Θ10. Das Wahrsein als das eigentlichste Sein des Seienden

71

α) Die frühere Interpretation der Wahrheit im Hinblick auf die Enthülltheit. 71 ß) Die spätere Interpretation der Wahrheit im Hinblick auf das Un verfügbare e) Rekapitulation § 10. Die Kategorien lehre bei Aristoteles a) Die Kategorien als die höchsten Begriffe des Seienden

78 83 85 85

b) Der Vorrang der ουσία unter den Kategorien

89

c) Die ontologische Einheit des Seienden gemäß den Kategorien

93

α) Das συνοράν als metaphysische Sichtweise

93

Inhalt

β) Das είδος als eigentlicher Gegenstand des metaphysischen Sehens

95

4

d) Der ορισμός als Vorhabe der άρχή. Die »formale Anzeige als Ausgang der hermeneutisch-phänomenologischen Analytik bei Heidegger e) Rekapitulation und Übergang zur Erörterung der Falschheit §11. Λόγος und ψευδός: die >Als Dean. Γ. 426b 10 f. 240 Dean. 426b22f 241 GA 17, S.31 242 Vgl. GA 17, S.26 243 Vgl. Dean. Γ. 428b 18 ff. 238

§ 11 Λόγος und ψ ε δ ς : die >AlsFaktisch< bedeutet nicht naturwirklich, nicht kausalbestimmt und nicht dingwirklich. Der Begriff >faktisch< darf nicht von bestimmten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ausgedeutet werden; er wird nur vom Begriff des h i storischem her verständlich." 97 Wenn für die Hermeneutik Heideggers das Dasein selbst den eigentlichen Gegenstand der philosophischen Besinnung ausmacht, so bildet die Geschichte des Daseins den Horizont, von wo her das Dasein selbst in seinem Sein verstanden werden muß. Demzufolge wird die Philosophie bestimmt als „historisches (d.h. vollzugsgeschichtlich verstehendes) Erkennen des faktischen Lebens". 98 Daraus erhellt: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ontologie ist keine bloße Vorarbeit oder gar Anhängsel für die philosophische Besinnung auf das Sein. Vielmehr macht für das hermeneutische Denken Heideggers das Zwiegespräch mit geschichtlich vorgegebener' Philosophie eine wesentlich und nicht zu umgehende Aufgabe der philosophische Interpretation aus. Somit besteht diese „in der Tendenz, zu verstehen, wie in dem überhaupt angefangen und vorgegriffen wurde, was als griechische Philosophie wurde und als solche in verschiedenen Umbildungen und Verdeckungen im heutigen geistigen Dasein ausdrücklich oder versteckt nachwirkt". 99 c) Heideggers Selbstauslegung der Hermeneutik α) Der Vollzugssinn des hermeneutischen Verstehens als die gegenruinante Bewegtheit des Daseins Das Dasein im Sinne des Lebens selbst ist nach dem hermeneutischen Verständnis Heideggers wesenhaft auf die Welt bezogen. Demnach bildet die Welt als solche „die Grundkategorie des Gehaltsinnlichen im Phänomen Leben". 1(),) Die Welt ist darum im Hinblick auf die phänomenologische Analyse Sache der Interpretation. Die Erschließung von ,Kategorien' des faktischen Lebens kann nun aber erst dadurch geschehen, daß das hermeneutische Verständnis sich in

97

GA 60, S.9 GA 61, S.2 w GA 61, S. 170 100 GA 61, S.86 9H

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Zweites Kapitel: Das Phänomen der Welt

der Weise einer Gegentendenz zur nächsten Bewegtheit, die dem Leben selbst notwendig eignet, vollzieht. Dem hermeneutischen Verstehen des Lebensphänomens kommt dementsprechend ein Modus der Bewegtheit zu, und zwar so, daß die Hermeneutik selbst eine Weise darstellt, wie das Dasein in der Welt ist. Die Weise zu sein, die der ausdrücklichen Selbstauslegung des Daseins eignet, nennt Heidegger den ,hermeneutischen Einsatz'. Dieser verstehende Bezug zum eigenen Sein als „das »als was«, in dem die Faktizität im vorhinein ergriffen ist, der eingesetzte entscheidende Seinscharakter, kann nicht erfunden sein; er ist aber auch kein fertiger Besitz, sondern entspringt und erwächst einer Grunderfahrung, d.h. hier einem philosophischen Wachsein, in dem das Dasein ihm selbst begegnet".101 Das faktische Leben selbst 102 kann also erst dann durchsichtig gemacht werden, wenn es sich gegen die ihm eigene Verdeckungstendenz wendet. Das hermeneutische Denken geschieht somit notwendig als eine gegenwendige Bewegtheit des faktischen Lebens selbst gegen die ihm zunächst wesenhafte Dynamik eines verhüllenden Selbstverständnisses. 101

GA 63, S.l8 Diskussionen von Heideggers früher Ausarbeitung einer Hermeneutik der Faktizität bieten: O. Pöggeler, S.27 ff.; J. Barash, S.l29-164; I. Fehér, ,Phenomenology, Hermeneutics, Lebensphilosophie·. Heidegger's Confrontation with Husserl, Dilthey, and Jaspers' (in: Reading Heidegger from the Start (herausgegeben von Τ. Kisiel/ J. van Buren; S.73-89). Siehe auch Τ. Kisiel, The Genesis of Being and Time, S.l 16-148. Fehér faßt das Ergebnis seiner Untersuchung auf folgende Weise zusammen: „ [...] the hermeneutic transformation of phenomenology is in several important respects the consistent radicalization of the lebensphilosophisch-exisieniiaUsi problematic, and not just one implication of it - something that may arbitrarily follow or may not. Heidegger's primary effort seems to have been directed toward gaining a new and genuine access to 'life' - one without unwarranted constructions, uncontrolled prejudices, and presuppositions - an attempt in which the means were to be provided by phenomenology. That is how and why phenomenology was to undergo a transformation or, since it is shown to be laden with 'unphenomenological' prejudices, even 'purification'" (S.88). Fehér verweist an dieser Stelle auf das Manuskript Bröckers von Heideggers 1924 gehaltenen Vortrag ,Der Begriff der Zeit' als einen Schlüsseltext für Heideggers Konzeption der wesentlichen Geschichtlichkeit des hermeneutischen Verständnisses vom faktischen Leben (vgl. S.88-89). Barash dagegen stellt das Denken Spenglers, wie dies in seinem Werk Der Untergang des Abendlandes dargelegt wurde, ins Zentrum seiner Erörterung. Dabei betont er die Gefahr einer Relativierung der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Spengler für die damalige akademische Philosophie und damit auch für Denker wie Windelband und Husserl darstellte. Über Heideggers Rezeption von Spengler bemerkt Barash: „For Heidegger, Spengler's approach radicalised the tacit motives animating each of the other theories in pushing historical objectification to its limit. In each case, however, objective coherence remained the source of historical meaning, and responsibility for the factual sense of human existence (des menschlichen Daseins) as the root of the disturbing aspect of historical transcience was conveniently set aside (eingestellt) in the face of the disturbing Charakter of historical transience" (S.l57). 102

§ 13 Klärung von Heideggers Verstehenshorizont

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Die nächste Weise, wie das faktische Leben sich gibt, wird nun von Heidegger, wie oben erwähnt, durch den Grundcharakter der ,Reluzenz' bestimmt. Aufgrund dieser unmittelbaren Geneigtheit bewegt sich das Leben im Umkreis eines Verständnisses, das sich am Leitfaden des ihm innerweltlich Begegnenden vollzieht. Erst im Gegenzug zu dieser ,ruinanten' Ausrichtung des Lebens kann nach Heidegger das eigentlich philosophische Verständnis des Lebens als solchen zustande gebracht werden. Wenn also die phänomenologische Interpretation „als existenzielle ... wesentlich eine »Gegen«bewegtheit um darstellt, dann ist sie radikal begriffen „der mit dem Vollzug des Philosophierens ständig gleichzeitige Kampf der philosophischen faktischen Interpretation gegen ihre eigene faktische Ruinanz".™ 4 ß) Die ,Larvanz' als Selbstverdeckungstendenz des Lebens Der Hermeneutik des faktischen Daseins begegnen also eigentümliche Probleme, die im Sein des zu verstehenden Seienden selbst beschlossen liegen. Das Leben liegt nicht wie dieses oder jenes innerweltliche Ding von vornherein zur Hand, sondern stößt den suchenden Blick von sich ab. Das, was Heidegger unter dem Begriff der ,Ruinanz' faßt, meint vor allem dieses wesenhafte Von-sichselbst-Abweisen des menschlichen Seins. Demnach wird das eigene Sein ständig aus dem Horizont einer ausdrücklichen Aneignung desselben herausgedrängt. Die Faktizität, als eigentlicher Gegenstand der Hermeneutik, neigt dazu, sich selbst zu verbergen. Darin liegt nun für Heidegger die eigentümliche Schwierigkeit, die sich jeder Herausstellung der Grundstrukturen des Lebens selbst entgegensetzt. Diese im faktischen Leben selbst liegende Tendenz zur Selbstverdeckung nennt er die yLarvanz' . 1 ( ) 5 Diese macht diejenige Grundkategorie des Lebens aus, die den phänomenologischen Zugang zu diesem Seienden in erster Linie erschwert. Da die Grundbewegtheit des faktischen Daseins sich als ein ständiges Wegsehen von sich selbst vollzieht, kann die phänomenologische Analyse dieses Seienden nur durch den Umweg über das innerweltlich nicht daseinsmäßige Seiende an sein Ziel gelangen. Diese Abwegigkeit der Hermeneutik besagt nun, daß die dem faktischen Leben eigenen ontologischen Grundstrukturen sich in einer eigentümlichen Unauffälligkeit halten. Das Leben selbst will nicht verstanden werden: Je weniger ausdrücklich ein kategorialer Charakter des Grundphänomens >Leben< phänomenologisch nächstliegend zugänglich und bestimmbar ist, um so ursprünglicher 101 104 ,,,s

GA 61, S.132 GA 61, S. 153 GA 61, S.107

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Zweites Kapitel: Das Phänomen der Welt

kann er der kategorialen Grundstruktur der Faktizität des Lebens, diese interpretierend, verhaftet sein, um so zäher ist er in der Zeitigung des faktischen Lebens mit am Leben.106 Wenn die philosophische Besinnung auf das Leben von Heidegger eine ,gegenruinante Bewegtheit 4107 genannt wird, so besagt das keineswegs, daß die hermeneutisch-phänomenologische Enthüllung des faktischen Daseins der diesem Seienden wesenhaften Faktizität dabei irgendwie entgeht. Sofern das Dasein in seiner Seinsverfassung von der Faktizität bestimmt ist, steht das hermeneutische Verständnis seinerseits noch in einem notwendigen Bezug zum faktischen Sein dieses Seienden. Aber im hermeneutischen Denkvollzug ist dieses Bezogensein auf die Faktizität ein radikal anderes als dasjenige, das sich zunächst im Leben geltend macht. 108 Demzufolge spricht Heidegger von einer ,Umwendung', die dem hermeneutisch-phänomenologischen Bezug des Daseins zum eigenen Sein vorausgeht: „Der Ausgangspunkt des Weges zur Philosophie ist die faktische Lebenserfahrung [...] Die Philosophie selbst ist nur durch eine Umwendung jenes Weges zu erreichen ... durch eine eigentliche Umwandlung." 109 Das Eigentümliche des faktischen Lebens liegt also darin, daß es als Ausgangpunkt der hermeneuti-

GA 61, S.104 GA 61, S.153 108 In SZ wird der Umwegigkeit der hermeneutischen Analytik in der Form einer Erschließung des Weltphänomens im Durchgang durch eine Aufklärung des Seinssinnes des innerweltlichen Seienden Rechnung getragen: „Wenn wir ontologisch nach der „Welt" fragen, dann verlassen wir keineswegs das thematische Feld der Analytik des Daseins. „Welt" ist ontologisch keine Bestimmung des Seienden, das wesenhaft das Dasein nicht ist, sondern ein Charakter des Daseins selbst. Das schließt nicht aus, daß der Weg der Untersuchung des Phänomens „Welt" über das innerweltliche Seiende u sein Sein genommen werden muß" (EA, S.64; meine Hervorhebung). Diese von Heidegger gefaßte Notwendigkeit des Umwegs der Daseinsanalytik über das innerweltliche nicht daseinsmäßige Seiende hängt ferner mit derjenigen Grundbestimmung des faktischen Daseins auf engste zusammen, die er als das ,Verfallen' bezeichnet. So heißt es am Anfang seiner Ausführungen über ,das Man' in SZ: „Die ontologische Interpretation der Welt im Durchgang das das innerweltlich Zuhandene ist vorangestellt, weil das Dasein in seiner Alltäglichkeit, hinsichtlich derer es ständiges Thema bleibt, nicht nur überhaupt in einer Welt ist, sondern sich in einer vorherrschenden Seinsart zur Welt verhält. Das Dasein ist zunächst und zumeist von seiner Welt benommen" (EA S.l 13; meine Hervorhebung). Diese dem hermeneutischen Denken wesenhafte Umwegigkeit bestimmt sein Seinsverständnis als Gegenzug. Aber damit wird deutlich, daß die hermeneutische Phänomenologie eine eigentümliche Dynamik des Verstehens in sich birgt, die sich im Gegenschwung zwischen der nächsten und vorherrschenden Bewegtheit des faktischen Dase im Sinne einer prinzipiellen Selbstverdeckung und dem freien Überwurf dieses Seiend auf sich selbst als einer ursprünglichen Erschließung seiner selbst vollzieht. 1,19 GA 60, S.10 107

§ 13 Klärung von Heideggers Verstehenshorizont

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sehen Philosophie zugleich das ist, „was das Philosophieren selbst wesentlich behindert". 1 1 0 d) Die Bedeutung der Geschichte der Ontologie für die hermeneutische Erschließung des faktischen Lebens α) Der kairologische Charakter des Seinsverständnisses Im Ausgang vom faktischen Leben will die Hermeneutik des Daseins zum Seinssinn der Faktizität vordringen. Dieser Sinn soll, wie wir sahen, aus dem geschichtlichen Horizont des Daseins gefaßt werden. Die hermeneutisch verstandene Geschichtlichkeit des Daseins ist nach Heidegger als das „spezifische Wie der Bewegtheit" 111 zu begreifen, das das faktische Leben mit ausmacht.112 Während nun das minante Leben sich in der Weise einer ,Zeittilgung' i n vollzieht, bringt die hermeneutische Philosophie die Geschichtlichkeit des Daseins als dessen seinsmäßige Voraussetzung 4 „faktisch je und je radikaler zur Aneignung, und zwar so, daß sie gesehen wird - als nicht Tilgung". 114 Die hermeneutisch-phänomenologische Analyse des faktischen Daseins beruht somit auf einer existenziell vollzogenen eigentlichen Zeitigung der daseinsmäßigen Zeitlichkeit. Erst im hermeneutischen Entwurf der Geschichte des Daseins wird diese existenzielle eigentliche Vollzugsweise der Zeitlichkeit des Daseins auf den Begriff gebracht. Wenn nun aber die phänomenologisch gefaßte Ontologie erst aufgrund der durch die Hermeneutik begrifflich artikulierten Durchsichtigkeit des faktischen Daseins hinsichtlich seines Seins eigentlich möglich wird, dann besagt das, daß für Heidegger ein radikales Verständnis von Sein in der Ontologie die Freilegung der Seinsverfassung desjenigen Seienden voraussetzt, das durch die Geschichtlichkeit wesenhaft bestimmt ist. Demnach ist der Sinn von Sein erst von der Faktizität des Daseins her zu verstehen. Mit anderen Worten: Bevor die echte Ontologie anfangen kann, muß die wesenhafte Geschichtlichkeit des Seins aus dem Seinssinn des faktischen

110

GA 60, S.16 GA 61, S.139 112 In seinen Ausführungen über ,Das Verfallen und die Geworfenheit' (§ 38 EA S.175 ff.) in SZ sagt Heidegger: „Die aufgezeigten Phänomene der Versuchung, Beruhigung, der Entfremdung und des Sichverfangens (das Verfängnis) charakterisieren die spezifische Seinsart des Verfallens. Wir nennen diese „Bewegtheit" des Daseins in seinem eigenen Sein den Absturz. Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit" (S.178). Das heißt aber: „Das Verfallen ist ein ontologischer Bewegungsbegriff" (S.180). 113 GA 61, S.141 114 GA 61, S.160 111

11 Elliott

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Zweites Kapitel: Das Phänomen der Welt

Daseins her gefaßt werden. Die geschichtliche Bestimmtheit des Seins gründet aber nach Heidegger im faktischen Dasein selbst: Das Sein des (historisch) Geschichtlichen und der Sinn des Historischen erwachsen nur allererst und sind im Vollzug des Historischen der Faktizität des Lebens, so daß in ihm und für es Geschichte und Systematik gleich fremd und in ihrer Scheidung ebenso und erst recht überflüssig sind.115 Aus dem oben Gesagten geht deutlich hervor, daß für Heidegger die Hermeneutik des Daseins in der Weise einer , Vergegenwärtigung' im Hinblick auf die Geschichtlichkeit dieses Seienden geschieht. Demzufolge kommt es der Hermeneutik der Faktizität darauf an, den ursprünglichen Anfangsgrund der Geschichtlichkeit ausdrücklich ans Licht zu heben. Dieser Anfang ist es nun, der nach Heidegger im gegenwärtigen Leben immer schon auf irgendeine Weise am Werk ist. Dem hermeneutischen Aufsuchen des Anfangs kommt das zu, was er den ,kairologischen Charakter 4 nennt. 116 Dies besagt, daß die phänomenologische Interpretation des geschichtlichen Anfangs sich durch ein vollbewußt gewordenes heutiges Dasein vollzieht. Dabei ist die hermeneutische Aneignung der Geschichtlichkeit des Daseins zugleich eine Zeitigung des radikalen Verlusts des Anfangs. Eigentliches Anfangen in der Philosophie heißt also: ... auf den Anfang zugehen, wenn er selbst allererst gesucht werden muß, d.h. wenn der Zugang zu ihm in Verlust geraten ist [...]. Anfangen hat seine >ZeitLeitfaden< für phänomenologische Untersuchungen." 125 Die Geschichte als „das eigentliche Organon der kritischen Philosophie" 126 läßt das Dasein „in der Mehrdeutigkeit zur lebendigen Ursprünglichkeit" 127 kommen. Dieses Aufscheinenlassen der Vieldeutigkeit des faktischen Lebens wird nach Heidegger durch eine yphänomenologisch-kritische Destruktion' 128 zustande gebracht. Durch die Destruktion wird deutlich, „daß es eine Naivität ist zu meinen, man könnte heute und je in der Philosophie von vorne anfangen und so radikal sein, daß man sich aller sogenannten Tradition begibt". 129 Nach dem hermeneutischen Verständnis Heideggers kann es also kein echtes Anfangen in der Philosophie geben, es sei denn, es vollzieht sich zugleich als eine aneignende Destruktion des diesem Anfang voraufgehenden dagewesenen Denkens. Der Grund dieser dem hermeneutischen Seinsverständnis notwendigen Aneignung des Dagewesenen liegt in der hermeneutischphänomenologisch begriffenen ursprünglichen Zeitlichkeit (vgl. §19 unten). Soll nun das hermeneutische Vorverständnis des Seins konkret zum Tragen gebracht werden, so muß es sich mit dem Seinsentwurf, der sich im Verlauf der Geschichte der Ontologie jeweils auf unterschiedliche Weise zur Geltung ge124 125 126 127 128 129

GA 19, S.270 GA 58, S.246-247 GA 56/57, S.38 GA 58, S.160 GA 59, S.29 GA 59, 29

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Zweites Kapitel: Das Phänomen der Welt

bracht hat, prinzipiell auseinandersetzen. Weil das Seinsverständnis, ob ursprünglich oder nicht, im Sein des faktischen Daseins sein Fundament hat, kommt auch die hermeneutische Wahrheit erst durch den Kampf gegen die ontisch-ontologisch sich ausbildende Verdeckungstendenz dieses Seienden zustande. Mit einem Wort: Das ursprüngliche Seinsverständnis der hermeneutischen Phänomenologie ist von Hause aus ein Geschehen, und zwar, wie wir sehen werden, nichts anderes als das ausdrücklich gewordene Urgeschehen des faktischen Daseins. Demzufolge macht das hermeneutische Denken gerade die höchste Vollzugsweise des Daseins aus, die das eigene, existenzial-ontologisch zu fassende Möglichsein dieses Seienden als Möglichkeit radikal begreift. Damit die hermeneutisch-phänomenologische Destruktion 130 nicht blindlings diesen oder jenen Begriff der herkömmlichen Ontologie aufgreift, muß sie sich im vorhinein die das Ursprüngliche aufdeckende Blickrichtung aneignen. Nur dadurch wird sie vor der Gefahr einer gleichgültigen Willkür hinsichtlich der Ausführung des kritischen Abbaus des dagewesenen Denkens bewahrt. Heideg-

110

Für weitere Behandlungen von Heideggers hermeneutischer Zugangsmethode im Sinne der Destruktion siehe: F.-W. von Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von „Sein und Zeit" ( S.199 ff.). W. Marx hebt im Hinblick auf Heideggers Begriff der Destruktion ihre enge Beziehung zur hermeneutisch gefaßten ursprünglichen Zeitlichkeit hervor. So heißt es: „Das geschichtliche Dasein vermag in dieser Weise „ursprünglich" zu interpretieren, weil es sich - aufgrund seiner Geworfenheit - immer schon „faktisch" als ein „gewesenes" Seiendes in bestimmten gewesenen geschichtlichen Möglichkeiten, in der Überlieferung seiner Gemeinschaft bewegt, weil all sein Entwerfen an sie gebunden ist. Die gewesenen Möglichkeiten stellen nicht eine „vorhandene Vergangenheit" dar; insofern sie dem dagewesenen Dasein, einem geschichtlichen „In-der-Welt-sein" als „weltgeschichtliche" Möglichkeiten zugehören, haben sie selber die „Seinsart von dagewesenem Dasein." [...] Die erwidernde, widerrufende Wiederholung, die das geschichtliche Dasein als ein „Fragen nach dem Sein" vollzieht, ist ein derartig zirkelhaftes Auslegen dagewesener geschichtlicher Möglichkeiten; es will sie als Möglichkeiten in ihren auf uns zukommenden Kräften erschließen und ausarbeiten" (S.l 15). Aber die Zirkelhaftigkeit des von Heidegger gefaßten hermeneutischen Seinsverständnisses ist etwas völlig anderes als etwa die gleichförmige Bahn des unvergänglichen himmlischen Wesens bei Aristoteles. Wie unten gezeigt wird, ist diese gerade derjenige Modus der Bewegung, der am ehesten alle „Dynamik", also alles Möglichsein, ausschließt, während die zirkelhafte Bewegtheit des hermeneutisch begriffenen Seinsverständnisses bei Heidegger als die eigentlichste Vollzugsweise des dem Daseins eigenen Möglichseins im Sinne der sich zeitigenden ursprünglichen Zeitlichkeit gefaßt wird. Die von Heidegger dem Dasein zugesprochene ontisch-ontologische Auszeichnung ist also eins mit dieser ausgezeichneten Dynamik, die dieses Seiende in sich birgt. Zum Thema »Destruktion4 bei Heidegger siehe auch J. Barash, ,Heidegger's Ontological 'Destruction' of Western Intellectual Traditions' (in: Reading Heidegger (hrsg. von T. Kisiell J. van Buren), S.l 11-121) und R. Bernasconi , Repetition and Tradition: Heidegger's Destructuring of the Distinction Between Essence und Existence in Basic Problems of Phenomenology' (Reading Heidegger (Γ. Kisiell J. van Buren), S.l 23-136).

§ 13 Klärung von Heideggers Verstehenshorizont

169

ger versteht diese vorgängige Aneignung der hermeneutischen Blickbahn als die Ausbildung der hermeneutischen Situation. So sagt er: Mit der bloßen Konstatierung der Vieldeutigkeiten ist nichts getan; es kommt darauf an, das sogenannte Vorverstehen zu üben, den Sinn zu verstehen, wie er faktisch gemeint ist, d.h. sie in die Situation zu versetzen, in der solcher Aussagen faktisch vollzogen werden, um so die Blickmöglichkeit zu gewinnen, in der die vorherrschende und weiterleitende Sinnmomente zur Hebung kommen können.131 Die Destruktion bewegt sich also innerhalb eines vorweg eröffneten Blickfelds, worin die phänomenologische Untersuchung den Sinnrichtungen des faktischen Lebens nachgehen kann. Der Zug der hermeneutischen Explikation des konkreten Daseins zielt dabei auf ein Ursprüngliches ab. Dieses Ursprüngliche am Lebensphänomen, daß, wie wir sahen, in der hermeneutischphänomenologischen Analyse in der Form einer ,formalen Anzeige' zunächst gegeben wird, bildet den Leitfaden, woran sich diese Analyse im Durchgang orientiert. Das dem derart vorbegriffenen Sinn des Lebensphänomens kritische Nachgehen nennt Heidegger die ,phänomenologische Diiudication'. Diese „ist die Entscheidung über die genealogische Stelle, die dem Sinnzusammenhang vom Ursprung her gesehen zukommt". 132 Die hermeneutisch-phänomenologische Aufweisung des faktischen Daseins in seinem Sein vollzieht sich also in der Weise einer ySinngenese ( des faktischen Lebens. Diese Idee der hermeneutisch-phänomenologischen Forschung ist es, die in der Weltanalyse von Sein und Zeit am Werk ist. Dabei wird von Heidegger zunächst die Fundiertheit des theoretischen Erkennens in der existenzialontologischen Grundverfassung des Daseins im Sinne des In-der-Welt-seins ans Licht gebracht. 133 Mit diesem Aufweis der Nichtursprünglichkeit des theoretisch eingestellten Welterkennens geht es der hermeneutisch-phänomenologischen Analyse in erster Linie um die „apriorische Genesis des Ausdruckszusammenhangs > Wissenschaft". 134 ß) Hermeneutisches Verstehen als Wachsein des Daseins für sich selbst Mit Heideggers früherer Bestimmung der Phänomenologie als der Ursprungswissenschaft des Lebens selbst 135 geht der zweite Leitgedanke hinsichtlich der Fundamentalontologie zusammen. Während Heidegger in der Destruktion die Zugangsmethode der philosophischen Forschung sieht, faßt er die her131 132 133 134 135

GA 59, S.44 GA 59, S.74 Vgl. SZ §13 EA S.59 ff. GA 58, S.76 Vgl. GA 58, S.81

170

Zweites Kapitel: Das Phänomen der Welt

meneutische Phänomenologie zugleich als die spezifische Weise, wie das Dasein sein Sein ursprünglich ,hat'. Dieses ,Wie des Daseins selbst' steht für ihn außerhalb alles bewußtseinsmäßigen Sichverhaltens zum Seienden im Sinne der Intentionalität, 136 und zwar so, daß erst durch die hermeneutische Aufweisung das ontisch-ontologische Fundament aller möglichen intentional verfaßten Erlebnisse aufgezeigt wird. Die Hermeneutik ist dementsprechend als solche keine Selbsterkenntnis, sondern „das Wachsein des Daseins für sich selbst". 137 Dem Verstehen des Daseins auf seinen Ursprung hin widerfährt nach Heidegger eine eigentümliche Schwierigkeit insofern, als das Leben etwas ist, „zu dem wir so gar keine Distanz haben, um es selbst in seinem >überhaupt< zu sehen; und die Distanz zu ihm fehlt, weil wir es selbst sind, und wir uns selbst nur vom Leben aus selbst, das wir sind, das uns (accusativ) ist, in seinen Richtungen sehen".138 Damit wird zum zentralsten Problem der Philosophie die „Zugänglichkeit des Ursprungsgebietes vom faktischen Leben aus". 139 Wenn das hermeneutische Vorverständnis ihre echte Produktivität durch die Destruktion erweist, so vollzieht sich dieser kritische Abbau am Leitfaden einer ,^ugespitzheit auf faktisches Leben". 140 In der Problematik des Zugangs zum Lebensphänomen liegt angesichts der Notwendigkeit einer vorausgehenden Aneignung der hermeneutischen Blickbahn die Aufgabe beschlossen, „aus der faktischen Lebenserfahrung Motive für das Selbstverständnis des Philosophierens zu gewinnen". 141 Das, was durch die methodische Zugespitztheit auf das faktische Dasein zum Vorschein kommt, ist gerade „der spezifische Wiegehalt des faktischen Lebens". 142 Dieser Wiegehalt ist nach Heidegger einer theoretisch eingestellten Betrachtung prinzipiell nicht zugänglich. 143 Für ihn ist aber das Was-sein des Lebens nur aus dem Wie-sein dieses Seienden her ursprünglich faßbar. Dennoch birgt das faktische Dasein Seinsstrukturen in sich, die vom hermeneutisch-phänomenologischen Blick unverstellt zum Vorschein gebracht werden können. Diese apriorischen Ausgestaltungen des Lebens selbst bilden das Fundament, worauf die Möglichkeit einer Hermeneutik des Daseins letztlich beruht. Demzufolge lautet die Grundthese der Fundamentalontologie von der hermeneutischen Blickrichtung her: „[Der Erlebniszusammenhang] steht in

136 137 138 139 140 141 142 143

Vgl. GA 63, S.15 Ebd. GA 58, S.29 GA 58, S.82 GA 58, S.85 (meine Hervorhebung) GA 60, S.34 GA 58, S.83 GA 58, S.85

§ 13 Klärung von Heideggers Verstehenshorizont

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einer Entwicklung, er trägt in sich selbst eine Artikulation und Rationalität. Das Leben kann aus sich selbst interpretiert werden," 144 Offenbar gehören beide Momente von Heideggers Idee einer hermeneutischen Phänomenologie, zum einen der konkrete Zugang zum Phänomen durch die Destruktion der Geschichte der Ontologie, zum anderen das faktische Dasein selbst als Urphänomen, unzertrennlich zusammen. Deren innerliche Verflechtung ist nach dem hermeneutischen Verständnis Heideggers im Sein des Daseins selbst fundiert. Wenn die destruierende Aneignung des dagewesenen Denkens, die sich am Leitfaden des hermeneutischen Vorverständnisses vollzieht, die Produktivität dieses ursprünglichen Seinsverständnisses konkret zum Vorschein bringen soll, dann ist das nur deswegen möglich, weil das faktische Leben selbst seinem Wesen nach durch die Geschichte bestimmt ist. Um diese geschichtliche Bestimmtheit des Daseins ausdrücklich auf den Begriff zu bringen, bedarf es indessen, wie oben erwähnt wurde, einer eigentümlichen Umwandlung der Weise, wie das faktische Daseins sich zu seinem Sein verhält. Dieser Umwandlung zufolge geht das Dasein seinem faktischen Sein auf den Grund. Dieses radikal verwandelte Verhalten des Daseins zum eigenen Sein, demgemäß es dieses Sein in seiner unverstellten Faktizität aufschließt, macht nach Heidegger die eigentliche Tendenz der Phänomenologie aus. 145 Im offenbaren Gegensatz zur husserlschen Auslegung der phänomenologischen Forschung versteht Heidegger die eigentümlich philosophische Haltung, wie wir gesehen haben, als eine Zeitigung der Fraglichkeit. Diese hermeneutisch-phänomenologische Grundhaltung vermag nun aber das Sein des faktischen Lebens nur insofern zu erhellen, als das Dasein sein eigenes Sein in Frage stellt. 146 Das Unsichermachen des eigenen Daseins läßt das Geschichtliche dieses Seienden in seinem ursprünglichen Charakter der Beunruhigung zum Vorschein kommen. Der Freilegung des geschichtlichen Horizontes der Ontologie geht es dabei keineswegs um die Frage, „wie es faktisch kam, welche Anlässe faktisch vorlagen, daß die Bedeutungen so auseinandergehen, sondern [um] die Frage, worin die ursprungsmäßigen Motive für die Genesis dieser Zusammenhänge liegen". 147 Der Seinssinn des faktischen Lebens wird ferner erst dann ursprünglich zu Gesicht gebracht, wenn der Fragende in der Haltung des ,hermeneutischen Einsatzes' 148 die Ruinanz ausdrücklich erfährt. Mit anderen Worten: Die existenzial-ontologische Erschließung des Seins gründet in einer existenziellen Grunderfahrung. Damit bekundet sich aber die radikale hermeneutischphänomenologisch gefaßte Endlichkeit des ursprünglichen Seinsverständnis144 145 146 147 148

GA 59, S.l66 (meine Hervorhebung) Vgl. GA 59, S.l68 Vgl. GA 59, S.l70 GA 59, S.49 GA 63, S.18

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Zweites Kapitel: Das Phänomen der Welt

ses.149 Diese existenzielle Fundiertheit des Seinsverständnisses bleibt nun der traditionellen Ontologie grundsätzlich verborgen und macht damit ihre von Heidegger her verstandene 'Naivität', ja Bodenlosigkeit, aus. Demzufolge ist die Beziehung der hermeneutischen Phänomenologie zur Geschichte der Ontologie aufgrund ihres grundsätzlich ursprünglicheren Seinsverständnisses von Hause aus durch prinzipielle Auseinandersetzung charakterisiert. 1S( ) f) Die hermeneutische Aufgabe einer radikalen Aneignung der griechischen Philosophie α) Die Kategorien des faktischen Lebens Im Lichte dieser Selbstauslegung der hermeneutischen Phänomenologie ist zu erwarten, daß Heideggers Konfrontation mit der aristotelischen Philosophie sich im Gegenzug gegen die Grundtendenz des aristotelischen Seinsverständnisses vollzieht. Denn es ergibt sich aus Heideggers Bestimmung der Hermeneutik, daß seine Interpretation des Aristoteles, durch die vorweg angeeignete hermeneutische Blickrichtung geleitet, etwas zur Sprache bringen will, das dem aristotelischen Seinsbegriff prinzipiell verwehrt ist. Wenn es also zweifellos zutrifft, daß für Heideggers Ausbildung einer hermeneutischen Phänomenologie seine Auseinandersetzung mit der aristotelischen Ontologie eine zentrale Bedeutung hat, so wäre es dennoch irreführend zu behaupten, daß Heideggers Denken eine Art,Erweiterung' der aristotelischen Ontologie darstelle. Aus dem oben Gesagten ist dagegen deutlich geworden, daß das, was der traditionellen Philosophie verborgen bleibt, kein unwesentliches Versäumnis ausmacht. Die besondere Bedeutung der griechischen Ontologie für die hermeneutische Phänomenologie liegt gerade darin, daß die von Heidegger her verstandene ,Naivität' des griechischen Seinsentwurfs den deutlichsten Beleg für die wesenhafte Verfallenstendenz des faktischen Daseins abgibt. In der hermeneutischen Auseinersetzung mit dem griechischen Denken soll aber gerade diese Grundbewegung im Sinne des im Sein des Daseins selbst liegenden Verfallens an die „ Welt" als eine existenzial-ontologische Grundstruktur dieses Seienden ausdrücklich zur Abhebung gebracht werden. 149

Vgl. dazu § 18 unten Vgl. dazu GA 61. In der Einleitung zu Heideggers früherer Freiburger Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einfährung in die phänomenologische Forschung (WS 1921/22) heißt es: „Es ist prinzipiell alles auf Auseinandersetzung gestellt, auf Verstehen in und aus dieser Auseinandersetzung. Diese existenziell bestimmte verstehende Auseinandersetzung ist „einseitig" von außen - und es ist ein Mißverständnis zu meinen, man komme zum Verstehen, wenn man in einer - man weiß nicht welcher - Ruhe und Objektivität der Geschichte gerecht wird. Das sind Schwachheiten und Bequemlichkeiten. Die Auseinandersetzungstendenz hat ihre eigene radikale Kraft der Erhellung und des Aufschließens" (S.2). 150

§ 13 Klärung von Heideggers Verstehenshorizont

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Aber diese durch die hermeneutische Phänomenologie zustande gebrachte Aufhebung des in der antiken Ontologie sich meldenden Grundzugs des griechischen Seinsverständnisses in ein ursprünglicheres Verständnis des Seins besagt gerade, daß Heideggers hermeneutische Aneignung des Aristoteles sich notwendig und von vornherein im Lichte eines prinzipiell radikaleren Seinsbegriffes vollzieht. Denn das, was er in seiner Aristoteles-Interpretation als den motivierenden Seinssinn der griechischen Ontologie herausstellt, wurde als der Horizont des griechischen Seinsverständnisses von den Griechen selbst in ihrer Philosophie gerade nicht eigens begriffen. Erst aus dem der hermeneutischen Phänomenologie eigenen Seinsverständnis läßt sich dagegen der die griechische Philosophie durchstimmende Sinn von Sein fassen. So heißt es bei Heidegger: Wir sehen zugleich, daß hier eine ganze natürliche Auslegung des Sinnes von Sein für die Griechen lebendig war, daß sie den Sinn von Sein an der Welt als Umwelt abgelesen haben [...]. Das zeigt aber, daß die Griechen kein ausdrückliches Bewußtsein von dem natürlichen Ursprung des Seinsbegriffes hatten, also keine Einsicht in das bestimmte Feld, aus dem sie eigentlich den Sinn von Sein schöpften, so daß eben ούσία gleichzeitig die weitere terminologische Bedeutung für das Sein überhaupt übernehmen kann. Weiter ist darin sichtbar, daß schon das natürliche Dasein des Menschen, sofern es sieht und entdeckt und das Entdeckte, Daseiende, bespricht, auch wenn es keine Wissenschaft treibt, eine ursprüngliche und natürliche Ontologie hat... . 1 5 1 Der hermeneutisch-phänomenologisch gefaßte Grundzug der griechischen Ontologie enthüllt sich also als die herrschende Tendenz, das Sein vom innerweltlichen Seienden und dem Umgang mit solchem Seienden her zu verstehen. Diese im Sein des Daseins selbst liegende und dieses Seiende in seiner Faktizität nächste und herrschende Grundbewegtheit wird von Heidegger, wie wir sahen, existenzial-ontologische als das Verfallen gefaßt. Der ursprüngliche hermeneutisch-phänomenologisch gefaßte Sinn des kategorial-ontologisch begriffenen Seienden als solchen, das von Aristoteles als das eigentlich Seiende im Sinne der ούσία verstanden wird, zeigt sich dementsprechend als die im Sein des faktischen Daseins selbst liegende Grundtendenz dieses Seienden an das innerweltliche Seiende zu verfallen und in eins damit sich der möglichen Durchsichtigkeit des eigenen Seins zu entschlagen. Der Grundzug des griechischen Denkens enthüllt sich darum nach dem hermeneutischen Verständnis als eine prinzipielle Flucht vor der Faktizität des eigenen Seins. Erst durch den hermeneutisch-phänomenologischen Aufweis dieser den griechischen Seinsbegriff durchstimmenden und zumal ermöglichenden, abwendenden Grundbewegtheit weg von der eigenen Faktizität wird es ,S1

GA 19, S.270

Zweites Kapitel: Das Phänomen der Welt

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möglich, den oben herausgestellten Grundzug der kategorial-ontologischen Auslegung des Seienden als solchen bei Aristoteles zu einem zusammenfassenden Aufschließen des Seienden im Ganzen, das dieses gemäß der Indifferenz' der logischen Allgemeinheit entwirft, in seinem ursprünglichen Sinn zu fassen. Damit wird aber zugleich deutlich, inwiefern die griechische Philosophie für die hermeneutische Phänomenologie unentbehrlich ist. Denn in diesem Denken liegt eine durch das hermeneutische Vorverständnis radikal erschließbare Selbstinterpretation des Daseins in der Form einer Ontologie der ,Welt'. Die oben besprochene Unwegigkeit der hermeneutisch-phänomenologischen Seinserschließung, die in der Faktizität des Seinsverständnisses selbst gründet, vollzieht sich demnach konkret im Gegenzug gegen die verfallende Grundtendenz der griechischen Ontologie. Die Freilegung des Horizonts des griechischen Seinsverständnisses innerhalb der Hermeneutik geschieht nun so, daß die griechische Ontologie der ,Welt' im Lichte ihrer Verwurzelung im Sein des Daseins ursprünglicher aus dem hermeneutischen Seinsbegriff her gedacht wird. Für Heidegger besagt das aber, „daß durch die Explikation des faktischen Daseins das gesamte traditionelle Kategoriensystem gesprengt wird. So radikal neu werden die Kategorien des faktischen Daseins sein". 152 ß) Die Theorie als Methode der griechischen Seinserschließung Es gilt nun, von vornherein über den Charakter von Heideggers aneignender Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie im klaren zu sein. Aus seinen frühen Vorlesungen geht deutlich hervor, daß Heidegger von Anfang an darum bemüht ist, etwas in den Gesichtskreis der Philosophie hineinzubringen, was ihr angesichts ihrer geschichtlichen Herkunft verborgen bleibt. Nach Heidegger ist nun das, was in der Geschichte prinzipiell ausbleibt, gerade der Horizont, von wo her das Sein des Seienden als ursprüngliches Thema der Philosophie verstanden wird. Wenn ferner die Geschichte der Philosophie auf entscheidende Weise vom griechischen Denken geprägt ist und dieses Denken wiederum seine Ontologie unbewußt am Leitfaden des Umgangs mit dem innerweltlichen Seienden entwickelt hat, dann ist die Tradition der Philosophie grundsätzlich am Sein der zunächst gegebenen Dinge, d.h. der Natur, orientiert. Für Heideggers Auseinandersetzung mit dieser Tradition ist aber nicht nur dieses Was der herkömmlichen Philosophie entscheidend, sondern auch das Wie, d.h. die Weise des philosophischen Verhaltens zum Seienden, gemäß der dieses zu Gesicht gebracht wird. Dieses Verhalten bestimmt er als die spezifisch theoretische Einstellung dem Seienden gegenüber. Demnach gilt für die radikale phänomenologische Auseinandersetzung mit den Sachen, „sich von einer 152

GA 60, S.54

§ 13 Klärung von Heideggers Verstehenshorizont

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Tradition frei zu machen, die in der griechischen Philosophie echt war: wissenschaftliches Verhalten als Theorie". 153 Der Kampf gegen die universelle Ausbreitung der theoretischen Einstellung innerhalb der Wissenschaft bestimmt aber Heidegger nicht dazu, in seiner Idee der hermeneutischen Phänomenologie die Wissenschaftlichkeit überhaupt zu verabschieden. Vielmehr kommt es ihm darauf an, die Verwurzelung der ontologischen Forschung in der faktischen Lebenserfahrung und damit das ermöglichende Fundament des theoretischen Verhaltens zum Seienden ausdrücklich zum Vorschein zu bringen. Denn gerade im Seinsverständnis des faktischen Daseins selbst liegt für ihn der echte Ursprung oder Anfangsgrund der wissenschaftlichen Philosophie. Dies besagt nun aber: Erst wenn die existenzielle Verwurzelung alles wissenschaftlichen, theoretisch eingestellten Entdeckens des Seienden radikal sichtbar gemacht worden ist, kann die Ontologie die ihr mögliche Durchsichtigkeit erlangen. Die destruierende Aufhebung der bisherigen Philosophie in ein ursprünglicheres Seinsverständnis will also die Ontologie von ihrer geschichtlich sich ergebenden Verengung befreien und so die Philosophie zu sich selbst kommen lassen. Der hermeneutische Rückgang in die Metaphysik ist demnach im vorhinein darauf aus, mit der herkömmlichen Philosophie ein Ende zu machen, und zwar so, daß dadurch der eigentliche Anfang der hermeneutisch-phänomenologisch gefaßten Ontologie vorbereitet wird. Angesichts ihres vorbereitenden Charakters faßt Heidegger die Hermeneutik als ,etwas Vorläufiges', d.h. als Übergang. Zur Vorbereitung der zukünftigen Philosophie bedarf es nun aber einer vorgängigen Eröffnung des Weges. Dies geschieht nach Heidegger dadurch, daß die Sinnrichtung der traditionellen Philosophie rückgängig gemacht wird und zwar so, daß das traditionelle Seinverständnis in den es ermöglichenden Ursprung zurückgenommen wird: Die Vorherrschaft des Theoretischen muß gebrochen werden, zwar nicht in der Weise, daß man einen Primat des Praktischen proklamiert, und nicht deshalb, um nun mal etwas anderes zu bringen, was die Probleme von einer neuen Seite zeigt, sondern weil das Theoretische selbst und als solches in ein Vortheoretisches zurückweist.154 γ) Rekapitulation. Die hermeneutische Aneignung der griechischen Philosophie bei Heidegger Durch die Erörterung der Faktizität und ihrer Bedeutung für die Ontologie bei Heidegger haben wir uns in die Lage versetzt, den Horizont von seiner Interpretation des griechischen Seinsbegriffes angemessener zu verstehen. Dabei ist deutlich geworden, inwiefern der Rückgang auf die griechische Philosophie für 151 154

GA 17, S.3 GA 56/57, S.59

Zweites Kapitel: Das Phänomen der Welt

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die hermeneutische Phänomenologie eine Notwendigkeit darstellt. Dieser Rückgang (Reduktion) im Sinne einer grundsätzlichen Auseinandersetzung vollzieht sich in der Weise eines kritischen Abbaus (Destruktion) der Geschichte der Philosophie. Dadurch soll der ursprüngliche Boden des traditionellen Seinsbegriffes zur Abhebung gebracht werden. Der hermeneutischphänomenologische Aufweis geschieht dabei als eine ,Sinngenese' der Selbstauslegung des Daseins, wie diese sich in der Geschichte der Philosophie niedergeschlagen hat. Wenn nun nach Heidegger die griechische Ontologie sich am Leitfaden des innerweltlichen Seienden vollzieht, dann muß im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der hermeneutisch-phänomenologische Begriff von Welt näher betrachtet werden. Aus dem oben Gesagten wissen wir, daß die hermeneutischphänomenologische Enthüllung des Weltphänomens sich notwendig im Gegenzug gegen den griechischen Seinsentwurf vollzieht. Für Aristoteles sind die Naturdinge, sofern ihnen ein stoffartiges Grundprinzip eignet, etwas ,Unvollkommenes'. Wenn auch die Bewegung von ihm als das Grundphänomen des naturhaft Seienden gefaßt wird, so besteht die Grundtendenz seiner Ontologie dennoch darin, dieses Phänomen durch seinen Begriff der ούσία als des eigentlich Seienden vollkommen zu verdrängen. Demnach eignet dem ,höheren', unvergänglichen Wesen im Sinne des Gestirns eine Art der Bewegtheit, die zum höchst möglichen Maße der verwandelnden Kraft entbehrt, die im Kern des Phänomens der Bewegung liegt. Das besagt nun aber, daß bei Aristoteles die Eindringlichkeit seiner phänomenologischen Sichtweise durch den Grundzug des griechischen Seinsverständnisses außer Geltung gesetzt wird. Wir müssen aber diese Grunddynamik der aristotelischen Ontologie, die erst durch Heideggers Herausstellung des hermeneutischen-phänomenologischen Weltphänomens eigens sichtbar gemacht wird, weiter verfolgen. Erst dann wird unsere Untersuchung in den Stand gesetzt, die dem hermeneutischen Denken Heideggers eigene Grundbewegtheit in Abhebung gegen die traditionelle Ontologie zureichend zu bestimmen.

§ 14 Sein und τέχνη a) Der Zugang zum Weltphänomen. Das zentrale Problem der Methode in der Phänomenologie In den Ideen spricht Husserl von zwei Wegen, die in die eigentliche Sphäre der phänomenologischen Betrachtung hineinführen. 155 Der erste befaßt sich mit ISS

H.-G. Gadamer führt folgende Bemerkung aus Husserls Selbstkritik hinsichtlich seiner Ideen I an: „Der große Fehler, daß von der natürlichen Welt (ohne sie als Welt zu charakterisieren) ausgegangen wird" (Husserliana III, S.390; in: Gadamer , Wahrheit, S.255).

§ 14 Sein und τέχνη

177

den Problemen von Ausdruck und Bedeutung, d. h. mit dem ,Medium 4 , worin alle phänomenologischen Einsichten sich konkret ausbilden. Es besteht aber nach Husserl ein zweiter Weg, der „vonseiten der Erfahrung und der sinnlichen Gegebenheiten" in den ursprünglich phänomenalen Bereich einzudringen versucht. 156 Für die hermeneutisch-phänomenologische Betrachtung ergeben sich nach Heidegger, wie wir gesehen haben, insofern sie ihren Ausgang bei der faktischen Welterfahrung nimmt, eigentümliche Zugangsprobleme. Diese Schwierigkeiten entstehen vor allem durch bestimmte geschichtlich vorgegebene Interpretationen der Welterfahrung, die das ursprüngliche Weltphänomen prinzipiell verstellen. Trotz der scheinbar eindringlichen Erschließung der Natur durch die empirischen Wissenschaften bleiben die fundamentalen Einsichten in das Sein des Welthaften immer noch aus, ja entziehen sich sogar immer entscheidender dem wissenschaftlichen Blick. So konnte Husserl die Situation der Wissenschaften seiner Zeit im Hinblick auf die seinsmäßige Erschließung des Weltphänomens mit folgenden Worten ausdrücken: „Die Naturwissenschaften haben uns die aktuelle Wirklichkeit, die Wirklichkeit, in der wir leben, weben und sind, nicht enträtselt, an keinem einzigen Punkte." 1 5 7 Die leitende Problematik für eine Phänomenologie der Welterfahrung wird von Husserl als die der Methode gefaßt. Während bei den Naturwissenschaften die „Natur, die sie erforschen, für sie einfach da" ist, 158 stellt sich die phänomenologische Forschung zur Aufgabe, „die Ergebnisse der natürlichen Wissenschaften hinsichtlich des Seienden in der richtigen und endgültigen Weise zu interpretieren". 15HabenHausstandVermögenSubjekt< zu kommen." 293 Wenn im Umgang mit Zeug die Natur mitentdeckt wird, so geschieht dieses Entdecken des Naturhaften nach Heidegger innerhalb einer vorgängigen Erhellung der öffentlichen Welt'. 2 9 4 Von dieser Welt her hat das vorfindliche Zeug292 293 294

Vgl. SZ EA, S.70 GA 24, S.236 SZ, EA, S.71

§ 15 Bedeutsamkeit als die Weltlichkeit der Welt

219

ganze immer schon einen bestimmten Richtungssinn. Im Umgang mit Zeug „ist durch das Besorgen die Natur in bestimmter Richtung entdeckt". 295 Durch unsere Erörterung von Heideggers Entwicklung einer Hermeneutik des faktischen Lebens stellte sich die Bewegung als der hermeneutische Grundbegriff innerhalb der Explikation der Faktizität heraus. 296 In der Aufklärung des Weltphänomens in Sein und Zeit wird zwar der Begriff der faktischen Bewegtheit innerhalb der Weltanalyse selbst nicht eigens genannt,297 aber er bleibt jedoch unausgesprochen darin am Werk. Dies zeigt sich durch Heideggers Beschreibung des nächsten Umgangs des fundamentalontologisch gefaßten Daseins: „[Das In-derWelt-sein] ist immer irgendwie ausgerichtet und unterwegs; Stehen und Bleiben sind nur Grenzfälle dieses ausgerichteten >UnterwegsWozu< ist ein Worum-willen." 10 Darin liegt nun: Das Zuhandene ist als solches je schon auf das Dasein verwiesen. Diese apriorische Verwiesenheit des nächstbegegnenden Seienden auf das Dasein macht deutlich, daß für Heidegger das Sichzeigen des welthaft Seienden auf das Sichzeigen lassen des Daseins zurückzuführen ist. Die Erhellung des Innerweltlichen enthüllt sich also durch die hermeneutisch-phänomenologische Weltanalyse als etwas, das im ursprünglichen Vollzug des daseinsmäßigen Verstehens im Sinne des Entdeckens gründet. Die ursprüngliche Umgangserhellung wird von Heidegger die ,Umsicht' 11 genannt. Mit dieser Sicht des Daseins im Umgang mit nicht daseinsmäßigem Seienden vollzieht sich aber gleichursprünglich die Einsicht' des Daseins bezüglich seines eigenen Seins. Diese zweideutige Sichtweise des faktischen Lebens hat Heidegger im Rahmen einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der aristotelischen Ethik im Hinblick auf seine eigene zentrale Aufgabe einer Hermeneutik der Faktizität weiter entwickelt. Demnach wendet sich unsere Erörterung des Verstehens zunächst der Nikomachischen Ethik des Aristoteles zu, um dort eine erste Orientierung für die Herausstellung der nach Heidegger die faktische Existenz selbst erschließenden Sichtweise zu gewinnen. Wie für alle im Rahmen der vorliegenden Arbeit gegebenen Darlegungen der aristotelischen Philosophie, gilt, dies sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich angemerkt, daß der folgende Aufriß des Kerngedankens der Nikomachischen Ethik von vornherein auf eine Erhellung des von Heidegger vor allem in Sein und Zeit herausgearbeiteten Begriffes des Verstehens abzielt. Unsere Beschreibung versteht sich also als eine im recht verstandenen, d.h. hermeneutischen, Sinne einseitige Schilderung des Aristoteles.

,0 11

SZ, EA S.84 Vgl. SZ, EA S.69

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

231

b) Die Ethik als Wissenschaft des Seins des Menschen bei Aristoteles α) Die Fundiertheit der ethischen in der dianoetischen Tugend Im ersten Buch der Nikomachischen Ethik ordnet Aristoteles die Ethik der politischen Wissenschaft zu. Die Politik ist nach dem aristotelischen Verständnis als solche nicht darauf aus, Erkenntnis zu gewinnen, sondern sie befaßt sich mit der πράξις selbst.12 Der ethischen Wissenschaft 11 geht es dementsprechend darum, ein Gutes zu gewinnen, das dem Menschen sowohl machbar wie auch erreichbar ist. 14 Das eigentlich menschliche Gute wird dabei als die ευδαιμονία herausgestellt. Diese besteht nach Aristoteles in einer ενέργεια ψυχής κατά λόγον, d.h. in einem ,Am-Werke-sein der Seele gemäß dem λόγος 4 . 15 Sofern der Mensch sich nach dem eigentlich Guten des eigenen Lebens richtet, bildet der λόγος als Richtmaß der ,Aktivität 4 zugleich eine άρετή, eine Tugend. Die ένέργεια κατ άρετήν zeichnet sich nun nach Aristoteles dadurch aus, daß ihr βεβαίοτης, Beständigkeit 4 , am meisten unter allen menschlichen Werken eig12

EN A, 1095a6 f. Zur allgemeiner Orientierung hinsichtlich der EN des Aristoteles siehe: I. Düring, S.455 ff.; E. Zeller, S.607 ff.; W. Jaeger , S.241 ff. Bei Jaeger wird die EN für ein Spätwerk gehalten, welche Feststellung sich dadurch bezeugen soll, daß sich im dort dargelegten φρόνησις-Begriff eine kritische Einstellung Piaton gegenüber erweist. Dabei soll Aristoteles so vom platonischen Begriff des Verstehens Abstand gewonnen haben, daß er seine eigene Idee einer praktischen Vernunft 4 im Gegenzug zur theoretischen Grundstellung Piaton ausbildet. So heißt es: „Während der Protreptikos die φρόνησις ganz platonisch als das philosophische Erkennen schlechthin faßt, kennt die Metaphysik diesen Begriff nicht mehr. Völlig anders ist auch das Bild, welches die Nikomachische Ethik bietet. Sie hat mit der φρόνησις des Protreptikos von Grund auf gebrochen. Der Frage nach der Stellung der φρόνησις im System der dianoetischen Grundkräfte der Seele ist in der Ethik (Buch VI) ein breiter Raum gewidmet. Die Polemik blickt allenthalben zwischen den Zeilen durch. Aristoteles führt die φρόνησις auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch, d.h. auf die vorplatonische Bedeutungsstufe zurück. Er nimmt ihr jede theoretische Bedeutung und grenzt ihren Geltungsbereich scharf gegen den der σοφία und des νους ab.[...] Er schärft jetzt ein, daß [die φρόνησις] kein Denken, sondern ein Reflektieren ist, daß sie es nicht mit dem Allgemeinen, sondern mit den unwiederholbaren Einzelheiten des Lebens zu tun hat, daß sie also nicht das Wertvollste und Höchste im Universum zum Gegenstand hat und überhaupt keine Wissenschaft ist. Alles dies bedeutet den offenen Widerruf der platonischen Ansichten des Protreptikos.44 (S.83-84). Gerade diese von Jaeger aufgewiesene Verwandlung des φρόνησις-Begriffes bei Aristoteles von einer Betrachtung des Alls zu einem besinnenden Verhalten zu den Sachen der konkreten Praxis des Menschen ist es, die von der aristotelischen Zuwendung an das konkret Einzelne zeugt. Darin liegt zugleich für Heidegger der Vorzug des aristotelischen Denkens gegenüber dem platonischen und macht deutlich, warum er die φρόνησις bei Aristoteles ins Zentrum seiner radikalisierenden Aneignung rückt. 14 Vgl. EN A, 1096b34 f. 15 Vgl. EN A, 1098a 13 ff. n

232

Drittes Kapitel: Das Verstehen

net. Diese Beständigkeit der rechten Verhaltung besagt, daß sie μή γίγνεσθαι περί αυτά λήθη: „nicht in Vergessenheit gerät". 16 Als Verhaltungen des psychisch verfaßten Seienden werden die άρεταί im Hinblick auf die Grundbestimmungen der ψυχή unterschieden. Daraus ergeben sich zwei Grundarten der αρετή, nämlich die διανοητική und die ήθική. Als ,dianoetische Tugenden4 nennt Aristoteles die σοφία und die φρόνησις.17 Diese bilden die intellektuellen Tugenden', die als solche den Grundcharakter der ένεργεια κατά λόγον haben. Durch die Definition der Tugend im zweiten Buch der Ethik wird deutlich, daß für Aristoteles die άρετή ήθική in der αρετή διανοητική fundiert ist. Denn der Grundsatz der ethischen Verhaltung, nämlich daß die μεσότης getroffen werde, ist selbst durch einen λόγος wesenhaft bestimmt. Dieser bestimmende λόγος weist seinerseits auf den φρόνιμος, d.h. auf den besonnenen Menschen selbst, zurück. 18 Demnach lautet die aristotelische Definition der άρετή: έξις προαιρετική, έν μεσότητι ούσα τή προς ήμας, ώρισμένη λόγφ καί ώς αν ό φρόνιμος όρίσειεν: „eine absichtlich bevorzugte Verhaltung, die sich an das hält, was für uns das Mittlere ist und durch den λόγος bestimmt wird, wie der Besonnene dies bestimmen würde". 19 Der Herrschaftsbereich des bewußt vollzogenen Entschlusses (προαίρεσις) erstreckt sich nach Aristoteles auf das, was έφ' ήμίν, ,uns zufällt'. Das, was innerhalb dieses Bereiches auf uns zukommt, sind πράκτα, Machbares. Diesem Bereich des möglichen Tuns stellt nun Aristoteles drei weitere ,Ursachen' ent-

16

Vgl. EN A, 1100b 12 f. Vgl. EN A, 1103al ff. 18 Zur aristotelischen Bestimmung der Vollzugsweise der φρόνησις als eine Verhaltenheit gemäß όρθός λόγος vgl. /. Düring : „Aristoteles meint mit orthos logos nicht eine Regel oder Proportion, sondern eine Tätigkeit des Verstandes [...] Der Begriff orthos logos ist ein Eckstein der Aristotelischen Ethik, kommt in allen drei Ethiken vor und ist der rote Faden der EN. Der ,richtige Verstand' ist eine intellektuelle Qualität, die in seiner Ethik dieselbe Funktion hat wie das Ideenwissen bei Piaton. Der Gedanke, man möchte fast sagen, der Glaube, es gebe „einen Zielpunkt, auf den derjenige, der den richtigen Verstand besitzt, den Blick richte, um dann sich anzuspannen oder zu entspannen", steht gewiß nicht zufällig im Zentrum der EN, am Anfang des VI. Buches. Diese Fähigkeit, die Dinge richtig zu sehen, ist bei Aristoteles im Gegensatz zu Piaton nichts Geheimnisvolles, sondern etwas Angeborenes, das durch Erziehung geschult zuletzt eine Frucht der Erfahrung und Weisheit wird. Man darf wohl sagen, daß wir hier einer Konstanten in seinem Denken begegnen" (S.469). Aber wenn Aristoteles die φρόνησις als eine έξις άληθή μετά λόγον πρακτική bestimmt (vgl. EN Ζ, 1140b6-7), so birgt sie zugleich, wie wir gleich sehen werden, ein vom Logos völlig abgelöstes Prinzip der Einsichtigkeit in sich. Der λόγος der φρόνησις ist demnach, indem sie sich auf die konkrete Sache der praktischen Situation richtet, wesenhaft auf Anschauung bezogen. Die Erhellung dessen, worum es in der πραξις geht, macht also den Richtungssinn des ,logischen' Richtmaßes der praktischen Vernunft bei Aristoteles aus. 19 EN A, 1106b36 f. 17

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

233

gegen: φύσις, ανάγκη und τύχη. 20 Die Prinzipien der Natur, der Notwendigkeit und des Zufalls haben für Aristoteles jeweils einen eigentümlichen GeschehensCharakter. Der Entschluß vollzieht sich nun nach Aristoteles seinerseits als ein überlegtes Bevorzugen von etwas vor anderen möglichen Gegenständen der Wahl. 21 Wer sich etwas überlegt, der ist auf der Suche. Das, wobei der Suchende Halt macht, dieses Letzte (έσχατοv), ist bei der Handlung das Erste, was ausgeführt wird. 22 Das, was in den Gesichtskreis der Überlegung gerückt wird, ist indessen nicht das Ziel (τέλος) der Handlung selbst, sondern was zum Ziel hinführt. 23 Durch diese Erwägungen gelangt nun Aristoteles zu seiner Definition der προαίρεσις: βουλευτική ορεξις των έφ' ήμιν: „der Entschluß ist überlegtes Wollen dessen, was uns zufällt". 24

20

Vgl. EN A, 1112a30 ff. Vgl. EN A, 1112al5 f. 22 Vgl. EN A, 1112b21 f. Diese von Aristoteles der praktischen Vernunft zugeschriebene Gerichtetheit auf das Letzte erweist sich als problematisch. Denn wie soll dieses im voraus erfaßt werden, und zwar, wie Aristoteles sagt, unmittelbar, d.h. in der Anschauung (άισθησις)? Soll der Vollzugsmodus der φρόνησις so ohne diskursive Charaktere das gewollte Ziel mit einem Schlag zum Vorschein kommen lassen? Wenn dem so ist, warum bestimmt Aristoteles die φρόνησις als eine βουλεύεσις, die mit Notwendigkeit allmählich zum bestimmten Ziel fortschreitet? In diesem Problem der unmittelbaren Erfassung des Endziels in der φρόνησις meldet sich aber wieder die problematische Beziehung der praktischen Vernunft zum λόγος. E. Zeller macht darauf aufmerksam, daß die Feststellung des Aristoteles, wonach das Letzte (έσχατον) bzw. das, was anders sein kann (ένδεχόμενον) nicht durch den λόγος, sondern durch den νους erkannt werde, „allerdings etwas auffallendes" auf sich habe. Er fährt fort: „denn der Untersatz des praktischen Schlusses ist, wie es scheint, Sache der Wahrnehmung, nicht des Nus, sein Schlußsatz, das έσχατον, durch die Prämisse vermittelt, also nicht νους, sondern λόγος, nicht unmittelbares, sondern mittelbares Erkennen" (S.651). Die scheinbare Widersprüche beim aristotelischen Begriff des νους sind nach Zeller nur dann aufzulösen, wenn zugestanden wird, daß er in zweifacher Weise von Aristoteles verstanden wird. Dabei erweist sich die praktische Vernunft als etwas, dem sowohl der Grundcharakter der Überlegung wie auch der der Anschauung des konkret Einzelnen eignet. So heißt es bei Zeller: „ ... von der φρόνησις, der Tugend der praktischen Vernunft, sagt ja Aristoteles gleichfalls beides, daß ihr die praktische Überlegung, und daß ihr die unmittelbare Erkenntnis des έσχατον, das πρακτόν zukomme. Er rechnet also die Erkenntnis des Tatsächlichen, von dem die praktische Überlegung ausgeht, und des Auszuführenden, zu dem sie hinführt, mit zu dieser" (S.652 Anm.2). 23 Vgl. EN A, 1112b34 f. 24 EN A, 1113al lf. Zeller faßt die βουλεύεσις als den Vollzugsmodus der φρόνησις: „Nun die praktische Überlegung ist es, worin die Einsicht sich betätigt [...] Diese ihre [d.h. der ,praktischen Überlegung'] Richtung auf die praktischen Zwecke und das Einzelne, in der Erfahrung Gegebene, ist es, was die Einsicht sowohl von der Wissenschaft als von der theoretischen Vernunft unterscheidet. Dagegen erweist sie sich in beiden Beziehungen als eine Äußerung der praktischen Vernunft, deren eigentümliches Wesen in ihr so vollständig zur Darstellung kommt, daß wir sie geradezu als die Tugend der praktischen Vernunft, oder die zur Tugend ausgebildete praktische Vernunft bezeichnen können" (S.653-655). 21

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Drittes Kapitel: Das Verstehen

ß) Die praktische Vernunft als ,logisches' Verhältnis des νους zur ορεξις Insofern die ethische Tugend sich auf das ,Mittlere' zu richten hat, das als λόγος nicht durch den Entschluß selbst bestimmt werden kann, weist die ethische Verhaltung, wie schon erwähnt, auf die dianoetische zurück. Die dianoetischen Tugenden werden von Aristoteles im Buch Ζ der Nikomachischen Ethik behandelt. Dort wird der ,logische' Teil der Seele seinerseits in zwei Ausrichtungen geteilt: Zum einen kann der Mensch sich auf das richten, was sich unmöglich anders verhalten kann; zum anderen auf das Veränderliche. 25 So nennt Aristoteles dasjenige Verhalten zum Veränderlichen, das sich gemäß dem λόγος vollzieht, das λογιστικόν. 26 Es gibt nach Aristoteles ferner ein Dreifaches in der Seele, das der Handlung und der Wahrheit mächtig ist, nämlich αίσθησις, νους und ορεξις. 27 Insofern die sinnliche Wahrnehmung an sich keinen Grund der πραξις ausmacht, erweist sich die praktische Vernunft' als eine Wahrheit, die darin besteht, sich auf rechte Weise zum rechten Wollen zu verhalten (τού δε πρακτικού διανοητικού ή αλήθεια όμολόγως έχουσα τή όρέξει τή όρθή ). 2 8 Die beiden Grundelemente des menschlichen Seins, sowohl die Besinnung (νούς) wie auch das Wollen (ορεξις), sind bei Aristoteles gleichursprüngliche 25

Vgl. ENZ, 1139a5 f. Vgl. EN Ζ, 1139al5. Zum Zwiespalt der Tugend (άρετή) bei Aristoteles, der in der fundamentalen Unterscheidung der Beweggründe im Menschen zwischen dem νούς und der ορεξις sich ausdrückt, bemerkt E. Zeller .: „[Die Tugend] ist nun, wie die geistige Tätigkeit selbst, von zweifacher Beschaffenheit; die dianoetische und die ethische. Jene bezieht sich auf die Vernunfttätigkeit als solche, diese auf die Beherrschung des vernunftlosen Teils durch den vernünftigen, jene hat ihren Sitz im Denken, diese im Willen. Die letztere ist es, mit der die Ethik zu tun hat" (S.623). Diese Unterscheidung Zellers als eine zwischen der ursprünglichen Vernunfttätigkeit, die er ,Denkvermögen4 (νούς) nennt, und der abgeleiteten im Sinne des ,Begehrensvermögens' (ορεξις), wobei letztere den eigentlichen Gegenstand der Ethik ausmache, sei nicht nur an Aristoteles' Benennung der Ethik als einer πρακτική επιστήμη zu erkennen, „sondern es ergibt sich auch aus der ganzen Anlage der Nikomachischen Ethik, welche eine andere sein müßte, wenn es darin auf die gleichmäßige Behandlung der dianoetischen und der ethischen Tugend abgesehen wäre" (S.624, Anm. 5). Gerade die Verweisung der ethischen Tugend im Sinne der eigentlichen Vollzugsweise des Begehrensvermögens auf ein ,logisches' Richtmaß macht es nach Zeller für Aristoteles unumgänglich, daß der eigentliche Rahmen der EN durch eine Betrachtung der 'intellectuelle Einsicht', wodurch dieses Maß allererst zu Gesicht gebracht wird, gesprengt wird. Um die φρόνησις begrifflich zu fassen, muß sie aber zunächst gegen die anderen Grundformen des Denkvermögens abgegrenzt werden. Diese Abgrenzung der ,Einsicht4, wie Zeller die φρόνησις „in Ermangelung eines bezeichnenderen Wortes" (S.649, Anm. 2) übersetzt, vollzieht sich im Hinblick auf den Seinsstand des Gegenstandes, worauf sich die intellektuellen Grundkräfte beziehen. Dieser Seinsstand mißt sich, wie unten erläutert, an der Geschehensweise der Gegenstände, gemäß der etwas sich immer so und so verhält oder aber anders sein kann. 27 ENZ, 1139al8 f. 28 ENZ, 1139a30 f. 26

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

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Konstitutiva des Entschlusses. Demgemäß nennt er die προαίρεσις ein wollendes Besinnen (ορεκτικός νους) bzw. ein besinnendes Wollen (όρεξις διανοητική). 29 Sofern der Mensch selbst sich als eine άρχή ergreifen läßt, wird er daher von Aristoteles als eine Vereinigung von Willen und Besinnen verstanden. c) Heideggers radikalisierende Interpretation vom Buch Ζ der Nikomachischen Ethik α) Der νους als ursprüngliche Lichtquelle. Erste Andeutung auf den Verstehenshorizont der aristotelischen Ontologie als die Bewegtheit Nach diesem knappen Umriß der Grundzüge der aristotelischen Ethik vor allem im Hinblick auf die ,Tugendlehre 4 wenden wir uns Heideggers Auslegung des sechsten Buches dieser Schrift zu. Wie oben vor allem bei unseren Erwägungen zu Heideggers Interpretation des aristotelischen τέχνη-Begriffes herausgestellt wurde, vollzieht sich seine phänomenologisch-hermeneutische Aneignung des Aristoteles am Leitfaden einer Zuspitzung auf die Selbstwelt, was besagt, daß die Darlegungen des Aristoteles von Anfang an in eine grundsätzlich andersartige Richtung gelenkt werden. Was also durch die heideggersche Auslegung des Aristoteles zum Vorschein gebracht wird, ist, streng genommen, nicht in den aristotelischen Schriften zu finden, sondern entspringt allererst aus dem, was wir bei Heidegger als den ,hermeneutischen Einsatz4 kennengelernt haben.30 Demnach wird das hermeneutische Verstehen in erster Linie so charakterisiert, daß dieses als ein Gegenentwurf zum Seinsverständnis der traditionellen Philosophie sich vollzieht. Was also im folgenden von uns dargelegt wird, will sich keineswegs als eine immanente Auslegung des Aristoteles ausgeben, sondern das alleinige Anliegen dieser Ausführungen liegt vielmehr darin, den von Heidegger selbst ausgearbeiteten fundamentalontologischen Begriff des Verstehens zu erhellen. Im sogenannten ,Natorp-Bericht 4 hebt Heidegger im Rahmen einer prägnanten Auslegung von Buch Ζ der Nikomachischen Ethik zunächst die σοφία und die φρόνησις als die beiden „eigentlichen Vollzugsweisen des νους44 heraus.31 Dabei weist er auf eine Stelle in De anima hin (430al5), wo das Wirken des νους von Aristoteles mit dem des Lichtes verglichen wird. Demnach sei der νους als das Eigentümliche des Menschen dort am Werk, wo er dem Umgang seine Erhellung verleiht: Der νους gibt überhaupt Sicht, ein Etwas, ein >DaJetzt< und in der Vorzeichnung des Wie. Sie geht auf das έσχατον, Äußerste, in dem sich die bestimmt geschehene konkrete Situation jeweils zuspitzt.52 Die φρόνησις wird als praktische Vernunft 4 von Aristoteles in übertragenem Sinn als die ,Lichtquelle4 der menschlichen Handlung gefaßt. Als Erhellendes ist sie zugleich eine αλήθεια im Hinblick auf ein Gewolltes. Das Wollen weist aber auf das menschlich Gute selbst zurück, das von Aristoteles als das zweckmäßig charakterisierte Grundprinzip des Seienden (ού ένεκα) gefaßt wird. Die zweifache Ausgerichtetheit der φρόνησις, einmal auf den Umgang mit Welthaftem, zum anderen auf das eigene Sein des Menschen , wird nun von Heidegger in seiner radikalisierenden Auslegung der aristotelischen φρόνησις in seine eigene in Sein und Zeit vollzogene Unterscheidung von Umsicht und Einsicht umgewandelt. Nach der heideggerschen Interpretation gilt demnach die φρόνησις einerseits der Umwelt , andererseits der Selbstwelt. Mit dieser, nach Heidegger die praktische Vernunft 4 wesentlich charakterisierenden Unterscheidung hinsichtlich ihrer vollzugsmäßigen Ausgerichtetheit, hängt nun die für die Daseinsanalytik von Sein und Zeit überhaupt zentrale Differenzierung von Ei48 4y 50 51 52

Vgl. ENZ, 1141 b 15 f. Vgl. EN 1141b7 f. Vgl. EN 1141bl3 f. PI, S.260 PI, S.259

16 Elliott

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Drittes Kapitel: Das Verstehen

gentlichkeit und Uneigentlichkeit eng zusammen.53 Darin liegt nun für Heidegger zugleich der dem Seinsentwurf des Aristoteles selbst verhüllte Grund für die ontologische Unterscheidung der φρόνησις von der τέχνη. Denn die Herstellung (ποίησις) bildet für das fundamentalontologische Verständnis Heideggers eine uneigentliche Verhaltenheit des Daseins, d.h. eine Weise des faktischen Lebens, wobei das Dasein sich zum nicht daseinsmäßigen Seienden verhält. Bei der φρόνησις hingegen „ist vielmehr der Gegenstand des Überlegens die ζωή selbst".54 Dadurch ergibt sich aber die hermeneutische Aufklärung der aristotelischen Einsicht, gemäß der in der Kunst das, was hervorgebracht wird, das Gute in sich selbst enthält, während das Gutsein der πραξις auch davon abhängt, wie der Handelnde selbst sich verhält. 55 Von Aristoteles selbst werden drei Bestimmungen des rechten Handelns herausgestellt: Erstens muß wissentlich gehandelt werden; zweitens soll die Handlung absichtlich geschehen; und drittens muß die Handlung aus einer festen Disposition des Handelnden hervorgehen. 56 Zur φρόνησις, wie diese von Heideggers hermeneutisch gefaßt wird, gehört der vorausgehende Entschluß: „Die φρόνησις ist ύπόληψις αληθής του τέλους, »das, was im vorhinein das τέλος ergreift«, so daß dieses τέλος υπό, vorweg vor allem, schon da ist." 57 Wenn also die von Aristoteles her bestimmte φρόνησις sich als ευβουλία, rechte Überlegung, vollzieht, so wird von Heidegger in dieser aristotelischen Bestimmung der φρόνησις der das Überlegen wesenhaft vorwegnehmende Charakter der praktischen Vernunft im Hinblick auf 53

Zu Heideggers Interpretation von ποίησις und πράξις und ihrer Beziehung zu dem fundamentalontologisch gefaßten Unterschied Eigentlichkeit-Uneigentlichkeit vgl. J. Taminiaux : „L'ontologie fondamentale est règie par la distinction de base entre Γ Uneigentlichkeit et V Eigentlichkeit, la première caractérisant la préoccupation quotidienne, la seconde le souci. Cette distinction est hiérarchique en ce sens que la préoccupation est une chute du souci. Cette distinction réapproprie la distinction aristotélicienne entre la ποίησιςβΐ la πράξις. La πράξις au sens aristélicienne gouverne la ποίησις. Et elle doit cette position gouvernante à son caractère autoréférentiel" (S.l65). Mit Hinblick auf Heideggers Auslegung von NE Ζ im Natorp-Bericht bemerkt T. Kisiel : „This influence lasts into Being and Time , for the φρόνησις into human action constitutes the exemplary paradigm of its Second Division, just as the other nontheoretical 'dianoetic virtue', τέχνη, concerned with making and using, its the basic example of the first" (Genesis, S.250). 54 GA 19, S.49 w Vgl. EN Β 1105a27 f. Si> Vgl. EN 1105a32 f. Vgl. auch dazu I. Düring: „Erst Aristoteles hat die Struktur der ethischen Wahlsituation analysiert und die Rolle des guten Willens festgestellt. Eine Handlung kann man ethisch nur unter der Voraussetzung bewerten, daß der Handelnde weiß, was er tut. Er muß eine Wahl treffen, und er muß diese Handlung um ihrer selbst willen wählen. Ferner muß seine Handlung aus einer festen Gesinnung hervorgehen; es muß zu seinem Wesen gehören, gut handeln zu wollen, denn äußerliche Rechenschaffenheit ist nicht viel wert. Alles beruht auf dem guten Willen" (S.463). S7 GA 19, S.156

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

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das τέλος hervorgehoben. Die gleiche Struktur des vorwegnehmenden Erblikkens wird nun von Heidegger, wie oben dargelegt, 58 in seiner Interpretation des aristotelischen τέχνη-Begriffes herausgestellt. Diese Struktur macht für ihn gerade dasjenige Wesensmoment der fundamentalontologisch gefaßten Seinsverfassung des Daseins aus, das er das ,Sich-vorweg-sein l nennt.59 Das ursprüngliche Phänomen des dem Dasein wesenhaften Vorwegseins enthüllt sich im Rahmen der Daseinsanalytik als die Transzendenz des Daseins selbst. Diese aufgewiesene existenzial-ontologische Transzendenz des Daseins schließt in sich, daß es nicht dem einzelnen überlassen ist, ob er sich zum eigenen Sein in der Weise eines Sichvorweg verhält oder nicht. Allerdings kann für Heidegger das Dasein als verstehendes sein Seinkönnen entweder vom eigenen Sein oder aber vom Sein des nicht daseinsmäßigen Seienden her ergreifen. Das

58

Vgl. oben § 14b, α. SZ, EA, S.l92. Die oben angezeigte Doppelbewegung des hermeneutischen Verstehens bringt es mit sich, daß dieses Verstehen durch A. Vigos Rede von einer Abkehr vom traditionellen Primat des Theoretischen zugunsten des Praktischen nicht getroffen, sondern vielmehr verdeckt wird. Dennoch trifft Vigo zweifellos etwas vom Grundzug der heideggerschen Auslegung, indem er bemerkt: „Heidegger sieht in der aristotelischen Unterscheidung zwischen dem Leben der φρόνησις und dem Leben der σοφία eine Grundalternative zwischen zwei Modellen der ,Eigentlichkeit', die jeweils eine unterschiedliche ontologische Orientierung verkörpern, nämlich: eine Orientierung an der durch radikale Endlichkeit gekennzeichneten Seinsverfassung des Daseins selbst bzw. die Orientierung an der Seinsart der durch ständige Anwesenheit charakterisierten substantiellen Dinge der Welt" (S.88). Aber gerade durch Heideggers radikalisiertes Verständnis der φρόνησις aus der existenzial-ontologisch begriffenen Endlichkeit des Seinsverständnisses wird deutlich, daß das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit, d.h. das, was Heidegger die »Wahrheit der Existenz' im Sinne der durch das Gewissen-haben-wollen sich zeitigenden Entschlossenheit (vgl. SZ, EA S.297), nicht die Wahrheit des besorgenden Umgangs sein kann, wobei innerweltliches Seiendes entdeckt wird. Denn Heidegger versteht seine Analyse des besorgenden Umgangs als eine Freilegung der nächsten Weise, wie das Dasein sein In-der-Welt-sein versteht. Das besagt aber, daß mit der existenzial-ontologischen Beschreibung der Werkwelt gerade nicht das ursprünglichste Verstehen des Daseins seinem Sein, sondern vielmehr das nächste, aus der durchschnittlichen Alltäglichkeit Daseins her sich ausbildende Seinsverständnisses existenzial-ontologisch zur Abhebu gebracht wird. Entsprechend heißt es beim Ausgang der Weltanalyse in SZ: „Das In-derWelt-sein und sonach auch die Welt sollen im Horizont der durchschnittlichen Alltäglichkeit als der nächsten Seinsart des Daseins zum Thema der Analytik werden" (EA, S.66). Wenn nun Heidegger an einer viel späteren Stelle im Verlauf der Daseinsanalytik im Hinblick auf die ausgezeichnete Möglichkeit des Daseins im Sinne seines je eigenen Todes sagt: „Das alltäglich verfallende Ausweichen vor ihm ist ein uneigentliches Sein zum Tode. Uneigentlichkeit hat mögliche Eigentlichkeit zum Grunde" (SZ, EA, S.259), dann muß Vigos Behauptung einer praktischen' Wahrheitskonzeption bei Heidegger entgegengehalten werden, daß für Heidegger das eigentlichste Phänomen der Wahrheit dem besorgenden Umgang prinzipiell verschlossen bleiben muß. 5y

1

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Drittes Kapitel: Das Verstehen

besagt nun: Faktisch versteht das Dasein sein Sein zunächst aus dem Umgang mit Welthaftem her, es kann aber das eigene Sein auch von diesem selbst her zu Gesicht bringen: Das Verstehen kann sich primär in die Erschlossenheit der Welt legen, das heißt das Dasein kann sich aus seiner Welt her verstehen. Oder aber das Verstehen wirft sich primär in das Worumwillen, das heißt das Dasein existiert als es selbst. Das Verstehen ist entweder eigentliches, aus dem eigenen Selbst als solchem entspringendes, oder uneigentliches.60 Um die hermeneutisch-phänomenologisch gefaßte Vollzugsart des dem Dasein wesensmäßigen Verstehens des eigenen Seins gegen die des Sichverstehens aus dem besorgbaren nicht daseinsmäßigen Seienden abzugrenzen, nennt Heidegger das erstere die Durchsichtigkeit 4 . 61 Aufgrund der fundamentalontologischen Bestimmung des ursprünglichen Verstehensphänomens läßt sich also sagen: Das gesamte Phänomen der Erschlossenheit des Seins besteht als eine doppelte Gelichtetheit - einmal von der Umwelt durch die Umsicht, zum anderen von der Selbstwelt durch die Einsicht. Demgemäß ist für Heidegger jede Verhaltensweise des Daseins zum Seienden zugleich eine ,Sichtweise'.62 d) Die,Endlichkeit'

der φρόνησις

α) Die Endlichkeit als der fundamentalontologische Sinn der Bewegtheit des faktischen Lebens bei Heidegger Nach Heideggers radikalisierender Aneignung der φρόνησις macht diese als verstehende Sichtweise die faktische Situation selbst allererst eigentlich sichtbar. Das Grundphänomen für die hermeneutische Aufklärung des faktischen Daseins ist nun aber die Bewegung. Wie wir sahen, hebt Heidegger in seiner Interpretation der aristotelischen φρόνησις die wesenhafte Gerichtetheit dieser dianoetischen Tugend auf das έσχατον, das Äußerste, hervor. Wozu geschieht das? Im folgenden werden wir versuchen, die Grundtendenz der von Heidegger vollzogenen Destruktion der aristotelischen φρόνησις als eine Aufweisung der fundamentalontologisch verstandenen Endlichkeit des Daseins offenbar zu machen. Dabei wird sich die Endlichkeit als das für die vorliegende Untersuchung überhaupt bedeutendste Phänomen erweisen. Dieser Grundbegriff des heideggerschen Denkens kommt nun aber erst in der nach Sein und Zeit verfaßten Schrift Kant und das Problem der Metaphysik in aller Deutlichkeit ans

SZ, EA, S.146. Vgl. ebd. 62 Vgl. SZ, EA, S.l47. 61

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

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Licht. Aber diese relativ späte Hervorhebung der dem Sein des Menschen wesenhaften Endlichkeit sollte nicht dazu verleiten, die in Sein und Zeit ausgearbeitete Analytik des Daseins im Sinne einer Fundamentalontologie als das Produkt eines unzeitgemäßen Bestrebens, eine absolute, alles umfassende Philosophie aufzustellen, anzusehen, wozu nun Heideggers Charakterisierung seiner hermeneutischen Phänomenologie des Daseins als einer Fundamentaloniologie Anlaß zu geben scheint.63 Damit aber die Endlichkeit gerade als dasjenige Grundphänomen, das die Analytik des Daseins in erster Linie zur hermeneutischen-phänomenologischen Aufweisung bringen will, auf rechte Weise gefaßt werden kann, müssen wir von vornherein über Heideggers Rede von ,Fundament4 in bezug auf das Dasein als die letztlich ontische Herkunft der Ontologie im klaren sein. Nach Heideggers Verständnis des ontisch-ontologischen Vorrangs des Daseins birgt dieses Seiende die Ontologie als eine ursprüngliche Möglichkeit seines Seins in sich. Diese seinsmäßige Auszeichnung des Daseins besagt aber nicht nur, daß die Ontologie als eine Seinsmöglichkeit dieses Seienden aufzufassen ist, sondern, sofern unter ,Ontologie4 die traditionelle von den Griechen herkommende Metaphysik verstanden wird, zumal daß die Fundamentalontologie Heideggers selbst erst aus dem faktischen Sein des Daseins entspringt. Wie es in Sein und Zeit heißt: Die existenziale Analytik ihrerseits aber ist letztlich existenziell, d.h. ontisch verwurzelt. Nur wenn das philosophisch-forschende Fragen selbst als Seinsmöglichkeit des je existierenden Daseins existenziell ergriffen ist, besteht die Möglichkeit einer Erschließung der Existenzialität der Existenz und damit die Möglichkeit der Ingriffnahme einer zureichend fundierten ontologischen Problematik überhaupt/"4 Dieser Hinweis auf das ontische Fundament der Ontologie überhaupt meint nun aber, daß die von Heidegger ausgearbeitete Idee der hermeneutischen Phänomenologie von vornherein darauf abgestellt ist, den in der Geschichte der Philosophie ständig übersehenen und zwar immer wieder verstellten Ursprung des Seinsverständnisses zum Vorschein zu bringen. Mit anderen Worten weist die Bestimmung der Daseinsanalytik als ,Fundamentalontologie4 keineswegs auf den Versuch hin, wie das naheliegen könnte, etwa einen neuen Boden für die sonst in sich selbst zu belassende traditionelle Philosophie zu legen, sondern die ,Grundlegung der Metaphysik4, die sich durch die Analytik des Daseins vollziehen soll, kann für Heidegger nichts anderes bedeuten als eine totale Auf63

Vgl. dazu W. Bröcker. „So ist die aristotelische wie jede echte Philosophie ein Kreisen, worin der Anfang das Ende ebenso voraussetzt wie das Ende den Anfang, weil es eigentlich keinen Anfang und kein Ende gibt. Es gibt keine philosophische Fundamentaldisziplin, auf die sich die andern Disziplinen als auf ein fundamentum inconcu sum aufbauen ließen 44 (S.41; meine Hervorhebung). 64 SZ, EA, S.l3-14

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Drittes Kapitel: Das Verstehen

Hebung der herkömmlichen Ontologie und Rücknahme derselben in das durch die hermeneutisch gefaßte, grundsätzlich ursprünglicher ergriffene Phänomen des Seinsverständnisses. 6S Wenn es nun der hermeneutischen Phänomenologie vor allem darum geht, die traditionelle Ontologie auf ihren wahrhaft ermöglichenden Grund als das faktische Dasein zu bringen, dann wird dadurch die Philosophie mit ihrer ontischen und zumal faktischen Herkunft konfrontiert. Was besagt das? Gründet die Möglichkeit der Ontologie in einem Seienden, nämlich dem Dasein, so muß dieses ,Grundsein' des Daseins radikal anders gefaßt werden als die oben dargelegte, von Aristoteles her verstandene grundlegende Funktion der ουσία/' 6 Denn nach Heidegger wird letztere als die beständige Vorhandenheit verstanden, während das hermeneutisch-phänomenologisch gefaßte Sein des Daseins aufgrund seiner faktischen Bestimmtheit in der Weise einer seinsmäßigen Zerstreuung und Zersplitterung 67 ,da' ist. Wenn zugleich an Heideggers Grundbestimmung des faktischen Daseins als die Ruinanz bzw. der Absturz erinnert wird, so erkennen wir mit aller Deutlichkeit, daß die hermeneutische Bestimmung des Daseins als des eigentlich ermöglichenden Grundes der Ontologie nichts mit der aristotelischen Auffassung von Grund als ουσία gemein haben kann. Soll nun nach Heidegger das ausdrücklich gewordene Verständnis des Seins bzw. die Philosophie eine dem Dasein selbst wesenhafte Möglichkeit seines Seins ausmachen, dann geschieht die ursprüngliche und zumal ausdrückliche , d.h. hermeneutisch-phänomenologische, vollzugshafte Erschlossenheit des Seins, wie wir gesehen haben, als eine ,Gegenbewegung'. Dieses ,Gegen' des eigentlichen, hermeneutischen Seinsentwurfs hat zumal den Charakter eines Woraufhin , eines ,Entgegen'. Wie es im Natorp-Bericht heißt: „Jede Bewegung ist - als βάδισις είς - Unterwegssein zu - ihrem Sinne nach ein noch nicht Erreichthaben ihres Worauf; sie ist gerade als Zugehen darauf." 68 Wenn aber dem eigentlichen und ausdrücklichen Vollzug des Seinsverständnisses ein wesenhaftes Gerichtetsein-auf eignet, so fragt sich, wie Heidegger diesen ,Richtungssinn' des hermeneutischen Verständnisses näher bestimmt. Im folgenden versuchen wir zu zeigen, wie Heidegger die Grunddynamik des hermeneutischen Denkvollzugs durch seine destruierende, d.h. in ein ursprünglicheres Seinsverständnis aufhebende, Auslegung des aristotelischen Begriffes der φρόνησις weiter entwickelt. Wie immer jedoch, darf dabei nicht übersehen

65 Vgl. dazu W. Marx : „[Heidegger] erfüllt ein tiefes Mißtrauen in alle traditionellen Ansätze, vor allem in diejenigen des Seins als Substanz und als Subjekt. Innerhalb der vielfach verschlungenen Motive des Frühwerkes Sein und Zeit muß man als das Hauptmotiv den Versuch erkennen, diese Ansätze zu „überwinden"" (S.93). 66 Vgl. oben, § 10b. 67 Vgl. SZ, EA S.56 68 PI, S.261

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

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werden, daß Heideggers hermeneutische Aneignung des Aristoteles sich aufgrund eines ihr eigenen Seinsverständnisses vollzieht, und zwar so, daß versucht wird, die von Aristoteles gewonnenen echten Einsichten in das Seiende als solches in die dem aristotelischen Denken verschlossene Dimension des Seins zurückzunehmen. Wenn nun nach Heidegger das eigentliche, hermeneutische Verständnis des Seins als eine im Sein des Daseins selbst liegende Möglichkeit dieses Seienden zu fassen ist, dann ist dieses Verstehen selbst von der Faktizität durch und durch bestimmt/'1' Der Faktizität des Daseins kommt, wie wir gesehen haben, der Charakter einer Bewegtheit wesenhaft zu. Insofern aber das hermeneutische Verständnis gerade die Faktizität, die als solche nur dem Dasein eignet,70 in den Blick zu bekommen versucht, richtet sich die hermeneutische ,Sicht' auf nichts anderes als das Dasein selbst in seinem faktischen Sein. Für Heideggers hermeneutische Aneignung der aristotelischen φρόνησις ist vor allem die Bestimmung derselben als ein auf das dem Menschen eigene Gutsein gerichtetes verstandesmäßiges Vermögen von Bedeutung. Im Gegenteil zu der von Aristoteles gefaßten theoretischen Vernunft' im Sinne der σοφία und der έπιστήμη wird die φρόνησις in der Nikomachischen Ethik als dasjenige Verstandesvermögen bestimmt, das in einer wesenhaften Dienststellung zum menschlichen Handeln steht. Diese wesensmäßige Gerichtetheit der φρόνησις auf die πράξις wird von Heidegger so gefaßt: „Das Entscheidende bei der φρόνησις ist die πράξις. Die πραξις ist in der φρόνησις άρχή und τέλος. Im Vorblick auf eine bestimmte Handlung wird die φρόνησις vollzogen, und sie kommt zu ihrem Ende in der Handlung selbst."71 In der aristotelischen Bestimmung der φρόνησις als einer Grundweise des Verstehens, die den eigentlichen Anfang sowie das eigentliche Ende der πράξις umfaßt, sieht nun Heidegger eine grundsätzliche Möglichkeit, den von Aristoteles selbst gestifteten Vorrang des Theoretischen zu sprengen, und zwar so, daß gerade dasjenige Ver stehensphänomen, das in der herkömmlichen Philosophie als das eigentümlich theoretische schlechthin gilt, nämlich das ausdrückliche Seinsverständnis der Ontologie , sich durch die hermeneutischphänomenologische Interpretation Heideggers als eine im faktischen Sein des Menschen gegründete mögliche Handlung dieses Seienden enthüllt. 72 Mit dieVgl.SZ, §31, EA, S.l42 ff. Vgl. SZ, EA, S.56 71 GA 19, S.139. Vgl. dazu W. Bröcker: „Die theoretische Wahrheit ist selbst Zweck des Wahrheit-Erfassens, was das theoretische Wort will, ist Wahrheit um der Wahrheit willen. Nicht so das praktische Verstehen. Seine Wahrheit steht im Dienst des Handelns. Sie ist die Einsicht, die das rechte Wollen ermöglicht. Sie steht in der Aufgabe des Entschlusses, des Vorsatzes [προαίρεσις], der sich somit als „wollende Vernunft" oder „vernünftiges Wollen" bestimmt" (S.32-33). 72 Das Grundproblem von SZ ist nichts anderes als das Seinsverständnis selbst. Heideggers Versuch, dieses Problem als solches zu ergreifen, gelangt zur ursprünglichen 70

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Drittes Kapitel: Das Verstehen

sem herausgestellten ,praktischen' Sinn des eigentlichen Seinsverständnisses geht diejenige Grundtendenz von Heideggers Aneignung des aristotelischen φρόνησις-Begriffes zusammen, die wir die Dynamisierung der φρόνησις nennen. Im folgenden wird zur Aufgabe gestellt, den Richtungssinn des hermeneutisch radikalisierten Begriffes der φρόνησις aufzuklären. Dieser Versuch wird ferner unternommen im Hinblick auf die in Sein und Zeit durchgeführte fundamental-ontologische Aufklärung des Todesphänomens. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll dadurch die von Heidegger her verstandene fundamentalontologische Zusammengehörigkeit von Seinsverständnis und Endlichkeit offenbar gemacht werden.

Zeitlichkeit, die als Horizont des existenzial-ontologisch begriffenen Seinsverständnisses dieses ermöglicht. Die so gefaßte Zeitlichkeit ist aber demzufolge nichts anderes als das Wesen (besser Wesung) des Daseins, welches Seiende sein Seinverständnis im Sinne der Erschlossenheit ist. Soll nun dieses ursprüngliche Verstehensphänomen, das als die Zeitigung der Zeitlichkeit geschieht bzw. west, als solches ausdrücklich gefaßt werden, so muß im Horizont der Daseinsanalytik der ontisch-existenzielle Einsatz des je eigenen faktischen Daseins vorausgesetzt sein. Nicht nur das vorontologische Seinsverständnis hat für Heidegger einen existenziellen Grund, sondern auch - und darum geht es in der fundamentalontologischen Wiederholung der Seinsfrage - das ausdrücklich, philosophisch gefaßte Seinsverständnis. Aber angesichts dieser Fundiertheit der Philosophie im je eigenen faktischen Dasein muß der Zweite Abschnitt von SZ als der entscheidende Schritt in die hermeneutischphänomenologische Dimension des Seinsverständnisses gefaßt werden. Heidegger geht deswegen vom besorgendem Umgang aus, weil die Faktizität des Seinsverständnisses im Dasein selbst das fordert. Aber methodisch betrachtet bedeutet diese existentialontologische Beschreibung der Werkwelt lediglich den ersten Schritt des Umweges, den die Daseinsanalytik gehen muß, damit das Dasein im ausdrücklichen Ergreifen des Seins zu sich selbst zu kommen kann. Die Dynamik des hermeneutischen Denkens, sofern dies sich an der Daseinsanalytik von SZ erkennen läßt, kann aber nur aus dem von diesem Denken anvisierten Ziel her überhaupt eigentlich gesehen werden. Das Entscheidende wird von T. Sadler in seinem Werk „Heidegger and Aristotle" mit der folgenden Bemerkung getroffen: „The early sections of Being and Time dealing with the 'work-world' should not be allowed to mislead, for these are preliminary considerations designed to undercut Cartesian epistemological preoccupations as to the meaning of 'world' and 'environment'. Being and Time is no more about 'the craftsman' than about the 'man of honour'; its true existential content first becomes prominent in the latter part of Division One, and especially in Division Two with its analyses of guilt, conscience and death, topics which are distinctly un-Aristotelian" (S.l55).

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

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β) Das eigentliche Verstehen als das entschlossene Vorlaufen in den Tod in Sein und Zeit. Das existenzielle Fundament der existenzial-ontologischen Analytik des Daseins Das Todesphänomen73 wird von Heidegger im Rahmen der Daseinsanalytik in Sein und Zeit deswegen thematisiert, weil mit der Herausstellung der Sorge das Sein des Daseins noch nicht in seinem einheitlichen Ganzen expliziert worden ist. 74 Zunächst scheint nun der Versuch, das Sein des Daseins in seiner Ganzheit zu fassen, angesichts der Grundbestimmung dieses Seienden als eines Seinkönnens von vornherein ein hoffnungsloses Unternehmen zu sein. Weil aber nach Heidegger das, was das Dasein noch nicht ist, wesenhaft zu seinem Sein gehört, ergibt sich die Möglichkeit, dieses fundamentalontologisch gefaßte

73 Zu Heideggers Todesanalyse und seinem Begriff der Entschlossenheit' in SZ siehe: J. Taminiaux, ,Heidegger et la phénoménologie de la perception' (in: Etudes d'anthropologie philosophique, Bibliotèque Philosophique de Louvain 30 (1984), S.221263, insbesondere S.246 ff.). Taminiaux, der das Hauptinteresse seines Aufsatzes einer Analyse der Begriffe Vorhandenheit und Zuhandenheit in SZ und „Die Grundprobleme der Phänomenologie" (GA 24) widmet, betont Heideggers Verständnis der Entschlossenheit als ein Erblicken des Augenblicklichen, das die Grunderfahrung der je eigenen Zeitlichkeit zum Vorschein bringt und bezieht dies ausdrücklich auf das Aufdecken des καιρός durch die aristotelische φρόνησις: ,,Γ Augenblick, Instant ou coup d'oeil. Ce mode spécifique du présent, mode qui est un phénomène extatico-horizonal [...] Cet Instant est la phénomène qu'Aristote a cernè sous le nom de καιρός dans Γ Ethique à Nicomaque , et dont Kierkegaard a bien compris la teneur, mais dont ils ne parvinrent ni l'un l'autre à exposer la temporalité spécifique, parce qu'ils l'identifièrent au maintenant du temps vulgairement entendu, sans comprendre que celui-là est phénomène originaire et celui-ci seulement dérivé" (S.247). R. Bernet analysiert und kontrastiert in seinem Aufsatz ,Phenomenolgical Reduction and the Double Life of the Subject' (in: Reading Heidegger from the Start, (eds. T. Kisiell J. van Buren), S.245-267) die beiden Grundstrukturen des daseinsmäßigen Verstehens im Sinne des Besorgens des Zuhandenen und des entschlossenen Vorlaufens und vergleicht Heideggers fundmentalontologische Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit im Rahmen der Daseinsanalytik von SZ mit Husserls Idee der Konstitution im transzendentalen Bewußtsein. Von Bernet wird unterstrichen, daß für Heidegger Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit keineswegs gegenseitig ausschließende Möglichkeiten sind, sondern das faktische Dasein sich jeweils mit Notwendigkeit sowohl eigentlich wie auch uneigentlich zu seinem Sein verhält. So heißt es: „There is no Dasein whose being could epitomize authentic existence, no more than there was a pure phenomenologizing spectator for Husserl and Fink. Dasein's life, much like that of the transcendental subject, is a life both in authenticity and in inauthenticity, in the care of the self and in the care for the world. For Dasein, as for the transcendental subject, 'being' means 'being otherwise' or 'being always different from itself, in short, never coinciding with itself. If difference is thus inherent in the being of the transcendental subject and of Dasein, it follows that the phenomenological reduction, called upon to make this being manifest, will forever be incapable of exhibiting a 'pure' phenomenon" (S.266). 74 Vgl. SZ, E A, S.233

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Drittes Kapitel: Das Verstehen

Ausbleiben am Sein des Daseins in die ontologische Explikation der Seinsstrukturen des Daseins einzuholen. Was nun nach Heidegger dem Dasein notwendig bevorsteht und daher ausbleibt, faßt er als das fundamentalontologisch begriffene, ursprüngliche Phänomen des Todes. Dabei weist er aber darauf hin, daß eine solche existenziale Bestimmung des Daseins notwendig einen existenziellen Boden hat: „Daseinsmäßig aber ist der Tod nur in einem existenziellen Sein zum Tode" 75 Diese existenzielle Verwurzelung der ontologischen Explikation des Daseins ist es, die zugleich eine Fundamentalontologie im Sinne einer Analytik des Daseins überhaupt notwendig macht: „Die Ontologie läßt sich selbst nicht rein ontologisch begründen. Ihre eigentliche Ermöglichung wird auf ein Seiendes, d.h. Ontisches zurückverwiesen: das Dasein. Ontologie hat ein ontisches Fundament."76 Wenn aber, wie oben erwähnt wurde, die erste, grundlegende Aufgabe der Ontologie die der Erschließung ihres eigenen ontischen Fundaments ist, dann steht für Heidegger am Ausgang der philosophischen Besinnung die Frage nach dem rechten Zugang zum Sein dieses der Ontologie als solcher zugrundeliegenden Seienden. Demnach lautet die Leitfrage der Fundamentalontologie: Wie kann das Dasein in seinem Sein verständlich gemacht werden ? Ontologisches Verständnis vollzieht sich nach Heidegger in der Weise einer phänomenologischen Erhellung bzw. Aufklärung eines Seienden von ihm selbst her. 77 Dem Dasein ist es aber eigentümlich, daß es keinen direkten Zugang zu seinem Sein zuläßt.78 Die ontologische Aufklärung dieses Seienden hat vielmehr notwendig den Charakter eines Umweges. Diesen indirekten Weg des Daseins zu sich selbst bestimmt Heidegger, wir oben dargelegt, als „die Gegenbewegung gegen die Verfallenstendenz". 79 Diese Umwegigkeit der Erschließung des die Ontologie ermöglichenden Seienden besagt nun für das hermeneutische Verständnis zugleich, daß der ontologischen Wahrheit ein mögliches Verfehlen wesenhaft anhaftet:

75

SZ, EA, S.234 GA 24, S.26. Zur Endlichkeit der Philosophie aufgrund ihrer existenzial-ontologisch gefaßten Verwurzelung im Sein des Daseins siehe insbesondere J. Sallis, Delimitations. Sallis weist auf den engen Zusammenhang von Heideggers fundamentalontologischer Todesanalyse und der hermeneutisch-phänomenologischen Aufhebung der traditionellen Ontologie, die dadurch zustande gebracht werden soll: „The point is that Heidegger uses the phrase 'most extreme possibility' (äußerste Möglichkeit) not only in outlining the displaced sense of the end of metaphysics but also, much earlier, in Being and Time , in developing the existential analysis of death" (S.21). 77 Vgl. SZ, §7C., EA, S.34 ff. 78 Vgl. SZ, EA: „Das Dasein ist zwar ontisch nicht nur nahe oder gar das nächste - wir sind es sogar je selbst. Trotzdem oder gerade deshalb ist es ontologisch das Fernste" (S.l 5) 7 " PI, S.245 76

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

251

Diese Gegenbewegung als Bekümmerung um das Nichtinverlustgeraten des Lebens ist die Weise, in der sich das möglich ergriffene eigentliche Sein des Lebens zeitigt. Dieses im faktischen Leben für sich selbst zugängliche Sein seiner selbst sei bezeichnet als Existenz. Das faktische Leben ist als existenzbekümmertes umwegig. Die Möglichkeit, das Sein des Lebens bekümmert zu ergreifen, ist zugleich die Möglichkeit, Existenz zu verfehlen. 80 Die Gegenbewegung, die wir oben als die aus dem ,hermeneutischen Einsatz' entspringende Dynamik des eigentlichen Daseins kennenlernten, vollzieht sich nun konkret als ein ursprüngliches ,Haben' des eigenen Todes. Erst in solchem entschlossenen Ergreifen des Nichts des faktischen Lebens kann das Dasein dem eigenen Sein als dem endlichen gerecht werden, und das heißt sich selbst eigentlich verstehen. Wie es schon im 1922 verfaßten Natorp-Bericht heißt: „Im zugreifenden Haben des gewissen Todes wird das Leben an ihm selbst sichtbar. Der so seiende Tod gibt dem Leben eine Sicht und führt es ständig vor seine eigenste Gegenwart und Vergangenheit, die in ihm selbst anwachsend hinter ihm herkommt". 81 e) Die Entschlossenheit als das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit α) Das eigentliche Wissen des Daseins als Gewissen Das Sein des Daseins ist nach Heidegger durch die Faktizität wesenhaft bestimmt. Die Faktizität faßt er als die Grundbewegtheit des Daseins. Was sich bewegt hat den hermeneutisch-phänomenologischen Charakter eines Unterwegs. Nur das kann unterwegs sein, was sich auf einem Weg befindet, und das heißt noch nicht zu Ende gekommen ist. Aber dieses Ende vermag das Dasein grundsätzlich nie zu erlangen. Das Ende bleibt dem Dasein notwendig aus, und gerade darin besteht die seinsmäßige Endlichkeit dieses Seienden. 82 Es besteht jedoch nach Heidegger die Möglichkeit, dieses Endlichsein auf eigentliche Weise zu übernehmen. Dies geschieht dann, wenn das Dasein sich dazu entschließt, sich auf sein Ende ausdrücklich einzulassen.83 Ein solches Sicheinlassen auf sein Ende läßt dieses erst eigentlich zum Vorschein kommen. Die Weise, wie das Dasein sein Ende als das Nichts seines eigenen Seins verstehend aneignet, ist fundamentalontologisch begriffen kein bloßes Wissen um den Tod, sondern ein Ge-wissen (d.h. ein existenziell sammelndes ,Wissen' des

80

Ebd. PI, S.244 82 Vgl. SZ, EA: „Das Ende steht dem Dasein bevor. Der Tod ist kein noch nicht Vorhandenes, nicht der auf ein Minimum reduzierte Ausstand, sondern eher ein Bevorstand" (S.250). 83 Im Sinne des Vorlaufens; vgl. SZ, EA S.262 81

252

Drittes Kapitel: Das Verstehen

Daseins selbst).84 Das Gewissen vollzieht sich nach der in Sein und Zeit durchgeführten Gewissensanalyse als ein apriorisches 'Gewissen-haben-wollen'.85 Die apriorische Struktur des Gewissensphänomens weist dementsprechend auf ein ,Wissen4 hin, das den Charakter eines vorgängigen Seinsverständnisses hat. Die gewissenhafte Erschlossenheit bezeichnet nun Heidegger als die J£ntschlossenheit4.86 Die Entschlossenheit macht „die ursprünglichste, weil eigentliche Wahrheit des Daseins" aus.87 Im Rahmen der von Heidegger radikalisierenden Interpretation der φρόνησις wird nun die aristotelischen Bestimmung derselben als des auf die πράξις bezogenen Vermögens, auf rechte Weise etwas zu wollen (ευβουλία), fundamentalontologisch als die Entschlossenheit gefaßt, die die faktische Situation als solche zur eigentlichen Durchsichtigkeit erhebt. Zugleich schließt nach Heidegger die so hermeneutisch verstandene Entschlossenheit die ursprüngliche Handlung4 des eigentlichen Daseins schon in sich ein. Dabei ist die Überlegung von vornherein auf Handlung ausgerichtet: βουλή ist aber Entschluß, das Entschlossensein, άλλ' όρθότης τίς έστιν ή ευβουλία βουλής (1142bl6). Die Ausarbeitung der konkreten Lage zielt darauf, die rechte Entschlossenheit als Durchsichtigkeit der Handlung verfügbar zu machen ... Das gerichtete

84

Vgl. SZ, §.54, EA, S.267 ff. Eine eindringliche Betrachtung der Gewissensanalyse von SZ findet sich bei /. Schüßler , ,Gewissen und Wahrheit. Heideggers existenziale Analytik des Gewissens (Sein und Zeit §§ 54-62)' (in: Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke, hrsg. ν. K. Held / J. Hennigfeld; S.328-349). Nachdem sie die Grundcharaktere des existenzial-ontologisch begriffenen Todesphänomens jeweils herausgehoben hat, sieht Schüßler im Ruf des Gewissens eine Vordeutung auf ein hermeneutisch-phänomenologisches Verständnis der Sprache, das erst nach Heideggers ,Kehre' von ihm durch die Zukehr zum Sein ausdrücklich zum Vorschein gebracht wurde. So heißt es: „Indes weist das Wahrheitsgeschehen des Gewissensrufes - daran sei abschließend erinnert - auch über den Bereich des Daseins in das Wahrheitsgeschehen des Seins selbst voraus, wie Heidegger es gemäß der „Kehre" vom Dasein zum Sein selbst gedacht hat. Der vom postmetaphysischen Denken gesuchte „Sinn von Sein" überhaupt enthüllt sich am Ende - gemäß dem das „kehrige" Denken leitenden Wort „Ereignis" - als Zuspruch der Sprache. Dieses Sprachwesen ist freilich von aller bloß das schon im Entwurf Vor-Verstandene, durch intentionale Bedeutungsakte artikulierenden Rede , wie sie die noch transzendental verpflichtete existenziale Analytik des Daseins kennt, grundverschieden. Aber es zeichnet sich eben im existenzialen Phänomen des Gewissensrufes vor" (S.348). Zu Gewissen und Entschlossenheit in SZ vgl. auch T. Kisiel , Genesis (S.429 ff.). Wie Taminiaux (siehe oben), betont Kisiel die enge Beziehung der eigentlichen Vollzugsweise des daseinsmäßigen Seinsverständnisse im Sinne der Entschlossenheit zum Sichzeitigen der ekstatischen Gegenwart des Daseins, die von Heidegger als Augenblick (καιρός) gefaßt wird (vgl. Genesis, S.437 f.). 85 Vgl. SZ, EA, S.288 86 Vgl. SZ, EA, S.297 87 Ebd.

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

Aufdecken der vollen Situation endigt in der eigentlichen Entschlossenheit zu Zugreifen selbst.88

253

im

ß) Die Entschlossenheit als das Offenbarmachen des Daseins selbst Als eine Grundweise des άληθεύειν hat die durch die hermeneutisch radikalisierte φρόνησις den Leistungssinn eines Offenbarmachens von etwas. Dieses Aufdecken hat indessen für Heidegger nicht den Charakter einer verweilenden Spekulation 4 der Dinge, sondern ist wesenhaft auf Handlung bezogen: „Die φρόνησις ist in der πραξις noch mehr als im λόγος." 8 9 Nach der aristotelischen Auffassung ist es der φρόνησις und der τέχνη gemeinsam, daß sie sich mit Sachen befassen, die nicht immer so oder so ausfallen, sondern ένδεχόμενον άλλως έχειν: „sich anders verhalten können". 90 Dennoch sind für Aristoteles die φρόνησις und die τέχνη nicht identisch, sondern sie unterscheiden sich im Hinblick auf ihre jeweilige Abstammung (γένος). 91 So heißt es: „Das Ende der τέχνη ist nämlich etwas anderes als die Herstellung selbst, während dies bei der πραξις nicht so ist: Ist doch die gute πράξις selbst τέλος." 9 2 In ihrer von Aristoteles her gefaßten wesenhaften Bezogenheit auf die εύπραξία zeigt nun die φρόνησις eine merkwürdige Riickbezogenheit auf sich selbst. Dieses Phänomen wird von Heidegger als die Erschlossenheit des faktischen Daseins durch es selbst interpretiert: „Denn der Gegenstand der φρόνησις ist die πράξις, die ζωή des Menschen, das menschliche Dasein selbst."93 In der Nikomachischen Ethik heißt es wiederum, daß es der φρόνησις: περί τα άνθρώπινα άγαθά πρακτικήν: „um das menschlich Gute und Machbare geht". 94 Der Richtungssinn der φρόνησις wird ferner von Aristoteles in Abgrenzung gegen den der έπιστήμη bestimmt. So heißt es: ό μέν γάρ νους των όρων, ων ουκ έστιν λόγος, ή δέ του έσχατου, ού ούκ έστιν έπιστήμη άλλ' α'ίσθησις: „während aber der νους den Grenzen gilt, von denen es keinen λόγος gibt, geht die φρόνησις auf das Äußerste, von dem es kein Wissen, sondern Anschauung 88

GA 19, S.l50. Vgl. dazu H.-G. Gadamer , »Praktisches Wissen4 (in: Gesammelte Werke, Bd., S.230-248): „Der praktische Sinn hat also die Vollzugsstruktur eines suchenden und überlegenden Erschließens. In ihm muß νους wirksam sein, und zwar in einer doppelten Weise, als das schlichte Meinen des Gemeinten (und das hießt: des ,Zweckes4) und als das schlichte Begegnenlassen des Nächsten" (S.244). Weiter heißt es: „So ist das Verstehen nicht bloßes Haben von praktischem Wissen, noch auch erst sein Erwerb, sondern die Anwendung des eignen Wissens zum Urteil über den praktischen Fall des anderen. Der Verständnisvolle muß gewiß φρόνησις schon haben, aber mehr noch: er muß seine eigne φρόνησις zum praktischen Urteil gebrauchen" (S.245). 89 GA 19, S.139 90 Vgl. EN Ζ, 1140b27 91 Vgl. EN 1140b3 92 EN 114034 f. 93 GA 19, S.l43 94 EN 1140b 20 f.

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Drittes Kapitel: Das Verstehen

gibt". 95 Die φρόνησις wird also von Aristoteles als ein Erblicken des Äußersten und des Letzten verstanden. Wie läßt sich diese aristotelische Bestimmung der φρόνησις als einer »Anschauung des Äußersten' klären? % Die aristotelische Rede von der Erfassung des »Äußersten' durch die φρόνησις läßt vermuten, daß es sich dabei um eine Bestimmung der »praktischen Vernunft' als einer schlichten Anschauung des Einfachen handelt. Im Hinblick etwa auf die sinnliche Wahrnehmung nennt Aristoteles die έσχατα die erfaßbaren sinnhaften Gegensätze wie schwarz/weiß oder süß/bitter. 97 Diese schlichte Erfassung der ,Enden' am sinnlich Wahrgenommenen hängt nun für Aristoteles mit seiner ontologischen Bestimmung der wesenhaften Begrenztheit des αίσθητόν überhaupt zusammen. Auf diesem Grund lehnt er die Möglichkeit eines wirklich vorhandenen und materiellen Unendlichen (άπειρον) ab. 98 Wenn es nun an der zu explizierenden Stelle aus der Nikomachischen Ethik heißt, daß auch der νους sich als eine Anschauung des Äußersten vollziehe, so kann offenbar nicht die sinnliche Anschauung gemeint sein. Aber welche sonst? Insofern Aristoteles das Seiende im ganzen in zwei fundamentale Bereiche aufteilt, nämlich in αισθητά und νοητά, 99 und diese in bezug auf ihr mögliches 95

EN 1142a25 f. E. Zeller hält die von Aristoteles her verstandene gegenseitige Bezogenheit von αρετή und φρόνησις, wobei erstere das Ziel (τέλος) festlegt und letztere das Mittel dazu (πρός τι) für problematisch. So bemerkt er: „Die ethische Tugend und die Einsicht bedingen sich mithin gegenseitig: jene gibt dem Willen die Richtung aufs Gute, dies sagt uns, welche Handlungen gut sind. Der Zirkel, welcher hierin zu liegen scheint, wird durch die Bemerkung nicht beseitigt: die Tugend und die Einsicht werden und wachsen mit einander, beide allmählich, durch Übung" (S.657-658). Dabei sieht Zeller in der φpóvησιςdie Tendenz, über ihre Funktion des Erschließens der Mittel zum Zweck hinauszugehen, so daß sie selbst die Aufdeckung und Festsetzung des Endziels mit ermöglicht: „Die Tugend soll ja im Einhalten der richtigen Mitte bestehen, und diese nur von den Einsichten bestimmt werden können. Wenn aber dieses, so ist die Aufgabe -der Einsicht nicht auf das Aufsuchen der Mittel für die Erreichung der sittlichen Zwecke beschränkt, sondern die richtigen Zweckbestimmungen selbst sind ohne sie nicht möglich" (S.658). Auf diese Weise bilde nun aber „die Einsicht die obere Grenze der ethischen Tugend..." (ebd). 97 Vgl. Περί αίσθήσεως, 445b21 98 Vgl. Phys. Γ5, 204a28: άλλ' άδύνατον τό έντελεχεία öv άπειρον. Ι. Düring verweist auf eine Stelle in Met. A3, wo es heißt: μετά ταΰτα οτι ού γίγνεται ούτε ή ύλη ούτε τό είδος, λέγω δέ τά έσχατα; „Ferner [stellen wird fest], daß weder der Stoff noch die Form wird - ich meine den letzten Stoff und die letzte Form" (1069b35-36). Im Mittelalter wurde der aristotelische Begriff des »letzten Stoffes' als die Lehre von der materia proxima weiter entwickelt, die allem Wandel des Einzelwesens beharrend zugrunde liegt. Wenn es also in der EN heißt, daß der νους im Vollzugsmodus der φρόνησις sich auf ,die letzten' beziehe, dann will Aristoteles dadurch betonen, daß die praktische Einsicht sich primär auf das konkret Einzelne richtet und nur sekundär, wenn überhaupt, auf das ,logisch' Allgemeine. Wie oben bemerkt wurde, ist E. Zeller zufolge das έσχατον mit πρακτόν und αίσθητόν gleichzusetzen (vgl. Zeller , S.652). 99 Vgl. De an. Γ 431b22: ή γάρ αισθητά τά οντα ή νοητά 96

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

255

Erfaßtwerden vom Menschen her jeweils als das konkrete Einzelne (έσκατον) und das Allgemeine (καθόλου) faßt, liegt es nahe, daß die der φρόνησις zugewiesene Anschauung das νοητόν bzw. καθόλου zum eigentlichen Gegenstand hat. Allein, kurz nach unserer Stelle in der Nikomachischen Ethik heißt es ausdrücklich, daß diejenige Anschauung, die der praktischen Vernunft' eignet, doch im Vergleich mit der Anschauung des Allgemeinen, wie dies im mathematischen Denken geschieht, der Gattung (γένος) nach verschieden sei. Daß die φρόνησις sich nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, auf das Allgemeine richtet, wird wohl von Aristoteles als das Kriterium für die ontologische Abgrenzung derselben gegen die Wissenschaft (έπιστήμη) in Anspruch genommen. 100 Wenn es ferner heißt, daß die φρόνησις auf beides bezogen ist, sowohl das Allgemeine wie auch das konkrete Einzelne, 101 dann läßt sich der aristotelische Begriff der praktischen Vernunft bestimmen als ein umfassendes (καθόλου) Anschauen im Hinblick auf das, was für den jeweilig Handelnden (έκαστον) als das Letzte (έσχατον) gilt. 1 0 2 Wenn wir nun zu Heideggers Interpretation des von Aristoteles so gefaßten Begriffes der φρόνησις zurückkehren, so sehen wir, daß gerade derjenige Charakter der aristotelischen φρόνησις, der diese als eine Anschauung des Äußersten faßt, zum entscheidenden Drehpunkt für die Durchführung seiner radikalisierenden Aneignung wird. Denn darin erblickt Heidegger die Möglichkeit, die gerade von Aristoteles durchgesetzte Vorherrschaft der theoretischen Auffassung des Seienden zu brechen und in eins damit das Wesen der πραξις in ihren durch die hermeneutische Explikation allererst eröffneten ursprünglicheren Bereich zurückzunehmen. Dies geschieht dadurch, daß die φρόνησις von Heidegger als eine fundamentalontologische Grundmöglichkeit des faktischen Daseins gefaßt wird. Zunächst greift er die aristotelische Bestimmung der φρόνησις als derjenigen Tugend, die das dem Menschen eigentümlichen Gute zum Vorschein bringt, 101 auf und entwirft diese auf sein eigenes Verständnis des faktischen Daseins hin. Dabei wird der Vollzugssinn der φρόνησις von Heidegger als der eines έργον άνθρωπου gefaßt - sie ist Aufgabe: „Die φρόνησις ist demnach nichts Selbstverständliches, sondern eine Aufgabe, die in einer

100

Vgl. ENZ, 1142a 24 f. Vgl. EN 1141 b 15 f. Vgl. dazu W. Bröcker: „Auch die Erwägungen der praktischen Einsicht nehmen ihren Ausgang von gewissen Prinzipien. Diese Prinzipien sind aber nicht wie die der theoretischen Ableitung etwas Allgemeines, sondern gerade das Einzelne, die jeweilig bestimmte einmalige Lage, in der und aus der heraus der Handelnde handelt. Auch diese Prinzipien erfaßt, sagt Α., die Vernunft und nicht das ableitende Wort. ,Die Vernunft geht auf das Äußerste nach beiden Seiten. Denn die ersten und letzten Grenzen, Bestimmungen, erfaßt die Vernunft und nicht das ableitende Wort' "(S.36-37). 101 Vgl. EN Ζ, 1141b8 f.: ή δέ φρόνησις περι τά άνθρώπινα, και περι ών έστι βουλεύσασθαι 101

102

256

Drittes Kapitel: Das Verstehen

προαίρεσις ergriffen werden muß" m In dieser Weise wird aber nunmehr die φρόνησις von Heidegger mit dem gleichgesetzt, was er die ,Gegenbewegung gegen die Verfallenstendenz' 105 nennt: „So ist also die φρόνησις, sobald sie vollzogen wird, in einem ständigen Kampf gegenüber der Verdeckungstendenz, die im Dasein selbst liegt." U)( i Als die gegenruinante Bewegtheit des faktischen Lebens verschafft die φρόνησις „die Durchsichtigkeit meiner selbst". 107 Wenn die hermeneutisch-phänomenologisch begriffene φρόνησις den Leitungssinn eines Durchsichtigmachens des Lebens selbst im Hinblick auf sein Ende hat, so wird die weitere aristotelische Charakterisierung der φρόνησις, gemäß der das Verhalten der praktischen Besonnenheit im Gegensatz zu den anderen, sich zu Gewohnheiten ausbildenden Verhaltungen des Menschen unmöglich in Vergessenheit geraten könne, ihrerseits von Heidegger am Leitfaden seines hermeneutischen Vorgriffs ursprünglicher gedacht. Dabei faßt er dieses 104

GA 19, S.52 PI. S.245 106 GAI9, S.52 107 Ebd. In H.-G. Gadamers Aufsatz praktisches Wissen' tritt die enge Beziehung des hermeneutisch gefaßten Sinnes der φρόνησις zur existenzial-ontologisch begriffenen Durchsichtigkeit des Daseins im Verhalten zum eigensten Sein als Möglichkeit, in unverkennbarer Deutlichkeit hervor. Zugleich wird der Sinn der,Uneigentlichkeit' der von Heidegger her existenzial-ontologisch gefaßten τέχνη, die er in SZ als den besorgenden Umgang mit Zuhandenem fundamentalontologisch bestimmt, deutlich. Bei Gadamer heißt es: „Der Gegenstand dieses [praktische] Uberlegens ist aber verschieden: hier das Werk einer ,Kunst', dort die praktische Existenz selbst, hier also ποίησις, dort πραξις. Hier ist das Worumwillen des Wissens ein Werk, dort die εύπραξία selbst. [...] Techne ist dann am höchsten, wenn sie am wenigsten das tut, worin die φρόνησις ganz besteht: noch zu suchen, noch mit sich zu Rate zu gehen, selbst zusehen zu müssen, wie es zu machen ist. Ihr Wesen ist gerade: dem Herstellen diese Wege eigenen Suchens möglichst weitgehend abzunehmen durch vorgängiges Wissen um die rechten Mittel" (S.241). Der hermeneutisch gefaßte Leistungssinn der τέχνη ist also, Gadamer zufolge, der einer Ausschaltang der radikalen Möglichkeiten aus dem Ver stehenshorizonts des fakti schen Existierens. Die φρόνησις bestimmt er aber gerade als den Gegensatz zur technischen Verschließung' des radikalen Verständnisses der je eigenen Existenz. Das besagt nun aber: In der φρόνησις wird vielmehr das erschließende Verhalten zum eigenen Sein als Möglichkeit zu seinem höchst möglichen Vollzugsmodus gesteigert. So heiß es: „Eine άρετή der φρόνησις gibt es nicht. Es gibt keine steigende Beherrschung der eigenen Existenz, die dazu führte, daß man nicht mehr je neu dem Besten für sich zu fragen hätte, weil man es im voraus schon wüßte. Gerade als die Wachsamkeit der Sorge um sich selbst vielmehr ist die φpóvησιςdas, was sie eigentlich sein kann. Sie ist selbst schon αρετή [...] Daher gibt es bei ihr nicht wie bei der Techne die Spannung zwischen ihrem Wissen und seiner praktischen Ausübung, für die die Erfahrung (der wiederholten öfteren Ausübung) wichtiger ist als ein allgemeines Vorwissen (das dann im entscheidenden Augenblick versagen könnte), sondern die in allem praktischen Existieren sich je öffnende Sicht des Möglichen und Nützlichen" (S.241-242; meine Hervorhebung). Schon durch Gadamers Bestimmung der φρόνησις als der,Wachsamkeit der Sorge um sich selbst' zeigt sich in aller Deutlichkeit die nahe Verwandtschaft seiner Deutung des aristotelischen Begriffes mit dem Verständnis Heideggers. 1(15

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

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, Wissen' um das Ende, das unmöglich vergessen werden kann, als das Gewissen: „Die φρόνησις ist nichts anderes als das in Bewegung gesetzte Gewissen, das eine Handlung durchsichtig macht." 108 γ) Der hermeneutische Vollzugssinn der φρόνησις als das Sichbereithalten für das Loslassen in das eigene Ende Als die eigentliche Erhellung des faktischen Lebens selbst vollzieht sich die hermeneutisch radikalisierte φρόνησις in der Weise einer Gegenbewegung. In der aristotelischen Philosophie wird nun die Bewegung, die κίνησις, formal gefaßt, wie wir sahen, als eine εντελέχεια του δυνάμει οντος, ή τοιούτον: ein „Sich-ans-Ende-halten des Vermögenden, sofern es vermögend ist". 1 0 9 Sofern nun nach Aristoteles derjenige φρόνησις hat, der τό δύνασθαι καλώς βουλεύσασθαι, „auf rechte Weise zu überlegen vermag", 110 hat die aristotelische φρόνησις, wie oben erwähnt, die Vollzugsweise der ευβουλία. Weil es ferner nach Aristoteles nicht möglich ist, gut zu sein ohne zugleich φρόνησις zu haben, gehört diese zum eigentlichen Gutsein des Menschen überhaupt. 111 Das eigentlich menschliche Gut, τό άνθρώπινον άγαθόν, wird von Aristoteles als eine ένέργεια ψυχής bestimmt. 112 Was heißt hier ένέργεια? In der oben durchgeführten Analyse der aristotelischen Artikulation des Seienden als solchen gemäß δύναμις und ένέργεια 1 1 3 ergab sich, daß Aristoteles die ένέργεια primär

108

GA 19, S.56 Phys. Γ, 201 alO f. 110 ENZ, 1140a25 111 EN 1144b31 f. Hier findet sich die ,Zirkelhaftigkeit' des aristotelischen φρόνησιςBegriffes, worauf E. Zeller (siehe oben) verweist, und von der Aristoteles als die gegenseitige Bedingung von άρετή und φρόνησις gefaßt wird. Demnach ist der Mensch erst dann gut, wenn er die praktische Einsicht besitzt. Aber soll er diese haben, so muß er schon gut sein. Dieser scheinbare Widerspruch kann erst dann aufgelöst werden, wenn man erkennt, daß in den Bestimmung der aristotelischen Begriffe zwei verschiedene Bedeutungen von ,haben' in Anspruch genommen werden. Dementsprechend bestimmt Aristoteles die φρόνησις einerseits als eine angeborene natürliche (φυσικά δοκει; vgl. EN Ζ, 1143b6) Veranlagung, die sich in verschiedenem Maß unter Menschen findet. Als solche bezeichnet er die praktische Einsicht als τό έχειν έκ της έμπειπίας ομμα όρώσιν όρθώς: „das Besitzen eines Auges aus der Erfahrung her, wodurch [die Einsichtigen] richtig sehen"(EN 1143b 14). Andererseits aber kann diese angeborene Sichtkraft sich erst durch regelmäßige Übung zu einer festen Verhaltenheit und somit einer Tugend ausbilden. Dabei wird die φρόνησις als eine condition sine qua non der dem Menschen höchsten Tugend im Sinne der σοφία verstanden (vgl. EN 1144b 17), die als solche die richtigen Mittel zum festgesetzten Ziel feststellt (vgl. EN 1145a5). Das aber, was sich unmittelbar auf den Endzweck bezieht, d.h. die σοφία, verhält sich für Aristoteles zu der die Mittel erschließenden φρόνησις wie das Herrschende zum Dienenden ( EN 1145a6 f.). 112 Vgl. EN A, 1098a 16 f. m Vgl. oben §12 109

17 Elliott

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Drittes Kapitel: Das Verstehen

als die έντελέχεια im Sinne der vollendeten Ausformung des naturhaft Seienden hinsichtlich des ihm eigenen »Aussehen4 (είδος) faßt. 114 Es macht nun eine Grundtendenz der prinzipiellen Auseinandersetzung Heideggers mit der aristotelischen Philosophie aus, daß sie den von Aristoteles aufgestellten Vorrang der ένέργεια vor der δύναμις aufzuheben versucht. Demnach will Heidegger gemäß seiner hermeneutischen Grundstellung diese in der aristotelischen Ontologie überhaupt herrschende Bevorzugung der , Wirklichkeit' -, die sich vor allem in der aristotelischen Bestimmung des eigentlichsten Sinnes des Seienden als solchen als der ούσία, deren zwei Grundcharaktere, wir erinnern uns, von Aristoteles als die Stetigkeit (συνεχής) und das Zugrundeliegendsein (ύποκείμενον) gefaßt werden - destruieren , und zwar so, daß die bei Aristoteles sich zeigende Einebnung des Seinsverständnisses dadurch rückgängig gemacht werden kann. Diese Destruktion der aristotelischen Ontologie vollzieht sich, wie oben erwähnt, als eine Dynamisierung des aristotelischen Denkens. In den folgenden Ausführungen versuchen wir, diese für Heideggers Interpretation des Aristoteles überhaupt entscheidende Rücknahme der ένέργεια in die hermeneutisch ursprünglicher gedachte δύναμις in bezug auf die für die vorliegende Arbeit geltende Aufgabe einer Aufklärung der ,Grundbewegung4 des hermeneutischen Verständnisses darzulegen. Damit soll ein wichtiger Schritt vorwärts auf dem Weg zu einer phänomenologischen Erhellung der Möglichkeit des Seinsverständnisses und damit der Ontologie gemacht werden. Für Heidegger besagt nun die ένέργεια, die ,Wirklichkeit 4 , aus dem hermeneutischen Verstehenshorizont her keineswegs einen Seinsstand des Seienden, der aller Bewegtheit prinzipiell entbehrt, sondern sie ist vielmehr selbst als Modus der Bewegtheit aufzufassen. Demnach versteht er die ένέργεια als die vollzugshafte ,Ausübung4 eines Vermögenden als solchen. So ist einer eigentlich dann ,am Werke 4 , „wenn der Vermögende sich ins Zeug legt, der Vollzug wahrhaft Ausübung ist und nur dieses. Er ist nichts anderes als Sich-ins-Zeuglegen - ένέργεια 4 4 . 1 1 5 Der Mensch kann demnach nur dort seinem Ende auf rechte Weise nachgehen, wo er sich im vorhinein in die Lage dazu versetzt hat. Der eigentliche Vollzug des faktischen Lebens setzt also für Heidegger die φρόνησις im Sinne der Verhaltenheit zum Ende, die dieses als Möglichkeit in den Blick bringt, notwendig voraus. Dieses der φρόνησις eigene Vermögen meint aber „sich in Bereitschaft, das Vermögen selbst in Bereitschaft halten". nu So besagt nach Heidegger έντελέχεια: „das Sich-in-Fertigkeit-halten 44.117

114 1.5 1.6 117

Vgl. oben §12d, α. GA 33, S.218-219 GA 33, S.219 GA 33, S.224

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

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Sofern nun nach der Nikomachischen Ethik die φρόνησις im Vollzug der rechten Überlegung das Gute im Hinblick auf das τέλος sichtbar macht, hat sie nach Aristoteles den Charakter einer wahren Auffassung (αληθής ύπόληψις) des Endes."* Als zutreffende Ansicht ist die φρόνησις ihrem Wesen nach zugleich fihrend (ή μέν γάρ φρόνησις έπιτακτική έστιν). 1 1 9 Wie es im Natorp-Bericht heißt, ist die φρόνησις derart leitend, daß sie das Dasein allererst in die Lage versetzt, sich auf sein gesichtetes Ende eigentlich einzulassen: „sie bringt als epitaktische Erhellung den Umgang in die Grundhaltung der Bereitschaft zu ..., des Losbrechens auf... ." 1 2 l ) Der von Aristoteles der φρόνησις zugesprochene Vollzugscharakter eines führenden Hinblickens auf den zweckmäßig gefaßten Gegenstand der Handlung wird nun von Heidegger in seiner Aneignung im Hinblick auf den hermeneutisch-phänomenologischen Begriff des dem faktischen Dasein wesenhaften Grundcharakters des Vorhaften im Sinne des Sich-vorweg-seins des Daseins 121 ursprünglicher gedacht. Wenn also die Wirklichkeit 4 der φρόνησις nach Heidegger als eine Bereitschaft zu verstehen ist, dann muß diese Wesensbestimmung der das faktische Dasein selbst durchsichtig machenden Sichtweise zugleich den Charakter einer apriorischen Aufgeschlossenheit des Seins dieses Seienden in sich schließen. Darum heißt es nun in Sein und Zeit: „Das Gewissen-haben-wollen bedeutet die Anrufbereitschaft auf das eigenste Schuldigsein, das je schon das faktische Dasein bestimmte vor jeder faktischen Verschuldung und nach der Tilgung." 122 f) Das eigentliche Verstehen des Daseins und die Möglichkeit der Philosophie überhaupt Durch die oben durchgeführte Exposition der von Heidegger vollzogenen hermeneutischen Aneignung des aristotelischen φρόησις-Begriffes ist deutlich geworden, daß Heidegger die praktische Vernunft 4 des Aristoteles von vornherein im Hinblick auf den von ihm selbst ausgearbeiteten Begriff des faktischen Lebens hin destruiert. Wie oben erwähnt wurde, ist die Durchführung der fundamental-ontologischen Destruktion der φρόνησις von Anfang an auf eine Aufhebung der das aristotelische Denken im ganzen charakterisierenden Bevorzugung des Theoretischen bedacht, wobei keine bloße Umkehrung von θεωρία 1,8

Vgl. ENZ, 1142b31 f. Vgl. EN 1143a8 f. 120 PI, S.259 121 Vgl. SZ, EA: „Das Sein zum eigensten Seinkönnen besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg. Dasein ist immer schon „über sich hinaus", nicht als Verhalten zu anderem Seienden, das es nicht ist, sondern als Sein zum Seinkönnen, das es selbst ist. Diese Seinsstruktur des wesenhaften „es geht um ..." fassen wir als das Sich-vorweg-sein des Daseins" (S.l91-192). 122 SZ, EA, S.307 m

17'

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Drittes Kapitel: Das Verstehen

und πραξις bewerkstelligt werden soll, sondern vielmehr wird diese für die ganze Geschichte der abendländischen Philosophie entscheidende Gegenüberstellung von Theorie und Praxis in ein ursprünglicheres Verständnis aufgehoben. Es muß nun aber in bezug auf das Hauptanliegen der vorliegenden Untersuchung ausdrücklich betont werden, daß es unseren Aufklärungen über die aristotelische Ethik insbesondere und über Heideggers Interpretation des Aristoteles im allgemeinen keineswegs darum geht, bloße Parallelen zwischen dem Denken des Aristoteles und dem Heideggers zu konstatieren. Im Lichte dessen, was über den Charakter der hermeneutischen Aneignung der Geschichte der Philosophie gesagt wurde, gilt es, darüber im klaren zu sein, daß das, was Heidegger im Denken des Aristoteles heraushebt, nicht ohne weiteres im Gesagten des Aristoteles ,da' ist. Vielmehr bedarf es auch beim Nachvollziehen des von Heidegger in seiner Aristotelesinterpretation Aufgezeigten wiederum einer eigenen Erschließung, eines Sichtbarmachens, damit das, was dabei herausgestellt wird, verstehend angeeignet werden kann. Als das Entscheidende in der heideggerschen Auslegung der aristotelischen Ethik hat sich seine Bestimmung der φρόνησις, der praktischen Vernunft', als die das faktische Dasein selbst aufschließende Erschlossenheit erwiesen. Diese nennt Heidegger in der Daseinsanalytik von Sein und Zeit die >Entsch\ossenheit4. Das, was die Entschlossenheit offenbar macht, wird dort als die Situation 4 bezeichnet. Aufgrund der die Situation erschließenden Entschlossenheit ist das Dasein allererst eigentlich für sich da: „Die Situation ist das je in der Entschlossenheit erschlossene Da, als welches das existierende Seiende da ist. 44123 Als eigentliches Verstehen des Daseins seiner selbst ist die Entschlossenheit aber nach Heidegger keine abgehobene Selbsterkenntnis, sondern „als entschlossenes handelt das Dasein schon 44 . 124 Mit dieser Bestimmung der eigentlichen Erschlossenheit des Daseins als Entschlossenheit tritt zugleich das oben erwähnte existenzielle Fundament der existenzialen Explikation dieses Seienden und in eins damit die ontische Verwurzelung der Ontologie überhaupt ans Licht: „Aber liegt der durchgeführten ontologischen Interpretation der Existenz des Daseins nicht eine bestimmte ontische Auffassung von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal des Daseins zugrunde? Das ist in der Tat so. 44125 Die von Heidegger enthüllte Rückbezogenheit der Ontologie auf ein Ontisches kompromittiert sie nun aber keineswegs, sondern dies zu erkennen bietet nach dem hermeneutischen Verständnis die einzige Möglichkeit für ein rechtes Verstehen und Aneignen der Ontologie. 123

SZ, EA, S.299 SZ, EA, S.300 125 SZ, EA, S.310. Zu Heideggers Verständnis der existenziellen Verwurzelung der Fundamentalontologie siehe insbesondere D.E. Krell, Intimatations of Immortality. Time, Truth, and Finitude in Heidegger's thinking of Being. 124

§ 16 Φρόνησις. Umsicht und Einsicht

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Das ontologische Verstehen ist nun für Heidegger als Verstehen wesenhaft von der Faktizität des Daseins her bestimmt. Der eigentliche Vollzug dieses Verstehens besteht demnach nicht darin, daß man versucht, diesem Bestimmtsein von der Faktizität irgendwie zu entgehen. Vielmehr geschieht nach Heidegger die hermeneutisch-phänomenologische Erhellung des Seienden in seinem Sein, und das heißt zunächst die Gewinnung der hermeneutischen Situation, dadurch, daß das Dasein sich der nächsten Tendenz seines eigenen Seins entgegensetzt: „Die Freilegung des ursprünglichen Seins des Daseins muß ihm vielmehr im Gegenzug zur verfallenden ontisch-ontologischen Auslegungstendenz abgerungen werden." 120 Die ausdrückliche Erschließung von Sein hat demnach, wie wir gesehen haben, den Vollzugscharakter des existenziellen Einsatzes. Wenn also Heidegger die Wahrheit als ein Existenzial bestimmt, 127 so will er damit anzeigen, daß das ursprüngliche Wahrheitsphänomen nicht ,in den Dingen4 oder sonstwo, sondern im Dasein selbst liegt. Nicht also bedarf das Dasein einer Wahrheit, die etwa außerhalb seiner läge, sondern das Dasein existiert vielmehr in einem wesenhaften Bezug zum ursprünglichen Phänomen der Wahrheit. Das Dasein ist demnach dasjenige Seiende, das in sich selbst die Möglichkeit des ausdrücklich vollzogenen Seinsverständnisses und somit der Ontologie überhaupt birgt: Wenn es aber Sein nur >gibtistWahrheit< der existenzialen Analyse bildet sich aus auf dem Grunde der ursprünglichen existenziellen Wahrheit. Nicht jedoch bedarf diese notwendig jener. 128 Der dem faktischen Dasein selbst möglichen Wahrheit kommt also nach Heidegger ein Vorrang gegenüber der ontologischen Wahrheit zu. Nur weil sie ursprünglicher ist, kann die existenzielle Wahrheit das Fundament der Ontologie bilden. Wenn nun aber die Ontologie als Wissenschaft vom Sein das seinsverstehende Dasein voraussetzt, dann besteht die Aufgabe einer Fundamentalontologie darin, das, was ,vor dem oder jenseits des Seins selbst4 liegt, aufzuklären. Die Möglichkeit einer solchen Erhellung im Sinne des Durchsichtigmachens des Daseins in seinem Sein beruht nach Heidegger, wie wir gesehen haben, auf der faktischen Verhaltenheit eines entschlossenen Vorlaufens in den Tod. Nur durch die Entschlossenheit gewinnt das Dasein Einsicht in das eigene Sein. Dabei gibt sich das durchsichtig gewordene Dasein als ein radikal endli-

126 127 128

SZ, EA, S.311 Vgl. SZ, EA, S.226 SZ, EA, S.316

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ches. Erst wenn das Dasein sich auf den Weg zum eigenen Ende macht, hat es sein Sein, ist es wahrhaft,wirklich' geworden. Dieses Phänomen des eigentlichen Ergreifens des eigenen Endes muß aber eindringlicher herausgestellt werden.

§ 17 Νους und θείον. Das Denken und das Göttliche in der Philosophie a) Heideggers hermeneutisches Verständnis des νούς bei Aristoteles Es ist durch unsere Erwägungen klarer geworden, wie der fundamentalontologisch begriffene Umgang mit dem nächstbegegnenden Seienden, im Hinblick auf seinen ausgezeichneten Modus des herstellenden Verhaltens zum Seienden, sein Licht vom Dasein selbst empfängt. Diese dem Dasein selbst entspringende Seinserhellung macht sowohl die Umwelt wie auch die Selbstwelt dieses Seienden offenbar. Offenbarmachen ist aber der hermeneutischphänomenologische Sinn der Wahrheit. Demnach sind die verschiedenen dem Dasein in seinem Sein eignenden Lichtungsweisen zugleich die Weisen, wie die Wahrheit selbst geschieht. Wenn die Umwelt- und Selbstwelterhellung von Heidegger als gleichursprünglich verstanden werden, so kommt jedoch im Rahmen der fundamental-ontologisch gefaßten Daseinsanalytik der Enthülltheit des eigenen Seins gegenüber der des innerweltlichen Seienden ein Vorrang zu. Dasjenige ,Vermögen 4 des Menschen, das sich auf das faktische Leben selbst bezieht, wird nun als die radikalisierte φρόνησις, die Heidegger die Entschlossenheit nennt, gefaßt. Dabei wird die eigentliche Offenbarkeit des Seins des Daseins als die ursprünglich hermeneutisch gefaßte ,Handlung' des faktischen Daseins verstanden. Die Analyse von Heideggers Auslegung der φρόνησις hat gezeigt, wie er das eigentliche Seinsverständnis des Daseins gerade nicht als eine spekulative4 Tätigkeit, eine verweilende θεωρία, auffaßt, sondern als ein entschlossenes Ergreifen des eigenen Seins, das als solches den Charakter eines Unterwegs, einer Bewegtheit, hat. Diese vollzogene radikalisierende Aufhebung des aristotelischen φρόνησις-Begriffes bezeichnen wir als die fundamentalontologische Dynamisierung des Verstehens. Daß das eigentliche Verständnis des Seins von der Faktizität des Daseins her wesenhaft mitbestimmt wird, ist nun für Heideggers Idee einer Fundamentalontologie, wie oben erwähnt wurde, von entscheidender Bedeutung. Mit der Herausstellung des hermeneutisch-phänomenologischen Sinnes des aristotelischen Begriffes der φρόνησις als der eigentlichen Enthülltheit des Daseins in seinem Sein ist indessen das höchste Verstehensphänomen noch nicht erreicht. Vielmehr weist die so radikalisierte φρόνησις, wie wir sehen werden, ihrerseits auf eine erst durch die Seinsfrage vorbereitende Analytik des Daseins sichtbar gemachte und somit noch ursprünglichere Enthülltheit des Seins.

§ 17 Νους und θείον. Das Denken und das Göttliche

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Wenn Heidegger die φρόνησις als Vollzugsweise des νους faßt, so sagt er vom letzteren: „Der νούς gibt überhaupt Sicht, ein Etwas, ein >Da