Weiblichkeit, Macht und Geschlechterverhältnisse im Wandel: Die soziale Ordnung der ländlichenAymara Perus aus weiblicher Sicht 9783964560018

Diese empirische Untersuchung aus dem Gebiet der qualitativen Sozialforschung analysiert die hierarchische und asymmetri

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Weiblichkeit, Macht und Geschlechterverhältnisse im Wandel: Die soziale Ordnung der ländlichenAymara Perus aus weiblicher Sicht
 9783964560018

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Tabellen
1. Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und Aufbau der vorliegenden Untersuchung
2. Der Kontext im Forschungsgebiet
3. Der empirische Zugang
4. Lebensverlaufskurven, Selbstbild und Selbstentwürfe von Frauen unterschiedlicher Altersgruppen
5. Weibliche Sozialisation, Schulbesuch und Heiratsregeln aus weiblicher Sicht
6. Die Vielfalt der Geschlechterverhältnisse in der Ehe
7. Wertewandel, Weiblichkeit, ethnische Zugehörigkeit und politische Partizipation aus weiblicher Sicht
8. Weiblichkeit, Macht und Geschlechterverhältnisse bei den ländlichen Aymara von Puno aus weiblicher Sicht - ein Resümee
Anhang: Im Text zitierte Interviews
Glossar
Literaturverzeichnis

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Angela Meentzen Weiblichkeit, M a c h t und Geschlechterverhältnisse im W a n d e l

BERLINER LATEINAMERIKA-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Dietrich Briesemeister, Reinhard Liehr, Carlos Rincön, Renate Rott und Ursula Thiemer-Sachse Band 11

BERLINER LATEINAMERIKA-FORSCHUNGEN

Angela Meentzen

Weiblichkeit, Macht und Geschlechterverhältnisse im Wandel Die soziale Ordnung der ländlichen Aymara Perus aus weiblicher Sicht

VERVUERT • FRANKFURT AM MAIN • 2000

Die D e u t s c h e B i b l i o t h e k - C I P - E i n h e i t s a u f n a h m e Meentzen, Angela: Weiblichkeit, M a c h t und G e s c h l e c h t e r v e r h ä l t n i s s e im W a n d e l : die soziale O r d n u n g der ländlichen A y m a r a Perus aus weiblicher Sicht / Angela Meentzen. - F r a n k f u r t a m M a i n : V e r v u e r t , 200Ü (Berliner Lateinamerika-Forschungen ; Bd. I I ) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1998 ISBN 3-89354-161-6 © V e r v u e r t Verlag, F r a n k f u r t a m M a i n 2 0 0 0 Alle Rechte vorbehalten G e d r u c k t auf s ä u r e f r e i e m , a l t e r u n g s b e s t ä n d i g e m Papier Printed in G e r m a n y

5

Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Tabellen 1.

10

Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und Aufbau der vorliegenden Untersuchung

11

Überlegungen zur Relevanz der Subjektivität im Spannungsverhältnis zwischen zwei Lebenswelten

17

1.2.

Der Forschungsstand über Geschlechterverhältnisse in den Anden

20

1.3.

Die Dynamik von ländlichen Gesellschaften im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten

25

1.4.

Die Bedeutung der Ehre bei den Aymara

29

1.5.

Die Dauerhaftigkeit im Wandel: Die Ehre und der Habitus

33

1.6.

Die Kategorie des Geschlechts (Gender)

40

1.7.

Die Resistenz der Geschlechterhierarchie in Transformationsprozessen

45

1.8.

Charakteristiken und Strukturen bäuerlicher Gesellschaften

48

2.

Der Kontext im Forschungsgebiet

51

2.1.

Historischer Überblick über die Aymara im Raum Puno

51

2.1.1.

Die Herkunft der Aymara

52

2.1.2.

Die Eroberung durch die Inka

55

2.1.3.

Spezifische Bedingungen der vorkolonialen Produktionsweisen und die Sozialorganisation im Andenraum

56

2.1.4.

Die Christianisierung der Aymara nach der spanischen Eroberung

57

2.1.5.

Die Marktintegration der Aymara während der spanischen Kolonialzeit

58

2.1.6.

Die Rolle von Frauen im Widerstand gegen die Kolonialherrschaft

60

2.1.7.

Die Unabhängigkeit von Peru und Bolivien und die Situation der indigena im "republikanischen Kolonialismus"

61

2.2.

Der heutige Lebensraum der Aymara in Puno

63

2.2.1.

Formen und Wandel der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung

69

2.2.2.

Die Herkunftsorte der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner

72

2.3.

Die Sozialorganisation der Dorfgemeinschaften und das System der Ehre

74

1.1.

6 2.3.1.

Moralische und ethische Prinzipien im imaginären Weltbild der Aymara: vollwertige Menschen, Ehre und Respekt

76

2.3.2.

Der Frauentausch, die Heiratsregeln und die Ehre

80

2.3.3.

Männliche und weibliche Symbole, Mythen und Rituale

81

3.

Der empirische Zugang

85

3.1. 3.2.

Die Forschungssituation mit Landfrauen in Puno Der Standort der Forscherin

86 87

3.3.

Die Auswahl der qualitativen biographischen Methode der narrativen Interviews Die Kriterien für die Auswahl der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner

3.4. 3.5. 3.6.

Die Datenerhebung Die Vorgehensweise bei der Interpretation des empirischen Materials 3.7. Die Auswertungsphasen 3.7.1. Der erste Teil der Auswertung 3.7.2. Der zweite Teil der Auswertung 3.7.3. Der dritte Teil der Auswertung 3.8. Die Datenpräsentation 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.2. 4.3. 4.3.1.

Lebensverlaufskurven, Selbstbild und Selbstentwürfe von Frauen unterschiedlicher Altersgruppen Die Lebensverlaufskurven von zwei Frauen zwischen 60 und 70 Jahren Zwischen Normenbruch, Ehrverlust, Angst und Anpassung im Alter: Die Lebensverlaufskurve von Marcela Zwischen Ohnmacht, Anpassung, Ehrzuwachs, Verunsicherung und Rückzug: Die Lebensverlaufskurve von Silveria Zusammenfassender Überblick über die Altersgruppe zwischen 60 und 70 Jahren Die Lebensverlaufskurven von vier Frauen zwischen 50 und 60 Jahren Zwischen Mißbrauch, Ausschluß und Suche nach einem Platz in der Gemeinschaft: Die Lebensverlaufskurve von Teodora

93 94 96 99 99 100 101 102 102 104 105 105 110 112 115 115

7 4.3.2.

Zwischen Verstrickung, eigener Entscheidung und Zugang zu beiden Wertsystemen: Die Lebensverlaufskurve von María

118

Zwischen Verunsicherung, Verbitterung und Selbstbehauptung: Die Lebensverlaufskurve von Celia

119

Zwischen Verletzung und Rückzug: Die Lebensverlaufskurve von Andrea

122

4.4.

Zusammenfassender Überblick über die Altersgruppe zwischen 50 und 60 Jahren

124

4.5.

Die Lebensverlaufskurven von drei Frauen zwischen 40 und 50 Jahren

126

4.5.1.

Zwischen kritischer Distanz und Resignation: Die Lebensverlaufskurve von Senobia

126

Zwischen Ausgrenzung und Selbstbehauptung: Die Lebensverlaufskurve von María S.

128

4.5.3.

Zwischen Ehrzuwachs, Arbeitsüberlastung und Abwanderung: Die Lebensverlaufskurve von Paulina

129

4.6.

Zusammenfassender Überblick über die Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren

131

4.7.

Die Lebensverlaufskurven von zwei Frauen zwischen 30 und 40 Jahren

133

4.7.1.

Zwischen Zuordnung, Anpassung, Eroberung der Öffentlichkeit und Rückzug: Die Lebensverlaufskurve von Gregoria

133

Zwischen Resignation, Eroberung der Öffentlichkeit und Rückzug: Die Lebensverlaufskurve von Dominga

134

Zusammenfassender Überblick über die Altersgruppe zwischen 30 und 40 Jahren

135

4.9.

Die Lebensverlaufskurve einer Frau zwischen 20 und 30 Jahren

137

4.9.1.

Zwischen Ablehnung und Anpassung: Die Lebensverlaufskurve von Lucia

137

Zusammenfassender Überblick über die Altersgruppe zwischen 20 und 30 Jahren

138

4.3.3. 4.3.4.

4.5.2.

4.7.2. 4.8.

4.10. 4.11.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener Altersgruppen und Veränderungen von Deutungs- und Handlungsmustem

139

4.12.

Das Selbstbild der Interviewpartnerinnen im Wandel

141

8 5.

Weibliche Sozialisation, Schulbesuch und Heiratsregeln aus weiblicher Sicht

143

5.1.

Die Vermittlung der weiblichen Geschlechterrollen

143

5.2.

Die Problematik des Schulbesuchs aus weiblicher Sicht

148

5.3.

Die Institution der Zwangsheirat

156

5.3.1.

Der Frauentausch und die Normen und Regeln der Heirat

156

5.3.2.

Die Erbrechte von Frauen und Männern

160

5.3.3.

Die Zwangsheirat und die weibliche Ehre

161

5.3.4.

Sanktionen bei Normenbrüchen gegenüber der Zwangsheirat am Beispiel von zwei Generationen

163

5.3.5.

Die zunehmend endogame Tendenz der Heirat

172

6.

Die Vielfalt der Geschlechterverhältnisse in der Ehe

175

6.1.

Die Heiratsregeln: Zwang zur Heirat und Heiratsvermittlung

175

6.1.1.

Die Heirat aus der Sicht der Frauen: Ein Zwang ohne Ausweg

176

6.1.2.

Die Heirat aus der Sicht der Männer: Kein Spielraum für Eigeninitiative?

177

6.1.3.

Liebe und Sexualität in der Zwangsehe

179

6.2.

Die Hierarchie der Geschlechterverhältnisse in der Ehe bei den Aymara aus weiblicher Sicht

181

6.2.1.

Der ungleiche Wert von Männern und Frauen bei den Aymara

182

6.2.2.

Entscheidungsfindungsprozesse in der Ehe aus weiblicher Sicht

184

6.2.3.

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und ihre Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis in der Ehe aus weiblicher Sicht

185

6.2.4.

Das Vater-Tochter-Verhältnis in der Ehe

189

6.2.5.

Das Verhältnis der Mutter zur Tochter in bezug auf die Zwangsehe

190

6.2.6.

Das Verhältnis der Schwiegereltern zur Schwiegertochter

191

6.2.7.

Das Verhältnis der Schwiegermutter zur Schwiegertochter

192

6.3.

Das Gerede, der Ruf, die Ehrskala und die innerdörfliche soziale Hierarchie

195

6.3.1.

Probleme bei der Wiederheirat

197

6.3.2.

Die Situation von alleinstehenden Frauen

198

6.4.

Ein Vergleich der Ansichten von Frauen und Männern über Geschlechterverhältnisse in der Ehe

201

Gewalt in der Ehe

203

6.5.

9 7.

Wertewandel, Weiblichkeit, ethnische Zugehörigkeit und politische Partizipation aus weiblicher Sicht

216

Wertewandel, Veränderungen kultureller Praktiken, von Riten und Frauenräumen aus weiblicher Sicht

216

Der Wandel in der Produktion und die Sinnkrise von Ritualen und Praktiken aus weiblicher Sicht

216

7.1.2.

Auswirkungen der Zunahme der Viehzucht auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Arbeitsbelastung von Frauen

221

7.1.3.

Auswirkungen des Produktionswandels auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung

224

7.2.

Die Kleidung der Frauen als Symbol für Weiblichkeit und ethnische Zugehörigkeit

226

Die Webkunst in Viehzuchtgesellschaften und die Rolle von Webstoffen im Gütertausch

230

Trachtenkleidung als Symbol für geographische Zuordnung, Differenzierung und Abgrenzung

232

7.2.3.

Kleidung als Ausdruck von Generationskonflikten unter Frauen

233

7.2.4.

Kleidung als Ausdrucksform für soziale Differenzierungsprozesse innerhalb der Dorfgemeinschaften

238

Kulturelle Identität und die weibliche Sicht der Ethnizität im Wandel

247

7.1. 7.1.1.

7.2.1. 7.2.2.

7.3. 7.4.

Zur politischen Partizipation von Aymara-Frauen

255

7.4.1.

Die Eroberung von öffentlichen Frauenräumen und der dörflichen Selbstverwaltung

255

7.4.2.

Die Rolle der Frauenorganisationen aus weiblicher Sicht

257

7.4.3.

Der Weg zur Partizipation von Frauen in der dörflichen Selbstverwaltung

261

7.4.4.

Frauenspezifische Forderungen

264

7.4.5.

Die weibliche Wahrnehmung von politischen Institutionen der städtischen Lebenswelt

266

7.4.6.

Grenzverschiebungen zwischen privaten und öffentlichen Räumen

269

8.

Weiblichkeit, Macht und Geschlechterverhältnisse bei den ländlichen Aymara von Puno aus weiblicher Sicht - ein Resümee

271

Der Wandel der Vorstellungen von Weiblichkeit

271

8.1.

10 8.2.

Die weibliche Ehre als zentraler Lebenssinn und als soziale Daseinsberechtigung von Frauen innerhalb der ländlichen Lebenswelt

275

8.3.

Die Veränderung von Geschlechterverhältnissen und die Erweiterung von Geschlechterdisparitäten

281

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

285

8.4.

Anhang: Im Text zitierte Interviews

294

Glossar

307

Literaturverzeichnis

310

Verzeichnis der Tabellen Tabelle 1: Bevölkerung und Bodenbeschaffenheit der Provinz von Chucuito, Puno

64

Tabelle 2: Bevölkerungszuwachs, Migration und monetäres Einkommen am Beispiel von zwei Dorfgemeinschaften (1967, 1976 bzw. 1983)

68

11

1.

Forschungsstand, Erkenntnisinteresse und Aufbau der vorliegenden Untersuchung

Über Weiblichkeit, Macht und Geschlechterverhältnisse in ländlichen indianischen1 Kontexten Lateinamerikas ist bisher nur wenig bekannt. Indianische Bauernführer neigen dazu, der Sehnsucht moderner Stadtmenschen nach authentischen Traditionen eine eher idealisierte Version von egalitären, demokratischen, kollektiven, solidarischen sozialen Verhältnissen in ländlichen indianischen Kontexten entgegenzusetzen. Sie betonen, daß im Andenraum trotz der gewaltsamen spanischen Kolonisation und der jahrhundertealten Unterordnung unter dominante Lebenswelten2 bis heute eine kulturelle Eigenständigkeit bewahrt werden konnte. Diese Form der Darstellung ist zwar verständlich, wenn es darum geht, stark abgewertete ländliche Lebenswelten aufzuwerten bzw. ihre Selbstbehauptung zu unterstützen. Innerhalb der Lebenswelt andiner Bauerngesellschaften hat es jedoch durchaus historisch unterschiedlich ausgeprägte Formen von sozialer Ungleichheit und von Machtausübung gegeben, die sowohl Voraussetzung für Transformationsprozesse waren als auch durch Transformationsprozesse beeinflußt und verändert werden. Auch bei den ländlichen Aymara im Süden Perus sind Ungleichheiten und Machtstrukturen in Geschlechterverhältnissen und Vorstellungen von Weiblich-

1

Der Begriff "Indianer" oder auf spanisch indio oder indígena wurde von den europäischen Kolonisatoren eingeführt und ohne jede Unterscheidung auf die gesamte voreuropäische Bevölkerung auf dem amerikanischen Kontinent von Alaska bis Feuerland angewendet. Bis heute werden die spanischen Begriffe indio oder indígena häufig sozial stigmatisierend, mit der Bedeutung von ungebildet, rückständig und schmutzig verwendet. In Peru wurde der Begriff indio mit der Abschaffung der Hazienden durch die Agrarreform von 1969 abgeschafft und von der Militärregierung von General Velasco offiziell durch den Begriff campesino, auf deutsch Hochland- oder Kleinbauer ersetzt, der bis heute in Peru verbreitet ist. Indianistische politische Organisationen haben demgegenüber vor allem in Bolivien und in Ekuador den Indianer- bzw. jW/o-Begriff inzwischen wieder aufgegriffen, um ihn als Gegenmodell gegen den hegemonialen Nationalstaat der Nichtindianer (von Weißen und Mestizen) zu verwenden.

2

Für Habermas (1995a) besteht die Lebenswelt in Abgrenzung zu rein ökonomischen Erklärungsansätzen aus Kultur, Gesellschaft und Person, die er dem System, bestehend aus Ökonomie und Staat, gegenüberstellt. In der vorliegenden Untersuchung wird der Begriff auf "kleinere Lebenswelten" übertragen und zwischen ländlicher und städtischer Lebenswelt unterschieden. Diese Unterscheidung entspricht sowohl historisch entstandenen Stadt-Land und misti-indio-Systemen im Altiplano (siehe Kapitel 2.9) als auch der in analysierten Lebensgeschichten vorhandenen subjektiven Betrachtungsweise der Interviewpartnerinnen.

12 keit3 bisher nur wenig erforscht worden. Noch weniger ist über Alltagserfahrungen und die Wahrnehmung von Modernisierungsprozessen seitens der AymaraFrauen bekannt. Um diese Forschungslücke zu beheben, hat sich die vorliegende Untersuchung die Beantwortung folgender zentraler Fragen zum Ziel gesetzt: Wie erleben Aymara-Frauen ihren Alltag und welchen Leitbildern folgen sie? Wie sind Geschlechterverhältnisse bei den Aymara aus weiblicher Sicht organisiert? Wie wirken sich Modernisierungsprozesse auf Geschlechterverhältnisse und Konzepte von Weiblichkeit bei den Aymara aus? Wie verändern sich Machtverhältnisse und weibliche Einflußmöglichkeiten? Diesen leitenden und anderen weiterfuhrenden Fragestellungen wird in der vorliegenden Untersuchung aus der Perspektive von Aymara-Frauen nachgegangen. Die Beantwortung dieser Fragen soll mit Hilfe der Analyse narrativer Interviews mit Aymara-Frauen und einigen Aymara-Männern einen Beitrag zur Erweiterung des derzeitigen Kenntnisstands über die Dynamik von sozialen Verhältnissen bei den Aymara von Puno aus weiblicher und gelegentlich auch aus männlicher Sicht leisten. Im südlichen Altiplano Perus hat bis heute die Mehrheit der Aymara-Frauen in ländlichen Dorfgemeinschaften nur geringen Zugang zur Schulbildung und nur wenige lernen außer ihrer oralen Muttersprache Aymara auch die nationale Landes- und Schriftsprache Spanisch. Ihnen bleibt bis heute durch Aus- bzw. Eingrenzung auf doppelte Weise der Zugang zur nationalen peruanischen Gesellschaft verwehrt: Einerseits werden sie von der peruanischen Bevölkerung der Nicht-Aymara aus städtischen Kontexten wegen ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Armut und Herkunft aus abgewerteten ländlichen sozialen Räumen diskriminiert und ausgegrenzt. Andererseits werden sie innerhalb der Lebenswelt der Aymara festgehalten, indem ihnen in Transformationsprozessen die Rolle der "Hüterinnen der Tradition" und somit die Verantwortung für die Aufrechterhaltung von überlebenswichtigen gesellschaftlichen Strukturen und Funktionen zugeschrieben wird. Aymara-Frauen unterliegen gleichzeitig vielfaltigen Prozessen von Exklusion und Inklusion: Sie werden nicht nur aus der städtischen Lebenswelt ausgegrenzt, sondern auch aus öffentlichen Räumen innerhalb der ländlichen Lebenswelt der Aymara. Gleichzeitig werden sie mit Hilfe vielfaltiger Mechanismen sozialer Kontrolle auf die dörfliche Lebenswelt der Aymara orientiert, eingegrenzt und dazu verpflichtet, "indianischer" zu sein als die Männer (De La Cadena 1991). Die Kommunikation zwischen ländlichen Aymara-Frauen und Nicht-Aymara über alltägliche weibliche Lebenserfahrungen ist aufgrund der beschriebenen Hürden der Aus- bzw. Eingrenzung und der Folgen der ausgeprägten sozialen 3

Die Adjektive weiblich und männlich und die Kategorien der Weiblichkeit und Männlichkeit werden als historisch und kulturspezifisch konstruierte Begriffe und nicht im Sinne einer naturhaften Wesensart verwendet (vgl. Schaeffer-Hegel 1989).

13 Kontrolle auf dem Land in Puno bis heute schwierig. Über die weibliche Sicht der Lebenswelt der Aymara im Wandel ist daher bisher nur wenig bekannt und die Rekonstruktion weiblicher Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster ist für ein vollständiges - nicht nur männliches Bild - sozialer Verhältnisse relevant. Zentraler Forschungsgegenstand der vorliegenden Untersuchung sind subjektive Aussagen ländlicher Aymara-Frauen über ihre Lebenserfahrungen und über sozial vermittelte normative Leitbilder, die ihre Handlungen orientieren. Weibliche Handlungsräume, ihre Erweiterung bzw. ihre Grenzen, sowie die Rekonstruktion der Veränderungen von Weiblichkeit, Macht4 und Geschlechterverhältnissen bei den ländlichen Aymara Perus aus weiblicher Sicht stehen bei deren Auswertung im Vordergrund. Die Relevanz von Untersuchungen über Geschlechterverhältnisse in spezifischen Kontexten besteht darin, dem vielfältigen Sinn und der Funktion der Kategorie Geschlecht als Ordnungsprinzip in Transformations- und Modernisierungsprozessen nachzugehen. Da der Grad der Ungleichheit der Geschlechter, die Bedeutungen von Symbolen, Riten und Praktiken und die Konzepte von Weiblichkeit gesellschaftsspezifisch unterschiedlich und vielfaltig sind, trägt die Erforschung der weiblichen Sicht bei den Aymara dazu bei, zwar nicht die Realität selbst, wohl aber die subjektive weibliche Konstruktion der Realität nachzuvollziehen. Auf diese Weise wird auch ein Beitrag zur derzeitigen Debatte über die Veränderungen von Geschlechterverhältnissen als Teil einer globalen Geschichte geleistet, die durch Ungleichheit, Eroberung, Unterwerfung, Enteignung, Widerstand, Machtkampf und Transformation geprägt ist. Die Analyse der historisch konstruierten Subjektivität der AymaraFrauen, ihres sozialen Kontextes, ihrer Leitwerte und Handlungsräume und eine bessere Kenntnis der weiblichen Sicht der Geschlechterverhältnisse bei den ländlichen Aymara kann im interkulturellen Vergleich dazu beitragen, auch die westlichen Geschlechterverhältnisse in modernen städtischen Kontexten in einem ganz neuen Licht zu betrachten (vgl. Connell 1995: 33-34). Bourdieu verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß der Umweg über eine fremde Kultur nötig ist, um sich über die zu große Vertrautheit mit der eigenen Lebenswelt hinwegsetzen zu können. Erst die im Vergleich mit der fremden Lebenswelt geschaffene Distanz ermöglicht eine Sozioanalyse von Aspekten der eigenen sozialen Ordnung, die, obwohl sie uns nach langjähriger Verinnerlichung durch unsere eigene

4

Hier wird Macht im Sinne von Weber verwendet. Max Weber unterscheidet zwischen Macht und Herrschaft. "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. (...) Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.(...) 'Herrschaft' (...) kann nur die Chance bedeuten: für einen Befehl Fügsamkeit zu finden" (Weber 1984: 89).

14 Sozialisation natürlich erscheinen, tatsächlich historisch und sozial konstruiert sind (vgl. Bourdieu 1998: 9). Ein weiteres wichtiges Motiv für diese Untersuchung besteht darin, die soziale Gruppe der andinen Landfrauen selbst zu Wort kommen zu lassen, um die Aussagen einer bisher weitgehend zum Schweigen verurteilten Gruppe von Frauen (vgl. Harvey: 1989) zu interpretieren und ihre subjektiven Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster zu rekonstruieren. Über andine Landfrauen sind zahlreiche Vorurteile verbreitet, die zu ihrer Ausgrenzung aus der städtischen Lebenswelt und ihrer Diskriminierung durch die peruanische und globale Gesellschaft beitragen. Ein verbesserter Kenntnisstand auf der Grundlage empirischer Forschungen über die weibliche Subjektivität kann zur Überwindung eines Teils dieser Vorurteile beitragen, das Interesse für Aymara-Frauen vergrößern, eine offenere Herangehens weise an die ausgegrenzte soziale Gruppe andiner Frauen und Überlegungen hinsichtlich geeigneter Maßnahmen zur Überwindung der ausgeprägten Geschlechterdisparitäten im Andenraum fördern. Die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegenden lebensgeschichtlich strukturierten narrativen Interviews mit Aymara-Frauen aus Puno stellen aufgrund der langjährigen Lebens- und Arbeitserfahrung der Autorin in Puno und der Überwindung vielfaltiger Forschungshindernisse, die in den Kapiteln 3.1. und 3.2. noch näher ausgeführt werden, ein außergewöhnliches empirisches Material mit Seltenheitswert dar. Die Untersuchung umfaßt acht Kapitel. Der erste Teil der Arbeit besteht aus drei Kapiteln, die dem theoretischen und historischen sowie dem geographischen und sozialen Kontext des Untersuchungsgebiets gelten. Viele der Fragestellungen konnten in der Auseinandersetzung mit den nachfolgend kurz referierten theoretischen Ansätzen vertieft werden. Der zweite, empirisch ausgerichtete Teil beruht auf Erhebungen der narrativen Interviews im Feld, die in den darauffolgenden Kapiteln vier bis sieben analysiert werden. Den Abschluß der Arbeit bildet das achte Kapitel, das die Auswertung der Ergebnisse des empirischen Teils in bezug auf ihre Relevanz für die theoretischen Fragestellungen der Arbeit zusammenfaßt. Im ersten Kapitel werden zunächst die verwendeten Begriffe wie Tradition und Modernisierung, die Kategorie des Geschlechts, der Geschlechtsidentitäten und der Geschlechterverhältnisse im Wandel als Teil von sozialen Machtverhältnissen erklärt, die den vielfältigen Formen sozialer Ungleichheiten zugrunde liegen und zur Unterordnung von Frauen fuhren. Der derzeitige Diskussionsstand zu Geschlechterverhältnissen im Andenraum wird dargestellt und die Relevanz der Identifizierung von Kontroll- und Sanktionsmechanismen zur Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit insbesondere in bezug auf die Geschlechterverhältnisse und die unterschiedliche Bewertung von Weiblichkeit und Männlichkeit begründet. Als ein Leitwertsystem für Aymara-Frauen wird das Wertsystem der Ehre als

15

zentraler Verhaltenskodex, der alle Alltagshandlungen in Aymara Dorfgemeinschaften prägt, heraus gearbeitet. Darüber hinaus werden generelle Charakteristiken, Strukturen und Hierarchien bäuerlicher Gesellschaften und ihre soziale Ordnung analysiert, die wiederum durch die Kategorie des Geschlechts strukturiert werden. Im zweiten Kapitel wird zunächst ein zusammenfassender historischer Überblick über den Einfluß der spanischen Kolonisation und der Christianisierung auf die Aymara von Puno, sowie auf die Entwicklungen im Altiplano von Puno seit der Unabhängigkeit der Republik Peru gegeben. Dabei werden insbesondere die Auswirkungen der Ausbeutung der indianischen Bevölkerung auf den Hazienden, der Weltmarktintegration, der Agrarreform und der erst relativ spät eingeräumten staatsbürgerlichen Rechte für Frauen und für die indianische Bevölkerung beleuchtet (vgl. Kapitel 2.1.7.). Schließlich wird der Kontext der Herkunftsdörfer der Interviewpartnerinnen aus drei ökologischen Zonen mit den lokal sehr ungleichen Auswirkungen von Modernisierungsprozessen in bezug auf die Marktintegration und auf die geschlechts- und altersspezifische Arbeitsteilung vorgestellt und analysiert. Dieser Kontext wiederum stellt den Rahmen für die Analyse der narrativen Interviews im zweiten empirischen Teil der Arbeit dar. Im dritten Kapitel wird die Auswahl der Methoden der empirischen Sozialforschung zur Erhebung und Auswertung der empirischen Daten unter den erschwerten Umständen des Zugangs zu ländlichen Aymara-Frauen und zu ihren möglichst ungefärbten Aussagen beschrieben und problematisiert. Das Verhältnis zwischen Forscherin und Erforschten, über deren unterschiedliche Standorte und Interessen, ihren Einfluß auf den Forschungsprozeß und auf die Forschungsergebnisse und einige Aspekte der Arbeits-, Lebens- und Lernprozesse der Forscherin im Verlauf des Forschungsprozesses werden rekonstruiert und reflektiert. Im vierten Kapitel beginnt der empirische Teil mit der Auswertung der Interviews mit Lebensverlaufskurven und Selbstentwürfen einiger ausgewählter Interviewpartnerinnen unterschiedlicher Altersgruppen aus verschiedenen ökologischen Zonen und aus unterschiedlichen Familien- und Einkommensverhältnissen, um einen Überblick über das Spektrum unterschiedlicher Lebenserfahrungen und Lebensverläufe sowie über die Auswirkungen des sozialen Wandels auf Frauen zu geben. Zu diesem Zweck werden Einzelschicksale mit Hilfe von chronologischen Lebensverlaufskurven rekonstruiert und innerhalb jeder Altersgruppe einander gegenübergestellt. Schließlich werden die verschiedenen Altersgruppen miteinander verglichen und erste Aussagen zu den Auswirkungen von Veränderungsprozessen auf die Lebensbedingungen, die Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsweisen der Interviewpartnerinnen gemacht. Die Kapitel fünf bis sieben vertiefen die Rekonstruktion der weiblichen Sicht von Handlungsräumen und Veränderungsprozessen am Beispiel von zentralen

16 sozialen Praktiken innerhalb der Lebenswelt der Aymara im Zusammenhang mit Normen, Regeln und Werten der Geschlechterverhältnisse und der Vorstellungen von Weiblichkeit. Im fünften Kapitel werden aus weiblicher Sicht die Mechanismen der Geschlechterhierarchisierung rekonstruiert, die während der weiblichen Sozialisation zum Einsatz kommen, die Mädchen den Schulbesuch erschweren und die durch die Heiratsregeln wirksam werden. Im sechsten Kapitel wird die weibliche Sicht der Heirat und der damit verbundenen Normen, Regeln und Sanktionen, ihrer Kontinuität und ihrem Wandel der männlichen Sicht gegenübergestellt. Anhand der Untersuchung der Vielfalt gelebter Geschlechterverhältnisse aus weiblicher Sicht entsteht ein Bild davon, wie Frauen durch ihr Handeln selbst zur Veränderung von Geschlechterverhältnissen beitragen, welche Möglichkeiten und Grenzen ihrer Handlungsräume sie wahrnehmen und umsetzen, und wie sich veränderte Anforderungen, Kontroll- und Sanktionsmechanismen auf Aymara-Frauen unterschiedlicher Altersgruppen auswirken. Auch in diesem Kapitel wird die männliche Sicht mit einbezogen. Im siebenten Kapitel geht es demgegenüber um die Wahrnehmung von Veränderungsprozessen und ihrer Auswirkungen auf das weibliche Imaginäre. Anhand von Beispielen von Veränderungen in der Produktion, in bezug auf Anbaupraktiken in der Landwirtschaft einerseits und von Kleidungspraktiken als Ausdruck zunehmender sozialer Differenzierungsprozesse andererseits werden die Vorstellungen der Interviewpartnerinnen von Weiblichkeit und ethnischer Zugehörigkeit analysiert. Zum Abschluß des siebenten Kapitels werden die bisher noch geringen Erfahrungen der Interviewpartnerinnen mit politischer Partizipation innerhalb und außerhalb der ländlichen Lebenswelt zusammengefaßt. Weibliche Forderungen nach Veränderung und zur Verteidigung spezifischer Interessen, die weibliche Eroberung der Öffentlichkeit innerhalb der ländlichen Lebenswelt und die zunehmende politische Partizipation der Aymara-Frauen werden am Beispiel von Grenzverschiebungen sozialer Räume heraus gearbeitet. Im Zusammenhang mit städtischen Institutionen wie Behörden, Entwicklungsprojekten, Bauernverbänden und politischen Parteien fallen die Antworten der Interviewpartnerinnen auf Fragen nach Parteien, Verbänden und Institutionen vergleichsweise kurz aus. Die Frauen erhalten den größten Teil ihrer Informationen über das politische Tagesgeschehen aus spanischsprachigen Nachrichtensendungen im Radio, von denen sie einen großen Teil aufgrund mangelnder Spanischkenntnisse nicht verstehen. Da jedoch "alles Private auch politisch" ist, sind die Alltagserfahrungen, die Grenzverschiebungen und die Eroberung neuer Handlungs- und Entscheidungsräume von Frauen innerhalb der Lebenswelt der Aymara daher auch als Formen von politischer Partizipation anzusehen. Seit der großen Dürrekatastrophe von 1983 werden sowohl von staatlichen als auch von kirchlichen Institutionen große Mengen von Nahrungsmitteldonationen an Frauen verteilt, wenn sie sich in

17 den sogenannten Mütterclubs (clubes de madres) organisieren. Seither wurden in der Mehrheit der Dörfer in Puno neben der Organisation der Dorfgemeinschaft zusätzliche Frauenorganisationen gegründet. Viele Interviewpartnerinnen sind in diesen Frauenorganisationen auf Dorf- oder Bezirksebene aktiv und auf ihre diesbezüglichen Erfahrungen wird im siebenten Kapitel noch näher eingegangen. Das achte Kapitel unternimmt eine theoriebezogene Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse der empirischen Untersuchung über die Auswirkungen von Modernisierungsprozessen auf Geschlechterverhältnisse, Macht und Weiblichkeit. Die veränderten Bedingungen der Vergesellschaftung von Frauen, die Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung von Frauen und zur Erhaltung oder Erweiterung von Ungleichheit in Geschlechterverhältnissen werden noch einmal zusammenfassend vorgestellt. Die Wechselbeziehung zwischen Geschlecht, Ehre und Gesellschaftsstruktur, die Relevanz der weiblichen Ehre und die Hürden der politischen Partizipation von Frauen werden abschließend nachvollzogen.

1.1. Überlegungen zur Relevanz der Subjektivität im Spannungsverhältnis zwischen zwei Lebenswelten Aymara-Frauen leben in Puno heute im Spannungsfeld zwischen zwei verschiedenen Lebenswelten, der untergeordneten bäuerlichen Gesellschaft der Aymara einerseits und der dominanten städtischen peruanischen Gesellschaft andererseits. Dieses Spannungsverhältnis zwischen zwei Gesellschaftsformen mit unterschiedlichem Sprachgebrauch, Sinnkategorien und Wertsystemen, Strukturen und sozialen Praktiken, von denen eine der anderen untergeordnet ist, prägt die Dynamik der Veränderungsprozesse, zu denen auch Frauen als Akteure permanent beitragen. Das erwähnte Spannungsverhältnis konnte erst durch die Vielfältigkeit von historischen Transformationsprozessen entstehen, die in einem so großen, geographisch und klimatisch vielfaltigen Land wie Peru mit Wüste an der Pazifikküste, des hohen und schwer überwindbaren Andenhochlands und dem dahinter liegenden undurchdringlichen Amazonastiefland besonders ausgeprägt ist. In Peru koexistieren verschiedene Lebenswelten von mehr als 50 ethnischen Gruppen miteinander und schaffen damit eine heterogene multikulturelle Gesellschaft, in der eine große Anzahl ländlicher Lebenswelten von der sich ausbreitenden städtischen Lebenswelt untergeordnet und beeinflußt wird. Wertsysteme, Bedeutungsmuster und soziale Praktiken untergeordneter Lebenswelten unterliegen im sozialen Wandel in der Auseinandersetzung mit dominanten Wertsystemen Prozessen der Auf- oder Abwertung und Innovation. Personen werden je nach Sprache, Kleidung und Herkunft aus- oder eingegrenzt, akzeptiert, bevorzugt oder diskriminiert und verachtet.

18 Einerseits teilt die bäuerliche Gesellschaft der Aymara mit vielen historisch gewachsenen ländlichen Gesellschaftsformen anderer Teile der Welt gemeinsame Merkmale, darunter Aspekte wie z.B. die Reziprozität oder die dichotome Weltsicht mit zwei entgegengesetzten und gleichzeitig komplementären weiblichen und männlichen Sphären5. Andererseits sind spezifische Merkmale dadurch entstanden, daß die Aymara bereits vor über 500 Jahren von den Spaniern erobert und mit Gewalt christianisiert worden sind, bis heute aber über eine kulturelle Eigenständigkeit als eigene Sprachgruppe, mit eigenen Trachten und eigenen Normen und Werten verfügen. Trotz der Kolonisation der Aymara durch die Europäer und zuvor durch die Inka, sind bis heute noch einige spezifische voreuropäische bzw. vorinkaische Elemente in der ländlichen Lebenswelt der Aymara nachvollziehbar, die ihr imaginäres Weltbild, ihre Nonnen und Wertsysteme bis heute prägen (vgl. Kapitel 2.3). Die Analyse von narrativen Interviews mit Aymara-Frauen gibt Aufschluß über die strukturellen und symbolischen Bedingungen weiblicher und kultureller Existenz, sowie über das Verhältnis zwischen Individuum, Familie, Dorfgemeinschaft und Gesellschaft. Zentrale Institutionen innerhalb der Lebenswelt der Aymara wie die Ehe, die Familie und die Gemeinschaft mit ihren auf die Gruppe bezogenen Leitwerten - wie dem Wertsystem der Ehre - geraten beispielsweise in Konflikt mit den von der staatlichen oder kirchlichen Institution Schule vermittelten Werten, die einem individualisierteren Weltbild entsprechen. Dieses Spannungsfeld führt sowohl zur Veränderung als auch zur Überlagerung von unterschiedlichen Regeln und Praktiken mit sich teilweise widersprechenden Anforderungen und Sinnstrukturen. Anhand von weiblichen Deutungs-, Denk- und Wahmehmungsmustern sollen spezifische Formen der Vergesellschaftung von Aymara-Frauen im Kontext des genannten Spannungsfeldes rekonstruiert werden ebenso wie Rechtfertigungen, Symbole, Mechanismen und Zwänge, die dabei entstehen, sowie der Umgang der Interviewpartnerinnen mit diesen gesellschaftlichen Bedingungen. Bei der Untersuchung von gesprochenen Texten in Form von narrativen Interviews mit Aymara-Frauen und einigen Aymara-Männern aus Dorfgemeinschaften in Puno steht der weibliche Diskurs im Vordergrund. Unter Diskurs wird hier ein abgrenzbarer, regelhafter Kommunikationszusammenhang mit einer Eigendynamik verstanden, der nach Regeln stattfindet, die sich aus den Machtverhält5

Vega-Centeno (1996) kommt in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis, daß die Wahrnehmung im Alltag in den meisten Kulturen auf der Bewertung und Klassifizierung in Form von Gegensätzen wie weiblich-männlich, links-rechts, oben-unten, gutböse, roh-gekocht, dominant-untergeordnet beruhe. Die angeblich universelle Klassifizierung in zwei Geschlechter männlich-weiblich wird u.a. von Gildemeister/Wetterer (1992) unter Bezug auf Butler (1991), Mead (1958) oder Hagemann-White ( 1 9 8 9 ) hinterfragt.

19 nissen und gegenseitigen Kontrollen ergeben (vgl. Foucault 1977). Dabei müssen sowohl die Ebenen der Sprache, der Diskurse6, der Symbole und des Imaginären7 berücksichtigt werden, als auch Interaktions- und Praxisformen, Strukturen, Funktionen und Institutionen. Alle diese Ebenen werden durch die Kategorie Geschlecht und durch die weibliche Subjektivität geordnet bzw. strukturiert. Für die Erfassung der Dynamik des sozialen Wandels erhält die Kategorie des Alters eine besondere Bedeutung. Vor allem Bourdieu hat die Relevanz der Subjektivität für den gesellschaftlichen Wandel hervorgehoben. Vogt (1997: 117) faßt den Beitrag von Bourdieu knapp und eindrucksvoll zusammen: "Gesellschaftliche Realität, das ist eine entscheidende Pointe der Bourdieuschen Theorie, konstituiert sich nicht nur aufgrund von 'objektiven' Strukturen, sondern auch aufgrund des subjektiven Bildes, welches sich die sozialen Akteure von der Wirklichkeit machen."

Demnach sind auch Geschlechter- und Machtverhältnisse nicht von vornherein einfach festgelegt, sondern werden durch Interaktions- und Praxisformen erst hergestellt und verändert, die wiederum von den jeweiligen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern abhängen. Vorhandene Normen werden nicht passiv internalisiert und befolgt. Vielmehr entsteht eine Politik der Normen und Interessen (Connell 1995), die mobilisiert werden, sowie Mechanismen, um diese Interessen durchzusetzen. Normen wiederum haben ihre Wurzeln im Kategoriensystem der mythischen Wahrnehmungen und der Religion, die bei den Aymara durch die Koexistenz des Christentums und andiner religiöser Praktiken gekennzeichnet ist, auf die noch näher eingegangen wird. Die Relevanz der weiblichen Subjektivität als Forschungsgegenstand besteht darin, daß der weibliche Blick auf die soziale Ordnung der ländlichen Lebenswelt der Aymara neue Schwerpunkte setzt, eine subjektive Einschätzung der Dynamik von Veränderungsprozessen rekonstruierbar macht, und das Nachvollziehen der Logik und Leitbilder 6

Scott (1990) hat in seinen Forschungen über Bauerngesellschaften in Asien zwischen verschiedenen dominanten und versteckten Diskursen unterschieden, je nachdem ob sich jemand in der Öffentlichkeit oder im Privatbereich bewegt, und mit wem er oder sie in Dialog tritt. Scott geht davon aus, daß Kolonialismus, Rassismus und Geschlech terhierarchien zu besonders krassen Mechanismen der Unterdrückung geführt haben, die es den Unterdrückten unmöglich machten, in direkter und sichtbarer Weise darauf zu reagieren und ihre Ansichten frei vor Publikum äußern zu können, sie also bevorzugt 'versteckte' Diskursformen entwickelten. Das Bild des 'versteckten Diskurses' kann in abgewandelter Form auch auf die narrativen Interviews mit andinen Landfrauen angewendet werden, da sie in einem privaten Interview einen anderen Diskurs verwenden, als z.B. in Gegenwart ihrer Familie oder gar in der Öffentlichkeit.

7

Das Imaginäre ist die Vorstellungswelt einer Gesellschaft, die auch Wünsche, Ängste, Phantasien und Träume umfaßt. Diese Vorstellungswelten materialisieren sich sinnlich faßbar in Bildern und Texten (vgl. Le Goff 1990, Vogt 1997).

20 der Frauen selbst zu einer geeigneteren Einschätzung ihrer Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweise beiträgt als eine Analyse der objektiven Realität. Die weibliche Perspektive fuhrt durch die Veränderung der Betrachtungsweise von innen im Verlauf des Forschungsprozesses notwendigerweise zu Schwerpunktverlagerungen und dazu, einige bisherige Forschungsergebnisse im Andenraum zu hinterfragen oder neu zu bewerten.

1.2. Der Forschungsstand über Geschlechterverhältnisse in den Anden Insgesamt ist das Thema "Geschlechterverhältnisse in den Anden" noch relativ unerforscht und auch die Literatur über die Aymara im Andenraum allgemein und in Peru insbesondere ist vergleichsweise begrenzt. In den letzten Jahrzehnten haben einige Wissenschaftler mit Aymara-Herkunfit damit begonnen, ihre eigene Lebenswelt zu erforschen8. Eine der bisher noch wenigen Frauen unter ihnen ist Brindis Mamani (1982) aus Puno9. Die Autoren und Autorinnen, die über die Aymara in Chile, Bolivien oder Peru geforscht haben, sind in der Mehrheit Nicht-Aymara oder Ausländer und Ausländerinnen. Als Gegenreaktion zur allgemeinen Unterordnung und Abwertung nichtwestlicher Kulturen wie der Aymara-Kultur und zur "kolonialistischen Situation" (Connell 1995) von Nicht-Aymara Forschern den indianischen Erforschten gegenüber haben Forschungsansätze der letzten Jahrzehnte vor allem versucht, Respekt vor kultureller Eigenständigkeit zu beweisen, mehr Pluralität und Spezifizität anzuerkennen oder nach alternativen Lebensformen Ausschau zu halten. Feministische Ansätze, die in vielfaltigen empirischen Studien der 70er Jahre eine universelle Ungleichheit der Geschlechter weltweit festgestellt hatten10, wurden als ahistorisch und eurozentristisch bezeichnet und mit dem Argument relativiert, auf nicht-westliche Kulturen im allgemeinen und andine im besonderen träfen derartige Verallgemeinerungen über Geschlechterhierarchien nicht zu. Ethnohistorikerinnen mit strukturalistischem Ansatz waren mit Hinweisen auf vermeintlich spezifisch andine Konzepte der Komplementarität der Geschlechter 8

U.a. Mamani (1982), Llanque (1990), Huanca (1989), Ochoa (1974), Layme (1992), oder die Mitglieder der Asociación Peruana de la Lengua Aymara (APLA) in Puno oder des Taller de Historia Oral Andina (THOA) aus Bolivien.

9

Brindis Mamani besitzt außerdem jahrelange Erfahrung als Übersetzerin in Zweisprachenprojekten des Erziehungsministeriums und in der Universität von Puno. Sie hat auch einen Teil der Interviews dieser Untersuchung transkribiert und vom Aymara ins Spanisch übersetzt.

10

Darunter De Beauvoir (1968), Reiter (1975), Rubin (1975), Leacock (1978), Rosaldo u. Lamphere (1974), Chodorow (1985), Ortner (1974), u.a.

21 und der sich daraus ergebenden gegenseitigen Abhängigkeit von Männern und Frauen, auf duale männlich-weibliche Fortpflanzungskonzepte, sowie auf angeblich symmetrische Beziehungen zwischen den Verwandten beider Eheleute zum Ergebnis gekommen, die andine Kosmovision fördere sogar eine Machtangleichung der Geschlechter (Isbell 1976: 52; Nuflez Del Prado 1975: 623-630). Vergleichbare Diskussionen waren auch über die Gleichheit oder Ungleichheit in Geschlechterverhältnissen in Wildbeutergesellschaften entstanden, denen zunächst als vermeintlich patrilinear oder patrilokal organisierten Gesellschaften eine ausgeprägte männliche Dominanz, u.a. wegen der hohen Bewertung der Jäger zugeschrieben worden war. Diese männliche Dominanz wurde jedoch zunehmend hinterfragt und in den 1980er Jahren schrieben einige Autorinnen Frauen in Wildbeutergesellschaften sogar eine bedeutendere Rolle bei der Entwicklung sozialer Beziehungen und kultureller Innovationen zu als Männern (vgl. Luig 1990a). Beeinflußt von dieser Debatte machten sich auch im Andenraum Forscherinnen verschiedener Fachrichtungen in den 1970er und 1980er Jahren auf die Suche nach spezifischen frauenbestimmten Räumen (vgl. u.a. Lenz u. Luig 1990). Dabei wurden verschiedene, von andinen Frauen weitgehend kontrollierte Räume der Machtausübung ausgemacht wie z.B. der Zugang zu Ressourcen wie Land, Vieh, Ernteerträgen oder Geweben als Erbschaft, als Tauschobjekte und für den Eigenbedarf, oder spezifisch weibliche Kenntnisse und Fähigkeiten wie Kochen, Lagerhaltung und Verwaltung von Ressourcen, die Ernährung der Familie, das Spinnen und Weben (vgl. u.a. Mamani 1982; Harris 1980, 1985; Bourque u. Warren 1976; De La Cadena 1985). Die Identifizierung spezifisch weiblicher Machtsphären innerhalb andiner Dorfgemeinschaften führte ihrerseits wieder zu einer Art Verallgemeinerung und Idealisierung angeblich ganz spezifischer Besonderheiten dieser fremden und 'exotischen' Kulturen. Eine weitgehend auf Gegenseitigkeit und Komplementarität aufgebaute, relativ ausgewogene geschlechtsbezogene symbolische Ordnung des kulturell-religiösen Weltbildes der Aymara wurde als Beweis für eine angeblich nur gering ausgeprägte Asymmetrie der Geschlechter in der andinen Lebenswelt angeführt. Über andine Lebenswelten wurde die Behauptung aufgestellt, sie seien weniger hierarchisch als westliche städtische Lebenswelten; Frauen und Männer, Geschlechterverhältnisse, männliche und weibliche Symbole, Aufgaben und Funktionen seien komplementär und gleichwertig, weil sie als eine kosmische Einheit wahrgenommen würden. Dabei blieben jedoch die Einflüsse von 500 Jahren spanischer Kolonisation und der Christianisierung der Aymara weitgehend unberücksichtigt. In der vorliegenden Literatur über den Andenraum kommt es noch häufig zur Gleichsetzung einiger Deutungsmuster des Imaginären mit allen Formen sozialer Praxis. Von der Anbetung weibli-

22

eher und männlicher Gottheiten und andiner Konzepte wie des chacha-warmin (Mann-Frau-Einheit in der Ehe) und vom Ideal der Komplementarität der Geschlechter wird auf die Macht und den Einfluß von Landfrauen im Alltag geschlossen. Ungleiche Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen müssen jedoch nicht unbedingt in religiösen Weltbildern ausgeprägt sein, um in der sozialen Praxis der Geschlechterverhältnisse zum Ausdruck zu kommen (vgl. Vega-Centeno 1994). Susan Bourque und Kay Warren (1976) verweisen in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen dem Idealbild der Komplementarität und der Wirklichkeit, der nicht nur für andine Lebenswelten gilt. In ein und derselben Lebenswelt können außerdem parallele religiöse Weltbilder mit unterschiedlicher Gewichtung und Bewertung von Frauen und Männern, ihren Funktionen und Aufgaben oder von Männlichkeit und Weiblichkeit existieren (vgl. Luig 1997)12. Im Andenraum gibt es nicht nur ein kulturell-religiöses Weltbild, sondern mehrere sowohl christliche als auch andine religiöse Vorstellungen. Die Mehrheit der Aymara praktiziert heute sowohl den andinen Ahnenglauben der "beseelten Landschaft" (Harvey 1987) mit den dazugehörigen Riten und Praktiken als auch den christlichen Glauben13 und hat daher ein duales religiöskulturelles Weltbild, in dem parallele religiöse Symbole und Deutungssysteme miteinander koexistieren oder sich überlappen. Für Außenstehende wurden sichtbare Formen der Diskriminierung andiner Frauen in der Dorfgemeinschaft wie die Verweigerung ihres Rede- und Stimmrechts auf Dorfversammlungen, oder die nicht zu leugnende Tatsache, daß Frauen häufig von ihren Männern auf Festen oder Märkten geschlagen werden, vor allem auf negative koloniale oder westlich städtische Einflüsse zurückgeführt. Bis heute haben sich Behauptungen gehalten, in der andinen Lebenswelt würden Frauen nicht oder wesentlich weniger ungeordnet als in der städtischen Lebenswelt (vgl. Jiménez 1995). Bei der unübersehbaren Gewalt gegen Frauen handele es sich um ein eher seltenes Verhalten von Männern bei bestimmten festlichen 11

Harris (1985: 17-42) fuhrt das Mann-Frau Konzept chacha-warmi bei den Laymi in Bolivien als Beispiel für die untrennbare Verbundenheit des Ehepaars an, das im Weltbild der Aymara eine Einheit bilde.

12

Bouysse-Cassagne und Harris (1987: 11-18) haben Anzeichen für die Polivalenz des Komplementaritätskonzepts entdeckt. Sie haben bei den Aymara in Bolivien einander widersprechende Modelle von Komplementarität vorgefunden, die miteinander koexistieren: Auf der einen Seite das Gleichgewicht zwischen zwei symmetrischen Hälften und auf der anderen Seite eine Polarität zwischen zwei asymmetrischen, sich gegenseitig anziehenden und gleichzeitig abstoßenden Hälften. Das erste Modell stellt die Gemeinsamkeiten und das zweite die Unterschiede in den Vordergrund mit dem Ziel einer in die Zukunft projizierten Einheit.

13

Die Mehrheit der Aymara ist katholisch, eine Minderheit gehört den Adventisten oder anderen protestantisch fundamentalistischen Religionsgemeinschaften aus Nordamerika an.

23 Ereignissen, um Frauen präventiv zur Einhaltung von Normen anzuhalten (Harris 1985: 42). Olivia Harris (1985: 17) stellt jedoch eine Diskrepanz zwischen dem religiösen chacha-warmi-Konzept und der Praxis der Gewalt in der Ehe gegen Frauen fest und beschreibt soziale Praktiken, die sie, wenn auch noch sehr vorsichtig, als Hinweise auf Ungleichheit innerhalb von Geschlechterverhältnissen bei den Aymara deutet. Seit Beginn der 80er Jahre hat sich in der internationalen Debatte der Frauenforschung zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, daß spezifisch kulturelle Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in die Machtbeziehungen von Familienverbänden und Verwandtschaftsverhältnissen eingebunden sind, und daß einzelne Symbole immer in bezug zu anderen Symbolen und Bedeutungsebenen und im spezifischen Kontext der Regeln und Verbindlichkeiten eines gesellschaftlichen Ordnungssystems, sowie in Abhängigkeit von sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen interpretiert werden müssen (Ortner u. Whitehead 1981, Maurer 1996, Luig 1997). Frauen können trotz ungleicher Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern - wie z.B. in der patrilinear organisierten Gesellschaft der Aymara von Puno mit ihrer langen Geschichte der Auseinandersetzung mit spanischen und christlichen Wertsystemen - hinsichtlich spezifischer Funktionen und Fähigkeiten über Macht verfugen 14 . Das insgesamt geringe Forschungsinteresse am Thema der andinen Landfrauen15 hängt auch mit dem politischen Kontext Perus und der Entwicklung und Orientierung von sozialen Bewegungen sowie ihres Rückgangs während des letzten Jahrzehnts zusammen. Linke politische Parteien oder Gewerkschaften waren beispielsweise im Andenraum kaum an Aspekten interessiert, die nicht in direktem Zusammenhang mit Landnahmen und der Reorganisation von Kooperativen standen, und betrachteten andine Landfrauen vor allem als mobilisierbares "Volk" für Protestveranstaltungen, ohne ihre spezifischen eigenen Anliegen zu kennen bzw. anzuerkennen. Feministinnen aus der Hauptstadt Lima wiederum sehnten sich nach einem bürgerlich-liberalen individualisierten, westeuropäischen Weiblichkeitsideal der Mittelschichten und setzten sich nicht ernsthaft mit Landfrauen und deren 'Rückständigkeit' auseinander (vgl. Galer 1985: 225)16. 14

Luig (1997: 255) hat auf die positive und kreative Kraft von Macht als eine Ressource hingewiesen, die auf biologischen Vorgängen basiere, aber in ein kulturell-religiös bestimmtes Konzept von Lebens- und Schöpfungskraft eingebettet sei. Die Autorin begreift Macht in diesem Zusammenhang eher als ein Attribut von Geschlecht denn als Ergebnis sozialen Handelns.

15

Dies gilt insbesondere für Peru, in Bolivien ist das Interesse in den vergangenen Jahren vergleichsweise größer.

16

Feministische Ansätze, die vor allem die Individualität und die Autonomie der Frau und ihrer Entscheidungen in den Vordergrund stellen, sind relativ ungeeignet für die Analyse von Machtverhältnissen in ländlichen untergeordneten Lebenswelten, da sie die strukturellen, funktionalen und imaginären Geschlechtszuschreibungen und damit die

24 Unter den männlichen Forschern, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dem andinen Raum befassen, gehört der überwiegende Teil zur Gruppe engagierter katholischer Priester, denen es vor allem darum geht, Gemeinsamkeiten zwischen dem christlichen Glauben und der andinen Kosmologie nachzuweisen17. Weibliche Forscherinnen, die Studien über den Andenraum mit Bezug auf Frauen veröffentlicht haben, kommen aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen. Sie sind sowohl unter Historikerinnen18 als auch unter Ethnologinnen und Soziologinnen19 oder Linguistinnen20 vertreten. Vor allem Vega-Centeno (1994), De La Torre (1995), De La Cadena (1985, 1991) und Harvey (1987, 1989, 1991) haben mit ihren Forschungen der letzten Jahre dazu beigetragen, ein eher asymmetrisches Bild der Geschlechterverhältnisse und der Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit im Andenraum aufzuzeigen. Die Konsequenzen dieser noch unbefriedigenden Forschungssituation über Geschlechterverhältnisse im ländlichen Andenraum sind im Bereich der Entwicklungspolitik deutlich spürbar. Entwicklungsprojekte und sozialpolitische Initiativen stehen vor einem Problem, das während der 80er Jahre in Peru beobachtet werden konnte: Es besteht Verwirrung und Unkenntnis bezüglich der gesellschaftlichen Bedingungen im ländlichen Andenraum allgemein und hinsichtlich der Lebensbedingungen, Interessen und Bedürfnisse andiner Landfrauen im besonderen sowie über die Frage, welche Geschlechterdisparitäten besonders ausgeprägt sind und auf welche Weise sie verringert werden könnten. Da die Strukturen, die Praxis, die Regeln und die Gesamtheit der Werte und Prinzipien der ländlichen Aymara-Gesellschaft von Puno noch zu wenig erforscht sind, muß ein großer Teil dieser Arbeit dazu aufgewendet werden, um auf der Basis der Rekonstruktion von Alltagserfahrungen aus weiblicher Sicht und eigenen Datenerhebungen und teilnehmenden Beobachtungen gesellschaftliche Bedingungen, Normen der Weiblichkeit und der Geschlechterverhältnisse sowie Handlungs- und Verhaltensanforderungen bei den ländlichen Aymara zunächst generell zu erfassen, um dann aus diesem Kontext heraus Lebensentwürfe und Handlungsräume der Interviewpartnerinnen untersuchen zu können. Gesamtheit der sozialen Ordnung nur unzureichend erfassen und westliche moderne Kontexte von Industriegesellschaften voraussetzen, die erst eine Lösung von Traditionen (im Sinne von Giddens 1996, vgl. Anm. 25) und verwandtschaftlichen Bindungen und Abhängigkeiten ermöglichen. 17

Vgl. u.a. Irrarrazaval 1992; Albo 1988; Van Kessel 1992; Llanque 1990; Van Den Berg 1989; Marzal 1991.

18

Z.B. Burkett 1976, 1978; Bouysse-Cassagne 1987; Cereceda 1987; Rostworowski 1988; Silverblatt 1990; Zulawski 1990; Hünefeldt 1990.

19

Allen 1983, Buechler, 1971, Custred 1980, Harris 1980, 1985; Vega-Centeno 1994; De La Torre 1995; De La Cadena 1983, 1985, 1991, Ströbele-Gregor 1991, Kersting 1987, Lentz 1991, Gutmann 1989.

20

Harvey 1987, 1989, 1991; Hardmann 1992.

25 In der vorliegenden Untersuchung kommen Methoden der rekonstruktiven empirischen Sozialforschung zur Anwendung (siehe Kapitel 3). Bohnsack (1993: 24) geht davon aus, daß sozialwissenschaftliches Denken nicht allein aus Interpretationen, Typenbildungen und Konstruktionen besteht, sondern daß bereits der Gegenstand dieses Denkens - das soziale Handeln bzw. das Alltagshandeln - auf unterschiedlichen Ebenen symbolisch strukturiert und durch sinnhafte Konstruktionen, durch Typenbildungen und Methoden vorstrukturiert ist. Der Forschungsprozeß der Analyse von Diskursen sei daher nicht an der Hypothesenbildung und Theorienüberprüfung, sondern an der Theoriegenerierung orientiert.

1.3. Die Dynamik von ländlichen Gesellschaften im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten Die akademische Debatte über die Dynamik von Transformationsprozessen im Andenraum war und ist bis heute von einer dichotomisierten Vorgehensweise geprägt. Gegensatzpaare wie Tradition und Moderne, Anpassung und Widerstand, Ausrottung und Selbstbestimmung, nichtkapitalistisch und kapitalistisch, Herrschende und Beherrschte, Kolonisierende und Kolonisierte, usw. legten ein lineares Evolutionsmodell zugrunde und erschwerten differenziertere Formen der Analyse. Dahinter verbarg und verbirgt sich bis heute einerseits die Debatte darüber, ob es etwas spezifisch "Indianisches" gibt (vgl. Frank 1990; Meyers 1994). Andererseits wird derzeit noch darüber diskutiert, auf welche Weise die Vielgestaltigkeit sozialer Wandlungsprozesse und spezifische räumlich und zeitlich beschränkte Kontexte erfaßt werden können (vgl. Wimmer 1996). Bei der Charakterisierung der andinen Lebenswelt ist jedoch weder der Sprachgebrauch des Quechua und Aymara mit der räumlichen Zuordnung zu Stadt oder Land oder mit der ethnischen Zuordnung zu den Kategorien indios, mestizos, mistis oder cholos, ihrer Kleidung, ihren Produktionsformen, ihren Vorstellungswelten oder Lebensweisen in Einklang zu bringen: Aymara und Quechua werden sowohl auf dem Land als auch in der Stadt gesprochen. Die Trachtenkleidung wird geschlechts- und altersspezifisch unterschiedlich auf dem Land und in der Stadt verwendet und war historisch ebenso wie das andine Weltbild europäischen und christlichen Einflüssen unterworfen. Aus dem Zusammentreffen eigenständiger Hochkulturen mit europäischen Kulturen entstand etwas Drittes, das heute allgemein als "andin" bezeichnet wird. Trotzdem kann auch in der vorliegenden Untersuchung nicht ganz auf den bereits häufig kritisierten Dualismus (Frank 1990) verzichtet werden. Dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe: Erstens wurden nur Aymara-Frauen und Aymara-Männer aus ländlichen Dorfgemeinschaften in Puno interviewt und die ländliche Lebenswelt der Aymara unterscheidet sich nicht nur räumlich von der städti-

26 sehen Lebenswelt, sondern sie wird dieser auch untergeordnet, da städtische Wertsysteme und Produkte auf nationaler Ebene in Peru grundsätzlich höher bewertet werden. Diskriminierung und Ausgrenzung der ländlichen durch die städtische Bevölkerung sind die Folge. Zweitens unterscheiden die Interview Partnerinnen selbst zwischen Stadt und Land und verwenden dieses Gegensatzpaar analog zur dualen ethnischen misti-indio Zuschreibung, die noch in Kapitel 2.2. näher ausgeführt wird. Ein drittes, in der vorliegenden Untersuchung verwendetes Gegensatzpaar ist die Markt- bzw. Subsistenzproduktion andiner kleinbäuerlicher Bevölkerung, die zwar seit vielen Jahrhunderten in den Weltmarkt integriert ist, jedoch gleichzeitig für den lokalen Markt und die eigene Subsistenz produziert (vgl. Gölte u. De La Cadena 1983). Für die Analyse der Veränderungsprozesse in der andinen kleinbäuerlichen Produktion ist es daher wichtig zu berücksichtigen, daß "...der Subsistenzbereich als ein aus den Notwendigkeiten der kapitalistischen Marktökonomie selbst erzwungener und von diesen in ihrem Ausmaß und Formen mitbestimmter Bereich betrachtet wird, dessen Fortbestehen eher die Schwäche der nationalen Märkte als eine 'traditionelle Einstellung' des andinen Indianers dokumentiert" (...) "Menschengruppen (sind) aus den verschiedensten Gründen dazu gezwungen, traditionelle Produktionsformen und Produktionsbeziehungen und damit eine traditionelle Lebensweise aufrechtzuerhalten, die außerhalb einer kapitalistischen Marktlogik funktioniert. Das wichtigste Produktionsmittel dieser Gruppen ist Ackerland. Daher stellen ökologische, soziale und rechtliche Faktoren, welche die Nutzbarkeit sowie den individuellen wie kollektiven Zugriff auf Land regulieren, das zentrale Problem der heutigen indianischen Bevölkerung dar" (Frank 1990: 597).

Juliane Ströbele-Gregor (1996) schlägt vor, bei der Charakterisierung heutiger ländlicher andiner Lebenswelten davon auszugehen, daß es sich um modernisierte kulturspezifische Kontexte handelt, die lokal vielfältig sind. Diese beruhen auf tradierten Elementen aus vorkolonialer Zeit, die einerseits während und seit der Kolonialzeit in ungeheuer dynamischer Weise permanent verändert werden, andererseits aber eine Kontinuität von Strukturen über lange Zeiträume (longue durée) aufweisen. Auf diese Weise entwickelte sich eine nicht-westliche andine kulturelle Eigenständigkeit mit unterschiedlicher Ausprägung auf lokaler Ebene. Um die aktuelle Auseinandersetzung andiner ländlicher Lebenswelten mit Modernisierungsprozessen zu veranschaulichen, soll hier kurz auf den Ansatz von Anthony Giddens zum Verhältnis zwischen Tradition und Moderne Bezug genommen werden. Giddens kommt bei der Weiterentwicklung des "Invention of Tradition"-Ansatzes von Hobsbawm und Ranger (1983) zu der Auffassung, daß die Moderne die Tradition 21 zerstöre, und daß die Authentizität einer Tradition 21

Für Giddens (1996: 123) unterliegen Traditionen einem fortwährenden Wandel, lassen jedoch auch auf ein Element der Dauerhaftigkeit schließen. Traditionen sind für ihn et-

27 nicht darauf beruhe, daß sie vor ewigen Zeiten begründet worden sei. Er verweist darauf, daß in den (von ihm so bezeichneten) traditionalsten Gesellschaften, den mündlichen Kulturen, zu denen auch die ländlichen Aymara von Puno zählen, die "wirkliche Vergangenheit" völlig unbekannt sei. In diesen Kulturen sei die Tradition selbst das Medium, in dem sich die "Wirklichkeit" des Vergangenen artikuliere (Giddens 1996: 172). Tradition beziehe sich vor allem auf die Organisation von Zeit und Raum, die durch die Globalisierungsprozesse vollkommen neu definiert werden. Dabei kommt es für Giddens bei der Zerstörung traditionaler Lebensweisen durch Systeme mit einer anderen Logik und durch eine Reihe von westlichen Institutionen im Unterschied zu kultureller und militärischer Eroberung notwendig jedoch zu dezentralen Verläufen. Er fuhrt dieses Phänomen darauf zurück, daß die für jede Tradition charakteristischen organischen Verbindungen mit bestimmten Orten durchschnitten werden (ebd.: 175). Für Giddens gibt es analytisch betrachtet innerhalb jedes sozialen Kontextes nur vier Möglichkeiten, um Wertkonflikte zwischen Individuen und Gruppen zu vermeiden: 1. 2. 3. 4.

Die Verankerung in Traditionen, Der Rückzug vom feindlichen Anderen, Der Diskurs oder Dialog, Zwang und Gewalt (ebd.: 189).

Traditionen würden nur überleben, wenn sie sich diskursiv rechtfertigen könnten und in der Lage seien, mit anderen Traditionen in einen offenen Dialog einzutreten. Gleichzeitig würden im Rahmen der Globalisierung die Rückzugsgebiete für Traditionen immer begrenzter. Für Giddens (ebd.: 128) bestehen die charakteristischen Merkmale für Traditionen in ihrem normativen und moralischen Gehalt, der ihnen Verbindlichkeit verleiht. Die Tradition stehe nicht nur dafür, wie in einer Gesellschaft gehandelt werde, sondern wie gehandelt werden sollte. Dieser moralische Charakter von Traditionen gäbe ihren Anhängern eine ontologische Sicherheit, da Traditionen einen affektiven Unterbau haben und emotional stark besetzt sind. Diese affektive Besetzung ist für Giddens vor allem den Mechanismen der Angstreduzierung geschuldet, die von traditionalen Formen der Praxis und des Glaubens bereitgestellt werden. Giddens verweist darauf, daß es in den meisten Kulturen für "Tradition" kein eigenes Wort gäbe, da Tradition das ganze Leben durchdringe und sich nicht von Haltungen und Verhaltensweisen unterscheiden ließe. Besonders für Kulturen ohne Schrift sei es kenn-

w a s Organisches. Sie e n t w i c k e l n sich und reifen, oder sie werden s c h w a c h und sterben. Integrität und Authentizität spiele bei der D e f i n i t i o n v o n Tradition eine größere R o l l e als Dauerhaftigkeit.

28 zeichnend, daß jede Mitteilung eines identifizierbaren Sprechers bedarf (ebd.: 128)22. Im Zusammenhang mit den Überlegungen von Giddens wird neben der Funktionszuschreibung für Frauen innerhalb der Lebenswelt der Aymara die Frage danach interessant, in welcher Weise sich Werte, Normen und soziale Verhältnisse durch Modemisierungsprozesse verändern und welches Handlungspotential sie ermöglichen. Weber, Elias und Foucault beschreiben den Modernisierungsprozeß als Rationalisierungsprozeß von Herrschaft durch Verinnerlichung von Wertsystemen, Normen und Regeln (vgl. Vogt 1997: 80). Demnach würden moderne gegenüber traditionsverbundenen Lebenswelten zunehmend rational begründet, während traditionsverbundenere Lebenswelten vor allem auf den Erklärungsmustern von Mythen und religiösen Weltbildern beruhten und sich einer Hinterfragung weitgehend entzögen. Modernisierungsprozesse würden demnach zur Abnahme von Gewalt und Zwang zugunsten einer verstärkten Selbstdisziplinierung führen. Tatsächlich findet jedoch innerhalb der ländlichen Lebenswelt der Aymara von Puno im Gegensatz zu den oben referierten Theorien der Enträumlichung durch Modernisierung derzeit ein Wandel statt, der von Dauerhaftigkeit eigenständiger Wertsysteme in räumlich abgegrenzten ländlichen Gebieten begleitet ist und Menschen bereits seit mehreren Jahrhunderten gleichzeitig mit alternativen Wertsystemen konfrontiert, die in anderen historischen Kontexten nicht unmittelbar parallel zueinander existiert haben. Der Übergang von einem Deutungssystem zum anderen findet nicht überall auf gleiche Weise und nicht in linearer Form in eine Richtung statt. Er kann gleichzeitig aus Brüchen, Widersprüchen, Kombinationen oder Sprüngen von einem Wertsystem zum anderen bestehen, für die es keine einheitlichen Regeln gibt und die sowohl kollektiv wie individuell unterschiedlich gestaltet werden können. Prozesse der Entwertung von überlieferten Erklärungs- und Rechtfertigungspotentialen und eine damit einhergehende Verunsicherung und Individualisierung sind unvermeidlich. Anstelle von Austausch und Kohärenz fuhren parallele Wertsysteme zur Zunahme von Widersprüchen und Legitimationskrisen, Entwertungs- und Sinnentleerungsprozessen, aber gleichzeitig auch zur Erweiterung von Handlungsoptionen bis hin zur Hinterfragung sozialer Praktiken, die für die Reproduktion von zentralen Strukturen für das Überleben der untergeordneten Lebenswelt notwendig sind. Die Auswirkungen von Modernisierungsprozessen auf historisch konstruierte Wertsysteme, Praktiken und Machtverhältnisse stehen in der folgenden Analyse im Vordergrund. Mit Modernisierung sind in diesem Zusammenhang die Ein22

Das trifft auch auf die Aymara von Puno zu. Die Ausdrucksweise und die Satzkonstruktionen des Aymara sind davon geprägt, daß bei allen Aussagen immer genau unterschieden wird, ob es sich um eine eigene Meinung oder Beobachtung handelt oder über wen bzw. von wem eine Mitteilung gemacht und in Erfahrung gebracht wurde.

29 flüsse der dominanten städtischen Lebenswelt auf die ländliche Lebenswelt der Aymara und die Prozesse und Formen der Auseinandersetzung mit diesen Einflüssen gemeint. In der vorliegenden Untersuchung soll festgestellt werden, ob Männer und Frauen über den gleichen Zugang zu beiden Lebenswelten und Wertsystemen verfugen und ob sich die jeweils an sie gestellten Anforderungen, ihre Handlungsräume und Grenzen innerhalb beider Systeme gleichen bzw. worin sie sich unterscheiden. Die Analyse der Interviewaussagen soll einerseits zeigen, ob traditionsbezogene Normen und Wertsysteme der ländlichen Lebenswelt im Spannungsfeld zwischen zwei Wertsystemen hinterfragt werden und in welcher Form die Akzeptanz von dominanten städtischen Werten stattfindet. Andererseits soll heraus gearbeitet werden, welche widersprüchlichen Interessen sowohl von Männern und Frauen als auch von Frauen untereinander zur Sprache kommen und welchen Einfluß sie auf die Neugestaltung persönlicher Lebensentwürfe von Frauen haben. In diesem Zusammenhang wird die Frage relevant, ob aus subjektiver weiblicher Sicht Modernisierungsprozesse eher eine Zu- oder eine Abnahme von Zwang und Gewalt im Alltag mit sich bringen. Da räumliche, soziale und politische Grenzverschiebungen auch mit Veränderungen von Vorstellungen in bezug auf geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Privatheit und Öffentlichkeit innerhalb der Dorfgemeinschaften der Aymara verbunden sind (vgl. Hausen 1992) soll außerdem untersucht werden, ob veränderte räumliche und politische Abgrenzungen und Anordnungen für Frauen und Männer bei den Aymara unterschiedliche Bedeutungen haben. Für die Fragestellung nach der Fortdauer bzw. nach dem Wandel von Wertsystemen, Sinnkategorien, sozialen Praktiken und Machtverhältnissen durch Modernisierungsprozesse ist eine Rekonstruktion von Leitwertsystemen und Verhaltensregeln nötig, die wiederum die Handlungsmuster von Akteuren beeinflussen. Daher soll an dieser Stelle auf die Bedeutung der Ehre näher eingegangen werden, um im Verlauf der vorliegenden Untersuchung das Spannungsverhältnis zwischen Dauerhaftigkeit und Veränderung besser erfassen zu können.

1.4. Die Bedeutung der Ehre bei den Aymara Die Ehre ist ein Phänomen, das in vielfaltiger Weise die Ethik und die Moralvorstellungen der ländlichen Aymara heute prägt und die moralischen Anforderungen an Männer und Frauen im gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang innerhalb der Lebenswelt der Aymara definiert. Eine These dieser Arbeit besteht darin, daß die weibliche Ehre für die Legitimierung der Frau als Mensch innerhalb des ländlichen Lebensraums der Aymara eine wichtige Rolle spielt und ihr eine symbolische Machtposition verleiht. Die weibliche Ehre stellt

30 für Aymara-Frauen ihren zentralen Lebenssinn bzw. ihre soziale Daseinsberechtigung innerhalb der ländlichen Lebenswelt von Puno dar. Daher soll in diesem Teil ausführlicher auf den Mechanismus der Ehre eingegangen werden. Sozialhistorische Studien über die Ehre gibt es vor allem für den Mittelmeerraum, aber die Relevanz der Ehre wurde auch für deutsche bäuerliche und adelige Kontexte seit dem Mittelalter nachgewiesen (vgl. Burghartz 1992; Roper 1992; Schulte 1992; Bock 1992). Pierre Bourdieu (1974) hat bei seinen Feldforschungen bei den nordalgerischen islamischen Kabylen ein stark ausgeprägtes Wertsystem der Ehre vorgefunden. Aus den Ergebnissen dieser empirischen Studien hat er die Begriffe des symbolischen oder sozialen Kapitals und des Habitus hergeleitet und in anderen Studien vertieft, die noch näher ausgeführt werden. Im Zusammenhang mit Überlegungen zur Herkunft des Ehrsystems bei den Aymara kann darauf verwiesen werden, daß die in der mediterranen Tradition im Mittelpunkt stehende Ehre die gesamte europäische Kultur und den amerikanischen Kontinent stark beeinflußte. Bei der Ehre handelt es sich um ein Phänomen, das in vielfach abgewandelter, abgeschwächter oder auch fragmentierter Form in unterschiedlichen Kulturen wiederzufinden ist (vgl. Bourdieu 1998: 12). Das Wertsystem der Ehre hängt eng mit dem Christentum und Islam und aus ihnen abgeleiteten Wertvorstellungen zusammen. Beide Religionen haben sich über die Jahrhunderte hinweg gegenseitig beeinflußt; ihre Interaktion wirkte sich auch während der Kolonialzeit in den von den Spaniern eroberten Gebieten auf vielfaltige Weise aus 23 . Es kann vermutet werden, daß die Ehre ebenso wie die monogame Ehe, die Kleidung, der Privatbesitz und die bilinearen Erbrechte mit der Christianisierung während der Kolonialzeit bei den Aymara eingeführt und von ihnen in ihr vorhandenes System der Sozialorganisation und der andinen Agrarproduktion integriert worden sind 24 . Um zu veranschaulichen, auf welche Weise Wertvorstellungen des Mittelmeerraums bis zu den Aymara von Puno gelangt sind, soll an dieser Stelle kurz auf einige Prozesse während der spanischen Kolonisation in Amerika Bezug genommen werden. Wichtig für die Einflußnahme der Kolonialherren als Vertreter des spanischen Königshofs und der katholischen Kirche in Hispanoamerika war bis zur Unabhängigkeit die - seit der Renaissance in Europa stark aasgeprägte Festkultur, um ihr philosophisches, politisches und moralisches Gedankengut in einer einzigartigen Verbindung von Musik, Malerei, Dichtkunst, Theater und Tanz an ihre neuen indianischen Untertanen zu vermitteln. In ganz Hispanoame23

So wurden die indianischen Heiden von den spanischen Eroberern immer wieder mit den islamischen Mauren gleichgesetzt. Kolumbus glaubte, er sei im fernen Osten in Indien gelandet und dem Reiseweg Marco Polos durch islamische Gebiete gefolgt (vgl. Manrique 1993).

24

Vgl. Kapitel 2.1.

31 rika wurden aus Anlässen von Geburtstagen oder Trauungen von Mitgliedern der spanischen Krone, zu Festtagen und zur Verehrung von Heiligen und zum Karneval Festveranstaltungen organisiert, die nach dem Vorbild der in Europa durchgeführten öffentlichen pompösen Einzüge von Herrschern oder wichtigen Funktionsträgern organisiert wurden. Diese in Europa entstandene "... mittelalterliche Prozessionsform mit ihrer Betonung der Ränge und der gegenseiti-

gen Verpflichtungen verschiedener gesellschaftlicher Klassen bleibt unverändert während der Renaissance bis ins Barockzeitalter bestehen" (Strong 1991: 16; eigene Hervorhebung). Im iberischen Amerika spielte die Festkultur als Machtinstrument der Kolonisation und Christianisierung zur Propagierung der Vorstellungen der Kolonialherrscher über die zu etablierende politische Ordnung und deren Verwirklichung in der Person des jeweils ranghöchsten Funktionsträgers und zur Herausbildung eines "kulturellen und sozialen Gedächtnisses" bei den Untertanen bis ins 19. Jahrhundert eine herausragende Rolle. Die europäische Festkultur war unter anderem deshalb im Andenraum so erfolgreich, weil sie dort auf eine dem Agrarzyklus entsprechende vorspanische Festkultur mit der zeremoniellen Inszenierung von Riten und Mythen traf, an die angeknüpft werden konnte (vgl. Hocqenheim 1987; Zuidema 1964; oder Spanische Chronisten u.a. Molina [1572] 1959). Europäische Praktiken waren dann erfolgreich, wenn sie in bereits bestehende Systeme, Strukturen und Praktiken integriert werden konnten. In den amerikanischen Kolonien der spanischen Krone wurden einige spezifisch spanische Elemente der europäischen Festkultur des Mittelalters eingeführt wie z.B. Stierkämpfe oder die sogenannten Moriskentänze sowie militärische Schauübungen zur Darstellung von Kämpfen "entre moros y cristianos" oder die sogenannten "comparsas de moros y cristianos" (vgl. Ravines 1988; Beutler 1983), die zeigen, wie stark aus spanischer Sicht der Kampf der Christen gegen die Mauren im mittelalterlichen Spanien mit ihrem Kampf gegen die "indianischen Heiden" in Amerika verglichen wurde. Vom höfischen Zeremoniell losgelöste Veranstaltungen in der Öffentlichkeit auf Straßen und Plätzen standen dabei im Vordergrund, und ihr Ziel war es, die Herrschenden mit Gedichtwettbewerben, Theateraufführungen und großen Feuerwerken für das Volk sichtbar zu machen. Der Zweck der Aufführungen bestand darüber hinaus in der moralisch-religiösen Erbauung des Volkes durch die didaktische Darstellung eines Vorbilds, in dem religiöse, weltliche und politische Werte und Normen miteinander verbunden wurden. Mittelalterliche Turniere wurden in romantischen Ritterkämpfen nachgestellt, bei denen Heroen in exotischen Kostümen gegen Riesen, Teufel und Drachen ankämpften (vgl. Bremer 1994). Feste der Renaissance und des Barock werden von einigen europäischen Forschern als affirmative Überhöhung der bestehenden Ordnung einerseits und als

32 normensprengender Exzeß andererseits bezeichnet (vgl. Strong 1991). Länger als dies in Europa der Fall war, dienten sie in Lateinamerika den Eliten dazu, sich selbst in prunkvollen Umzügen ästhetisch darzustellen und das Verhältnis zwischen Machtträgern und Volk, das auf symbolische Weise seine Forderungen und Erwartungen an die Machthaber repräsentieren und artikulieren konnte, immer wieder neu zu bestimmen. Auf diese Weise wurden soziale Ungleichheiten betont und die Ehre der Würdenträger unterstrichen. Dabei spielten die szenische Ausgestaltung, Kostüme, Masken, Gebärdensprache und lebhafte Bewegungen eine wichtige Rolle, die auch für alle nicht spanischsprachigen Untertanen verständlich waren. Es ist daher anzunehmen, daß die Aymara-Bevölkerung das Ehrsystem ebenso wie die Kleidung von den spanischen Kolonialherren teils erzwungenermaßen beispielsweise durch das System der repartimiento de efectos (erzwungene Warenverteilung) - teils durch freiwillige Aneignung übernommen und in bestehende vorspanische Rangordnungen integriert hat. Aufgrund des geringen historischen Kenntnisstands über die Aymara in voreuropäischer und zu Beginn der Kolonialzeit (siehe Kapitel 2.1.) sind die Ursprünge der Ehrvorstellungen bei den Aymara von Puno zumindest in dieser Untersuchung nicht eindeutig zu klären. Die katholische Kirche vermittelte den andinen Analphabeten die christlichen Wertvorstellungen vor allem in visueller und lebendiger Form mit Hilfe des Kolonisationstheaters oder in Form von Kirchengemälden. Die Ausbildung der lokalen voreuropäischen Herrschaftsgruppen, denen hinter Klostermauern die spanische Sprache, das Lesen und Schreiben und die christliche Religion und Moral beigebracht wurden, diente ebenfalls zur Vermittlung christlicher Werte in den andinen Sprachen an die Bevölkerung. Die Jesuiten lernten darüber hinaus selbst Aymara. Sie hatten ein Zentrum im Aymara-Gebiet in Juli und entwickelten eine sogenannte "indianische Pastorale", mit deren Hilfe sie versuchten, die andine Bevölkerung von den spanischen Wertvorstellungen der Kolonialzeit zu überzeugen und zu bekehren. Auch wenn die Aymara bis heute über ein andines religiöses Weltbild verfügen 25 , darf der nachfolgende Einfluß des Christentums und von mittelalterlichen europäischen Praktiken durch die spanische Kolonisation nicht unterschätzt werden26.

25

Es wird vermutet, daß es in vorspanischer Zeit im Andenraum seit der Inkazeit zwei unterschiedliche Formen andiner Religion gegeben habe, eine auf die Reproduktionssicherung ausgerichtete Bauernreligion und eine Hochreligion, die meist vor Ort durch Spezialisten vertreten wurde (vgl. u.a. Meyers 1994). Es waren vor allem die Spezialisten, die entweder gemeinsam mit lokalen Anfuhrern von den spanischen Priestern 'umgeschult' oder aber verfolgt wurden.

26

Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß auch die m o n o g a m e Ehe durch das Christentum eingeführt wurde.

33 Das heute bei den christianisierten ländlichen Aymara praktizierte System der Ehre ist jedoch im Vergleich zur Kabylei ein geringer ausgeprägtes impliziteres Konzept mit eigenen kulturspezifischen Inhalten, die in der vorliegenden Untersuchung noch näher rekonstruiert werden. Die Ehre steuert die Handlungsräume von Aymara-Frauen, da sie sowohl zur Handlungsmotivation als auch zur Begrenzung von Handlungsräumen und ebenso zur Dauerhaftigkeit wie auch zum Wandel beitragen kann.

1.5. Die Dauerhaftigkeit im Wandel: Die Ehre und der Habitus Ludgera Vogt (1997) versucht in ihrer Untersuchung über die "Logik der Ehre" vor allem der Frage nachzugehen, ob und wenn ja in welcher Weise die Ehre auch heute noch in der Bundesrepublik Deutschland relevant ist. Dabei greift sie u.a. auf die bereits oben erwähnten empirischen Studien von Bourdieu bei den Kabylen zurück. Bourdieu hat seine theoretischen Interpretationen zu den Funktionen der Ehre u.a. von Weber abgeleitet, der in seinen Untersuchungen über den sozialen Wandel in europäischen Gesellschaften zu dem Ergebnis gekommen war, daß sich die soziale Ordnung einer Gesellschaft aus der Verteilung der sozialen Ehre ergibt (Bourdieu 1976: 453). Vogt bezeichnet die Ehre als einen komplexen Phänomenbereich, dessen allgemeine soziologische Begriffsbestimmung schwierig sei. Je nachdem wie man sich dem Phänomen der Ehre nähere, könne sie ein Wertsystem, ein Strukturmuster, eine Schnittstelle oder eine Steuerungsgröße sein. Die Ehre kann ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Während bei Bourdieu vor allem die differenzierende Funktion der Ehre im Vordergrund steht, unterstreicht Simmel (1989) die integrierende Funktion der Ehre. Für Simmel besteht eine weitere wichtige Funktion der Ehre darin, zwischen Recht und Moral eine dritte Steuerungsgröße in der Gesellschaft zu bilden. Vogt stellt daher die Hypothese auf, daß die Ehre gleichzeitig sowohl gesellschaftsdifferenzierende, machtgenerierende als auch integrierende Funktionen ausübt (Vogt 1997: 11-12). Der These von Vogt zur vielseitigen Gleichzeitigkeit der Funktionen der Ehre wird mit Hilfe der subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Interviewpartnerinnen am Beispiel der ländlichen Lebenswelt der Aymara von Puno näher nachgegangen. Doch zunächst soll die Bedeutung des Begriffs Ehre noch vertieft werden. Ehre wird allgemein als Achtung, Ansehen, Ruf und Selbstachtung definiert. Sie beeinflußt Lebenschancen und Handlungsräume, indem sie einerseits zum Handeln motivieren kann, andererseits aber auch zur Selbstdisziplinierung anregen und damit Handlungsoptionen einschränken kann. Der Gegenbegriff zur Ehre ist die Schande. Ehre kann sowohl auf der Tüchtigkeit einer Person, als

34 auch auf Faktoren wie Besitz, Herkunft und Alter beruhen. Ehre hat immer etwas mit Fremd- und Selbstbewertung zu tun, die nach bestimmten Regeln der sozialen Wertschätzung erfolgen, die ihrerseits jeweils kulturspezifisch festgelegt bzw. ausgehandelt werden. Im Zusammenhang mit der dörflichen Lebenswelt der Aymara von Puno ist die Fremdbewertung von besonderer Bedeutung: Selbstachtung ist "sehr stark auf die Außenwirkung der Akteure bezogen, auf ihr öffentliches Auftreten, die Achtung von Seiten der anderen dient innerhalb der Öffentlichkeit zugleich als eine Art Schutz vor Herausforderungen: Der Geachtete wird selten herausgefordert" (Vogt 1997: 19).

Als "Herausforderung" im Bourdieuschen Sinne können im andinen Raum alle Praktiken im Zusammenhang mit dem System der Reziprozität verstanden werden, d.h. alle Handlungen, die eine Gegenleistung erfordern, wie z.B. der Gabentausch, die Einladung und Bewirtung, Arbeitsleistungen oder verbale Verhandlungen. In Dorfgemeinschaften, in denen sich alle Mitglieder genau kennen, kann die Zuschreibung der Ehre eine wichtige Rolle spielen, von der das eigene Selbstwertgefühl weitgehend abgeleitet wird. Bourdieu beschreibt den hohen Stellenwert der Außenbewertung folgendermaßen: "Dadurch also, daß man alles, was das Verhalten der anderen betrifft, mit faszinierter Aufmerksamkeit verfolgt, gleichzeitig aber von der Angst vor ihrem Urteil verfolgt wird, wird jeder Versuch, sich von den Forderungen der Ehre zu befreien, undenkbar und verachtungswürdig" (Bourdieu 1976: 29).

Auf diese Weise prägt die Ehre das alltägliche Verhalten aller Dorfmitglieder, ohne daß für sie die Möglichkeit besteht, sich über die Anforderungen der Ehre hinwegzusetzen. Die Regeln der Ehre werden in diesem System sehr früh auch schon auf Kinder angewendet (vgl. Bourdieu 1976: 42). Ehre hat etwas mit Gefühl, Verhalten und der Bewertung des eigenen Verhaltens durch Andere zu tun. Vogt erklärt diesen Zusammenhang folgendermaßen: "Gefühl übersetzt sich in Anspruch, der sich im Verhalten der Person manifestiert und dieser Anspruch kann dann von den anderen in unterschiedlicher Weise 'bezahlt' werden. Dieser Gratifikationsaspekt der Ehre ist in der Tat zentral, aus der Mikroperspektive der Individuen wie aus der Makroperspektive von Gruppen, sozialen Systemen und Gesellschaften" (Vogt 1997: 22).

Die Ehre wird hiermit zur Schnittstelle zwischen Individuum und Gemeinschaft. Die Regeln der Ehre sind immer auf die Gruppe bezogen und nicht für Fremde gültig. Durch ein gemeinsames Ehrbewußtsein entsteht ein gruppenbildender Effekt, der den subjektiven Gemeinsamkeitsgefühlen zugrunde liegt, die auch für die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe ausschlaggebend sind.

35 Diese integrative Funktion der Ehre hat gleichzeitig den Ausschluß Anderer durch Distinktion zur Folge. Ehre hat - darüber hinaus - eine moralische Dimension, wird mit Anstand, Zurückhaltung und Schamgefühl in Verbindung gebracht und ist sehr direkt an den menschlichen Körper gebunden. So besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zu Regeln des Sexualverhaltens, der Praxis der Kleidung, usw. Die Kleidung prägt einen wichtigen Teil des Aussehens und Erscheinungsbildes eines Menschen, die wiederum den Habitus ausmachen. Bourdieu (1976: 31) definiert den Habitus wie folgt: "Was man das Ehrgefühl nennt, ist nichts anderes als die kultivierte Disposition, der Habitus, der jedes Individuum in die Lage versetzt, von einer kleinen Anzahl implizit vorhandener Prinzipien aus alle die Verhaltensformen, und nur diese, zu erzeugen, die den Regeln der Logik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung entsprechen, und zwar dank eines solchen Erfindungsreichtums, wie ihn der stereotype Ablauf eines Rituals keineswegs erfordern würde."

Zwischen Ehre und Sakralbereich besteht ein enger Zusammenhang. Die Regeln der Ehre sind daher stark durch die kulturell-religiösen Weltbilder geprägt, insbesondere hinsichtlich der Vorstellungen von Fruchtbarkeit, sexueller Zugänglichkeit, Jungfräulichkeit, Mutterschaft, Geburtenkontrolle und Kindersterblichkeit. Die Ausbildung von kollektiven Ehrbegriffen und von weiblicher und männlicher Ehre ist gesellschaftsspezifisch, d.h., es gibt keine universalen Regeln der Ehre und auch innerhalb ein und derselben Lebenswelt sind die Regeln der Ehre nicht für alle Menschen und schon gar nicht für Frauen und für Männer die gleichen: "Das Ethos der Ehre widersetzt sich schon seinem Prinzip nach einer universalen und formalen Moral, die allen Menschen ein gleiches Maß an Würde und demzufolge die gleichen Rechte und Pflichten zuspricht. So sind die für die Männer verbindlichen Regeln anders als die, die für die Frauen gelten, und die Pflichten Männern gegenüber unterscheiden sich von den Pflichten, die man Frauen gegenüber hat; vor allem aber können die Gebote der Ehre, die jedesmal direkt auf den Einzelfall angewendet werden und je nach der Situation verschieden sind, in gar keinem Fall universale Gültigkeit erhalten. Ein und derselbe Ehrenkodex diktiert Verhaltensformen, die je nach dem gesellschaftlichen Feld völlig entgegengesetzt sein können..." (ibid.: 44).

Die weibliche Ehre ist immer tendenziell mit der Ehre der Familie, des Vaters und des Ehemanns verknüpft. Die Frau ist immer "Tochter von", "Frau von" oder "Schwester von". Die weibliche Ehre ist in der Regel passiv, ihr Platz ist im privaten, häuslichen Bereich, die Frau hat treu und schamhaft zu sein und sittliche Werte zu befolgen. Vogt charakterisiert die Ehre der Frau als

36 " ( . . . ) eine eher passive, auf klar abgegrenzte Felder bezogene Steuerungsgröße" (Vogt 1997: 115).

Die männliche Ehre ist demgegenüber mit der Öffentlichkeit, dem "sich zur Schau stellen" und mit Aktivität verknüpft. Obwohl die männliche Ehre auch von der Kontrolle über die weiblichen Familienmitglieder, ihre Schamhaftigkeit und Verfügbarkeit für den Frauentausch zwischen Abstammungsgruppen und damit von der Kontrolle über die Einhaltung einiger Regeln der weiblichen Ehre abhängig ist, bleibt die weibliche der männlichen Ehre untergeordnet. Frauen stehen in der Rangordnung immer nur Positionen unterhalb der Männer zu. Bourdieu hat am Beispiel der Kabylen die Ehre als symbolisches Kapital bezeichnet und das Ehrgefühl als Habitus, der zwischen Struktur und Praxis vermittelt. Bourdieu gebraucht den Begriff des Kapitals, da die Ehre wie ein Geldkapital akkumuliert, investiert, verliehen oder geschuldet werden kann. Ehre als symbolisches Kapital27 funktioniert wie ein Kredit, der dem Akteur von der Gruppe als Vertrauensvorschuß gewährt wird, oder wie eine Versicherung gegen Herausforderungen im Bourdieuschen Sinne, gegen Diebstahl oder andere körperliche, sexuelle und gewalttätige Angriffe. Um so größer die Ehre einer Person, um so größer sind ihre Handlungsräume und ihr Schutz vor Angriffen. Ehre ist jedoch eine knappe Ressource, die sozusagen nur auf Kosten anderer akkumuliert werden kann. Die Verbindlichkeit des symbolischen Kapitals der Ehre ist vor allem dort am größten, wo sich alle in einer kleinen Gruppe oder Dorfgemeinschaft genau kennen und persönlich miteinander umgehen. Bei der Ehre als symbolisches Kapital, handelt es sich Vogt (1997: 13) zufolge um einen "sanften" aber wirksamen Mechanismus zur Bildung von Machtrelationen und Ungleichheiten, die ihrerseits Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse haben. In den nachfolgenden Kapiteln soll gezeigt werden, welchen Stellenwert die Ehre als Leitwertsystem aus der Sicht von Aymara-Frauen in Puno hat und ob ein geringer Ehrstatus ihre Handlungsräume einschränken kann, oder ob ein absoluter Ehrverlust Gewalt oder Ächtung und Ausgrenzung zur Folge hat und der geächteten Person den Zugang zu überlebenswichtigen materiellen und ideellen 27

Das symbolische Kapital wird von Bourdieu auch als soziales Kapital bezeichnet. Das soziale Kapital haben vorkapitalistische und kapitalistische Gesellschaften gemeinsam. (Die anderen Formen des Kapitals werden von Bourdieu auf kapitalistische Gesellschaften bezogen.) Das Kapital im herkömmlichen Sinne bezeichnet Bourdieu als ökonomisches Kapital (materieller Besitz von Geld und Eigentum). Gesellschaftliche und politische Macht hängt bei Bourdieu jedoch nicht nur von der Verfügung über ökonomisches Kapital ab, sondern von subtileren Mechanismen. Das kulturelle Kapital besteht aus der Bildung, Ausbildung und Sozialisation und hängt von der Familientradition ab. Mit der Verfügung über kulturelles Kapital ist ein bestimmter Habitus (in bezug auf Sprache und Kleidung) verbunden (vgl. u.a. Treibel 1994).

37 Ressourcen entzieht. Ehre als soziales Kapital hängt für Bourdieu direkt mit der Nutzenorientiertheit der sozialen Praxis zusammen. Ökonomische Beziehungen bleiben immer hinter der Ehre verborgen und das Interesse bleibt ebenso wie die Ehrverpflichtungen unausgesprochen. Die Nutzenorientiertheit der symbolischen Sphäre erscheint im Unterschied zur ökonomischen Sphäre nicht offen (vgl. Vogt 1997: 121), d.h., die ökonomischen Interessen bleiben hinter den Regeln und Praktiken der Ehrerweisung bzw. der Ehrverweigerung und der Reziprozität verborgen und unausgesprochen. Für Bourdieu hat die Ehre in diesem Zusammenhang die Funktion der Verschleierung von ökonomischen Interessen. Der Begriff des Habitus wird von Bourdieu verwendet, um den Abstimmungsmechanismus zwischen Gesellschaft und Individuum auch terminologisch herauszustreichen. Um zu verdeutlichen, wie dieser Abstimmungsmechanismus funktioniert, beschreibt Vogt (1997: 110) den Habitus folgendermaßen: "Habitus bezeichnet dauerhafte Dispositionen der Akteure, die das Verhalten zu den jeweiligen Bedingungen des Kontextes wenn auch nicht mit völliger Sicherheit, so doch mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartbar macht. Damit wird gerade die Spannung zwischen Regelhaftigkeit und gleichzeitiger relativer Offenheit des Ehrverhaltens erfaßt."

Der jeweilige Handlungsraum wird durch das Spannungsverhältnis zwischen starrer Regelhaftigkeit und relativer Offenheit des Ehrverhaltens ermöglicht. Auf diese Weise kann es einerseits zu Veränderungen, zu Erfindungsreichtum beim Aushandeln des eigenen Ehrstatus und zu immer neuen Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmustern in bezug auf die Regeln für ehrbares oder unehrenhaftes Verhalten kommen. Andererseits wird jedoch der Handlungsraum auch durch die Angst vor Ehrverlust und durch den Druck bestehender Erwartungshaltungen eingeschränkt. "Die Feinabstimmung ist aus der Sicht der Gesellschaft 'gelungen', wenn das einzelne Individuum einen Selbstentwurf entwickelt, der dem von der Gesellschaft für ihn 'vorgesehenen' Ort entspricht" (Vogt 1997: 117).

Die Feinabstimmung hängt für Frauen stark mit den Bedingungen der Vergesellschaftung zusammen. Doch auch in diesem Fall handelt es sich zwar um eine Steuerung des Selbstentwurfs durch die Ehre, aber nicht um Zwang. Auch hier bleiben einige Handlungsräume erhalten, die innerhalb ein und desselben Kontextes eine gewisse Vielfalt von Selbstentwürfen möglich machen. Vogt spricht in diesem Zusammenhang von der Disziplinierungsfunktion der Ehre, die gleichzeitig ein Leitwertsystem mit identitätsstiftenden Faktoren darstellt. Im spezifischen Kontext der Aymara von Puno stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage danach, welche Möglichkeiten und Grenzen die Ehre für die Handlungsräume von Frauen setzt, wodurch der Ehrstatus der Frauen von ihnen

38 selbst aktiv beeinflußt werden kann, wie sich die Regeln der Ehre im Modernisierungsprozeß verändern und welche Werte des Ehrsystems ausgetauscht, aboder aufgewertet werden. Folgt man dem Bourdieuschen Gedanken, daß der Habitus derjenige Mechanismus ist, der gegebene gesellschaftliche Konstruktionen stabilisiert und reproduziert und damit zwischen Struktur und Praxis vermittelt (Bourdieu 1974: 125), dann ist die Ehre ein zentraler Mechanismus, der es der Lebenswelt der Aymara ermöglicht hat, trotz der Unterordnung unter die dominante Lebenswelt eine gewisse Eigenständigkeit zu entwickeln und immer wieder zu redefinieren. "Die Dauerhaftigkeit im Wandel stellt sich her, weil der Habitus als entscheidende Schaltstelle zwischen Individuum und Gesellschaft besteht. Die Gesellschaftsstruktur wird über ihn in das Individuum hinein gepflanzt und durch die Praxis des Individuums werden gesellschaftliche Strukturen gleichzeitig weiter fortgeschrieben. D i e gesellschaftlich wahrnehmbare Praxis von Individuen ist immer das Produkt aus Habitus und situativen Bedingungen" (Vogt 1997: 118-119).

Auf diese Weise begründet das Phänomen der Ehre soziale Ungleichheiten ebenso wie auch die Dauerhaftigkeit im Wandel. Der Habitus stellt ein Bindeglied zwischen der Geschichte und der gesellschaftlichen Eingebundenheit mit der Wahrnehmung, dem Denken und dem Handeln von Individuen dar (vgl. Treibel 1994: 211). Er ist Bourdieu zufolge "ein zwar subjektives, aber nicht individuelles System verinnerlichter Strukturen" (Bourdieu 1979: 187). Der Habitus wird durch Geschlecht, soziale Stellung, soziale Herkunft und ethnische Zugehörigkeit determiniert (vgl. Bourdieu 1993: 81), durch Verinnerlichung vor allem während der familiären Sozialisation zur 'zweiten Natur' und ist somit relativ dauerhaft. Die Ehre und das Ehrgefühl sind implizit, und für beide gibt es nicht in allen Sprachen eigene Begriffe. Bourdieu beschreibt das Phänomen der Implizitheit der Ehre folgendermaßen: "Das Wertesystem der Ehre wird eher 'praktiziert' als gedacht, und die Grammatik der Ehre kann den Handlungen Form geben, ohne selbst formuliert werden zu müssen. (...) Dadurch, daß die Normen in dem Kategoriensystem der mythischen Wahrnehmung der Welt wurzeln, ist es äußerst schwer und vielleicht sogar unnütz, zwischen dem direkt und klar vom Bewußtsein erfaßten Bereich und dem tief im Unbewußten verborgenen Bereich unterscheiden zu wollen" (Bourdieu ibid.: 43).

Die Rekonstruktion des Ehrkodex bei den ländlichen Aymara in der vorliegenden Untersuchung beruht dementsprechend nicht nur auf ausdrücklichen Aussagen über die Ehre, sondern auch auf der Interpretation der sozialen Praxis. Der Ehrkodex ersetzt in Gesellschaften ohne legitimierte Instanzen der Macht-

39 ausübung das politische System der Justiz und das Gewaltmonopol einer politisch legitimierten Instanz: "Die Dorfversammlung ist eine Art Schlichtungsausschuß oder Familienrat. Die kollektive Meinung ist Gesetz, Tribunal und vollstreckende Instanz zugleich. Sie verkörpert die öffentliche Meinung, deren Gefühle und Werte, die sie empfindet und ausdrückt und von der sie ihre ganze moralische Macht erhält" (ibid.: 45).

Wer gegen den Ehrkodex verstößt, hat mit Strafen zu rechnen. Am meisten werden die Entehrung, Ächtung oder Verbannung gefürchtet. Der Ausschluß aus kollektiven Tätigkeiten der Gemeinschaft bedeutet den symbolischen Tod. Der Ehrkodex, d.h. "die Gesamtheit der Werte und Prinzipien, die die Gruppe durch ihre Existenz selbst bestätigt" (ibidem),

liegt der auf Konsens basierenden Beschlußfassung zugrunde. Ehre ist in diesem Zusammenhang nicht nur Mittel der politischen Konfliktaustragung sondern auch Konsensgenerator. Die Rolle der Ehre als Moment sozialer Kohäsion, normativer Steuerung und Integration wird vor allem dort relevant, wo die Gefahr der Desintegration sozialer Zusammenhänge gesehen wird. In diesem Zusammenhang stellt sich bei den ländlichen Aymara von Puno die Frage nach der Relevanz der Ehre im Kontext von Veränderungsprozessen im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten. Der gruppenbildende Effekt eines gemeinsamen Ehrbewußtseins liegt dem ethnischen Zusammengehörigkeitsgefühl zugrunde und ist neben anderen Faktoren wie der Sprachgemeinschaft, der gemeinsamen Konfession, gemeinsamer Geschichte und Erinnerungen, Gemeinsamkeiten der Lebensführung und des Habitus ein wichtiger Bestandteil von Ethnizität. Die ethnische Ehre stiftet ein "inneres Band" zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft und führt zur rigiden Abgrenzung gegenüber Nichtmitgliedern, die sich dadurch auszeichnen, daß sie nicht das gleiche Ehrbewußtsein teilen (vgl. Vogt 1997: 80). Individuen besitzen mehrere Ehren gleichzeitig, die auch miteinander in Widerspruch treten können, da sie letztendlich immer auf die Funktionalität für die Bedürfnisse der betreffenden Gruppe zurückzuführen sind. So besitzen AymaraFrauen in Puno eine Sexualehre, die eng mit der vorehelichen Jungfräulichkeit, der Treue und der Fruchtbarkeit in der Ehe zusammenhängt, eine weibliche Ehre, die vor allem auf Gehorsamkeit und bestimmten als spezifisch weiblich definierten Fähigkeiten beruht und Passivität und Unterordnung dem Ehemann und anderen männlichen oder älteren Familienmitgliedern gegenüber voraussetzt, eine Familienehre, die mit Herkunft, Erbschaft und Familienstand zusammen-

40 hängt, eine Gruppenehre, die mit Rechten und Verpflichtungen der Dorfgemeinschaft gegenüber verbunden ist und eine ethnische Ehre als Aymara.28 Die Akkumulation des symbolischen Kapitals ist Bourdieu zufolge mit individuellen oder kollektiven Strategien verbunden: "Anders ausgedrückt, das Beziehungsnetz ist das Produkt individueller oder kollektiver Investitionsstrategien, die bewußt oder unbewußt auf die Schaffung und Erhaltung von Sozialbeziehungen gerichtet sind, die früher oder später einen unmittelbaren Nutzen versprechen. Dabei werden Zufallsbeziehungen, z.B. in der Nachbarschaft, bei der Arbeit oder sogar unter Verwandten, in besonders ausgewählte oder notwendige Beziehungen umgewandelt, die dauerhafte Verpflichtungen nach sich ziehen" (Bourdieu 1983: 192).

Wie sich die Anforderungen, Pflichten und Regeln der verschiedenen Ehren von Frauen im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten bei den Aymara verändern und welche individuellen und kollektiven Strategien sie zur Verbesserung ihres symbolischen Ehrkapitals verfolgen, soll in der vorliegenden Untersuchung anhand der narrativen Aussagen der Interviewpartnerinnen rekonstruiert werden.

1.6. Die Kategorie des Geschlechts (Gender) Die Kategorie gender wird im Laufe der 1960er Jahre im englischsprachigen akademisch-politischen Bereich zusätzlich zur Kategorie des Patriarchats entwickelt. Kate Millet hatte im Rahmen ihrer literaturwissenschaftlichen Analysen den Begriff des Patriarchats der Theorie von Max Weber entnommen, der damit das Unterdrückungssystem der Eltern (und insbesondere des Vaters) als Herren des Hauses benannt hatte (Millet: 1969). Der Begriff des Patriarchats wurde auf diese Weise auf die Unterordnung der Frauen unter die Männer und als Adjektiv auf Gesellschaften mit männlicher Dominanz ausgeweitet. Der Begriff entwikkelte sich jedoch aus dem Kontext gerissen zunehmend zu einer Worthülse, da die Wertsysteme und Mechanismen, die dem System männlicher Dominanz zugrunde liegen, weitgehend verschwommen blieben und lediglich ein Vorwurf allen Männern gegenüber als Unterdrücker mit der impliziten Schuldzuweisung für die Aufrechterhaltung des Patriarchats übrig blieb. Unbestreitbar profitieren Männer von Wertsystemen männlicher Überlegenheit. Connell (1995: 82) bezeichnet das symbolische Kapital der Männer in die28

Die ethnische Identität wird von den ländlichen Aymara in Puno durch die eigene Zuordnung eher auf lokale Kontexte innerhalb der ländlichen Lebenswelt der Aymara begrenzt, obwohl sie überregional über die Aymara-Sprache als ein Abgrenzungskriterium z.B. gegenüber den Quechua im Andenraum verfügen.

41 sem Zusammenhang als eine Art Dividende, die einerseits aus Ehre, Prestige und dem Recht der Befehlsgewalt bestehe, andererseits aber auch ganz greifbare materielle Vorteile mit sich bringe, da Männer beispielsweise grundsätzlich auf dem Arbeitsmarkt wesentlich mehr verdienen und entscheidende wichtige Posten in größerem Umfang besetzen als Frauen. Er verweist außerdem darauf, daß auch die globale Kapitalakkumulation heute in männlicher Hand und damit ebenfalls geschlechtsspezifisch strukturiert ist. Zu kurz gegriffen ist gleichzeitig jedoch ein Ansatz, der alle Männer unmittelbar für die Aufrechterhaltung von ungleichen Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen verantwortlich macht. Geschlechterverhältnisse sind eine Folge historischer Prozesse und daher ist es nicht der Mann als Individuum oder als soziale Kategorie, der die Frau in ein bestimmtes Verhältnis zwingt, sondern das dominante Muster der Geschlechterverhältnisse, das in den meisten Kulturen einer männlichen Logik mit einem Wertsystem männlicher Überlegenheit folgt. Beispielsweise halten Männer, die Gewalt gegen Frauen anwenden, ihr Verhalten für normal und gerechtfertigt, weil sie sich auf ein Wertsystem männlicher Überlegenheit berufen können. Aber es gibt eine ganze Reihe von Zwangs- und Disziplinierungsmechanismen, die zur Aufrechterhaltung männlicher Überlegenheit im Geschlechterverhältnis beitragen und die nicht nur nicht direkt von Männern ausgeübt werden, sondern auch von männlichen Bündnispartnern von Frauen nicht verhindert werden könnten. Andererseits tragen unter bestimmten Bedingungen Frauen selbst aktiv zur Erhaltung männlicher Machtstrukturen bei. Auf der Suche nach der Erklärung für die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und ihrer Reproduktion muß in jedem spezifischen Kontext anhand von empirischen Untersuchungen danach gefragt werden, wie Geschlechterverhältnisse jeweils konstruiert und wie sie verändert werden. Unter Bedingungen der Geschlechterhierarchie wird die Kategorie Geschlecht zum Kriterium für Diskriminierung. Die Identifizierung oder Zuschreibung von etwas "Weiblichem" führt zu Unterordnung, Abwertung und Ausgrenzung. Die sogenannten women 's studies wurden ab den 70er Jahren von den gender studies abgelöst. Die Forderung nach einer Analysekategorie der Geschlechterverhältnisse hing eng mit gesellschaftspolitischen, sozialen und institutionellen Bedingungen und Bewegungen dieser Jahre zusammen. Auf der Suche nach einer vereinigenden Kategorie für ganz verschiedene, empirisch belegte Bedingungen der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wurde ein neuer Begriff nötig. Die Komplexität der sozialen Realität ist durch die kulturelle Vielfalt der als männlich und weiblich gedeuteten Zuschreibungen geprägt. Sie war nicht länger mit binären Oppositionen wie Mann versus Frau oder Natur versus Kultur erfaßbar und mußte von einem Denken in Differenzen ersetzt werden. Beispielsweise führt die Heterogenität von Frauen und verschiedene Formen von Unterdrückung aufgrund von Unterschieden wie Klasse, Ethnizität, Kultur,

42 Alter, Generation, sexueller Präferenz, Nationalität und Religion zur Bildung von Untergruppen von Frauen. Diese Unterschiede bilden weitere Dimensionen sozialer Ungleichheit und sozialer Konflikte. Infolgedessen sind auch Frauen untereinander ungleich und gehen miteinander Beziehungen der Allianzen, oder aber der Rivalität und Unterordnung ein. In Gemeinschaften bilden sich Rangordnungen unter Frauen heraus, die nach bestimmten Regeln der weiblichen Ehre organisiert sind und von Frauen untereinander immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Mit Hilfe der Einführung des Begriffs gender sollte der kausale Zusammenhang zwischen biologischem und sozialem Geschlecht außer Kraft gesetzt und sex und gender voneinander getrennt werden. Gleichzeitig sollte die Struktur der Geschlechterverhältnisse in verschiedenen kulturellen Kontexten und gesellschaftlichen Organisationsformen miteinander in Verbindung gebracht und gesellschaftliche Organisation mit Hilfe der Analyse der jeweiligen Machtverhältnisse auf der Basis von männlichen und weiblichen Symbolen und Repräsentationen nachvollziehbar gemacht werden, ohne andere ökonomische Faktoren außer Acht zu lassen. Gender29 bezeichnet die soziokulturelle Konstruktion von Sexualität und von weitergehenden Sinnstrukturen sozialer Handlung. Gender wird als historischsoziale Kategorie verwendet, die sich von der biologisch determinierten Differenz zwischen Männern und Frauen und der dazugehörigen Kategorie sex unterscheidet. Dabei geht es bei der Anerkennung des Genderbegnfis als einer zentralen historisch-sozialen Kategorie inzwischen weniger um eine Fortsetzung der Kritik an dem ohnehin bekannten Ausschluß von Frauen und an eindeutig zugeschriebenen Machtverhältnissen innerhalb der Geschlechterverhältnisse als vielmehr um eine kritische Einsicht in diejenigen Mechanismen, mit deren Hilfe diese Hierarchisierung der Geschlechter durchgesetzt wird. Begriffe, die zur Beschreibung gesellschaftspolitischer Prozesse wichtig sind, erfahren im Laufe der Zeit eine Bedeutungserweiterung und Veränderung, weil damit neu aufgetretene gesellschaftliche Problemstellungen benannt werden. Im Falle des Genderkonzcpls kommt es in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu ganz unterschiedlichen erkenntnistheoretisehen oder methodologischen Begründungen. Eine der weitreichendsten Definitionen von gender hat die nordamerikanische Historikerin Joan Scott ausgearbeitet, die sich für die vorliegende Untersuchung mit einigen Ergänzungen als geeignet erwiesen hat. Scott (1988: 28-50) definiert gender als ein konstitutives Element sozialer Verhältnisse auf der Grundlage der Unterschiede zwischen den Geschlechtern und als ein ent-

29

Für den englischen Begriff Gender gibt es in der deutschen Sprache kein Äquivalent. Der Begriff des Geschlechterverhältnisses entspricht am ehesten der englischen Bedeutung von Gender (vgl. Hof 1995: 4).

43 scheidendes soziales Machtverhältnis. Demnach kommt gender in vier Ebenen oder Dimensionen zum Ausdruck: 1. in kulturell vorhandenen Symbolen für verschiedene Formen der Repräsentation, darunter Mythen; 2. in normativen Konzepten, d.h. als Interpretation der Bedeutungen von Symbolen, religiösen, wissenschaftlichen, legalen oder politischen Systemen; 3. in politischen Vorstellungen und Referenzen auf Institutionen und soziale Organisationen; 4. in der subjektiven Identität. De Barbieri (1996: 66) ergänzt diese vier Ebenen durch folgende Dimensionen, die ebenfalls in dieser Untersuchung berücksichtigt werden: 1. die sozialen Praktiken, die das Geschlechterverhältnis konstruieren, insbesondere die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung; 2. die Geschichtlichkeit der Körper und ein nicht statisches Körperverständnis; 3. verschiedene Formen von Macht- und Unterdrückungsmechanismen. Für De Barbieri ist gender vor allem ein soziales Ordnungsprinzip, das die Sexualität und den erotischen Austausch sowie die Möglichkeit zu sexuellem Zugang, die menschliche Reproduktion, die soziale Arbeitsteilung und alle sozialen Verhältnisse ordnet. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß die gesellschaftsspezifischen Mechanismen, die zur Durchsetzung von Unterordnung fuhren, in der Vergangenheit noch nicht ausreichend empirisch untersucht worden sind und betont, daß jedes soziale Verhältnis jedoch die Wahrscheinlichkeit der Unterordnung eines der Handelnden über den Anderen berge. In der Debatte der 1980er und 1990er Jahre hat sich gezeigt, daß das Geschlecht ebenso wie Geschlechteridentität keine stabile, dauerhafte Kategorie ist, sondern Veränderungen und Aushandlungsprozessen unterliegt, die Teil gesellschaftlicher Machtprozesse sind. Frauen und Männer tragen durch ihr aktives Handeln zur Veränderung von historisch konstruierten Geschlechtsidentitäten bei: "Geschlecht (...) ist nicht etwas, was wir 'haben' oder 'sind', sondern etwas, was wir tun" (Hagemann-White 1993: 68). Für Connell (1995: 71) hat gender eine intern komplex organisierte Struktur, in der sich eine Anzahl widersprüchlicher Logiken überlappen. Er bezeichnet gender selbst als ein soziales Muster, das wiederum Resultat eines geschichtlichen Produkts und gleichzeitig Produzent von Geschichte sei. Er schlägt ein DreiSchichten-Modell für die Struktur der Kategorie Geschlecht vor, bestehend aus einem Machtverhältnis, einem Produktionsverhältnis und einer "emotionalen Bindung", das er auf aktuelle städtische Kontexte in Australien anwendet. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung erscheint besonders relevant,

44 daß Connell Weiblichkeit und Männlichkeit als Praxisformen innerhalb des Geschlechterverhältni sse s betrachtet. Ein weiteres analytisches Problem der Debatte besteht darin festzustellen, ob gender eine spezifische Dimension sozialer Ungleichheit darstellt, oder ob es sich um ein sex/gender System mit einer Eigendynamik handelt (Rubin 1975: 157-210). Das sex!gender System konstruiert Normen, Repräsentationen, soziale Praktiken, soziale Arbeitsteilung und subjektive Identität. Diese sozialen Phänomene wiederum strukturieren die symbolischen Ebenen und die der Weltsicht, die der sozialen Praxis einen Sinn geben. Obwohl das Prinzip der Verbindung unbestreitbar ist, das Werte und soziale Praktiken nur innerhalb eines Systems von Symbolen erklärbar macht, hat es Kritik am sex/gender System im Verlauf der interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Konzept gender gegeben (Hof 1995: 2). Dabei wird wiederum - wie schon im Fall des Begriffs des Patriarchats - eine zu unpräzise Verwendung des Genderbegriffs kritisiert und hinterfragt, inwieweit soziale Unterschiede, die bisher dem Geschlechterverhältnis zugeschrieben werden, nicht eher zu anderen Formen sozialer Differenzierung gehören könnten. De Barbieri (1996: 74) kommt zu dem Ergebnis, daß es zwei Kategorien der Hierarchisierung aufgrund von Heterogenität gibt: die genderbezogenen und die anderer sozialer Ungleichheiten, die aber auch mit gender verknüpft sind. Dabei kommt Unterscheidungsmerkmalen wie Alter und Generation eine besondere Bedeutung zu, wenn es darum geht, den Begriff gender als ein dynamischeres Konzept anzuwenden als bisher. Jede Altersphase von Frauen und Männern wird durch andere körperliche Symbole und durch andere soziale Handlungsweisen geprägt. Die Idee der sozialen Konstruktion verweist auf eine sich wandelnde Realität und eine Veränderung der sich physiologisch und biologisch unterscheidenden Körper von Frauen und von Männern im Laufe ihres Lebenszyklus - von Geburt an bis zum Tod. Die Körper erhalten im Verlauf jeder einzelnen Lebensetappe einen unterschiedlichen Sinn und Funktionszuweisung und werden auf unterschiedliche Weise symbolisiert. Gleichzeitig unterliegen die Geschlechterverhältnisse durch die Interaktion zwischen Männern und Frauen, zwischen Frauen und Frauen bzw. zwischen Männern und Männern ständigen Veränderungsprozessen, die von den beteiligten Subjekten jeweils direkt mitgeprägt und beeinflußt werden können. Für die Konstruktion des kollektiven Imaginären ist die Betonung von physisch-biologischen Charakteristiken der Körper ausschlaggebend. Sexualität erhält auf diese Weise individuelle und kollektive Ausdrucksformen, die sich auf Rollen und Funktionen der Geschlechter innerhalb der Lebenswelt einer Gruppe beziehen und je nach den Bedürfnissen und Bedingungen für das gesellschaftliche Überleben über- oder untertrieben werden. Der Körper ist die Grundlage für die Wahrnehmung und Organisation des menschlichen Lebens, sowohl im biolo-

45 gischen wie auch im sozialen Sinne. Jede Gesellschaft produziert nützliche Körper für ihre spezifischen sozialen Verhältnisse, für die Beherrschung und die Unterwerfung. Aus dieser sozialen Funktion der Körper entstehen Vorstellungen und Klassifikationen in bezug auf Gesundheit und Krankheit, normal oder anormal, schön oder häßlich. Körper spielen eine aktive Rolle bei der Gestaltung von sozialen Prozessen (vgl. Butler 1991). Der weibliche Körper wird in vielen Kulturen mit Schwäche, Schönheit und Konsum assoziiert, der nicht selbst begehren kann oder darf, sondern Objekt der Begierde zu sein und sich zu unterwerfen hat. Der männliche Körper wird mit Kraft, Vernunft, Verstand, Logik und Intelligenz assoziiert, der den weiblichen Körper erobern und beherrschen muß (vgl. VegaCenteno 1996; Connell 1995). Vorstellungen über den Körper spiegeln das Verhältnis der Menschen zur Natur und zu religiösen Wesen innerhalb einer symbolischen Ordnung wider. Der Körper symbolisiert sowohl die Verhältnisse der Über- und Unterordnung (Faust, Haupt und Glieder) als auch der Gegenseitigkeit. Der weibliche Körper kann durch seine symbolische Verbindung mit Fruchtbarkeit aber auch als Quelle für weibliche Machtausübung dienen (vgl. Luig 1990b: 255). Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft spielt bei der Analyse der Geschlechterdifferenz eine wichtige Rolle. In der vorliegenden Untersuchung liegt der Schwerpunkt jedoch nicht nur auf individuellen und kollektiven Vorstellungen von Weiblichkeit oder Männlichkeit, sondern auch auf konkreten Regeln, Normen, Werten, Repräsentationen und Verhaltensweisen. Während sich die Psychologie vor allem mit den Bedingungen der Sozialisation, der Individualgeschichte und der weiblichen und männlichen Sexualität befaßt, besteht der Beitrag der Soziologie darin, vor allem gesellschaftliche und ordnungspolitische Aspekte der Ge«rferkategorie zu untersuchen. Die Sozialgeschichte gibt demgegenüber Aufschluß darüber, wie sich die Geschlechterverhältnisse, wie sich der geschlechtsspezifische Umgang mit Zeit und Raum und wie sich die weibliche und männliche Ehre in verschiedenen historischen Kontexten verändert haben. Die Altamerikanistik trägt wiederum dazu bei, die spezifischen sozialen Verhältnisse im Andenraum in voreuropäischer, kolonialer, nachkolonialer und heutiger Zeit nachzuvollziehen.

1.7. Die Resistenz der Geschlechterhierarchie in Transformationsprozessen Die Diskussion über die Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit im Zusammenhang konflikthafter gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse wird derzeit noch weiter kontrovers geführt. Geschlechterverhältnisse sind interpersonale Verhältnisse, die starken Normen und Zwängen ausgesetzt sind, gleichzeitig

46 jedoch von den Individuen durch kommunikatives Handeln unterschiedlich gestaltet und erlebt werden. Geschlechterverhältnisse sind einerseits von gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen betroffen, andererseits trägt ihre historische Veränderung offenbar nicht zur Reduzierung sondern ihrerseits zur zunehmenden Differenzierung von Herrschaftsstrukturen bei. Obwohl das Ausmaß der Ungleichheit der Geschlechter sich mit gesellschaftlichem Wandel verändern und neu verhandelt werden kann, hat sich der grundsätzliche hierarchische Charakter der Geschlechterverhältnisse jedoch gesellschaftlichen Transformationsprozessen gegenüber als ausgesprochen resistent erwiesen. Wie bereits erwähnt, können Geschlechtsidentitäten in sich und in ihrem Verhältnis zueinander sehr widersprüchlich angelegt und normative Regeln sehr vieldeutig sein und je nach Situation und Person ganz unterschiedlich interpretiert werden (Hausen u. Wunder 1992: 1-9). Luig (1997: 254) spricht in diesem Zusammenhang von der Polyvalenz symbolischer Bedeutungen, die sich im Verlauf von Ritualen auch ändern können und verweist darauf, daß sogar innerhalb ein und derselben Kultur auch unterschiedliche Modelle symbolischer Geschlechtsrepräsentanz nebeneinander existieren können. Der Übergang von einem Deutungssystem zum anderen und die Konfrontation mit widersprüchlichen Wertsystemen spielen bei der Herstellung subjektiver Verarbeitungsstrategien für Frauen eine wichtige Rolle. Daher stellt sich die Frage, wie Frauen als Individuen denkend und handelnd mit komplexen Wirklichkeiten umgehen, wie sie die sehr widersprüchlichen strukturellen und symbolischen Bedingungen weiblicher Existenz wahrnehmen und welche Handlungsräume ihnen zur Verfügung stehen. Imelda Vega-Centeno (1996: 3) kommt zu dem Ergebnis, daß es das spezifisch weibliche Imaginäre gäbe, als "eine Reihe von Bildern, Symbolen und mythischen Repräsentationen der Frau, die von Frauen selbst als Ausdruck ihrer spezifischen Existenzform als Gruppe innerhalb der Gesellschaft produziert werden."

Dabei handele es sich jedoch nicht um ein autonomes kulturelles Produkt von Frauen, sondern um eines, das innerhalb der Geschlechterverhältnisse entstehe, d.h. in bezug zum männlichen Imaginären. Vega-Centeno zufolge unterscheidet sich das weibliche Imaginäre vom männlichen entweder durch Einbeziehung, Assoziation, Gegensatz oder Widerspruch. Die Autorin verweist darauf, daß im männlichen Imaginären Frauen nicht als Subjekte sondern als Objekte existieren, die konsumiert werden. Viele Kulturen haben eine phallozentrische Logik entwickelt mit Differenzierungsprozessen zwischen den Geschlechtern, die sowohl Frauen unterordnen als auch Frauen sich selbst der männlichen Macht und Logik unterwerfen lassen. Innerhalb dieser Logik werden Frauen als Nichtsubjekte behandelt, obwohl sie gleichzeitig als Subjekte handeln (vgl. Vega-Centeno 1994).

47 Hausen und Wunder (1992: 1-7) verweisen in sozialhistorischen Untersuchungen über Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte auf die faszinierende Vieldeutigkeit von normativen Regeln und Interpretationen, die dazu führt, daß die vom Mann dominierte Geschlechterhierarchie keineswegs widerspruchslos hergestellt wird, da auch die Geschlechtsidentitäten in sich und im Verhältnis zueinander viel zu widersprüchlich angelegt sind. Sie regen daher an, hinter den normativen Aspekten zum Geschlechterverhältnis nach den tatsächlich gelebten Geschlechterverhältnissen zu suchen, was in dieser Untersuchung getan werden soll. Die allgemein zugestandenen Handlungsräume für Männer und Frauen in den Gesellschaften sehen sie allerdings auch als historisch deutlich verschieden vermessen und ausgestaltet. Ein weiterer Aspekt der aktuellen Debatte bezieht sich darauf, wie es zu Krisentendenzen innerhalb bestehender Geschlechterordnungen kommt. Normalerweise werden Modernisierungseinflüsse von außen, wie technologische Veränderungen oder der Wandel der Produktionsverhältnisse für die Legitimationskrise von bestehenden Machtverhältnissen verantwortlich gemacht, die zu Widersprüchen zwischen ungleichen Wertsystemen in bezug auf Männer und Frauen, in der Familie und der Dorfgemeinschaft fuhren. Logiken der gesellschaftlichen Reproduktion ländlicher Lebenswelten können in Wettstreit oder Widerspruch mit Logiken übergeordneter staatlicher Strukturen, den Marktbeziehungen, gleichen Bürgerrechten für Männer und Frauen, usw. geraten. Interessenwidersprüche und Aushandlungsprozesse von innen tragen daher ebenfalls zu Veränderungen bei, die zu Krisentendenzen führen können. In vielen Gesellschaften beruht die Kontinuität der gesellschaftlichen Reproduktion auf der Einhaltung der bereits legitimierten Ordnung, für die häufig Frauen verantwortlich gemacht werden. Als "Hüterinnen" oder auch "Erfinderinnen von Tradition" wird von ihnen vielfach erwartet, über die Moral zu wachen und über gesellschaftliche Innovationen zu entscheiden. Krisentendenzen treten immer dann auf, wenn die Kohärenz von Machtsystemen durchbrochen wird. Je größer die Distanz der Akteure gegenüber den gesellschaftlichen Nonnen und Regeln wird und je mehr Handlungsoptionen wahrgenommen werden, um ihnen auszuweichen, desto stärker kann der soziale Druck oder Zwang bis hin zur Gewaltanwendung werden. Als sanfteres Leitwertsystem kommt auch das Phänomen der Ehre zum Zuge. Genau die Risse in der Kohärenz von Machtsystemen markieren den spezifischen Ort, an dem die Ehre ihre Wirksamkeit entfaltet (vgl. Vogt 1997). Den Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung von Zwang und Gewalt sowie der Selbstbewertung und Selbstdisziplinierung durch die Ehre als kohä-sionsstiftendem Faktor wird in Zusammenhang mit Legitimationskrisen von Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern bei den Aymara in Puno in der vorliegenden Untersuchung noch näher nachzugehen sein.

48 Auf dem Hintergrund der bisher in Punkt 1.1. bis 1.6. angestellten Überlegungen kristallisieren sich für den Forschungsprozeß mehrere weiterführende Fragestellungen heraus: Wie verändern sich Geschlechterverhältnisse, Vorstellungen von Weiblichkeit und Geschlechterdisparitäten im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten aus weiblicher Sicht? Welche Wechselbeziehung besteht zwischen Geschlecht, Ehre und Gesellschaftsstruktur, wie verändert sich das Ehrsystem und wie wird es von den Frauen selbst verändert? Welche Grenzverschiebungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit finden im Wandel statt, welche sozialen Räume öffnen bzw. schließen sich, und welche neuen Handlungsräume ergeben sich daraus für Frauen aus ihrer eigenen Sicht? Findet im Falle von Normenbrüchen eine Verschärfung oder eine Entschärfung von Mechanismen der Kontrolle, des Zwangs und der Gewalt gegenüber Frauen statt? Welche Mechanismen der sozialen Kontrolle werden von Frauen untereinander angewendet? Wie verändern sich die Bedingungen der Vergesellschaftung von Frauen im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten und welche Auswirkungen hat dieser Wandel auf weibliche Lebensentwürfe? Welchen Beitrag leisten Frauen zur Veränderung, welche Forderungen nach Veränderung werden von Frauen aufgestellt und welche Möglichkeiten der politischen Partizipation werden von ihnen wahrgenommen?

1.8. Charakteristiken und Strukturen bäuerlicher Gesellschaften Bäuerliche Gesellschaften besitzen überall auf der Welt Gemeinsamkeiten, die hier zunächst kurz zusammengefaßt werden sollen, bevor im zweiten Kapitel dann noch näher auf spezifische andine Charakteristiken Bezug genommen wird. Zu den Charakteristiken bäuerlicher Gesellschaftsformen werden u.a. mythische Weltbilder gezählt, die keine kategorischen Unterscheidungen zwischen Gesellschaft und natürlicher Umgebung vorsehen. Dazu gehören auch religiöse Kultgemeinschaften als Grundlage für Verwandtschaftssysteme, deren Kern aus Familien30 mit Kindern besteht. Gemeinschaften und Verwandtschaftssysteme definieren die Linien legitimer Abstammung. Zwischen verschiedenen Abstammungsgruppen findet Frauentausch statt. Die Heiratsregeln bestimmen über den Status von Neugeborenen, deren Zuordnung zur Gemeinschaft über die Zuordnung zu sozial anerkannten Vätern und Müttern definiert wird. Die Ehe hat die Funktion, Neugeborenen über die Zuordnung zu sozial anerkannten Vätern und Müttern einen identifizierbaren Ort in der Gemeinschaft und damit einen un-

30

Als Familie wird hier die sogenannte Kernfamilie bezeichnet, d.h. "die Eltern mit ihren unmündigen, unverheirateten Kindern" (Rosenbaum 1982: 31).

49 zweideutigen Status im Sinne einer legitimen Abstammung zu sichern. Die legitime Abstammung ordnet wiederum die Beziehungen der Familien innerhalb des Verwandtschaftssystems. Das Individuum ist weitgehend von der Familie und der Gemeinschaft und von einer Reihe von Regeln, Normen und Institutionen abhängig, die vor allem der Aufrechterhaltung der Gemeinschaft und der Vergrößerung des Besitzstands einzelner Familien innerhalb der Gemeinschaft dienen. Weitere Gemeinsamkeiten bäuerlicher Gesellschaften bestehen im Besitz von Grund und Boden als der wichtigsten Grundlage bäuerlicher Existenz. Das Land verbindet die Generationen miteinander: Die jeweilige Familie ist nur augenblickliche Nutznießerin des Bodens, der nicht nur einer einzelnen männlichen oder weiblichen Person gehört, sondern auch immer schon den Kindern. Der Landbesitz ist ein wichtiges Bestimmungsmerkmal für den Rang der Familie in der innerdörflichen Hierarchie. In Gesellschaften mit niedrigem agrartechnischen Entwicklungsstand besteht für Bauern eine fundamentale Abhängigkeit von der Natur (Klima, Bodenbeschaffenheit, Regen für natürliche Bewässerung etc.). Für die vorliegende Untersuchung wichtige kulturspezifische Vorstellungen von Fruchtbarkeit beziehen sich nicht nur auf die soziale Reproduktion als Reproduktion der Gesellschaft, sondern auch auf die Natur oder das, was als Natur definiert wird. Die Vorstellungen über die Fruchtbarkeit des Menschen stehen in direktem Zusammenhang mit der Fruchtbarkeit des Landes, und sie bleibt in der Vorstellung der bäuerlichen Bevölkerung nur durch Wohlverhalten gegenüber den Ahnen und ihren Geistern und gegenüber den Naturgottheiten erhalten. Der Zustand der Natur hängt vom Zustand der Gesellschaft ab und menschliches Fehlverhalten, beispielsweise Tabubrüche wie Inzest, Mord oder Abtreibung, aber auch Streit im Dorf können aus der Sicht der Betroffenen als Vergehen gegen die Ordnung der Ahnen Naturkatastrophen auslösen (Luig 1990a: 255). Das bäuerliche Wirtschaften orientiert sich nicht am Gewinn, sondern am Gedanken der Selbstversorgung mit Nahrung (Rosenbaum 1982: 57), d.h., das Ergebnis der Arbeit muß ausreichen, um die Familie zu ernähren. Von ganz zentraler Bedeutung ist das Erbrecht und die Vererbungspraxis, die entweder der Realteilung31 oder dem Anerbenrecht folgen kann. Rosenbaum geht davon aus, daß die Bedeutung der Erbregelung deshalb so groß gewesen sei, "weil in der vorkapitalistischen Gesellschaft die Heiratsmöglichkeit an den Nachweis einer 'ausreichenden Nahrung' gebunden gewesen ist, im bäuerlichen Bereich also an 31

"Realteilung heißt, daß der vorhandene Besitz, auch der Boden unter den Kindern aufgeteilt wird (...) jedem Kind (wird) zu einem bestimmten Zeitpunkt, der meist mit der Eheschließung zusammenfällt, sein oder ihr Erbteil übergeben (...) Anerbenrecht bedeutet, daß nur ein Kind den Grund und Boden erbt; in der Regel ist das ein Sohn. Die anderen Kinder werden überwiegend mit mobilem Besitz und Geld abgefunden" (Rosenbaum 1982:61).

50 den Besitz eines für die Ernährung der Familie genügend großen Hofes. Da Land knapp und nicht beliebig vermehrbar ist, war der Erbgang neben der Einheirat die wichtigste Chance, in den Besitz einer 'ausreichenden' Nahrung zu gelangen" (ibid.: 61).

Die bäuerliche Lebenswelt ist in Bereiche der Interaktion zwischen Verwandten und Nichtverwandten unterteilt und auf eine arbeitsteilige Kooperation ausgerichtet, die geschlechts- und altersspezifisch organisiert ist. Weitergehende Differenzierungs- und Veränderungsprozesse der sozialen Struktur werden vor allem durch die materielle Reproduktion erforderlich und ihre Dynamik hängt im wesentlichen mit Problemen der Bestandssicherung und der materiellen Reproduktion der Lebenswelt zusammen. Bäuerliche Familien sind durch die untrennbare Einheit von Produktion, Konsum und Familienleben gekennzeichnet, in der alle Familienmitglieder mitarbeiten und in der es keine große Spezialisierung einzelner Tätigkeitsbereiche gibt (ibidem). Jede und jeder kann im Prinzip fast alle Arbeiten ausführen. Im folgenden zweiten Kapitel wird im Zusammenhang mit dem historischen Kontext der Aymara von Puno noch näher auf einige spezifische Charakteristiken der andinen kleinbäuerlichen Lebenswelt eingegangen.

51

2.

Der Kontext im Forschungsgebiet

2.1. Historischer Überblick über die Aymara im Raum Puno Aufgrund des bereits erwähnten begrenzten Forschungsstands über die Aymara ist auch über ihre Herkunft und Geschichte nur wenig bekannt. Noch weniger kann über die Situation von Aymara-Frauen in der Geschichte gesagt werden. Die Rolle der Frauen bei den Aymara und im Andenraum insgesamt blieb bis auf seltene Ausnahmen aus der bisherigen Forschung weitgehend ausgespart. Die wenigen Versuche, die Situation und die Rolle der Frauen beispielsweise bei den Inka zu rekonstruieren, sind notwendigerweise aufgrund der begrenzten Quellen ausgesprochen spekulativ und widersprechen sich zum Teil (vgl. Rostworowski 1988; Silverblatt 1990). Die Aymara wurden während der spanischen Kolonialzeit kaum beschrieben, da die Inka für alle Chronisten im Vordergrund standen und vielfach mit den Aymara gleichgesetzt wurden. Die orale Tradition der Aymara heute reicht nur solange zurück, wie Menschen ihre eigenen Erfahrungen weitererzählen können. Die Schriftsprache des Aymara wurde erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt und ist nur wenig verbreitet, da die Alphabetisierung in der Schule in der Regel auf Spanisch stattfindet. Die Geschichte aus früheren Jahrhunderten wird den Aymara als Schulwissen vermittelt, das sich wiederum weitgehend auf das legendäre /nAoreich der Quechua beschränkt.1 Trotzdem bestehen historische Bezüge in unbewußter Form von Generation zu Generation weiter und nehmen Einfluß auf das Weltbild und auf kulturelle Praktiken. Der folgende historische Überblick muß sich auf einzelne wichtige historische Ereignisse im Forschungsgebiet von Puno beschränken. Zunächst werden verschiedene Theorien zur Herkunft der Aymara vorgestellt. Die Auswirkungen der Kolonisationen durch Inka und Spanier, der Christianisierung, der Marktintegration, des Großgrundbesitzes, der Unabhängigkeit Perus und der Agrarreform werden zusammengefaßt und vermitteln ein Bild radikaler Transformationspro1

Zum Zeitpunkt der spanischen Kolonisation waren die acht verschiedenen aymarasprachigen ethnischen Gruppen (Canas, Canchis, Quolla, Lupaqa, Pacajes, Charcas, Caranga und Quillacä) von den Inka bereits entweder, wie die Qolla, besiegt oder, wie die Lupaqa, mit Hilfe von Abkommen unterworfen bzw. zur Abgabe von Tributen an die Inka verpflichtet worden. Die Mehrheit der spanischen Chronisten interessierte sich nur dann für vorhandene Kulturen, wenn es um die Erhebung von Steuern oder die Organisation der Zwangsarbeit ging. Die wenigen, die überhaupt über indianische Völker geschrieben haben, waren vor allem an den Inka als den "zivilisiertesten" unter den "heidnischen Kulturen" und im Vergleich zu den Azteken in Mexiko interessiert. Auch heute kommen in den Schulbüchern hauptsächlich die Inka vor, die vielfach in unwissenschaftlicher Weise als eine Art andine Kopie der Römer oder Griechen verherrlicht werden.

52 zesse. Weltbilder und Machtverhältnisse bei den Aymara von Puno waren und sind durch diese historische Dynamik ständigen Veränderungen unterworfen. Die Unterordnung der Lebenswelt der Aymara unter sich wandelnde dominante Lebenswelten ist ein jahrhundertealtes historisches Phänomen.

2.1.1. Die Herkunft der Aymara Regional umfaßt das Forschungsgebiet der vorliegenden Studie den ehemaligen Lebensraum der ethnischen Gruppe der Lupaqa am Titicaca-See, der von Chucuito bis Desaguadero und je nach Interpretation entweder bis an die Küste nach Arica, Tacna, Ilo, Moquegua, oder sogar bis nach Paracas und Lima reichte. Das Volk der Lupaqa, dessen Territorium in etwa mit der heutigen Provinz von Chucuito in Peru übereinstimmte, soll 1525 aus ca. 20.000 Familien (um die 100.000 Menschen) bestanden und bereits in sieben Ortschaften in den Flußtälern von Chucuito, Acora, Ilave, Juli, Pomata, Yunguyo und Zepita gesiedelt haben. In bezug auf das sogenannte Aymara-Häuptlingstum (reino) der Lupaqa kann die Quellenlage der Kolonialzeit im Vergleich zu anderen ethnischen Gruppen der Aymara ab Ende des 16. Jahrhunderts, vor allem aber ab dem 17. Jahrhundert, als relativ gut bezeichnet werden. Die Zentren der Orden der Dominikaner und später der Jesuiten lagen in den Ortschaften von Chucuito und Juli und insbesondere die Jesuiten hinterließen ausführliche Dokumente. Die Priester wurden durch die sogenannten visitas2 im Auftrag der spanischen Virreyes kontrolliert, und sind eine wichtige Informationsquelle über die Lupaqa während der frühen Kolonialzeit. Schwerpunktregionen der visitas waren die Provinz von Chucuito und das Minengebiet von Potosi, Los Collaguas.3 Aus der visita von Garci Diez de San Miguel aus dem Jahre 1567 läßt sich entnehmen, daß der europäische Steuerbeamte die Lupaqa für ein ungewöhnlich reiches Volk hielt und an die 1000 reiche hochrangige aymarasprachige Lupaqa vorfand. Murra (1975: 202) gelangte nach der Analyse der visita zu der Überzeugung, das wirtschaftliche Erfolgsprinzip der Lupaqa habe in der Haltung von großen Lama- und Alpakaherden bestanden, die zur Kolonialzeit zur Bezahlung von Steuern und zum Geldtausch genutzt werden konnten. Die Lupaqa wären 2

Die visitadores waren königliche Inspektionsbeamte der spanischen Kolonialverwaltung, die ihre ersten Besuche, die sogenannten visitas in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Berechnung von Steuern auf der Basis von Daten über die vorhandene Bevölkerung, ihre Institutionen und Bräuche und zur Kontrolle der religiösen katholischen Orden der Region durchführten.

3

Auf die Relevanz der Berichte der visitas für Informationen über die Lupaqa wurde u.a. von den Autoren Murra (1975) und Pease (1977) hingewiesen.

53 eine vergleichsweise große ethnische Gruppe gewesen, die ähnlich wie kleinere Völker der Anden (z.B. wie die Chupaychu bei Huanuco in den Zentralanden) gleichzeitig mehrere ökologische Nischen als Teil eines nicht unmittelbar zusammenhängenden Territoriums bewirtschaftet hätten. Im folgenden Abschnitt wird ein kurzer Überblick über verschiedene Theorien zur Herkunft der Aymara mit einer verwirrenden Vielfalt unterschiedlicher zeitlicher und geographischer Zuordnungen gegeben. Eine der bekanntesten ist die des peruanischen Linguisten Alfredo Torero (1987), der den Entstehungsort der Aymara aufgrund von archäologischen Funden bei den Wari im heutigen quechuasprachigen Ayacucho in den Zentralanden von Peru vermutet. Indigenistische Autoren vertreten demgegenüber die Ansicht, die Tiahuanaco im Norden des heutigen Bolivien seien eine Kultur der Aymara gewesen4 (z.B. Llanque 1990). Einige Historiker (wie Meiklejohn 1988: 23) bezeichnen die Lupaga als Erben der Tiahuanaco-Kuhur im Norden des heutigen Bolivien und gehen davon aus, daß sie im 12. Jahrhundert bereits existierten. Andere Autoren (z.B. Choque 1992: 61; Bouysse-Cassagne 1987) meinen, ab dem 13. Jahrhundert mehrere Aymara-Regionalstaaten mit verschiedenen politischen Autoritäten und einer ausgeprägten innergesellschaftlichen sozialen Differenzierung ausgemacht zu haben. Einige spanische Chronisten (zitiert bei Choque 1992) vertraten im 16. Jahrhundert die Auffassung, die Aymara seien vom Süden aus Coquimbo und Copiapö im heutigen Chile nach Norden gekommen und für die Eroberung und Zerstörung der Tiahuanaco-Kuhur im Jahre 1172 verantwortlich. Dies habe zum aktuellen Siedlungsraum der Aymara geführt, der im wesentlichen mit dem Gebiet der Lupaqa5 übereinstimme. Demnach hätten die Einwohner von Tiahuanaco noch das Puquina beherrscht, eine Sprache, die bis zum Ende des 16. Jahrhunderts nördlich von La Paz in der Region des Titicaca-Sees gesprochen wurden und dem Aymara vorausgegangen sein soll. Linguisten (wie Hardman: 1988) haben demgegenüber aufgrund ihrer Untersuchungsergebnisse über die Verbreitung der Aymara-Sprache im Andenraum die These aufgestellt, daß sich die Aymara von den weiter nördlich gelegenen Anden sowie von der peruanischen Pazifikküste aus in verschiedene Richtungen ausgebreitet haben könnten. Sie begründen diese Theorie damit, daß heute südlich von Lima noch die beiden ethnischen Gruppen der Tupe und der Cachuy sogenannte Ja^arw-Dialekte sprechen, die der linguistischen Sprachfamilie des "Proto-jaqF 4

Die Tiahuanaco-Kultur wird zwischen 1580 v. Chr. und 1172 n. Chr. vermutet und hatte ihr Zentrum am Titicacasee im heutigen Nordbolivien an der peruanischen Grenze.

5

Das ehemalige Siedlungsgebiet der Lupaqa entsprach dem Gebiet vom heutigen Desaguadero an der peruanischen Grenze zu Bolivien bis nach Chucuito und Hatun Colla im heutigen Department von Puno und bis nach Cusco und Wari in den Zentralanden Perus.

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aus der Sprachfamilie des Aymara zuzuordnen seien. Früher sei auch in Yauyos, Canta, Huarochiri und Huantän im heutigen Nordperu das Kauki, ein AymaraDialekt, gesprochen worden. Die Sprache Jaqi sei in der Andenregion zwischen Nazca und Arequipa im heutigen Südperu an der Küste entstanden und habe einen frühen Schwerpunkt in Paracas an der peruanischen Pazifikküste gehabt (vgl. Hardman 1981, Yampara 1992: 118). Von dort aus habe sie sich mit den Wari nach Ayacucho und Cusco in den peruanischen Südanden in südliche Richtung bis nach Tiahuanaco am Titicacasee im heutigen nördlichen Altiplano von Bolivien ausgebreitet und wiederum die Inka und ihre Sprache stark beeinflußt. Die Schlußfolgerung, daß die Aymara-Kultur aus unterschiedlichen Kulturen hervorgegangen ist, erscheint aufgrund der vielfaltigen Interaktion berechtigt. Javier Albö (1988a: 23) spricht in diesem Zusammenhang von der andinen Lebenswelt als einer Art von Gewebe mit verschiedenen Mustern, die jedoch aus den gleichen Fäden und Farben bestehen. Die permanente Interaktion von Kulturen des Andenraums habe zu einer andinen Kultur geführt, der heute sowohl Quechua als auch Aymara angehören. Diese andine Kultur zeichne sich durch die Anpassung an die großen Höhenunterschiede, ihre extremen täglichen Temperaturschwankungen, starke Trockenheit oder hohe Feuchtigkeit und ihre Verbindung mit dem pazifischen Ozean auf dem Westhang der Anden und dem tropischen Regenwald auf dem Osthang der Anden aus. Albö (1988a: 26-27) vertritt die These, die Aymara könnten paradoxerweise überhaupt erst durch die spanische Eroberung als ethnische Gruppe aus diversen anderen Gruppen heraus konsolidiert worden sein und sich als solche begriffen haben. Durch die Kolonisation seien sie territorial festgelegt, sozial als indios abgewertet und untergeordnet, sowie auf einzelne Dorfgemeinschaften reduziert worden. Ihre ehemalige Kontrolle über verschiedene ökologische Nischen hinweg im Amazonastiefland, in den Anden und an der Pazifikküste,6 - die auch als Enklaven bezeichnet werden, da es sich nicht um ein unmittelbar zusammenhängendes Territorium gehandelt haben soll -, sei auf das Altiplano reduziert worden. Aymara als Sprachgruppe sei festgeschrieben worden und von vielen anderen Sprachen seien schließlich nur Quechua und Aymara als eigenständige Sprachen im Andenraum übrig geblieben. Die Anpassung an und die Kontrolle über verschiedene ökologische Zonen habe eine räumlich-religiöse, duale und komplementäre Weltsicht geprägt. Höhergelegene Teile der Anden mit Viehzucht, und mit männlichen religiösen Berginstanzen, den apus1 und achachilas,8 seien mit niedriger gelegenen Teilen 6

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Murra (1975) geht davon aus, daß die ayllu (Familienverbände) Siedler in die jeweiligen ökologischen Nischen oder Enklaven schickten, daß ihr Wohnzentrum aber weiterhin auf dem Altiplano blieb. Als apus werden religiöse Instanzen der Berge bezeichnet.

55 der Täler mit Landwirtschaft, und des weiblichen religiösen Wesens der pachamama9 in Bezug gesetzt worden. Die geographisch-ökologischen Räume mit ihren religiösen Instanzen der apus und pachamama hätten einen komplementären Charakter, wie Männer und Frauen in der Ehe (chacha-warmi), um sich in Interaktion mit dem physischen Lebensraum zu reproduzieren. Die politischen Autoritäten der Aymara hätten gleichzeitig religiöse Funktionen gehabt, die durch ihre Funktionsbezeichnung der apu, bzw. mallku unterstrichen wurden (Choque 1992: 62).

2.1.2. Die Eroberung durch die Inka Die Frage danach, welche kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen die Eroberung der Aymara-Völker durch die Inka mit sich brachte, ist heute kaum eindeutig zu klären. Einige Autoren gehen davon aus, daß die Inka vor allem eine politische Kontrolle in Form von Steuerabgaben (von Wolle, von Lasttieren wie Lamas und Alpakas und von gewebten Stoffen), dem Bau von Wegen, Lagerstätten und Tempeln, sowie durch die Zwangsumsiedlung von der bäuerlichen Bevölkerung und Soldaten als sogenannte mitmaqkunaw ausübten. Gleichzeitig sollen die Inka aber kulturell wenig Einfluß genommen und die Praktiken und Religionen der eroberten Völker allgemein weitgehend respektiert haben (Llanque 1982: 23; Meiklejohn 1988: 24). Möglicherweise waren die kulturellen Übereinstimmungen durch die gemeinsame Geschichte von Kontakten, gegenseitiger Beeinflussung und Anpassung an ähnliche ökologische Zonen groß, so daß die Inka ihrerseits viel von ihren Aymara-Vorfahren übernommen haben könnten. In bezug auf die These von Albó könnte sogar vermutet werden, daß die Aymara zwar eine Sprachgruppe bildeten, als ethnische Gruppe mit abgegrenztem Territorium zur Zeit der Inka jedoch noch gar nicht existierten.

8 9 10

Als achachilas werden Seelen der Vorfahren mit religiöser Macht bezeichnet. Als pachamama wird die religiöse Figur der Mutter Erde bezeichnet. Mitmaq bedeutet auf aymara: "derjenige, der in eine andere Gegend geschickt wird" (Platt 1988: 415). Laut Garcilaso diente das mitmaq-System den Inka zur wirtschaftlichen Absicherung ihrer kolonisierten Gebiete und zur Vorbeugung gegen Aufstände und Rebellionen. Die mitmaqkuna waren größtenteils Quechua-Siedler, die von den Inkas in eroberte Gebiete umgesiedelt wurden (Llanque 1982: 23). Aber auch Aymara wurden z.B. ins heutige Ekuador umgesiedelt.

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2.1.3. Spezifische Bedingungen der vorkolonialen Produktionsweisen und die Sozialorganisation im Andenraum An dieser Stelle sollen die Besonderheiten der Agrarorganisation in den Anden vor der spanischen Kolonialzeit kurz zusammengefaßt werden (vgl. Gölte 1994: 489-499). Die Feld- und Viehwirtschaft in den zentralen Anden kann bis etwa dem fünften Jahrtausend vor Christus zurückverfolgt werden. Ein wichtiges Merkmal der Feldwirtschaft unter kargen Bedingungen in den Hochanden besteht darin, daß sie ganz wesentlich auf dem Einsatz menschlicher Arbeitskraft beruht und tierische Arbeitskraft in voreuropäischer Zeit nicht in die Produktion einbezogen wurde. Die Anden sind ein tropisches Hochgebirge zwischen Meereshöhe und 6000 Meter hohen Bergketten und bestehen aus verschiedenen Naturlandschaften. Die Vielfalt der Höhenlagen und Klimata ermöglichte es, den Anbau von Pflanzen mit unterschiedlichen Wachstumszyklen in verschiedenen Höhenlagen miteinander zu kombinieren. Eine bäuerliche Familie war darauf angewiesen, mehrere Klimazonen gleichzeitig zu bewirtschaften, um die in der Feldwirtschaft zyklisch eingesetzte menschliche Arbeitskraft von Männern, Frauen und Kindern maximal zu nutzen und auf diese Weise trotz der kargen Böden ausreichende Ernteerträge für die Ernährung der Familie zu produzieren. Die Ländereien ein und derselben Familie lagen oft zwanzig oder dreißig Kilometer voneinander entfernt, so daß ein Hof normalerweise keine zusammenhängenden Felder und Weideflächen bewirtschaftete. Gleichzeitig wurden an die zwanzig verschiedene Anbaupflanzen angebaut (vgl. Gölte: ebd.) und deshalb keine für einen bestimmten Pflanzentyp spezialisierten Werkzeuge verwendet. Diese Form des gleichzeitigen Anbaus unterschiedlicher Naturlandschaften erforderte eine relativ komplexe Sozialorganisation, um die nach Art und Umfang wechselnd nötige Kooperation zwischen vielen und wenigen Arbeitskräften jeweils organisieren zu können. Diese Sozialorganisation setzte einen institutionellen Rahmen voraus, der sozial legitimierte Absprachen und Aufrechnungen der einzelnen Arbeitsleistungen sowohl für die Planung der Arbeitseinsätze, als auch die schnelle Reaktion auf Witterungsbedingungen ermöglichte. Ein komplexes Verwandtschaftssystem über das bindend bestimmte Verwandte zu Arbeitsleistungen angefordert werden konnten, religiöse Gruppen, deren Mitglieder wechselseitig zur gegenseitigen Hilfe verpflichtet waren und Dorfautoritäten, die alle männlichen Mitglieder des Dorfes bindend zur Zusammenarbeit bei bestimmten Aufgaben verpflichten konnten, waren dafür eine wichtige Voraussetzung. Darüber hinaus gab es in den bereits beschriebenen relativ ausdifferenzierten vorkolonialen andinen Gesellschaften Autoritäten, die eine Zusammenarbeit mehrerer Dörfer koordinieren konnten. Diese Form der Organisation ging bis zur Ebene des Staates, der auch größere Menschenmengen für Arbeitseinsätze bewegen konnte, wie z.B. unter den Inka.

57 Die spanischen Kolonialherren nutzten diese differenzierte voreuropäische Sozialorganisation als Grundlage der kolonialen Ausbeutung zum Einsatz von Bauern in den Bergwerken mit Hilfe der mita oder von Männern und Frauen zur Zwangsarbeit auf Landgütern. Das System der bäuerlichen Produktionsweise zur familiären Reproduktion bestand jedoch auch während der Kolonialzeit weiter, auch wenn spanische Werkzeuge und die tierische Arbeitskraft - z.B. mit dem Ochsenpflug auf Hochebenen - und einige europäische Anbaupflanzen integriert wurden. Allerdings wurde die Kontrolle einzelner Dörfer über weiter auseinander gelegene unterschiedliche ökologische Zonen unter der europäischen Kolonialherrschaft teilweise ganz abgeschnitten oder stark eingegrenzt. Familienverbände wurden durch Zwangsumsiedlungen und Zwangsarbeit auseinandergerissen und neu zusammengeführt. Das Prinzip der reziproken Arbeitsleistungen und die Relevanz der menschlichen Arbeitskraft in der andinen Feldwirtschaft blieben jedoch erhalten. Im Raum Puno war zusätzlich zur Feldwirtschaft vor allem die Viehwirtschaft von großer Bedeutung, die ebenfalls vom Prinzip der gegenseitigen Arbeitsleistungen profitierte.

2.1.4. Die Christianisierung der Aymara nach der spanischen Eroberung Die Eroberung durch die Spanier brachte zunächst die Christianisierung der Aymara durch die Dominikaner (1547-1576) und später durch die Jesuiten (1576-1767), sowie das Zwei-Republiken-System (ab 1680) mit sich. Die Jesuiten etablierten ihr Zentrum in der Ortschaft Juli am Titicacasee, das seither auch wegen seiner vielen Kirchen "das kleine Rom" genannt wird und als Zentrum der Jesuiten in Peru schlechthin galt. Sie erfanden eine Art indianische Pastorale, lernten Aymara und setzten sich für eine Missionierung der indios mit Hilfe von Verfuhrung und Überzeugung ein. Außerdem gehörten die Jesuiten zu den Erfindern der "Ausrottung der Götzenanbetung" (extirpación de idolatrías), die von Duviols (1986) als eine "Stieftochter" der spanischen Inquisition und Evangelisierung bezeichnet wird. Sie hatte die Zerstörung der andinen Religionen zum Ziel und war speziell an ländliche indianische Dorfgemeinschaften gerichtet, die nicht in die Kolonialgesellschaft integriert waren. Die Inquisition war demgegenüber 1571 in Lima an der Küste eingerichtet worden und hatte Ketzer und Hexen in Urbanen Kontexten der Kolonialgesellschaft verfolgt. Die extirpación de idolatrías unterschied sich von der spanischen Inquisition darin, daß keine Todesstrafe vorgesehen war (Duviols 1986: LXXIV), und lediglich die Leichen andiner Vorfahren, nicht jedoch lebendige Personen als Hexen oder Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Gleichzeitig ging sie aber

58 weit über die Verfolgung Einzelner hinaus und drang bis ins Alltagsleben der andinen Bevölkerung ein, der christliche Moral und Lebensregeln aufgezwungen wurden (darunter die Jungfräulichkeit, die kirchliche Heirat, die monogame Ehe, ein auf die Ehe beschränktes Sexualleben etc.). Zu Beginn der Kolonisation hatte noch die rein physische Eroberung und Zerstörung von andinen Heiligtümern wie den huacas gestanden. Über den Ruinen waren Kreuze oder Kirchen errichtet worden. Später ging es den Jesuiten vor allem um die 'Eroberung indianischer Seelen'. Rituale und Bräuche wurden verboten und Feste und Ahnenkulte verfolgt. Zu diesem Zweck spürten Priester die indianischen Toten in heimlichen Grabstätten der indigena auf und ließen sie ausgraben und öffentlich verbrennen, um sie vor allen sichtbar als Heiden zur Hölle fahren zu lassen. Verstorbene indigena mußten auf Friedhöfen in der Nähe der Kirchen auf dem heiligen Boden (campo santo) christlich begraben werden. Damit sollte es den Vorfahren aus indigena-Sicht unmöglich gemacht werden, für die Fruchtbarkeit ihrer Felder und die Gesundheit ihrer Familien und ihres Viehs zu sorgen (Duviols 1986: LXXV).

2.1.5. Die Marktintegration der Aymara während der spanischen Kolonialzeit Für Platt (1988: 430-434) wurden die Aymara-Gesellschafiten vor allem durch den frontalen religiösen Angriff der spanischen Kolonisatoren und durch die Einfuhrung des Marktes von Potosi verändert. Ein großer Teil des Metalls der Minen von Potosi sei für die Geldproduktion genutzt geworden, das vor seiner Entsendung nach Spanien auch auf dem lokalen internen Markt zirkuliert sei und eine grundlegende Transformation der Aymara-Wirtschaft mit sich gebracht habe. Die Aymara hätten einen unschätzbaren analytischen Aufwand betreiben müssen, um sich diese drastischen Veränderungen während der Kolonialzeit in ihren eigenen Kategorien erklären und dieser Analyse entsprechend immer wieder neue Bedingungen mit den Unterdrückern aushandeln zu können. Bei den Lupaqa von Chucuito machten sich die Spanier das bereits bestehende kuraqa-System1' zunutze, um Steuerabgaben und mita für die Minen zu gewährleisten. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Lupaqa während der Kolonialzeit mit Gewalt christianisiert und von der Mehrheit der Missionare über die Besteuerung und m/ta-Arbeitsleistungen der zentralen Kolonialverwaltung 11

Als kuraqa werden die lokalen ethnischen Anführer in vorspanischer Zeit bezeichnet. Murra (1975: 28-30) zitiert die Schilderungen verschiedener spanischer Chronisten, denen zufolge die kuraqa vor der Kolonialzeit keine Tribute einforderten, sondern "lediglich" ein Anrecht auf gemeinschaftliche Arbeitsleistungen beim Anbau ihrer Felder oder beim Hausbau hatten, "fuera del respeto que se merecian" (ibid.: 29).

59 hinaus brutal ausgebeutet wurden. Den Lupaqa blieb nur, sich entweder in schlauer, verschlagener Weise mit den spanischen Herren zu verbünden, oder sich in einige abgelegene Gebiete zurückzuziehen - eine Option, die durch die relativ geringe Anzahl der Spanier auf dem Altiplano wahrscheinlich häufig genutzt wurde - oder sich über die Indoktrinierer lustig zu machen (Schiffers 1992: 30). Meiklejohn (1988: 218) berichtet von caciquen - lokalen indianischen Anführern, die für die Kolonialherren Steuern erhoben, vor denen die indigena von den Jesuiten hätten geschützt werden müssen. Andere caciquen verbündeten sich mit den Jesuiten, um Schutz vor den immer höheren Steueranforderungen der Kolonialverwaltung zu suchen. Das Volk der Lupaqa soll bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts um zwei Drittel dezimiert und die Aymara an der Pazifikküste weitgehend ausgerottet worden sein. Bereits 1680 wurde auf die radikale Ausbeutung der andinen Bevölkerung in den Kolonien von der spanischen Zentralverwaltung in Madrid mit der Einrichtung des Zwei-Republiken-Systems reagiert. Eine Gesetzgebung (leyes de indias) zum Schutz der indios vor der Ausbeutung und Ausrottung durch die Kolonialverwaltung von Peru wurde verabschiedet und damit zwei sogenannte Republiken errichtet, eine davon die Republik der indios im Andenraum. Diese Unterteilung hatte für die indios vor allem zwei Vorteile: ihnen wurde die Inquisition erspart, und die weitgehende Kontrolle über ihr Land garantiert. Viele Familienverbände der ayllu erhielten koloniale Landtitel, die in den wirtschaftlich und politisch für die indios noch schlechteren Zeiten nach der Unabhängigkeit wertvoll für die Verteidigung ethnischer Territorien gegenüber der Ausbreitung des Großgrundbesitzes sein konnten (Rivera 1990: 9). Dabei hatte der Virrey Toledo Ende des 16. Jahrhunderts noch einen Teil des Gemeinschaftslands der ayllu konfisziert und als individuellen Besitz unter den indios verteilt, um höhere, individuelle Steuern erheben zu können. Diese Reform hatte Llanque (1990: 26) zufolge dazu geführt, daß die Aymara bis in die intimsten Bereiche hinein kontrolliert wurden. Die Überlebenden seien von ihren verstreuten ländlichen Siedlungen aus in neugegründete /«cßo-Ortschaften, die sogenannten Reduktionen zusammengelegt und umgesiedelt worden. Flucht, Isolation und Kommunikationslosigkeit verschiedener Gruppen untereinander sowie die Störung des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gleichgewichts der Aymara-Gesellschaft sei die Folge gewesen. Außerdem seien 15 % der Bevölkerung zur gleichen Zeit für Zwangsarbeit außerhalb der Minen eingesetzt worden. Die Verteilungskapazitäten und der Einflußbereich der Autoritäten der Aymara wurden zunehmend geschwächt. Viele Täler der Ostanden, die früher von den ayllu der Lupaqa vom Altiplano aus kontrolliert worden waren, brachen ihre sozialen und wirtschaftlichen Bindungen zu den Herkunftsorten im Hochland ab. Sie fielen entweder neuen spanischen Großgrundbesitzern in die Hände oder

60 wurden zu Rückzugsgebieten der sogenannten indios forasteros. Dabei handelte es sich um Menschen, die ihr ayllu nach der Ableistung der mita in Potosi verlassen hatten, um der Besteuerung durch die Kolonialherren zu entgehen. Eine andere Strategie des Widerstands gegen die Besteuerung soll darin bestanden haben, daß indio-Frauen Spanier oder Schwarze heirateten, um die Zahl der Steuerpflichtigen in den ayllu zu reduzieren. Außerdem flohen viele vor der Taufe, weil Taufbücher eine Grundlage für die Steuerberechnung darstellten (Cardenas 1988: 496-497). Ansonsten ist jedoch über die Widerstandsformen der Frauen auf dem Land wenig bekannt.

2.1.6. Die Rolle von Frauen im Widerstand gegen die Kolonialherrschaft In der männlichen Geschichtsschreibung werden Frauen bis heute meist nur in Verbindung mit Rebellenflihrern des indianischen Widerstands gegen die Kolonialmacht im 18. Jahrhundert erwähnt. Während in Cusco ein von spanischen Priestern ausgebildeter Quechm-cacique, Tupac Amaru II, zwischen 1780 und 1783 die Rebellion anführte, gab es unter den Aymara mehrere Anführer, die unter dem Namen Tupac Katari bekannt geworden sind. Offenbar entstanden die Bewegungen in Cusco und bei La Paz ungefähr gleichzeitig und beeinflußten sich entweder gegenseitig, oder koordinierten sich zeitweilig miteinander. Laut Stern sollen bei diesem Bürgerkrieg 100.000 von insgesamt 1.200.000 Menschen ums Leben gekommen sein. Es habe damals die Gefahr einer Ausweitung auf einen überregionalen Bürgerkrieg gegeben, der die Kolonialregierung und ihre Privilegien bedrohte (Stern 1990: 51). Mitte 1781 mobilisierten sich 50.000 Aymara und besetzten fast ein Jahr lang die Stadt von La Paz. Einer ihrer Anführer war Julián Apaza, ein einfacher forastero eines ayllu in Sika Sika, der sich später Tupac Katari nannte. Er soll mit seiner Schwester, Gregoria Apaza, und seiner Frau, Bartolina Sisa, gekämpft haben. Gregoria Apaza soll in der heutigen Provinz von Azángaro im Department von Puno verschiedene Kämpfe mit den Brüdern von Tupac Amaru aus Cusco angeführt haben, nachdem dieser dort 1781 hingerichtet worden war. Während der großen Rebellion von 1781-83 wurden viele koloniale Gebäude und Kirchen in Pomata, Juli, llave, Chucuito und Puno verwüstet. 1782/83 wurde das Altiplano langsam vom spanischen Militär zurückerobert. Charakteristisch für die großen Rebellionen von Tupac Amaru und Tupac Katari war der Versuch der Allianzenbildung mit Mestizen und Kreolen, sowie die Vertrautheit ihrer Führerpersönlichkeiten mit der Kolonialgesellschaft: Tupac Amaru war ein gebildeter Mestize, Sohn einer Quechua und eines Spaniers, und die Kataris waren belesene Aymara mit der Fähigkeit, indianische Konzepte in spanische Ausdrücke zu

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übersetzen, auf Papier festzuhalten und für Verhandlungen zu nutzen. Sie respektierten im Prinzip zunächst die Kolonialgesetzgebung der beiden Republiken, entwickelten jedoch schließlich unterschiedliche Strategien. Für die einen stand die Koexistenz und die Integration in die Kolonialgesellschaft mit Hilfe von multiethnischen Allianzen im Vordergrund. Für die Anderen bestand das Ziel in einer radikalen Abgrenzung der indigena mit dem Ziel der Vernichtung der Kolonisatoren (Rivera 1990: 10; Stern 1990: 38).

2.1.7. Die Unabhängigkeit von Peru und Bolivien und die Situation der indigena im "republikanischen Kolonialismus" Die traumatischen Ereignisse der Konfrontation zwischen indigena und Mestizen der Ära der Rebellionen im 18. Jahrhundert, die erst wenige Jahrzehnte zuvor zerschlagen worden waren, wirkten sich auf die Unabhängigkeit und die Entstehung der neuen Republiken von Peru und Bolivien durch die Erhaltung und Zuspitzung kolonialer Verhältnisse aus. Die neue peruanische Gesellschaft blieb auch nach der Unabhängigkeit zweigeteilt, mit den indigena auf der einen und den "Republikanern" auf der anderen Seite. Die indianische Bevölkerung wurde allgemein als barbarisch, heidnisch, wild und ketzerisch betrachtet und brutal unterdrückt. Anstelle der vorherigen Republik der indios traten nun offene Massaker von indigena durch den "republikanischen Kolonialismus" (Rivera 1990: 10-12). Am schwerwiegendsten für die Verschärfung der Lebensbedingungen der indianischen Bevölkerung nach der Unabhängigkeit waren jedoch die ländlichen Großgrundbesitze und die unbezahlte Ausbeutung der indianischen Arbeitskräfte. Bis zum Ende der Kolonialzeit waren nur ein Drittel der Ländereien der ayllu in die Hände spanischer Großgrundbesitzer übergegangen. Über zwei Drittel des Landes gehörten damals weiterhin den ayllu. Diese Situation veränderte sich nach der Unabhängigkeit von Peru (1821) und Bolivien (1825) jedoch drastisch: In Bolivien war kurz vor der Agrarreform von 1953 nur noch ein Fünftel des Landes in Händen der ayllu. Der Prozeß der Republikgründung und der Pazifikkrieg gegen Chile führten zur Aufteilung und Trennung der Aymara-Bevölkerung und ihres Lebensraums unter drei Ländern: Bolivien, Chile und Peru. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Unabhängigkeit Perus von Spanien im Jahre 1821 für die bäuerliche Bevölkerung indianischer Herkunft und insbesondere für die Aymara eine Verstärkung ihrer Ausbeutung und Arbeitsdienste auf den Hazienden und eine zunehmende Diskriminierung und Erniedrigung durch die neuen Machteliten der Republik mit sich brachte. 1824 wurde offiziell das spanische Erbrecht eingeführt, nach dem Frauen und Männer ein gleiches Erbrecht zusteht (Lewellen 1978: 39; Carter u. Albo 1988: 470).

62 Vor allem in Peru wurde mit dem verstärkten Einfluß der Engländer der Wollexport immer interessanter. Es entstanden mit dem Bau der Eisenbahn von Matarani-Arequipa-Juliaca-Puno zwischen 1870 und 1874 große Wollhazienden. Ab 1880 verdoppelte sich das von Großgrundbesitzern in Puno kontrollierte Land. Die Hazienden nahmen innerhalb von 40 Jahren von 300 auf über 4000 Hazienden zu. Das peruanische Altiplano wurde durch die englische Kolonisierung in den Weltmarkt eingebunden. Der Bau der Eisenbahnen ermöglichte die Versorgung der Textilindustrie an der peruanischen Küste mit Wolle von Schafen, Lamas und Alpakas. Auf diese Weise entstand eine Handelsbourgoisie in Lima und Arequipa und in Puno wurden immer neue Hazienden gegründet. 12 Zwischen 1840 und 1920 verschwanden auf diese Weise viele Dorfgemeinschaften, deren Land für einen Niedrigstpreis aufgekauft oder einfach gewaltsam enteignet wurde. Die Regierung von Präsident Leguia verabschiedete 1920 ein Gesetz zur Anerkennung der noch übriggebliebenen Dorfgemeinschaften. Obwohl nach dem Zivilrecht aus dem Jahre 1852 der indianischen Bevölkerung die Staatsbürgerschaft zuerkannt worden war, bedeutete dies keine Verbesserung, denn gleichzeitig wurde eine ganze Reihe von Schutzmaßnahmen abgeschafft. Die Ausbeutung indianischer Arbeitskräfte auf den Hazienden wurde mit Hilfe der Übernahme des Justizapparats von den spanischen Kolonialherren durch Mestizen vereinfacht (Lewellen 1978: 23). Die Bauern reagierten mit Aufständen und Landbesetzungen: zwischen 1860 und 1930 fanden in Puno mehr als 50 gewaltsame Konflikte um Land statt. Bis 1845 gab es Bauernrevolten in Azängaro und in Chucuito. Erst fast ein Jahrhundert später, ab Mitte des 20. Jahrhunderts, kam es schließlich zur Auflösung der Großgrundbesitze. In Peru wurde das Land der Hazienden mit der Agrarreform von 1969 in vielen Fällen in staatliche Kooperativen zusammengefaßt und erst nach jahrelangen Kämpfen an die Dorfgemeinschaften zurückgegeben. Unentgeltliche Arbeitsleistungen waren bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts in Peru auf Großgrundbesitzen in Haushalten, Kirchengemeinden und militärischen Einrichtungen gängige Praxis. In Peru haben Frauen erst seit 1955 Wahlrecht; die Mehrheit der ländlichen Aymara-Frauen dürfen jedoch erst seit 1980 wählen, nachdem das Wahlrecht für Analphabeten eingeführt wurde. VegaCenteno spricht in diesem Zusammenhang zu Recht davon, daß in der heutigen peruanischen Gesellschaft der gleiche Rassismus und die gleichen xenophobischen Argumente den indios gegenüber gebräuchlich sind, wie vor fast 200 Jahren zu Zeiten der Unabhängigkeit (Vega-Centeno 1994: 524).

12

1879 soll es in Puno 703 Hazienden gegeben haben. 1915 waren es bereits 3219 Hazienden (Cárdenas 1988: 510). Zwischen 1906 und 1915 entstanden 2516 Hazienden mit mehr als 200.000 Hektar Land (Jacobsen 1983).

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2.2. Der heutige Lebensraum der Aymara in Puno In den Südanden Perus hat bis heute das historisch entstandene misti-indioSystem mit der strengen Trennung zwischen der städtischen Bevölkerung einerseits, die als Mestizen (mistis) gelten, und der bäuerlichen Bevölkerung auf dem Land andererseits, die als Aymara (indios) gelten, einen starken Einfluß. Dabei handelt es sich um ein sowohl ökonomisches als auch ethnisches Spannungsverhältnis, das früher durch Ausbeutung und Paternalismus auf den Hazienden geprägt war und heute durch vielfaltige Formen der Unterdrückung und Diskriminierung der andinen Landbevölkerung durch die - weitgehend noch von der ländlichen Produktion abhängige - städtische Bevölkerung aufrechterhalten wird. Die in dieser Arbeit untersuchte Lebenswelt der Aymara wurde zunehmend auf den ländlichen Raum in die Dorfgemeinschaften zurückgedrängt und wird dort vom Markt, von staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen und von der städtischen Lebenswelt der sogenannten mistis eingekreist. Als mistis bezeichneten die ländlichen Aymara früher die Großgrundbesitzer und seit der Agrarreform von Velasco von 1968 werden von ihnen überhaupt alle Männer und Frauen in den Städten, wie beispielsweise Besitzer von Läden in den Städten, Mitarbeiter von staatlichen Behörden, oder Transportunternehmer so bezeichnet. Die Interviewpartnerinnen in der vorliegenden Untersuchung unterscheiden nicht ausdrücklich zwischen städtischer Bevölkerung mit oder ohne Aymara-Herkunft. Die städtische Lebenswelt auf dem Altiplano ist in vieler Hinsicht noch stark von der abgewerteten und untergeordneten ländlichen Lebenswelt geprägt, mit der sie durch verwandtschaftliche, nenn- oder fiktiwerwandtschaftliche Patenschaftssysteme {compadrazgo-System) und wirtschaftliche Bezüge stark verwoben ist. Zwischen mistis und indios stehen gesellschaftlich die cholos, die im AymaraDorf aufgewachsen und in kleineren Ortschaften vor allem als Zwischenhändler oder -händlerinnen tätig sind, aber ihre Herkunft verleugnen und städtische an Stelle von Trachtenkleidung tragen. Sie werden von den Menschen städtischer Herkunft als cholos bezeichnet, von den Aymara jedoch mit den mistis gleichgesetzt. Das misti-indio-System wird auch im Rahmen der Migration in die Städte an der Küste beibehalten, so daß Mestizen als Migranten in Lima z.B. Arbeit in staatlichen Behörden finden können, während indianische Migranten hauptsächlich im informellen Sektor als Straßenhändler oder -händlerinnen tätig werden (Gölte u. Adams 1987: 21-22). Das Untersuchungsgebiet der Provinz von Chucuito im Department Puno an der Grenze zu Bolivien und Chile liegt an der peruanischen (nordwestlichen) Seite des Titicaca-Sees und auf dem umliegenden Altiplano. Ein Teil der Hauptstraße "Panamericana Sur", die Peru mit Bolivien verbindet, fuhrt direkt am See entlang durch die Provinz von Chucuito. Das folgende Schaubild soll einige

64 Hintergrunddaten zum Forschungsgebiet veranschaulichen, aus denen u.a. hervorgeht, daß die Mehrheit der Aymara-Bevölkerung in ländlichen Gebieten lebt:

Tabelle 1: Bevölkerung und Bodenbeschaffenheit der Provinz von Chucuito, Puno Bevölkerung / Bodenbeschaffenheit Geschätzte Bevölkerung des Departments von Puno 1990: Bevölkerung der Provinz von Chucuito 1981:

Altersgruppe unter 14 Jahre: Altersgruppe unter 19 Jahre: Altersgruppe 20 - 60 Jahre: Abnahme der Landbevölkerung 1981-89: definitive männliche Abwanderung: Geburtenrate in Chucuito 1981: Landesdurchschnitt Geburtenrate rural: Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr: Landesdurchschnitt Kindersterblichkeit: Bevölkerungswachstum: Böden der Provinz von Chucuito für Feldproduktion geeignet: Böden der Provinz von Chucuito für Viehzucht geeignet:

Anzahl / Prozentzahl 1.023.500 Menschen davon Aymara: 36, 5 % = 374.279 Menschen knapp 100 % Aymara davon ländlich: 86,2 % darunter Frauen 51,1 % = 180.592; darunter Männer 48,9 % = 173.145 43 % 52% 38% (Frauen=40 % - Männer=35 %) ca. 5 % ca. 14% 5,6 Kinder pro Frau 6,2 Kinder pro Frau 106 von 1000 Lebendgeborenen 55 von 1000 Kindern unter 4 Jahren 0,8 % pro Jahr 114.737 Ha =10% 917.905 Ha = 8 0 %

Quellen: Polar; Arias 1991: 28-29; 36 und Statistiken des INE, Censo de Población y Vivienda, Lima 1984

65 Die Wirtschaftsstruktur im ländlichen Aymaragebiet von Chucuito besteht hauptsächlich aus Viehzucht und Feldwirtschaft.13 Beide Aktivitäten zeichnen sich durch eine niedrige Produktivität aus, die u.a. auf den Einsatz einfacher Technologien, auf fehlende Bewässerungsmöglichkeiten, auf die starke Parzellierung der familiären Landnutzung durch Vererbung innerhalb der Dorfgemeinschaften und auf die Überausbeutung der Böden durch hohe Bevölkerungsdichte zurückzuführen ist. Die Viehzucht der Aymara von Chucuito hat ihren Schwerpunkt auf der Lama-, Alpaka- und Schafzucht. Die Viehzucht wird auf unbewässerten Naturweiden aus Ichugras durchgeführt. Das Fleisch, die Wolle und das Leder werden im Rohzustand nach Arequipa verkauft und dort weiterverarbeitet. Der größte Teil der Viehzucht ist für den Markt bestimmt, ein kleiner Teil wird für den Eigenbedarf genutzt. In der Seezone werden vor allem Rinder gezüchtet und mit Schilfpflanzen und Algen aus dem Titicaca-See und speziell angebautes Gerstenfutter gemästet. Die Feldwirtschaft zeichnet sich durch die Kombination von verschiedenen Produkten und die Rotation auf mehrheitlich unbewässerten Böden aus. Um so höher die Böden gelegen sind, um so risikoreicher ist die Landwirtschaft aufgrund des rauhen Klimas mit Frösten und Hagel und der häufigen Trockenzeiten. Weitere Aktivitäten sind Fischfang, Kunsthandwerk und Handel. Drei verschiedene ökologische Zonen - die Seezone, die mittlere Zone und die Kordillere - mit klimatischen, produktiven und sozialen Unterschieden und Temperaturschwankungen von über zehn Grad zwischen Sonne und Schatten sind für die Provinz von Chucuito charakteristisch. 1. Die Seezone (mit Flachland zwischen 3810 m und 3900 m Höhe) hat ein mildes Klima (von durchschnittlich sechs bis acht Grad Celsius im Schatten), das besonders für die Feldwirtschaft (einheimische Kartoffelsorten, Getreide, Saubohnen) geeignet ist. Dichte Besiedlung mit eng beieinander liegenden Dörfern, die fast schon zu Ortschaften zusammengewachsen sind und extreme Landknappheit (Durchschnittsbesitz einer Familie ca. ein halber bis zu ein

13

In der Provinz von Chucuito gab es bereits zur Zeit der Agrarreform von 1969 weniger Großgrundbesitz als in anderen Teilen von Puno. Am See gab es überhaupt keine Hazienden. Die 1986 im Rahmen der Restrukturierung der Agrarreform verteilten Kooperativen, wie die SAIS Sorapa mit 4.516 Hektar und die CAP Providencia mit fast 7.000 Hektar wurden an umliegende Dorfgemeinschaften überwiegend in der Kordillere verteilt. Die CAP Tupala besteht bis heute noch. Nach der Restrukturierung des Agrarsektors im Jahre 1986 befinden sich 78,26 % des Landes in der Provinz Chucuito heute in Dorfgemeinschaften, das sind 897.907 Hektar, während 20 % (229.976 Ha.) sich im Besitz von kleinen und mittleren Bauern befinden, die nicht in offiziell anerkannten Dorfgemeinschaften, sogenannten Parcialidades, leben und über individuelle Landtitel verfügen. Die restlichen 1,74 % (20.000 Ha.) befinden sich auch heute noch in der Hand von Kooperativen (Polar u. Arias 1991: 58).

66 Hektar) haben jedoch dazu geführt, daß seit den 50er Jahren mit Hilfe großer staatlicher Entwicklungsprojekte die marktorientierte Rinderzucht eingeführt wurde. Die Rinder werden mit Schilfrohr aus dem Titicacasee gemästet und Schafe werden sowohl für den Eigenbedarf, als auch für den Markt gehalten. 2. Die sogenannte mittlere Zone auf zwischen 3.900 m und 4.200 m Höhe besteht aus einigen Hügeln und Abhängen, Bächen und Tälern, die sowohl für Landwirtschaft (verschiedene Hirsesorten wie quinua und canihua sowie einheimische Kartoffelsorten), als auch für Viehzucht (von Schafen, Lamas, Alpakas und Rindern) auf Naturweiden geeignet sind. Das Klima ist mit durchschnittlich drei bis vier Grad Celsius im Schatten wesentlich kälter als in der Seezone. Die Besiedlung ist weniger dicht, der Landbesitz pro Familie liegt bei durchschnittlich drei Hektar pro Familie und die Siedlungsform und die Dorfgemeinschaften sind wesentlich ausgedehnter als am Seeufer. 3. Die Zone der Kordillere auf über 4.200 m Höhe mit sehr unregelmäßiger Bodenbeschaffenheit und vereinzelten Tälern mit geeigneten Naturweiden für die Lama-, Alpaka- und Schafzucht hat ein kaltes und trockenes Klima mit häufigen Nachtfrösten. Die Durchschnittstemperatur liegt im Schatten eben über dem Gefrierpunkt und eisige Winde sind häufig. Feldwirtschaft kann nur an einigen geschützten Abhängen für den Eigenbedarf betrieben werden. Hier ist zum Überleben einer Familie wesentlich mehr Landbesitz nötig als in den niedriger gelegenen ökologischen Zonen. Die einzelnen Höfe liegen oft kilometerweit auseinander. Um die Primarschulen herum haben sich kleine Dorfzentren gebildet und die Familienmitglieder teilen sich zwischen mehreren Haushalten nahe der Weideflächen auf den Bergen und im Dorfzentrum auf bzw. pendeln hin und her. Die Anpassung der Aymara an die klimatischen Bedingungen und die jeweilige Bodenbeschaffenheit hat zu unterschiedlichen Siedlungsformen und Produktionsweisen der Dorfgemeinschaften geführt. Der Migrationsdruck und der Einfluß der Marktproduktion und moderner staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen, wie Schulen, Kirchen und Entwicklungsprojekten ist je nach geographischer Lage der Dorfgemeinschaften und ihrer Entfernung von der Hauptstraße der Panamamericana Sur und den größten Städten oder Ortschaften, wie Puno, Chucuito, Acora, Ilave, Juli, Pomata, Zepita und Desaguadero unterschiedlich groß. Die Erfahrungen mit und die Auswirkungen der saisonalen oder LangzeitArbeitswanderung an die peruanische Küste, ins Amazonastiefland oder auch bis nach Bolivien sind in der dichtbesiedelten Seezone am größten. Die Mehrheit der Familien verfügt über mindestens ein meist männliches Familienmitglied, das saisonal migriert; in den ärmeren Familien migrieren auch die Frauen, oder sogar die ganze Familie saisonal. Die Seezone ist durch die "Panamericana Sur" auch am direktesten mit den größten Ortschaften von Puno und mit staatlichen und

67 nichtstaatlichen Institutionen verbunden. Wenn überhaupt, dann reichen staatliche Institutionen und Entwicklungsprojekte gerade noch bis in die Seezone und erreichen die Landbevölkerung in den dichtbesiedelten Dörfern noch relativ gut im Vergleich zu anderen Gebieten. Das monetäre Familieneinkommen hat in dieser Zone gegenüber der Produktion für den Eigenbedarf eine immer größere Bedeutung. Aufgrund der geringen Weideflächen für die Rinderzucht, die nur eine kleine Stückzahl pro Familie zulassen, muß in der Seezone der größte Teil des Einkommens vor allem durch die saisonale Migration der Männer oder aber von Männern und Frauen gemeinsam erwirtschaftet werden. In der mittleren Zone wird die Viehzucht durch die Feldwirtschaft ergänzt, die größtenteils für den Eigenbedarf und zum Teil auch für den Markt produziert wird. Das monetäre Einkommen wird hier sowohl durch Viehzucht als auch durch Feldanbau erwirtschaftet. Die Erfahrungen mit Märkten, Migration und Institutionen sind geringer als in der Seezone und die ökonomische Differenzierung innerhalb der Dorfgemeinschaften ist geringer als in den beiden anderen ökologischen Zonen. Jugendliche aus Familien mit mehr als zwei Kindern migrieren definitiv an die Küste. In der mittleren Zone werden aufgrund der Feldwirtschaft für die Subsistenz tendenziell weniger Nahrungsmittel gekauft, als in den beiden anderen ökologischen Zonen. In der Kordillere führt das weitverzweigte Siedlungsgebiet mit Dorfzentren für Schulen, Autoritäten und verstreuten Höfen in der Nähe der Viehweideflächen zu relativ geringer Kommunikation untereinander und mit staatlichen Institutionen. Die saisonalen Migrationserfahrungen sind tendenziell seltener als in den beiden anderen ökologischen Zonen. Das Geldeinkommen macht hier jedoch einen wesentlichen Anteil der Haushaltseinkünfite aus, da die klimatischen Bedingungen nur eine knapp ausreichende Agrarproduktion für den Eigenbedarf ermöglichen. In der Kordillere befanden sich die ehemaligen großen Viehhazienden, die vor allem Lama-, Alpaka- und Schafwolle nach Arequipa an die Küste per Eisenbahn lieferten. Im Verlauf der vorliegenden Forschungsarbeit wird anhand des weiblichen Diskurses rekonstruiert, welche Auswirkungen diese unterschiedlichen Kontexte auf den Alltag von Frauen, auf Geschlechterverhältnisse und auf die weibliche Identität haben. An dieser Stelle soll zunächst näher auf die Auswirkungen von Bevölkerungszuwachs und Marktintegration auf die ländlichen Lebens- und Produktionsbedingungen der Aymara verschiedener ökologischer Zonen eingegangen werden. Bevölkerungs-, Produktions- und Landbesitzdaten von Lewellen aus den Jahren 1967 und 1976 werden selbst erhobenen Daten aus Dorfregistern aus dem Jahre 1983 gegenübergestellt, um Veränderungen durch Bevölkerungszuwachs, Landknappheit, Ausbeutung und Schwerpunktverlagerung in der Produktion für den Markt und den Überlebensstrategien der Dorfbevölkerung in den drei ökologischen Zonen zu verdeutlichen. Neben ausgeprägten innerdörflichen

68 Differenzierungsprozessen wird der Rückgang von durchschnittlich pro Familie zur Verfugung stehenden Ressourcen und die Zunahme der männlichen saisonalen Migration sichtbar.

Tabelle 2: Bevölkerungszuwachs, Migration und monetäres Einkommen am Beispiel von zwei Dorfgemeinschaften (1967,1976 bzw. 1983) 1. Dorfgemeinschaft Soqa, Seezone 1967 1983 Durchschnittlicher Landbesitz pro Durchschnittlicher Landbesitz pro Familie: 0,84 Ha Familie: 1,85 Ha. (davon 50 % der Familien unter 0,5 Ha und einige wenige Familien mit 4 Ha) 1967 1976 saisonale Migration: 60-75 % der saisonale Migration: 19 % der Männer Männer durchschnittliches monetäres durchschnittliches monetäres Jahreseinkommen: 37 US $ Jahreseinkommen: 633 US $ 2. Dorfgemeinschaft Collini, mittlere Zone 1967 1983 Anzahl der Familien = 247 Anzahl der Familien = 341 (Zuwachs von 38 % in 16 Jahren) durchschnittlicher Landbesitz pro durchschnittlicher Landbesitz pro Familie: 17 Ha Familie: 23 Ha (davon durchschnittlich 3 Ha für Feldwirtschaft davon 50 Familien = 14 % aller Familien mit weniger als 0,5 Ha 21 Familien = 6 % mit 6-9 Ha 9 Familien = 2,6 % aller Familien mit 10-18 Ha) durchschnittlicher Viehbesitz pro durchschnittlicher Viehbesitz pro Familie: Familie: 2 Kühe, 9 Schafe, 1 Alpaka, 1 Lama, 2-3 Kühe, 14 Schafe, 1 Alpaka, 1 Schwein, 1 Esel 1 Lama, 1 Schwein, 1 Esel, 1 Huhn Quellen: Lewellen 1978: 35-42; Agrarministerium Puno, 1967. Dorfregister Collini 1983.

69 Spätestens seit Anfang der 60er Jahre lebten die meisten Familien in Dorfgemeinschaften der dicht besiedelten Zone am Titicaca-See unter dem Existenzminimum (vgl. Lewellen 1978). Daher muß davon ausgegangen werden, daß in Familien mit mehr als zwei Kindern alle weiteren Kinder definitiv an die Küste abwandern müssen. Darüber hinaus haben sich die Produktionsbedingungen wesentlich verändert. In der Seezone werden heute hauptsächlich Kühe mit Schilfrohr (totora) aus dem See gemästet und die feldwirtschaftliche Produktion deckt nur noch einen kleinen Teil des Eigenbedarfs. Männer - und in ärmeren Familien auch Frauen - migrieren saisonal an die Küste, um Geld zu verdienen. Dort sind sie vor allem auf Plantagen in der Landwirtschaft, als Fischer oder als Bauarbeiter tätig. Beim Vergleich zwischen Seezone und mittlerer Zone wird deutlich, daß der Bevölkerungsdruck in der mittleren Zone noch nicht ganz so drastische Auswirkungen hat wie in der Seezone. Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß es sich bei dem Dorf Soqa in der Seezone um ein sehr besiedeltes Dorf handelt, das eher einen Extremfall darstellt. Das Dorf Collini wurde demgegenüber im Rahmen der Agrarreform durch die Landverteilung ehemaliger Hazienden begünstigt und verfügt daher über mehr Zugang zu Land als die meisten anderen Dörfer der mittleren Zone. In der Kordillere ist der Bevölkerungsdruck auf die Ressourcen eher mit der mittleren Zone vergleichbar. Leider stehen keine vergleichbaren Daten aus der Kordillere zur Verfügung. Hier ist jedoch das Agrarland wesentlich knapper, als in der mittleren Zone. Dafür sind die Viehweideflächen mit Naturweiden weitaus größer. Gleichzeitig ist jedoch das Klima wesentlich härter, so daß ein großer Teil des Naturweidelandes effektiv kaum nutzbar ist und brachliegt. Die Unterschiede zwischen einzelnen Dörfern der Kordillere in bezug auf den Zugang zu Naturweideflächen sind erheblich.

2.2.1. Formen und Wandel der geschlechtsspezifischen teilung

Arbeits-

Die bisher beschriebenen ungleichzeitigen Prozesse der Marktintegration wirken sich auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bei den ländlichen Aymara von Puno in vielfältiger Weise aus. Die Seezone ist am stärksten von Veränderungen betroffen. Durch die häufige Abwesenheit männlicher Arbeitskräfte, die während bestimmter Jahreszeiten saisonal migrieren, sind die Frauen häufig darauf angewiesen, selbst alle Aufgaben zu übernehmen und den Hof der Familie allein zu bewirtschaften. Daher sind in der Seezone im Gegensatz zu den anderen ökologischen Zonen auch Frauen mit dem Ochsenpflug auf dem Feld zu sehen. Dabei

70 handelt es sich um eine Tätigkeit, die als physische Schwerstarbeit angesehen und allgemein dem männlichen Aufgabenbereich zugeschrieben wird. In der mittleren Zone und in der Kordillere ist die männliche Arbeitskraft noch eher in der bäuerlichen Subsistenz- und Marktproduktion zugänglich, auch wenn die Männer ihre Funktion zunehmend als Geldverdiener definieren. Auch in dieser Zone verändern sich die geschlechtsspezifischen Aufgaben. Im Vergleich zu früher wird wesentlich weniger Zeit in das Spinnen und Weben investiert. Dies gilt sowohl für Männer, als auch für Frauen, wobei Männer tendenziell weniger Zeit zum Spinnen und Weben aufgebracht haben. Die männlichen Aufgaben beim Weben und Spinnen weisen regional große Unterschiede auf. Frauen tragen ganz wesentlich zur landwirtschaftlichen Familienproduktion bei und zwar durch Erbschaft, Arbeitskraft, Kenntnisse und Fähigkeiten. Frauen und Männer haben im Prinzip einen gleichen Anspruch auf Erbschaft von Land und Vieh.14 Der Wert der Ware Arbeitskraft ist in der andinen ländlichen Produktion angesichts der relativ einfachen technologischen Mittel besonders groß. Der Einsatz der Arbeitskraft macht bis heute einen zentralen Teil der andinen Rationalität aus (Gölte 1986), auch wenn langsam das Geld an seine Stelle tritt. Da Frauen aktiv an allen produktiven Abläufen und Aufgaben in der Landwirtschaft teilnehmen, ist ihr Beitrag nicht nur im Haushalt von zentraler Bedeutung sondern auch in der Feldwirtschaft und in der Viehzucht. Dem weiblichen Aufgabenbereich in der Feldwirtschaft werden die Aussaat, das Unkrautjähten, das Einsammeln und Sortieren der Ernte, der Transport der Ernte, die Lagerhaltung, Weiterverarbeitung und Vermarktung von Agrarprodukten zugeschrieben. In der Viehzucht sind Frauen für die tägliche Versorgung des Viehs und einen großen Teil des Viehweidens zuständig. Frauen übernehmen die gesamte Kleinviehhaltung, die jedoch nicht sehr stark ausgeprägt ist. Frauen tauschen oder vermarkten Kleinvieh bzw. Kleinviehprodukte. Frauen sind auch an der Lehmziegelherstellung für den Hausbau beteiligt. Das Dachdecken, die Herstellung von Handwerkszeugen, das Lenken des Ochsenpflugs und der Gebrauch eines Stechspatens, der sogenannten chaquitaqlla,15 werden als männliche Tätigkeiten angesehen. Männer übernehmen das Umgraben der Felder, das Ausheben von Furchen für die Aussaat und sind auch am Unkrautjähten beteiligt. Sie transportieren und schleppen einen Teil der Ernteerträge und klopfen das Getreide. Sie sind für die Nachtwachen bei der Ernte verantwortlich, die jedoch auch oft mit der Familie geteilt werden. Bei der Viehzucht übernehmen die Männer einen Teil des Viehweidens und in einigen Fällen auch die Viehfütterung. Bei Großvieh sind sie für die Gesundheitsversorgung, die Zucht und die Vermarktung der Tiere zuständig. 14 15

Mit Ausnahme lokaler Besonderheiten. Als chaquitaqlla wird ein Stechspaten bezeichnet, der wie ein Fußpflug verwendet wird.

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Im Haushalt werden Wassertragen, Waschen, Sammeln von Zweigen und Ästen sowie das Trocknen von Viehdung als Feuermaterial für den Herd als Frauenarbeit betrachtet, die jedoch häufig an Kinder und gelegentlich auch an den kooperationsbereiten Ehemann delegiert wird. Kochen und die Ernährung der Familie gehören zu klar definierten Frauenaufgaben, die selten von Männern übernommen werden. Das Spinnen und Weben ist heute fast ausschließlich zur Aufgabe von Frauen geworden, obwohl früher bestimmte Webstücke auch von Männern hergestellt wurden, die auch gesponnen haben. Vor allem auf verbesserten Webstühlen aus Holz wurden von Männern breite, meterlange Stoffe aus Schafwolle hergestellt. Frauen weben in gebeugter Haltung mit Hilfe von leicht transportierbaren, einfachen Webstühlen, die mit vier Pflöcken in die Erde gerammt werden können, oder mit kleinen bunten Bändern, deren Webfaden jeweils an einem Ende um den Zeh und am anderen um die Taille gebunden werden. Sie weben vor allem kompliziertere Webstücke aus häufig von ihnen selbst gefärbter Lama- und Alpaka-Wolle mit Streifenmustern, darunter vor allem Ponchos, Tragetücher unterschiedlicher Größe oder Stoffe für Säcke, Schafwolldecken usw. Seit den 60er Jahren ist das Stricken von Unterwäsche, Mützen und Pullovern bei den Frauen durch Entwicklungsprojekte in Mode gekommen. Kinder sind wichtige Arbeitskarte für die Familie und werden von klein auf zum Wasserholen, Zweige sammeln, Viehfuttern und Viehweiden eingesetzt. Kleine Mädchen helfen den Müttern bei der Nahrungsmittelverarbeitung, beim Kochen, Wäschewaschen, beim Saubermachen, Weben, der Versorgung jüngerer Geschwister usw. Kleine Jungen begleiten ihre Väter bei ihren Tätigkeiten, sind aber insgesamt geringeren Anforderungen ausgesetzt als Mädchen. Alte Menschen werden vor allem zum Viehhüten oder zum Haushüten und Weben eingesetzt. Die geschlechts- und altersspezifische Arbeitsteilung variiert erheblich zwischen den ökologischen Zonen. Sie wird durch Anbauprodukte, das Verhältnis von Feldwirtschaft und Viehzucht und dem Zugang zum Rohstoff Wolle, sowie regional unterschiedlichen Praktiken des Hausbaus und Dachdeckens, des Spinnens und Webens, der Ernährungsgewohnheiten usw. beeinflußt. Insgesamt haben sich die Normen der sozialen Arbeitsteilung im Wandel als ausgesprochen flexibel erwiesen, so daß nur allgemeine Tendenzen aufgezeigt werden können. So hatten frauenspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten sowie frauenbestimmte Räume, die mit großer sozialer Anerkennung und Machtausübung verbunden waren, offenbar für ältere Frauen noch eine wesentlich größere Bedeutung als für jüngere. Diese Problematik durchzieht die folgenden Kapitel wie ein roter Faden.

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2.2.2. Die Herkunftsorte der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner Die Interviews wurden zwischen 1990 und 1992 in elf ausgewählten Dorfgemeinschaften der drei ökologischen Zonen von Chucuito durchgeführt: 16 1. In der Seezone wurden Frauen aus drei Dörfern Copamaya, Totojira und Ccamacani auf ca. 3.900 m Höhe befragt. Sie leben von der Feldwirtschaft, etwas Rinder- und Schafzucht mit Hilfe von Schilfpflanzen und Algen sowie von Fischfang. In der Feldwirtschaft werden hauptsächlich Kartoffeln, Saubohnen und Hirse produziert. 2. In der mittleren Zone wurden Frauen aus vier Dörfern, nämlich Tanapaca, Surupa, Collini und Cocosani in der Provinz von Acora auf ca. 4.000 m Höhe befragt. In diesem Gebiet steht zwar die Viehzucht im Vordergrund, aber die Weideflächen sind knapp und liegen weit vom Dorfzentrum entfernt. Daher werden weniger Alpakas und Lamas, dafür mehr Rinder und Schafe sowie Esel, Schweine und Kleinvieh, vor allem Hühner gehalten. Die Feldwirtschaft ist wichtiger für den Eigenbedarf als in der Kordillere und es werden vor allem Hirse, Gerste, Kartoffeln, Erbsen und Saubohnen angebaut. 3. In der Kordillere wurden Frauen aus vier Dörfern und einer Ortschaft befragt: den Dorfgemeinschaften Tarapoto, Aurincota, Challacollo, Ancohaque und dem Ort Huacullani, Sitz der Bezirksverwaltung von Huacullani, auf ca. 4.200 m Höhe. Der Schwerpunkt der Produktion liegt auf der Viehzucht mit Schaf-, Rinder-, Lama- und Alpakazucht; in der Feldwirtschaft werden verschiedene Kartoffelsorten, einheimische Hirsesorten wie quinua und canihua sowie Saubohnen und Gerste angebaut. Fast alle Dörfer sind seit der Agrarreform von 1968 als Dorfgemeinschaften offiziell anerkannt und intern in verschiedene Viertel, sogenannte Sektoren, unterteilt. Die Dörfer bestehen aus zwischen 40 und 250 Familien.17 Die Größe des familiären Landbesitzes variiert sehr von Zone zu Zone und von Dorf zu Dorf, je nach Besiedlungsdichte und Zugang zu Landverteilung von Hazienden im Rahmen der Agrarreform. Die gesetzlich anerkannten Dorfgemeinschaften verfugen über einen gemeinschaftlichen Landtitel und teilen intern die Landnutzung unter den Familien auf. Dabei herrscht der Familienbesitz gegenüber gemeinschaftlich genutzten Flächen vor. Nur noch in wenigen Dorfgemeinschaften der Kordillere 16 17

Die Erhebung der narrativen Interviews wird im Kapitel 3.5. ausfuhrlich beschrieben. Tarapoto hat vier Sektoren mit 74 Familien, Huacullani fünf Sektoren mit 90 Familien, Aurincota sieben Sektoren mit 165 Familien, Challacollo sieben Sektoren mit 165 Familien, Cocosani acht Sektoren und 180 Familien, Ancohaque drei Sektoren und 40 Familien; Copamaya ist die größte Dorfgemeinschaft mit 250 Familien in vier Sektoren, Surupa hat 50 Familien.

73 gibt es gemeinschaftlich genutzte Weideflächen, die nicht intern unter den Familien aufgeteilt wurden. Jede Familie entscheidet weitgehend über die Vererbung des von ihr genutzten Landes. Auf die Erbrechte und die Praxis der Vererbung wird in den folgenden Kapiteln noch detailliert eingegangen. Keines der genannten Dörfer verfügt über Trink- oder Abwasserversorgung oder über Elektrizität. In einigen Dörfern gibt es Latrinen. Um zu den Dörfern zu gelangen, müssen stundenlange Schotterwege mit dem Fahrrad oder auf dem Lastwagen befahren oder zu Fuß zurückgelegt werden mit Ausnahme von Ccamacani, das direkt an der asphaltierten Straße von Puno nach Desaguadero zur bolivianischen Grenze liegt. Die geringste Entfernung (mit Ausnahme von Ccamacani, das von Puno aus in ca. einer halben Stunde Fahrtzeit zu erreichen ist) beträgt mit einem Fahrzeug mit Vierradantrieb zwei Stunden, die längste Fahrtzeit zwischen vier bis fünf Stunden. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind die Bauern und Bäuerinnen aus der Provinz von Huacullani einen ganzen Tag lang bis nach Puno unterwegs. Dafür sind sie jedoch schon nach wenigen Stunden an der bolivianischen Grenze und von dort aus dauert eine Busfahrt bis nach La Paz noch ca. drei Stunden. Die meisten Dörfer verfugen über eine staatliche Grundschule mit fünf Jahrgängen, in Ausnahmefallen gibt es zusätzlich adventistische private Grundschulen18. Weiterführende sogenannte Sekundärschulen gibt es lediglich in Ortschaften wie Huacullani, Ilave oder Acora. Das gleiche gilt für staatliche Gesundheitsposten. In einigen Dörfern gibt es die vom Erziehungsministerium geförderten von den Eltern selbstverwalteten Kindergärten, die sogenannten wawauta (auf Aymara: Häuser der Kinder). In den folgenden Kapiteln soll der Kontext der Interviewpartnerinnen anhand einiger zentraler Normen, Regeln und symbolischer Rituale der Gesellschaft der Aymara von Puno erfaßt werden. Zu diesem Zweck greifen wir auf die Darstellung des Aymara-Priesters und Ethnologen Domingo Llanque (1990: 47-60) zurück, der dieser wiederum Interviews mit männlichen Aymara-Bauern aus Chucuito zugrunde gelegt hat und viele Normen und Regeln mit Hilfe von weitverbreiteten Sprichwörtern belegt. Dabei werden spezifische Bedeutungen und Inhalte des Weltbilds der Aymara von Puno deutlich, insbesondere in bezug auf Wertvorstellungen und Sinnkategorien, auf die Struktur der Dorfgemeinschaften,

18

Nordamerikanische Missionare der "Adventisten des siebten Tages" kamen 1911 nach Puno und gründeten dort die ersten Landschulen für indianische Kinder beider Geschlechter, die bis dahin vom staatlichen Schulsystem ausgeschlossen blieben. Die Adventisten wurden von den Großgrundbesitzern (darunter auch Vertreter der katholischen Kirche) als "Kommunisten" verfolgt und zeitweise dazu gezwungen, in den Untergrund zu gehen (vgl. Ströbele-Gregor 1989). Bis heute gibt es in verschiedenen Dörfern neben den staatlichen Grundschulen adventistische Privatschulen, in denen die Aymara u.a. Englisch lernen.

74 auf Heiratsregeln und die Funktionen der Ehre, auf deren Strukturierung durch die Kategorie Geschlecht noch im Verlauf der Arbeit näher nachgegangen wird. Llanque (1990) kommt in seinem Buch über die Aymara-Kultur zu dem Ergebnis, daß jede Bevölkerungsgruppe ihre Lebens-, Denk- und Handlungsweisen den gemeinsamen materiellen oder spirituellen Problemen des Überlebens entsprechend definiert. Bei Agrar- und Viehzuchtgesellschaften in geographischer und landschaftlicher Extremlage auf über 4.000 m Höhe, sei die materielle und lebensweltliche Anpassung an die Umwelt ganz wesentlich ausschlaggebend dafür gewesen, wie sich die Aymara-Gesellschaft strukturiert, welche Werte und Normen sie entwickelt habe und wieviel sozialer Druck oder Zwang zu ihrer Aufrechterhaltung nötig sei.

2.3. Die Sozialorganisation der Dorfgemeinschaften und das System der Ehre Auf das Fehlen ausdifferenzierter ökonomischer oder juristischer Subsysteme und einer legitimen Gewaltausübung innerhalb der ländlichen AymaraGesellschaft von Puno wurde bereits hingewiesen. Auch heute noch sichern neben den Dorfversammlungen, die Regeln von Gabentausch und Schenkung, aber auch des Frauentauschs die Dauerhaftigkeit von wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und sozialen Verhältnissen. Eine Besonderheit der andinen Lebenswelt in Peru stellt die Rechtsform der seit der Agrarreform 1969 staatlich anerkannten Dorfgemeinschaften dar. Die Mehrheit der Dorfgemeinschaften in Puno sind vom Staat rechtlich anerkannt und verfugen über einen gemeinschaftlichen Landtitel. Diese Tatsache hat vielfach zu dem Fehlschluß geführt, es gäbe im Andenraum keinen privaten Landbesitz von Personen und Familien sondern nur kollektiv genutztes Land. Die individuelle Landverteilung ist jedoch innerhalb der Dorfgemeinschaften so weit verbreitet, daß es heute aufgrund der Knappheit nur noch selten kollektiv genutzte Landflächen gibt. Die Erbschaft spielt eine wichtige Rolle für den Platz jeder einzelnen Person innerhalb der Gemeinschaft und findet nach der Regel der Realteilung statt, d.h. alle Töchter und Söhne haben ein Anrecht auf eine gleich große Erbschaft, sowohl in bezug auf Land, als auch auf Vieh und andere mobile Gegenstände (z.B. Werkzeuge oder gewebte Stoffe). Die Landverteilung innerhalb der Dorfgemeinschaften ist eng mit den Abstammungslinien verknüpft und wird innerhalb der jeweiligen Dörfer geregelt. Sie unterliegt damit nicht der Logik der nationalen Gesetzgebung in bezug auf Besitz-, Verkaufs- oder Erbrechte. Die Erbrechte spielen im Zusammenhang mit dem Mechanismus der Ehre in Form eines Ehrkodexes und einer Hierarchie von Familien und Personen bei

75 den Kriterien für die Verteilung von Ressourcen unter den Familien der Dorfgemeinschaft eine große Rolle. Jede offiziell anerkannte Dorfgemeinschaft ist verpflichtet, regelmäßige Dorfversammlungen mit allen Familien durchzuführen und Protokolle der Beschlüsse dieser Versammlungen in einem Versammlungsbuch festzuhalten, ebenso wie die Wahl der Vorstandsmitglieder. Die Anzahl und die Funktionen der Vorstandsmitglieder sind ebenfalls gesetzlich vorgeschrieben. Als Familienvertreter gelten in der Regel die Männer, und Frauen sind in vielen Dorfgemeinschaften nur als stimmberechtigte Teilnehmerinnen zugelassen, wenn sie alleinstehend ihre Familie vertreten müssen. Ehefrauen wird demgegenüber bisher in vielen Dorfgemeinschaften noch das Rede- und Stimmrecht verweigert. Erst in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten nehmen überhaupt Frauen an Dorfversammlungen teil. Spezifische Frauenorganisationen, wie Mütterclubs oder Frauenkomitees, von denen der größte Teil Anfang der 1980er Jahre während einer Trockenkatastrophe entstand, die zu einer Intensivierung von Nahrungsmitteldonationen durch kirchliche und staatliche Entwicklungsinstitutionen führte, gibt es heute in fast allen Dorfgemeinschaften von Puno. Ihre Funktionen und Kompetenzen sind jedoch von Gemeinschaft zu Gemeinschaft sehr unterschiedlich. Normalerweise funktionieren die Frauenorganisationen nach dem Vorbild der Dorfversammlungen, mit einem Vorstand mit den gleichen Posten wie im Dorfvorstand und mit der Führung von Teilnehmerlisten und von Beschlußprotokollen. Die heutigen Dorfgemeinschaften der Aymara, bestehen im Kern aus dem Familienverband bzw. aus Gruppen von Familienverbänden (ayllu), die das Individuum permanent mit seiner Gruppe innerhalb eines definierten geografischen Raumes verbindet. Die Familie ist eine wesentliche Produktions- und Konsumeinheit. Bei den Aymara handelt es sich dabei heute um eine Kleinfamilie, die ideal-typisch aus den Eltern und ihren Kindern besteht und gelegentlich auch Verwandte des Ehepaars einbezieht. Auch fiktive oder Nennverwandte, Paten (compadres) und Nachbarn können zum größeren Familienkreis gezählt werden. Die Familiengröße hat Auswirkungen auf die Lebensstrategien jedes Familienmitglieds, auf die Verteilung von Ressourcen und Arbeitskraft sowie auf das Verteidigungspotential und das soziale Netz, auf das ein Familienmitglied zurückgreifen kann. Die Familie ist intern hierarchisch strukturiert. Der Mann sichert die Ehre der Familienmitglieder und den Ehrstatus der Familie innerhalb der Dorfgemeinschaft. Die Ehre des Mannes hängt wesentlich von seiner Abstammung ab, sowie von der Übernahme seiner Pflichten auf Dorfebene. Sie wird aber auch davon beeinflußt, ob seine Familienmitglieder, insbesondere seine Frau und Töchter, sich sittlich korrekt verhalten, d.h. zur Heiratsvermittlung und damit für Strategien familiärer Ressourcenvermehrung zur Verfugung stehen.

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Die Familie ist für das Individuum Voraussetzung für persönliche Absicherung, da sie die soziale Zugehörigkeit jedes Einzelnen zur Gemeinschaft sichert und damit ausschlaggebend für den individuellen Ehrstatus innerhalb der Gemeinschaft ist. Gerät die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft in Gefahr oder droht ein Konflikt innerhalb der Ehe, dann wird von allen Familienmitgliedern erwartet, sich gegenseitig zu helfen. Das Sprichwort: "Ich bin auf Deiner Seite, um Dich zu verteidigen"

deutet darauf hin, daß jemand ohne Familienmitglieder nicht nur unter geringem Ehrstatus leidet, sondern sich auch aufgrund von fehlender Zugriffsmöglichkeit zur Ressource Solidarität im Nachteil befindet. Bei der Haushaltsgründung eines neuen Ehepaars schreibt die Norm vor, daß alle Familienmitglieder dabei helfen müssen, ein Haus zu bauen und Produkte beizutragen, bis sich die neue Kleinfamilie selbst versorgen kann. Waisenkinder müssen vom Familienverband aufgenommen werden. Sie sind jedoch in bezug auf ihren Ehrstatus, ihre Zuordnung innerhalb der Gemeinschaft und ihre Erbrechte ihr Leben lang im Nachteil, weil sie keine nahen Angehörigen haben, die sie verteidigen können und weil ihre Erbschaftsrechte nicht geklärt sind.

2.3.1. Moralische und ethische Prinzipien im imaginären Weltbild der Aymara: vollwertige Menschen, Ehre und Respekt Das Imaginäre ist die Vorstellungswelt einer Gesellschaft, die auch Wünsche, Ängste, Phantasien und Träume umfaßt. Diese Vorstellungswelten materialisieren sich in Symbolen, sozialen Werten, Normen und Verhaltensweisen. In einer dualen Sichtweise unterscheiden Aymara zwischen menschlichen Qualitäten in Form von moralischem, ethischem, rationalem und denkfahigem (bewußten) Verhalten und dem Nichtmenschlichen, d.h. dem irrationalen und unmoralischen Verhalten von Tieren. Im Falle von Streit gibt es daher eine ganze Reihe von Sprichworten und Schimpfritualen, in denen die Tierwelt vom Hund repräsentiert wird: "Was bist Du, Hund oder Mensch?" "Rede wie ein Mensch und nicht wie ein Hund!" "Wie fuhrst Du Dich denn auf? Du bist eine Schande für die menschliche Rasse und eine Ehre für die Hunde".

Der Respekt, der einer (männlichen) Person entgegengebracht wird, steht in direktem Zusammenhang mit dem Ideal des "vollwertigen Menschen" (jaqi), der im Gegensatz zu Tieren eine Ehre hat. Um ein vollwertiger Mensch zu werden,

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müssen jedoch eine ganze Reihe von Normen und Regeln befolgt werden. Die Ehre der Menschen ist also nicht von vorne herein festgelegt, sondern muß erst erworben werden, auch wenn einige Inhalte der Ehre, wie Abstammung und Erbschaft vom Individuum nicht mehr beeinflußt werden können. Ältere Leute sollten besonders respektiert werden, weil sie die gemeinschaftliche Weisheit verkörpern, die sie sich durch die Erfahrung angeeignet haben. Die Eltern sollten grundsätzlich respektiert und ihnen muß unbedingt gehorcht werden, weil sie fiir die eigene Existenz verantwortlich sind und man ihnen damit auch den eigenen Ehrstatus verdankt. Diese Regel kommt durch folgendes Sprichwort zum Ausdruck: "Man darf den Eltern nicht widersprechen".

Verheiratete Menschen werden besonders respektiert und geachtet, denn durch die Heirat werden sie erst zu Erwachsenen und erst als Erwachsene zu vollwertigen Menschen, die Verantwortung übernehmen können und damit auch ein Recht auf Respekt erworben haben. Die Heirat wird als der Höhepunkt der Persönlichkeit der Aymara betrachtet. Dem Brautpaar wird bei der Eheschließung von den Eltern empfohlen: "Lebt wie Menschen, in dem ihr dem guten Beispiel folgt".

Ein richtiger, moralischer und vollwertiger Mensch ist verheiratet. Das Ziel jedes Aymara sollte darin bestehen, das Stadium des vollwertigen Menschseins zu erreichen. Kinder müssen erst lernen, die Regeln und Verhaltensnormen zu beobachten, und dann durch Nachahmung zu Menschen zu werden. Kinder, aber auch nicht oder nicht mehr verheiratete Personen, werden in ihrer moralischen Qualität anders beurteilt als verheiratete Erwachsene und verfügen über einen geringeren Ehrstatus in der Familie und Gemeinschaft als Erwachsene. Zumindest in bezug auf den Status der Heirat scheint das Ideal des "vollwertigen Menschen" auch für Frauen zu gelten. Ansonsten ist jedoch davon auszugehen, daß das Ideal des "vollwertigen Menschen" vor allem mit Vorstellungen von Männlichkeit verbunden ist. Bourdieu hat in diesem Zusammenhang am Beispiel der Kabylen festgestellt, daß die Relevanz der Regel des Grüßens mit dem Gefühl der Ebenbürtigkeit zu tun hat, die der Ehre und einer Vielzahl von Verhaltensweisen und Praktiken zugrunde liegt und durchaus mit faktischen Ungleichheiten koexistieren kann: "Das Schlimmste ist, unbemerkt zu bleiben: jemanden nicht grüßen heißt ihn wie ein Ding, ein Tier oder eine Frau zu behandeln. (...) der 'vollkommene Mann' muß immer in höchster Alarmbereitschaft stehen, bereit, die geringste Herausforderung anzunehmen. Er ist der Hüter der Ehre, derjenige, der über seine eigene Ehre und über die Ehre seiner Gruppe wacht" (Bourdieu 1976: 16).

78 Aus dem Prinzip, daß jeder den anderen als ihm an Ehre ebenbürtig anerkennt, folgt für Bourdieu, daß die Herausforderung dem Herausgeforderten zur Ehre gereicht. Die Herausforderung kann aus einer Gabe oder einem Geschenk bestehen. Für Bourdieu steht das Prinzip der "Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung" bei den Kabylen in direktem Zusammenhang mit dem Wert des Mannes: "Jemanden herausfordern heißt, ihm seine Eigenschaft als Mann zuerkennen und darin besteht die Vorbedingung eines jeden Austauschs und der Ehrenherausforderung (...), das heißt weiterhin, ihm die Würde des Ehrenmannes zuerkennen, da ja die Herausforderung ihrer Natur nach eine Erwiderung fordert und sich also an einen Mann wendet, der das Spiel der Ehre zu spielen und gut zu spielen weiß; das setzt zunächst einmal voraus, daß er die Spielregeln kennt, und des weiteren, daß er die nötigen Tugenden besitzt, um sie respektieren zu können."

Große Verärgerung wird von älteren Interviewpartnerinnen darüber geäußert, daß viele junge Leute heute nicht mehr wie früher respektvoll grüßen. Sie bringen damit zum Ausdruck, daß sie sich wie Fremde verhalten und praktisch selbst ausgrenzen. Gleichzeitig nehmen die Interviewpartnerinnen für sich als Frauen jedoch ausdrücklich das Recht auf Respekt und Ehrerbietung in Anspruch, das ihnen nicht zugestanden wird. Eine vielfach wiederholte Klage der Interviewpartnerinnen besteht darin, daß sie sich als Frauen wie Objekte oder Tiere behandelt fühlen. Beschimpfungen und Erniedrigungen werden nicht nur als ein unsensibles und unhöfliches, sondern als ein inhumanes Verhalten empfunden. Sie sind eine große Schande, da sie dem Verhalten eines Objekts oder eines Hundes und nicht einer Person gegenüber entsprechen und daher sowohl den Wert und die Rechte der Frau als vollwertiger Mensch als auch ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft in Frage stellen. Auf diese Weise wird praktisch ihre Existenzberechtigung als Frau in Frage gestellt und ein grober Angriff auf ihre Bewertung und ihr Selbstwertgefühl vorgenommen. Wie der Frauentausch zeigt, sind Frauen bei den Aymara tatsächlich ein Tauschobjekt und als solche weniger Mensch und Subjekt als Männer. Der Mann als Hüter der Familienehre verfugt bei den Aymara über eine männliche Ehre, die der weiblichen Ehre übergeordnet ist. Viele der Verhaltensregeln, die für den Mann als ehrenhaft gelten, sind für die Frau verboten und umgekehrt (Vogt 1997: 114). Auf die Inhalte und Regeln der weiblichen Ehre bei den Aymara von Puno wird in den folgenden Kapiteln noch näher eingegangen. Die Aymara reagieren heftig, wenn sie erniedrigt oder beleidigt werden und ihr Gerechtigkeitssinn ist stark ausgeprägt. Wer jemanden beleidigt hat, muß bestraft werden, es sei denn, er erkennt seinen Fehler an. Normenbrüche, wie der Seitensprung, Entfuhrung oder Diebstahl werden mit der schlimmsten Sanktion, der Entehrung oder Schande geahndet, die für eine betroffene Person einen symboli-

79 sehen "sozialen Tod" bedeuten kann (vgl. Bourdieu 1974). Sie werden als ein Angriff auf die persönliche Ehre und auf den Ehrstatus der Familie und des Dorfes angesehen und sind damit innerhalb der Gemeinschaft nicht mehr zu regeln. Die Praxis der Ehrerweisung bei den Aymara ist mit einer Reihe von Höflichkeitsregeln und alltäglichen Ritualen verbunden. Die Höflichkeitsregeln stellen ein wichtiges Prinzip für den sozialen Umgang untereinander dar, das im wesentlichen durch die Sprache und durch zwischenmenschliche Kommunikationsformen aufrechterhalten wird. Demnach muß jede bekannte oder fremde Person mit Herzlichkeit begrüßt werden, um auf diese Weise ihr gegenüber Respekt zum Ausdruck zu bringen. Nur wer sich für jemand Besseres hält, ist respektlos und grüßt nicht. Ein solches Fehlverhalten wird mit dem Sprichwort "Ein Hund ist gerade vorbeigekommen"

kommentiert. Dieser Spruch bringt zum Ausdruck, daß es sich bei dem nicht grüßenden offenbar nicht um einen vollwertigen Menschen, sondern nur um ein Tier, also nicht um ein Mitglied der Gemeinschaft, gehandelt haben kann. Wenn jemand jedoch herzlich begrüßt wird, dann heißt es: "Er rührt mich so, daß ich gar nicht weiß, wie ich darauf antworten soll".

Für die Aymara zeichnen sich besonders Fremde durch Nichteinhaltung der Höflichkeitsrituale und damit durch Respektlosigkeit aus. Im Wertsystem der Aymara handelt es sich daher auch bei Fremden um nicht vollwertige Menschen. Auf diese Weise wird die integrierende Funktion der Regeln der Ehrerbietung in bezug auf die Gemeinschaft und die ethnische Gruppe, sowie die abgrenzende Funktion dieser Regeln nach außen deutlich. Das Einhalten der Verhaltensnormen im Zusammenhang mit der Ehre, dem Respekt und der Bewertung einer Person hat für die soziale Interaktion und Kommunikation unter den Aymara Symbolcharakter, da sie die Integration und die Zugehörigkeit des Individuums in die Gemeinschaft bzw. dessen Ausgrenzung regelt. Eine Nichteinhaltung bedeutet Sanktion oder Mißachtung, die einem Ausschluß und einer großen Schande sowie einer ethnischen Selbstausgrenzung gleich kommt. Der Ehre innerhalb der Gemeinschaft steht die Menschenwürde außerhalb der Dorfgemeinschaft gegenüber, die durch die Diskriminierung der Aymara in der dominanten städtischen Lebenswelt verletzt wird. Viele Aymara versuchen daher, außerhalb ihrer Dorfgemeinschaften ihre Herkunft zu leugnen und eindeutige ethnische Symbole wie Sprache, Trachtenkleidung oder Speisen abzulehnen, um sich der Diskriminierung und Nichtachtung ihrer Menschenwürde zu entziehen.

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2.3.2. Der Frauentausch, die Heiratsregeln und die Ehre Der Frauentausch ist ein Mechanismus, der zur Erweiterung der Komplexität von Gesellschaften beiträgt, die vor allem durch Verwandtschaftsbeziehungen organisiert sind. Habermas (1995b: 240) erklärt diesen Differenzierungsprozeß folgendermaßen: "Da die relativ kleinen, mit einfachen Technologien arbeitenden Familienverbände eine ähnliche Struktur aufweisen und nur ähnliche Produkte erzeugen, kann der Austausch nicht in erster Linie wirtschaftlich motiviert sein. Vielmehr muß ein normativer Zwang bestehen, der die Autarkie, d.h. die Selbstbefriedigung durch Konsumtion eigener Güter und Leistungen verhindert und zum Austausch auch von solchen Produkten nötigt, die ihres Gebrauchswertes wegen eigentlich nicht getauscht werden müßten. Dieser Bedingung genügt die exogame Heirat, die in das Prinzip verwandtschaftlicher Organisation eingebaut ist. Sie läßt sich als Norm verstehen, die den Tausch von heiratsfähigen Frauen erzwingt. Die durch Heirat hergestellten bilateralen Beziehungen stiften ein Netz von dauerhaften Reziprozitäten, die sich in der Folge auch auf Gebrauchs- und Wertgegenstände, auf Dienstleistungen, immaterielle Zuwendungen und Loyalitäten erstrekken".

Wie inzwischen sozialhistorische Studien gezeigt haben, war die exogame Heirat auch in Europa sogar über bäuerliche Gesellschaften hinaus bis in den Adelsstand weit verbreitet (vgl. Opitz 1988: 116-149). Die Abstammungsgruppen bilden das Bezugssystem für die prinzipiell exogamen Heiratsregeln. Frauen werden zwischen Familien mit verschiedenen Abstammungen getauscht. Bis heute werden die meisten Ehen der ländlichen Aymara von Puno noch von den Eltern arrangiert und Mädchen auch weiterhin vorzugsweise mit einem Jungen aus einer anderen - in den meisten Fällen - benachbarten Dorfgemeinschaft verheiratet. Dabei waren und sind vor allem Aspekte wie die Besitzverhältnisse beider Familien und ihre Strategien zur Erhaltung oder Vergrößerung des Landbesitzes ausschlaggebend. Früher hing der Ehrstatus von Familien innerhalb der Dorfhierarchie auch wesentlich vom Fleiß und von den Fähigkeiten der Familienmitglieder als Arbeitskräfte ab. Sie werden mit Hilfe der Eheschließung zwischen Partnern aus dem gleichen Dorf oder aus Nachbardörfern verfolgt, um die Kontrolle der Gemeinschaft über den Landbesitz nicht zu verlieren. Im Rahmen zunehmender sozialer Differenzierungsprozesse verliert der immer knappere Landbesitz jedes Einzelnen gegenüber dem Viehbesitz jedoch langsam an Bedeutung. Allerdings wird heute die von den Frauen als "Zwangsheirat" bezeichnete Praxis der Heiratsvermittlung seltener und vor allem von Frauen hinterfragt. Sie weicht langsam einer Variante, in der nicht die Eltern des Mannes nach der Heiratsvermittlung, sondern der Mann selbst auf eigene Initiative bei den Eltern der

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Frau um ihre Hand anhält. Nur bei allseitigem Einverständnis ist es jedoch empfehlenswert zu heiraten. Kommt dieses Einverständnis beider Elternpaare und Familienverbände nicht zustande, bleibt nur die Form der Brautentfuhrung, die jedoch später zu großen, in den nächsten Kapiteln noch näher beschriebenen, Komplikationen fuhren kann. Früher wurden im Rahmen der materiellen Funktion der Ehe Personen aus Dörfern unterschiedlicher ökologischer Zonen miteinander verheiratet, um die Kontrolle über mehrere Naturlandschaften zu gewährleisten und die Produktion zu diversifizieren. Im Raum von Chucuito, in dem diese Untersuchung durchgeführt wurde, ist die Kontrolle über mehrere ökologische Zonen jedoch heute selten und durch das System der Hazienden weitgehend aufgebrochen geworden. Der Norm entsprechend müssen die Eltern des Mannes formal bei den Eltern des Mädchens um ihre Hand bitten, ebenso wie der zukünftige Ehemann. Diese Praxis verändert sich zunehmend in dem Maße, wie den Heiratskandidaten langsam ein Mitentscheidungsrecht eingeräumt wird. Der große Bevölkerungsdruck hat zu einer so extremen Parzellierung des Landes geführt (bis zu 20 Parzellen pro Familie), daß diese auch durch die erneute Zusammenlegung von Landbesitz durch Zwangsheirat nicht aufgehalten werden kann (insbesondere dann, wenn mehr als zwei Erben pro Familie vorhanden sind). Die Relevanz des Landbesitzes für die Überlebensstrategien ist durch Knappheit und unzureichende Subsistenz ebenfalls zunehmend in Frage gestellt. Die Solidarität reicht einerseits weit über den geografischen Raum der Dorfgemeinschaft selbst hinaus und auch in der Stadt suchen die Mitglieder Arbeit für ihre Landsleute (paisanos). Andererseits befindet sich das System der Reziprozität mit der Übernahme von Pflichten gegenüber Witwen und Waisen in der Krise. Carter und Albö sprechen von einer zunehmend endogamen Tendenz (Carter u. Albo 1988: 470) bei heutigen Heiratsstrategien von Migranten und Migrantinnen ohne Lebensmittelpunkt in der Dorfgemeinschaft, die ihrerseits mit der Dorfkontrolle über den Land- und Viehbesitz verknüpft sind.

2.3.3. Männliche und weibliche Symbole, Mythen und Rituale Das mythische Weltbild nimmt dem Individuum die Verantwortung für sein oder ihr eigenes Handeln weitgehend ab, da die Angst vor Naturgewalten, ihren Strafen u.ä. den individuellen Handlungsspielraum stark einschränkt, Natur, Gesellschaft und Individuum miteinander verbindet und subjektive sowie objektive Tatbestände miteinander verschmelzen läßt. Giddens (1996: 133) hat darauf verwiesen, daß religiöse Vorstellungen und Praktiken Moral und Emotion in eins setzen. Viele Traditionen haben die Natur personalisiert und den Geschlechtern zugeordnet. Zwischen Natur und Gesellschaft werden Analogien hergestellt, die

82 Ereignisse in der Gesellschaft mit Vorkommnissen in der Natur als Folge davon in Verbindung setzen und die kognitiven Strukturen prägen (vgl. Bourdieu 1988). Menschen müssen in einen ständigen reziproken Austausch und Kommunikationsprozeß mit den Mächten der Natur treten, von denen angenommen wird, daß sie der Welt der Menschen über- bzw. untergeordnet sind. Für Giddens ist aber gerade die Personalisierung der Natur Ausdruck ihrer wirklichen Unabhängigkeit vom Menschen, ihrer Funktion als Quelle eines abseits der Menschheit sich vollziehenden Wandels und Erneuerung, der auf den Menschen Einfluß nimmt. Symbolische und mythische Kategorien zur Erfassung von Raum, Zeit und Geschichte werden durch Erzählungen und Mythen zum Ausdruck gebracht und als orale Tradition über die Generationen weitergegeben. Verschiedene Interviewpartnerinnen bringen zum Ausdruck, daß früher in der Vergangenheit, über die nur wenig bekannt sei und die weitgehend im Dunkeln liege, die Aymara primitiv und ignorant gewesen seien, daß sie sich heute jedoch als rational und bewußt betrachten. Dem Weltbild der Aymara entsprechen Verhaltensnormen in bezug zur Natur und zur Verbindung zu den übernatürlichen Kräften. Die Nichterfüllung dieser Normen bedeutet die Zerstörung der Natur und der menschlichen Beziehungen zu diesen übernatürlichen Kräften und riskiert eine Bestrafung in Form von Unwettern oder Katastrophen. Die Pflicht jedes Aymara besteht darin, die heilige Ordnung des Kosmos zu respektieren und sich dementsprechend zu verhalten, da er oder sie sonst sich und die anderen in Gefahr bringt. Das Heilige ist permanent mit allen Aspekten der Lebenswelt der Aymara verknüpft. Die andine Religion hat einen pragmatischen und handlungsorientierten Charakter. Der Dualismus zwischen christlichen (sowohl katholischer als auch protestantisch-fundamentalistischer Art) und eigenen nicht christlichen Religionen ist so ausgeprägt, daß das Weltbild beide untrennbar integriert hat, sie jedoch weiterhin voneinander unterscheidet. So werden christliche Feiertage mit andinen Produktions- und Fruchtbarkeitsriten begangen und andine rituelle Handlungen mit Weihrauch und christlichen Gebeten begleitet. Trotzdem handelt es sich um parallele Vorstellungen, die deutlich voneinander trennbar sind. Die religiösen Praktiken überlappen sich jedoch häufig, so daß der Eindruck einer Verschmelzung entsteht, die tatsächlich nicht stattgefunden hat. Die Religiosität der Aymara ist von rituellen Handlungsstrukturen und von Herzlichkeit geprägt, die von einer korrigierenden Hand geleitet werden, vor der alle Angst haben. Deshalb wird versucht, mit rituellen Opfergaben für die schützenden Wesen auf ihre Stimmung Einfluß zu nehmen. Bei den religiösen Wesen kann es sich um Seelen und Geister männlicher oder weiblicher Vorfahren handeln, die alles ständig beobachten, hören und sehen, schützen, aber auch bestrafen. Die Beziehung zwischen andinen religiösen Instanzen und Menschen ist ebenso wie die Beziehung zwischen Menschen durch Reziprozität geprägt (Ba-

83 stien 1978). Die mächtigen religiösen Wesen und Seelen der Ahnen haben positive oder negative Stimmungen, die durch normenkonformes oder inkonformes Verhalten und durch rituelle Handlungen beeinflußt werden können. Sie müssen nach Möglichkeit bei guter Laune gehalten werden, um Naturkatastrophen zu vermeiden und eine gute Ernte zu ermöglichen. Das Leben beider Geschlechter ist eng mit dem Land verbunden und die Lebenswelt der Aymara hat eine starke Verbindung zum kosmischen Element der Erde. Das Land stellt einen zentralen sowohl materiellen als auch spirituellen Wert dar und ist bis heute die Daseinsberechtigung für die ländliche AymaraBevölkerung, deren physische, emotionale und soziale Stabilität vom Land abhängt. Ohne Land ist ein Mensch nichts, hat keine Wurzeln, wird instabil und kann sich nicht reproduzieren. Die Verfugung über Land sollte erhalten und vergrößert werden und darum wird sowohl in individueller, als auch in kollektiver Form gekämpft. Das Land darf folgendem Sprichwort zufolge nicht verkauft werden: "Das Land ist keine Kleidung, die verkauft werden kann".

Die Frauen und das Land sind symbolisch miteinander verbunden. Beide müssen als fruchtbare Wesen gegenüber Dieben und Angriffen Unbefugter verteidigt werden. Auf diese Weise werden die Grenzen des Heiligen und der Abstammungslinien markiert. Es besteht eine mystische Beziehung zwischen den Aymara und ihrem Land. Das Land wird durch die pachamama, ein Symbol für Fruchtbarkeit und Großzügigkeit, repräsentiert. Allen göttlichen Wesen wird normalerweise ein Geschlecht zugeschrieben. Die pachamama (Mutter Erde) ist weiblich, der Regen und der Blitz männlich, die Berge je nach ihrer Form, ihrem Aussehen und der Überlieferung weiblich oder männlich. Jede Dorfgemeinschaft oder mehrere Nachbardorfgemeinschaften gemeinsam haben einen heiligen Berg in der Nähe, auf dem zu bestimmten Anlässen Opfer und Rituale für die heiligen Bergwesen durchgeführt werden, sowie männliche und weibliche religiöse Berginstanzen von größerer regionaler Bedeutung wie z.B. den Berggott Misti in Arequipa oder die Berggöttin Sajama in Bolivien. Um die Balance zwischen dem Guten und dem Bösen und zwischen dem Übernatürlichen und der realen Welt aufrechtzuerhalten sind die Schamanen als Vermittler nötig, wie die yatiris, die paqus, layqa oder qulliri. Die normalerweise männlichen Schamanen sind heute vor allem Heiler von Krankheiten, die für ihre Dienstleistungen bezahlt werden müssen. Die Auswirkungen der Christianisierung der Aymara und ihr großer Einfluß haben zum Verschwinden mächtiger religiöser Führer durch gezielte Verfolgung gefuhrt. Der religiöse Dualismus beinhaltet jedoch nach wie vor die Angst vor den Naturgewalten, die durch die Abhängigkeit der Landwirtschaft von den klimatischen Verhältnissen eine wichtige materielle Basis hat.

84 Das Dorffest ist ein sozialer und religiöser Anlaß von großer Wichtigkeit, der von allen Mitgliedern des Dorfes erwartet wird, da es kommunikative Handlungsmöglichkeiten eröffnet und wichtige Lebensentscheidungen prägt. Feste sind ein besonderer Moment, in dem die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zum Ausdruck kommt, sie bilden die Gelegenheit für alle zu einer freundschaftlichen oder verbindenden Verständigung und zur Erinnerung an gegenseitige Verpflichtungen. Mit Musik und Tanz kommt die Bewunderung für die religiösen Wesen, zunehmend aber auch die interne Differenzierung im Dorf zum Ausdruck, die u.a. durch die Kleiderpraxis, die Gastfreundschaft und mit folgendem Sprichwort unterstrichen wird: "Wenn es kein Fest gäbe, dann würden wir uns keine Mühe um gutes Essen und gute Kleidung machen".

Feste werden heute jedoch immer seltener und nicht mehr alle Dorfmitglieder nehmen an ihnen teil. Migranten, die von weit her zu Besuch kommen, übernehmen häufig einen großen Teil der Finanzierung der Feste, um ihren Ehr- und Mitgliedsstatus innerhalb der Gemeinschaft und damit ihren Zugang zu Landbesitz zu erhalten oder zu verbessern. Gleichzeitig findet eine Art Folklorisierung der Feste statt, die mit Prozessen der Sinnentleerung von Praktiken und Symbolen einher geht. Die Heirat als zentrale Zeremonie erfordert besondere Rituale und ist ein großes festliches Ereignis. Der Heiratsritus ist bis heute weitgehend unverändert geblieben. A m Tag der Heirat sind alle Familienmitglieder eingeladen und bringen Geschenke mit. Das Fest dauert mehrere Tage. Heute werden Hochzeiten aus Kostengründen häufig mit anderen Festen zusammengelegt.

85

3.

Der empirische Zugang

Ein Teil des empirischen Materials für die vorliegende Untersuchung entstand im Rahmen meiner Mitarbeit als Entwicklungshelferin des DED in einem Erwachsenenbildungs- und Kommunikationsprojekt mit Aymara-Frauen in Puno zwischen 1988 und 1990.1 Während dieses Zeitraums wurden kollektive Gespräche mit Aymara-Frauen aus mehreren Pilotdörfern des Projekts entweder als Teil des Bildungsprogramms zu umfangreichen Themen, oder aber als gezielte Beiträge für partizipative Radioprogramme von Frauen für Frauen aufgenommen, die auf Aymara zweimal wöchentlich gesendet wurden2. Frauen aus verschiedenen Dorfgemeinschaften führten die Aufnahmen selbst durch. Das Archiv dieser Aufnahmen diente als Ergänzung zu ihrer oralen Tradition und als Gedächtnisstütze für Analphabeten sowie als Dokumentation für die Dorf- und Frauenorganisationen. Die kollektiven Interviews sind Teil unveröffentlichter Dorf- und Institutionsarchive, zu denen ich durch meine langjährige Mitarbeit im Projekt uneingeschränkten Zugang hatte. Das Material ist jedoch so umfangreich, daß es bisher nicht systematisch ausgewertet werden konnte. Das eigentliche empirische Material der vorliegenden Untersuchung besteht aus strukturierten, lebensgeschichtlichen Interviews mit siebzehn Frauen und vier Männern unterschiedlicher Altersgruppen aus verschiedenen Aymara-Dorfgemeinschaften im Departement Puno, die auf meine Initiative zwischen 1992 und 1994 von meiner ehemaligen langjährigen Arbeitskollegin Rosa Palomino Chahuares nach meinen Vorgaben durchgeführt und aufgenommen wurden. Auf diese Weise entstanden lebensgeschichtliche Erzählungen, die zunächst sorgfaltig auf aymara transkribiert und von zweisprachigen Übersetzerinnen und Übersetzern in die spanische Sprache gebracht wurden.

1

Das Projekt wurde von der Nichtregierungsorganisation (NRO), ILLA, Centro de Educación y Comunicación im Department Puno mit den Pilotdorfgemeinschaften Tanapaca (im Bezirk von Acora) und Tarapoto (im Bezirk von Huacullani) durchgeführt. Vorher arbeitete ich seit 1983 in einem Projekt mit andinen Landfrauen der N R O TEC1RA in Puno.

2

Das Radioprogramm wurde von den beteiligten Aymara-Frauen aus Tarapoto auf Aymara "Sank'ay Panqara" (auf deutsch "Kaktusblüte") genannt, ein Symbol für eine schön gekleidete und fruchtbare Frau. Es wird seit 1988 in Puno, Peru, im Radio Onda Azul und in La Paz, Bolivien, im Radio San Gabriel gesendet und ist bisher das einzige Radioprogramm in Peru und in Bolivien, das sich an Aymara-Landfrauen und ihre Familien wendet und von Aymara-Frauen selbst mitgestaltet wird.

86

3.1. Die Forschungssituation mit Landfrauen in Puno Der Zugang zu Aymara-Frauen auf dem Land in Puno ist bis heute durch bereits erwähnte, vielfaltige Aus- und Abgrenzungsmechanismen sehr schwierig. Diese Tatsache führte dazu, daß die im Zusammenhang mit der Untersuchung notwendigen Entscheidungen, die Organisation und schließlich die Erhebung des empirischen Materials erst nach einem langjährigen Prozeß bewältigt werden konnten. Weite Entfernungen, anstrengende schlechte Reisewege sowie sprachliche und kulturelle Barrieren stehen der Verständigung, dem gegenseitigen Verständnis und einem vertrauensvollen Dialog zwischen Aymara-Frauen und Außenstehenden im Weg und setzen viel Zeitaufwand voraus. Bei dem Versuch eines vertrauensvollen gegenseitigen Kontakts zwischen Nicht-Aymara und Aymara sind so viele Hürden zu überwinden, daß sich selbst staatliche, private oder kirchliche Institutionen vor Ort damit bis heute schwer tun und einer Kontaktaufnahme häufig ausweichen. Wenn es darum geht, mit Frauen in Dorfgemeinschaften in Kontakt zu treten, sind Voreingenommenheit und Vorurteile besonders weit verbreitet. Argumente über die angeblich konservative Haltung der andinen Landfrau gegenüber jeder Art von Veränderung oder ihre angeblich unkritische konformistische Einstellung, von der das weibliche Weltbild geprägt und eingeschränkt werde, sind auch heute noch in Entwicklungskreisen und bei Behörden vor Ort zu hören und verhinderten neben der Vorstellung, andine 'traditionelle Kulturen' dürften nicht verändert werden, bisher einen näheren Kontakt mit der sozialen Gruppe der Aymara-Frauen oder mit anderen Landfrauen im Andenraum. Darüber hinaus wird das bereits in der Einleitung erwähnte und weit verbreitete Vorurteil, andine Kulturen seien komplementär und egalitär und Frauen würden die Meinungen ihrer Männer ohnehin beeinflussen und daher indirekt auch an Entscheidungsprozessen innerhalb der Familie und innerhalb der Gemeinschaft partizipieren, gerne herangezogen, um Landfrauen weiter auszugrenzen und sich gar nicht erst die Mühe zu machen, mit ihnen in direkten Kontakt zu treten. Schließlich werden Aymara-Frauen auf dem Land eher als schweigsam, mißtrauisch und unzugänglich empfunden und ihre Denk-, Lern- und Handlungsfähigkeit wird angezweifelt. Ländliche Aymara in Puno machen Fremden gegenüber einen verschlossenen, abweisenden Eindruck und geben das Bild einer in sich geschlossenen Gesellschaft ab. Insbesondere Frauen setzen sich durch Kleidung, Sprache und soziale Praxis ausdrücklich von der Außenwelt ab. Der Kontakt zwischen Aymara und Nicht-Aymara und zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen Perus ist durch die Kolonialgeschichte und durch historische gewaltgeprägte Bezüge stark belastet und eingeschränkt. Die Unterordnung und Abwertung der Lebenswelt der ländlichen Aymara durch die dominante städtische Lebenswelt in Peru fuhrt

87 dazu, daß auch Aymara-Männer vom Land nur über ein geringes Selbstwertgefuhl verfugen und gegenüber Fremden eine tendenziell unterwürfige Haltung einnehmen. Auch heute noch werden Aymara in Peru gesellschaftlich verachtet und diskriminiert. Der Kontakt zu Aymara-Frauen in Dorfgemeinschaften ist besonders schwierig, da sie durch vielfaltige Mechanismen von der städtischen Lebenswelt ausgegrenzt werden. Hier sollen vor allem vier dieser Mechanismen genannt werden: die Sprach- und die Kleidungsbarriere und das damit verbundene mangelnde Selbstwertgefuhl und die eingeschränkte Dialog- und Verhandlungsfahigkeit von Aymara-Frauen. Aymara-Landfrauen in Puno sind mehrheitlich einsprachig, wenige verstehen etwas Spanisch, können die Sprache aber oft nicht sprechen, lesen oder schreiben. Bis heute gehen wesentlich weniger Mädchen als Jungen zur Schule. Aymara-Frauen sind es nicht gewohnt, daß sich jemand für ihre Meinung interessiert und ihnen zuhört. Ihnen wird schon als Mädchen beigebracht zu schweigen, den Eltern und älteren Geschwistern gegenüber gehorsam zu sein und Fremden aus dem Weg zu gehen. Mißtrauen, Zurückgezogenheit, soziale Kontrolle, weitverzweigte Siedlungsformen und Isolation tragen dazu bei, sie zunächst von Kontakten mit Fremden abzuhalten. Angst vor Erniedrigung und Diskriminierung, sowie der bereits erwähnte geringe Zugang zur Schulbildung und zur spanischen Sprache sind andere Gründe, die sie aus der nationalen peruanischen Gesellschaft ausgrenzen und ihr Selbstwertgefuhl beeinträchtigen. Durch ihre Tracht unterstreichen die Frauen ihre Andersartigkeit noch einmal ganz besonders und grenzen sich damit selbst von der Außenwelt ab. Fragen und Ängste im Zusammenhang mit Kommunikationsschwierigkeiten mit AymaraFrauen entstehen jedoch nicht nur bei Ausländerinnen, sondern auch bei peruanischen Nicht-Aymara Frauen unterschiedlicher ethnischer und geographischer Herkunft. Sie durchziehen die peruanische Gesellschaft, die aus vielen verschiedenen, den dominanten städtischen Werten und Nonnen jeweils untergeordneten und voneinander abgegrenzten ländlichen Lebenswelten besteht. Die Kommunikation zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, Kulturen und Lebenswelten ist gestört, weil sie verschiedene Sprachen sprechen, sich unterschiedlich kleiden, sich an unterschiedlichen Wertsystemen orientieren und sich gegenseitig voneinander abgrenzen oder verachten.

3.2. Der Standort der Forscherin Für mich als Frau, als Deutsche, als Soziologin und Altamerikanistin mit feministischen Erfahrungen stand zunächst einmal das Problem der kolonialistischen Situation einer weißen Forscherin gegenüber den zu erforschenden AymaraFrauen in Puno im Vordergrund. Ich begab mich daher auf die Suche nach einem

88 Weg, die Interviewpartnerinnen soweit wie möglich zu aktiven Subjekten eines gemeinsamen und damit weniger ungleichen Prozesses zu machen und ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen. Der Wunsch, das ungleiche Verhältnis zwischen Forscherin und Erforschten auszugleichen oder wenigstens zu verringern, führte zu der Frage, wie es zur Sammlung und Auswertung von empirischen Daten als einem gemeinsamen und schöpferischen Prozeß kommen könnte, der allen Beteiligten nützt. Das Ergebnis des Umgangs mit dieser unlösbaren Situation führte zu einer Arbeits- und Lebenserfahrung, die weit über den Forschungsprozeß hinausging und stark durch den Wunsch der Forscherin geprägt war, ihren eigenen Erfahrungshorizont zugunsten eines besseren Verständnisses und eines direkteren Zugangs zu Lebensbedingungen, Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen der Aymara-Frauen zu erweitern. In dem Maße, wie mir der Dorfalltag der Aymara durch die Arbeit in zwei Entwicklungsprojekten zwischen 1983 und 1990 bekannter und vertrauter wurde, trat das Element der Exotik und Fremdheit zunehmend in den Hintergrund. Dafür waren Faktoren wie Zeit, Teilnahme am und Beobachtung des Lebens sowie Engagement und Einsatz für die Anderen nötig. Die Mitarbeit in Projekten, die sich an Landfrauen richteten, ermöglichte zunächst eine Legitimation für meine Anwesenheit und eine Zuordnungsmöglichkeit für die Menschen um mich herum, sowie den direkten kontinuierlichen Kontakt und die Zusammenarbeit mit Aymara-Frauen und machte mich schließlich zu einer aktiv Beteiligten und mit den Interviewpartnerinnen so Vertrauten, daß es mehrere Jahre dauern sollte, bis diese Nähe sich erneut in eine gewisse Distanz zum eigenen Engagement gegenüber den Frauen und Männern in den Dörfern und im Projekt gewandelt hatte, die Voraussetzung für die Beendigung dieser Forschung war. Der Wunsch, dem möglichst authentischen Weltbild der Aymara-Frauen ein Stück näher zu kommen, blieb jedoch trotz des intensiven persönlichen Arbeitskontakts zu vielen der Frauen, deren Lebensgeschichten in dieser Arbeit ausgewertet werden, auch nach Jahren noch schwer in die Tat umzusetzen. Am Ende meiner insgesamt sechsjährigen Projekttätigkeit im Raum von Puno war mir klar geworden, daß die ungleiche, hierarchische Forschungssituation und das Machtverhältnis zwischen Forscherin und Erforschten auch durch ein persönliches Vertrauensverhältnis und gemeinsame Projekterfahrungen nicht zu überwinden ist. Denn auch Entwicklungsprojekte sind nicht frei von ungleichen Machtverhältnissen zwischen "Beteiligten" und "Zielgruppen". Darüber hinaus war ich enttäuscht darüber, wie wenig es mir und meinen Kollegen und Kolleginnen über die Jahre gelungen war, die Logik der Aymara-Frauen und ihren subjektiv empfundenen Alltag nachvollziehen zu können. Diese Enttäuschung und der Wunsch nach einer systematischeren Auseinandersetzung mit dem Alltag der Frauen sowie die Neugier, die weibliche Wahrnehmung von sich selbst und von Ge-

89 Schlechterverhältnissen besser kennenzulernen, wurden zu meinen Hauptmotivationen für die Beendigung der vorliegenden Forschung. Unterschiedliche Interessen, Voraussetzungen und Erwartungshaltungen der Forscherin und der Befragten müssen jedoch sowohl im Verlauf der empirischen Erhebung als auch bei der Auswertung immer berücksichtigt werden. Im gesamten Forschungsprozeß und bei der Analyse des Materials ist es wichtig, sich der Beziehung zwischen den eigenen und fremden Wahrnehmungen bewußt zu werden (vgl. Nadig 1986). "Parteilichkeit und Betroffenheit" als weibliche Forscherin gegenüber Frauen als "Forschungsobjekten" allein sind keine ausreichende Grundlage für Frauenforschung (vgl. Thürmer-Rohr 1987). Um Zugang zu einem lebensgeschichtlichen Diskurs der Frauen zu erhalten, der nicht von dieser Ungleichheit und ihrer Beziehung zu mir als (wenn auch nicht mehr fremder) weißer Europäerin gefärbt sein würde, mußte ich einen Weg suchen der den Interviewpartnerinnen eine möglichst unkomplizierte Erzählsituation ermöglichte. Dazu zwangen mich auch meine zu geringen AymaraKenntnisse, denn nur mit Hilfe der Obersetzung durch eine dritte zweisprachige Person mit Aymara- und Spanischkenntnissen wäre eine direkte Erhebung der Interviews mit ausreichender Verständigung möglich gewesen. Nun ist die Erzählung von Lebensgeschichten jedoch immer sehr stark von den Bedingungen der Situation geprägt, in der sie gesprochen werden und findet im Blick auf ein bestimmtes zuhörendes Publikum und dessen Vorstellungen statt. Meine Angst vor Mißverständnissen, vor unrealistischen Erwartungshaltungen und Ängsten auf beiden Seiten und vor stark gefärbten Antworten mir gegenüber war daher groß. Schließlich führte methodische Kreativität zu dem Entschluß, die Interviews nicht selbst durchzuführen, sondern von einer Aymara-Frau mit Muttersprache Aymara und in - wenn auch moderner - Tracht der Interviewpartnerinnen durchführen zu lassen. Die Möglichkeit, die Interviews als Teil der Projektarbeit für ein potentielles Aymara-Publikum entstehen zu lassen, erleichterte die Dokumentation eines authentischen Diskurses der Frauen. Hätte ich die Interviews direkt durchgeführt, dann wären die Antworten durch meine Anwesenheit als "weiße Deutsche" beeinflußt worden. Daher wurden die Interviews direkt von meiner Mitarbeiterin, einer zweisprachigen Aymara-Kollegin, durchgeführt, die jedoch selbst nie die Möglichkeit hatte, ein Universitätsstudium anzutreten. Noch während unserer Zusammenarbeit im Entwicklungsprojekt konnten wir sie dazu motivieren, als erwachsene Frau mit vier Kindern im mühseligen Abendstudium noch neben der Arbeit ihren Sekundarschulabschluß nachzuholen. Die Hierarchie zwischen Fragender und Befragter und die außergewöhnliche Interviewsituation konnten trotzdem nicht überwunden werden. Die Texte der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner sind von der Tatsache geprägt, daß meine Kollegin Rosa trotz ihrer ländlichen Aymara-Herkunfit, ihrer Trachtenklei-

90 dung und ihrer Muttersprache Aymara in der Stadt Puno lebt, zweisprachig und als Mitarbeiterin eines Entwicklungsprojekts berufstätig ist und Geld verdient. Ihr Zugang zu den Interviewpartnerinnen ist zwar durch ein über viele Jahre der Zusammenarbeit entstandenes vertrautes und entspanntes Verhältnis geprägt, das zum Zeitpunkt der Interviewerhebung schon einige Krisensituationen und Mißverständnisse überstanden hatte. Diese Vertrautheit führt jedoch gleichzeitig dazu, daß in den narrativen Lebensgeschichten eine Reihe von Voraussetzungen und Sinnstrukturen als gegeben und verständlich vorausgesetzt werden, die im Nachhinein von mir etwas mühselig entschlüsselt werden mußten. Sie ermöglichte es den Frauen jedoch, freier eigene Akzente zu setzen und sich weniger für von ihnen eher als normal empfundene Umstände rechtfertigen zu müssen, als wenn sie mir als weißer Deutscher die Interviews gegeben hätten. Erleichternd für die Interviewsituation war der Kontext der partizipativen Radioproduktion mit Aymara-Frauen. Die meisten Interviewpartnerinnen waren es zum Zeitpunkt der Interviewerhebung gewöhnt, selbst ein Mikrophon und einen Kassettenrecorder in die Hand zu nehmen und andere Personen zu interviewen, oder selbst ins Mikrofon zu sprechen und sich hinterher im Radio wieder sprechen zu hören. Ihnen war die Interviewsituation als solche daher nicht neu. Ungewöhnlich war aber das Interesse an ihrer Lebensgeschichte, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben erzählten. Aufgrund meiner langjährigen Lebens- und Arbeitserfahrung in Puno empfinde ich kaum das Bedürfnis, mich dafür zu rechtfertigen, warum ich über AymaraFrauen und Aymara-Männer geforscht habe. Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich auch um eine Art Aufarbeitung eines eigenen für mich sehr wichtigen Lebensabschnitts. Dieser Prozeß der Aufarbeitung ist durch eine permanente kritische Hinterfragung der eigenen Wahrnehmung und Erklärungsmuster und durch die wiederholte Entdeckung und das Erschrecken darüber geprägt, auch selbst nicht von Vorurteilen oder vorherrschenden Meinungen frei und vor Ort üblichen Erklärungen aufgesessen zu sein. Dazu gehört die sich immer wieder einschleichende Dichotomie von Erklärungen (was ist traditionell, was ist modern?) ebenso, wie die Hinterfragung dessen, was denn eigentlich das "spezifisch Andine" ausmacht. Da ich selbst weder vom Land komme noch katholisch bin, noch das Land Spanien und seine Traditionen besonders gut kenne, kam mir vieles "spezifisch andin" vor, was sich inzwischen entweder als christlich beeinflußt, oder als Teil von Charakteristiken ganz vieler - darunter auch europäischer - Bauerngesellschaften der Welt herausgestellt hat. Im Verlauf der Analyse der Interviewaussagen stieß ich häufig auf Details oder Begründungen, die ich mir zunächst nicht erklären konnte und die mich an einige Erfahrungen und Beobachtungen erinnerten, die sich für mich erst Jahre später während des Forschungsprozesses geklärt haben. Zwei Beispiele möchte ich hier

91 kurz erwähnen: Das erste handelt von einem Landfrauenkongreß,3 der 1985 kurz vor den Präsidentschaftswahlen vom politisch links orientierten Bauernverband der FDCP (Federación Departamental de Campesinos de Puno) mit Hilfe unserer NRO organisiert wurde. Drei Tage lang trafen sich um die 3000 Quechua- und Aymara-Frauen von weither aus dem ganzen Department Puno in der Ortschaft von Chucuito, tagten in Arbeitsgruppen unter freiem Himmel, organisierten Sportveranstaltungen und festliche Umzüge usw. und hörten sich geduldig die Reden von Bauernführern und Parteifunktionären an. Die meisten von ihnen waren seit 1983 in dörflichen Frauenorganisationen zur Kanalisierung von Nahrungsmitteldonationen, die von staatlichen oder kirchlichen Institutionen verteilt werden. Am Ende des zweiten Kongreßtages trugen die Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse vor, die in Forderungen umformuliert wurden. Meine Überraschung war groß, als eine der Hauptforderungen lautete: "Weg mit der Zwangsheirat; her mit dem Recht auf freie Partnerwahl für die Ehe". Ich konnte mir das nicht erklären, hatte ich doch Forderungen nach Strom- und Trinkwasserversorgung oder nach einkommenschaffenden Maßnahmen erwartet, die jedoch kaum vorgebracht wurden. Die Ehe in den Dorfgemeinschaften hatte auf mich immer einen sehr stabilen und wenig hinterfragten Eindruck gemacht. Die Heiratsvermittlung durch die Eltern war mir nie besonders aufgefallen, noch war sie in der bisherigen Forschung als ein besonderer Zwang dargestellt worden. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Auswertung eines Kulturaustausches im Jahre 1992 zwischen ländlichen Aymara-Frauen aus Puno und ländlichen Mapuche-Frauen aus Temuco in Chile. Ich selbst lebte zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr in Puno, sondern in Santiago de Chile. Kurz nach der Rückkehr einer Gruppe von Mapuche-Frauen aus Puno erhielt ich die Gelegenheit, mit einigen von ihnen in Temuco über ihre Eindrücke ihrer Reise nach Puno zu sprechen. Sie sagten mir, sie seien am meisten davon (negativ) überrascht worden, wie "christlich" die Aymara in Puno seien (viel christlicher als die Mapuche). Auch diese Beobachtung kam für mich völlig unerwartet und prägte sich mit einem großen Fragezeichen in meinem Gedächtnis ein. Die beiden genannten Beispiele haben mir vor Augen geführt, wie selektiv die eigene teilnehmende Beobachtung und Wahrnehmung sein kann. Erst die vorliegende Untersuchung hat mich zu den Themen der Heirat als Zwangsmechanismus gegenüber Frauen und des christlichen Einflusses auf das Wertsystem der ländlichen Aymara in Puno geführt. Beide Themen standen für mich selbst zu Beginn der Forschung nicht im Vordergrund. Der Prozeß der kritischen Auseinandersetzung mit mir selbst hat dazu geführt, mich mit mir "eher abwegig" erscheinenden Themen auseinanderzusetzen und mir meine eigene Voreingenom3

Meines Wissens handelt es sich um den einzigen Landfrauenkongreß der auf Departments-Ebene jemals stattfand. Der dort gewählte Frauenvorstand wurde vom Bauernverband systematisch ignoriert und brach wenige Monate später auseinander.

92 menheit und meine eigenen Grenzen der Wahrnehmung und Deutung im interkulturellen Kontext immer wieder vor Augen zu fuhren. Eine ganze Reihe von Ergebnissen des Forschungsprozesses sind daher unerwartet. Sie beruhen auf der Analyse der Aussagen der Interviewpartnerinnen, aber sie wurden möglichst bewußt (im selbstkritischen Sinne) aber unvermeidlicherweise auch unbewußt von meinen eigenen Interpretationen beeinflußt. Obwohl ich selbstverständlich die Forderung danach unterstütze, daß vor allem Aymara selbst ihre Kultur und Lebensform erforschen sollten, halte ich es trotzdem für legitim, eine andere Lebenswelt auch von außen zu interpretieren. Ich würde mich auch nicht dagegen wehren, wenn eine Aymara-Forscherin (oder beispielsweise eine Japanerin) den Diskurs deutscher Soziologinnen untersuchen würde. Trotzdem handelt es sich bei dieser Überlegung weitgehend um ein Konstrukt, denn gleiche Voraussetzungen für den Zugang zur Forschung gibt es noch lange nicht für eine Deutsche und für eine Aymara-Frau aus Puno. Es ist noch ein langer Weg, bis mehr Aymara-Frauen die Gelegenheit dazu erhalten werden, ihre eigene Lebenswelt zu analysieren und darzustellen. Ich hoffe, daß sie dann jedoch auf diese Arbeit zurückgreifen können und mögen. Der Zugang zu Informationen über spezifische Formen von Weiblichkeit und die Organisation von Geschlechterverhältnissen in andinen Gesellschaften, ist auch ein Beitrag zur kritischen Wissenschaft und zur Erforschung von Geschlechterverhältnissen weltweit. Er fuhrt dazu, daß wir unsere westlichen Geschlechterverhältnisse und deren Veränderungen viel stärker relativieren und ganz anders wahrnehmen können. Universelle Gemeinsamkeiten kommen ebenso ans Licht wie spezifische Unterschiede. Für mich selbst entstand im Verlauf des Forschungsprozesses ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen mir sehr vertrauten und fremden subjektiven Alltagserfahrungen der Aymara-Frauen. Durch meine langjährige Arbeitserfahrung hatte ich selbst zumindest einen teilweisen Zugang zur alltäglichen Lebenswirklichkeit der Interviewpartnerinnen, der für die Auswertung der Interviews einen wichtigen Hintergrund bildet. In dieser Forschung geht es jedoch nicht darum, von außen, sondern aus der Perspektive von innen die Alltagserfahrungen der Interviewpartnerinnen zu rekonstruieren. Die Erzählerinnen geben mit ihren Lebensgeschichten nicht ihre Lebenswirklichkeit wieder, sondern wie sie selbst ihr Leben wahrnehmen. Es handelt sich dabei also um einen weiblichen Diskurs, der ein Bild der Realität konstruiert und es ermöglicht, die Wahrnehmung weiblicher alltäglicher Wirklichkeit und ihren Einfluß auf das Handeln von Aymara-Frauen zu rekonstruieren. Dabei geht es auch nicht darum, ob die befragten Frauen und Männer für die Aymara von Puno sozial repräsentativ sind. Die einzelnen Frauen kombinieren mit ihren Lebensverläufen und Lebensinterpretationen Elemente, die als sozialund geschlechtsspezifische Muster auch kollektiv gewußt und gelebt werden.

93 Auch wenn Einzelschicksale einander gegenüber gestellt werden, so handelt es sich doch nicht um die Analyse von Einzelfallen und individuellen Handlungsmöglichkeiten. Vielmehr kommen weibliche Lebensentwürfe zum Vorschein, die Aufschluß über kollektive Handlungsräume von Aymara-Frauen im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten und Wertsystemen geben.

3.3. Die Auswahl der qualitativen biographischen Methode der narrativen Interviews Das Sammeln von Lebensgeschichten ist eine der ältesten Methoden der sozialwissenschaftlichen Forschung. Narrative Interviews bergen einen Schatz von persönlichen Alltagserfahrungen, Sinnkategorien und Subjektivität. Sie geben auch Aufschluß über soziale Strukturen, soziale Praxis und Institutionen. Lebensgeschichten geben umfangreiche Informationen sowohl über unpersönliche kollektive Prozesse als auch über Subjektivität. Eine Lebensgeschichte ist ein Projekt im Kontext einer bestimmten Lebenswelt unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und einer sozialen Praxis, die durch die individuelle und kollektive soziale Praxis wiederum verändert und neu geschaffen wird. Lebensgeschichten haben immer etwas mit der Schaffung von Lebenswelten in der Zeit zu tun. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte. Lebensgeschichten sind besonders für die Untersuchung sozialen Wandels geeignet (vgl. Connell 1995). Bei der Entscheidung für strukturierte narrative Interviews mit Aymara-Frauen mit chronologisch lebensgeschichtlichem Aufbau stand zunächst der Wunsch im Vordergrund, überhaupt Zugang zum Diskurs der zum Schweigen verurteilten sozialen Gruppe der ländlichen Aymara-Frauen von Puno und zu ihrer Subjektivität zu erhalten. Dabei sollte der These nachgegangen werden, daß ländliche Aymara-Frauen im Süden Perus über einen bisher noch weitgehend unbekannten kritischen weiblichen Diskurs verfugen, der von den dominanten Normen - der Aymara-Kultur einerseits und der nationalen Gesellschaft andererseits - und vom männlichen Diskurs abweicht und der ihre Unterordnung innerhalb der Geschlechterverhältnisse beider Lebenswelten sowohl dokumentiert als auch hinterfragt. Die Dynamik der Geschlechterverhältnisse und der weiblichen Identitäten in einer spezifischen Lebenswelt ist vor allem im lebensgeschichtlichen Kontext von Alltagserfahrungen rekonstruierbar. Anhand dieser Rekonstruktion von gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Verhältnissen und von zeitgeschichtlichen Erfahrungen aus weiblicher Sicht sollen Aussagen gemacht werden, die über die Lebensgeschichte eines einzelnen Menschen hinausgehen (vgl. Agha 1997).

94

3.4. Die Kriterien für die Auswahl der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner Die Mehrheit der Interviewpartnerinnen lebt in den Pilotdörfern des Entwicklungsprojekts in Puno. Die Auswahl der Pilotdörfer sollte eine Vergleichbarkeit von systematischen Projekterfahrungen zwecks Replizierbarkeit in größerem Rahmen ermöglichen und verschiedene Kontexte, alltägliche Erfahrungen und Lebens- und Praxisformen durch die Anpassung an ökologische, klimatische, sozio-kulturelle und wirtschaftliche Bedingungen aus weiblicher Sicht einander gegenüberstellen. Folgende Kriterien wurden bei der Auswahl der Pilotdorfgemeinschaften berücksichtigt: Sie sollten derselben Region der Aymara von Puno im südlichen Altiplano Perus angehören, um eine geographische und kulturelle Eingrenzung und wesentliche Gemeinsamkeiten zu ermöglichen. Sie sollten in unterschiedlicher Entfernung von der Stadt Puno gelegen sein, um die Zugangsmöglichkeiten zu und Auswirkungen von unterschiedlich starken städtischen Einflüssen durch Entwicklungsagenten, Märkte und Institutionen in den Dörfern auf die Interviewpartnerinnen und ihren Diskurs miteinander vergleichen zu können. Sie sollten in verschiedenen Höhenlagen, den ökologischen Zonen des Altiplano entsprechend (am See auf ca. 4000 m Höhe, in mittlerer Höhe auf ca. 4.200 m und hoch im Gebirge auf über 4.200 bis 4.400 m Höhe) gelegen sein, um verschiedene Formen der Anpassung an klimatische und landschaftliche Bedingungen zu berücksichtigen. Verschiedene Produktionsweisen (Feldwirtschaft, kombinierte Feldwirtschaft mit Viehzucht, Viehwirtschaft) und ihre Veränderung in bezug auf die Integration in den Markt und deren Ungleichzeitigkeit in unterschiedlichen ökologischen Zonen sollten zum Vergleich miteinander vertreten sein. Unterschiedliche religiöse Einflüsse (von Adventisten und Katholiken) sollten vergleichbar sein. Frauenorganisationen und die Bereitschaft, das Interesse und die Zeit der Frauen zur Zusammenarbeit sollten vorhanden sein. Das Einverständnis der Dorfversammlungen war Voraussetzung für eine Zusammenarbeit zwischen Projektinstitution und Frauenorganisation der Pilotdörfer des Entwicklungsprojekts und damit auch für die Durchführung der Einzelinterviews. Das Kriterium der Freiwilligkeit und die Bereitschaft der Frauen, sich Zeit für die Interviews zu nehmen, standen im Vordergrund. Bei der Interviewsituation handelt es sich um ein sehr außergewöhnliches Ereignis und viele Frauen konnten sich vor den Interviews nicht vorstellen, wie stark sie durch die Erzählstruktur schließlich in ihre eigene Geschichte verstrickt werden würden. Geduldig wurden die Frauen mit Bereitschaft zum Interview von Rosa Palomino in ihrem Alltag begleitet und unterstützt, bis sich geeignete Momente für die Gespräche ergaben, die häufig sehr früh morgens oder später am Abend außerhalb des Hauses stattfanden. Es wurden Frauen zwischen zwanzig und sechzig Jahren inter-

95 viewt, um unterschiedliche Altersgruppen und Generationen zu Wort kommen zu lassen. Darüber hinaus wurden verheiratete, verwitwete und andere alleinstehende Frauen befragt sowie Frauen aus unterschiedlichen, entweder etwas relativ besseren, mittleren oder schlechteren Verhältnissen innerhalb der jeweiligen Dorfgemeinschaften 4 mit oder ohne Migrationserfahrungen. Es wurden religiösere und weniger religiöse Frauen sowie Katholikinnen und Adventistinnen einbezogen. Außerdem wurden mit einer kleinen Gruppe von Männern Gespräche geführt, die in keinem verwandtschaftlichen oder familiären Zusammenhang zu den Erzählerinnen standen. Ein wichtiges Kriterium bestand darin, daß sich Interviewerin und Interviewpartnerinnen und Interviewpartner bereits kannten und die Erzähler und Erzählerinnen schon einmal für ein Radioprogramm mit dem Kassettenrecorder und einem Mikrofon selbst umgegangen waren. Auf diese Weise konnte sichergestellt werden, daß sie bereits mit dem Gerät und der Interviewsituation als solcher vertraut waren, damit ihre Erzählungen möglichst unbeeindruckt vom Mikrofon mitgeteilt werden konnten. Insgesamt wurden siebzehn Frauen aus neun Dorfgemeinschaften und vier Männer aus vier Dörfern interviewt. Zwei der befragten Frauen leben in Dörfern in der mittelhoch gelegenen ökologischen Zone, neun in höhergelegenen Dörfern und sechs in Dörfern in Seenähe, zwei der befragten Männer leben in der mittleren Zone, ein Interviewpartner in der Seezone und ein Mann in der Kordillere. Fünf der siebzehn Frauen haben überhaupt keine Schule besucht, sechs Frauen gingen weniger als drei Jahre zur Schule. Nur fünf Frauen beendeten die Grundstufe, oder gelangten sogar für ein paar Jahre bis zur Sekundärschule, deren Besuch meistens mit Ortswechsel verbunden ist, weil es in den meisten Dörfern keine Sekundärschulen gibt. Keine der Erzählerinnen hatte die Sekundärschule beendet und nur einer der vier Erzähler. Zehn Frauen und zwei Männer sind oder waren katholisch, sechs Frauen und ein Mann sind oder waren adventistisch und die religiöse Orientierung einer Frau und eines Mannes blieben unbekannt.

4

Die Situation der bäuerlichen Bevölkerung innerhalb ein und derselben Dorfgemeinschaft ist relativ homogen und durch die gemeinschaftlichen Besitzrechte nur bedingt ökonomisch ausdifferenzierbar. Gleichzeitig fuhrt jedoch die zunehmende Marktintegration und die Diversifizierung von Einkommensquellen innerhalb und außerhalb der Dorfgemeinschaften sowie die Schwerpunktverlagerung von der Feldwirtschaft zur Viehzucht zu verstärkten Differenzierungsprozessen innerhalb der Dorfgemeinschaften. Die Einteilung wurde hier vor allem aufgrund der teilnehmenden Beobachtung vorgenommen. Sie dient lediglich dazu festzustellen, inwieweit diese Unterschiede Auswirkungen auf die Sichtweise der Erzählerinnen haben.

96

3.5.

Die Datenerhebung

Die Struktur der Interviews war auf ein lebensgeschichtliches Format zugeschnitten und sah eine klare thematische Gliederung sowie eine Eingrenzung auf durch die Fragestellung priorisierte Themen vor. Zunächst war dazu die Aufstellung eines Themenkatalogs nötig, der sich eng an der Fragestellung in bezug auf weibliche und ethnische Identität und Geschlechterverhältnisse orientierte. Jedem Thema wurde eine Reihe von offen formulierten, motivierenden Fragen bzw. alternativen Frageformen auf spanisch zugeordnet, deren Sequenz der Chronologie von Lebensläufen angepaßt wurde. Auf diese Weise sollte so umfassend wie möglich gewährleistet werden, daß die Interviewpartnerinnen ihre eigenen Schwerpunkte setzen, ihre eigenen Relevanzsysteme einbringen und ihre Antworten selbst strukturieren konnten. Mit der Kollegin Rosa Palomino wurde zunächst ausfuhrlich die Zielsetzung der Interviews in bezug auf die übergreifenden Fragestellungen besprochen. Die priorisierten Schwerpunktthemen und jede einzelne der auf Spanisch formulierten Fragen wurden nach ihrer Übersetzbarkeit ins Aymara, nach ihrem Sinngehalt im Aymara im Vergleich zum Spanisch und nach möglichen Varianten auf Aymara durchgearbeitet. Auf diese Weise entstand ein Fragenkatalog, der den jeweiligen Schwerpunktthemen auf einzelnen kleinen Kärtchen zugeordnet wurde. Dabei ging es um folgende Themen: • • • • • • • • •

die geschlechtsspezifische Sozialisation der befragten Frauen (und Männer) und ihre Beziehung zu Eltern und anderen Erziehungspersonen die Situation ihrer Herkunftsfamilien der Zugang zur Schulbildung, Alphabetisierung und Zweisprachigkeit Migrationserfahrung Partnerwahl, Ehe, Familie, Mutterschaft (Vaterschaft) Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Riten und Praktiken, Produktionswandel, Markt Dorfgemeinschaft, Stadt/Land-Gegensatz und Zugehörigkeit zu den Aymara Bildung und Zukunftsperspektiven für Töchter und Söhne Organisation, Öffentlichkeit, Politik

Es wurden keine Fragen nach Erfahrungen mit Sexualität und auch keine Fragen nach Gewalt in der Ehe gestellt, aus der Befürchtung heraus, den Interviewpartnerinnen durch zu intime Fragen zu nahe zu treten und ihnen die Lust am Erzählen zu verderben. In bezug auf das Thema der Sexualität handelt es sich in der vorliegenden Forschung um eine thematische Lücke, da die Frauen das Thema von sich aus nur sehr indirekt angesprochen haben. Die Gewaltanwendung von

97 Männern gegenüber Frauen wurde jedoch auch ohne Fragen von den Interviewpartnerinnen ausfuhrlicher thematisiert als erwartet. Die Kärtchen konnten von der Interviewerin möglichst unauffällig als Gedächtnisstütze in der Hand gehalten werden; dies verhinderte, daß sich die Interviewpartnerinnen durch den Eindruck eines vorformulierten Fragebogens ausgefragt fühlten. Gleichzeitig sollten die Kärtchen sicherstellen, daß wesentliche Themenstellungen möglichst vollständig abgehandelt, die Interviews aber nicht zu sehr in weniger priorisierte Themenbereiche abdriften konnten. Die Kärtchen hatten außerdem den Vorteil, daß sie mischbar, und damit die Reihenfolge der Fragen an die von der Interviewpartnerin jeweils gewählte Sequenz von Antworten und Themen anpaßbar waren. Auf diese Weise sollten möglichst Unterbrechungen des Erzählverlaufs durch unpassende Fragen im unpassenden Moment verhindert, und gleichzeitig eine Wiederholung verhindert bzw. eine Vertiefung von besonders relevanten Themen in veränderter, möglichst offener Form ermöglicht und sichergestellt werden. Folgende Regeln wurden für die Durchfuhrung der Interviews besprochen: zum Zeitpunkt der Gespräche sollten möglichst keine anderen Familienmitglieder anwesend sein, um die Freiheit der Meinungsäußerung der Frauen (und der Männer) nicht einzuschränken und möglichst Ablenkungen zu vermeiden. Der Zeitpunkt der Interviews richtete sich nach dem Tagesablauf und dem jeweils für die Erzählerin oder den Erzähler günstigsten Zeitpunkt. Auf diese Weise verbrachte die Interviewerin manchmal mehrere Tage und Nächte vor Ort, bevor der richtige Moment für die Einzelinterviews gefunden werden konnte. Weitere wichtige Vorgaben bestanden darin, daß die Interviewerin keine Wertungen über die Aussagen der Frauen und bei Nachfragen machen und die Erzählungen grundsätzlich nie unterbrechen durfte. Verständnisfragen oder vertiefende oder motivierende Nachfragen waren jedoch möglich. Die Interviews wurden in zwei Teile aufgeteilt: Der erste Teil mit eher allgemeinen, weniger persönlichen und sensiblen Fragestellungen, der zweite Teil mit persönlicheren Fragen sowie der Wiederholung einiger bereits im ersten Teil angesprochener Themen, die besonders relevant und besonders schwierig zu greifen waren, darunter z.B. das Thema der ethnischen Identität der Aymara aus weiblicher Sicht. Ursprünglich war vorgesehen, daß die beiden Interviewteile mit den ausgewählten Interviewpartnerinnen zu zwei verschiedenen Gelegenheiten abgearbeitet werden sollten, um eine zu lange zeitliche Beanspruchung der Frauen auf einmal zu verhindern, und um unterschiedliche Stimmungen und Momente einzufangen. Es stellte sich jedoch nach den ersten Interviewerfahrungen heraus, daß die befragten Frauen am Unbefangensten beim ersten Interview erzählten und oft beim zweiten Mal mißtrauisch wurden, oder aber die Lust verloren hatten, sich noch einmal in die Eigengesetzlichkeit ihrer eigenen Texte oder

98 die Selbstläufigkeit ihrer eigenen Diskurse5 zu verstricken. Daher kam es in vielen Fällen zu einem einzigen Interview mit beiden Teilen, dessen Anordnung in einen weniger sensiblen allgemeineren und in einen eher persönlicheren, aktuelleren Teil im wesentlichen beibehalten wurde, da er sich als adäquate Vorgehensweise erwies. Bei einem zweiten Interview kam es dann nur noch nach der ersten Auswertung zu kurzen Ergänzungsfragen, vor allem dann, wenn wichtige Aspekte im ersten Interview aus bestimmten Gründen nicht angesprochen oder vertieft werden konnten oder Unklarheiten aufgetreten waren. Mit einer kleinen Anzahl von Aymara-Männern wurde das gleiche Verfahren verfolgt und die gleichen Fragen gestellt, von denen jedoch aus Zeitgründen und wegen des Umfangs der Studie nur ein Teil systematisch ausgewertet und analysiert werden konnte. Die Transkription der individuellen Interviews wurde nach sorgfaltiger Auswahl von mehreren Aymara-Frauen und Aymara-Männern mit Spanischkenntnissen durchgeführt, die von Linguisten in der einheitlichen Schreibweise des Aymara und in der Transkription von oralem Material bereits ausgebildet worden waren. Sie transkribierten grundsätzlich auch Nebengeräusche und Stimmungen mit, sofern sie den Aufnahmen deutlich zu entnehmen waren. Nach einer sorgfaltigen Transkription auf Aymara unter Angabe von Ortschaft, Datum, Kassettennummer, Versammlungsnummer und Namen der Beteiligten wurden die Texte von den jeweils gleichen Personen ins Spanische übersetzt6. Dabei wurde Wert darauf gelegt, alle Wiederholungen und Ausdrucksweisen, unkomplette Sätze, Ausrufe oder Unterbrechungen in der Aufnahme mit aufzuführen. Männliche Übersetzer wurden gebeten, darauf zu achten, die weibliche Ausdrucksweise möglichst unverfälscht beizubehalten. Es gab zu diesem Zweck regelmäßige Auswertungsgespräche mit der Interviewerin und den Übersetzerinnen und Übersetzern, um unterschiedliche Verständnis- und Übersetzungsmöglichkeiten miteinander zu vergleichen, lokal unterschiedliche Ausdrucksweisen zu klären und eine Endversion abzusichern.

5

Bohnsack (1993: 104) stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Eigendynamik von Erzählungen im Sinne von Schütze als Zugzwänge oder eher als Basisregeln der intersubjektiven Verständigung angesehen werden sollten. Auf jeden Fall handelt es sich hierbei um einen wichtigen Faktor, der die Erzählsituation und -motivation stark beeinflußt und sie als Ereignis noch außergewöhnlicher macht.

6

An dieser Stelle gilt Brindis Mamani und Victor Ochoa für die Transkription und Übersetzung der individuellen Interviews und Esteban und Edgar Quispe für die Transkription und Übersetzung der kollektiven Interviews meine besondere dankbare Anerkennung.

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3.6. Die Vorgehensweise bei der Interpretation des empirischen Materials Die hier vorliegende Arbeit basiert auf individuellen narrativen Interviews, da aufgrund des umfangreichen Materials eine Auswahl für die Auswertung getroffen und daher weitgehend auf die Auswertung der kollektiven Interviews verzichtet werden mußte. Eine empirische Ausdifferenzierung unterschiedlicher kollektiver Erfahrungsräume ist prinzipiell auf der Basis von in autobiographischen Interviews produzierten Texten möglich und analytisch abstrahierbar (Bohnsack 1993: 124). Der Auswahlprozeß fallt jedoch ausgesprochen schwer, da die Fülle des empirischen Materials in gewisser Weise erschlagend wirkt. Bei der lebensgeschichtlichen Methode muß immer zwischen Tiefgang und Reichweite ausgewählt werden (vgl. Connell 1995), so daß in der vorliegenden Untersuchung auf die Auswertung der kollektiven Interviews verzichtet wurde. Daher mußte schließlich eine thematische Auswahl getroffen und die Anzahl der Antworten für die Auswertung reduziert werden. Das gleiche Material könnte jedoch noch für die Analyse eines wesentlich breiteren Spektrums von Themen dienen.

3.7. Die Auswertungsphasen Bei der Auswertung von narrativen Interviews soll bei der Interpretation des Interviewmaterials zwischen drei Ebenen unterschieden werden: • • •

dem erzählten Teil als "Ereigniskonstellation erlebter Wirklichkeit" dem beschreibenden Teil als einer "distanzierten Beobachtung" und den Argumenten als "theoretischen Aussagen" (vgl. Agha, 1997)

Die Rekonstruktion der Erzählung und die Unterscheidung zwischen diesen drei Teilen wird mit Hilfe der Sequenzanalyse vorgenommen. Es gibt drei Möglichkeiten der Differenzierung von Forschungsperspektiven in der qualitativen Sozialforschung: • • •

die Sinnperspektive, um Wechselbeziehungen zwischen Alltagserfahrungen und gesellschaftlichen Bedingungen herauszuarbeiten die Funktionsperspektive, um gesellschaftliche Phänomene wie Institutionen und Praktiken zu erklären die Strukturperspektive, um die Regeln der Erzeugung, Reproduktion und Transformation sozialer Gebilde zu erfassen (vgl. Flick 1991 und Agha 1997)

Alle drei Perspektiven werden durch die Kategorie Geschlecht differenziert und geordnet und kamen in der vorliegenden Untersuchung in bezug auf die Themen-

100 Schwerpunkte der Weiblichkeit und der Geschlechterverhältnisse zur Anwendung. Bei der Interpretation des empirischen Materials wurden auf der Basis von Biographiekonstruktionen Methoden der qualitativen Sozialforschung herangezogen wie die Typenbildung auf der Grundlage der Rekonstruktion der Alltagspraxis und des Erfahrungswissens der Forschungssubjekte, Sequenzanalysen von Einzelinterviews und die komparative Analyse. Bei der Interpretation muß jedoch immer vom Kontext und vom Bezugsrahmen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner ausgegangen werden. Daher mußte zunächst einmal die Kohärenz dieses Bezugsrahmens und der Relevanzsysteme rekonstruiert werden, bevor ein legitimer Interpretationsrahmen entstehen konnte (Bohnsack 1993: 20). Der Kontext wird durch Assoziationen mit der teilnehmenden Beobachtung der Autorin während ihrer eigenen Arbeits- und Lebenserfahrung bei den Aymara ergänzt. Die Besonderheit der methodischen Vorgehensweise besteht in diesem Fall darin, daß die teilnehmende Beobachtung und die Sammlung des empirischen Materials nicht gleichzeitig stattfanden, wie das normalerweise der Fall ist (Bohnsack 1993: 127). Diese Tatsache erwies sich jedoch nicht als ein Nachteil. Denn in jedem Fall müssen bei der Interpretation zwei diskrepante, gegenläufige Einstellungen eingenommen werden: zum einen die performative Einstellung der Teilnehmenden, auf der anderen Seite die der distanzierten Beobachterin. In diesem Fall war für die Forscherin die nötige Distanz für die begrifflichtheoretische Explikation und Interpretation nur mit Hilfe von physischer (interkontinentaler) Distanz zum Forschungsort einerseits und durch zeitliche Distanz mehrerer Jahre von der konkreten Arbeits- und Lebenserfahrung andererseits herzustellen. Dieser Prozeß erforderte eine Menge Geduld der Autorin mit sich selbst und ist im Nachhinein schwer quantitativ meßbar. Er beinhaltet eine Reihe von Risiken, denn wenn die Nähe zu groß ist, fallt die Abstraktion schwer. Wird die Distanz jedoch zu groß, dann verliert sich das Interesse und die Intensität der Auseinandersetzung mit dem Forschungsthema.

3.7.1. Der erste Teil der Auswertung Zu Beginn wurde jedes übersetzte und transkribierte Interview als Fallstudie unter Berücksichtigung der zeitlichen Abfolge der Lebensgeschichten schriftlich zusammengefaßt. Auf diese Weise entstanden Portraits jeder Interviewpartnerin und ein erster Überblick über Besonderheiten und gemeinsame Erfahrungszusammenhänge sowie über den sozialen Wandel. Dabei wurde deutlich, welche Lebensabschnitte und Erfahrungen besonders ausfuhrlich thematisiert und welche Themen gar nicht erwähnt oder welche Fragen nur kurz beantwortet wurden. Während dieses ersten Analyseschritts schälten sich die wichtigsten Themen heraus, darunter die der Herkunft, Ehre, Zwangsehe, des Wandels in der Produk-

101 tion, der Kleidung und des Webens. Aus diesem ersten Analyseschritt ergaben sich die folgenden Hypothesen: 1. Hypothese: Aymara-Frauen verfugen über einen bisher noch weitgehend unbekannten kritischen weiblichen Diskurs, der wesentlich von den dominanten Normen - der Aymara-Kultur einerseits und der nationalen Gesellschaft andererseits - und vom männlichen Diskurs abweicht; anhand dieses Diskurses können die Unterordnung der Aymara-Frauen und ihre Rechtfertigungen und Mechanismen innerhalb der Geschlechterverhältnisse dokumentiert und rekonstruiert werden. 2. Hypothese: die Disparität zwischen den Geschlechtern wird innerhalb der Lebenswelt der Aymara durch Aus- und Eingrenzungsmechanismen gegenüber Frauen und durch parallele Wertsysteme erweitert, von denen Männer und Frauen unterschiedlich betroffen sind und zu denen sie einen ungleichen Zugang haben. Mit zunehmenden Handlungsoptionen wird der Zwang gegenüber Frauen verstärkt, damit sie sich den Normen zur Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Strukturen anpassen. Die Widersprüchlichkeit der Anforderungen an Frauen und ihre Arbeitsbelastung vergrößert sich. 3. Hypothese: Weibliche Identität verändert sich durch die langsame Erweiterung des Zugangs zu öffentlichen Räumen, die von Frauen zunehmend erobert werden. Ehemalige spezifische frauenbestimmte Räume werden aufgegeben. Distanz und Kritik an Normen vergrößern sich und Forderungen von Frauen nach Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit und nach Gleichbehandlung werden lauter. 4. Hypothese: Ein entscheidendes Medium für die Aufrechterhaltung der ländlichen Lebenswelt der Aymara von Puno ist die Ehre. Die Macht und Verteidigungsfähigkeit von Frauen in der Ehe, in der Familie und in der Dorfgemeinschaft hängt stark vom Ehrstatus und vom Ehrgefühl der Frau ab.

3.7.2. Der zweite Teil der Auswertung In einer zweiten Phase wurden aufgrund der Arbeitshypothesen Themenschwerpunkte herausgeschält. Die verschiedenen Interviews wurden miteinander verglichen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede in bezug auf die Themenschwerpunkte heraus gearbeitet. Zu diesem Zweck wurden die Interviews nach verschiedenen Kriterien zu unterschiedlichen Untergruppen zusammengefugt, z.B. nach Altersgruppen, sozialer Herkunft, Familien- oder Bildungsstand oder ökologischer Zone und Produktionsweise. Ein Teil der Interviews wurde für eine Sequenzanalyse ausgewählt und zwischen narrativen, beschreibenden und argumentativen Sequenzen unterschieden. Die Sequenzanalyse (fallinterne Feinanalyse) konnte jedoch nicht mit allen 21

102 Interviews durchgeführt werden, da sie extrem arbeitsaufwendig ist. Es wurden daher vier Beispiele ausgewählt, die durch individuelle Besonderheiten auffallen und zum Zweck des Vergleichs mit anderen Interviews besonders geeignet erschienen. Einige der folgenden Kriterien schälten sich für den Vergleich heraus: Normenbrüche und ihre Auswirkungen im Vergleich zu konformem Verhalten; Anpassung an Normen gegenüber einer distanzierten kritischen Haltung; eine optimistische Grundhaltung gegenüber einer pessimistischen, eher resignierten; Entscheidungen anderer gegenüber eigenen Entscheidungen; Verstrickung gegenüber Handlungsstrategien; Dialog, Täuschung, Gewalt oder Rückzug; Normen für Weiblichkeit früher und heute; Mechanismen der Motivation, Steuerung, Sanktion, Integration, Differenzierung und Aus- oder Eingrenzung. Anhand der Rekonstruktion von Grenzsituationen und unterschiedlichen Formen des Umgangs mit diesen Situationen wurden weibliche Handlungsräume in der Ehe, der Familie, in Verwandtschaftsbeziehungen, innerhalb und außerhalb der Dorfgemeinschaft rekonstruiert.

3.7.3. Der dritte Teil der Auswertung In einer dritten Phase wurden die strategischen Aspekte für die Fragestellung über Geschlechterverhältnisse und weibliche Identität heraus gearbeitet, darunter die Begründungen, Regeln und Mechanismen, die aus weiblicher Sicht die Unterordnung der Frauen ermöglichen und diese aufrechterhalten, wie die Ehre, die Zwangsheirat oder die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Der Dynamik der Veränderungen von Vorstellungen von Weiblichkeit und ethnischer Zugehörigkeit wurde an den Beispielen der Trachtenkleidung, des Webens und des Stadt/Land-Gegensatzes aus weiblicher Sicht nachgegangen.

3.8.

Die Datenpräsentation

Die Auswertungsergebnisse des empirischen Teils der Arbeit werden zunächst in eine Zusammenfassung von zwölf rekonstruierten Biographien von Interviewpartnerinnen unterschiedlicher Altersgruppen vorgestellt, um einen Überblick über den Kontext der Lebensgeschichten der Frauen und deren Vielfalt zu geben. Dabei treten Ambivalenzen der Frauen hervor, die auf die Widersprüchlichkeit von weiblichen Lebensentwürfen und Geschlechterverhältnissen im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten zurückzuführen sind wie Verunsicherung, Rückzug, Ausgrenzung oder Integration, Anpassung oder Ablehnung. Um die Interpretation der Dynamik des Wandels von Strukturen, Funktionen, Symbolen und Institutionen auf der Basis der Rekonstruktion der weiblichen

103 Alltagserfahrungen sichtbar herzuleiten, werden ausgewählte Interviewabschnitte mit der Interpretation verwoben. Um die Kapitel nicht durch zu viele Interviewzitate unlesbar zu machen, werden nur die wichtigsten Zitate im Text direkt eingefugt und andere zusätzliche Aussagen als Beleg im Anhang in numerierter Form zugänglich gemacht. Die Interviewzitate wurden auf spanisch in einer Form beibehalten, die versucht, die Struktur der Aymara-Sprache sowie die besondere Ausdrucksweise der Frauen aufgrund ihrer oralen Tradition so weit wie möglich beizubehalten. Eine erneute Übersetzung ins Deutsche hätte diese Sprachstrukturen und Ausdrucksformen noch mehr untergehen lassen. Sie sind ohnehin schon durch die Übersetzung ins Spanische nur noch zu erahnen. In jedem Fall wird der Inhalt der Zitate noch einmal im Anschluß an jedes Zitat auf deutsch zusammengefaßt. Obwohl alle Interviewpartnerinnen und Interviewpartner ausdrücklich einer Veröffentlichung ihrer Lebensgeschichten unter eigenem Namen und mit Foto zugestimmt haben, hielt ich es für ratsam, ihre Namen und die Namen der Dorfgemeinschaften zu verändern, um eventuelle soziale Sanktionen für die Frauen auf jeden Fall auszuschließen. Im folgenden Kapitel werden die Lebensentwürfe einer ausgewählten Gruppe der Interviewpartnerinnen anhand von Lebensverlaufskurven vorgestellt.

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4.

Lebensverlaufskurven, Selbstbild und Selbstentwürfe von Frauen unterschiedlicher Altersgruppen

In diesem Kapitel werden ausgewählte Lebensgeschichten von zwölf der insgesamt siebzehn Interviewpartnerinnen unterschiedlicher Altersgruppen zusammengefaßt, um einen Überblick über das Spektrum von Lebensverläufen von ländlichen Aymara-Frauen in Puno zu geben und auf diese Weise eine Grundlage für das Verständnis der nächsten Kapitel zu schaffen. Dabei wurden jeweils mehrere Interviews der gleichen Altersgruppe aus unterschiedlichen ökologischen Zonen und situativen Bedingungen sowie mit möglichst unterschiedlichen Ereignissen ausgewählt, um die Ungleichzeitigkeit und die Vielfalt von Lebensweisen, Selbstentwürfen und Handlungsoptionen sichtbar zu machen. Biographiekonstruktionen entfalten sich in der Auseinandersetzung mit institutionalisierten Ablaufmustern. Lebensverlaufskurven lassen sich so charakterisieren, daß der oder die Betroffene gezwungen wird, auf Ereigniskaskaden zu reagieren, die nicht der eigenen Planungs-, Entfaltungs- und Kontrollkompetenz unterliegen. Jede einzelne Frau steht im Schnittpunkt unterschiedlicher Bezugsgruppen, Lebenswelten und Wertsysteme und hat Teil an unterschiedlichen Wirklichkeiten. Die biographische Gesamtformung konstituiert sich im Spannungsverhältnis zum intentionalen Prinzip der Biographie und den je spezifischen Bindungen an die Bezugsgruppen und Kollektive, die in diesem Fall vor allem von der Dorfgemeinschaft und ihrer Organisation, von der Familie und der Verwandtschaft, aber auch von Institutionen der städtischen Lebenswelt repräsentiert werden (vgl. Bohnsack 1993: 98-99). Im Handeln realisiert sich mehr Sinn, als in der Intention angelegt ist, und nicht alle möglichen Handlungsoptionen werden wahrgenommen oder ergriffen. Bei den hier wiedergegebenen zusammengefaßten Lebensverlaufskurven handelt es sich um eine Rekonstruktion der Lebensverläufe auf der Grundlage der Selbstdarstellung der Interviewpartnerinnen unter Berücksichtigung ihres Kontextes. Abgesehen von der chronologischen Wiedergabe der wichtigsten Ereignisse in jedem Lebensverlauf wurden insbesondere folgende Aspekte bei der Zusammenfassung berücksichtigt: Der Ehrstatus jeder Interviewpartnerin und ihr Umgang damit; die Vorstellungen von Weiblichkeit; die Grundhaltung oder Lebenseinstellung in Form einer Typologie, die den ambivalenten Charakter der Weiblichkeit wiedergibt, die sich wiederum als Bestandteil der Geschlechterverhältnisse entwickelt; Selbstentwürfe und Zukunftsentwürfe für die eigenen Kinder und der Umgang mit der Alternative der Migration. Dabei muß berücksichtigt werden, daß es sich bei den Interviewpartnerinnen um eine Auswahl von Frauen handelt.

105 die ihren Lebensmittelpunkt zum Zeitpunkt der Interviews in ihrer Dorfgemeinschaft hatten, d.h. entweder dort geblieben oder aber dorthin zurückgekehrt sind. Die Themen der Macht- und Geschlechterverhältnisse und der Weiblichkeit im Wandel werden in den nachfolgenden Kapiteln noch detaillierter rekonstruiert und vertieft. Die Lebensverlaufskurven innerhalb der gleichen Altersgruppe werden miteinander verglichen und am Ende des Kapitels auch den anderen Altersgruppen gegenüber gestellt. Auf diese Weise soll der soziale Wandel aus weiblicher Sicht rekonstruiert werden, ein Thema, das ebenfalls im Laufe der Arbeit noch weiter vertieft wird. Dabei wird auf den Begriff der Generation von Karl Mannheim (1970) Bezug genommen, der zwischen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheiten unterschieden hat1. Wie für Mannheim geht es bei den folgenden Lebensverlaufskurven nicht um die Klassifizierung von Altersgruppen, sondern darum, den historischen und sozialen Wandel zu erklären.

4.1.

Die Lebensverlaufskurven von zwei Frauen zwischen 60 und 70 Jahren

4.1.1. Zwischen Normenbruch, Ehrverlust, Angst und Anpassung im Alter: Die Lebensverlaufskurve von Marcela Marcela ist zum Zeitpunkt des Interviews 67 Jahre alt und seit der Trennung von ihrem Mann vor mehr als 28 Jahren alleinstehend. Sie lebt jedoch nicht allein, sondern bei ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter, die ihren Hof übernommen haben. Marcela stammt zwar aus einer ärmeren Familie, wächst jedoch bei beiden Eltern unter einer größeren Anzahl von Geschwistern in einer vollständigen Familie auf. Im Rückblick auf ihre Kindheit betrachtet sie sich im Vergleich zu ihren Brüdern als benachteiligt, überlastet, ausgebeutet, unwissend, einsam und nicht ausreichend auf das Leben vorbereitet.

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Eine Generationslagerung wird für Mannheim durch Gleichzeitigkeit der Geburt und verwandte soziale Lagerung charakterisiert. Ein Generationszusammenhang besteht für Mannheim aus einem gemeinsamen Schicksal und den damit zusammenhängenden Gehalten. Eine Generationseinheit setzt demgegenüber sogar ein einheitliches Reagieren und den bewußten Zusammenschluß von Individuen gleichen Alters voraus (Mannheim 1970: 547; Agha 1997: 27). Die Generationskonzepte von Mannheim setzen jedoch moderne Kontexte mit großer individueller Handlungsfähigkeit voraus, die so ohne weiteres nicht auf die ländliche Lebenswelt der Aymara anzuwenden sind, bei denen der gleiche gemeinschaftliche Zusammenhang als Grundvoraussetzung für alle Altersgruppen gegeben ist.

106 Während ihre Brüder die Schule besuchen können, verfahren ihre Eltern nach dem Sprichwort: "Das Wissen ist nicht für die Tochter, sondern für den Sohn". Erst als sie schon größer ist, darf sie in die erste Klasse gehen, "um unterschreiben zu lernen". Sie ist jedoch schon zu alt für den Schulbeginn und nach einem halben Jahr muß sie die Schule wieder verlassen, als ihr Vater sie zum Viehhüten schickt. Marcela behauptet im Rückblick, sie habe einerseits gerne weiter zur Schule gehen wollen, andererseits sei ihr das Lernen jedoch schwer gefallen. Sie habe sich mehr für das Spinnen und Weben interessiert, das sie von ihrer älteren Schwester gelernt habe. Ihre Mutter sei sehr ungeduldig gewesen, als sie noch nicht perfekt weben konnte und habe ihr auf die Finger geschlagen. Daher habe sie so schnell wie möglich Weben lernen müssen. Als junges Mädchen fühlt sich Marcela auf den Bergen beim Viehhüten einsam, verlassen und ausgenutzt. Da sie in der ökologischen Zone der Kordillere lebt, muß sie Tage und Nächte weit vom Elternhaus entfernt allein auf den Bergen in einer Hütte verbringen und schon sehr früh viel Verantwortung übernehmen. Ihre Eltern bringen ihr alle paar Tage Nahrungsmittel vorbei, die sie sich selbst zubereiten muß. Im Elternhaus empfindet sie nur wenig Wärme. Als Kind wird sie häufig geschlagen, vor allem dann, wenn sie irgendeine Aufgabe nicht "perfekt" erfüllt. Marcela bezeichnet sich im Rückblick als dumm und unerfahren, weil sie mit siebzehn Jahren einfach dem ersten Jungen folgte, den sie beim Viehhüten kennenlernte. Sie beschreibt, daß früher die Jungen zu den Vieh hütenden Mädchen auf die Berge zogen, um ihren Spaß zu haben. Dort hätten sie die Mädchen geneckt, sie an den Haaren gezogen, ihnen einige Sachen geklaut und sie mit Witzen und Geschichten unterhalten. Auf diese Weise habe sie ihren späteren Ehemann ohne die Vermittlung durch die Eltern kennengelernt. Weder ihre Eltern noch ihre Schwiegereltern seien mit der Heirat einverstanden gewesen. Im Nachhinein erklärt sich Marcela ihre Ehe als Flucht aus dem Elternhaus, in der Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation, die jedoch nicht eintritt. Heute findet sie, daß ihre Mutter gute Gründe gehabt habe, gegen die Heirat zu sein. Sie habe vorausgesehen, daß die Ehe nicht funktionieren könne. Marcela beschreibt, wie beide Partner praktisch noch als Kinder in die Ehe gehen und wie der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenendasein in der Ehe sehr schnell stattfindet. Sie verlebt einen Teil ihrer Adoleszenz bei der Schwiegermutter, bei der drastische Disziplinierungsmethoden zur Anwendung kommen. Der Schwiegertochter gegenüber wird - wegen des Ehrverlustes durch den Normenbruch gegen die Heiratsvermittlung durch die Eltern und ihrer schlechten Abstämmlings- und Erbschaftsvoraussetzungen - Mißachtung gezeigt und zum Ausdruck gebracht, daß sie das Essen nicht wert sei: Marcela und ihre Kinder müssen hungern und sie weiß nicht, wie sie sich dagegen wehren soll.

107 Obwohl Marcela im gleichen Dorf geheiratet hat, kann sie auch nicht mit der Unterstützung ihrer eigenen Familie rechnen, da auch ihre Eltern mit der Heirat nicht einverstanden waren. Außerdem ist ihr Mann sehr eifersüchtig und erlaubt ihr nicht, ihre Eltern zu besuchen. Schließlich bringt ihre Mutter ihr doch heimlich etwas zu essen. Marcela hat große Angst vor der Schwiegermutter und akzeptiert alle Befehle widerspruchslos, weil sie gelernt hat, daß den Eltern nicht widersprochen werden darf. Sie bekommt vier Kinder, von denen schließlich jedoch nur ein Sohn überlebt. Es bleibt unklar, in welchem Alter die anderen Kinder gestorben sind, aber es ist wahrscheinlich, daß sie noch im Kleinkindalter starben. Nach der Geburt der ersten Kinder gründen ihr Mann und sie einen eigenen Haushalt auf einem Stück Land, das ihnen von den Schwiegereltern zugewiesen wird. Beide erhalten jeweils zwei Lamas von ihren Eltern. Ihr Mann bringt zehn Schafe und sie sechs Schafe mit in die Ehe. Ansonsten fehlt es an allem, sogar an Platz und Zaun für das Viehgehege, so daß sie das Vieh nachts weiterhin bei den Schwiegereltern unterstellen. Die landwirtschaftliche Produktion besteht nur aus Kartoffeln und Gefrierkartoffeln ohne eigenen Hirseanbau. Es gibt wenig zu essen und die Familie hungert viel. Marcela beschreibt ausführlich ihre Arbeitsüberlastung mit den kleinen Kindern. Sie schafft es kaum, früh morgens die Kinder und das Vieh zu versorgen und gleichzeitig das Frühstück und das Mittagessen zum Verzehr auf dem Feld oder auf der Weide vorzukochen. Ihr Mann ist nicht bereit, ihr mit den Kindern oder beim Spinnen zu helfen, um mit dem Verkauf der verarbeiteten Wolle etwas Geld dazu zu verdienen. Er wird sehr wütend, wenn das Essen nicht rechtzeitig auf dem Tisch steht oder wenn sie nicht weiß, wie sie mit den wenigen Lasttieren die Ernte und die Kleinkinder auf einmal nach Hause transportieren soll. Er beginnt sie zu schlagen, ihr Essen zu verweigern, ihr Teller nachzuwerfen und jedes Mal wütend zu werden, wenn sie mit einem Mann im Dorf redet. Marcela ist der Ansicht, es sei nicht möglich gewesen, in ihrer Ehe ein menschliches Leben bzw. ein Leben "wie Menschen" zu führen. In einer Ehe müsse man so leben, als "seien beide in einem Nest geboren und als würden sie vom gleichen Teller essen". Sie habe ihrerseits seinen Arbeitsbeitrag nicht genügend bewertet. Jedes gegenseitige Verständnis habe gefehlt und es habe keine angenehmen Augenblicke und keine Harmonie in der Ehe gegeben. Nach vier Jahren wird die Ehe getrennt. Sie zieht zunächst zu einem Bruder, dann zu ihrem Vater bis zu dessen Tod, und schließlich zu ihrem Sohn. Ihr Mann zieht nach Arequipa2 und kehrt mehrere Jahre später zurück, als sein Sohn gerade eine Zeit lang nicht zur Schule geht. Er beschwert sich in der Dorfversammlung und setzt durch, daß sein Sohn den Haushalt seiner Mutter verläßt und zu seinem

2

Die zweitgrößte Stadt Perus an der Küste.

108 Bruder zieht. Marcela stellt dazu fest, daß sich dadurch jedoch die Erbschaft ihres Sohnes nicht vergrößert habe, da weder ihr Mann noch sein Bruder bereit seien, ihrem Sohn einen Erbteil zu überlassen. Marcela hat stark unter dem Ehrverlust als verlassene Frau zu leiden. Sie berichtet, daß sie dem Gerede der Männer ausgesetzt ist, von denen mehrere ihr seit der Trennung von ihrem Mann einen Heiratsantrag gemacht haben, andere sie aber auch ohne Heiratsabsichten belästigen. Sie sei jedoch keine neue Beziehung eingegangen aus Angst davor, noch mehr Kinder zu bekommen. Es bleibt offen, ob ihre Angst vor mehr Kindern mit ihrer Sexualehre oder mit der hohen Kindersterblichkeit im Zusammenhang steht, die sie erlebt hat. Da sie jedoch erst bei ihrem Bruder und dann im Haushalt ihres Vaters unterkommt, können die Männer sie nicht ohne Schwierigkeiten weiter belästigen. Sie geht wenig auf Feste und trinkt keinen Alkohol, damit die Leute nicht über sie reden. Ansonsten habe sie sich daran gewöhnt und höre einfach nicht hin. Gerede sei schließlich nur Gerede und weiter nichts. Das Problem alleinstehender Frauen bestehe darin, daß sie sich mit verheirateten Männern einließen. So würden Probleme entstehen, vor allem mit den Kindern und ihrer Abstämmlings- und Erbschaftszuschreibung. Auch der Zugang zu männlicher Arbeitskraft sei für alleinstehende Frauen schwierig. Wenn sie einen verheirateten Mann darum bitte, auf ihren Feldern mit dem Ochsenpflug zu arbeiten, dann sei sie der Eifersucht seiner Ehefrau ausgesetzt. Daher habe sie nur noch ihren Vater um Hilfe bitten können, nachdem ihr Bruder aus dem Dorf weggezogen sei. Einerseits vertritt Marcela die Ansicht, daß sich niemand ohne Spanisch-, Lese- und Schreibkenntnisse richtig verteidigen kann. Andererseits empfindet sie es als Belastung, daß sie nicht mehr wie ihre Eltern die Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, um rituelle Praktiken in der Feld- und Viehproduktion umzusetzen. Sie ist davon überzeugt, daß die heutigen Erträge nicht mehr so hoch sind wie früher, weil der Anbau heute nicht mehr so sorgfältig sei, das Vieh nicht mehr so sorgsam wie früher versorgt und gehütet werde usw. Marcela beschreibt außerdem, wie sie regelmäßig für ihre Vorfahren betet, und daß ihr Sohn und ihre Schwiegertochter ihre Vorfahren nicht mehr anrufen. Deshalb würden sie nach Ansicht von Marcela vom Pech verfolgt: Das Verschwinden eines Rades oder Motorrades wird von ihr neben vielen anderen unangenehmen Ereignissen auf den mangelnden Respekt vor den Seelen der Vorfahren und deren schlechte Laune zurückgeführt. Früher seien die Leute mitten in der Nacht bei Sternenlicht aufgestanden, hätten noch im Dunkeln gefrühstückt und viel mehr gegessen als heute. Dann sei gemeinsam mit den Nachbarn geerntet und Riten und Anbaupraktiken genau eingehalten worden. Ihr Vater habe deshalb noch jede Menge Kartoffeln geerntet. Heute werde nur noch im Karneval etwas Weihrauch über die Kartoffelfelder geschwenkt.

109 Marcela bewegt sich mit ihrer Denkweise zwar bereits zwischen zwei Lebenswelten, empfindet jedoch in bezug auf beide einen Mangel an Fähigkeiten, der ihr Selbstwertgefühl stark beeinträchtigt und sie verunsichert. Aus eigener Sicht ordnet sie sich heute den Entscheidungen ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter unter und behauptet, daß ihre Schwiegertochter sich von ihr nichts mehr sagen ließe. Diese Haltung ihrer Schwiegertochter beeindruckt sie, da sie doch im Gegensatz zu ihren eigenen Erfahrungen als Schwiegertochter steht, die sich der eigenen Schwiegermutter unterordnete und von dieser mißhandelt wurde, ohne jemals akzeptiert worden zu sein. Marcela, die bis heute selbstgewebte Trachtenkleidung trägt und herstellt, beobachtet durchaus mit gemischten Gefühlen, wie ihre Schwiegertochter gekaufte Trachtenkleidung trägt und es vorzieht, die alten Webstücke zu verkaufen, oder wie ihr Sohn sich vom Familieneinkommen ein Motorrad kauft. Früher sei immer gesagt worden, nur wer Spanisch spreche, dürfe städtische Kleidung tragen. Trotz dieser Generationskonflikte ist sie froh, als Witwe nicht allein leben zu müssen. Auf diese Weise kann sie ihren Ehrstatus etwas verbessern und ist weitgehend vor Angriffen von Männern geschützt. Marcela hat sich erst als ältere alleinstehende Frau getraut, im Dorf auf Versammlungen in der Öffentlichkeit insbesondere vor Männern zu sprechen. Zunächst wird sie dazu aufgefordert, als Familienoberhaupt den Patronatsposten für das Dorffest zu übernehmen. Sie habe große Angst gehabt, als sie den Schwur bei der Amtsübernahme ablegte, weil früher die Leute immer gesagt hätten: Wozu denn eine Frau zum DorfVorstand gehe? Als nächstes wird sie zur ersten Vorstandsvorsitzenden des neuen Mütterclubs gewählt. Sie habe sich aus Angst gewehrt, aber auf Druck der Frauen habe sie schließlich akzeptiert. Da es keine Erfahrungen mit dem Mütterclub gibt, läßt sie sich von ihrem Vetter beraten, der Kontakt zu einer Nichtregierungsorganisation (NRO) aus Lima hergestellt hat, die Wolldecken vermarktet. Sie erlebt jedoch eine herbe Enttäuschung, als dieser Vetter die Frauen betrügt und ihre Organisation nicht ernst nimmt. Andererseits übt die DorfVersammlung Druck auf den Mütterclub aus, damit die von den Frauen hergestellten Wolldecken verkauft werden. Als die Vertreterinnen der NRO ins Dorf kommen, ist sie jedoch nicht in der Lage, sich ihnen gegenüber gegen den Vetter zu verteidigen, weil sie kein Spanisch spricht. Sie fühlt sich ohnmächtig und weint vor Wut. Schließlich kauft der Mütterclub mit dem Geld der Wolldecken eine Kuh, die bei einer Bauernfamilie im Dorf untergestellt wird, wo sie zunächst ein Kalb bekommt und dann angeblich aufgrund einer Krankheit stirbt. Später stellt sich jedoch heraus, daß der Bauer die Kuh heimlich verkauft und den Erlös in die eigene Tasche gesteckt hat. Daraufhin bricht die Frauenorganisation für einen längeren Zeitraum zusammen. Heute traut sich Marcela, auch in der DorfVersammlung ihre Meinung zu sagen. Von ihrem Bruder habe sie glücklicherweise immer die Erlaubnis gehabt, sich in den Organisationen zu

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engagieren. Andere Männer würden ihre Frauen nicht an Versammlungen teilnehmen lassen. Marcela hat einen Bruder und Neffen in Tacna an der Küste und auch in Puno hat sie Verwandte. Von ihrer Schwiegertochter wird sie gedrängt, doch in die Stadt zu ziehen. Sie hat jedoch Angst davor, es könne ihr in der Stadt nicht gut ergehen, weil sie kein Spanisch spricht, nicht lesen kann und weil das Geld nicht reicht. In der Stadt sei alles so teuer. Marcela ist der Ansicht, es sei nur auf dem Land gut, Aymara zu sein, denn in der Stadt würden die Aymara sehr schlecht behandelt. Es wäre besser, beide Sprachen, Aymara und Spanisch, zu beherrschen. Sie selbst hat für sich und für ihren Sohn einen Lebensentwurf, der auf die Dorfgemeinschaft begrenzt ist. Für Marcela bedeutet das Leben ihres Sohnes einerseits zwar nachvollziehbare Kontinuität, andererseits muß sie sich aber im Haushalt ihres Sohnes gegenüber ihr fremden Praktiken unterordnen. Es ist anzunehmen, daß ihr Sohn seine Frau selbst kennengelernt hat und daß er nicht von Marcela zwangsverheiratet wurde.

4.1.2. Zwischen Ohnmacht, Anpassung, Ehrzuwachs, Verunsicherung und Rückzug: Die Lebensverlaufskurve von Silveria Silveria ist zum Zeitpunkt des Interviews 62 Jahre alt und lebt als Witwe allein in einem Dorf in der Seezone, da alle ihre Kinder in die Stadt migriert sind. Sie selbst ist in der mittleren Zone geboren und als Kleinkind wächst sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr bei ihrer Großmutter auf. Ihre Kindheit ist von klein auf durch traumatische Trennungserfahrungen geprägt. Ihre Mutter stirbt bei ihrer Geburt an Kindbettfieber, der Vater gründet eine neue Familie und läßt sie bei ihrer Großmutter bis zu deren Tod zurück. Später wächst sie als Halbwaise beim Bruder ihres Vaters auf. Dessen Kindern gegenüber wird sie stark benachteiligt und vor allem als Arbeitskraft zum Viehhüten allein auf die Berge geschickt. Sie ist bis ins Alter einsprachig und Analphabetin, da sie nie zur Schule geschickt wurde. Silveria sagt über sich selbst, sie sei "sehend blind", und als Analphabetin "ignorant" und "wertlos". Von klein an fühlte sie sich als Halbwaise benachteiligt, allein und einsam. Sie hat ihr Leben lang Angst, hält sich für wertlos und kann sich nicht wehren. Als Jugendliche hält sie es schließlich nicht mehr aus und flüchtet zu ihrem Vater in der Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Von ihrem Vater wird Silveria mit vierzehn Jahren jedoch bald an einen reichen Witwer aus der Seezone, einen über 40 Jahre alten Viehhändler mit drei Kleinkindern zwangsverheiratet. Sie zieht in ein fremdes Dorf in einer ihr fremden ökologischen Zone in eine unbekannte Umwelt. Silveria behauptet, zum Zeitpunkt ihrer Ehe "nichts gewußt" und alles von ihrem Mann gelernt zu haben, der nicht

111 nur die Rolle des Vaters, sondern in gewisser Weise auch die Rolle der Schwiegermutter übernimmt. Sie bringt zwar etwas Vieh, jedoch keinen Landbesitz mit in die Ehe. Darüber hinaus hat sie kaum Erfahrung in der Feldwirtschaft und ihre Fähigkeiten in der Viehzucht sind in der Seezone wiederum nur bedingt anwendbar. Silveria hat keine andere Wahl, als sich der neuen Situation so gut wie möglich anzupassen. Sie beschreibt, wie sie alle Anordnungen ihres Mannes ganz genau befolgt und diesen vor allem durch Fleiß, Gehorsamkeit, Aufopferung, Übernahme von Mutterpflichten und Fruchtbarkeit zu beeindrucken versucht. Gleichzeitig zieht sie sich zurück und geht jeder Art von Konflikten aus dem Weg, da es niemanden gäbe, um sie zu verteidigen. Abgesehen von den Pflichten gegenüber den drei Kindern aus der ersten Ehe ihres Mannes bekommt sie selbst noch sieben Kinder. Die eigene Unterbewertung wird durch die Übermacht ihres Mannes (symbolisiert durch höheres Alter, höheres Bildungsniveau, Landbesitz und monetäres Einkommen, größere Lebenserfahrung und einen breiteren Lebenshorizont, umfangreichen Bezug zur Außenwelt, als Autorität im eigenen Dorf etc.) und durch die Angst vor Gewalt und Eifersucht ihres Mannes noch verstärkt. Silveria wird von klein auf als Arbeitskraft ausgebeutet; sie hat gelernt, diese einzige ihr zur Verfugung stehende, hoch bewertete Ressource auch in ihrer Ehe und Familie einzusetzen. Sie ist der Ansicht, daß fleißige Frauen von Männern geschätzt werden und Anerkennung erhalten. Nur faule Frauen würden nicht anerkannt. Sie ist so sehr mit ihrer Familie beschäftigt und von ihrem Partner abhängig, daß sie den Ehrzuwachs als verheiratete Frau im Dorf, die es sich leisten kann, Arbeitskräfte zu beschäftigen und zu bezahlen, kaum wahrnimmt und es vorzieht, sich aus Angst zu isolieren. Sie übernimmt die Verantwortung für die Feldwirtschaft und die Viehzucht während der Abwesenheit ihres Mannes, der als Viehhändler sehr viel unterwegs ist. Allerdings bringt er von den Reisen immer viele Produkte mit und sein Einkommen reicht aus, um Arbeitskräfte im Dorf zu bezahlen. Ihr Mann ist im Dorf als reicher Mann sehr angesehen. Er übernimmt zum Ärger von Silveria immer wieder Posten, gibt für Feste im Dorf viel Geld aus und verbringt sehr viel Zeit mit Behördengängen für die Dorfgemeinschaft. Sie beschimpft ihn deswegen und wirft ihm vor, alle anderen Frauen aus dem Dorf seien seine Geliebten. Ihr Mann besteht jedoch darauf, daß es seine Entscheidung sei, welche Posten er übernehme und bittet sie, ihn zu unterstützen, damit er vor der Dorfgemeinschaft nicht schlecht dastehe. Sie empfindet vor allem den Arbeitsaufwand und nicht den Vorteil für die Familienehre. Silveria ist mit ihrer eigenen Zwangsheirat nicht einverstanden und hat deshalb alles dafür getan, daß ihre Kinder nicht als Analphabeten aufwachsen, nicht zwangsverheiratet werden und nicht soviel arbeiten müssen wie sie. Sie selbst

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fühlt sich jedoch durch ihre fehlenden Lese- und Schreibkenntnisse und ihre Einsprachigkeit so stark eingeschränkt, daß sie sich für sich selbst ein Leben in der Stadt bei ihren Kindern nicht vorstellen kann. In bezug auf ihren Lebensentwurf im Alter ist Silveria sehr ambivalent. Einerseits betont sie, daß sie das Leben auf dem Land bei ihrem Vieh liebe. Sie sei von klein auf mit Vieh aufgewachsen und wolle es nicht zurücklassen. Außerdem werde sie selbst bei Wind, Regen und Kälte nicht krank und fühle sich deshalb an der Seite ihres Viehs am wohlsten. Wenn sie hätte lesen und schreiben können, dann hätte sie einen Laden aufgemacht und wäre aus dem Dorf weggezogen. Andererseits stellt sie fest, alles sei für sie als Witwe allein auf dem Land so schwierig, daß sie oft wütend daran denke, alles zurückzulassen und einfach wegzugehen. Vor allem fühlt sie sich von den Kindern, die alle in der Stadt sind, im Dorf sehr allein gelassen. Im Alter als Witwe empfindet sie die Verpflichtung, an DorfVersammlungen teilzunehmen, als eine große Belastung. Obwohl sie einerseits ihren Kindern vorwirft, sie im Dorf allein zu lassen, zieht sie es andererseits vor, allein ihren Hof und ihr Vieh zu hüten, anstatt in die Stadt zu ziehen. Silveria trägt nur selbstgewebte Trachtenkleidung aus Wolle. Sie fühlt sich bei Besuchen durch ihre Enkel, die in der Stadt aufwachsen, kaum noch Aymara sprechen und den Werten und Praktiken der Lebenswelt der Aymara keine Bedeutung beimessen, stark verunsichert. Silveria ist in bezug auf ihre Kinder und Enkelkinder hoffnungslos überfordert und kann sich das Leben in der Stadt gar nicht vorstellen. Sie reagiert mit Angst und Rückzug. Ihr Lebensentwurf besteht aus einer Art Regression in die Zeiten ihrer Kindheit: Sie will sich zum Viehhüten auf die Berge in die frische Luft zurückziehen. Dabei fühle sie sich frei und wohl. Ihre Einsamkeit ist jedoch groß.

4.2. Zusammenfassender Überblick über die Altersgruppe zwischen 60 und 70 Jahren Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß es sich bei den beiden ältesten Interviewpartnerinnen um alleinstehende Frauen handelt. Gehorsamkeit, Angst und Ohnmacht prägen einen großen Teil ihrer Gefühle und Verhaltensweisen und keine der beiden Frauen traut sich, größere Handlungsräume zu identifizieren. Beide haben so gut wie keinen Zugang zu Schulbildung, und bleiben ihr Leben lang Analphabetinnen und einsprachig. Abgesehen vom ungewöhnlichen Umzug von Silveria von einer ökologischen Zone zur anderen, bleibt die Bewegungsfreiheit beider Frauen weitgehend auf die Dorfgemeinschaft und die nächstliegende Ortschaft mit Markt beschränkt. Marcela begeht einen Normenbruch, in

113 dem sie eine nicht von den Eltern arrangierte Ehe eingeht, während Silveria von ihrem Vater in ein sehr weit entferntes Dorf zwangsverheiratet wird. Marcela hat Silveria gegenüber den Vorteil, im eigenen Heimatdorf geheiratet zu haben. Die Perspektiven für ihre jeweiligen Kinder sind völlig unterschiedlich: Silverias elf Kinder wachsen in der stark marktintegrierten Seezone trotz der Landknappheit unter relativ günstigen wirtschaftlichen Bedingungen auf, da ihr Mann als Viehhändler über Zugang zu Geldeinkommen und viel Lebenserfahrung in der städtischen Lebenswelt verfügt. Alle Kinder haben Zugang zu Schulbildung und wandern in die Stadt ab. Im Fall von Marcela überlebt in der Kordillere aufgrund der ärmlichen Verhältnisse nur ein Sohn, der als Alleinerbe in der Dorfgemeinschaft den kleinen Hof übernimmt. Beide Frauen verfügen über ein relativ niedriges Ehrkapital, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Silveria besaß als Waisenkind in der Dorfgemeinschaft ihres Mannes keine Familienangehörigen und brachte selbst keine nennenswerte Erbschaft in die Ehe ein. Dieser Mangel wird von ihr sozusagen durch ihre weiblichen Tugenden und den unermüdlichen Einsatz ihrer hochwertigen Arbeitskraft ersetzt, mit der Versorgung der drei Kinder ihres Mannes zusätzlich zu zahlreichen eigenen Kindern und der Aufrechterhaltung seines Hofes während seiner Abwesenheit. Silveria kann mit Hilfe von Gehorsamkeit, Anpassung, Fleiß und harter Arbeit, erfolgreicher Mutterschaft, sowie des Ausharrens in der Ehe als Frau eines angesehenen Mannes ihren Ehrstatus verbessern. Sie verfolgt dabei jedoch keine bewußte Strategie, sondern handelt aus Gehorsamkeit nach Anweisungen ihres Vaters und ihres Mannes. Ihr eigenes Ehrbewußtsein scheint sich nicht richtig zu entwickeln. Es sind vielmehr ihr Vater und ihr Ehemann, die sich um ihre Ehre kümmern und ihr das korrekte Ehrverhalten befehlen. Silveria ist viel zu sehr mit ihrer Angst vor ihrem Mann beschäftigt und damit, ihm auch ja alles recht zu machen. Ansonsten ist sie menschenscheu und zieht sich eher zurück. Erst nach dem Tod ihres Mannes muß sie als Witwe allein Entscheidungen für sich treffen. Ihr Ehrkapital als Witwe ist verringert und sie erlebt nun, wie sie ihren Pflichten in der Dorfversammlung nachkommen muß, um ihren Status als eingeschriebenes Dorfmitglied und den Zugang zu Land und Vieh nicht zu verlieren. Allein und einsam als Witwe auf dem Dorf einen Betrieb zu fuhren und Vieh zu hüten, macht ihr sehr zu schaffen. Offen bleibt, wer einmal den Hof übernimmt und wieviel Verwandte der Familie ihres Mannes noch im Dorf leben. Im Falle von Marcela setzt der Ehrverlust bereits mit dem Normenbruch bei der Heirat ein, der durch ihre Unerfahrenheit und ihre geringen Fähigkeiten als junges Mädchen noch verstärkt wird. Ihr gelingt es im Gegensatz zu Silveria nicht, durch Fleiß, Gehorsam und sittsames Verhalten ihr Ehrkapital zu verbessern und den Ansprüchen der Schwiegereltern zu genügen. Ihre Arbeitskraft wird

114 offenbar weniger benötigt als im Falle von Silveria. Auf diese Weise scheitert nicht nur ihre Ehe, sondern sie verliert auch jeden Anspruch auf den Besitz des Mannes. Daraus entsteht ein weiterer starker Ehrverlust in Form des Verlustes ihrer Familienehre, unter dem damit auch ihr Sohn leidet, dessen Herkunftsstatus und Erbansprüche davon betroffen sind. Auch die Kindersterblichkeit trägt offenbar zum Verlust der Sexualehre und Familienehre von Marcela bei. Marcela ist daher gezwungen, mit dieser kritischen Situation umzugehen, sich mit ihrem Ex-Ehemann und seiner Familie um das Sorgerecht für den Sohn zu streiten und ihr Einkommen und ihr Zusammenleben neu zu organisieren, ohne sich zusätzlich angreifbar zu machen. Sie kann schließlich einen Teil der Auswirkungen ihres Ehrverlusts als alleinstehende Frau mit Hilfe ihres Sohnes umgehen, als dieser ihren Haushaltsvorstand übernimmt. Da der Migrationsdruck in der Kordillere wesentlich geringer ist als in der Seezone und da nur ein Kind von Marcela überlebt, kann ihr Sohn als Alleinerbe offenbar mit dem Hof auskommen und im Dorf bleiben. Ihre Handlungsoption besteht nun darin, sich mit ihrer Schwiegertochter zu verbünden, um sich das Zusammenleben mit ihrem Sohn zu erhalten. Sie zieht damit gleichzeitig Konsequenzen aus den eigenen schrecklichen Erfahrungen bei ihrer Schwiegermutter. Da ihr Sohn aufgrund seiner schlechten Herkunft aus einer Familie mit alleinerziehender Mutter und geringer Erbschaft über keinen besonders hohen Ehrstatus verfugt, kann der Schwiegertochter gegenüber ohnehin kein großer Anspruch zur Verbesserung der Familienressourcen geltend gemacht werden. Beide Frauen, Marcela und Silveria, passen sich unterschiedlich erfolgreich an vorhandene Vorstellungen von Weiblichkeit an, die mit mangelnder Denkfähigkeit, Passivität, Abhängigkeit, Angst, Schüchternheit, Schweigsamkeit, Gehorsamkeit, Unterordnung, Fruchtbarkeit, Mutterschaft, unermüdlichem Fleiß und spezifisch weiblichen Fähigkeiten wie Spinnen, Weben und Kochen verbunden sind. Der Ehrverlust durch Normenbruch bei der Partnerwahl von Marcela ist schwerwiegend und ihre weiblichen Fähigkeiten nicht ausreichend, um ihren niedrigen Ehrstatus und ihre geringe Erbschaft auszugleichen. Silverias Ehrverlust durch ihre Herkunft als Halbwaise konnte durch eine günstige Heiratsstrategie ihres Vaters, ihre erfolgreiche Mutterschaft und den unermüdlichen Einsatz ihrer Arbeitskraft den Vorgaben ihres Mannes entsprechend mit vielen verschiedenen Fähigkeiten in der Kinderbetreuung, bei der Zubereitung von Mahlzeiten, der Verwaltung des Hofs und der Spinn- und Webkenntnisse wieder ausgeglichen werden. Ihr Mann war als Witwer mit drei Kleinkindern besonders auf die Arbeitskraft einer jungen Frau wie Silveria angewiesen und akzeptierte aus dieser Notsituation heraus ihren niedrigen Ehrstatus und ihren geringen Beitrag durch Erbschaft.

115 Die Heiratsstrategie ist besonders ausschlaggebend für den Ehrstatus der Frauen und für die Überwindung von Ressourcenknappheit und die Schaffung minimaler Bedingungen für die Überlebensfahigkeit einer neuen Kleinfamilie. Diese Tatsache war jedoch keiner der beiden Frauen bewußt, als sie als junge Mädchen in die Ereignisse verstrickt wurden. Beide Frauen werden erst im Alter und alleinstehend etwas selbstbewußter und handlungsfähiger, empfinden aber ihren Kindern und Enkelkindern gegenüber eine starke Verunsicherung. Silveria macht in der Dorfgemeinschaft bis zum Tod ihres Mannes vor allem die Erfahrung einer Ehefrau, die durch die Heirat einen erheblichen sozialen Aufstieg erfahrt, dafür aber ihren angesehenen Mann vor den Augen der Dorfgemeinschaft bei der Postenübernahme unterstützen und hart arbeiten muß. Die Gemeinschaft bedeutet für sie weniger Anrechte oder Ansehen als Verpflichtungen. Marcela hat als alleinstehende Frau einen größeren Handlungsraum und nach der Trennung der Ehe die Möglichkeit, ihre Angst in der Öffentlichkeit zu überwinden und in der Organisation Posten zu übernehmen und ihre Meinung zu sagen. Sie erobert damit den Raum der Öffentlichkeit in der Dorfgemeinschaft, obwohl sie Analphabetin ist und kein Spanisch sprechen kann. Sie verschafft sich damit ein verbessertes Ansehen und sichert auf diese Weise ihre Anrechte und die ihrer Familie als Mitglied der Dorfgemeinschaft.

4.3.

Die Lebensverlaufskurven von vier Frauen zwischen 50 und 60 Jahren

4.3.1. Zwischen Mißbrauch, Ausschluß und Suche nach einem Platz in der Gemeinschaft: Die Lebensverlaufskurve von Teodora Teodora ist zum Zeitpunkt des Interviews 57 Jahre alt. Sie hat von sich das Bild eines ungewollten und ungeliebten Wesens. Sie sagt fast nichts über sich und ihre eigenen Gefühle und stellt sich nicht neben sich beim Erzählen, sondern reiht Anekdote an Anekdote. Teodora kommt aus armen Verhältnissen aus einem Dorf in der Seezone. Sie hat ein starkes Trauma: vermutlich als uneheliches Kind wächst sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr bei ihrer Großmutter mütterlicherseits auf. Ihren Vater lernt sie nie kennen. Als die Großmutter stirbt, kommt sie zu ihrer Mutter, die mit einem Mann zusammenlebt, der nicht ihr Vater ist. Dort wird sie nur widerwillig geduldet. Als Jugendliche wird sie in die Bezirkshauptstadt Acora zu einer Patentante geschickt und als Arbeitskraft ausgebeutet. Sie kommt nicht zur Schule und als nur aymarasprachige Jugendliche wird sie von anderen zweisprachigen Jugendlichen auf Spanisch gehänselt und diskriminiert. Sie hat große Angst und traut sich nicht zu sprechen. Als ihr vorgeworfen wird, Dinge gestohlen zu haben, kann sie sich nicht wehren.

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Weil sie es in Acora nicht aushält, kehrt sie ins Dorf zu ihrer Mutter zurück, in deren Familie sie jedoch unerwünscht ist. So pendelt sie mehrfach hin und her, bis sie nicht mehr weiß, wo sie eigentlich hingehört. Schließlich wird sie von ihrem Stiefvater geschwängert. Damit hat sie nicht nur mehrere Tabus des unsittsamen Verhaltens, des Verlusts ihrer Jungfräulichkeit vor der Heirat, des QuasiInzests und der Untreue des Ehemanns ihrer Mutter gebrochen, sondern auch ihr ohnehin niedriges Ehrkapital aufgrund ihrer zweifelhaften Herkunft, ihrer unklaren Erbschaftsverhältnisse und ihrer geringen Schulbildung endgültig verspielt und muß wegen dieser doppelten Schande das Dorf verlassen. Sie läßt das Kind zurück und sieht sich aus der Familie und aus der Dorfgemeinschaft verstoßen. Weder kann sie weiter bei der Mutter und dem Stiefvater bleiben, noch ist sie für die Heiratsvermittlung geeignet. Sie ist somit dazu gezwungen, zu migrieren und kann wegen des Ehrverlustes dabei auch außerhalb der Dorfgemeinschaft kaum auf familiäre Netze zurückgreifen. Ihrer Schilderung ist nicht zu entnehmen, wer ihr Kind aufnimmt, ob es überlebt und ob sie es jemals wieder sieht. Es kann jedoch vermutet werden, daß ihre Mutter das Kind aufgezogen hat. Teodora wandert tagelang zu Fuß, bis sie erst in Arequipa (der zweitgrößten Stadt Perus an der Südküste mit zahlreichen Aymara Migranten) ankommt. In Arequipa sucht sie einige entferntere Verwandte auf, um mit ihrer Hilfe eine Arbeit zu finden. Sie hat jedoch wenig Erfolg dabei und reist nach Lima weiter. Dort arbeitet sie als Hausangestellte. Es ergeht ihr besonders schlecht, weil sie in Lima kaum auf Verwandtschaftsbeziehungen zurückgreifen kann und nur mühselig Spanisch lernt. Als Hausangestellte wird sie geschlagen, ausgebeutet und schlecht bezahlt, bis sie mit Hilfe fremder Frauen bei der Polizei Anzeige erstatten und die Arbeitgeberfamilie wechseln kann. Nach mehreren Jahren wird Teodora schließlich von der Mutter nach Puno zurückgeholt. Auf diese Weise hat sie zumindest ihre Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft zurückerhalten. Sie lebt zunächst im Dorf und migriert saisonal nach Moquegua und Tacna. Dort lernt sie schließlich einen Mann aus dem gleichen Dorf kennen, den sie heiratet. Obwohl die Heirat nicht von den Eltern vermittelt wird und sie sich selbst als vollkommen handlungsunfähig und dem Schicksal ausgeliefert betrachtet, handelt es sich dabei möglicherweise um den Versuch, ihr Ehrkapital in der eigenen Dorfgemeinschaft durch die Heirat mit einem Mann aus dem gleichen Dorf zu verbessern. Sie lebt mit ihrem Mann jedoch hauptsächlich an der Küste außerhalb der Dorfgemeinschaft, wahrscheinlich deshalb, weil keiner von beiden zum Zeitpunkt der Heirat auf eine Erbschaft zurückgreifen kann. Die Heirat scheitert schon bald. Teodora wird von ihrem Mann geschlagen, er verdient wenig, und schließlich zeugt er mit einer anderen Frau ein Kind. Teodora hat insgesamt drei Kinder, wobei offen bleibt, ob das erste Kind mit ihrem Stiefvater dazu gezählt wird.

117 Teodora beschreibt sich bis zur Trennung von ihrem Ehemann als vollkommen handlungsunfähig und abhängig von der Hilfe fremder, nicht mit ihr verwandter Personen. Sie erlebt sich in die Ereignisse verstrickt, ohne sich selbst als aktiv Handelnde zu empfinden. Auch im Rückblick traut sie sich keine Interpretation der eigenen Erfahrungen zu. Sie nimmt so lange eine Opferhaltung ein, bis sich schließlich jemand für sie einsetzt. Teodora ist traumatisiert, beziehungsunfahig und versteht es nicht, sich selbst zu verteidigen. Sie erwähnt keine eigenen Ziele oder Optionen. An der Küste hat sie sich als alleinstehende Analphabetin mit geringen Spanischkenntnissen keine eigene Lebensperspektive aufbauen können. Nach dem Scheitern ihrer Ehe kehrt sie trotz ihres geringen Ehrstatus in ihr Heimatdorf zurück und kann dort ihr eigenes Leben so gestalten, daß sie mit ihren Kindern in einem eigenen Haushalt überleben kann. Es bleibt unklar, ob sie von ihrer Mutter eine Erbschaft erhalten hat, oder ob auch ihr Mann und seine Familie etwas beigetragen haben. Daher muß eher davon ausgegangen werden, daß sie mit Ressourcen ihrer Mutter und ihren Einkünften aus der saisonalen Migration überlebt. Erst als ältere Frau mit einem Platz in der Gemeinschaft empfindet sie Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit. In der Dorfgemeinschaft paßt sie sich einerseits an, andererseits hat sie jedoch sowohl durch die eigenen Normenbrüche als auch durch ihre Migrationserfahrungen erzwungenermaßen eine Distanz zu Werten und Verhaltensweisen der ländlichen Lebenswelt entwickelt. Diese Distanz ermöglicht es ihr, eigene Handlungsmuster zu finden und ein eigenes Ehrgefühl aufzubauen. Teodora beginnt, Praktiken und Wertvorstellungen beider Lebenswelten miteinander zu kombinieren. Im Dorf trägt sie gekaufte Trachtenkleidung, die sie auf dem Feld mit Trainingshosen kombiniert. Da sie weiter saisonal an die Küste migriert, trägt sie dort städtische Kleidung. Ihr niedriges Ehrkapital im Dorf versucht Teodora durch Spanischkenntnisse, Geldeinkommen und die Übernahme von Posten in der Frauenorganisation zu verbessern. Da sie Spanisch spricht, lesen und schreiben kann, wird sie - obgleich von den anderen Frauen auf dem Posten nicht gern gesehen - jedoch schließlich toleriert; mit der Zeit verschafft sie sich auf diese Weise ihren Platz in der Gemeinschaft. Dort kann sie ihre Migrationserfahrungen und Kenntnisse im Umgang mit der Außenwelt einbringen. Die Stadt bedeutet für sie vor allem Zugang zu Geldeinkommen. Das Dorf schränkt sie zwar ein, bedeutet jedoch Zugehörigkeit und Zugang zu Ressourcen. Teodora findet im Alter langsam aus der Opferrolle heraus und erlebt sich selbständig und handlungsfähig. Ihr Selbstentwurf besteht darin, sich in beiden Lebenswelten zu bewegen und sich einerseits an die jeweiligen sozialen Praktiken, wie Kleidung, Sprache und Lebensweise anzupassen, andererseits die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit zu erkennen und sich über bestimmte Normen, denen sie aus eigener Sicht sowieso nicht mehr entsprechen kann, hinwegzusetzen. Ihr eigenes Ehrkapital im Dorf erhält

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für sie daher eine eher untergeordnete Bedeutung, nachdem sie sich ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft nicht zuletzt durch politischen Einfluß in der Frauenorganisation gesichert hat. Teodora ist ein Grenzfall. Durch die Migrationserfahrung und ihren vorübergehenden Ausschluß aus Familie, Verwandtschaft und Dorfgemeinschaft ist sie in der Lage, sich über eine Reihe von Normen hinwegzusetzen und in fortgeschrittenerem Alter einen eigenen Lebensentwurf zu entwickeln, der Werte und Praktiken aus beiden Lebenswelten miteinander kombiniert oder der jeweiligen Situation entsprechend gegeneinander austauscht.

4.3.2. Zwischen Verstrickung, eigener Entscheidung und Zugang zu beiden Wertsystemen: Die Lebensverlaufskurve von Maria Maria ist zum Zeitpunkt des Interviews 56 Jahre alt. Sie wurde in der Zone der Kordillere in eine angesehene Familie hineingeboren und hat ein positives Bild von sich selbst, von ihrer Kindheit und von ihren Fähigkeiten. Ihr Vater ist als Medizinmann (curandero) im Dorf angesehen und verfügt offenbar sowohl über Land- und Viehbesitz als auch über Geldeinkommen. Maria ist der Auffassung, daß sie gut weben kann, daß es Dinge gibt, die ihr Spaß machen, und daß sie gerne auch im Alter noch dazulernt. Sie berichtet einerseits mit Stolz, daß sie besser als ihre Mutter Figuren weben könne, nachdem sie sich selbst das Weben beigebracht habe. Andererseits ist sie für einige Jahre zur Schule gegangen und hat auch im Alter das Lesen noch nicht verlernt. Um nicht aus der Übung zu kommen, läßt sie sich von ihren Kindern Aufgaben geben und korrigieren. María ist in der Lage, aus eigenen Fehlern zu lernen und sogar darüber zu lachen. Sie betrachtet sich mit Selbstironie, läßt sich nicht leicht verunsichern und erlebt sich als aktiv und handlungsfähig. Die positive Lebenshaltung von Maria ist im Vergleich zu den anderen Interviewpartnerinnen außergewöhnlich. Maria ist als Einzelkind aufgewachsen und hat nur noch eine wesentlich ältere Halbschwester aus der ersten Ehe ihres Vaters, die im Tiefland lebt. Ihre Eltern hatten es nicht eilig, sie zu verheiraten, da sie aufgrund ihrer Herkunft und den günstigen Erbschaftsvoraussetzungen als Einzelkind wirtschaftlich abgesichert war. Ihre Halbschwester heiratete gar nicht. Ihr Vater schickte seine einzige Tochter aus zweiter Ehe für drei Jahre in eine von Verwandten geleitete Privatschule, die Maria behüteten und verwöhnten. Allerdings ließ ihr Vater sie nicht im Nachbarort weiter zur Schule gehen. Maria lernte ihren Mann, einen Bolivianer, der zu ihr ins Dorf zieht, durch Handelsbeziehungen ihres Vaters kennen. Sie heiratet spät mit knapp zwanzig Jahren. Da sie mehr Güter als ihr Ehemann in die Ehe einbringt, und nicht bei ihrer Schwiegermutter aufwachsen muß, verläuft ihre Ehe nach eigenen Aussa-

119 gen glücklich. Sie vergleicht ihre Ehe mit anderen im Dorf und stellt fest, daß ihr Mann - im Gegensatz zu anderen Männern im Dorf - sie einerseits nicht einschränkt, sich andererseits aber dennoch aktiv an der Kindererziehung beteiligt und dazu bereit ist, auch traditionelle Frauenaufgaben mit zu übernehmen. Gemeinsam haben sie elf Kinder. Maria schätzt außerdem die Webfahigkeiten ihres Mannes und erwähnt begeistert gemeinsame Weberfahrungen in der Ehe, die für sie eine positive Stärkung ihres Partnerbezugs bedeuten. Maria macht sich keine Gedanken über ihr Ehrkapital. Als Mädchen mit guter Herkunft und als verheiratete Frau hat sie keine Probleme mit ihrem Ansehen und auch ihr Mann scheint sich ohne Schwierigkeiten in ihrem Heimatdorf eingegliedert zu haben. Trotz ihrer Integration in die Dorfgemeinschaft aufgrund ihres hohen Ehrstatus und ihrer Entscheidungsfreiheit und Handlungsräume innerhalb der ländlichen Lebenswelt fühlt sie sich gleichzeitig von der städtischen Lebenswelt weitgehend ausgegrenzt. In bezug auf die außerdörfliche städtische Lebenswelt fühlt sich Maria aufgrund mangelnder Schulbildung jedoch stark benachteiligt. Sie versucht, ihr Spanisch mit Hilfe ihrer Enkelkinder zu verbessern. Maria betont, daß sie etwas Spanisch verstehe, aber beim Antworten manchmal noch Schwierigkeiten habe. Ihr Mann habe die Sekundärschule fast beendet, ihm fehle nur ein Jahr. Durch ihre mangelnden Spanischkenntnisse fühlt sich Maria stark eingeschränkt. Ihrer Ansicht nach wäre es besser, "Mestize" zu sein und beide Sprachen zu beherrschen. Dann könnte sie sich freier zwischen Stadt und Land bewegen und sich verteidigen, ganz gleich, was die Leute sagen würden. Ihr Lebensentwurf bleibt jedoch auf das Dorf als Lebensmittelpunkt ausgerichtet, und sie selbst sieht für sich keine Möglichkeit mehr, zur "Mestizin" zu werden. Für ihre Kinder, von denen mehrere bereits an der Küste leben, hält sie das "Mestizentum" jedoch durchaus für erstrebenswert. Ihre eigene Lebenserfahrung außerhalb der Dorfgemeinschaft bleibt im wesentlichen auf kurze Besuche auf Märkten in der Region beschränkt.

4.3.3. Zwischen Verunsicherung, Verbitterung und Selbstbehauptung: Die Lebensverlaufskurve von Celia Celia war zum Zeitpunkt des Interviews 56 Jahre alt. Sie kommt aus einem Dorf in der mittleren Zone und hat von sich das Bild einer benachteiligten Waisen, die vom Kindesalter an auf einer Hazienda ausgebeutet wurde. Sie erlebt, wie ihre Eltern auf der Hazienda arbeiten und sterben. Ihren Vater verliert sie im Kleinkindalter durch einen Unfall, ihre Mutter stirbt, als sie gerade erst vierzehn Jahre alt ist.

120 Celia ist das jüngste von neun Kindern, von denen jedoch nur fünf überleben. Sie bringt einerseits zum Ausdruck, daß sie ihre Mutter vermißt und wünschte, sie würde noch leben. Andererseits spricht sie davon, wie sie als Jugendliche fröhlich herum gerannt sei und ihre Schwierigkeiten eigentlich mit der Heirat begannen. Zunächst arbeitet sie als Jugendliche auf der Hazienda weiter, wo sie bei den Adventisten eingeschult wird. Sie geht gerne zur Schule und beschreibt sich als lernbegierig. Ihre Erinnerungen an ihre Schulerfahrungen sind so positiv, daß sie sich bis heute an Lehrer und Inhalte des Mathematik- und des Englischunterrichts erinnert. Ansonsten bezeichnet sie sich im Rückblick jedoch als ignorant, weil sie damals, im Gegensatz zu heute, kein Spanisch konnte. Sie beschreibt, wie sie von ihrem Bruder, der an die Küste migriert war, gekaufte städtische Kleidung und den Hinweis bekam, die Trachtenkleidung abzulegen. Sie befolgte die Anweisungen ihres Bruders zwar gehorsam, kam sich in Rock und Bluse ohne Tracht jedoch sehr komisch vor, weil diese Kleidung nur von Frauen getragen werden sollte, die Spanisch sprechen können. Im Rückblick meint sie, da müsse sie so lächerlich wie ein verkleidetes Schaf ausgesehen haben. Heute trägt Celia sowohl im Dorf als auch außerhalb teils selbst hergestellte, teils gekaufte Trachtenkleidung. Celia wird spät mit über zwanzig Jahren verheiratet. Sie verschweigt das genaue Alter ihrer Heirat. Als Waisenkind mit geringer Erbschaft ist sie eine "schlechte Partie" und ihre Heirat wird schließlich von ihrem Bruder vermittelt. Obwohl Celia nicht in ein fremdes Dorf zu den Schwiegereltern ziehen muß, hat die Ehe für sie dramatische Folgen. Ihr Mann stammt wie sie aus armen Verhältnissen und seine Herkunft sowie seine Verwandten bleiben unerwähnt. Er muß außerhalb des Dorfes seine Arbeitskraft verkaufen, um die Familie zu unterhalten. Gemeinsam bekommen sie vier Kinder. Die Ehe übersteht die langen Trennungen nicht, ihr Mann zieht nach Cusco und heiratet dort eine Quechua. Celia ist heute offiziell nach peruanischer Gesetzgebung geschieden und hat mehrere Gerichtsverfahren in Cusco wegen Zahlungsforderungen für Alimente hinter sich. Sie muß lernen, sich auf Spanisch und auf Quechua zu verteidigen, mit Behörden und Anwälten umzugehen, viel zwischen Cusco und Puno unterwegs zu sein und gleichzeitig ihren Status als Dorfmitglied nicht zu verlieren. Celia hat aufgrund der Ressourcenknappheit mehrfach versucht, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder außerhalb des Dorfes zu verdienen. Sie hat vielfaltige Arbeitserfahrungen in Cusco als Straßenverkäuferin, als Schmugglerin an der bolivianischen Grenze oder mit illegalem Transport von Cocablättern zwischen Tief- und Hochland. Gegenüber einer ganzen Reihe von Personen und Institutionen, darunter Männern, Städtern, Parteien, Präsident Fujimori und Hazienda-Besitzern hat sie Groll und Ressentiments angehäuft. Nach direktem Kontakt mit Justizbehörden, Polizei und vielfaltigen Formen der Diskriminierung und körperlicher Gewalt leidet sie unter Verfolgungswahn (wie früher die

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Adventisten, die von den Großgrundbesitzern verfolgt und eingesperrt wurden, weil sie auf den Dörfern Schulen errichteten). Als Waise mit geringer Erbschaft und als alleinstehende, geschiedene Frau mit Kindern war und ist ihr Ehrstatus im Dorf niedrig und ihr Leben hart. Sie ist der Ansicht, daß Frauen grundsätzlich mehr arbeiten als Männer, die eine ganze Reihe von Aufgaben einfach nicht übernähmen. Deshalb müßten Frauen mehr als bisher respektiert werden und Anerkennung finden. Ohne Mann im Haushalt sei jedoch alles schwieriger. Oft weiß sie nicht, wie sie die Familie ernähren soll. Ihr geringer Ehrstatus beschäftigt sie sehr. Sie legt großen Wert darauf, mehrfach zu betonen, daß sie sich moralisch korrekt verhalte. Auf dem Dorf sieht sie sich als alleinstehende Frau benachteiligt und zu wenig respektiert. Sie fordert mehr Respekt mit dem Argument, sie verhalte sich schließlich den Regeln entsprechend, sei sittsam und habe keine neue Beziehung zu einem Mann angefangen und keine Kinder mehr bekommen. Daher könnten auch ihre Kinder ihr nichts vorwerfen. Celia fühlt sich vom Leben ungerecht behandelt. Wenn sie über ihr Leben nachdenke, werde sie sehr ärgerlich und könnte heulen. Einerseits nimmt sie eine distanzierte Haltung denjenigen Normen gegenüber ein, denen sie ohnehin aufgrund ihrer Herkunft nie entsprechen konnte. Andererseits besteht ihr Selbstentwurf darin, ihren Ehrstatus und die Familienehre soweit wie möglich durch konformes Verhalten für sich selbst und ihre Kinder zu verbessern und aktiv auszuhandeln. Als alleinstehende Frau mit geringer Verwandtschaft ist sie gezwungen, ihren Mitgliedsstatus und ihren Zugang zu Ressourcen in einer staatlich anerkannten Dorfgemeinschaft mit einem gemeinschaftlichen Landtitel immer wieder neu auszuhandeln. Sie muß ständig darum kämpfen, innerhalb des Dorfes ihren Landbesitz zu erhalten. Als alleinstehende Frau müsse sie ihre Verpflichtungen als Dorfmitglied für alle sichtbar erfüllen: Sie dürfe daher bei keiner DorfVersammlung fehlen, um ihr Land und ihren Status als Dorfmitglied nicht zu verlieren. Celia fühlt sich auch in dieser Hinsicht von der Gemeinschaft unfair behandelt. Sie beklagt, daß bei Verheirateten jeweils ein Partner auf dem eigenen Hof bleiben könne, während der andere für die Gemeinschaft arbeiten gehe. Auf diese Weise gäbe es einen Ausgleich. Aber für eine Frau allein sei das schwierig. Manchmal denke sie deshalb daran, ihr Vieh zu verkaufen, wegzugehen und irgendwo ein Geschäft aufzumachen. Aber wenn sie z.B. nach Cusco komme, dann sähe sie jede Menge Händler, die sehr billig verkaufen. Selbst für die Reichen seien die Zeiten heute schwierig geworden. Celia lebt deshalb weiterhin im Dorf und hat einen Posten in der Frauenorganisation übernommen. Auf diese Weise versucht sie, ihren Ehrstatus durch ihre Spanischkenntnisse und ihre Erfahrungen mit der städtischen Lebenswelt zu verbessern und ihren Platz in der

122 Gemeinschaft zu sichern. Im Fall von Celia wird deutlich, daß sie trotz eines erkämpften und mehr oder weniger unfreiwilligen Zugangs zur städtischen Lebenswelt außerhalb der Dorfgemeinschaft für sich keine Überlebensperspektive gefunden hat. Ihr Selbstentwurf besteht daher darin, sowohl ihre eigene Perspektive als auch die ihrer Kinder in der Dorfgemeinschaft soweit wie möglich zu erhalten und für ihr geringes Ehrkapital aktiv Verbesserungen auszuhandeln.

4.3.4. Zwischen Verletzung und Rückzug: Die Lebensverlaufskurve von Andrea Andrea war zum Zeitpunkt des Interviews 50 Jahre alt. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen aus einem Dorf der Kordillere und hat ein bewegtes Leben hinter sich, obwohl sie die Dorfgemeinschaft nie für längere Zeiträume verlassen hat. Sie hält sich selbst für wertlos, weil sie nicht lesen kann und kein Spanisch versteht. Deshalb tut sie alles, um ihre Kinder zur Schule zu schicken und spinnt Wolle für andere Personen, um den Schulbesuch zu finanzieren, obwohl ihr zweiter Mann gegen den Schulbesuch der (möglicherweise nicht eigenen) Kinder gewesen sei. Sie bedauert sehr, als Kind "nur" spinnen, weben, Feldarbeit und Viehzucht, d.h. spezifisch weibliche traditionsbezogene Fähigkeiten erlernt zu haben und wünscht deshalb auf jeden Fall eine bessere Bildung für ihre Kinder, damit diese den veränderten Anforderungen an Kenntnisse und Fähigkeiten besser gewachsen sind als sie selbst. Ihre Haltung zu ihren Eltern ist distanziert, und der Ärger darüber groß, daß die Entscheidungen ihrer Eltern absolut nicht ihren Bedürfnissen entsprachen. Sie wird nicht zur Schule geschickt und erhält damit keinen Zugang zu neuerdings geschätzten Fähigkeiten. Sie stellt ihre Mutter als zu ungebildet dar, um zu verstehen, warum Schulbildung für sie als Mädchen wichtig gewesen wäre. Die Mutter wird nur im Zusammenhang mit von Andrea als "dumm" bezeichneten Sprichwörtern (über den Schulbesuch von Mädchen, oder über das Tanzen vor der Heirat) geschildert. Rückblickend rebelliert Andrea gegen die Werte ihrer Eltern. Gleichzeitig reagiert sie jedoch stark verunsichert darüber, daß die jungen Leute auf dem Dorf gegenüber den ländlichen Werten der Aymara nicht den gleichen Respekt zeigen wie sie selbst. Sie ist sehr verletzt vom Ungehorsam ihrer Kinder, die trotz ihrer großen Opfer die Schule nicht beenden wollen. Sie bezeichnet Kinder von heute als faul, weil sie gekaufte Kleidung tragen. Weder ihre Tochter noch ihre Söhne wollten das Weben lernen und hätten heimlich alte von ihr geerbte Stoffe verkauft. Andrea traut sich sowohl aus Alters- als auch aus Statusgründen nicht, gekaufte Trachtenkleidung zu tragen. Sie trägt nur selbst

123 gewebte Wolltracht. Ihr Erfahrungshorizont ermöglicht es Andrea nicht, sich einen realistischen Entwurf für das Leben ihrer Kinder auszumalen. Ihr weibliches Ehrkapital, das ohnehin durch ihre Abstammung niedrig war, verschlechterte sich sehr, weil sie mehrfach heiratete, ihre Fähigkeit zur Mutterschaft in Frage gestellt wurde und weil sie heute als Witwe alleinstehend ist. Von ihrem ersten Mann wurde sie verlassen, nachdem eine große Anzahl ihrer Kinder starb (von zehn Kindern starben sechs im Kleinkindalter und eins mit siebzehn Jahren). Im Dorf ist sie starker Kritik wegen der Kindersterblichkeit ausgesetzt. Ihr zweiter Mann starb und es bleibt unklar, wie viele Kinder aus welcher Ehe stammen. Als Witwe versucht Andrea ihren Ehrstatus und ihre Dorfmitgliedschaft durch die Übernahme von Posten zu verbessern bzw. abzusichern. Sie übernimmt den Posten des Patronats eines Gemeinschaftsfestes, der mit großen Ausgaben für die Verpflegung und Bewirtung der Gäste verbunden ist und früher als Bestandteil eines Rotationssystems für den Familienstatus sehr wichtig war. Normalerweise werden die Patronatsposten für Feste von einem Mann gemeinsam mit seiner Ehefrau übernommen, die bei allen Ritualen und bei der Bewirtung von Gästen eine wichtige Rolle spielt. Andrea übernimmt das Patronat ohne Ehemann allein und trinkt aus rituellen Gründen deshalb genauso Alkohol wie Männer. Damit verbessert sie zu ihrem eigenen Erstaunen zwar einerseits ihr symbolisches Kapital, ist aber andererseits dem Gerede insbesondere der Frauen ausgesetzt, die ihr Verhalten als unweiblich kritisieren. Inzwischen hat sie resigniert und behauptet, nicht auf das Gerede zu reagieren, um keinen Streit mit Leuten anzufangen. Sie muß sich langsam damit abfinden, daß die Leute sie nicht nur loben, obwohl sie Gemeinschaftsverpflichtungen übernimmt, die heute niemand mehr übernehmen will. Andrea verteidigt jedoch das Recht, auch als alleinstehende Frau Gemeinschafitsposten übernehmen und auf Festen Alkohol trinken zu dürfen. Schließlich würden Männer sich deswegen auch nicht untereinander kritisieren. Dabei wird deutlich, daß sie vor allem der Kritik unter Frauen ausgesetzt ist und es ihr schwer fallt, mit der Befolgung von Regeln der männlichen Ehre unter Frauen einen besseren Status auszuhandeln. Aus dem Beispiel von Andrea läßt sich schließen, daß ein Selbstentwurf, der vor allem mit der Übernahme von männlichen Räumen durch Frauen innerhalb der Dorfgemeinschaft verbunden ist, nicht unbedingt eine Verbesserung der Zuschreibung auf der weiblichen Ehrskala zur Folge hat, für die andere Regeln gelten. Für Frauen und Männer sind jeweils unterschiedliche Regeln im Zusammenhang mit deutlich geschlechtsspezifisch markierten Räumen, Funktionen und Aufgabenbereichen gültig.

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4.4. Zusammenfassender Überblick über die Altersgruppe zwischen 50 und 60 Jahren Die Fallbeispiele dieser Altersgruppe veranschaulichen ein Spektrum von sehr unterschiedlichen Lebensverläufen und ungleichzeitigen Lernprozessen im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten. Drei der vier Frauen sind zum Zeitpunkt der Interviews alleinstehend. Zwei Frauen werden zwangsverheiratet. Alle übernehmen mit zunehmendem Alter aktive Strategien. Einige können mit Erfolg Handlungsräume erweitern. Die Entscheidungsfahigkeit ist nur bei einer der vier Frauen relativ jung gegeben. Maria strebt als einzige verheiratete Frau dieser Altersgruppe aus einer relativ privilegierten Situation mit einem hohen Ehrstatus und einer nicht hinterfragten Dorfzugehörigkeit einen ausgewogenen Zugang zu beiden Lebenswelten an. Ihr Lebensentwurf beinhaltet den Wunsch nach Entscheidungsfreiheit in bezug auf Wertsysteme beider Lebenswelten. Die anderen Frauen sind im wesentlichen mit der Verarbeitung von weitgehend fremdbestimmten Ereignissen in ihrem Leben und der Auseinandersetzung mit bestehenden Normen und Werten und deren Veränderung innerhalb der Lebenswelt der Aymara befaßt. Sie sind erst in höherem Alter in der Lage, Strategien in bezug auf ihre eigene Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Die Schulbildung hat für alle Frauen eine hohe Relevanz, obwohl zwei von ihnen gezwungen waren, auch ohne Schulbildung Spanisch zu lernen. Nur Maria hält sich als einzige der vier Frauen auch im Alter noch für lernfahig. Während sich zwei Frauen aus der Kordillere vor allem in der dörflichen Lebenswelt bewegen und von der städtischen Lebenswelt ausgeschlossen fühlen, sind die beiden anderen Frauen, von denen die eine aus der mittleren und die andere aus der Seezone kommt, dazu gezwungen, sich unter extrem ungünstigen Bedingungen in der städtischen Lebenswelt zurecht zu finden, ohne dort jedoch eine Lebensperspektive für sich aufbauen zu können. Beide Frauen versuchen daher mit allen Mitteln, wenn auch mit unterschiedlichen Selbstentwürfen und Ehrgefühlen, ihre Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft für sich und für ihre Kinder aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck unterwerfen sie sich in ganz unterschiedlichem Ausmaß den jeweiligen Regeln, Anforderungen und Pflichten, die sich aus der Ehrhierarchie unter Frauen und Familien in der Dorfgemeinschaft ergeben. Drei der vier Frauen übernehmen im Alter Posten in der Frauen- und Dorforganisation. Teodora wurde durch den Ausschluß aus der Dorfgemeinschaft dazu gezwungen, sich in der städtischen Lebenswelt an der Küste Perus zurechtzufinden, obwohl sie darauf durch geringe Schulbildung, fehlende Spanischkenntnisse und ohne Unterstützung durch die Verwandtschaft denkbar schlecht vorbereitet war. Ihr ergeht es in beiden Lebenswelten, der dörflichen wie der städtischen, sehr schlecht. Sie äußert daher keine Präferenzen für die eine oder andere Lebenswelt.

125 Ihr Lebensentwurf ist jedoch darauf ausgerichtet, ihren Platz in der Dorfgemeinschaft als soziale Absicherung für die Familie und sich selbst nicht zu verlieren. Mit Hilfe ihrer Mutter gelingt es ihr, ihren Status als Dorfgemeinschaftsmitglied wieder aufzunehmen und schließlich ins Dorf zurückzukehren. Aufgrund mangelnder Perspektiven außerhalb der Dorfgemeinschaft bei gleichzeitig geringer Erbschaft und geringem Zugang zu Ressourcen innerhalb der Dorfgemeinschaft, führt sie schließlich ein Leben zwischen beiden Lebenswelten und migriert weiterhin saisonal an die Küste. Sie paßt sich den jeweiligen Normen und Werten beider Lebenswelten an und entwickelt gleichzeitig eigene Kriterien bei der Kombination von unterschiedlichen Praktiken. Dabei stößt sie im Dorf auf Grenzen der sozialen Kontrolle und Kritik, von der sie sich stark eingeschränkt fühlt. Auch Celia versucht ohne Erfolg, nachdem ihr Mann sie verlassen hat, sich ein Leben außerhalb der Dorfgemeinschaft aufzubauen. Allerdings fuhrt ihr Lebensweg sie nicht an die Küste, sondern sie bewegt sich im Andenraum zwischen Puno, Cusco und der bolivianischen Grenze, ohne jedoch auf ihren Mitgliedsstatus in der Dorfgemeinschaft zu verzichten. Auch sie will in jedem Fall im Dorf bleiben. Dort rebelliert sie einerseits gegen Normen und Verpflichtungen, denen sie als alleinstehende Mutter ausgesetzt ist und die sie als ungerecht empfindet. Andererseits baut sie aufgrund von Diskriminierungserfahrungen starke Ressentiments gegenüber Werten, Normen und Institutionen der städtischen Lebenswelt auf. Im Dorf versucht sie, ihren Ehrstatus aktiv neu auszuhandeln, indem sie sich Argumente für ihr moralisch korrektes Verhalten und ihre Schamhaftigkeit zurechtlegt und aktiv ihre Migrationserfahrungen und Sprachkenntnisse zugunsten der Frauenorganisation einsetzt, in der sie einen Posten im Vorstand übernimmt. Auf diese Weise versucht sie, aktiv auf die Bewertung ihrer Person durch andere Einfluß zu nehmen. Andrea bleibt als jüngste der vier Fallbeispiele am stärksten in der Lebenswelt der Aymara verhaftet und hat am wenigsten Zugang zur städtischen Lebenswelt. Einerseits muß sie permanent um ihr Überleben und das ihrer Kinder, sowie um ihren Ehrstatus kämpfen und entwickelt einerseits eine resignierte Haltung, andererseits versucht sie aktiv ihr Ehrkapital mit Hilfe der Übernahme von Posten auf Festen zu verbessern. Dieser Versuch scheitert jedoch aus mehreren Gründen, zum einen, weil diese Funktionen inzwischen einen Wertverlust erlitten haben und den Frauen von den Männern aus Desinteresse oder aufgrund situationsbedingter Zwänge überlassen werden; zum anderen scheitert er, weil Andrea von den anderen Frauen kritisiert wird, weil sie sich auf den Festen wie die Männer betrinkt.

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4.5.

Die Lebensverlaufskurven von drei Frauen zwischen 40 und 50 Jahren

4.5.1. Zwischen kritischer Distanz und Resignation: verlaufskurve von Senobia

Die Lebens-

Senobia war zum Zeitpunkt des Interviews 48 Jahre alt. Sie stammt aus einer Familie aus einem Dorf der Kordillere mit durchschnittlichem Besitz und Ehrstatus und ihr Lebenslauf entspricht weitgehend den Normen. Erst im Alter von acht Jahren wird sie für drei Jahre zur Dorfschule geschickt, die nur drei Schuljahre umfaßt. Sie hätte gerne die Schule in einem Nachbarort beendet und spät geheiratet. Als junges Mädchen wollte sie in die Stadt abwandern, um Näherin zu werden, aber ihre Eltern waren dagegen. Senobia wird jung in ein weit entferntes Dorf zwangsverheiratet und bekommt neun Kinder. Sie leidet sehr in der Ehe, die sie als schlecht bezeichnet und lehnt die Institution der Zwangsheirat ab. Senobia nimmt ihren Eltern gegenüber eine kritische Haltung ein, weil diese ihrer Meinung nach alles Erdenkliche getan haben, um ihr durch geringe Schulbildung und die Zwangsheirat alle persönlichen Entwicklungschancen zu verbauen. Trotz der Eheprobleme, der geringen Unterstützung durch den Ehemann im Alltag und ihrer Arbeitsüberlastung hält sie durch und hat daher kaum Probleme mit ihrem Ehrkapital. Senobia klagt jedoch über die große Arbeitsüberlastung und die Opfer, die sie für die Ausbildung, Ernährung und Kleidung ihrer vielen Kinder bringen muß. Sie hat sieben Söhne und zwei Töchter; ihre ältesten Söhne haben bereits geheiratet. Daher muß sie auch noch Schwiegertöchter im Haushalt aufnehmen und mit ernähren. Senobia stellt fest, daß früher die landwirtschaftliche Produktion wesentlich ertragreicher gewesen sei. Heute könne sie nur noch mit Hilfe des Viehverkaufs auf dem Markt Nahrungsmittel einkaufen. Oft gäbe es nichts zu essen. Senobia hält sich jedoch nicht lange bei ausfuhrlichen Beschreibungen von Anbaupraktiken oder Riten auf. Ihr Hauptthema ist das Spinnen, Weben und Nähen, eine Hauptbeschäftigung, um die gesamte Familie einzukleiden und zusätzlich noch Geldeinnahmen zu erwirtschaften. Sie findet, daß ihr Mann sie aufgrund zu geringer Kenntnisse und Fähigkeiten zu wenig beim Spinnen und Weben unterstützt. Daher ftihlt sie sich überlastet, unzufrieden und wenig anerkannt: Senobia erlebt, wie ihre Kinder nicht mehr die selbst hergestellte, sondern lieber die gekaufte Kleidung tragen möchten. Im Alter werden ihre Augen schlechter und behindern sie sehr beim Spinnen und Weben. Senobia würde gerne in der Frauen- oder Dorforganisation einen Posten übernehmen. Sie fühlt sich jedoch auf öffentlichen Versammlungen ohnmächtig und möchte heulen, weil es ihr so schwer fällt, Reden zu halten. Sie habe zu wenig

127 Schulbildung und alles wieder vergessen. Heute lerne sie in der Frauenorganisation etwas, und das gäbe ihr viel Kraft und Stärke. Dort würden sehr gute Dinge besprochen, die den Gedanken einen freien, leichten Lauf geben würden. Für sie bietet die Organisation die einzige Fortbildungsmöglichkeit, da sie in ihrem Alter und aufgrund ihrer Lebensbedingungen nicht mehr lesen und schreiben lernen könne. Außerdem erhofft sie sich durch die gemeinsame Vermarktung von gewebtem Kunsthandwerk ein zusätzliches Geldeinkommen. Gleichzeitig ist sie aufgrund ihres hohen Ehrstatus als verheiratete Frau mit akzeptabler Herkunft unter Frauen gut angesehen. Senobia sagt, daß sie auch heute noch etwas lesen kann. Im dritten Schuljahr hätte sie sogar Diktate schreiben können. Aber nun sei sie aus der Übung. Sie ist der Ansicht, daß sie für alles im Leben gewappnet gewesen wäre, wenn sie nur hätte lesen und schreiben können. Dann hätte sie auch besser vor großen Gruppen reden und mit Spanischkenntnissen Behördengänge machen können. Lesen und Schreiben erscheinen Senobia wichtiger als ihre Fähigkeiten zum Spinnen, Weben und Nähen. Senobia ist der Ansicht, daß heute viel zu viele Produkte aus der Eigenproduktion vermarktet und aus industrieller Produktion auf dem Markt gekauft werden, und daß wieder mehr eigene Produkte wie früher konsumiert werden sollten, weil dadurch eine verbesserte Nahrungsqualität erreicht würde. Gleichzeitig beobachtet sie jedoch, wie sich auch ihre eigenen Gewohnheiten hin zur Verwendung von mehr gekauften Produkten verändert haben. Sie selbst ist von der noch alltäglich genutzten selbstgewebten Wolltracht zur gekauften Trachtenkleidung bei besonderen Anlässen übergegangen. Senobia bringt trotz ihres hohen Ehrkapitals wie alle Frauen aus der Kordillere Unzufriedenheit über ihre Ausgrenzung vom Zugang zu Bildung und zur städtischen Lebenswelt zum Ausdruck. Für ihre Kinder wünscht sie sich ein Leben ohne Zwangsheirat und mit mehr Schulbildung. Gleichzeitig übernimmt sie jedoch ihre Rolle als Schwiegermutter den Ehefrauen ihrer Söhne gegenüber und verharrt in der Ehe und Familie. Es bleibt offen, ob sie sich für die Bildung ihrer Töchter genauso einsetzt, wie für diejenigen ihrer Söhne und ob sie ihren Töchtern eine eigenständige Partnerwahl überläßt. Ihr eigener Lebensentwurf ist auf die Familie und die Dorfgemeinschaft beschränkt. Sie hält sich nur noch für bedingt lernfähig und damit ist ihr Zugang zur städtischen Lebenswelt eingeschränkt. Aus ihrer Sicht besteht die Zukunft ihrer Kinder in einer Lebensperspektive in der Dorfgemeinschaft.

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4.5.2. Zwischen Ausgrenzung und Selbstbehauptung: Die Lebensverlaufskurve von María S. Maria S. war zum Zeitpunkt des Interviews 46 Jahre alt und kommt aus einem Dorf der Kordillere. Ihre Eltern arbeiteten auf einer Viehhazienda, ihre älteren Geschwister sind noch auf der Hazienda geboren und sie selbst arbeitete dort seit ihrem zwölften Lebensjahr zehn Jahre lang bis zur Auflösung der Großgrundbesitze durch die Agrarreform von 1969. Als Gegenleistung für ihre Arbeitskraft durfte sie zwar das Vieh der Familie auf die Weiden der Hazienda treiben, erhielt dafür aber keine Bezahlung. Drei Jahre lang ging sie auf die Schule der Hazienda bis sie mit sechzehn Jahren schwanger wurde. Ihre vier Brüder konnten demgegenüber die sechste Schulklasse beenden. Von ihren Eltern wird sie als 'Schandfleck' aus dem Haus geworfen. Sie zieht von der Hazienda in die Dorfgemeinschaft, wo sie mit Hilfe des Zugangs zu ehemaligem Hazienda-Land, das im Rahmen der Agrarreform umverteilt wird, einen eigenen Haushalt gründet und alleinstehend ihren Sohn aufzieht. Der Vater des Kindes migriert noch von der Hazienda an die Küste und heiratet dort später eine andere Frau. Seither ist María S. als alleinstehende Mutter bemüht, ihren Ehrstatus und ihre Mitgliedschaft in der Dorfgemeinschaft durch die Übernahme von Verpflichtungen, harte Arbeit bei Gemeinschaftsarbeiten und von Posten herzustellen und aufrecht zu erhalten. Sie ist der Ansicht, die Leute hätten nur dann einen Grund, sie zu verachten und zu sagen, daß sie ja nur eine Frau sei, wenn sie nicht so hart arbeiten würde. Ihr Selbstentwurf besteht darin, sich und ihrem Sohn durch Fleiß, Sittsamkeit und den Beweis von Fähigkeiten und die Übernahme von gemeinschaftlichen Verpflichtungen ein höheres Ehrkapital auszuhandeln. Inzwischen gelingt es ihr, regelmäßig männliche Arbeitskräfte für die Arbeit mit dem Ochsenpflug einzustellen. Das wertet sie als ein Zeichen dafür, daß sie im Dorf wieder respektiert und ihre Strategie in bezug auf ihren Ehrstatus und ihre Integration in die Dorfgemeinschaft erfolgreich ist. Zu ihrem Lebensentwurf gehört auch, daß sie sich, trotz verschiedener Heiratsanträge, gegen einen "neuen Irrtum" entschieden und nicht wieder geheiratet hat, um die Abstammungszuschreibung und die Erbschaft ihres Sohnes nicht zu gefährden und ihre Schamhafitigkeit zu beweisen, "damit ihr Sohn ihr nichts vorwerfen kann". Die Ehre ihres Sohnes und ihre Sexualehre stehen dabei im Widerspruch zu ihrer weiblichen und ihrer Familienehre. Denn als verheiratete Frau wäre es ihr nach eigener Schilderung sowohl wirtschaftlich als auch sozial besser ergangen, d.h. ihr symbolisches Kapital hätte sich ebenso wie der Zugang zu männlicher Arbeitskraft und zu Ressourcen der Gemeinschaft verbessert. Ihr Lebensentwurf ist mit der Befolgung der Regeln der Ehre wie Sittsamkeit, Verpflichtungsübernahme, Fleiß und Kampf um einen besseren Ehrstatus im Dorf ohne erneute Heirat verbunden. Sie ist so sehr damit beschäftigt, ihre Situa-

129 tion innerhalb der dörflichen Lebenswelt abzusichern und sich über die widersprüchlichen Ehranforderungen und ihre Strategien klar zu werden, daß sie keine Gedanken über die Lebenswelt außerhalb der Dorfgemeinschaft ausspricht. María S. ist der Ansicht, daß es Frauen heute schon besser gehe und sie nicht mehr so ausgebeutet würden wie früher, als sie Angst vor den "Herrschaften" gehabt hätten. Heute müsse man nicht mehr auf den Hazienden wie früher grüßen. Wie alle alleinstehenden Frauen beklagt sie die Tatsache, immer an den Dorfversammlungen teilnehmen und viele Verpflichtungen übernehmen zu müssen, um den Status als registriertes Dorfgemeinschaftsmitglied für sich und ihre Familie zu wahren. Daher ist sie auch zur Übernahme von Posten wie dem Patronat auf Festen und in Komitees verpflichtet, welches hohe Ausgaben und einen großen Arbeitsaufwand bedeutet. Auch María S. findet es unfair, daß von alleinstehenden Frauen wie von Männern mit Familie die gleichen Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber verlangt werden. Frauen hätten nicht die gleiche Kraft wie Männer und müßten häufig sogar jemanden für bestimmte Gemeinschaftsarbeiten einstellen und bezahlen. Deshalb findet sie, daß eine Frau auch als Frau angesehen werden müßte und weniger Arbeit übernehmen sollte. Die Dorfgemeinschaft verlange immer sehr viel von den Frauen. Sie ist der Ansicht, alleinstehende Frauen sollten fordern, weniger Arbeit zu übernehmen. Dafür fehle in der Gemeinschaft jedoch jedes Verständnis auch von verheirateten Frauen.

4.5.3. Zwischen Ehrzuwachs, Arbeitsüberlastung und Abwanderung: Die Lebensverlaufskurve von Paulina Paulina war zum Zeitpunkt des Interviews 43 Jahre alt. Sie stammt aus einer bessergestellten Familie aus einem Dorf der Kordillere. Ihr Vater legt als Adventist großen Wert auf ihre Bildung und schickt sie auf eine private Grundschule in den nahe gelegenen Ort der Bezirksverwaltung, die sie abschließt. Für die Sekundärschule außerhalb des Ortes reicht das Geld ihrer Eltern jedoch zunächst nicht aus. Trotzdem hat sie gut schreiben gelernt und nur ein wenig Angst davor, Spanisch zu sprechen, weil sie aus der Übung sei. Sie könne sich jedoch auf Spanisch ganz gut "verteidigen", wenn es sein muß. Diese Tatsache erhöht ihr Selbstwertgefühl und ihre eigenständige Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit beim Betreiben des Hofes, der Vermarktung usw. Sie hat sich außerdem getraut, einen Posten in der Frauenorganisation auf Bezirksebene zu übernehmen. Mit siebzehn Jahren wird sie noch als Sekundarschülerin an einen acht Jahre älteren Mann zwangsverheiratet, der zum damaligen Zeitpunkt im Ort der Bezirksverwaltung Bürgermeister war und aus einer sehr angesehenen Familie stammt. Gemeinsam haben sie sechs Kinder. Trotz Streit und Konflikten in der

130 Ehe findet Paulina, daß sie Glück gehabt habe, weil sie nicht geschlagen werde, und weil ihr Mann, obwohl er berufstätig sei und für Geld arbeitete, ihr bei der Kindererziehung, bei der Feldarbeit und bei der Viehzucht helfe. Paulina trägt gekaufte Trachtenkleidung. Durch die Ehe mit einem angesehenen Mann hat sie einen sozialen Aufstieg und eine Verbesserung ihres Ehrstatus erfahren. Dafür hat sie bereits fünfundzwanzig Jahre lang alle Schwierigkeiten in der Ehe über sich ergehen lassen und bereitwillig die Hauptverantwortung für den ländlichen Familienbetrieb und die Kindererziehung übernommen. Sie ist sich sehr bewußt, daß ihr gutes Ehrkapital nur zu Lebzeiten ihres Mannes und an seiner Seite aufrechterhalten werden kann. Deshalb möchte sie lieber vor ihrem Mann sterben und sie geht sogar so weit zu sagen, daß sie sein Leben "kaufen" würde, wenn sie nur könnte. Sie berichtet, sie träume manchmal davon, wegzugehen, aber eigentlich wolle sie ihr Dorf gar nicht verlassen. Statt dessen ist sie in der Frauenorganisation aktiv und übernimmt im Vorstand einen Posten. Deshalb sieht sie sich im Ort der Kritik von einigen Männern ausgesetzt, die sie verachten und sagen: "Was weiß die schon, das ist ja nur eine Frau. Zur Versammlung muß immer der Mann kommen." Nicht immer würden Frauen in der Öffentlichkeit gut behandelt. Einige Männer seien der Ansicht, eine Frau müsse zu Hause bleiben, Wäsche waschen, das Vieh hüten und dürfe nicht zu Versammlungen und auch nicht zu Gemeinschaftsarbeiten gehen. Wenn eine verheiratete Frau auf der Versammlung auftauche, werde sie mit dem Spruch verspottet: "den Mann hat sie sich für die Nacht aufbewahrt". Ihr Lebensentwurf besteht darin, ihren guten Ruf an der Seite ihres Mannes solange wie möglich aufrecht zu erhalten. Das bedeutet, daß sie auch in Zukunft die Hauptverantwortung für den ländlichen Familienbetrieb und die Kindererziehung übernehmen und im Bezirk in der Frauenorganisation aktiv sein wird. Paulina kann ihr hohes Ehrkapital und ihren besseren Bildungsstandard zugunsten der eigenen Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit nutzen und sich zwischen Städten, Nachbarorten und der eigenen Dorfgemeinschaft als einzige Frau unter Männern bewegen, ohne eingeschränkt oder sozialer Kontrolle ausgesetzt zu werden. Sie verfügt sozusagen über einen Ehrkredit als Vertrauensvorschuß der Gemeinschaft und eine Ehrversicherung gegen Herausforderungen in Form von Diebstahl oder Belästigung. Durch ihren guten Ruf traut ihr niemand etwas Unmoralisches zu und sie ist deshalb auch nicht dem Gerede ausgesetzt. Gleichzeitig ist sie auf ihren Reisen vorwiegend unter Männern auch vor körperlichen oder verbalen Angriffen geschützt, weil sie als angesehene Ehefrau eines angesehenen Mannes respektiert wird.

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4.6. Zusammenfassender Überblick Uber die Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren Auch die Lebensverlaufskurven dieser Altersgruppe sind sehr unterschiedlich. Zwei der drei Frauen sind verheiratet und verfügen über ein hohes Ehrkapital. Eine der beiden hat durch die Heirat einen sozialen Aufstieg und eine Verbesserung ihres Ehrkapitals erfahren, die andere hat ihren weiblichen Ehrstatus durch Heirat abgesichert, muß jedoch darum kämpfen, daß die Ressourcen für alle Kinder reichen. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Einstellungen der Frauen dieser Altersgruppe zur Heirat. Senobia setzt sich kritisch mit der Praxis der Zwangsheirat auseinander. Demgegenüber hat Paulina ihren Partner unabhängig von ihren Eltern kennengelernt und zeigt zudem durch den erfahrenen Ehrzuwachs durch die Heirat große Bereitschaft, die Ehe trotz Problemen und hoher Arbeitsbelastung durchzuhalten. Die alleinige Verantwortung für die Bewirtschaftung des Hofes hat für sie offenbar trotz der hohen Arbeitsbelastung den Vorteil eines relativ großen Entscheidungs- und Handlungsraums, der größer als der von Senobia ist, die gemeinsam mit ihrem Mann ihren Familienbetrieb aufrecht erhält. Beide Frauen haben überdurchschnittlich viele Kinder. Sowohl Senobia als auch Paulina nutzen ihr hohes Ehrkapital, um in der Frauenorganisation aktiv zu werden; die erste im eigenen Dorf, die zweite sogar auf Bezirksebene. Gleichzeitig träumen sie davon, die städtische Lebenswelt besser kennenzulernen, harren aber ansonsten in ihrer Rolle als verheiratete Frau und Mutter im Dorf aus; ihr Lebensentwurf bleibt auf die Ehe, die Familie und die Gemeinschaft bezogen. Auf diese Weise hat die Ehre in beiden Fällen eine integrierende Funktion sowohl in bezug auf den Erhalt von Ehe und Familie als auch in bezug auf die Gemeinschaft. Die Lebensverläufe von Senobia und Paulina sind mit dem von Maria S. kaum zu vergleichen. Maria S. kommt aus sogenannten schlechten Verhältnissen und hat sich als alleinstehende Mutter durch als unsittlich betrachtetes Verhalten und die Aufgabe ihrer Jungfräulichkeit vor der Heirat des Normenbruchs schuldig gemacht. Der Umbruch mit der Agrarreform und die Auflösung der Hazienda, auf der Maria als Kind und als Jugendliche gearbeitet hat, ermöglichen ihr, sich in der neu konstituierten Dorfgemeinschaft Land zu sichern, einen Haushalt zu gründen und trotz fehlender familiärer Unterstützung ihre Dorfzugehörigkeit abzusichern. Dafür muß sie jedoch als alleinstehende Frau viel tun. Maria ist vor allem mit dem Aushandeln ihres Ehrkapitals und dem Erhalt ihres Mitgliedsstatus in der Dorfgemeinschaft beschäftigt. Sie kommt gar nicht dazu, überhaupt an Abwanderung zu denken. Vergleichbar mit der Situation von Paulina ist die Zunahme ihrer Arbeitsbelastung, da sie neben der Bewirtschaftung ihres kleinen Hofes auch die Verpflichtungen der Dorfgemeinschaft gegenüber erfüllen muß.

132 Der Zugang zu Bildung und zur städtischen Lebenswelt hat im Vergleich mit älteren Interviewpartnerinnen nur im Fall von Paulina zugenommen, weil ihr Vater als Adventist auch für seine Tochter einen besonderen Wert auf Schulbildung gelegt hat. Sie ist eine der wenigen Interviewpartnerinnen, die mit der Sekundärschule wenigstens begonnen hat. Ihre Spanisch-, Lese- und Schreibkenntnisse vermitteln ihr ein hohes Selbstwert- und Ehrgefühl und ihre Bewegungsfreiheit ist wesentlich größer als die der anderen Frauen. Im Fall von María S. und Senobia gibt es im Vergleich zu den älteren Interviewpartnerinnen keine Verbesserung ihres Zugangs zur Schulbildung. Senobia macht ihre Eltern und die Institution der Zwangsheirat für ihre eingeschränkten Handlungsräume verantwortlich. Sie fühlt sich und ihren Zugang zur städtischen Lebenswelt durch mangelnde schulische Fähigkeiten eingeschränkt und auf die Lebenswelt der Aymara eingegrenzt. Da ihre Situation als alleinstehende Frau vergleichsweise noch schwieriger wäre, hält sie in der Ehe durch und muß sich nicht um ihre Ehre kümmern. Sie kämpft jedoch um den Unterhalt der Familie und nimmt dafür eine hohe Arbeitsbelastung auf sich. María S. kämpft demgegenüber um ihre Ehre, um ihren Status als Dorfgemeinschaftsmitglied und gegen ihre Ausgrenzung als alleinstehende unverheiratete Mutter. Ihre Strategie besteht darin, alle möglichen Arbeitsbelastungen sowie die Übernahme von Posten bei Festen in Kauf zu nehmen, die mit vielen zusätzlichen Ausgaben und Aufgaben und einer relativ geringen Verbesserung ihres Ehrkapitals verbunden sind. Durch ihren Normenbruch ist sie allein und kann nicht mit Unterstützung ihrer Verwandtschaft rechnen. Zwei der drei Frauen entwickeln Ohnmachtsgefühle, Verärgerung und Groll gegenüber dem Weltbild der Eltern und fühlen sich ungerecht behandelt. Alle drei klagen aus unterschiedlichen Gründen über Arbeitsüberlastung. Alle drei Frauen entwickeln Strategien im Umgang mit Normen, zu denen sie ein distanziertes Verhältnis haben. Sie fordern Veränderungen, stoßen mit ihren Forderungen jedoch noch an Grenzen der kollektiven Akzeptanz unter Frauen, in der Gemeinschaft und gegenüber Männern. Jede der drei Frauen legt den Schwerpunkt auf unterschiedliche Forderungen nach Veränderung: Paulina fordert für Frauen die Eroberung öffentlicher Räume und Verkehrsmittel im Zusammenhang mit der Frauen- und der Dorforganisation. Senobia will die Institution der Zwangsheirat abschaffen und bei Maria S. geht es um eine Veränderung des Status und der Verpflichtungen alleinstehender Frauen gegenüber der Gemeinschaft.

133

4.7.

Die Lebensverlaufskurven von zwei Frauen zwischen 30 und 40 Jahren

4.7.1. Zwischen Zuordnung, Anpassung, Eroberung der Öffentlichkeit und Rückzug: Die Lebensverlaufskurve von Gregoria Gregoria war zum Zeitpunkt des Interviews 40 Jahre alt und kommt aus einem Dorf der Seezone. Sie stammt aus armen Verhältnissen und da sie erst mit zwölf Jahren in die Schule im Nachbardorf gehen kann, erreicht sie nur die zweite Schulklasse. Ihr Vater arbeitet auf einer Hazienda. Schon als junges Mädchen muß sie zur Saisonarbeit nach Bolivien in die Hauptstadt von La Paz und ins Tiefland migrieren. Sie lernt ihren Ehemann mit achtzehn Jahren unabhängig von der Vermittlung ihrer Eltern kennen, als ihr Vater gerade zur Schande der Familie in ein Gerichtsverfahren verwickelt war. Trotz ihres Normenbruchs und des schlechten Ansehens ihrer Familie wird sie bereits nach zwei Wochen von ihren Schwiegereltern zur Heirat gedrängt, um ihre Ehre zu retten. Sie hält es für ein Glück, von der Schwiegermutter akzeptiert worden zu sein, die sich gegen den Wunsch des Schwiegervaters für ihre Heirat einsetzt, sich damit ihr gegenüber sehr solidarisch zeigt und sich nach Ansicht von Gregoria damit "wie eine leibliche Mutter" verhält, weil sie die Sexualehre und die weibliche Ehre der Schwiegertochter über das Ansehen und die Interessen der eigenen Familie stellt. Gregoria hat acht Kinder und muß ebenso wie ihr Mann saisonal an die Küste zur Reis- oder Kartoffelernte migrieren, um die Familie durchzubringen. Dafür erhält sie im Dorf Anerkennung, weil sie "wie ein Mann" arbeite. Gregoria würde gerne Lesen und Schreiben können, um ihre Kinder besser erziehen zu können. Ein Sohn hat gerade die Grundschule beendet. Sie hat jedoch das Lesen inzwischen verlernt und hält sich nicht mehr für lernfahig. Um den Schulbesuch der Kinder finanzieren zu können, geht sie Festen aus dem Weg. Obwohl ihr Mann trinkt und sie schlägt, hat sie die Ehe bisher mit viel Geduld durchgehalten, weil sie froh ist, überhaupt einen Partner gefunden zu haben. Auf diese Weise werde sie als verheiratete Frau im Dorf respektiert. Ihr Lebensentwurf ist darauf ausgerichtet, ihren weiblichen Ehrstatus und die Ehre der Familie aufrechtzuerhalten. Gregoria ist der Ansicht, früher seien die Zeiten wesentlich besser als heute gewesen, weil mehr produziert worden sei. In der eigenen Familie erinnert sie sich im Zusammenhang mit ihrer Kindheit jedoch auch an Hunger während der Dürrezeiten. Früher hätten sie wegen der Nahrungsmittelknappheit auch Hirseblätter gegessen, was heute nicht mehr üblich sei. Bereits als Jugendliche hat sie an Gemeinschaftsarbeiten zum Bau der Schule und der Straße zum Dorf teilgenommen, um dafür Nahrungsmittelhilfe zu erhalten.

134 Gregoria hat einen Posten im Vorstand der Frauenorganisation übernommen und berichtet, wie Frauen auf den DorfVersammlungen das Wort verwehrt wird und sie darum kämpfen müssen, ihre Meinung äußern zu dürfen. Heute sei es jedoch nicht mehr so wie früher, als nur die Männer zu den Versammlungen gegangen seien und die Entscheidungen getroffen hätten. Heute würden beide Partner Entscheidungen treffen. Gregoria kann spinnen und weben; strickt Pullover, die sie gerne verkaufen würde. Sie trägt gekaufte einfarbige Strickpullover und Strickjacken und kombiniert sie mit selbst gewebten Wollröcken. Nur an Sonntagen trage sie manchmal gekaufte Trachtenröcke. Gregoria ist der Ansicht, es sei besser ein Städter zu sein, weil die "Mestizen" Spanisch sprechen und sich wehren könnten. Als Aymara werde sie in der Stadt stark diskriminiert. Aber für sie selbst sei es besser als Aymara auf dem Land zu leben. Diesen Rückzug auf das Land begründet sie mit einer Einschätzung der städtischen "Mestizen" aus der Perspektive der Lebenswelt der Aymara: Die Leute vom Land seien kräftiger und würden nicht so leicht krank wie "Mestizen" aus der Stadt. Manchmal denke sie daran, aus dem Dorf wegzugehen, aber das sei wegen ihrer Familie ja gar nicht möglich. Ihr Lebensentwurf ist daher eng mit dem Familien- und Dorfleben verbunden, auch wenn sie weiterhin saisonal migrieren muß.

4.7.2. Zwischen Resignation, Eroberung der Öffentlichkeit und Rückzug: Die Lebensverlaufskurve von Dominga Dominga war zum Zeitpunkt des Interviews 36 Jahre alt. Sie kommt aus einem Dorf der mittleren Zone. Ihr Vater stirbt, als sie gerade sechs Jahre alt wird, und sie wächst als Halbwaise in armen Verhältnissen auf. Nach drei Schuljahren mit mehreren Unterbrechungen gibt sie gegen den Rat ihrer Mutter den Schulbesuch auf. Als älteste Tochter muß sie ihre beiden jüngeren Geschwister aufziehen und auf dem Feld helfen. Mit achtzehn Jahren wird sie verheiratet und zieht zu ihrem verwitweten Schwiegervater. Nach der Geburt des ersten Kindes gründen Dominga und ihr Mann einen eigenen Haushalt. Ihr Mann trinkt und schlägt sie nach Aussagen von Dominga bis zu dem Zeitpunkt, als beide zur adventistischen Religion übertreten. Seit dem Religionswechsel zu den Adventisten habe sich ihre Ehe wesentlich verbessert, weil ihr Mann weniger trinke, sie nicht mehr schlage und mehr in der Familie helfe. Trotzdem ist Dominga jedoch der Ansicht, daß ihre Ehe nicht besonders gut funktioniert. Beide Partner hätten sehr unterschiedliche Vorstellungen und sie erfahre von ihrem Mann nur wenig Unterstützung im Alltag. Gemeinsam haben sie zwei Kinder. Die Männer, so Dominga, arbeiteten wesentlich weniger als die Frauen, die kochen müssen, das Vieh futtern, die Kinder versorgen, auf dem Feld arbeiten usw. Dominga ist der

135 Ansicht, früher seien die Zeiten besser gewesen als heute. Es habe mehr Produktion und Lagerhaltung gegeben, es sei ohne Pestizide angebaut worden und die älteren Leute hätten viel sorgfältiger angebaut als heute. Die Viehzucht sei sehr mühsam, da es kaum Weideflächen und zu wenig Viehfutter gebe. Dominga berichtet, daß sie früher große Angst davor hatte, auf Versammlungen zu reden. Sie wollte deswegen keinen Posten übernehmen. Heute hat sie jedoch einen Posten im Vorstand der Frauenorganisation, obwohl ihre Spanischkenntnisse eher begrenzt sind und sie sich in der Stadt bei Behördengängen für die Organisation sehr unwohl fühlt. In der Dorfversammlung werde gesagt, warum denn die Frauen dort herumsäßen und ihre Zeit verlören. Sie sollten die Feldarbeit machen und das Vieh hüten. Doch langsam gewöhnten sich die Männer daran, daß auch die Frauen auf Dorfversammlungen ihre Meinung sagten. Der Bruder von Dominga ist nach Tacna migriert. Dominga fühlt sich durch ihre Familie ans Dorf gebunden. Ihr Lebensentwurf entspricht aufgrund ihrer geringen Schulbildung und ihrer mangelnden Spanischkenntnisse einer Art Rückzug ins Dorf, obwohl sie aufgrund der Schulbildung ihrer Kinder, der Vermarktung und ihres Postens in der Frauenorganisation eine Reihe von Erfahrungen in städtischen Kontexten und mit Institutionen macht.

4.8. Zusammenfassender Überblick über die Altersgruppe zwischen 30 und 40 Jahren Unter den Fallbeispielen für diese Altersgruppe befindet sich keine Interviewpartnerin aus der Kordillere. Gregoria aus der Seezone ist katholisch und Dominga aus der mittleren Zone lebt in einem stark von Adventisten geprägten Dorf. Obwohl sie nicht in einer adventistischen Familie aufwuchs, trat sie gemeinsam mit ihrem Mann zum Adventismus über; ihre Deutungsmuster, ihr Wertsystem, ihre Haltung und ihre Darstellungsweise sind stark adventistisch beeinflußt. Sie äußert sich z.B. nicht darüber, ob sie zwangsverheiratet wurde, da die Zwangsheirat von den Adventisten abgelehnt wird. Sie stellt sich im Rückblick schon als Mädchen als entscheidungsfähig dar. Sie äußert wenig über ihr Ehrgefühl und ihren Umgang damit. Dominga kritisiert ausführlich die Gewalt gegen Frauen und bezieht sich dabei nicht nur auf ihre eigenen Erfahrungen. Beide Frauen dieser Altersgruppe verfügen über einen relativ niedrigen Ehrstatus, den sie durch die Heirat verbessern konnten. Beide berichten über Konflikte in der Ehe und obwohl sie von ihren Ehemännern geschlagen werden, halten sie trotzdem in der Ehe durch. Dominga behauptet, es sei ihr gelungen, eine Strategie gegen die Gewaltanwendung in der Ehe umzusetzen und mit dem Beitritt zur adventistischen Religion ihren Mann vom Trinken abzuhalten und damit die Gewalt in der Ehe zu verringern. Obwohl beide Frauen aus armen

136 Verhältnissen kommen, hat Dominga als Adventistin nur zwei Kinder. Gregoria hat als Katholikin jedoch acht Kinder. Es ist anzunehmen, daß mehr als der jeweilige Lebenszusammenhang von beiden bestimmte religiöse Vorstellungen einen Einfluß auf die Entscheidung in bezug auf ihre Kinderzahl hatten3. Während die katholische Kirche jede Form der Familienplanung ablehnt, legen die Adventisten großen Wert auf eine gute Schulbildung der Kinder, die nicht unbedingt für viele Kinder zu finanzieren ist und dazu führt, daß die Kinder im Schulalter nicht als Arbeitskraft zur Verfügung stehen. Außerdem ist die Erbschaft für jedes Kind größer, wenn weniger Geschwister vorhanden sind. Gregoria ist froh, aufgrund ihrer Herkunft und ihres Normenbruchs überhaupt von den Schwiegereltern akzeptiert worden zu sein. Sie hat durch ihre Ehe ihr weibliches Ehrkapital verbessert und ist bereit, dafür Vieles in Kauf zu nehmen; darunter auch, besonders fruchtbar zu sein und viele Kinder zu bekommen, um damit ihre Weiblichkeit zu unterstreichen und ihr Ansehen und ihr Selbstgefühl zu verbessern. Sie ordnet sich ihrem Mann weitgehend unter und kämpft um das Überleben der Familie und für den Schulbesuch ihrer acht Kinder, ohne sich über die Mühen zu beklagen. Gregoria mußte sich bereits als Jugendliche in beiden Lebenswelten zurechtfinden und hat Erfahrungen mit saisonaler Migration, der Überwindung großer Entfernungen, der Grenzüberschreitung nach Bolivien, mit der Arbeit im Tiefland etc. Im Vergleich dazu hat Dominga weniger Erfahrungen mit der städtischen Lebenswelt. Trotzdem reagieren beide ganz ähnlich: sie fühlen sich in der Stadt sehr unwohl und obwohl beide für ihre Kinder den "Mestizenstatus" anstreben, besteht ihr Selbstentwurf aus dem Rückzug aufs Land und in die Dorfgemeinschaft. Innerhalb der Dorfgemeinschaft erobern beide öffentliche Räume wie DorfVersammlungen und Posten im Vorstand der Frauenorganisationen. Die kritische Distanz zu Regeln, Normen und Wertsystemen der Lebenswelt der Aymara, die Selbstbehauptung und die Arbeitsbelastung der Frauen nehmen gegenüber älteren Interviewpartnerinnen zu. In bezug auf die Schulbildung gibt es demgegenüber kaum Veränderungen. In beiden Fällen haben die Frauen mit zwei bzw. drei Jahren Schulbesuch nur geringen Zugang zur Schulbildung. Es fallt auf, daß keine von beiden ihre Eltern für ihre geringe Schulbildung verantwortlich macht. Beide haben Verständnis für die Situation der Eltern, die einen Schulabbruch ihrer Töchter nötig machte. Beide setzen sich wiederum sehr für eine bessere Schulbildung ihrer eigenen Kinder ein und nehmen dafür große Belastungen in Form von Arbeitsaufwand, finanziellen Ausgaben und Verhandlungen mit Behörden und Vermietern in der Stadt auf sich. Dominga aus der mittleren Zone bewegt sich im wesentlichen

3

Über den Z u s a m m e n h a n g zwischen Vorstellungen von Fruchtbarkeit, Sexualität und Weiblichkeit und religiöser Weltsicht hat Ute Luig (1997) verwiesen.

137 zwischen ihrer Dorfgemeinschaft und dem nächstliegenden größeren Ort mit Markt und der weiterführenden Schule für ihre Kinder. Ihre Spanischkenntnisse sind gering. Gregoria aus der Seezone lernt als Jugendliche, sich in beiden Lebenswelten zu bewegen und migriert bis heute saisonal. Es fallt auf, daß aus ihrer Sicht ihre Übernahme von als männlich angesehenen Aufgaben im Zusammenhang mit Migration zur Anerkennung und Wertschätzung ihres Beitrags als Frau führen. Beide Frauen klagen über Knappheit und sind der Ansicht, daß früher die Zeiten besser waren. Trotz ihrer niedrigen Schulbildung ist ihr Zugang zur städtischen Lebenswelt ausgeprägter als der von älteren Frauen. Sie halten sich relativ wenig bei traditionsbezogenen Fähigkeiten, Riten und Praktiken auf. Statt dessen sind sie stärker interessiert, ihr Leben im Dorf trotz aller Widrigkeiten zu organisieren und den Bestand ihrer Ehe zu sichern.

4.9.

Die Lebensverlaufskurve einer Frau zwischen 20 und 30 Jahren

4.9.1. Zwischen Ablehnung und Anpassung: Die Lebensverlaufskurve von Lucia Lucia war zum Zeitpunkt des Interviews 23 Jahre alt und hatte zwei Kinder. Da sie selbst aus einer ärmeren Familie mit nur zwei Töchtern stammt, muß sie ihren Schulbesuch immer wieder unterbrechen, weil ihr Vater im Dorf einen Posten übernimmt, oder weil während der Feldarbeit wegen der Trockenzeit ihre Arbeitskraft im Familienbetrieb benötigt wird. Nachdem sie die Grundschule im Dorf beendet hat, besucht sie erst viele Jahre später die Sekundärschule in einem Nachbarort. Daß sie überhaupt zur Sekundärschule gehen kann, hat sie ihrer Mutter zu verdanken, die sich gegen den Willen ihres Vaters durchsetzt und sie dort einschreibt. Um zur Sekundärschule zu gehen, zieht sie zu ihrer Tante in einen größeren Nachbarort, die sie jedoch als Haushaltshilfe ausbeutet, so daß sie nicht zu den Schularbeiten kommt. Daraufhin zieht sie zurück ins Dorf ihrer Eltern und nimmt das frühe Aufstehen und die täglichen, langen Fußmärsche zur Schule trotz der Angst, nachts im Dunkeln den Rückweg antreten zu müssen in Kauf. In der Sekundärschule verliebt sie sich in einen zehn Jahre älteren Lehrer aus dem gleichen Dorf und wird schwanger. Damit verstößt sie gegen die Regeln der Sexualehre und der weiblichen Ehre, weil ihre Eltern nicht an der Vermittlung der Beziehung beteiligt waren. Als ihre Eltern und Schwiegereltern von ihrer Schwangerschaft erfahren, versucht sie zu heiraten. Ihr Partner hält bei den verärgerten Eltern von Lucia mehrfach um ihre Hand an, bis ihr Vater schließlich,

138 trotz seines eigenen Ehrverlustes durch den Normenbruch seiner Tochter, die Verbindung akzeptiert, um die weibliche Ehre seiner Tochter zu retten. Die Schwiegereltern, insbesondere die Schwiegermutter, lehnen jedoch jede Verpflichtung gegenüber der Familie von Lucia ab und verhindern eine Heirat. Lucia schlägt ihrem Partner daraufhin vor, sich aufgrund der Ablehnung seiner Eltern lieber zu trennen. Dieser ist jedoch nicht bereit, sich von seinen Eltern in seine Beziehung hineinreden zu lassen. Um keine Hochzeit organisieren zu müssen, lehnt es die Schwiegermutter ab, Lucia in ihren Haushalt aufzunehmen; sie beschimpft sie auf den Versammlungen der Frauenorganisation als arm und faul. Sie versucht ihren Sohn gegen Lucia aufzubringen und ihn sogar zur Gewaltanwendung anzustiften, um das Paar zu trennen. Lucia reagiert zunächst gelassen auf die Angriffe auf ihre weibliche Ehre. Im Rückblick findet sie jedoch, sie müsse verrückt gewesen sein, weil sie nicht gleich das ganze Ausmaß der Konsequenzen ihres Verhaltens und des sozialen Drucks, dem sie und ihre Familie ausgesetzt sein würden, richtig eingeschätzt habe. Da Lucia Spanisch spricht und lesen und schreiben kann, verteidigt sie sich nach eigenen Angaben erfolgreich gegen die Anschuldigungen ihrer Schwiegereltern und wird von ihrem Partner respektiert und nicht geschlagen. Darüber hinaus kann sie mit der Solidarität ihrer Mutter rechnen, die sie mit den Kindern in ihrem Haushalt aufnimmt. Lucia bekommt ihre beiden Kinder bei ihren Eltern, während ihr Partner weiter als Lehrer in verschiedenen Dörfern in der Nachbarschaft arbeitet. Sie leben weitgehend getrennt, planen aber, trotz der Ablehnung der Schwiegereltern und der schwierigen Erbschaftssituation in nächster Zukunft einen eigenen Haushalt im Dorf zu gründen. Ihr Partner schlägt außerdem als Alternative vor, ganz aus dem Dorf wegzuziehen und damit dem sozialen Druck seiner Eltern und der Schande in der Dorfgemeinschaft aus dem Weg zu gehen.

4.10. Zusammenfassender Überblick über die Altersgruppe zwischen 20 und 30 Jahren Lucia kommt aus einfachen Verhältnissen und kann dank des ausdrücklichen Einsatzes ihrer Mutter trotzdem die Sekundärschule außerhalb des eigenen Dorfes besuchen. Allerdings mißlingt der kontinuierliche Schulbesuch: sie kann die Sekundärschule nicht beenden, bevor sie schwanger wird. Sie bestätigt damit alle Vorurteile gegenüber der Schulbildung für Mädchen. Die Institution Schule entzieht die Mädchen der sozialen Kontrolle und den Heiratsstrategien der Eltern. Der Normenbruch ist damit ebenso vorprogrammiert, wie die Distanz zum Wertsystem der ländlichen Lebenswelt zugunsten der Akzeptanz von Werten der städtischen Lebenswelt.

139 Lucia nimmt die Reaktion der Familie ihres Partners zunächst nicht ernst, weil sie diese Werte ablehnt und meint, sich darüber hinwegsetzen zu können. Sie muß jedoch erfahren, daß sie nur mit Hilfe ihrer eigenen Familie, insbesondere ihrer Mutter, in der Lage ist, in der Dorfgemeinschaft zu überleben, und daß der soziale Druck nicht nur auf ihr als Person, sondern auf der ganzen Familie, insbesondere jedoch durch den erfahrenen Ehrverlust auf ihrem Vater lastet, dessen männliche Ehre nach wie vor mit der Kontrolle über die Sexualehre seiner weiblichen Familienangehörigen verbunden ist. Ihr Lebensentwurf wird daher zunehmend vom ländlichen Wertsystem der Dorfgemeinschaft geprägt, denn nur dort hat sie eine Aussicht auf eine eigene Erbschaft und auf die Unterstützung durch ihre Verwandtschaft. Damit entfernt sie sich vom Lebensentwurf ihres Partners, der sich vor allem an städtischen Werten orientiert. In der städtischen Lebenswelt würde sich Lucia mit zwei kleinen Kindern und ohne Sekundarschulabschluß jedoch in die vollständige Abhängigkeit ihres Partners begeben und auf den Rückhalt des Familienverbands und der Gemeinschaft verzichten müssen. Das Beispiel von Lucia und ihrem Partner zeigt, wieviel schwieriger es bis heute für Frauen im Vergleich zu Männern sein kann, sich von der ländlichen Lebenswelt unabhängiger zu machen.

4.11. Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener Altersgruppen und Veränderungen von Deutungs- und Handlungsmustern Frauen der Altersgruppen über 40 Jahre betrachten sich im Gegensatz zu jüngeren Frauen als wesentlich stärker von den Entscheidungen anderer abhängig, insbesondere der Eltern. Sie lernen erst im fortgeschritteneren Alter, selbst Entscheidungen zu treffen, und zwar oft erst dann, wenn sie verwitwen oder aus anderen Gründen alleinstehend sind. Die Kritikpunkte und die Ressentiments, die von älteren Frauen gegenüber den Eltern geäußert werden, sind größer und führen zu Verhaltensänderungen gegenüber ihren Kindern, denen sie das gleiche Schicksal der Abhängigkeit, Unterordnung, Einschränkung und Arbeitsüberlastung ersparen wollen. Jüngere Frauen, die nach der Agrarreform von 1969 aufgewachsen sind und zum Zeitpunkt der Interviews unter 40 Jahre alt waren, beschreiben sich bereits jünger als entscheidungsfahiger; bringen zugleich mehr Verständnis für die Situation und Zwänge ihrer Eltern auf, sie erwähnen im Fall von Normenbrüchen mehr solidarische Beispiele von Eltern und Schwiegereltern gegenüber ihren Kindern als ältere Frauen. Die Schulbildung der jüngeren Frauen verbessert sich jedoch nur in Ausnahmefällen. Allerdings ändert sich der Begründungszusammenhang für den mangelnden Zugang der Frauen zur Bildung: für Frauen über 40 Jahre gehörte es sich

140 aus der Sicht ihrer Eltern nicht, zur Schule zu gehen, weil Mädchen ohnehin als denk- und lernunfahig eingeschätzt und für die Heiratsstrategien kontrollier- und manipulierbar bleiben mußten. Für Frauen unter 40 Jahre wird vor allem die Ressourcen-, Geld- und Arbeitskräfteknappheit zum Argument dafür, warum sie nur unregelmäßig zur Schule kommen und ihr Studium frühzeitig wieder abbrechen müssen. Die jüngeren Frauen vergrößern ihre Distanz zu Normen, formulieren in einzelnen Punkten Kritik und Änderungsvorschläge und entwickeln schon früher individuelle Handlungsstrategien. Es gelingt den Frauen bisher kaum, eine kollektive Akzeptanz für Forderungen und Veränderungsvorschläge von Frauen zu mobilisieren. Ein Beispiel dafür sind die Forderungen alleinstehender Frauen aller Altersgruppen in bezug auf eine Verpflichtungsentlastung gegenüber der Gemeinschaft. Es gelingt ihnen nicht, sich für diese Forderungen mit den anderen verheirateten Frauen zu verbünden. Gemeinsam ist den meisten Interviewpartnerinnen der Rückzug in die ländliche Lebenswelt der Aymara, in der sie sich wohler fühlen und in die sie oft aus Mangel an Alternative zurückkehren. Ältere Frauen ziehen sich eher in den eigenen Haushalt und Hof und in die familiäre Privatsphäre zurück. Bei den jüngeren Frauen handelt es sich um einen Rückzug in die Gemeinschaft, deren öffentliche Räume, wie Versammlungen und Gemeinschaftsereignisse, die noch weitgehend als männlich gelten, aber nach und nach von ihnen beansprucht werden. Jüngere Frauen werden aktiver bei der Eroberung von ehemals Männern zugeschriebenen Räumen, Aufgaben und Funktionen in den Dorfgemeinschaften, darunter von Dorfversammlungen, von Posten in Vorständen und auf Festen, oder von männlichen Aufgaben in der Landwirtschaft oder in der saisonalen Migration. Die Bewertung dieser neuen Räume und Aktivitäten ist jedoch ambivalent und nicht immer mit einem Bewertungs- und Ehrzuwachs für die Frauen verbunden. Sie müssen einerseits den Widerstand der Männer überwinden und andererseits die Vorstellungen von Weiblichkeit erweitern. Die Veränderungen der Konzepte von Weiblichkeit lassen Gehorsamkeit, Schweigsamkeit, Denk- und Lernunfahigkeit sowie die Abhängigkeit von Entscheidungen anderer in den Hintergrund treten. Spezifische weibliche Fähigkeiten wie Spinnen und Weben treten mit der Schulbildung, mit Alphabetisierung und Zweisprachigkeit in Konkurrenz. Während die traditionsbezogenen weiblichen Fähigkeiten für die älteren Frauen noch mit denen der Schulbildung als gleichwertig, wenn auch alternativ eingeschätzt werden, so verändert sich diese Form der Bewertung für jüngere Frauen zugunsten der Schulbildung, während Spinn- und Webkenntnisse immer weniger wichtig für ihr Selbstwertgefühl werden. Demgegenüber sind Entscheidungs-, Dialog- und Verhandlungsfähigkeit wie das häufig angesprochene "sich verteidigen können" sowohl außerhalb als auch innerhalb der Gemeinschaft und der Familie für die jüngeren Frauen immer wichtiger. Ihre Ohnmachtsgefühle stehen in direktem Zusammenhang mit den

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Einschränkungen ihrer Fähigkeiten zur Kommunikation auf allen Ebenen und nicht mehr mit dem Gefühl der Fremdbestimmtheit durch ihre Eltern oder Familienmitglieder.

4.12. Das Selbstbild der Interviewpartnerinnen im Wandel Bei der Analyse der Interviewaussagen älterer Frauen wird deutlich, daß das Selbstbild eines Wesens, das von klein auf als Kind und als Erwachsene zu gehorchen hat und ausgebeutet werden darf, kaum ein Leben lang widerspruchslos und ungebrochen aufrechterhalten wird. Als erwachsene Frau in den Rollen der Ehefrau, Schwiegertochter, Mutter oder Schwiegermutter wird den Frauen soviel Verantwortung aufgeladen, daß sie gezwungen werden, ihre Angst nach und nach zu überwinden, in der Öffentlichkeit aufzutreten, Entscheidungen zu treffen und ihre Interessen zu verhandeln. Allerdings entsteht in diesem Zusammenhang ein Bild langsamer und schmerzhafter Prozesse der Auseinandersetzung der Frauen mit bestehenden Regeln, Normen, Anforderungen und Erwartungen einerseits und den eigenen Lebenserfahrungen und Lebensbedingungen andererseits. Entscheidungen in bezug auf die Erziehung ihrer Kinder weichen stark von den eigenen Lebenserfahrungen ab. Diese müssen ganz allein im Alltag bewältigt werden und können Frauen stark psychisch belasten, insbesondere dann, wenn sie viel Energie zur Erhaltung ihres Ehrstatus oder zur Verbesserung ihres Ansehens aufwenden müssen, um sich Respekt zu verschaffen. Das gilt vor allem für Frauen aus armen oder unvollständigen Familien, sowie für Witwen oder andere alleinlebende Frauen mit Familie. Das Selbstwertgefühl und die Selbsteinschätzung der Interviewpartnerinnen variiert je nach ökonomischem und sozialem Status der Herkunftsfamilie, dem Grad der Schulbildung, dem Charakter und Verlauf der Ehe und dem Familienstand der Frauen. Das Selbstwertgefühl der einzelnen Interviewpartnerinnen hängt von der individuellen Lebensgeschichte und ihren jeweiligen Erfahrungen mit der eigenen Entscheidungsfahigkeit ab. Frauen aus bessergestellten Familien mit günstigen Erbschaftsvoraussetzungen haben schon als Mädchen trotz geringer Schulbildung ein höheres Selbstwertgefühl. Es zeigt sich die Tendenz zur Vergrößerung des Selbstbewußtseins von jüngeren gegenüber älteren Frauen. Jüngere Frauen nehmen häufiger das Recht für sich in Anspruch, weniger gehorsam und passiv zu sein, mehr Entscheidungen selbst zu treffen sowie selbstverständlicher, schneller und eigenverantwortlicher zu handeln. In dem Maße wie Werte wie Gehorsamkeit und Schweigsamkeit den Anforderungen zum Aushandeln mit Argumenten weichen, und wie durch soziale Differenzierungsprozesse die räumliche Bewegungsfreiheit und Handlungsoptionen zunehmen, sind Frauen

142 mit der Notwendigkeit konfrontiert, mehr eigene Entscheidungen zu treffen und nicht mehr nur Anordnungen zu folgen. Das Selbstwertgefuhl der Interviewpartnerinnen ist untrennbar mit ihrer Ehre verbunden. Frauen mit einem hohen Ehrkapital und einem hohen Ehrstatus sind wesentlich selbstbewußter. Frauen mit geringem Ehrkapital haben einen gewissen Spielraum, um ihren Ehrstatus zu verbessern, müssen dafür jedoch viel Zeit und Energie aufwenden und sich Strategien und Argumente zur Aushandlung ihres Ehrstatus zurecht legen. Sowohl für Frauen mit hohem Ehrkapital als auch für Frauen, die ihren Ehrstatus verbessern wollen, wird die Ehrskala zur Motivation, um in der Dorf- oder Frauenorganisation aktiv zu werden. Frauen, die vorhandenen Werten und Normen der ländlichen Lebenswelt nicht entsprechen und sich daher permanent dagegen wehren müssen, entwickeln ebenfalls mit zunehmendem Alter ein höheres Selbstbewußtsein. Sie lernen, geltende Werte und Normen in Frage zu stellen und zu ihrer eigenen, davon abweichenden realen Lebenssituation zu stehen. Einigen gelingt es, ihr Einhalten der Regeln der Ehre mit Argumenten vor sich und anderen zu unterstreichen, um mit diesem Verhalten einen besseren Platz in der Ehrskala auszuhandeln. Die meisten Frauen entwickeln erst in höherem Alter und mit zunehmender Lebenserfahrung ein höheres Selbstwertgefuhl und beteiligen sich aktiv in der Dorföffentlichkeit, auf Versammlungen, Festen und in Organisationen. In den folgenden Kapiteln werden Schwerpunktthemen, wie die weibliche Sozialisation, der begrenzte Zugang zur Schulbildung, die Institution der Zwangsheirat, die Geschlechterverhältnisse, der Wandel in der Produktion, in der Kleiderpraxis und der Stadt/Land Gegensatz aus weiblicher Sicht anhand der Aussagen der Interviewpartnerinnen rekonstruiert.

143

5.

Weibliche Sozialisation, Schulbesuch und Heiratsregeln aus weiblicher Sicht

Im folgenden Kapitel werden chronologische Ereignisse im Zusammenhang mit wichtigen institutionellen Ablaufmustern von Lebensverläufen wie die Sozialisation, der Schulbesuch und die Heiratsregeln aus weiblicher Sicht rekonstruiert. Normen und Wertvorstellungen der Eltern über die Erziehung von Mädchen im Vergleich zu Jungen, über Schulbildung und Heiratsvermittlung gehören ebenso wie die Institutionen Schule und Heirat aus weiblicher Sicht zu den hervorstechenden Mechanismen, die einen besonderen Einfluß auf ihre Handlungsräume, ihre Dialog- und Verhandlungsfahigkeit und ihre persönlichen Entwicklungschancen im gesamten weiteren Lebensverlauf haben. Die Mehrheit der Interview Partnerinnen rekonstruiert ihre Benachteiligung im Vergleich zu ihren Brüdern bereits von frühester Kindheit an und übt in diesem Zusammenhang Kritik an den Vorstellungen und Verhaltensweisen der Eltern. Allerdings verändert sich die Haltung gegenüber den Eltern mit den Altersgruppen. Die zu Beginn der Untersuchung formulierten Fragestellungen nach der Veränderung von Macht- und Geschlechterverhältnissen, von Geschlechterdisparitäten und von Vorstellungen von Weiblichkeit im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten stehen im Vordergrund. Außerdem geht es um die Frage, ob sich Mechanismen der sozialen Kontrolle Frauen gegenüber tendenziell verschärfen oder entschärfen. Zunächst wird die Vermittlung weiblicher Geschlechterrollen und der Schulbesuch behandelt, den die Interviewpartnerinnen im Rückblick nur teilweise aus eigener Erinnerung, häufig jedoch unter Bezugnahme auf Erzählungen und Einstellungen der Eltern interpretieren. Diese Schilderungen enthalten viele Hinweise auf die Dauerhaftigkeit und Vertiefung von Geschlechterdisparitäten im Wandel. Eine vergleichsweise intensivere Auseinandersetzung nehmen die Interviewpartnerinnen mit den Heiratsregeln vor. Im zweiten Teil des Kapitels wird den Veränderungen der Heiratspraxis und den damit verbundenen Normen, Werten und Zwangsmechanismen nachgegangen. Aus der Sicht der Interviewpartnerinnen wird die Heirat durch die Vermittlung der Eltern erzwungen und ist eine deijenigen Praktiken, die am meisten dazu beiträgt, ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihre Handlungsspielräume einzuschränken.

5.1. Die Vermittlung der weiblichen Geschlechterrollen Beim Rückblick auf ihre Kindheit setzen die Interviewpartnerinnen den Schwerpunkt auf das Thema Schule, das im nächsten Abschnitt analysiert wird. Früheste Kindheitserfahrungen können oft nur über die Erzählungen der Eltern erinnert werden. Kleinkindern, ihren Bedürfnissen und ihrer Entwicklung wird in der

144 Lebenswelt der Aymara grundsätzlich ein geringer Wert beigemessen, zumindest solange, wie sie noch nicht als Arbeitskräfte eingesetzt werden können. Kleinkinder müssen sich daher den Bedürfnissen und Tagesabläufen von Erwachsenen weitgehend unterordnen. Kinder lernen vor allem durch Nachahmung und erhalten relativ selten verbale Erklärungen dafür, wie und warum die Dinge so oder anders gehandhabt werden sollten. Die Interviewpartnerinnen beschreiben daher anhand von verschiedenen Beispielen, wie sie sich als Kind den Sinn von Praktiken und Wertsystemen, Handgriffen oder Fähigkeiten mehr oder weniger selbständig erarbeiten und erschließen mußten. Physische und psychische Gewalt spielt vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter als Erziehungs- und soziales Druckmittel eine wichtige Rolle. Mädchen sind dabei von klein auf der Minderbewertung und Erniedrigung durch Familienangehörige ausgesetzt. Sowohl Mütter als auch Väter greifen zu Schlägen (siehe Interview 5.9). Häufig wird die Mutter als Hauptsozialisationsagentin auch von der größeren Schwester oder von einer Tante, von der Großmutter oder von der Schwiegermutter bei der Vermittlung von Fähigkeiten ersetzt. Die Überlastung von Frauen mit vielen Kindern fuhrt dazu, daß sie einen Teil ihrer Mutterrolle an andere Frauen in der Familie delegieren. Die Geduld der Eltern mit den Kindern wird als gering beschrieben. Vielmehr wird von Kindern erwartet, daß sie Handgriffe und Fähigkeiten sofort perfekt nachahmen, wie folgende Aussage von Marcela verdeutlicht: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere1 "Desde muy chica tomé interés por el hilado de lana de rueca... decente, hilaba. Pero el tejer en el suelo ganó a mi corazón. Con mucha insistencia me lo hice urdir con mi madre una bolsa pequeña (...) mi hermana mayor venía a enseñarme. Esta actividad lo hacía en la casa, mientras mi mamá se encargara del cuidado de los animales. Pero cada vez que llegaba a la casa después del pastoreo, al ver que el tejido no estaba bien hecho, ella me agarraba con el mismo palo del telar a tal punto que tenia hinchada las manos (...) y para no recibir más golpes (...) tenía que esmerarme a tejer perfectamente, 'quiera o no quiera'".

Marcela beschreibt, wie sie versuchte, im Innenhof des Gehöfts das Weben zu üben, während ihre Mutter auf der Weide ungeduldig das Vieh hütete und darauf wartete, diese Aufgabe erneut ihrer Tochter zu übergeben. Unter Schlägen blieb

' Nach Möglichkeit wurde in der spanischen Übersetzung der Interviews die Ausdrucksweise und die grammatikalische Struktur des Aymara beibehalten, darunter zum Beispiel das häufig verwendete „diciendo me dijou zur Betonung eines direkten Gesprächs zwischen der Interviewpartnerin und der zitierten Person im Gegensatz zu Äußerungen, die indirekt durch Dritte in Erfahrung gebracht werden.

145 ihr nichts anderes übrig, als mehr oder weniger unfreiwillig ganz schnell das Weben zu lernen, in dem sie es sich praktisch selbst beibrachte. Die Lebensgeschichten der Interviewpartnerinnen verweisen darauf, daß viele Kinder nicht bei den Eltern, sondern bei Großeltern oder Geschwistern der Eltern aufwachsen. Äußere Anlässe dafür können Ereignisse wie die uneheliche Geburt, die Verwaisung, die Wiederheirat des überlebenden oder getrennten Elternteils, bzw. der Besuch der weiterfuhrenden Sekundärschule außerhalb des eigenen Dorfs sein. Flora beschreibt die wichtige Rolle der Schwiegermutter als Sozialisationsagentin bei der Vermittlung von Vorstellungen von Verhaltensnormen für Frauen: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "La madre es la que más enseñó a mí, luego de la misma manera la suegra también suele aconsejarse diciendo que debe ser así o asá, ya que yo tuve esposo siendo menor de edad. Por eso la suegra siempre me hacía entender las cosas. De esta o de esa manera van a progresar ustedes, van a mirarse atrás y adelante diciendo. Tiene que fijarse de la familia, la gente suele mirarse, no hay que dormir hasta tarde, hay que levantarse temprano, diciendo. Hay que hacer amanecer la harina molida de cebada tostada y la k'ispiña (galleta de harina de quinua), antes que salga el sol ya debe estar terminada la cebada tostada para la harina, diciendo, me encargaba. Asimismo, no hay que estar sentada en un sólo sitio en el rincón del fogón, porque la gente suele decir: 'como sapo está pegada en el rincón del fogón y allí la mujer debe estar evaporándose todito', diciendo, me dijo mi suegra. Por eso yo tenía miedo desde pequeña. 'Que ¡pum! hay que entrar a la casa, ¡pum! hay que salir, de esa manera hay que servir al esposo', me dijo. 'No hay que cocinar sentada en un solo lugar', entonces yo estoy acostumbrada a eso hasta ahora. Luego yo también sé enseñar de igual forma a mis hijos. Asi dijo su abuela, diciendo, 'no hay que estar sentada en un solo sitio', les dije. 'Hay que salir y entrar del cuarto, se coloca la leña al fogón y sabe estar ardiendo ', les dije. 'A veces hay que cocinar rápidamente, luego hay que juntar todo el agua antes', se decirles. 'Hay que recogerlo todo listo a la olla y luego se tapa y hay que atizar el fuego. Entonces ahí está ardiendo y está cociendo'. A veces eso nomás yo sé enseñar a mis hijos. Todo lo que me enseñaron mis padres. Eso nomás también les enseño. " Das Beispiel von Floras Schwiegermutter zeigt, daß auch verbale Erklärungen bei der Vermittlung von Normen, Werten und Verhaltensregeln abgegeben werden. Die Hauptaufgabe einer Ehefrau bei den Aymara sollte demnach darin bestehen, ihren Mann mit Essen zu versorgen, zu bedienen und sich beim Kochen der Norm entsprechend zu verhalten, daß eine Frau nie untätig zu sein hat. Frauen müssen immer ganz geschäftig und aktiv sein und dürfen nie zu lange an einem Ort verharren. Auch wenn es am Herd schön warm ist, darf die Frau dort nicht zu lange sitzen, zum einen wegen des vielen Rauches und zum anderen,

146 weil die Leute dann schlecht über sie reden könnten. Flora beschreibt, wie sie diese Werte und Verhaltensregeln auch an ihre Töchter weitergibt. Das ist durchaus nicht mehr selbstverständlich und bei der Beschreibung der eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse kommt ihre Abwertung, sowie die Hinterfragung von tradierten Fähigkeiten im Vergleich zu den durch die Schule vermittelten Fähigkeiten des Lesens und Schreibens, deutlich zum Ausdruck: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Los que no sabemos leer no valemos para nada. Ganado nomás sé cuidar. Sé hacer chacra, tejer en telar, hilar. Nuestros padres solamente nos exigen que nos tejamos, hilamos, nada más... Claro que está en nosotras todo lo que debemos hacer, tanto el tejer, hilar y todo lo que aprendemos, una madre nos exige. Ella se preocupa por nuestra alimentación..."

Andrea hat im Spannungsverhältnis zwischen zwei Lebenswelten verinnerlicht, daß diejenigen Menschen wertlos sind, die nicht lesen und schreiben können. Sie akzeptiert damit die Dominanz städtischer Werte. Ihre eigenen spezifisch weiblichen Tätigkeiten und Fähigkeiten wie Viehhüten, Landarbeit, Weben und Spinnen, die früher als frauenbestimmte Räume mit großer Wertschätzung verbunden waren, erfahren einen Abwertungsprozeß. María beschreibt, wie ihre Mutter als Vermittlerin von spezifisch weiblichen Fähigkeiten wie dem Weben von ihr verlangt, ihre Handgriffe unter Tränen nachzuahmen. Maria, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Con mis lágrimas hacía urdir el tejido. Entonces mi mamá me hizo una bolsa pequeña (wayaqa). Tejía nomás también eso. "

Aber gerade das Weben wird heute nicht mehr grundsätzlich von einer Frauengeneration zur nächsten weiter vermittelt. Auch Anbaupraktiken von Kartoffeln oder Hirse oder rituelle Handgriffe der Fruchtbarkeitszeremonien auf dem Feld werden aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen von den Frauen häufig nicht mehr an die jüngeren Generationen weitergegeben. Gleichzeitig tendieren Frauen dazu, sich in bezug auf die Erziehung ihrer Kinder im Schulalter stark verunsichert zu fühlen, weil sie sich den neuen in der Schule vermittelten Fähigkeiten und den heutigen Anforderungen ihren Kindern gegenüber nicht gewachsen sehen. Der Bewegungsfreiraum von jungen Mädchen wird stark kontrolliert und eingeschränkt. Frauen aus der mittleren ökologischen Zone berichten, daß sie als Mädchen nur selten mit auf den Markt im nächsten größeren Ort gehen durften, während Jungen kaum vergleichbaren Verboten ausgesetzt waren. Der Schulbesuch von Mädchen wird auch heute noch eingeschränkt oder genau überwacht.

147 Frauen wurden als Mädchen davon abgehalten, auf Feste zu gehen (siehe Interviews 3.8; 11.6). Auch Flora berichtet davon: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Cuando me junté con mi esposo recién aprendí a bailar. Mis padres me decían: 'No hay que bailar. Con tu marido tienes que bailar, si bailas siquiera una vez, cuando tengas tu esposo, él te va a levantar, diciendo que sabías bailar con ese joven en aquí y por allá, diciendo, te va a hacer llorar'. Cuando mis padres techaron la casa, a nosotras nos encerraron con candado en el dormitorio y no nos dejaron salir. Ellos estaban bailando y tomando toda la noche. Nosotras no podíamos ni mirar. Así me enseñó mi papá y mi mamá. "

Mädchen durften erst tanzen, wenn sie verheiratet waren, um ihr Ehrkapital nicht aufs Spiel zu setzen und damit ihre Ehemänner nicht im Nachhinein eifersüchtig werden und Zweifel an der Anständigkeit, Sittsamkeit und Schamhaftigkeit des Mädchens bekommen konnten2. Daher wurden sie bei Festen der eigenen Familie im Schlafraum eingeschlossen. Früher wurden Mädchen außerdem bei festlichen Gelegenheiten nicht bewirtet: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Antes yo era bien miedosa. Antes a tí no te pasaban el alcohol, a la gente en vano pasaban alcohol. Ahora mas bien decimos que será gente igual que nosotros. Antes no era asi, no daban. Como si fuéramos pequeñitas y no fuéramos gente se pasaba por un costado con algo (...) Si no nos da, los platos pasaban por un costado. Ahora mas bien de canto a todos sirven. Antes no era así. "

Andrea beschreibt sich als ein sehr ängstliches Mädchen. Nur anerkannte vollwertige Menschen - erwachsene und verheiratete Personen - hatten, als sie noch ein Kind war, ein Recht darauf, bei Festen bewirtet zu werden. Sie wurde als junges Mädchen einerseits von Festen ferngehalten, andererseits wurde ihr deutlich vor Augen geführt, daß sie erst als verheiratete Frau ein Recht zur Teilnahme an Festen und ein Anrecht auf Bewirtung mit wertvollen Speisen und Getränken hatte. Aus ihrer Sicht hat sich diese Praxis inzwischen verändert, heute würden alle Anwesenden auf Festen bewirtet. Insgesamt entsteht jedoch der Eindruck, daß Erklärungen auch von jüngeren Eltern selten zur Erziehung von Mädchen eingesetzt werden.

2

Die christliche Jungfräulichkeit spielt hier eine selten so ausdrücklich benannte Rolle.

148

5.2.

Die Problematik des Schulbesuchs aus weiblicher Sicht

Eine von den Frauen besonders beklagte Form der Diskriminierung von Mädchen besteht im begrenzten Zugang zur Schulbildung. Neben der Institution der Zwangsheirat wird der mangelnde Zugang zur Schulbildung als der Mechanismus empfunden, der ihre persönliche Entwicklung am stärksten eingeschränkt hat. Bei allem Verständnis für die Knappheit von materiellen Ressourcen und von Arbeitskräften innerhalb der Familie, die viele Eltern davon abhält, ihre Töchter zur Schule zu schicken, wird die Diskriminierung als Mädchen und das Vorhandensein von Vorurteilen der Eltern in bezug auf die Schulbildung von den Interviewpartnerinnen deutlich wahrgenommen. Es wird hervorgehoben, daß ihre Brüder zur Schule geschickt wurden3, während sie zu Hause bleiben mußten (siehe Interviews 8.5; 16.3). Kleinen Mädchen wird zu verstehen gegeben, daß ihre Brüder mehr wert sind und daß sie deshalb früher und länger zur Schule geschickt werden. Dabei greifen Eltern von Frauen über 40 Jahren zu Argumenten, wie z.B. "daß Mädchen ja nichts lernen, sondern nur Jungen", oder "daß Mädchen keine vollwertigen Menschen sind, sondern wie Affen zum Tierreich" gehörten. In diesem Zusammenhang werden von älteren Frauen die Sprüche der Eltern zitiert, die zur Rechtfertigung des Ausschlusses von Mädchen von der Schulbildung gebraucht wurden: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi padres

decían:

'¿Para qué va a aprender

una hija? ¿Qué tanto puede

una hija? Los hombres nomás van (a la escuela)

aprender

(...) ¿Para qué va a ir a la

escuela?

Ella será mono, qué va a ser gente. Ella estará sentada frente o junto al fogón'. "

Silveria, 62 Jahre alt, aus Ccamacani, Seezone "Mis tíos decían:

'No, tu eres mujer! ¿Quépuedes

aprender,

a qué vas a ir, para

qué

sirven las mujeres? Sólo van a la rinconada de la laguna'. "

María, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi padre me decía:

'a qué va a ir mi hija mujer, por lo menos ya sabrá

firmarse'.

Entonces así nomás me quedé hasta el tercer año... "

Paulina, 43 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Mi abuela y mi mamá decían: profesor.

'hay que lavar la lengua. Es la querida del maestro,

Qué va a ir a la escuela',

diciendo. Asi despreciaban

a las Aymaras

del desde

tiempos antiguos. Siempre había sido así y continúa siendo así. " 3

Alle Schulen sind in Puno gemischte Schulen, d.h. Mädchen und Jungen gehen in die gleiche Klasse.

149 Mädchen wurde, wie die Interviewaussagen zeigen, die Lernfähigkeit abgesprochen. Sie wurden mit Tieren gleichgesetzt, um hervorzuheben, daß die Natur ihnen nicht die Fähigkeit gegeben habe, wie ein Mensch zu lernen und zu denken. Tatsächlich haben die Eltern Angst davor, daß Mädchen in der Schule der Kontrolle des Elternhauses entkommen könnten, ihre weibliche und ihre Sexual ehre und damit die Ehre der Familie auf Spiel setzen und die Strategie der Eltern zum "Machen der Braut", zur Heiratsvermittlung, beeinträchtigen könnten. Mädchen könnten in der Schule plötzlich einen unkontrollierten Umgang mit anderen Menschen pflegen, oder zu gut reden und argumentieren lernen, eine eigene Meinung entwickeln, eigene Entscheidungen treffen und Widerstand gegen die Zwangsheirat leisten. Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Yo desde pequeña he crecido muy humilde. No me gustaba mucho jugar con los niños. Tampoco formar parte del grupo pues algunos niños se juntaban así, reuniéndose solamente chicas. Sin embargo, mi papá no sabe querer eso. Entonces a mi me decían en la comunidad de Tarapoto 'esta chica es muy tímida', diciendo, 'sola nomás, no está participando en ningún juego. "'

Es ist vor allem der Vater, dessen Ehre von der Kontrolle über seine Tochter abhängt, die durch den Schulbesuch erschwert wird. Er geht daher so weit, Flora in der Schule jeden Umgang mit Spielkameraden zu verbieten. Da Flora sich von allen beobachtet fühlt, folgt sie diesen Anweisungen auch dann, wenn ihr Vater nicht in der Nähe ist und traut sich nicht, sich einer Gruppe von Kindern anzuschließen. Sie wird auf diese Weise durch Befolgung der Anordnungen ihres Vaters dazu gebracht, schon als Schulkind die Regeln der weiblichen Ehre zu befolgen. Ein weiterer Grund für die Einschränkung des Schulbesuchs von Mädchen besteht in der Befürchtung, sie könnten sich in Fremde oder ungeeignete Partner verlieben und die Gemeinschaft verlassen. Darüber hinaus ist es für einen Vater ohne Schulbildung kaum einsichtig, welche spezifisch weiblichen Fähigkeiten ein Mädchen in der Schule denn überhaupt erlernen könnte. Nur das Unterschreiben von Dokumenten mit dem eigenen Namen scheint auch für Mädchen in der bäuerlichen Lebenswelt sinnvoll zu sein, da auch Mädchen ein Anrecht auf einen Ausweis haben und selbst als Analphabeten seit 1980 das Wahlrecht besitzen. Ansonsten überwiegt die Befürchtung, daß Mädchen durch die Schule nicht ausreichend auf ihre weiblichen Rollen in Ehe und Familie vorbereitet werden könnten. Dies hätte negative Auswirkungen auf ihr Ehrkapital für die Heiratsstrategien und könnte damit die Interessen der Familie und der Gemeinschaft gefährden. Die meisten staatlichen Dorfschulen umfassen nur bis zur dritten Schulklasse. Lediglich einige Privatschulen der Adventisten bieten bis zu fünf

150 Schulklassen der Primarschule an. Für den Sekundarschulbesuch müssen die Schülerinnen jedoch weite Wege bis in eine Nachbarortschaft zurücklegen oder sogar in einen anderen Ort umziehen. Aus den beschriebenen Argumenten wird deutlich, wie stark die Institution Schule eine Bedrohung für die Logik der für die Gemeinschaft funktionalen und zur Reproduktion der Lebenswelt der Aymara notwendigen Sozialisation der Mädchen, des Wertsystems der Ehre und der Strategien zur familiären Vermehrung von Ressourcen mit Hilfe von Heiratsstrategien darstellt. Eine individuelle Meinungsbildung von Mädchen muß unbedingt verhindert werden. Mädchen sind nur dann an Frauentausch4, Heim und Herd zu halten, wenn sie "ignorant" bleiben und sich selbst für denk- und lemunfahig halten. Diese Strategie zur Verhinderung einer kritischen Hinterfragung von Normen, Regeln und Praktiken ist heute jedoch immer weniger erfolgreich. Daher werden Mädchen immer jünger verheiratet. Allerdings steht dieser Praxis der Ausgrenzung von Mädchen aus der Institution Schule auch eine Bewertung der Schulbildung als sozialer Aufstiegsmechanismus gegenüber, so daß die Haltung der Eltern zur Schulbildung als überaus widersprüchlich bezeichnet werden kann. Diejenigen Frauen, die selbst unter geringem Zugang zu Schulbildung und unter Analphabetismus gelitten haben und sich für ihre Töchter mehr Schulbildung wünschen, gefährden damit gleichzeitig die Ehre der Familie und der Tochter und die Vermehrung der Familienressourcen durch Heiratsstrategien. Vor allem in kinderreichen Familien gelingt es den Müttern häufig trotzdem nicht, den Schulbesuch für alle Kinder, auch für die Töchter zu finanzieren. Außerdem sind sie in Zeiten zunehmender Arbeitsbelastung auf ihre Töchter als weibliche Arbeitskraft im Familienbetrieb angewiesen. Gerade in bezug auf die Vorstellungen über die Schule finden inzwischen Veränderungsprozesse in bezug auf Normen wie der Lernunfahigkeit von Mädchen statt, die sich jedoch aufgrund der Kostenfrage nur sehr langsam zugunsten der Mädchen jüngerer Altersgruppen auswirken. Die Mehrheit der Interviewpartnerinnen äußert den Wunsch, ihre eigenen Kinder sollten nicht so ungebildet aufwachsen wie sie selbst. Sie machen wie Maria darauf aufmerksam, wie sehr sie selbst unter mangelnder Schulbildung gelitten haben und unter welchen Opfern sie heute alles daran setzen, damit ihre Söhne und Töchter eine abgeschlossene Schulausbildung und einen Schulabschluß erhalten:

4

Durch Zwangsheirat in ein Nachbardorf als Teil der Strategien der Eltern zur Kontrolle und Diversifizierung von Ressourcen und gegenseitiger Hilfeleistungen zwischen durch Ehevermittlung miteinander verbundenen Familien.

151 María, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi papá no quería. 'Tú ya sabes firmar, por qué las jóvenes van a ir tan lejos, quién va a venir a verte'. Ahora me lamento. Mi padre me hubiera puesto. Mis neos son profesoras.

contemporá-

Por eso pienso 'cómo no me pudo poner, si yo era única', dicien-

do, tengo resentimiento. Ahora que ya estamos en tiempos muy caros, asimismo

esta-

mos haciendo terminar (el colegio) uno a uno a nuestros hijos. "

María fragt sich, warum ihr Vater sie nicht weiter zur Schule gehen ließ, obwohl sie doch Einzelkind war und es sich daher offenbar damals nicht um ein finanzielles Problem ihrer Eltern handelte. Sie vergleicht sich mit gleichaltrigen Frauen aus ihrer Dorfgemeinschaft, die heute als Lehrerinnen tätig sind. Aber Maria hätte ihren Schulbesuch damals in einem Nachbardorf fortsetzen müssen. Um die weiterführende Schule zu besuchen, müssen Mädchen zum einen der Kontrolle der Eltern entzogen werden und in einem anderen Ort wohnen. Zum anderen ist ein Umzug und ein zweiter Haushalt sehr teuer. Versuche, Mädchen bei Verwandten einzuquartieren, fuhren in der Regel dazu, daß sie dort als Arbeitskraft eingesetzt werden und ihnen wenig Zeit für Schulaufgaben bleibt, wie folgende Aussage zeigt: Lucia, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "En la casa de mi tía tenia problemas.

No me dejaba hacer mis tareas. No me dejaba

escribir. Me decía: 'Ayúdame a cocinar. Cuida los ganados.' Así me ordenaba

muchas

cosas y no me daba lugar a mi estudio (...) "

So bleibt auch heute die große Genderdisparität in bezug auf Schulbildung für Jungen und Mädchen eine Realität. Dafür spricht auch die Analyse der Bildungssituation der Interviewpartnerinnen, von denen nur zwei Frauen, darunter die gerade zitierte jüngste unter 30 Jahre alte Lucia, überhaupt die Sekundärschule erreichten. Der Zugang der Frauen zur Schulbildung gleicht sich im wesentlichen in allen drei ökologischen Zonen und es sind auch keine Unterschiede zwischen kinderreichen Familien und Familien mit weniger Kindern festzustellen. Eine geringe Verbesserung ist für jüngere Frauen erkennbar, jedoch werden als wesentliche begrenzende Faktoren einerseits die Kosten für Schuluniform, Transport, Hefte, Stifte usw. und andererseits der Verlust der Arbeitskraft der Mädchen von den Interviewpartnerinnen angeführt. Allerdings kann davon ausgegangen werden, daß diejenigen Mädchen mit mehr Schulbildung nicht auf dem Land geblieben, sondern in die Städte abgewandert sind und daher als Interviewpartnerinnen für diese Untersuchung nicht zur Verfügung standen. Bei der Beschreibung der Interviewpartnerinnen und ihrem Zugang zur Schulbildung handelt es sich daher um eine Gruppe von permanent auf dem Land lebenden Frauen und Männern, die höchstens - wie im Fall der Dörfer der Seezone - saisonal migrieren. Aber auch dann, wenn - wie z.B. bei

152 den Adventisten - der Schulbildung ein großer Wert beigemessen wird, gelingt es Müttern aus armen Familien nicht, ihren Töchtern eine ausreichende Schulbildung zu ermöglichen: Dominga, 36 Jahre alt, aus Tanapaca, mittlere Zone "Yo siendo una pobre, estaba viviendo con mi mamá (...) he visto que no había dinero para comprar uniforme, para comprar cuaderno. Así fue porque no tenía padre.

Por

eso yo le decía a mi mamá: 'como no tenemos nada, queremos trabajar la chacra, y queremos criar nuestros ganados. Mamá yo me quedaré nomás' así le decía (...) Mi mamá me decía que no me preocupe,

'porque tienes que aprender a leer', pero yo ya

no quise aprender a leer (...) "

Der Ausschluß aus der Schulbildung ist besonders in den Fällen gegeben, in denen es sich um die älteste Schwester von mehreren Geschwistern aus einer ärmeren oder um Familien mit weiblichem Haushaltsvorstand handelt, wie im Fall von Dominga, deren jüngere Brüder die Sekundärschule beenden konnten und an die Küste migriert sind (vgl. Luig 1997: 250). Mädchen aus besser gestellten Familien haben selbst als Erstgeborene größere Chancen, zumindest die Grundschule zu beenden (siehe Interview Nr. 5.7), und eventuell sogar in einem Nachbarort ein paar Jahre zur Sekundärschule zu gehen. Keiner der befragten Frauen gelang es jedoch, die Sekundärschule zu beenden. Die drei Frauen, die überhaupt bis zur Sekundärschule kamen, mußten vorzeitig abbrechen, weil sie entweder verheiratet oder schwanger wurden. Ein Sekundarschulabschluß ist auch heute noch im gleichen Dorf für Frauen unerreichbar, weil sie aufgrund ihres Beitrags zum Familienbetrieb häufiger als Jungen aussetzen und mehrfach Schuljahre wiederholen müssen. Auf diese Weise holt sie das ohnehin sehr frühe Heiratsalter ein (siehe Interviews 14.2; 12.4; 8.6; 16.4). Mädchen sind in der Schule wesentlich älter als die Jungen der gleichen Schulklasse. Die Aussagen der Interviewpartnerinnen machen deutlich, daß Mädchen sowohl von Vätern als auch von Müttern entweder von der Schule ferngehalten werden konnten oder überhaupt nur durch den entschiedenen Einsatz von nur einem Elternteil zur Schule gehen konnten. Insbesondere im Falle von Mädchen, die in einen anderen Ort zur Sekundärschule geschickt werden, kommt es häufiger zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern (siehe Interviews 4.9, 12.5). Diese Tatsache deutet auf die bereits beschriebene ambivalente Einstellung der Eltern zur Schulbildung hin, die von den Interviewpartnerinnen ausdrücklicher im Fall ihrer Mütter gegenüber ihren Töchtern erwähnt wird als im Fall ihrer Väter. Ein ausdrücklicher Einsatz der Väter für die Schulbildung der Töchter wird vor allem im Fall von Adventisten erwähnt, die besonders großen Wert auf Schulbildung legen und oft an private Grundschulen der Adventisten auf dem Dorf denken. Diese scheinen gleichzeitig aufgrund von religiösen Moralvorstellungen einen besseren Schutz für die Schamhaftigkeit der Mädchen als

153 staatliche Grund- und Sekundärschulen zu bieten. Die Mehrheit der Interviewpartnerinnen gibt jedoch an, sich als Mütter besonders für die Schulbildung ihrer Töchter einzusetzen, damit diese eine bessere Zukunft erwartet: Senobia, 48 Jahre alt, aus Ancojaque, Kordillere "Por gusto nomás siempre mis padres no hicieron posible que estudiara.

Seguramente

cursaba el tercer grado a los 10 años y después lo dejé. Tanto mi padre como mi madre ya no quisieron ponerme a la escuela. Sin embargo en los tiempos actuales a los hijos les decimos: '¡aprenda,

aprenda!'"

Silveria, 62 Jahre alt, aus Ccamacani, Seezone " T o nomás seré ciega', diciendo, hice educar a mis hijos. "

Die heutigen Großmütter und Mütter haben so stark unter der Tatsache gelitten, als Analphabeten und einsprachig ohne Spanischkenntnisse aufgewachsen zu sein, daß sie für ihre Töchter etwas anderes wollen. Hier hat ein Wandel stattgefunden, der sich in dem entschiedeneren Einsatz der Interviewpartnerinnen für die Schulbildung ihrer Töchter im Vergleich zu ihren eigenen Müttern ausdrückt. Das folgende Beispiel von Lucia zeigt jedoch, wie schwierig dieser Weg ist und wie entschlossen Mütter sein müssen, um zu erreichen, daß ihre Töchter allen Widrigkeiten zum Trotz auch die Sekundärschule besuchen können: Lucia, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "(...) después he continuado la escuela, mi mamá me mandaba a la escuela.

Terminé

mi primaria con unos doce años. Ese año mi papá tomó el cargo de Teniente

Goberna-

dor y nosotros, como somos dos hermanas nomás, nos faltaba gente para cuidar el ganado. Por eso ya no pude ir al colegio. Asi tuve que descansar. Al siguiente año mi mamá se enfermó y por esa preocupación ya no pude entrar también al colegio. El siguiente año igual. Ya se presentó la sequía y por falta de gasto mi papá ya no me quería poner al colegio. Pero mi mamá quería que yo vaya al colegio. Decía 'que vaya al colegio que no se quede como yo, soy como ciega'. Así mi mamá discutía con mi papá y un miércoles había ido al colegio y me había matriculado. "

Jedes Mal, wenn ihr Vater einen Posten im Dorf übernahm, eine Klimakatastrophe eintrat, ihre Mutter oder jemand in der Familie krank wurde, mußte Lucia erst einmal wieder den Schulbesuch unterbrechen, da sie zum einen zu Hause als Arbeitskraft benötigt wurde, zum anderen aber das Geld für ihren Schulbesuch knapp war. Aber erst der entschiedene Einsatz ihrer Mutter, die ihre Tochter gegen den Willen ihres Mannes in der Sekundärschule einschreibt, ermöglicht Lucia die Fortsetzung des Schulbesuchs. Auf die Auswirkungen dieser Uneinigkeit der Eltern auf das weitere Leben von Lucia, die noch während der Sekundarschulzeit schwanger wird und ihre Schulbildung abbrechen muß,

154 wird noch näher im Kapitel 5.3.3. über die Institution der Zwangsheirat eingegangen. Diejenigen Frauen, die nicht zur Schule gehen konnten, bringen ihren Eltern gegenüber starke Ohnmachtsgefühle, Wut und Ressentiments zum Ausdruck: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Nunca siempre sé ni leer ni escribir. Mis padres nunca siempre me han puesto a la escuela para leer. Solamente me decían que hile y teja, que cuida los animales me decían. Solamente sé trabajar la chacra. Nada se hacía. 'Qué vas a salir' decían, 'a lo menos una mujercita qué va a ser, son solamente la uña del pequeño viento' decían el padre y la madre. Igual el padre y la madre debían ponerme, pero nunca me pusieron (...) por eso hay caso de maldecir a los padres (...) 'Siquiera un año me hubieran puesto', diciendo a veces, maldigo. Pero también me siento de mi padre y de mi madre. No se puede discutir; yo nunca siempre he discutido a mi mamá ni a mi papá, por eso se sentía bastante de mí, mucho se sentía por mí, (...) hablaríamos castellano podemos hablar, podríamos conversar, eso da mucha cólera, así nomás son los padres. '¿Por qué nunca nos han recordado?', digo ".

Zum einen konnte Andrea ihren Eltern nicht widersprechen, weil sich das fiir Mädchen nicht gehörte. Zum anderen hat der Ausschluß vom Schulbesuch dazu geführt, daß sie außerhalb der Dorfgemeinschaft weitgehend dialogunfahig ist, weil sie kein Spanisch gelernt hat. Deshalb ist sie wütend auf die Eltern, die nicht auf ihre Bedürfnisse eingingen und ihre persönlichen Entwicklungschancen damit beeinträchtigten. Die Möglichkeit, eine Sekundärschule an einem anderen Ort besuchen zu dürfen, wird dagegen von Paulina als ein Liebesbeweis des Vaters interpretiert, der damit seine Kontrollfunktion aufgibt und seine männliche Ehre riskiert: Paulina, 43 Jahre alt, aus HuacuIIani, Kordillere "Mi papá, seguro que me quería bastante. Por eso me puso al colegio en otro sitio lejano (...) "

Demgegenüber hat mangelnde Schulbildung auch Auswirkungen auf die Beziehung der Interviewpartnerinnen zu ihren Kindern: Gregoria, 40 Jahre alt, aus Totojira, Seezone "Si hubiera aprendido a leer hubiese orientado fácilmente a mis hijos (...)"

Bei den Müttern bleibt das Gefühl zurück, durch mangelnde Schulbildung nur unzureichend auf die Erziehung ihrer Kinder und die veränderten Anforderungen der heutigen Zeit vorbereitet zu sein. Viele Frauen empfinden es nachteilig, daß sie ihren Kindern nicht bei den Schulaufgaben helfen können und ihnen damit den gewünschten Weg verbauen.

155 Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "A mime hacía el deseo de estudiar y aprender mucho. Pero mi madre no sabia leer y escribir. Entonces a mí no podía ni cómo enseñarme. Mientras mi padre sabía, pero él no me enseñaba de buena manera (...). " Darüber hinaus wird hier ein Generationskonflikt zwischen Müttern ohne Schulbildung und Kindern mit Schulbildung sichtbar, der sich auf einen grundlegenden Wertewandel bezieht und viele Mütter so verunsichert, daß sie sich vielfach aus ihrer Funktion als Vermittlerin von Werten und Normen der Lebenswelt der Aymara zurückziehen. Die Aufwertung der durch die Schule vermittelten städtischen Werte wie Lesen, Schreiben und Spanisch sprechen können geht einher mit der Entwertung der eigenen traditionsbezogenen weiblichen Kenntnisse. So wird z.B. das Spinnen und Weben nicht mehr allen Mädchen beigebracht, da ja die Kleidung inzwischen auf jedem Markt gekauft werden kann. Auch Anbaupraktiken, rituelle Handlungen und Bedeutungen, die Anbetung von Vorfahren und Naturgottheiten usw., werden nicht immer weiter vermittelt. Diese Situation spiegelt sich auch im Bild wider, das sich die Interviewpartnerinnen von ihren eigenen Müttern gemacht haben, obwohl ihre eigene Situation ihren Kindern gegenüber auch heute oft ganz ähnlich ist. Maria, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi mamá no tiene palabra, nada siempre nos dirá. Sabe estar calladita nomás pues, puesto que mi madre no es sino bien sencilla... tal vez me tendría miedo, nada me diría siempre (...). " Für María ist ihre Mutter eine einfache, schweigsame Frau ohne eigene Meinung und ohne Selbstwertgefühl. Sie vermutet sogar, daß ihre Mutter Angst vor ihr hat und sich deshalb nicht traut, ihr Ratschläge zu geben oder eine Meinung über ihre Situation zu äußern. Andrea, SO Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi mamá desde ese día hasta ahora no sabe nada. Ya es vieja. " Mütter werden als unwissend und schüchtern, und aufgrund von veralteten Einstellungen auch im Alter als handlungsunfähig beschrieben. Demgegenüber werden Väter als diejenigen betrachtet, deren Entscheidungen für das eigene Leben ausschlaggebend waren. Väter sind dementsprechend auch die häufiger erwähnten Ausfuhrer von Sanktionen als Mütter wie im Fall von Flora, deren Mutter nicht einmal mit ihr schimpfte, während ihr Vater schnell zur Prügelstrafe griff.

156 Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi padre era muy malo, mi madre no. A mí no solía reñir, mientras mi padre a punto de látigos me ha criado (...). "

Ein Hinterfragen der Ansichten der Eltern war in diesem Kontext undenkbar; vielmehr wurde erwartet, daß Mädchen alle über sie getroffenen Entscheidungen ohne Widerspruch akzeptieren. Neben dem Ausschluß der Mädchen von der Schulbildung besteht das drastischste Beispiel für kulturellen Zwang in der auch heute noch vielfach unter den Aymara üblichen von den Eltern vermittelten Zwangsheirat mit einem fremden Partner. Gerade die Praxis der Zwangsheirat setzt jedoch die Unfähigkeit zur Bildung und Äußerung einer eigenen Meinung und allgemein eine Handlungsunfähigkeit von Mädchen aus Eigeninitiative voraus, die durch Schulbildung untergraben wird. Erst der Schulbesuch und zunehmende Migrationserfahrungen führen zur Hinterfragung von Befehlen, Kontrollmechanismen, Regeln, Normen und Werten durch junge Mädchen (siehe Interview 11.7).

5.3.

Die Institution der Zwangsheirat

5.3.1. Der Frauentausch und die Normen und Regeln der Heirat Die Heirat war auch in Europa lange ein Ereignis, das vor allem familiären, gemeinschaftlichen, dörflichen oder zünftischen Ansprüchen und Interessen und einem gesellschaftlichen System entsprach, das weitgehend über Verwandtschafitsbeziehungen organisiert wurde. Die individuelle Zuneigung oder gar Liebesbeziehung der Partner standen dabei nicht im Vordergrund (Van Dülmen 1988: 67). Diese Form der Heirat ist auch in vielen Bauernkulturen Lateinamerikas wiederzufinden und unterliegt derzeit in der ländlichen Aymara-Gesellschaft von Puno einem Wandel bei gleichzeitiger Kontinuität und Dauerhaftigkeit, da die Heirat eine zentrale Form der sozialen Praxis darstellt und die Ehe und Familie das Zentrum der gemeinschaftlichen Sozialorganisation bilden, auf dem eine Reihe überlebenswichtiger Logiken und Strategien aufgebaut sind. Die Heirat symbolisiert im Weltbild die Quelle der Reproduktion der Lebenswelt der Aymara. Jeder und jede Aymara ist verpflichtet, für die Gemeinschaft da zu sein und sich ihr gegenüber aufrichtig und loyal zu verhalten. Zu Heiraten bedeutet, dieser Pflicht nachzukommen, und gleichsam auch das Recht zur Nutzung von Land zu erwerben. Als Ereignis markiert die Heirat den Übergang vom Kind- zum Erwachsensein sowie die Übernahme von Rechten und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft.

157 Kleinbauernfamilien in den Anden sind gleichzeitig Produktions-, Konsumund Arbeitseinheiten. Daher hängt das Überleben der Familie ganz wesentlich vom Arbeitsbeitrag, der Verantwortungsbereitschaft sowie dem Willen jedes einzelnen Familienmitglieds ab, die ihm oder ihr zugeteilten Aufgaben zu erfüllen (De La Torre 1995). Ein wesentliches Mittel, um den Lebensentwurf jedes Einzelnen in die von der Familie und der Gemeinschaft gewünschte Richtung zu lenken, besteht im sozialen Druck, der vielfaltige Formen annimmt, unter anderem die bereits beschriebene Form der Ehre der Familie und der Frau. Am Beispiel der Heirat lassen sich besonders vielfältige Mechanismen von sozialem Druck bis Zwang sowie die unterschiedlichen Auswirkungen dieser Mechanismen auf Frauen und Männer aufzeigen. Die exogame Heirat ist eine Norm, die den Frauentausch erzwingt, weil Frauen zwischen Familienverbänden verschiedener Abstammungslinien und zwischen verschiedenen Dorfgemeinschaften getauscht und auf diese Weise bei der Heirat selbst zu einer Ressource werden, die die soziale, wirtschaftliche und physische Reproduktion der Lebenswelt der Aymara erst ermöglicht. Die Verfügbarkeit über die Ressource 'Frau' wird durch die Kontrolle der Gemeinschaft und der Familie gesichert. Mißlingt diese Kontrolle, wird die gesamte Reproduktion des Systems und der Lebenswelt in Frage gestellt. Dementsprechend ausgeprägt sind Normen und Zwangsmechanismen, denen vor allem die Frauen, aber auch alle ihre Familienangehörigen unterworfen sind. Der Handlungsspielraum muß insbesondere für Mädchen aber auch für Frauen gering gehalten werden, damit sie nicht ausbrechen können. Als sozialer Mechanismus garantiert die exogame Heirat den Fortbestand des Systems der Reziprozität sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen verwandten Familien und Familienverbänden in unterschiedlichen Dorfgemeinschaften in bezug auf den Tausch von Gebrauchs- und Wertgegenständen, auf Dienst- und Arbeitsleistungen, auf Loyalitäten, etc. Die Heirat verbindet bei den ländlichen Aymara wie ein zentraler Knotenpunkt einerseits Grundwerte wie die legitime Abstammung, die soziale Anerkennung, die persönliche Ehre, die von den Frauen selbst als "das Menschsein" oder das "Respektiert-Werden" bezeichnet wird, sowie Rechte und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft. Auf materieller Ebene ermöglicht sie andererseits strategische Schritte zur Potenzierung und Nutzung von Ressourcen in jeder Hinsicht und trägt damit entscheidend sowohl zur materiellen wie auch zur sozialen Reproduktion der Aymara-Gesellschaft schlechthin bei: Die Heirat wurde und wird als gemeinschaftlicher Kontrollmechanismus über den Landbesitz, den Viehbestand, die menschliche Reproduktion, die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Arbeitskräfte eingesetzt. Durch die Institution der Heirat werden Arbeitszusammenhänge geschaffen, die die gesamte Ökonomie der Aymara-Gesellschaft organisieren und die Gründung der Kleinfamilie als Produktionseinheit ermöglichen. Sie dient als Lebensabsicherung und Besitzzusammenfugung, ohne die ein Indi-

158 viduum keine Überlebensmöglichkeiten hat. Die Heiratsvermittlung durch die Eltern stellt wiederum eine zentrale Strategie dar, um die Ressource Frau an die Gemeinschaft und an die Familie zu binden. Weder Männern noch Frauen wird bei den Aymara die Handlungsoption zugestanden, ein Leben ohne Ehe zu fuhren. Der soziale Druck zur Monogamie ist groß, und Trennungen bzw. Ehescheidungen sind bei den Aymara relativ selten, obwohl sie heute häufiger als in vorangegangenen Generationen vorkommen. Frauen, die nicht heiraten, verlassen werden, geschieden sind oder verwitwen, sind im Dorf vielfaltigen Sanktionen ausgesetzt, die einerseits ihre sozialen Beziehungen stark beeinträchtigen und andererseits zu greifbaren materiellen Verlusten führen können. Diese Sanktionen bestehen im Verlust der Ehre, der von den betroffenen Frauen selbst als mangelnder Respekt ihnen gegenüber beschrieben und empfunden wird. Von Männern werden sie als eine Art jagdbares Freiwild und von Frauen als Rivalinnen betrachtet, die ihnen den Ehemann wegnehmen könnten. Der Ehrverlust und die Diskriminierung von alleinstehenden Frauen sind wichtige Mechanismen, um Frauen dazu zu bewegen, die Zwangsehe zum einen zunächst einmal zu akzeptieren und zum anderen später nicht aus der Ehe auszubrechen. Mädchen und Jungen lernen von klein auf, daß nur wer heiratet, ein oder eine jaqi, d.h. ein vollwertiger Mensch mit allen Rechten und Pflichten werden kann. Die Heirat ist das Symbol für die Menschwerdung, das Lebensziel der Menschen überhaupt. Junge Leute werden zum Heiraten bewegt, indem Kindern von klein auf beigebracht wird, danach zu streben, ein vollwertiger Mensch zu werden. Ihnen wird gleichzeitig vor der Heirat der entsprechende Respekt verweigert. Kinder, insbesondere Mädchen, haben nicht das Recht, eine Ansicht zu äußern, sie werden auf öffentlichen Festen nicht bewirtet bzw. in der Familie als letzte versorgt, sie erhalten die kleinsten Portionen, ihre Arbeitsleistung wird nicht bewertet, usw. Das Heiratsritual, das im Kapitel 2.3.2. im Detail beschrieben wurde, ist ein wichtiges öffentliches Ereignis und findet in Form eines Dorffestes statt. Jedoch werden nur wenige Ehen vor dem Standesamt formalisiert oder kirchlich vollzogen. Dies hat vor allem finanzielle Gründe, da lange Wege und kostspielige Behördengänge zum Standesamt oder zum Priester nötig sind. Mit der Heiratszeremonie werden zwar alle Erbrechte des Mannes und der Frau definiert und den beteiligten Familien gegenüber bekannt gemacht, aber das Erbe wird noch nicht gleich angetreten, sondern erst nach und nach übergeben. Das neue Paar lebt im Normalfall zunächst noch bis zur Geburt des ersten Kindes bei den Eltern des Mannes.5 Erst bei der endgültigen Gründung eines eigenen Haushalts werden 5

Dieser Zeitraum wird bei den Quechua als servinakuy bezeichnet, ein Ausdruck, der das spanische Wort 'servir' (auf deutsch: dienen) beinhaltet und damit die Arbeitsleistung der jungen Ehefrau bei der Familie des Ehemanns erfaßt. In der akademischen

159 dem Mann und der Frau die ihnen zustehenden Ländereien, Viehbestände, Haushaltsgegenstände und Kleidungsstücke von ihrer jeweiligen Familie übergeben. Im Normalfall verfügt ein Bauernhaushalt auf diese Weise über verschiedene kleinere Felder und/oder Weideflächen in beiden Herkunfts - Dorfgemeinschaften der Eheleute. Nach der ersten Phase des Zusammenlebens im Haushalt der Eltern des Mannes, spätestens jedoch bei der Geburt des ersten Kindes ist der Zeitpunkt der gemeinschaftlichen Errichtung eines eigenen Hauses und der Bildung eines eigenen Haushalts gekommen. Von diesem Augenblick an erwartet die Dorfgemeinschaft von der neuen Familieneinheit die Übernahme von Posten und Arbeitsleistungen für die Gemeinschaft. Dabei beteiligen sich die Männer eher an gemeinschaftlichen Entscheidungsprozessen, an denen Frauen in den meisten Fällen weniger oder gar nicht beteiligt werden, während letztere einen großen Teil der gemeinschaftlichen Arbeitsleistungen wie das Kochen, das Schleppen von Steinen oder Baumaterial für Schul- oder Straßenbau oder Anbautätigkeiten auf Gemeinschaftsfeldern verrichten. Da in Puno die nach der Agrarreform von 1969 vom Staat gesetzlich anerkannten Dorfgemeinschaften über jeweils einen gemeinschaftlichen Landtitel verfügen, wird die Aufteilung des Landbesitzes von den Familien einer Dorfgemeinschaft untereinander festgelegt. Diese interne Aufteilung kann aber staatlichen Instanzen gegenüber weder formalisiert noch angefochten werden. Daher spielt bei der Zuteilung des Landes die interne Dorfhierarchie unter Familien eine große Rolle, die wiederum über das Wertesystem der Ehre definiert wird. Die Familienehre reicht einerseits über mehrere Generationen zurück und hängt von der Abstammungsgeschichte, den vererbbaren Ressourcen und den übernommenen Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber, wie z.B. der Übernahme von Posten auf Festen oder im Dorfvorstand ab. Andererseits wird sie permanent neu auf den Dorfversammlungen ausgehandelt.

Debatte wird das servinakuy jedoch vielfach als 'andine Probezeit' für die Ehe betrachtet, die im Falle eines Scheiterns angeblich - sogar noch nach der Geburt von Kindern - von beiden Eheleuten einfach aufgekündigt werden könnte und nach der angeblich neue eheliche Verbindungen ohne größere Komplikationen erneut eingegangen werden könnten. Bereits Carter u. Mamani (1982) haben im Fall der Aymara von Irpa Chico, Bolivien, Zweifel an der Existenz einer derartigen Probezeit für die Ehe angemeldet. Für die ländlichen Aymara von Puno gibt es aus weiblicher Sicht keine Probezeit für die Ehe. Eine Trennung ist für Frauen und ihre Familie nicht nur mit hohem Ehrverlust verbunden, sondern insbesondere für Frauen mit Kindern bedeutet eine Wiederheirat eine komplexe Entscheidung, bei der viele Überlegungen eine Rolle spielen, die im Verlauf der Untersuchung noch näher behandelt werden. Frauen, die Kinder bekommen, ohne zu heiraten, begehen einen Normenbruch, der ebenfalls sozial sanktioniert wird.

160 Wie bereits erwähnt, ist eine standesamtliche Trauung eher selten und hauptsächlich für die amtliche Registrierung der Geburtsurkunden der Kinder für die Unterhaltszahlungen von Vätern im Fall von Trennungen relevant, nicht jedoch für die Formalisierung von Erbschaftsangelegenheiten. Da es innerhalb der Dorfgemeinschaften zwar den staatlich anerkannten, von der Dorfversammlung jährlich neu gewählten Dorfvorstand, jedoch keine formal anerkannte Rechtsinstanz gibt, werden die wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und sozialen Verhältnisse dauerhaft mithilfe von Institutionen wie der Ehre, der Zwangsehe und dem Gabentausch in reziproker Form gesichert (vgl. Bourdieu 1976: 143ff.). Die von der Dorfversammlung in Konsensform gefällten Beschlüsse sind nur innerhalb der Dorfgemeinschaften gültig und können außerhalb nur im Fall der sogenannten "parcialidades,\ d.h. der Gemeinschaften ohne staatlich anerkannten Landtitel angefochten werden.

5.3.2. Die Erbrechte von Frauen und Männern Der zentrale Moment der Definition der Erbrechte fallt mit der Strategie zur Eheschließung zusammen. Der größte Teil des Erbes wird nach und nach bis zur Geburt des ersten Kindes und der Gründung eines eigenen Haushalts mit der Errichtung eines eigenen Hofes angetreten. Zum Zeitpunkt des Todes beider Elternpaare bleiben oft nur wenig Erbangelegenheiten zu regeln, da die meisten Kinder ihr Erbe bereits angetreten haben. Normalerweise ist der jüngste Sohn dazu verpflichtet, seine Eltern im Alter zu versorgen. Er übernimmt später den Teil des elterlichen Hofes, der von den Eltern zu Lebzeiten nicht bereits an die anderen Kinder vererbt wurde. In den meisten Fällen vererben die Männer ihren Besitzteil an die Söhne und die Frauen ihren Teil des Besitzes, den sie bei der Heirat mit in die Ehe gebracht haben, an die Töchter weiter. Während des gesamten Lebenszyklus ist allen Familienmitgliedern genau bekannt, ob ein Stück Vieh, ein Stück Land, ein Webstück, ein Werkzeug oder Haushaltsartikel dem Vater, der Mutter oder einem der Kinder gehört. In dieser Hinsicht gibt es jedoch regionale und lokale Unterschiede. Der Erbanspruch von Frauen wird jedoch bei Landknappheit von den anderen Verwandten in Frage gestellt. Je knapper das zur Verfügung stehende Land, um so stärker werden Frauen bei Erbschaftsregelungen benachteiligt. In der dichtbesiedelten Seezone müssen Frauen zum Beispiel zunehmend um ihre Erbschaftsrechte kämpfen. Ein bedrohtes Erbe bedroht auch ihre weibliche Ehre (siehe Interview Nr. 18.1), und kann zu erheblichen sozialen Sanktionen gegenüber Frauen führen, die im siebten Kapitel über Gewalt gegen Frauen noch näher beschrieben werden.

161 Die Heirat einer Tochter oder eines Sohnes hat für eine Familie nicht die gleiche Bedeutung: Eine Tochter nimmt bei der Heirat einen Teil ihrer Erbschaft in Form von Land- und Viehbesitz und Aussteuer in Anspruch. Sie geht der Familie zwar als Arbeitskraft verloren, muß dafür dann aber auch nicht mehr weiter ernährt werden. Wenn ein Sohn heiratet, dann muß seine Ehefrau als neues Familienmitglied zunächst einmal mit ernährt werden. Allerdings bringt sie ihre Arbeitskraft und einen Teil ihrer Erbschaft ein, bis sich das junge Paar mit dem ersten Kind unabhängig machen kann. Erst nach und nach erhalten beide Partner ihren Teil der Erbschaft in dem Maße übertragen, wie sie in der Lage sind, das Land zu bewirtschaften, das Vieh zu hüten und sich weitgehend selbst zu versorgen.

5.3.3. Die Zwangsheirat und die weibliche Ehre Bis vor ca. 25 Jahren wurde die Mehrheit der Ehen bei den Aymara in Puno noch von den Eltern über die Köpfe der jungen Eheleute hinweg vermittelt. Die betroffenen Frauen sprechen in diesem Zusammenhang von Zwangsheirat und lenken die Aufmerksamkeit auf diejenigen Mechanismen, die zur Anwendung kommen, um sie als Mädchen zur Akzeptanz der Heirat mit einem ihnen völlig fremden Partner zu bewegen. Darüber hinaus verweist die Bezeichnung Zwangsheirat darauf, daß es für Frauen bei den Aymara zur Heirat keine Alternative gibt. Aus den Aussagen der Interviewpartnerinnen lassen sich folgende Mechanismen rekonstruieren, die zur Anwendung kommen, um eine Zwangsheirat herbeiführen: Es beginnt mit der Forderung nach absolutem Gehorsam der Mädchen und der Unterdrückung jeder eigenen Meinung oder Entscheidung von klein auf. Es folgt die Verheiratung in möglichst jungem Alter, um die mangelnde Lebenserfahrung und das geringe Selbstbewußtsein von Mädchen auszunutzen und möglichen Widerstand von vornherein auszuschalten. Die Eltern machen zu diesem Zeitpunkt viele Versprechungen, die hinterher oft nicht eingelöst werden. Notfalls drohen sie ihrer Tochter mit der Ächtung und dem Ausschluß aus dem Elternhaus oder mit Gewalt körperlicher Züchtigung. Täuschungsmanöver der Eltern und heimliche Absprachen zwischen Schwiegereltern und Eltern gehören ebenfalls dazu. Nur selten kommt es zu Strategien, die den Zwang durch Manipulation ersetzen, wie der Zusammenfuhrung der Jugendlichen durch die Eltern auf Festen oder bei anderen Gelegenheiten, damit sie sich "zufällig" kennenlernen können, bevor sie verheiratet werden. Auch heute ist die Zwangsheirat zwar noch die übliche Norm; inzwischen besteht jedoch eher die Möglichkeit, daß sich junge Leute auch ohne Vermittlung der Eltern kennenlernen. Diese Veränderung in der Heiratspraxis ist auf die Ablehnung der Zwangsheirat durch die Frauen, auf die veränderten Anforderungen

162 an jeden einzelnen, eine erhöhte individuelle Entscheidungsfahigkeit, sowie auf einen veränderten Umgang mit den vorhandenen Ressourcen und deren Vermehrung in Zeiten zunehmender Marktintegration zurückzuführen, auf die im achten Kapitel über den Produktionswandel noch näher eingegangen wird. Ein Anbändeln aus Eigeninitiative der Partner ohne Vermittlung der Eltern kann nur mit Hilfe der rituellen Entführung des Mädchens durch ihren Partner und mit dem formalen Ritual des Um-die-Hand-Anhaltens des Jungen bei den Eltern des Mädchens formalisiert werden. Obwohl sich die Eltern des Mädchens zunächst - wie im Ritual festgelegt - mehrfach weigern, bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als die entstandene Beziehung zu akzeptieren, um die Ehre ihrer Tochter zu retten. Der nächste Schritt besteht dann darin, die Eltern des Jungen zur Akzeptanz der Heirat zu bewegen. Dabei hat sich gezeigt, daß u.a. aufgrund der Heiratsstrategie der Familie des Mädchens auf der Suche nach ihrem sozialen Aufstieg die Familienverbände des Mädchens und des Jungen keineswegs gleichgestellt sind (vgl. Isbell 1976; Nuñez Del Prado 1975), sondern daß die Familie des Jungen hierarchisch übergeordnet ist und letztendlich über die Akzeptanz der reziproken Beziehungen zwischen beiden Familienverbänden entscheidet. Wie der Fall von Victoria veranschaulicht, werden im Fall einer von den Eltern zwar nicht vermittelten, dafür aber akzeptierten Partnerwahl, die betroffenen Jugendlichen oft von beiden Elternpaaren bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zur Heirat gedrängt, wenn sie selbst oft noch gar nicht daran denken: Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Estando en el colegio yo he conseguido esposo (...) De esa manera yo me retiré del colegio. No he terminado el colegio, me he estancado (...) Así fué, pero yo no quería casarme (...) pero como sorpresa me agarraron su papá y su mamá de mi esposo y de esa manera por mi honor llegué a casarme (...) " In diesem Fall nutzten die Schwiegereltern die entstandene Situation, um die Heirat anzubahnen, und Victoria blieb nichts anderes übrig, als mitzumachen, um ihre weibliche Ehre zu retten. Insbesondere die sexuelle Integrität und die Schamhaftigkeit sind Teil eines spezifisch weiblichen symbolischen Ehrkapitals (vgl. Bock 1992: 27). Der Wert der Ehre ist eng mit der Vorstellung des Menschseins verknüpft, der Voraussetzung für die Anerkennung als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft, die eine durchaus materielle Bedeutung haben kann (Vogt u. Zingerle 1994: 9). So ist ein Mädchen aus einer wirtschaftlich bessergestellten und angeseheneren Familie mit Schamhaftigkeit, Fähigkeiten wie Spinnen und Weben, Lagerhaltung und Kochen, Arbeitseifer und Kooperationsbereitschaft eine bessere Partie für eine Heirat, da sie über ein größeres Kapital der Ehre verfügt, das durch eine gute Verheiratung sogar noch verbessert werden kann. Die weibliche Ehre ist nicht

163 nur ein symbolisches, sondern wie Geld auch ein materielles Kapital, das entweder verspielt, verloren oder aber angehäuft werden kann. Sie wird von einer ganzen Reihe von Faktoren, darunter auch vom Status der Herkunftsfamilie und ihrer Familien- und besitzmäßigen Verankerung im Dorf bestimmt und ihr Verlust hat wiederum Auswirkungen auf das Ansehen aller Familienmitglieder der Frau. Daher müssen alle die Ehre der Frauen der Familie zu jeder Zeit besonders hüten und pflegen. Eine Frau mit einem großen Ehrkapital wird von den Schwiegereltern, vom eigenen Ehemann und von den Mitgliedern der Gemeinschaft wesentlich besser als eine Frau mit geringerem Ehrstatus behandelt. Nur die Ehre ermöglicht einer Frau auch die Garantie ihrer physischen Integrität. Eine ehrlose Frau sieht sich auch dem Risiko sexueller Angriffe ausgesetzt und ihre soziale Existenz bedroht. Die Zuschreibung eines guten Namens ist ein Teil der Politik um das "Machen der Braut". Der gute Ruf bei den Frauen ist Teil einer Art "öffentlichen Heiratsgewandes". Demgegenüber läßt ein schlechter Ruf die Chancen auf eine gute Heirat schwinden (Schulte 1992: 70-72).

5.3.4. Sanktionen bei Normenbrüchen gegenüber der Zwangsheirat am Beispiel von zwei Generationen Der Zwangscharakter der Heiratspraxis kann am besten am Beispiel der Verletzung von Normen aufgezeigt werden. So kam und kommt es immer wieder vor, daß sich ohne die Vermittlung der Eltern junge Leute kennenlernen, ihre Verbindung jedoch den Strategien der betroffenen Familien zur Ressourcensicherung und Verbesserung ihres Ehrstatus nicht entspricht. Aus subjektiver Sicht ist das Einverständnis der Eltern für die jungen Leute bis heute von großer Bedeutung, da auf diese Weise die Erbschaft geregelt wird und die Akzeptanz durch die Gemeinschaft und damit ihre soziale und wirtschaftliche Absicherung gesichert ist. Mit ihrem Widerstand gegen eine Heirat verfolgen die Eltern das Ziel, das Ansehen der Familien und damit bereits vorhandene soziale und Reziprozitätsbeziehungen nicht zu gefährden und die Kontrolle über das Land und Vieh nicht durch eine ungünstige Eheschließung mit einer nicht standesgemäßen, armen Schwiegertochter oder einem nicht standesgemäßen Schwiegersohn und durch die Übernahme von Verpflichtungen gegenüber der anderen Familie zu verlieren. Dabei zielen die Sanktionen auf den Ehrverlust beider Partner, sie haben jedoch wesentlich negativere Konsequenzen für die weibliche als für die männliche Ehre der Betroffenen. Folgende Abstufungen der Sanktionen wurden von den Interviewpartnerinnen u.a. im Falle des fehlenden Einverständnisses der Eltern genannt: Die ersten Schritte bestehen aus der Verärgerung der Eltern und der Bestrafung durch körperliche Züchtigung. Der männliche Partner wird "zur Rede gestellt", er muß

164 offiziell vorgestellt werden und rituell bei den Eltern der Frau "um ihre Hand anhalten". Darauf folgt die mehrfache Ablehnung der rituellen Bittstellung des Partners durch die Eltern der Braut und die Ablehnung der Aufnahme der Frau im Haushalt der Schwiegereltern. Wird die Ehe schließlich doch vollzogen und eine Heiratszeremonie durchgeführt, weil die Schwiegereltern nachgeben und die Braut aufnehmen, folgt nicht selten der Rückzug der Eltern und Schwiegereltern aus der Verantwortung für das Gelingen dieser Ehe. Sie verweigern materielle und emotionale Unterstützung oder Schutzmaßnahmen für die Frau. Zudem besteht die Möglichkeit, die Aufnahme der Braut im Haushalt der Schwiegereltern zu verweigern. Im Falle eines Nachgebens kann die Schwiegertochter im Haushalt der Schwiegereltern durch Verachtung, NichtVersorgung mit Nahrungsmitteln und Aufhetzen des Sohnes gegen seine Partnerin sanktioniert werden. Die öffentliche Verachtung und Beschimpfung der Schwiegertochter durch die Schwiegereltern, vor allem durch die Schwiegermutter, sind darauf ausgerichtet, ihre weibliche Ehre zu schädigen. Die Weigerung, das neue Paar und die Enkelkinder zu besuchen, verhindert den für die neue Familiengründung überlebensnotwendigen Tausch von Gütern und Nahrungsmitteln, kann zu massiven materiellen Einbußen führen und isoliert die neue Familie sozial. Auch das Hochzeitsritual selbst und die Übergabe der Erbschaft an das neue Paar können verweigert werden. Die Anstiftung zum Ehekrach durch Ressourcenverknappung, durch Kritik an Schamhafitigkeit, Fähigkeiten und Arbeitsleistungen der Frau, durch Verbreitung von Gerüchten und durch Rufmord, oder die Anstiftung des Sohnes zur Sanktionierung seiner Frau in Form von Beschimpfungen oder Prügeln werden relativ häufig auch von Frauen erwähnt, die schon jahrelang verheiratet sind. Männer werden von ihren Eltern zum Verlassen der Ehe durch Migration an die Küste gedrängt oder der Erbschaftsanteil des Ehemanns wird von den Schwiegereltern im Falle des Scheiterns der Ehe oder des Ablebens ihres Sohnes ohne Rücksicht auf die Enkelkinder zurückgefordert. Die beiden folgenden Beispiele zeigen, wie sich die Auswirkungen dieser Sanktionen zum Erhalt der Zwangsehe über verschiedene Generationen hinweg verändern und wie unterschiedlich betroffene Frauen darauf reagieren. Die Aussagen von Marcela und Lucia verdeutlichen am Beispiel der Erfahrungen von Frauen aus zwei Generationen, welche Mechanismen im Falle einer Ehe, die gegen den Willen der Eltern geschlossen wurde, zum Zuge kommen: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Me habré casado con 17 años. En tiempo de ignorancia dije que iba a estar mejor con mi pareja. ..'ya' diciendo iba. Me decía : ' Vámonos'. Aceptaba y me fui con él por sonsa. Cuando hice eso, no querían recibirme mi papá ni mi mamá. 'Ya te has ido ' me decían y hasta por varias veces mi suegra hacia aceptar. Luego mis padres no venían a

165 visitarnos, y cuando venían, nos presentamos ante ellos, nos azotaban y nos hacían arrodillar. Asi fue antes. "

Marcela beschreibt, wie sie halbwegs bewußt, um einer schweren Kindheit zu entfliehen, aber auch aus Unkenntnis und Unreife in den Normenbruch verstrickt wird, sich unabhängig von der Entscheidung ihrer Eltern mit einem Mann einzulassen. Dieser Normenbruch mußte zumindest in ritueller Form mit körperlicher Züchtigung bestraft werden. Es kommt zur sozialen Isolierung des neuen Paars, die mit massiven materiellen Einbußen verbunden ist, da auf diese Weise wesentliche Gabentauschbeziehungen, die insbesondere bei der Gründung eines neuen Haushalts von großer Bedeutung sind, nicht mehr praktiziert werden konnten. Nachdem Marcela schließlich von den Schwiegereltern widerwillig aufgenommen wurde, zogen sich beide Elternpaare nach der Hochzeit aus jeder Verantwortung für diese Ehe zurück: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere: "Hasta los suegros y los padres, sonsos, decían: 'ahora ya se han casado, no nos van a crear dolor de cabeza'. En ese momento yo no decía nada ".

Marcela fallt kein anderer Ausweg ein, als den Rückzug der Eltern zunächst schweigend zu akzeptieren und ihr Schicksal zu erleiden. Im Fall des Normenbruchs gegenüber der Zwangsheirat oder von Waisenkindern ohne Familienangehörige, die sie verteidigen könnten, führt der Ehrverlust von Frauen dazu, daß sie bei Konflikten in der Ehe keine Unterstützung der Familie in Anspruch nehmen und nirgendwo Schutz suchen können. Ein niedriges Ehrkapital fuhrt außerdem zum niedrigen Selbstwertgefuhl der Frauen, die sich in der Ehe nicht verteidigen können und daher gezwungen sind, sich dem Partner und seinen Entscheidungen weitgehend unterzuordnen. Die folgende Aussage von Marcela veranschaulicht die verzweifelte Lage der Frau, die nicht mit der Unterstützung ihrer Eltern rechnen kann: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere : "Me casé con él y después de casados empezaron no más las incomprensiones. A tal punto que hoy me encuentro separada. Pues nunca hubo comprensión alguna para hacer una vida como gente, pese a que tuvimos cuatro hijos. A pesar de estas incomprensiones nunca puse de manifiesto ante mis queridos padres. Me guardaba en silencio, por cuanto se trataba de un asunto interno de casa. Además tuve miedo de avisarles a mis padres a fin de no perturbarles su corazón. Sin embargo, el lío que se venía

166 enmadejando, salía más allá de la puerta de la casa. Es así como pude soportar calladamente (...). "6

Wenn eine Frau ohne Vermittlung der Eltern oder gar gegen deren Willen einen Partner findet, dann kann sie bei späteren Schwierigkeiten in der Ehe nicht mit der Unterstützung ihrer Eltern rechnen. Es gilt als ungehörig, in einem solchen Fall die Eltern "zu beunruhigen". Die Konsequenzen sind jedoch für Frauen oft überaus schwerwiegend: sie können der physischen und psychischen Gewaltanwendung durch den Partner schutzlos ausgesetzt sein. Ihr niedriges Selbstwertgefuhl kann dabei zur Verschärfung der Gewalt in der Ehe beitragen, da sie sich selbst nicht verteidigt. Aus der Sicht von Marcela blieb nur die Möglichkeit, ihr Schicksal schweigend zu ertragen. Haben jedoch die Eltern die Heirat vermittelt, so hat die Frau Anspruch auf Schutz und Unterstützung, sofern ihre Eltern oder Brüder noch leben bzw. noch im Dorf wohnen. Diese Einstellung bringen auch Eltern zum Ausdruck, wenn ihre Kinder, die sich im Gegensatz zu den eigenen Erfahrungen ohne Vermittlung der Eltern kennengelernt haben, mit Eheproblemen kämpfen und ihre Probleme nicht für sich behalten (siehe Interview Nr. 4.3). Sie können sich aufgrund ihrer geringen eigenen Lebenserfahrung nicht vorstellen, daß Ehen auch dann, wenn es sich nicht um eine von den Eltern arrangierte Zwangsheirat handelt, Konflikte mit sich bringen oder sogar scheitern können. Im Falle von Marcela folgte die Bestrafung für den Normenbruch auf dem Fuße: Trotz der Aufnahme Marcelas im Haushalt der Schwiegermutter, brachte diese gegenüber ihrer Schwiegertochter mit niedrigem Ehrstatus und ihrem Enkelkind nur Verachtung zum Ausdruck und ließ beide hungern. Auf diese Weise machte sie gegenüber der neuen armen Verwandtschaft ihren Widerstand deutlich und wertete die Arbeitskraft und die Fähigkeiten von Marcela zusätzlich zu ihrer niedrigen Herkunft und geringen Erbschaft als unzureichend ab. Gleichzeitig wurde dem neuen Paar mit der Verweigerung eines Teils der Erbschaft der Zugang zu Ressourcen derartig erschwert, daß sie auch nach der Geburt des ersten Kindes noch nicht in der Lage waren, sich selbst zu versorgen und einen eigenen unabhängigen Haushalt aufzubauen. Für Marcela gab es in dieser Situation nur den Rückgriff auf die Hilfe ihrer eigenen Familienangehörigen, insbesondere auf die Solidarität ihrer Mutter. Die Tatsache, daß Marcela im eigenen Dorf geheiratet hatte, ermöglichte es ihr, zumindest heimlich gelegentlich die Hilfe der eigenen Mutter in Anspruch zu nehmen:

6

Aus der Sicht von Marcela, die das Aymara-Konzept des "Menschseins" durch die Ehe nicht hinterfragt, ist gegenseitiges Verständnis eine Grundvoraussetzung, um wie "Menschen" leben zu können.

167 Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere: "Yo andaba comido o sin comer. Mi mamá siempre me guardaba algo de comer en su casa e iba con cualquier pretexto. Hasta disimulaba con ir por los animales. Ahí me entregaba

la comida y de eso guardaba para mis niños. Así fue (...) Ahora en este

tiempo las nueras no se dejan decir nada. Antes había sido distinto el tiempo. existido el desprecio hacia las nueras

(...)

Había

He vivido solamente unos 4 años con mi

pareja. Después me separé hasta ahora. "

Die Ehe scheiterte schließlich nach vier Jahren. Marcela stellt aus der Distanz und unter dem Eindruck der Veränderungen von heute fest, daß ihr als junger Frau nichts anderes übrig blieb, als die schlechte Behandlung durch ihre Schwiegereltern ohne Widerspruch gehorsam zu erdulden. Heute würde sich ihrer Meinung nach jedoch keine Schwiegertochter mehr eine derartige Mißhandlung gefallen lassen. Ihr Mann wurde nach der Trennung von seinen Eltern veranlaßt, an die Küste zu migrieren. Sie unterstützten diesen Schritt nicht so sehr zur Rettung seiner Ehre, sondern um damit die endgültige Trennung zu besiegeln und so allen Verpflichtungen gegenüber der Familie von Marcela zu entgehen. Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere: "Después del desenlace - con pleno consentimiento de sus padres - [mi esposo] se fue a la ciudad de Arequipa, mientras que yo me quedé con mi hijo en casa y lo cuidaba. (...)

Hasta el día de hoy, no poseemos ningún bien de su padre. "

Mit der Trennung mußten Marcela und ihr Sohn auf alle Erb- und Unterhaltsrechte verzichten. Auf diese Weise hatten die Schwiegereltern mit Erfolg die Kontrolle über ihren Besitz behalten und sich allen Verpflichtungen der Familie von Marcela gegenüber entzogen. Die Abwanderung des Mannes an die Küste bot sich als Ausweg für seine Familie an, um sich den Reziprozitätsforderungen ihrer Familie entziehen zu können. Die Migration dient in diesem Fall als Mechanismus zur Erweiterung von Handlungsräumen, um Normen, Werten und Sanktionen der Familie und der Gemeinschaft der ländlichen Lebenswelt zu entgehen. Um die Veränderungsprozesse bezüglich der Zwangsheirat über mehrere Generationen hinweg nachzuvollziehen, ist ein Vergleich des Beispiels von Marcela mit dem von Lucia interessant. Lucia, die der Enkelgeneration von Marcela angehört, war zwar zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht endgültig von ihrem Partner getrennt. Aber die Sanktionsmechanismen, denen vor allem Lucia seit Bekanntwerden der unabhängig von der Vermittlung der Eltern entstandenen Beziehung ausgesetzt war, sind aufschlußreich für den heutigen Stellenwert der Institution der Zwangsheirat. Lucia lernte ihren Mann, einen zehn Jahre älteren Lehrer aus dem gleichen Dorf, im von den Eltern unkontrollierbaren Raum der weiterfuhrenden Schule

168

des Nachbardorfs kennen. Sie durfte aufgrund ihrer Schwangerschaft die Schule nicht beenden: Lucia, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Fallé en el quinto año (de secundaria), porque me he maleado... Por eso mi papá me riñe mucho. Un día me encontró cuando llegué de noche del colegio. 'Carajo, por qué vienes de noche', me decía y me quería agarrar a latigazos. Había ido al colegio a averiguar. Los profesores le habían avisado que efectivamente yo iba junto al profesor que ahora es mi esposo. El es Darío y mi papá le había preguntado a Darío 'es verdad lo que la gente dice?' y Darío se había franqueado diciendo 'sí, es así'. Así habían discutido bastante. El es diez años mayor que yo. A mi papá se había franqueado que no me iba a engañar y mi papá dejó nomás. Después su mamá se había enterado y me reñía mucho. Me decía que su hijo era estudiante y que no era para mí. Yo le decía a Darío 'mejor acabamos, porque tu mamá habla mucho'. Pero el me decía: 'mi mamá no puede oponerse porque yo ya soy mayor de edad.'"

Lucía erlebt ihre Beziehung und ihre Schwangerschaft als einen von ihr selbst zu verantwortenden moralischen Fehltritt. Nachdem sie von der Mutter des Partners durch Gerede im Dorf direkt angegriffen wird, schlägt sie ihrem Partner vor, die Beziehung lieber zu beenden. Damit wird deutlich, daß sich Lucia innerhalb der Werte und Normen der Lebenswelt der Aymara bewegt, obwohl sie die Sekundärschule schon fast beendet und durchaus eine Distanz zu diesem Wertesystem entwickelt hatte. Ihr Partner, der einen Arbeitsplatz hat und Geld verdient, argumentiert demgegenüber aus der Logik der städtischen Lebenswelt: seine Mutter könne ihm nichts vorschreiben, schließlich sei er volljährig. Dieses Beispiel zeigt deutlich, in welcher Weise Frauen und Männer ganz unterschiedlichen Zwängen, Normen und Werten ausgesetzt sind und wie unterschiedlich groß ihr jeweiliger Handlungsraum sein kann, wenn es darum geht, zwischen Normen und Werten verschiedener Lebenswelten zu wählen oder diese miteinander zu kombinieren. Dazu kommt in diesem Fall noch der unterschiedliche Status der Herkunftsfamilien beider Partner, der ebenfalls Auswirkungen auf den Handlungsraum jedes einzelnen hat bzw. Grundvoraussetzungen für den Zugang oder die Ausgrenzung vom Zugang zur Außenwelt schafft. Der Vater von Lucia reagiert dem Wertesystem der Lebenswelt der Aymara entsprechend. Auch seine männliche Ehre sowie das Ansehen seiner Familie stehen auf dem Spiel, weil er seine Tochter nicht genug kontrolliert hat: zunächst droht er Lucia mit körperlicher Züchtigung, dann schimpfen beide Eltern mit Lucia wegen "ihres Fehltritts". Schließlich stellt der Vater ihren Partner zur Rede, der formal um ihre Hand anhalten muß. Obwohl er als Lehrer nicht mehr bereit ist, sich von seiner Mutter hineinreden zu lassen, gelingt es dieser, das Paar erheblich unter Druck zu setzen. Zum einen wird Lucia nicht im Haushalt seiner Mutter akzeptiert und muß weiter bei ihren Eltern leben. Zum anderen ist das

169 Paar zunächst gezwungen, sich heimlich zu treffen. Schließlich treffen sich beide Partner im Haushalt der Eltern von Lucia, nachdem ihr Vater die Verbindung akzeptiert hat. Es ist anzunehmen, daß für diese Entscheidung von Lucias Vater mehr als das gute Einkommen des Partners und der höhere Status seiner Familie - vor allem der Erhalt der weiblichen Ehre seiner Tochter ausschlaggebend war. Der Ehrverlust für seine Familie bleibt jedoch erheblich, da keine Reziprozitätsbeziehungen mit der wirtschaftlich bessergestellten und angeseheneren Familie des Partners auf Dorfebene entstehen. Lucia wird aufgrund ihrer Herkunft, ihrer geringen Erbschaft, ihres sittlichen Fehltritts und des Normenbruchs gegen die Heiratsvermittlung der Eltern als eine Frau mit geringer Ehre betrachtet. Mit dem Normenbruch der Schwangerschaft ohne Heirat hat sie ihre weibliche Ehre endgültig verspielt. Sie darf vor allen Augen öffentlich beschimpft werden, ohne daß sie jemand verteidigt. Das Gerede über Lucia unter Frauen führt dazu, daß ihr innerhalb der Hierarchie der Frauen des Dorfes ein niedriger Platz zugeschrieben wird und sie kaum Solidarität von anderen Frauen erfahrt. Lucia muß ihre beiden Kinder im Haus ihrer Eltern entbinden. Die Eltern ihres Partners kommen nie zu Besuch. Lucia fühlt sich von seinen Eltern gehaßt, und führt dies auf ihre Herkunft und die Aussicht auf ein geringes Erbe zurück. Konsequent verhindert seine Mutter die Heirat und damit den Antritt der Erbschaft. Sie rechtfertigt ihre Ablehnung durch öffentliche Beschimpfungen von Lucia auf Versammlungen des Mütterclubs. Sie bezeichnet Lucia als arm, spricht ihr einen schlechten Charakter zu, bespuckt und schlägt sie sogar in aller Öffentlichkeit. Auf diese Weise trägt seine Mutter zur Entehrung von Lucia bei und verbreitet gleichzeitig eine öffentliche Rechtfertigung für die Nichtakzeptanz der Beziehung ihres Sohnes. Sie setzt sich damit ihrerseits gegenüber dem sozialen Druck zur Wehr, dem ihre Familie durch die Nichtakzeptanz reziproker Beziehungen zur Familie von Lucia ausgesetzt ist. Lucia, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Su mamá no quería que nos juntemos. Hablábamos por oculto, pero a mi papá ya le había pedido permiso y ya venía a la casa (...). Después él se ha ido, me dejó con mi mamá y mi papá. Ellos me han atendido (en el parto) (...). Su papá nunca ha venido, así no más nos hemos juntado. Hasta ahora no nos hemos casado. Su mamá me insultaba de todo. Me decían poto calato, desgraciada,

pobre. No tengo mucho

ganado,

tengo terrenos no más. Y él tiene bastante ganado y por eso a mi me odiaban. Así su mamá me escupía, me remangaba con pollera (...) y en las reuniones del Club de Madres me miraba mucho. "

Das Paar überlebt nur aufgrund seiner finanziellen Unabhängigkeit durch das Lehrergehalt und die Bereitschaft von Lucias Eltern, insbesondere ihrer Mutter, sich mit ihrer Tochter und ihren Enkelkindern zu solidarisieren und sie zu unterstützen. Auf diese Weise lebt das Paar weiterhin getrennt. Der Partner von Lucia

170 arbeitet als Lehrer in anderen Dörfern. Es bleibt offen, ob die Beziehung dem starken sozialen Druck und der Trennung standhält, ob die Heirat tatsächlich stattfinden wird, und ob Lucias Partner seine Erbschaft jemals antreten kann. In jedem Fall muß Lucia den Verlust ihrer weiblichen Ehre und ihre Familie den Verlust ihres Ansehens und die sozialen Sanktionen durch die Gemeinschaft verkraften. Eine Hierarchie unter den Familien wird klar erkennbar: Die Familie des Partners von Lucia ist der Familie von Lucia sozial übergeordnet und hat trotz des Normenbruchs ihres Sohnes weniger unter Statusverlust und sozialen Sanktionen zu leiden. Lucia beschreibt ihre Reaktion auf den eigenen Ehrverlust folgendermaßen: Lucia, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Yo tenía otra forma de pensar, nunca me amargaba en esos tiempos. Es que estaba en tiempos de locura, por eso era así. "

Zunächst dachte sie "anders", eher städtischen Werten entsprechend. Als Sekundarschülerin hatte sie offenbar zunächst der Bedeutung ihres Ehrverlustes innerhalb des dörflichen Wertesystems nicht so einen großen Stellenwert beigemessen, da sie möglicherweise einen Lebensentwurf außerhalb der Dorfgemeinschaft ins Auge gefaßt hatte. Außerdem war sie sich der vielfachen Relevanz des Ehrstatus offenbar nicht bewußt. Der Schulbesuch ermöglicht Lucia außerdem eine gewisse Distanz zu den Regeln der Ehre, so daß sie sich zunächst einfach über die Beschimpfungen in der Dorföffentlichkeit hinwegsetzt. Mit der Zeit wird sie jedoch von den sozialen Sanktionen, denen sie und ihre Familie ausgesetzt werden, eingeholt und muß feststellen, daß sie nicht in der Lage ist, sich wie ihr Partner darüber auf die gleiche Weise hinwegzusetzen. Im Rückblick kann sie aus eigener Sicht deshalb "nur verrückt" gewesen sein, weil sie sich auf diese Weise in die Ereignisse verstricken ließ. Denn während Lucia ihre weibliche Ehre verliert, kann ihr Partner seine männliche Ehre durch moderne Symbole wie Geldeinkommen, Bildung und den erfolgreichen Umgang mit der Außenwelt ersetzen. Er scheint seiner Erbschaft nicht sehr viel Bedeutung beizumessen, da sein Lebensentwurf nicht auf eine Perspektive im Dorf ausgerichtet ist. Der Erbschaftslogik entsprechend hat er zumindest einen Teil seiner Erbschaft ohnehin schon durch seine Ausbildung angetreten. Möglicherweise kann er jedoch ohnehin mit der Erbschaft rechnen, nämlich dann, wenn er wenige oder keine Geschwister hat. Seine Einkünfte sind aber offenbar nicht ausreichend, um auch Lucia und die Kinder aus dem Dorf zu holen und mit der gesamten Familie zu migrieren. Sollte er Wert auf seine Erbschaft und die Absicherung seiner Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft legen, könnte doch die Trennung erfolgen, und die Schwiegereltern hätten schließlich ihr Ziel erreicht. Der Erbschaftsantritt spielt als Grundlage für einen neuen eigenen Haushalt im Dorf eine existentielle Rolle. Sollte die Familie tatsächlich im

171

Dorf einen eigenen Haushalt gründen, wäre sie trotz seines Lehrergehalts auf seinen Teil der Erbschaft angewiesen. Der Vergleich der Lebenssituationen von Marcela und Lucia zeigt, daß sich für Frauen heutiger Generationen bei der Partnerwahl in den Dorfgemeinschaften und den Familien innerhalb der Aymara Dorfgemeinschaften wenig verändert hat. Zwar haben graduelle Veränderungen stattgefunden, die aber insbesondere durch den Bezug zur Außenwelt vor allem Handlungsräume für Männer erweitern: Junge Männer können Lehrer werden und ein Gehalt verdienen oder im Fall einer gescheiterten Ehe an die Küste migrieren. Auf diese Weise werden sie unabhängiger von der Land- und Viehwirtschaft und in die Lage versetzt, alte Bräuche zu hinterfragen, dorfinterne Familienhierarchien zu relativieren und sich darüber hinwegzusetzen. Auch ihre Verwandten können sich den Verpflichtungen gegenüber Familien nicht "statusgemäßer" Frauen relativ leicht entziehen. Das Resultat ist ein Sinnverlust der Reziprozitäts- und Verwandtschaftsbeziehungen und die Gefahrdung der Reproduktion des Systems der ländlichen Lebenswelt der Aymara. Diese Gefahr von außen führt jedoch zur Verschärfung von Sanktionsmechanismen von innen, die vor allem auf dem Rücken zurückbleibender bzw. zurückgehaltener Frauen ausgetragen werden. Sie werden in Form von Angriffen auf die weibliche Ehre durchgesetzt, wie folgende Aussage von Lucia zeigt: Lucia, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Cómo él es estudiante me trata bien nomás. A veces cambia, cuando recibe los consejos de su mamá, pero no le hago caso. Su mamá se queja de que yo no hago nada. Por eso mi esposo me riñe, pero nunca me molesto por eso. "

Aufgrund der finanziellen und bildungsbedingten Unabhängigkeit ihres Mannes und der Tatsache, daß Lucia nicht im Haushalt der Schwiegereltern lebt, gelingt es der Schwiegermutter nur ansatzweise, ihren Sohn gegen Lucia einzunehmen, indem sie ihre weiblichen Tugenden, ihre Fähigkeiten und ihren Arbeitswillen in Frage stellt. In anderen Fällen berichten jedoch Interviewpartnerinnen davon, daß Mütter ihre Söhne erfolgreich anstiften, ihre Ehefrauen zu verprügeln (siehe Interview Nr. 6.1). Lucias Handlungsraum ist im Gegensatz zu Marcelas Handlungsmöglichkeiten durch die Tatsache gering erweitert, daß sie die Sekundärschule besuchte und sich aufgrund von mehr Bildung, Spanischkenntnissen und eines höheren Selbstbewußtseins ihrem Partner und seiner Familie gegenüber besser verteidigen kann. Diese Tatsache führte offenbar auch dazu, daß sie im Gegensatz zu früher trotz des Normenbruchs mit der Unterstützung ihrer Eltern rechnen kann, die ihrerseits mit der Ermöglichung ihres Sekundarschulbesuchs einen Normenbruch vollzogen haben. Lucia bezeichnet ihren Partner daher als Ehemann und setzt sich so über die bestehenden Normen hinweg, die die Zustimmung beider Eltern-

172 paare, die sozialen Beziehungen zwischen den Familien der Partner und die notwendigen Erbschaftsabsprachen voraussetzen. Da aber die Heiratszeremonie nicht stattgefunden hat, bleibt sie für die Dorfgemeinschaft unverheiratet. Die Möglichkeit einer vom Partner unabhängigen Abwanderung aus dem Dorf bleibt ihr jedoch dadurch verwehrt, daß sie aufgrund ihrer Schwangerschaft die Schule nicht beenden konnte. Genau wie die älteren Interviewpartnerinnen bedauert sie das inzwischen sehr: Lucia, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mejor hubiera terminado [la secundaria] y podía haber salido a otros sitios. Nunca pude conocer otros sitios. Otros se orientan mejor cuando salen a otros sitios. Al tener enamorado ya no pude dar importancia al estudio. Siquiera hubiera conseguido un trabajito. Hubiera enseñado acá, pero no puedo, porque no tengo documentos completos"... "Pensaba ser estudiante, terminar el colegio, pero recién me estoy lamentando. Los que tienen estudio tienen trabajo. Mientras yo ya estoy con guagua no más, parece que estoy olvidando lo que aprendí en el colegio. "

Im Gegensatz zu älteren Frauen kann sie jedoch ihre Eltern nicht für den Schulabbruch und dafür, daß sie nur schwer außerhalb der Dorfgemeinschaft eine akzeptable Arbeit finden würde, verantwortlich machen. Dafür muß sie die Verantwortung selbst übernehmen. Es fällt auf, daß Lucia auch ohne Vermittlung der Eltern einen Partner aus dem gleichen Dorf wählte. Trotz der hartnäckigen Dauerhaftigkeit der Praxis der Zwangsheirat verweisen die Interviewpartnerinnen darauf, daß heute im Gegensatz zu früher die selbständige Partnerwahl häufiger wird. Im folgenden Kapitel soll untersucht werden, wie sich der Wertewandel, erweiterte Räume und Handlungsoptionen durch Schulbesuch und Migration auf Heiratspraktiken und Partnerwahl auswirken.

5.3.5. Die zunehmend endogame Tendenz der Heirat Insbesondere unter Migranten und Migrantinnen in den Städten an der Küste oder im Tiefland, die selbständig ihre Partner wählen, kann eine gewisse endogame Tendenz bei der Partnerwahl beobachtet werden. Aymara heiraten - auch dann, wenn sie ihren Lebensmittelpunkt voraussichtlich nicht mehr in der Dorfgemeinschaft haben werden - vorzugsweise einen Partner oder eine Partnerin aus dem gleichen Dorf oder aus der gleichen Gegend. Die folgende Aussage von Rosalia verdeutlicht die hinter dieser Praxis verborgene Logik: Rosalia, 32 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Es que los padres acá tienen la costumbre de que cuando ya somos jóvenes, somos grandes de 16 ó 17 años, nos llevan al matrimonio no más siempre. No sé, la costum-

173 bre será siempre, hacen los modos posibles para que no salgamos a otro sitio. La idea es que se casen acá con la gente de este lugar. Dicen que se pueden ir a otro sitio, por eso los casaremos acá no más dicen. Así me han casado y nosotras así no más vivimos, compañera.

Pero nos hubiera gustado estudiar, pero en ese momento estábamos

en

edad de adolescencia y no nos dábamos cuenta. Yo con esta edad a mí no me hubiera casado. Pero con esa edad no me daba cuenta. Se hacía caso solamente a lo que dicen los padres."

Rosalía beschreibt, wie in der Seezone, wo die Ressourcen besonders knapp und die Migration besonders ausgeprägt ist, eine erhöhte Gefahr der Abwanderung von unverheirateten Mädchen besteht. Daher würden Mädchen von den Eltern immer jünger und nach Möglichkeit im gleichen Dorf oder mit einem Partner aus dem Nachbardorf zwangsverheiratet. Aber auch Migranten und Migrantinnen heiraten oft noch nach der Abwanderung - auch ohne Vermittlung der Eltern - vorzugsweise einen Partner aus dem Herkunftsgebiet, vor allem, um sich den Zugang zu den Familienressourcen auf dem Land zu sichern. Dies ist wahrscheinlich auf die Ausgrenzung von männlichen und weiblichen Migranten in den Städten zurückzuführen, die es sich kaum leisten können, auf ihren Zugang zu Ressourcen auf dem Land durch Erbschaft zu verzichten. Dazu kommen Faktoren wie das gegenseitige Vertrauen durch die gemeinsame Geschichte und das Wissen über die Herkunft vorheriger Generationen, über Verwandtschaftsverhältnisse, dörfliche Besitzhierarchien etc., die auch über geographische Dorfgrenzen hinaus, gerade auch in der fremden, feindlich gesinnten, ausgrenzenden, städtischen Lebenswelt für Migranten einen wichtigen Stellenwert und großen Einfluß auf die eigenständige Partnerwahl haben. Allerdings entspricht die Partnerwahl ohne Vermittlung der Eltern oft nicht deren Vorstellungen und Strategien zur Ressourcenvermehrung innerhalb der Herkunftsdörfer. Daher bestehen viele Eltern auch weiterhin auf der Zwangsheirat. Rosalia macht auf die unmittelbaren Folgen der Zwangsheirat für Mädchen aufmerksam und weist auf zwei Konsequenzen der frühen Heiratspraxis für Frauen hin: Sie werden mitten in der Pubertät verheiratet und müssen ihr Elternhaus verlassen. Außerdem können sie meistens die Schule nicht abschließen, weil sie so jung verheiratet werden. Würden sie die Schule jedoch abschließen, wären ihre Chancen zur Abwanderung als Alternative zur Zwangsheirat wesentlich größer. Die Strategie der Kontrolle über Ressourcen als eine allgemein übliche Praxis wird von Rosalia genau beschrieben: Rosalia, 32 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "No quieren que alguien se vaya a otro sitio. Tampoco quieren que venga alguien de otro lugar. Sólo entre nosotros los lugareños nos casamos. Dicen que entre

nosotros

nos conocemos el poco terreno que tenemos, si tenemos algo, o no. Dicen que la gente que viene de lejos, suele mirarse y nos critican. Igualmente cuando uno va lejos no

174 puede acostumbrarse,

dicen que nos pueden hacer llorar. Y nos dirían: 'Qué cosa tie-

nes, hasta tu terreno había sido pequeño!' Por eso nosotras nos casamos a temprana edad siempre en este lugar. Por eso la gente se ha llenado, diría yo, hermana. "

Am Beispiel der Seezone wird deutlich, wie die Praxis der Zwangsheirat, die eigentlich auf Ressourcenerweiterung der jeweiligen Familien ausgerichtet ist, und der Versuch, Jungen wie Mädchen vom Abwandern abzuhalten, paradoxerweise gerade dazu beiträgt, die Landknappheit aller Familien in der Seezone noch zu verstärken. Von siebzehn Interviewpartnerinnen erwähnt nur eine Frau die Heirat ihrer Söhne mit Nicht-Aymaras. Beide Söhne leben außerhalb des Dorfes, der eine im Tiefland von Puno mit einer Quechua-Frau und der andere an der Küste, mit einer Frau, die kein Aymara spricht. In beiden Fällen kommen die Söhne nur noch zu Besuch ins Dorf und bringen nur selten ihre Familie mit (siehe Interview Nr. 4.1). Nur im Fall von Familien mit ausreichenden Ressourcen oder wenigen Kindern mit geringen Erbschaftsproblemen wird den Mädchen Zeit gelassen, ihren künftigen Ehepartner selbst kennenzulernen und nicht schon als 1314jährige verheiratet zu werden. Diese Fälle sind jedoch selten. Unter den siebzehn Interviewpartnerinnen gibt es nur eine einzige, die ein derartiges Privileg genossen hat (siehe Interview Nr. 4.2). Maria kommt aus einem Dorf aus der weniger dicht besiedelten Kordillere und lernte ihren Mann mit 18 Jahren über Arbeitskontakte ihres Vaters kennen, so daß er auch den Eltern bekannt war. Die Heirat brachte offenbar keinen nennenswerten sozialen Abstieg mit sich. Nur fünf Frauen geben an, ihren Partner vor der Heirat selbst kennengelernt zu haben. Allerdings wollten die meisten von ihnen noch nicht gleich heiraten und wurden entweder von den Eltern oder von den Schwiegereltern dazu gezwungen (siehe Interviews 16.1; 12.1).

175

6.

Die Vielfalt der Geschlechterverhältnisse in der Ehe

In diesem Kapitel soll untersucht werden, wie Geschlechterverhältnisse in der Ehe aus der Sicht der Interviewpartnerinnen strukturiert sind, wie sich Modernisierungsprozesse und das Spannungsverhältnis zwischen zwei Lebenswelten auf Geschlechterverhältnisse in der Ehe bei den Aymara und auf die Heiratspraxis auswirken und welche Handlungsräume sich für Frauen verschiedener Altersgruppen ergeben. Die Ansichten von weiblichen und männlichen Interviewpartnern über Geschlechterverhältnisse und über Konflikte und Gewalt in der Ehe werden einander gegenübergestellt. Sowohl Konflikte unter Ehepartnern als auch unter Frauen wie z.B. zwischen Mutter und Tochter, Schwiegermutter und Schwiegertochter werden im Zusammenhang mit der Ehre und der Zwangsheirat näher betrachtet. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, ob im Falle von Normenbrüchen eine Verschärfung von Zwang und Gewalt gegenüber Frauen zu beobachten ist. Doch zunächst einmal soll die weibliche Sicht der Heiratsregeln der männlichen gegenübergestellt und die Normen und die hierarchische Struktur der Geschlechterverhältnisse bei den Aymara sowie die Begründungen und Mechanismen zur Rechtfertigung und Aufrechterhaltung der Unterordnung von Frauen bei den Aymara auf der Grundlage der Interviewaussagen rekonstruiert werden.

6.1. Die Heiratsregeln: Zwang zur Heirat und Heiratsvermittlung Bei den Aymara gibt es zur Heirat keine Alternative. Nur wer heiratet, wird als ein vollwertiger Mensch betrachtet. Mädchen werden immer jünger verheiratet, damit sie sich nicht wehren. Obwohl die Interviewpartnerinnen die Heirat kaum in Frage stellen, hätte die Mehrheit von ihnen lieber später geheiratet. Für viele von ihnen begannen die Probleme in ihrem Leben mit der Heirat. Die meisten Ehen der Interviewpartnerinnen wurden noch von ihren Eltern vermittelt und viele von ihnen mußten einen Partner heiraten, den sie gar nicht kannten. Wenn sie in diesem Zusammenhang von der Zwangsheirat sprechen, meinen sie damit weniger den Zwang überhaupt heiraten zu müssen, als die Tatsache, ihren Ehepartner nicht selbst auswählen zu dürfen. Auch Männer werden zwangsverheiratet, aber aus männlicher Sicht gibt es mehr Spielraum für Eigeninitiative bei der Partnerwahl als für Frauen. Das Thema der Liebe und Sexualität in der Zwangsehe wird von Männern wesentlich direkter angesprochen als von Frauen.

176

6.1.1. Die Heirat aus der Sicht der Frauen: Ein Zwang ohne Ausweg Die meisten Interviewpartnerinnen stellen im Rückblick fest, daß sie keine Wahl hatten, da sie nicht wußten, wie sie sich gegen eine Zwangsheirat hätten wehren können. Jung und unerfahren konnten sie die tatsächliche Bedeutung einer Zwangsheirat nicht einschätzen und auch nicht übersehen, welche Konsequenzen eine Weigerung mit sich bringen würde. Vor allem aber hatten sie gelernt, daß Mädchen den Eltern auf keinen Fall widersprechen dürfen. Daher blieb ihnen nur die Option, die Wahl der Eltern zu akzeptieren, wie folgende Aussage von Senobia verdeutlicht: Senobia, 48 Jahre alt, aus der Kordillere "Era joven, pero antes estaba a las órdenes del padre y madre. No dependemos de nuestra decisión en ese tiempo, sino que ellos decidían. Se toman y se hablan, ya está, entregan la hija al esposo. En ese momento no podíamos decidir las hijas. 'Ya', diciendo, teníamos que aceptar a los padres. Entonces me entregó a un hombre de lejano lugar. A veces recuerdo bastante. No habrán pensado los padres. De todo genio hay. El no pegaba, todo era tranquilo. Sólo se reñía con palabra. Con el esposo nos congeniamos de distinta manera. Encontrar la vida no es fácil. " Senobia verweist ausdrücklich auf die mangelnde Entscheidungsfreiheit von Mädchen in ihrer Jugendzeit. Die Eltern trafen alle Entscheidungen und die Töchter hatten ohne Widerrede zu gehorchen. Auf diese Weise wurde sie an einen fremden Mann von weither verheiratet. Senobia glaubt, daß ihre Eltern ihre Entscheidung nicht richtig durchdacht haben. Das Eheleben mit einem Mann, der einen schlechten Charakter habe, sei nicht einfach und sie erinnert sich an ihre Zwangsheirat mit Groll. Flora berichtet, wie ihr Protest aus Altersgründen zumindest noch einmal ein Jahr Aufschub für die Zwangsheirat erwirken konnte: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Antes los padres eran los que entregaban a su hija al yerno. No como hoy en que entregan por petición de palabra. Mi papá seguro que se fijaría al que tiene bienes y al hijo único. Por eso mi papa me hizo juntar con mi esposo, poniéndose de acuerdo entre padres. Yo sólo tenia 13 años y me decía: 'el estado ya quiere recogerte'. 'Qué será estado', decía yo. Luego mi mamá me dijo: 'así es, dicen que es hijo único y estudiante, con él puedes estar bien, y tiene bastante ganado.' Pero aunque vivíamos cerca, yo no lo conocía. Dónde habrá crecido él (...) 'sé estar en Toquepala' diciendo se contaba. Por eso yo lloraba y decía: 'pues me voy, cómo voy a tener esposo'. En ese tiempo tenía 13 años solamente. Al ver que lloraba mi mamá me dijo: 'entonces vamos a decir que no se puede' (...). Al año siguiente con 14 años me han juntado con mi esposo, no lo conocía a él (...). "

177 Zunächst verweist Flora darauf, daß sich die Praxis der Heiratsvermittlung durch die Eltern im Vergleich zu ihrer eigenen Erfahrung heute dahingehend verändert habe, daß nun der Mann um die Hand seiner zukünftigen Ehefrau anhält. Sie beschreibt zudem ihre Ahnungslosigkeit in bezug auf die ihr bevorstehende Zwangsehe. Im Gegensatz zu Senobia erkennt Flora jedoch im Rückblick eine Reihe von Gründen ihrer Eltern für die Auswahl ihres Ehemanns an: Er war Einzelkind und verfügte daher über außergewöhnlich gute Erbschaftsaussichten. Flora behauptet aber, mit Abwanderung gedroht, und damit die Heirat verzögert zu haben, weil ihr der potentiell auserkorene Bräutigam völlig unbekannt war. Eine tatsächliche Option der Abwanderung hätte allerdings höchstwahrscheinlich die Verheiratung durch die Eltern eher beschleunigt. Auf jeden Fall gelingt es ihr durch ihren Protest, die Heirat um ein Jahr hinauszuzögern. Flora wurde mit 14 Jahren an einen 22-jährigen Mann verheiratet und erlebte damit den sozialen Aufstieg, den sich die Eltern erhofft hatten. Mit 14 Jahren konnte sie selbst kaum übersehen, welche Konsequenzen diese Heirat für sie haben würde. Für sie selbst stand damals vor allem der Schmerz über die Trennung vom Elternhaus im Vordergrund.

6.1.2. Die Heirat aus der Sicht der Männer: Kein Spielraum fiir Eigeninitiative? Aus den vier Interviews mit Männern können einige Rückschlüsse gezogen werden, unter welchen Umständen Männer die Zwangsheirat akzeptieren. Demnach ist es für Männer aus eigener Sicht nicht so üblich, sich wie Frauen einfach passiv verheiraten zu lassen, auch wenn das durchaus vorkommt. Obwohl kein Interview mit dem Partner von Flora durchgeführt wurde, muß davon ausgegangen werden, daß er sich im Alter von 22 Jahren ebenfalls der Entscheidung seiner Eltern unterordnete. In seinem Alter konnte er jedoch wesentlich besser als Flora die Konsequenzen der Zwangsheirat einschätzen. Warum akzeptierte er die Heiratsvermittlung durch die Eltern, nachdem er an der Küste zur Schule gegangen war und eine Ausbildung erhalten hatte? Alles deutet darauf hin, daß er als Einzelkind und damit als Alleinerbe darauf angewiesen war, seine Erbschaft auch anzutreten, wenn sie im Familienbesitz bleiben sollte. Das war jedoch nur möglich, wenn er ein für die Familie akzeptables Mädchen heiratete, das seine Erbschaft gut verwalten und gleichzeitig eine ausreichende eigene Erbschaft beitragen würde, um die Familienressourcen zu vermehren. Da er aber keine Erbschaftschwierigkeiten zu erwarten hatte, konnte er sich Zeit lassen, zunächst seine Berufsausbildung an der Küste zu Ende bringen und spät heiraten. Möglicherweise war die Akzeptanz der Zwangsheirat eine Bedingung seiner Eltern für den Schulbesuch an der Küste gewesen. Wahrscheinlich waren bei seiner Rück-

178 kehr jedoch alle älteren statusgemäßen Mädchen bereits verheiratet. Möglicherweise hatte er Schwierigkeiten, Mädchen kennenzulernen. Andererseits konnte er ohne eine Frau auf dem Dorf nicht überleben. Allerdings brachte der unterschiedliche Erfahrungshorizont und die Orientierung der beiden Partner auf Wertsysteme unterschiedlicher Lebenswelten soviel Konfliktstoff mit sich, daß die Ehe schließlich doch noch auseinander ging, nachdem die Kinder groß gezogen worden waren (siehe Kapitel 7.5). Von den vier männlichen Interviewpartnern geben nur zwei an, zwangsverheiratet worden zu sein. Beiden ist es deshalb aus eigener Sicht in der Ehe nicht sehr gut ergangen. Der jüngste Interviewpartner aus einem Dorf am See gibt als Grund an, daß auch er zum Zeitpunkt der Zwangsheirat noch zu jung und unerfahren gewesen sei: Mario, 34 Jahre alt, aus Cocosani, Seelage "Con mi esposa no nos hemos conocido bien. Ella ha crecido en la escuela de llave, y yo en el colegio de Acora. Solamente hemos bailado en una fiesta. Además nos hemos casado por decisión de ambos padres. Seguramente los padres tuvieron algún interés. Los primeros

10 años no hemos vivido bien. Recién desde los 11 años

comprensión entre ambos. Es que nos hemos juntado muy jóvenes.

encontramos

Yo tenía 15 años y

mi esposa 16 (...). "

Mario war zum Zeitpunkt seiner Zwangsheirat (nur 20 Jahre vor der Erhebung der Interviews) 15 Jahre alt und sogar noch ein Jahr jünger als seine künftige Ehefrau. Der älteste Interviewpartner aus einem Dorf aus der Kordillere ist Adventist und steht der Zwangsheirat besonders kritisch gegenüber: Mariano, 75 Jahre alt, aus Aurincota, Kordillere "Puedo hablar sobre cómo es la vida de los casados. Hay que emparejarse con todo el querer. Antes existía el compromiso, tomamos el matrimonio, teníamos que juntarnos.

Esa

parte para mi es muy triste; algunos después de juntarse se separan, se pelean, asi es. En tiempos antiguos parece que era mejor, en este tiempo de una vez el demonio los embrutece a la gente, nadie dice algo, entran en una serie de celoserías, entran en miramientos, los pegan a la señora; a veces a la señora la abandona el esposo con otra. Eso había traído el demonio, recién nomús me di cuenta estando como hermano. Esas cosas habían existido, esas cosas son muy tristes para una pareja, eso nomás diría. "

In diesem Fall führt die Religionszugehörigkeit zu den Adventisten bei einem älteren Mann zu einer besonders kritischen Auseinandersetzung mit der Praxis der Zwangsheirat. Die Rolle der Adventisten als Vermittler urbaner Wertvorstellungen, die zur sozialen Differenzierung beitragen; als Vorbereiter der Modernisierung und als Wegbereiter für größere Handlungsräume einerseits und als

179 Zersetzer von Institutionen und Werten der Lebenswelt der Aymara andererseits, zeigt sich an diesem Beispiel deutlich (vgl. Ströbele-Gregor 1989). Mariano spricht als einziger Interviewpartner zumindest indirekt auch das Problem der Gefühle und der Sexualität in der Zwangsheirat an. Er setzt die Gewalt in der Ehe sowie die Instabilität von Partnerbeziehungen unmittelbar mit einer Heirat ohne Liebe in Verbindung. Er habe das erst gemerkt, seit er bei den Adventisten sei. Diese Aussage deutet darauf hin, daß bei den Adventisten Themen wie Gewalt, Sexualität und Liebe in Partnerbeziehungen entweder ausdrücklich thematisiert werden, oder aber, daß die Adventisten durch die Vermittlung urbaner Wertvorstellungen1 großen Einfluß auf die Umdeutung von Funktionen, Normen und Lebenserfahrungen im Zusammenhang mit diesen Themen nehmen. Als noch junger Mann scheint er die Zwangsheirat noch nicht hinterfragt und sich deshalb zum Zeitpunkt seiner Verheiratung auch nicht dagegen gewehrt zu haben. Die beiden anderen Interviewpartner geben an, ihre Partnerin zunächst selbständig kennengelernt und dann formal um ihre Hand angehalten zu haben. Dabei handelt es sich anscheinend um eine Zwischenlösung, die es dem Mann heute ermöglicht, zumindest einen Teil der Initiative selbst zu übernehmen. Ein Interviewpartner lernte seine Frau beim Viehhüten kennen, der andere in der Sekundärschule in der Stadt. Beide Männer hielten daraufhin um die Hand ihrer Frauen bei den jeweiligen Schwiegereltern an. Diese Variante entspricht der heute häufiger praktizierten Form der Heirat bei den Aymara und kommt der unter AymaraFrauen verbreiteten Forderung nach dem Recht auf eigene Partnerwahl entgegen. Allerdings setzt diese Form der Partnerwahl das spätere Einverständnis beider Elternpaare voraus. Allgemein kann festgehalten werden, daß Jungen eher in der Lage wären, sich gegen eine Zwangsheirat zu wehren als Mädchen. In den meisten Fällen sind die Jungen zum Zeitpunkt der Heirat älter als die Mädchen. In einigen Fällen sind sie sogar wesentlich älter, z.B. dann, wenn ein Witwer ein ganz junges Mädchen heiratet. In jedem Fall müssen Männer im Regelfall nach der Heirat ihr Elternhaus nicht verlassen, nicht in ein anderes fremdes Dorf umziehen und sich nicht in den Alltag einer anderen Familie integrieren, wie die Frauen, die zwangsverheiratet werden.

6.1.3. Liebe und Sexualität in der Zwangsehe Kritische Äußerungen von Frauen über die Zwangsheirat als Institution sind sehr viel indirekter und gefühlsbetonter als die von Männern, wenn es darum geht,

1

Auf die Rolle der Adventisten in bezug auf die Gewalt in der Ehe wird ausfuhrlicher im Teil über Gewalt eingegangen.

180 Themen wie Sexualität oder Liebe anzusprechen. 2 Sie sind dafür aber nicht weniger aufschlußreich: Lucila, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Antes decían 'falta de educación'. Por eso nos hacen casar a la fuerza nuestros padres (...). Desde que me casé me quedé resentida, con el dolor de mi corazón. Bueno, no puedo quejarme a nadie, por lo que soy así, porque no tengo ningún problema con mi esposo. Ya tengo mi familia, ya tengo experiencia (...) Cuando uno se casa todo falta, pero antes los padres nos prometen ayudarnos. Yo te daré esto y aquello, dicen. Después ya no es así. Eso es costumbre. Solamente el marido y la mujer debemos pensar, trabajar, para vivir (...). " Lucía darf sich nicht beschweren, denn die Eltern haben mit ihrer Zwangsverheiratung lediglich den Normen entsprochen. Ihrer Ansicht nach wußten sie es nicht besser, weil sie nie selbst zur Schule gegangen waren und ihnen daher das nötige Bildungsniveau fehlte, um einen anderen Weg zu gehen und sich über die Praxis der Zwangsheirat hinwegzusetzen. Sie hat gelernt, sich mit ihrem Mann zu arrangieren und die Überlebensstrategien sind einigermaßen geglückt. Aber "im Herzen" bleiben Ressentiment, Groll, Wut und Schmerz zurück. Diese starke Ausdrucksweise verbindet Schamgefühl, Ohnmacht und Erniedrigung miteinander. Die folgende Aussage einer anderen Interviewpartnerin bezieht die Sexualität ebenfalls indirekt mit ein und benennt wesentliche Auswirkungen mangelnder Emphatie und Liebe auf die Partnerbeziehung und Familie: Lucila, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Como querían los padres, así he agarrado a mi esposo. Así nomás nos hemos casado, o, podemos decir, sin querernos. Eso no había sido bueno, hemos sufrido mucho los dos, tanto él como yo hemos sufrido, porque por gusto lo casan los padres. Para ellos es bueno: 'a nuestro hijo hemos formado gente', diciendo, hablan bien. Pero eso no es así (...) nosotros los dos somos los que sufrimos. Yo diría que no es bueno hacerles casar a la fuerza. Antes por interés hacían casar. Después quien sufre es pues, la pareja. De esta manera hasta los hijos nacen sin cariño. Cuando se juntan los dos con cariño, los hijos también habían sabido ser cariñosos. " Lucila hat eine große Distanz zu den Normen und Werten ihrer Eltern und bezieht sich in kritischer Weise darauf, daß ihre Eltern stolz darauf sind, mit der Zwangsheirat ihre Kinder zu "Menschen" gemacht zu haben, in Wirklichkeit ihrer Ansicht nach jedoch vor allem aus Eigeninteresse handelten. Sie beschreibt als Konsequenzen den Leidensweg der so zusammengeführten Ehepartner und die Distanz zwischen ihnen, die sich auch auf die Kinder auswirke, die ohne

2

Zum Thema Sexualität wurden in den Interviews keine Fragen gestellt.

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Liebe und Zuneigung gezeugt würden und wie ungewollte Kinder aufwachsen müßten. Die Praxis der Heiratsvermittlung durch die Eltern lehnt sie ausdrücklich ab. Obwohl die Ablehnung der Zwangsheirat unter den Interviewpartnerinnen überwiegt (siehe Interview Nr. 15.3), sind die Interessen in bezug auf die Kontrolle über Ressourcen, die sozialen Beziehungen und das System der Reziprozität auch heute noch gewichtige Gründe gegen neue Heiratspraktiken.

6.2. Die Hierarchie der Geschlechterverhältnisse in der Ehe bei den Aymara aus weiblicher Sicht Seit längerer Zeit wird eine Kontroverse darüber gefuhrt, ob in der andinen Weltsicht die Komplementarität der Geschlechter auch Gleichwertigkeit bedeutet oder ob jene eine hierarchische Komponente der Unterordnung der Frauen unter Männer trotz gegenseitiger Abhängigkeit enthält (vgl. u.a. Nuflez Del Prado 1975). Aus der Sicht der Interviewpartnerinnen handelt es sich in der Ehe grundsätzlich um ein asymmetrisches Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Die eigene Unterlegenheit in der Partnerbeziehung wird von Frauen auf Faktoren wie die ungleiche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und die ungleiche Bewertung der Aufgaben von Männern und Frauen zurückgeführt. Allgemein wird der grundsätzlich unterschiedliche Wert von Männern und Frauen in der Lebenswelt der Aymara von einer Reihe von Interviewpartnerinnen konstatiert und beklagt. Die Unterlegenheit von Frauen in der Partnerbeziehung wird außerdem auf ihre geringere Schulbildung, ihre geringen Spanischkenntnisse, ihren Analphabetismus und ihr mangelndes Selbstbewußtsein zurückgeführt. Diese subjektive Sichtweise bestätigt die objektive Zunahme der Distanz und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern unter der Aymara-Landbevölkerung. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nehmen im Veränderungsprozeß der letzten Jahrzehnte in bezug auf das Bildungsniveau, den Zugang zu monetärem Einkommen, den Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen dörflichen und städtischen Wertsystemen, die unterschiedlichen Zeitvorstellungen und zugänglichen Räume, sowie die Ausdrucks-, Dialog- und Verhandlungsfahigkeit immer weiter zu. Die Interviewpartnerinnen beschreiben, wie die Notwendigkeit zur Unterordnung unter die Entscheidungen des Ehemanns im Alltag immer neu entsteht und mit Hilfe von Beschimpfungen oder Gewaltanwendung in der Ehe durch ungeduldige und eifersüchtige Ehemänner eingefordert wird. Dabei zeigt sich aus weiblicher Sicht, daß Männer wenig Verständnis für die Tatsache haben, daß Frauen eine Vielzahl von Aufgaben gleichzeitig erledigen müssen. Aus männlicher Sicht erscheinen Frauen vor allem schlecht organisiert, langsam oder sogar ohne jedes Zeitgefühl zu arbeiten. Für ihre Überlastung werden Frauen von

182 Männern daher tendenziell selbst verantwortlich gemacht. Viele Frauen beschreiben ihre Ehe als von Gefühllosigkeit und großer körperlicher wie geistiger Distanz geprägt. Gegenseitiges Verständnis oder gar Zärtlichkeit sind eher die Ausnahme. Gegenseitiges Mißtrauen und die geringe Achtung und Abwertung von Frauen werden dagegen häufig erwähnt und beklagt. Aus den Interviews entsteht jedoch ein Bild vielfältiger Formen von Geschlechterverhältnissen in der Ehe. Die Art, wie Entscheidungen getroffen werden und wer Entscheidungen trifft, die tatsächliche Arbeitsteilung, die Kommunikationsformen, das gegenseitige Vertrauen und die Konfliktbewältigung werden von den Interviewpartnerinnen ganz unterschiedlich beschrieben. In vielen Ehen sind die Männer wesentlich älter als die Frauen, so daß eine Art Vater-Tochter Verhältnis entsteht, das die Unterordnung der Frau noch verschärft. Aber auch die Beziehungen von Frauen untereinander werden durch die Institution der Zwangsheirat geprägt und belastet. Im folgenden sollen eine Reihe der von den Frauen genannten Faktoren näher analysiert werden, die zur Unterordnung von Frauen gegenüber Männern fuhren bzw. als Rechtfertigung dafür herangezogen werden. Darüber hinaus wird das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern und zwischen Schwiegermüttern und Schwiegertöchtern aus unterschiedlichen weiblichen Perspektiven im Zusammenhang mit der Zwangsheirat rekonstruiert.

6.2.1. Der ungleiche Wert von Männern und Frauen bei den Aymara Viele Interviewpartnerinnen beschreiben den grundsätzlich unterschiedlichen Wert von Männern und Frauen in der Lebenswelt der Aymara. Demnach werden Frauen nur dann als vollwertige Menschen anerkannt und mit gebührendem Respekt behandelt, wenn sie über ein ausreichendes Ehrkapital verfugen. Um dieses Kapital anzusammeln bzw. zu verdienen, müssen sie permanent kämpfen, indem sie z.B. hoch bewertete Fertigkeiten oder Fähigkeiten an den Tag legen oder Posten übernehmen. Darüber hinaus versuchen sie, unter Frauen ihren Platz auf der Ehrskala mit Hilfe von Argumenten zu verteidigen und immer wieder neu auszuhandeln. Verfügen sie jedoch nicht über einen ausreichenden Ehrstatus, um sich selbst zu verteidigen oder die Solidarität ihres eigenen Familienverbands in Anspruch zu nehmen, werden sie wie Dinge oder Tiere behandelt, verachtet, beschimpft und geschlagen. Männer sind demgegenüber immer vollwertige Menschen, "auch wenn sie noch so klein sind"'. Mit dieser Aussage verweisen die Frauen auf die Widersprüchlichkeit der männlichen Ehre, die einerseits zwar mit der körperlichen Überlegenheit und Kraft der Männer begründet wird, andererseits jedoch nicht von den tatsächlichen körperlichen Eigenschaften wie Körpergröße oder physische Kraft der Männer abhängt. Auch körperlich schwache und kleinwüch-

183 sige Männer haben nicht unter Ehrverlust zu leiden. Männer werden einfach grundsätzlich hoch bewertet, weil sie Männer sind. Im Vergleich zu Frauen werden sie grundsätzlich mehr geachtet und sind mehr wert. Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Las mujeres casadas estamos respetadas aunque tengamos un esposo, sea alto o bajo. Estamos muy respetadas, no. 'Tiene su esposo', dicen. Pero cuando se vuelven solas o ya son viudas, la gente se habla de ellas nomás (...). Por eso a veces hay caso de decir, si el esposo muriera (...) meter siempre la cabeza sea al agua o al fuego (...). "

Frauen werden nur geachtet, solange sie verheiratet sind und einen Ehemann an ihrer Seite haben. Die weibliche Ehre wird der männlichen Ehre untergeordnet und ist von ihr abhängig. Beim Tod des Ehepartners oder als alleinstehende Frau wird die Situation extrem schwierig, weil Frauen ohne Ehemann einen ausgeprägten Ehrverlust erfahren und dem Gerede im Dorf weitgehend ausgeliefert sind (siehe auch Punkt 7.3.2 über die Situation alleinstehender Frauen). Eine ganze Reihe von Interviewaussagen befaßt sich mit dem Thema der Begründungen und Rechtfertigungen für die Ungleichheit der Geschlechter in der Lebenswelt der Aymara. Viele Frauen kämpfen um mehr Anerkennung und Partizipation und um geringere Unterordnung, wie die Aussage von Rosa veranschaulicht: Rosa, 38 Jahre alt, aus Copamaya, Seezone "No nos tratan como a su compañera, no nos tratan como a una persona. Aquí siempre nos discriminan, no respetan nuestras opiniones. Pero estamos pensando en hacernos respetar poco a poco. "

Rosa vertritt die Ansicht, daß Männer Frauen nicht wie gleichwertige Lebensgefährten oder Personen behandeln, und sie nicht wie Menschen, sondern wie Objekte betrachten. Männer diskriminieren Frauen, weil sie ihre Ansichten nicht ernst nehmen. Daher müßten Frauen geduldig dafür kämpfen, nach und nach mehr Respekt von Männern zu erhalten. Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "No nos dicen que las mujeres trabajamos. Ellos nos maltratan como si fuésemos

una

piedra u otra cosa. "

Rosalía verweist auf eine weitere Begründung, die aus ihrer Sicht von Männern vorgebracht wird, um ihre männliche Überlegenheit zu rechtfertigen: Frauen werden als arbeitsunfähig bezeichnet. Sie beschreibt, wie Frauen von Männern mißhandelt werden, als wären sie Steine oder Dinge ohne Seele. Diese Form der Verweigerung der Anerkennung der Ehefrau als handlungsfähiges Subjekt stellt ihre Daseinsberechtigung und ihre Rechte als vollwertige Person in Frage. Dabei gilt gerade der mangelnde Respekt als eine schwerwiegende Mißachtung von Höflichkeitsregeln

184 innerhalb der Aymara-Kultur und wird als ein Verhalten angesehen, das nur Tieren gegenüber angebracht wäre. Es zeigt sich jedoch, das nur Männer das Recht auf Respekt für sich in Anspruch nehmen können. Frauen müssen jedoch immer um Respekt kämpfen. Sie reagieren dementsprechend sensibel auf alle Formen von Abwertung durch ihre Ehemänner. Die Interviewpartnerinnen betonen immer wieder ihre Forderung, mit demselben Respekt betrachtet und behandelt zu werden, wie sie die Männer behandeln.

6.2.2. Entscheidungsfindungsprozesse in der Ehe aus weiblicher Sicht An die Partnerschaft werden in einer bäuerlichen Gesellschaft, in der Produktion und Konsum ebensowenig voneinander getrennt sind wie Berufs- und Familienleben, hohe Ansprüche gestellt. Alle Schritte im Alltag, im Haushalt und in der Produktion müssen von beiden Eheleuten im Detail miteinander koordiniert werden, so daß wenig Freiraum für eigene Entscheidungen, und insbesondere für Frauen kaum freie Zeit für sich selbst übrig bleibt. Die Anforderungen an die Kommunikation und die Koordination zwischen Mann und Frau in der Ehe sind besonders zu Jahreszeiten mit viel Feldarbeit groß. Die Anforderungen an die Eheleute in der familiären Produktion haben sich im Vergleich zu früher auch durch die Verringerung gegenseitiger Arbeitsleistungen innerhalb größerer Verwandtschafitsverbände erhöht. Da Frauen zum Schweigen und Gehorchen erzogen werden und aufgrund ihres geringen Zugangs zur Schulbildung, sind sie ihrem Ehepartner gegenüber häufig weit unterlegen, wenn es darum geht, im Dialog ihre Interessen zu vertreten und auszuhandeln. Der Grad der Überlastung der Frauen und des Ungleichgewichts der geschlechtlichen Arbeitsteilung zuungunsten von Frauen variiert zwar dem Lebenszyklus entsprechend, wirkt sich jedoch prinzipiell negativ auf das Geschlechterverhältnis in der Ehe aus. Um die Feldarbeit gibt es viel Streit. Die Interviewpartnerinnen gehen jedoch unterschiedlich mit dieser Situation um. Besonders schwer haben es diejenigen Frauen, die viele Kleinkinder versorgen und mit wenig Schlaf auskommen müssen, kaum Arbeit an andere weibliche Familienmitglieder delegieren können und zusätzlich während der Aussaat und Erntezeiten mitten in der Nacht aufstehen und kochen müssen, bevor die Familie aufs Feld geht. Mehrere Frauen schildern ihre Überforderung in dieser Situation, mit der Konflikte in der Ehe einher gehen. Andere werden etwas besser mit der Überforderung fertig, indem sie den Ehemann dazu bewegen, ihnen zu helfen, oder durch die Übertragung von Aufgaben an andere Familienmitglieder oder Verwandte. Die Analyse der Interviews ergibt ein differenziertes Bild über den Ablauf und die Einschätzung von Entscheidungsfindungsprozessen innerhalb der Ehe. Einige

185 Frauen beschreiben, daß prinzipiell der Ehemann vor jeder Entscheidung konsultiert wird (siehe Interview Nr. 12.1), insbesondere dann, wenn es sich um gemeinsam zu erledigende bzw. voneinander abhängige Aufgaben handelt, wie sie vor allem in der Landwirtschaft und in der Viehzucht vorkommen oder bei Entscheidungen über den Viehverkauf. Innerhalb des eigenen geschlechtsspezifisch zugeordneten Arbeitsbereichs ist der Entscheidungsspielraum jeder Frau größer. Die Frau entscheidet vor allem im Bereich des Haushalts. Allerdings gibt es auch Frauen, die das Gegenteil beschreiben: möchte der Mann auch hier allein entscheiden, muß die Frau sich prinzipiell unterordnen. Sie schildern die dramatischen Auswirkungen von fehlendem Vertrauen und geringem gegenseitigen Verständnis innerhalb der Partnerbeziehungen, die Frauen kaum Entscheidungsraum lassen und von ihnen als ausgesprochen demütigend empfunden werden (siehe Interview 10.1).

6.2.3. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und ihre Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis in der Ehe aus weiblicher Sicht Alle Interviewpartnerinnen beschreiben ausführlich, wie Frauen wesentlich mehr Arbeit aufgebürdet wird als Männern. Die größere Verantwortung von Frauen für die Kindererziehung, die Ernährung und Versorgung der Familie wird in diesem Zusammenhang zwar von beiden Geschlechtern hervorgehoben, wirkt sich jedoch nicht in Form von höherer Bewertung der Arbeit von Frauen aus. Lucia beschreibt die geringe Bewertung ihrer Arbeitsleistung durch den Mann, die von Frauen als besonders ungerecht empfunden wird.

Lucia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Cuando el varón se pone a ir con el arma y el yuco hacia la chacra, ya está. Las mujeres también acomodamos

o preparamos

la semilla, les acercamos

los burros y los

cargamos. Los hombres no lo hacen. El hombre se lo lleva el buey, les da de comer, eso nomás hacen los hombres. Después para ellos parece que las mujeres no hacemos nada. Parece que estamos por gusto. Cuando no lo hacemos rápido, ya nos grita, nos riñe, así es, no hay un poco de valoración hacia nosotras. "

Da die Frau mit der Last und den Kindern oder wegen der nächtlichen Zubereitung des Essens müde und oft langsamer ist, wird der Mann schnell ungeduldig und beginnt zu schimpfen. Für die Frau entsteht der Eindruck, daß ihr Beitrag vom Ehemann nur unzureichend bewertet und gewürdigt wird. Die Arbeitsüberlastung von Frauen spielt keine Rolle für die Bewertung ihrer Tätigkeiten und wird zudem von Männern entweder kaum wahrgenommen oder als ein Problem

186 betrachtet, das von Frauen selbst verursacht wurde. Viele Frauen konstatieren und kritisieren die geringe Rücksichtnahme der Männer auf ihre Überlastung. Lucia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Así también, cuando ya es tarde, en el lugar del trabajo de chacra, en primer lugar la mujer también cargamos ganado y nosotras lo acomodamos. Así tenemos que corretear para trabajar en la chacra. Así también por la tarde venimos y estamos recogiendo. Ya cuando llegamos a la casa hay que cocinar. Para eso falta agua. Ahora: '¿Qué voy a cocinar?', todo eso pensamos una mujer. Los hombres con facilidad nomás dicen: me he cansado. No saben si hay alimentos o no. Eso no les importa nada. Los varones tienen poco trabajo o menos trabajo. Ellos dicen: 'Yo he arado, he trabajado la chacra, ¿ Y la mujer?', así dicen. Por eso hoy en día en otras comunidades ya aran las mujeres. 'Tu eres mujer, nomás', siguen diciendo, así escucho. No nos valoran siempre a las mujeres ".

Lucía beschreibt, wie für Männer nur die eigene körperlich harte Arbeit zählt. Dabei wird auch Frauen das Schleppen von Lasten ständig zugemutet, doch gilt Frauenarbeit eben nicht als harte körperliche Arbeit. Der Beitrag der Frauen, der sich durch vielfaltige gleichzeitig zu koordinierende Arbeitsschritte auszeichnet, wird den Erfahrungen von Lucia zufolge von Männern selten positiv bewertet. Wenn junge Frauen, deren Ehemänner migrieren, in der Seezone selbst zum Ochsenpflug greifen müssen, da sie über keine Tausch- oder Geldwerte verfugen, um männliche Arbeitskräfte einzustellen, und oft zu Jahreszeiten der Saisonarbeit an der Küste keine Männer mehr im Dorf sind, dann überschreiten sie die tradierte Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Sie übernehmen zwar männliche Aufgaben, die höher bewertet werden als die weiblichen Aufgaben in der Feldarbeit. Dieser neue - ehemals männliche - Handlungsraum wird jedoch von den betroffenen Frauen gezwungenermaßen übernommen und daher subjektiv einerseits kaum als erstrebenswerte Erweiterung ihrer Handlungsräumen empfunden und andererseits auch nicht in Form von höherer Bewertung ihrer Arbeitsleistung erfahren. Die Übernahme von Männeraufgaben durch Frauen wird eher als ein Symbol für Armut, Geld- und Arbeitskräftemangel angesehen. Die Frauen empfinden ihre körperliche Schwäche als Nachteil und beschreiben ihren im Vergleich zu Männern größeren Zeitaufwand beim Führen des Ochsenpflugs. Senobia schildert im Interview 15.4 die Situation des mühsamen Wegs zum Feld, der in der ökologischen Zone der Kordillere wesentlich länger ist als in der Seezone, da die Felder und Weideflächen an den Berghängen weit voneinander entfernt liegen. Mit elf Kindern ist das mangelnde Verständnis durch den Ehemann belastend, der zudem nicht mit Sanktionen zögert, wenn sie durch Arbeitsüberlastung mehr Zeit benötigt und sich verspätet. Senobia betont, daß sie nicht geschlagen, sondern "nur" beschimpft werde. Im Gegensatz dazu kommt es

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nach ihrer Aussage in vielen Ehen in derartigen Situationen zu körperlicher Gewaltanwendung durch den Ehemann. Nur wenigen Frauen gelingt es, beispielsweise durch Absprachen und veränderte Arbeitsaufteilung mit dieser potentiellen Konfliktsituation zu umgehen. Demgegenüber schildern Männer als Beispiel für eine typische Situation, die ihre Geduld strapaziert, wie sie täglich hungrig auf das Essen warten müssen, das nie rechtzeitig fertig werde. Für Frauen handelt es sich aus subjektiver Sicht beim Kochen um eine der schwierigsten Tätigkeiten aufgrund von Nahrungsmittelknappheit oder geringer -Vielfalt. Eine Entscheidung über die Auswahl von Gerichten wird zudem auch durch die Veränderung von Ernährungsgewohnheiten, durch den städtischen Einfluß und den zunehmenden Konsum von verarbeiteten Nahrungsmitteln erschwert. Das Kochen auf einfachen, niedrigen Tonherden ist eine zeitaufwendige und schwere körperliche Arbeit, die viel Planungsgeschick und eine gute Koordination von Arbeitsschritten voraussetzt, um nicht zuviel Zeit in Anspruch zu nehmen. Die fehlende Trinkwasserversorgung macht das Wasserschleppen nötig. Feuerholz und Viehdung zum Anheizen müssen gesammelt werden. Ein Teil dieser Aufgaben wird von den Frauen an die Kinder oder in Ausnahmefallen auch an den Mann delegiert. Vor allem während der Aussaat oder der Erntezeit müssen Frauen entweder spät abends Getreide mahlen oder Gemüse und Kartoffeln schälen, um am nächsten Morgen ganz früh für den Tag vorzukochen. Das Frühstück wird noch zu Hause eingenommen und das Mittagessen mit aufs Feld genommen. Dort müssen oft noch über die Familienangehörigen hinaus zusätzliche Arbeitskräfte mit verköstigt werden. Abends, nach der Feldarbeit, müssen die Frauen sofort wieder am Herd sitzen und die Abendmahlzeit zubereiten. Sowohl weibliche als auch männliche Interviewpartner bezeichnen vor allem das Kochen als weibliche Tätigkeit. Die meisten Interviewpartnerinnen wünschen sich von ihrem Partner Hilfe beim Kochen. Einige Männer sind bereit, gelegentlich dabei zu helfen, andere bestehen darauf, daß es sich um einen ausdrücklich frauenbestimmten Aufgaben- und Verantwortungsbereich handelt, der besondere Fähigkeiten voraussetzt, über die Männer grundsätzlich nicht verfugen. Einige Männer lernen im Laufe der Ehe jedoch, zumindest für sich selbst zu kochen. Das ist insbesondere in der Zone der Kordillere notwendig, da dort aufgrund der großen Naturweideflächen und Entfernungen meist zwei Haushalte einer beim Vieh auf den Bergen und der andere im Dorfzentrum nahe der Schule - aufrecht erhalten werden und die Familienmitglieder sich oft auf verschiedene Haushalte verteilen müssen. Zu Zeiten der reinen Subsistenzwirtschafit hatte es sich beim Kochen um einen wichtigen frauenbestimmten Raum gehandelt, der Frauen Macht und Anerkennung brachte. Gemeinsam mit anderen frauenspezifischen Aufgaben wie der Lagerhaltung, der Saatgutauswahl und besonderen Fertigkeiten beim Zubereiten

188 vielfältiger Speisen, konnte er den Frauen im Alltag, bei Gemeinschaftsarbeiten oder auf Festen hohe soziale Anerkennung und einen Zuwachs weiblicher Ehre bringen. In Zeiten der Knappheit und der Marktproduktion verwandelte sich dieser Raum der Anerkennung und Kompetenz zu zeitraubender Schwerstarbeit zu frühester Morgen- oder spätester Abendstunde, für die den Frauen jede Motivation verloren gegangen ist. Die Fähigkeit des Kochens wird zunehmend abgewertet und stellt aus der weiblicher Sicht nunmehr eine große Belastung dar. Die Verantwortung der Frauen für die Versorgung der Familie geht soweit, daß notfalls auf eigene Bedürfhisse verzichtet werden muß, wie z.B. auf Kleidung, die eng mit der weiblichen Ehre verknüpft ist (vgl. Kapitel 8.2). Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Todas las mujeres campesinas siempre sufrimos en este lado, y pensando en éso a veces decimos que nos vamos a volver viejas. Tanto en la mañana como en la tarde tenemos que preocuparnos de la alimentación no más. Hasta podemos andar con la ropa vieja y remendada, pero siempre tenemos que preocuparnos de la comida. "

Frauen müssen ihre persönlichen Bedürfnisse denen der Familie unterordnen. Notfalls müssen sie sich mit alter, selbst gewebter, gestopfter Kleidung begnügen, auch wenn sie sich darin schämen. Der Kauf von Nahrungsmitteln und der Zeitaufwand für das tägliche Kochen haben Vorrang und werden zu einer lästigen alltäglichen Routine, die Frauen schnell altern läßt. Aus weiblicher Sicht steigt ihre Arbeitsbelastung vor allem dann, wenn ihr Partner keine ehemals verbreiteten männlichen Fähigkeiten wie das Weben von Kleidungsstücken für die Familie beherrscht (siehe Interviews Nr. 15.6; 4.4). Über mangelnde Fähigkeiten und Arbeitsleistungen oder die Faulheit des Ehemanns klagen viele Interviewpartnerinnen, da sie auf diese Weise gezwungen sind, seine Arbeitsleistung zu ersetzen. Sie beschreiben, wie sich ihre Ehemänner zunehmend an städtischen Werten orientieren und vor allem außerhalb der ländlichen Produktion Geld verdienen wollen. Aus der Sicht der Frauen messen die Männer der Land- und Viehwirtschaft und den eigenen handwerklichen Fertigkeiten in der Familienwirtschaft im Dorf im Vergleich zu vorangegangenen Generationen immer weniger Bedeutung bei. Frauen sind als Hauptverantwortliche für die Versorgung der Familie jedoch von ausreichenden produktiven Erträgen und selbst hergestellten Geweben, Werkzeugen und Haushaltsgegenständen abhängig, die sie allein nur unter großen Schwierigkeiten erwirtschaften oder herstellen können und für deren Kauf das geringe Geldeinkommen der Familie selten ausreicht. Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Yo no podía sujetar al marido, yo no sé qué haría. La yunta le sabe ganar. Sabe cornear el arco de cañihua. Antes había chacra. Con la cañihua sabíamos hacer arcos

189 grandes. Eso lo corneaba el toro. El dueño de esos arcos de cañihua me retaba. A veces me hacía pagar. Por eso digo: 'cómo no he podido sujetar'. Sería como una niña, diciendo recién pienso. Sabía ganarle. "

Andrea beschreibt ihren Mann ohne Fähigkeiten in der Feldwirtschaft. Er war tolpatschig und zerstörte mit dem Ochsenpflug festliche Hirsekränze des Nachbarn. Sie mußte sehen, wie sie den Schaden bezahlte. Im Rückblick wundert sie sich über ihre eigene Passivität in dieser Situation, die sie damit erklärt, daß sie eben noch ein kleines Mädchen gewesen sei. Dabei hätte sie ihren Mann bei der Feldarbeit mit ihren Fähigkeiten weit übertroffen. Im Nachhinein fallt ihr als Problemlösung nur die Übernahme des männlichen Aufgabenbereichs ein. Dieses Beispiel zeigt, wie gering die Handlungsmöglichkeiten von Frauen empfunden werden, wenn sie mit "faulen" bzw. verantwortungslosen Ehemännern mit mangelnden Fähigkeiten und Arbeitsleistungen konfrontiert werden. Solange die Kinder noch klein sind, ist die Abhängigkeit der Frau vom Ehemann besonders groß. Wenn die Kinder größer werden und die Söhne nicht gleich abwandern, gibt es für Frauen die Alternative, die Felder unabhängig vom Ehemann mit Hilfe der Arbeitskraft der Söhne oder des eigenen Vaters oder Bruders zu bestellen (siehe Interview Nr. 5.6). Im Fall der Migration der Männer bleibt den Frauen nur noch die Möglichkeit, zusätzlich zu allen eigenen Aufgaben die männlichen Tätigkeiten zu übernehmen. Dabei müssen sie jedoch feststellen, daß die Übernahme männlicher, höher bewerteter Aufgaben für Frauen keine höhere Anerkennung mit sich bringt.

6.2.4. Das Vater-Tochter-Verhältnis in der Ehe Fast ein Drittel der Interviewpartnerinnen ist mit einem mehr als sieben Jahre älteren oder - im Fall einer zweiten Ehe des Mannes - sogar viel älteren Partner (bis zu 25 Jahre älter) verheiratet. Zwei der interviewten Frauen haben jeweils zwei Ehen gefuhrt. Gemeinsam teilen sie das Schicksal, in der Adoleszenz sehr früh zwangsverheiratet worden zu sein, als sie noch über nur geringe Fähigkeiten verfugten und eigentlich noch gar nicht auf eine Ehe vorbereitet waren. Die eine der beiden Frauen litt bei der ersten Heirat besonders unter der Schwiegermutter, die auf ihre mangelnden Fähigkeiten aus Altersgründen keine Rücksicht nahm und viele Kenntnisse einfach voraussetzte. Die andere, deren Schwiegermutter bereits verstorben war, wurde besonders von ihrem wesentlich älteren Ehemann in bezug auf Arbeitsschritte und Fertigkeiten, aber auch bezüglich des richtigen Benehmens gegenüber den Familienmitgliedern abhängig. Sehr jung verheiratete Frauen berichten, daß sie zu Beginn ihrer Ehe so gut wie "nichts" konnten, und daß ihr Partner ihnen "alles" beigebracht habe (siehe Interviews Nr. 11.1; 7.3; 13.3; 5.4). Dabei übernimmt der wesentlich ältere männli-

190 che Partner in der Ehe eine Art Vaterrolle, die im Laufe der Ehe für das Geschlechterverhältnis prägend bleibt: Die Abhängigkeit der jungen Mädchen von ihrem älteren Ehemann, ihre subjektiv empfundene eigene Unmündigkeit, die Verinnerlichung seiner Überlegenheit und der Situation der Ungleichheit ist stärker ausgeprägt als in Ehen ohne diesen großen Altersunterschied. Dies hat zur Folge, daß die Autorität des Ehemanns weniger in Frage gestellt wird. Andererseits müssen die Väter-Ehemänner sich mehr als jüngere Ehemänner in die Lage ihrer jungen Frauen hineinversetzen, auf ihre Situation in der Adoleszenz reagieren und ein größeres Maß an Geduld und an Einfühlungsvermögen aufbringen. Die Kommunikationsstrukturen sind jedoch zunächst besonders ungünstig, weil der Horizont der jungen Frauen im Vergleich zur Lebenserfahrung und zum Bildungsstand älterer Ehemänner, die oft bereits über Migrationserfahrung und höhere Schulausbildung verfügen, wesentlich geringer ist (siehe Interview Nr.

3.1). In den meisten Fällen bleibt das anfangliche Verständnis des älteren Mannes für die jüngere Ehefrau von kurzer Dauer und hat einen sehr funktionalen Charakter. Denn wenn das Mädchen erst einmal gelernt hat, die von ihr erwarteten Aufgaben zu übernehmen, dann wird sie vom Ehemann ausschließlich dafür verantwortlich gemacht und kann nicht mehr mit seiner Unterstützung rechnen. Dieser Wechsel im männlichen Verhalten innerhalb des Geschlechterverhältnisses macht sich für Frauen mit vielen Kleinkindern besonders negativ bemerkbar, und schränkt ihre Sicht auf potentielle Handlungsräume im weiteren Verlauf der Ehe ein. Nach der Geburt ihres ersten Kindes wird ein eigener Haushalt gegründet, in dem noch Vieles fehlt. Sie werden genau zu dem Zeitpunkt in die Selbständigkeit entlassen, in dem sie durch wiederholte Schwangerschaften mit Haushalt und Feldarbeit am stärksten überlastet sind. Nur in Ausnahmefallen, in denen der Ehemann sich zunächst der Situation der ausgeprägten Ungleichheit in dieser Variante des Geschlechterverhältnisses bewußt wird und die Bereitschaft zeigt, seine Frau, ihre Bildung und Teilnahme in der Öffentlichkeit zu fordern, gelingt es Frauen innerhalb eines ehelichen VaterTochter Verhältnisses mit zunehmendem Alter und Erfahrungshorizont, die extreme Abhängigkeit vom Ehemann zu überwinden. Mit zunehmendem Alter kann auf diese Weise die besonders ausgeprägte Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in dieser Form des Geschlechterverhältnisses verringert werden.

6,2.5. Das Verhältnis der Mutter zur Tochter in bezug auf die Zwangsehe Es gibt nur selten Hinweise der Interviewpartnerinnen darauf, daß ihre Mütter versucht hätten, eine Zwangsheirat der Töchter zu verhindern. Während Mütter

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sich nach Aussagen verschiedener Interviewpartnerinnen auch gegen den Widerstand des Vaters häufig für die Schulbildung ihrer Töchter einsetzen, werden Meinungsverschiedenheiten zwischen Müttern und Vätern in bezug auf die Partnerwahl für die Zwangsehe nicht ein einziges Mal erwähnt. Ein Grund dafür könnte darin bestehen, daß die Eltern grundsätzlich alle Vermittlungsbemühungen vor ihren Töchtern verheimlichen. Dazu kommen die Regeln der weiblichen Ehre, die einen akzeptablen Ehrstatus nur durch eine möglichst geeignete Verheiratung der Tochter ermöglichen, und die der Familienehre, die vor allem durch die Vermehrung von Ressourcen verbessert werden kann. Ohne Zweifel sind jedoch im Fall der Heiratsvermittlung starke Rollenkonflikte der Mütter zu vermuten, die zwischen der Ehre der Tochter und der Ehre der Familie (ihres Ehemanns) und der Zwangsheirat ihrer Tochter wählen müssen. Obwohl die Mütter ihre eigenen Töchter praktisch der Zwangsheirat ausliefern, sind sie im Fall von Normenbrüchen und Schwierigkeiten dazu verpflichtet, ihren Töchtern zu helfen. Aus der Sicht der Interviewpartnerinnen haben Mütter jedoch relativ wenig Einfluß auf das Ehrkapital der Töchter. Früher konnten sie noch durch die Vermittlung von weiblichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie von Normen der Weiblichkeit wie Geschäftigkeit, Fürsorglichkeit, Schamhaftigkeit und Gehorsam gegenüber dem Ehemann zur Ehre der Töchter beitragen. Mit dem Wertewandel und den neuen, weniger frauenspezifischen Inhalten der weiblichen Ehre - beispielsweise von Kenntnissen wie Lesen, Schreiben oder der spanischen Sprache - haben Mütter, die aufgrund mangelnder Schulbildung über diese Fähigkeiten nicht verfugen, noch weniger Möglichkeiten, in direkter Weise auf den Ehrstatus ihrer Töchter Einfluß zu nehmen

6.2.6. Das Verhältnis der Schwiegereltern zur Schwiegertochter Bei den Schwiegereltern leben die oft noch sehr jungen, gerade erst verheirateten Mädchen unter dem starken Druck, den Wert ihrer Arbeitskraft und ihre Fähigkeiten zu beweisen, arbeiten zu können, fleißig und tüchtig zu sein und damit auch ihren Mann und seinen Besitz wert zu sein. Die Situation der jungen, gerade frisch verheirateten Mädchen bei den Schwiegereltern hängt von ihrem Ehrstatus ab und variiert erheblich, je nach Herkunft, wirtschaftlichem Status und Ansehen der Eltern, Erbschaftssituation und je nachdem, ob ihr Beitrag zu den Ressourcen der neuen Familie höher oder niedriger als der ihres Mannes ist. Im bereits beschriebenen Fall von Lucia wird deutlich, daß sie von der Schwiegermutter sogar öffentlich beschimpft wird, weil sie aus einer armen Familie kommt und weniger Vieh als ihr Mann in die Ehe mitbringt. Ihre Herkunft und ihr Normenbruch reichen aus, um die Ablehnung der Heirat durch die Schwiegereltern innerhalb der Gemeinschaft zu rechtfertigen. Hätte es sich um

192 ein ehrbares Mädchen gehandelt, wäre sie von anderen Frauen verteidigt bzw. gar nicht erst abgelehnt worden. Hervorzuheben ist, daß die Aussagen der Frauen den Viehbesitz im Zusammenhang mit ihrem Ehrstatus durch Herkunft und Erbschaft, mehr hervorheben als den Landbesitz. Demnach ist heute viel Landbesitz allein kein ausreichendes Kriterium mehr für eine "gute Partie" wie in früheren Zeiten. Im Rahmen der Marktintegration und der allgemeinen Landknappheit bedeutet dagegen der Viehbesitz das wichtigste Kapital, mit dem sich auf dem Markt wirtschaften läßt. Darüber hinaus gibt es nur wenige Bauern mit umfangreicherem Landbesitz, während der Viehbesitz eine stärkere Differenzierung der Familien untereinander mit sich gebracht hat. Gerade dieser Differenzierungsprozeß könnte dafür ausschlaggebend sein, daß sich möglicherweise die Erwartungen an eine Verbesserung der Ressourcen durch Heiratsstrategien verringern und die Regeln der Zwangsheirat mit dem Wandel zunehmend an Gültigkeit verlieren. Nur in Ausnahmefallen zieht der Ehepartner zur Familie der Frau, z.B. dann, wenn Männer weniger Ressourcen als Frauen und einen geringeren Zugang zu Land und Vieh im eigenen Dorf besitzen. Diese Männer haben jedoch weniger Rechte. Sie arbeiten auf dem Land ihrer Frau, aber wenn diese stirbt, kann die Dorfgemeinschaft entscheiden, daß der Betroffene wieder in sein Herkunftsdorf zurückkehren muß und das Land wird dann an die Söhne oder Töchter weitervererbt (Carter; Albo 1988: S. 471).

6.2.7. Das Verhältnis der Schwiegermutter zur Schwiegertochter Wie bereits mehrfach aufgezeigt, ist das Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter besonders strengen Regeln und Normen unterworfen und von ganz unterschiedlichen und widersprüchlichen Interessen geprägt. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, warum eine Frau als Schwiegermutter bereit ist, eine repressive Rolle gegenüber der jungen Ehefrau ihres Sohnes einzunehmen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, daß sie selbst einmal jung war und in den meisten Fällen auch selbst in der Position der Schwiegertochter gelitten hat. Hier kommen wiederum eine ganze Reihe von Mechanismen, darunter die Familienehre und die Absicherung der Familienressourcen zum Zuge, die ältere Frauen in die Rolle der Schwiegermutter zwängen. Die Ehre hat hier offenbar einen Selbstdisziplinierungseffekt, der in Kombination mit der Machtposition der Schwiegermutter als älterer Frau mit größerer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zum Tragen kommt, die sich wiederum direkt aus ihrer Kontrolle über die jungen Schwiegertöchter ableitet. Lehnt die Schwiegermutter die Schwiegertochter und die Heirat ab, sind kaum Bedingungen für eine neue Familiengründung im Dorf gegeben.

193 Wie das Interview von Senobia (Nr. 15.1. im Anhang) zeigt, ist die Schwiegermutter aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung als Frau für die Kindererziehung und die Ernährung der Familie zuständig. Aufgrund der häufigen Knappheit von Ressourcen erhält die Verantwortung für die Betroffene eine traumatische Dimension, die durch die Aufnahme der Schwiegertochter als zusätzlichem Familienmitglied noch verstärkt wird. Auch die Orientierung des neuen Paares fallt in den Aufgabenbereich der Schwiegermutter. Für die Orientierung der jungen Schwiegertochter ist die Schwiegermutter in ihrer Rolle als Frau besonders gefragt, da sie das junge Mädchen entsprechend der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung einweisen soll. Hier muß sie oft noch einmal besonders Hand anlegen, insbesondere dann, wenn die Schwiegertochter noch sehr jung ist und wenige Fähigkeiten und Fertigkeiten von zu Hause mit bringt, wie im Fall von Flora. Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "La madre es la que más enseñó a mí, luego de la misma manera la suegra

también

suele aconsejar diciendo que debe ser así o asá, ya que yo tuve esposo siendo menor de edad. Por eso la suegra siempre me hacía entender las cosas. De esta o de esa manera van a progresar

Ustedes, van a mirarse atrás y adelante diciendo. Tiene que fijarse de

la familia, la gente suele mirarse, no hay que dormir hasta tarde, hay que

levantarse

temprano, diciendo. Hay que hacer amanecer la harina molida de cebada tostada y la k'ispiña (galleta de harina de quinua) antes que salga el sol ya debe estar terminada la cebada tostada para la harina, diciendo, me encargaba. "

Flora beschreibt ihre Schwiegermutter aus subjektiver Sicht als Hauptsozialisationsagentin. Das Verhältnis der Schwiegermutter zur Schwiegertochter ist jedoch ein anderes als das der Mutter zur eigenen Tochter: Der Schwiegermutter ist vor allem an der Ehre, der Besitzstandsvermehrung und Lebensabsicherung ihres Sohnes und der eigenen Familie gelegen. Daher kann sie in bezug auf ihre eigenen Erfahrungen in eine Art Rollenkonflikt geraten. Das Beispiel von Flora läßt die Arbeitsleistungen der jungen Ehefrau für die Familie des Ehemanns eher wie eine Art Lehrzeit erscheinen. Außer der repressiven Vorgehensweise der Schwiegermutter gegenüber der Schwiegertochter, die von vielen Frauen beschrieben wird, besteht aber auch die Möglichkeit der positiven Vermittlung von Normen und Fertigkeiten in Form von geduldiger verbaler Erklärung oder der solidarischen Haltung zur Schwiegertochter, insbesondere dann, wenn es um die Akzeptanz der Heirat geht. Demnach kann auch ein Bündnis unter Frauen stattfinden und es scheint gar nicht so selten vorzukommen, daß Schwiegermütter sogar gegen die Ansicht des Schwiegervaters aktiv zugunsten der Ehre der Schwiegertochter handeln, wie die Aussage von Gregoria beweist:

194 Gregoria, 40 Jahre alt, aus Totojira, Seezone "(...) no hemos andado mucho tiempo, después de dos semanas ya nos casamos

nomás.

Ah, mi suegra y la gente decían que pueden existir habladurías y sus familiares

apura-

ron el matrimonio. Eso fue una fortuna que me defendió como mi madre. Mi suegro no era buena gente y hablaba muchas cosas, por eso apuraron mi matrimonio. "

Die Schwiegermutter hat aus der Sicht von Gregoria in diesem Fall "wie eine eigene Mutter" gehandelt, da sie die Interessen des jungen Mädchens über die Interessen des Familienverbands gestellt und auf eine Möglichkeit der eigenen Machtausübung verzichtet hat. Dieses Beispiel der Schwiegermutter verweist darauf, daß es sich bei Heiratsstrategien hier offenbar um einen Handlungsraum und eine Machtposition handelt, die für Schwiegermütter größer sind als für Mütter. Nur wenige Mütter sehen sich offenbar dazu in der Lage, eine Zwangsheirat ihrer Töchter zu verhindern. Verschiedene Frauen, die bereits die Erfahrung als Schwiegermutter haben, verweisen darauf, daß die Schwiegerväter zwar entscheiden, aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sich jedoch in der Praxis wenig für die Bedingungen der Haushaltsgründung ihrer Kinder interessieren. Das Beispiel von Lucia verdeutlicht die Machtposition der Schwiegermutter, die im Falle der Ablehnung der Schwiegertochter mehr als der Schwiegervater aktiv wird, um das Ehrkapital der Schwiegertochter in der Dorföffentlichkeit vor allem unter Frauen auf der Versammlung der Frauenorganisation anzugreifen. Der Schwiegervater verhält sich in diesem Fall anscheinend nicht nur der Schwiegertochter, sondern auch dem Schwiegersohn gegenüber weitaus passiver oder zumindest für beide weniger sichtbar. Zumindest wird er von Lucia nach der Ablehnung der Heirat nicht weiter erwähnt. Mädchen, die regelmäßiger zur Schule gehen, sind in der Familie ihres Ehemanns besonders im Nachteil, weil sie bestimmte Fertigkeiten wie z.B. das Weben oder Kochen nicht richtig gelernt haben. Diese Fertigkeiten wurden aber früher von der Schwiegermutter als Grundkenntnisse verlangt (siehe Interview Nr. 5.2). Glück haben diejenigen Mädchen, die im gleichen Dorf oder in geographischer Nähe zum Herkunftsort heiraten und schnell bei ihren eigenen Eltern oder Familienmitgliedern um Rat suchen können. Wenn sie jedoch in ein anderes entferntes Dorf ziehen müssen, sind sie den Schwiegereltern und dem neuen Ehemarin praktisch ausgeliefert.

195

6.3. Das Gerede, der Ruf, die Ehrskala und die innerdörfliche soziale Hierarchie Mehrere Interviewpartnerinnen weisen darauf hin, daß im Dorf nicht alle Frauen gleichwertig sind. Sie beziehen sich dabei auf die weibliche Ehrskala, die auch unter den Frauen permanent ausgehandelt und zugeschrieben wird. Bündnisse oder Diskriminierung unter Frauen sowie das Gerede und der Ruf im Dorf tragen zum Aufbau einer Hierarchie unter Frauen bei. Die Geschlechterverhältnisse zwischen Frauen sind daher einerseits von Verwandtschaftsbeziehungen und andererseits von der Zuschreibung und dem Kampf um den weiblichen Ehrstatus innerhalb der Gemeinschaft geprägt. Der gute Ruf von Frauen wird von ihrer Herkunft und familien- und besitzmäßigen Verankerung im Dorf, ihrer Arbeitsfähigkeit und Tüchtigkeit, ihrer Schamhaftigkeit, ihrem Familienstand, dem Ehrstatus des Ehepartners, sowie der Solidarität oder Diskriminierung durch andere Frauen abgeleitet. Früher waren Gehorsamkeit, unermüdlicher Fleiß, Denkunfahigkeit und Fruchtbarkeit, gute Spinn- und Webkenntnisse ebenfalls wichtige Bestandteile für den guten Ruf von Frauen. In heutigen Zeiten kommen das Bildungsniveau, die Zweisprachigkeit, der Umgang mit der Außenwelt, der Zugang zu Geldeinkommen, kommunikative Fähigkeiten, Lesen und Schreiben können oder die Übernahme von Posten in der Organisation hinzu. Ein schlechter Ruf von Frauen kann durch das Nichtwissen woher man kommt und wo man hingehört, oder welcher Platz ihnen im Sozialgefüge zusteht, entstehen. Er kann aber auch auf Unzuverlässigkeit in der Arbeit oder auf mangelnden Fähigkeiten, auf Normenbrüchen gegenüber der Zwangsheirat oder der Schamhaftigkeit, auf der Trennung vom oder dem Tod des Ehepartners, oder auf nicht normengerechtem Verhalten von anderen weiblichen Angehörigen beruhen. Das Gerede im Dorf wird sowohl von männlichen als auch von weiblichen Interviewpartnern als ein Mechanismus mit wichtigem Einfluß auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die individuelle Persönlichkeit erwähnt. Das Gerede im Dorf stellt eine zentrale Form der zwischenmenschlichen Kommunikation und der Wissensweitergabe in einer Lebenswelt mit oraler Tradition und fast ohne Massenmedien dar. Das Objekt des Geredes im Dorf sind nicht so sehr das schlechte Wetter oder die miserablen Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft, sondern vor allem der andere Mensch. Das Gerede ist Teil einer sozialen Praxis, die dazu dient, die Zugehörigkeit jedes Einzelnen zu identifizieren, die soziale und familiäre Stellung innerhalb des Dorfes jeder Person einzukreisen und immer wieder neu auszuhandeln und festzulegen. Auf diese Weise können Personen zu Außenseitern gemacht, aber auch gemeinsame Bindungen innerhalb der Gemeinschaft zwischen Individuen, Haushalten, in Familie und Verwandtschaft gesichert,

196 sowie ihr Platz im Statusgefuge des Dorfes festgelegt werden. Um mitreden zu können, muß Mann oder Frau über die Geschichte der Herkunft vorheriger Generationen informiert sein, ihren oder seinen Platz in der Gemeinschaft kennen und wissen, wo sie hingehören. Als ein Faktor sozialer Kontrolle übt das Gerede Macht aus, da ein guter Name zugeschrieben oder entzogen werden kann (Schulte 1992: 70-72). Das Gerede unter Frauen findet auf dem Feld, beim Viehhüten, auf Wegen, beim Holen von Wasser oder Feuerholz, auf Versammlungen, bei Gemeinschaftsarbeiten, am Herd, auf Festen oder auf dem Markt statt. Eine wichtige Instanz der Aushandlung der Plätze auf der Ehrskala unter Frauen sind die Versammlungen der Frauenorganisationen, der dörflichen Mütterclubs oder Frauenkomitees. Frauen entwerfen heute aktiver als früher individuelle Strategien zur Aushandlung ihres eigenen Ehrstatus. Das Gerede unter Frauen hat auch Einfluß auf das Verhalten von Männern, die auch ihrerseits daran beteiligt werden, da es auch im Ehebett, auf DorfVersammlungen oder bei sonstigen Gelegenheiten im Alltag zwischen Ehepartnern und Verwandten beiderlei Geschlechts stattfindet und auch Männer sozialem Druck aussetzt, da ihre Ehre in Frage gestellt oder beeinträchtigt werden könnte. Schließlich gibt es das Gerede unter Männern beim Feiern, Fußballspielen, Verhandeln, auf öffentlichen Versammlungen etc. Männern ist die unkontrollierte Kommunikation unter Frauen nicht geheuer und sie versuchen daher, die Kontakte der Frauen untereinander zu kontrollieren. Interessanterweise werden Gerüchte und Unterstellungen auch von den Frauen vor allem als Mechanismen identifiziert, die unter Männern häufig vorkommen und einen starken sozialen Druck zur Einhaltung der Regeln der männlichen Ehre ausüben und großen Einfluß auf ihre Ehemänner haben. Insbesondere im Zusammenhang mit dem öffentlichen Auftreten von Frauen in Organisationen, bei Festen oder bei DorfVersammlungen werden von Männern Gerüchte gestreut, um die betreffenden Ehemänner dazu zu bewegen, "besser auf ihre Frauen aufzupassen" und diese stärker zu kontrollieren. Auch Männer handeln ihre männliche Ehre und den Ehrstatus ihrer Familie untereinander immer wieder neu aus. Der männliche Ehrstatus hängt eng mit der Fähigkeit des Mannes zusammen, seine Frau und Töchter zu kontrollieren. Frauen leiden sehr unter diesen Gerüchten (siehe Interviews Nr. 18.5 und 5.5), die zur Stärkung des Mißtrauens, der Eifersucht, des Grolls und Nachtragens seitens ihrer Ehemänner und zu Sanktionen gegenüber den Ehefrauen beitragen und Ehekonflikte stark verschärfen können. Das Gerede kann die soziale Existenz einer Frau innerhalb des Dorfes ruinieren. Allerdings sind verheiratete Frauen und Frauen mit einem hohen Ehrstatus durch Gerüchte ohnehin wesentlich weniger angreifbar als Frauen mit geringem Ehrstatus, denen alles zugetraut wird. Die Ehrbarkeit kann eine Frau vor schlechter Nachrede schützen und verhindern, daß überhaupt Gerüchte über sie

197 in Umlauf gebracht werden. Das Ehrkapital verleiht ihr eine Machtposition, aus der sie sich mehr als Frauen mit schlechtem Namen herausnehmen kann, über die es oft Gerüchte gibt, selbst wenn sie sich ganz korrekt verhalten haben. Daher beschreiben zum Beispiel angesehene verheiratete Frauen, die in der Frauenorganisation einen Posten übernommen haben und häufig allein unter vielen Männern reisen müssen, daß sie grundsätzlich respektiert werden und auch im Dorf keiner schlechten Nachrede ausgesetzt sind. Normalerweise sind Frauen, die sich ohne Begleitung des Ehemanns oder einer männlichen Schutzperson als Kontrollinstanz als einzige Frau unter Männern bewegen, schlecht angesehen (siehe auch das Beispiel von Paulina im Kapitel 4.5.3). Das weibliche Ehrkapital hat auch großen Einfluß auf Entscheidungen von Frauen in bezug auf eine Wiederheirat und es prägt die Situation alleinstehender Frauen.

6.3.1. Probleme bei der Wiederheirat Im Falle von Trennung oder Tod der Partnerin heiratet die Mehrheit der Männer wieder oder migriert definitiv. In den Dörfern leben nur wenige alleinstehende Männer. Als Grund dafür gibt einer der männlichen Interviewpartner an, ein Mann könne ohne die Hilfe der Frau beim Kochen nicht überleben (siehe Interview Nr. 19.2). Frauen könnten demgegenüber schon allein über die Runden kommen, sie hätten schließlich gelernt, ganze Familien zu versorgen. Hier wird aus subjektiver männlicher Sicht eine starke Abhängigkeit von Frauen zum Ausdruck gebracht. Frauen empfinden jedoch kaum eine entsprechende Machtposition. Demgegenüber geben Frauen im Fall von Tod oder Trennung oft an, sie trauten sich nicht, eine neue Ehe einzugehen, weil ihre Kinder sie kritisieren und darunter leiden könnten. Hintergrund dafür ist offenbar die schlechte Behandlung von Kindern durch Stiefeltern, die vor allem in der Erbschaftsproblematik begründet ist. Sie hängt mit den Regeln der Abstammung und den Konflikten mit der minderen gesellschaftlichen Zuordnung von Stiefkindern zusammen. Stiefeltern wollen grundsätzlich keine Erbschaftsrechte von Kindern des Partners oder der Partnerin aus einer anderen Ehe anerkennen, auch wenn sie diese selbst im Haus mit erzogen haben. Auf diese Weise entstehen große Unklarheiten und Konflikte sowohl bei der Abstammungszuschreibung der Kinder als auch bei Erbschaftsregelungen. Dazu gehören auch Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Schulbesuchs von Stiefkindern, beim Respekt der Kinder eines Partners für den neuen Partner, etc. Unter Kindern entsteht eine Art Rangordnung. Die gemeinsamen Kinder werden gegenüber Kindern von nur einem der beiden Partner bevorzugt. Eine Wiederheirat birgt viel Konfliktstoff für alle Beteiligten, da sie die bestehenden Abstammungsnormen durcheinanderbringt und damit Unklarheiten über

198 gegenseitige Rechte und Pflichten sowie über interne Hierarchien innerhalb der Familie entstehen können. Darüber hinaus gibt es im Fall von Stieftöchtern das Problem des sexuellen Mißbrauchs durch den Stiefvater, der von zwei Interviewpartnerinnen angesprochen wird. Im Fall von Stiefsöhnen treten leicht Rivalitäten zwischen Stiefvater und Stiefsohn in bezug auf die Autoritätsausübung in der Familie auf. Witwen und alleinstehende Frauen befinden sich in bezug auf eine Entscheidung über eine Wiederheirat in einem großen Zwiespalt: einerseits wären sie als verheiratete Frau wieder besser angesehen, würden ihre wirtschaftliche Situation verbessern und ihre Arbeit durch den Zugriff zu männlicher Arbeitskraft und die männliche Vertretung der Familie auf den Dorfversammlungen wesentlich vereinfachen. Andererseits gefährden sie jedoch die Herkunftsdefinition und die Erbschaftsansprüche ihrer Kinder aus vorangegangenen Ehen.

6.3.2. Die Situation von alleinstehenden Frauen Alleinstehende Frauen werden im Dorf diskriminiert, ganz gleich, aus welchem Grund sie alleinstehend sind. Witwen, geschiedene oder verlassene Frauen oder unverheiratete alleinstehende Mütter werden sowohl von Männern als auch von Frauen schlecht behandelt. Ihre Ansichten werden nicht ernst genommen, sie werden beschimpft, oder es werden Gerüchte über sie verbreitet. Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Las madres solteras, las madres abandonadas y las viudas se han visto

humilladas.

Hasta los parientes las hacen llorar, a lo menos aún más a las viudas. Por eso todos siempre nos casamos ".

Rosalía erwähnt, daß alleinstehende Frauen auch von den eigenen Familienangehörigen schlecht behandelt werden. Witwen wird oft der Landbesitz, der dem Erbteil des verstorbenen Partners entspricht, von den Familienangehörigen des Verstorbenen wieder streitig gemacht oder sogar weggenommen (siehe Interview Nr. 6.3). Die Diskriminierung alleinstehender Frauen stellt einen Mechanismus des sozialen Drucks dar, um alle Frauen dazu zu veranlassen, zu heiraten und in der Ehe durchzuhalten. Wie effektiv dieser Mechanismus funktioniert, um Frauen davon abzuhalten, aus der Ehe auszubrechen, zeigt folgende Aussage: Paulina, 43 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Las madres solteras y las viudas me contaron bastante:

'al esposo no hay que mirar

con odio. Con el esposo hay que vivir con cariño. Cuando muere el esposo hasta el perro y la gente se hablan', me sabían decir. Por eso no hay que reñir al esposo,

sino

199 tratar con cariño, porque hace respetar a la familia (...). Si pudiera comprar la vida de mi esposo de dónde sea, lo haría. " Verheiratete Frauen werden von alleinstehenden Frauen dazu angehalten, ihren Mann bloß gut zu behandeln, damit sie nicht in die Situation kommen, respektlos behandelt zu werden und ihre Ehre einzubüßen (siehe auch Interview 4.5). Da die weibliche Ehre auch mit dem Schutz der körperlichen Integrität und vor Mißbrauch der Sexualität von Frauen verbunden ist, kann mit Bezug auf den Bourdieuschen Begriff des symbolischen Kapitals nachvollzogen werden, warum Paulina die weibliche Ehre mit Geldwerten gleichsetzt. Sie wäre bereit, Geld zu bezahlen, wenn sie damit ihre Ehre behalten könnte, die jedoch nur durch die Existenz ihres Ehemanns beizubehalten ist. Die weibliche Ehre wird subjektiv als ein wichtiges Kapital empfunden, das es unter allen Umständen zu bewahren gilt. Alleinstehende Frauen bzw. Familien mit Frauen als Familienoberhaupt werden nicht als vollwertiger Mensch oder als vollwertige Familie angesehen oder respektiert. Ausdruck dafür ist Belästigung oder gar Vergewaltigung von alleinstehenden Frauen, die von verschiedenen Interviewpartnerinnen wie von Flora beklagt wird: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Yo he visto que se han llegado a ser viudas jóvenes y a donde ella van entrando a la fuerza, nomás, viendo que no tiene hijo. Ven como si no tuviera hijo. Eso no está bien parami(...). " Alleinstehende Frauen gelten als eine Art leichte Beute. Daher ist es für sie sicherer, mit anderen Familienangehörigen, unter denen sich ein männlicher Verwandter als Haushaltsvorstand befindet, im gleichen Haus zu wohnen. Rosa, 38 Jahre alt, aus Copamaya, Seezone "De las viudas peor, los hombres se burlan, no tienen miedo de mentirse. No sé, así con eso tendrán más honor. Esas mujeres sufren mucho, deben estar muy preocupadas. De esas madres solteras se abusan los hombres, las pegan los hombres, que las han abandonado. " Männer schrecken aus der Sicht von Rosa nicht davor zurück zu lügen und von sich zu behaupten, mit alleinstehenden Frauen ein Verhältnis zu haben, auch wenn das gar nicht den Tatsachen entsprechen sollte. Sie können damit nicht nur ihre Männlichkeit beweisen, sondern ihre Ehre sozusagen auf Kosten der betroffenen Frauen noch vergrößern, deren Ruf und Ansehen geschädigt wird. Das verspielte weibliche Kapital der Ehre wird damit zum männlichen Kapital Ehre noch addiert. Eine Frau mit wenig Ehrkapital wird zudem noch eher geschlagen. Eine ganze Reihe von Interviewpartnerinnen bedauert den mangelnden Respekt und den Ehrverlust, denen alleinstehende Frauen und ihre Familien ausgesetzt

200 sind. Gerüchte verderben den Ruf der betroffenen Frauen und tragen auch zu Konflikten unter Frauen bei, so z.B. zwischen verheirateten und alleinstehenden Frauen. Alleinstehende Frauen werden oft von verheirateten Frauen diskriminiert: Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "A esas señoras viudas, madres solteras y esas señoras abandonadas veces las mujeres son las que despreciamos,

las miran mal. A

a veces decimos que hay 'machismo' y los

hombres son los que nos tratan con eso. No solamente de parte de los hombres,

las

mujeres también tratan mal. Cuando una señora ya es viuda la cela con su esposo, algunas señoras son así. Cuando una señora se encuentra abandonada,

en ese momento

no le miran con respeto. De la misma manera, a las madres solteras tampoco las miran bien. No es bueno ser madre soltera, ni madre abandonada,

es muy triste. Pero a esa

desgracia podemos caer todas. No conviene despreciar de esa manera. "

Viele Ehefrauen mißtrauen alleinstehenden Frauen und sehen sie als potentielle Rivalinnen gegenüber ihrem Ehemann (siehe Interview Nr. 12.3). Sie rechtfertigen die Sanktionen gegenüber alleinstehenden Frauen, indem sie auf konkrete schlechte Erfahrungen verweisen und diskriminieren ihrerseits alleinstehende Frauen, indem sie sich ihnen gegenüber respektlos verhalten, sich am Gerede über diese Frauen beteiligen und ihnen nur einen niedrigen Platz in der Ehrskala zubilligen. Sie zeigen weder Mitgefühl noch Solidarität mit der schwierigen Situation alleinstehender Frauen. Nur einige Interviewpartnerinnen verfugen über genügend Distanz, um wie Rosalia diese Verhaltensweisen zu erkennen und zu kritisieren. Auch die Beschreibungen der betroffenen alleinstehenden Frauen bestätigen, welchem sozialen Druck sie von Seiten der eigenen Familie und ebenso eigenen Kinder, insbesondere von ihren Söhnen, ausgesetzt sind, um die Anstandsregeln einzuhalten und keine neue Beziehung einzugehen. Ein Fehltritt in Form eines Verhältnisses mit einem verheirateten Mann gilt als sehr schwerwiegend und wirkt sich in Form von negativem Ansehen auf die ganze Familie der betroffenen Frau aus (siehe auch Interviews 3.2; 2.1; 14.1). Alleinstehende Frauen beklagen sich vor allem darüber, daß sie den sozialen und wirtschaftlichen Status als registrierte Familie der Dorfgemeinschaft mit allen Rechten unter besonders harten Bedingungen verteidigen müssen. Denn sie haben als alleinstehende Frauen mit Familie die gleichen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft wie Familien mit beiden Ehepartnern zu übernehmen. Gleichzeitig wird der weibliche Beitrag zur Gemeinschaftsarbeit in vielen Fällen nur halb so hoch bewertet wie der männliche Arbeitsbeitrag. Auf diese Weise sind alleinstehende Frauen in vielen Fällen gezwungen, zusätzlich zu den eigenen Gemeinschaftsarbeitsleistungen auch männliche Arbeitskräfte für Gemeinschaftsarbeiten einzustellen und zu bezahlen. Während sie in die Gemeinschaftsarbeit investieren, liegt ihre eigene Familien-

201 Produktion weitgehend brach. Im Vergleich dazu können sich in anderen Haushalten der Mann und die Frau die Arbeit zwischen dem Beitrag zur Familie und zur Gemeinschaft aufteilen. Neben diesen großen Nachteilen für alleinstehende Frauen in Dorfgemeinschaften müssen sie sich zudem aufgrund ihres niedrigen Ehrstatus gegenüber eigenen Verwandten und anderen Familien verteidigen, die es auf ihren Landund Viehbesitz abgesehen haben. Bei der internen Verteilung von Ressourcen innerhalb der Dörfer müssen sie hart darum kämpfen, daß ihr Mitgliedsstatus in der Dorfgemeinschaft respektiert wird.

6.4. Ein Vergleich der Ansichten von Frauen und Männern über Geschlechterverhältnisse in der Ehe Die männlichen Interviewpartner drücken sich deutlicher aus, wenn es darum geht, unter welchen Umständen ihrer Ansicht nach eine Ehe funktionieren kann oder nicht. Die weiblichen Interviewpartnerinnen gehen im Vergleich dazu bei ihrer Schilderung mehr von ihrer eigenen konkreten Situation und von ihrem subjektiven Empfinden aus. Ihre Aussagen sind wesentlich indirekter, weniger distanziert und gefühlsbetonter. Sie bergen eher Beschreibungen oder die Schilderung von konkreten Anekdoten. Frauen sind sehr viel mehr von der männlichen Wertschätzung abhängig als Männer von der weiblichen. Für Männer scheint eine Einschätzung ihrer Tätigkeiten und Fähigkeiten durch ihre Frauen weniger relevant zu sein, da sie weniger als Frauen der gesellschaftlichen Abwertung ihres Ansehens und ihrer Fähigkeiten ausgesetzt sind. Männer werden gesellschaftlich innerhalb der Aymara-Kultur ohnehin hoch bewertet, so daß sie sich um ihren Wert, ihre Ehre und ihren Ruf weit weniger sorgen müssen als Frauen. Aus der Sicht der männlichen Interviewpartner gibt es immer dann Probleme in der Ehe, wenn Mann und Frau sich nicht vorher einigen, wie die Arbeit organisiert werden soll. Immer wenn individuell gehandelt werde und einer nur für sich allein denke, tauchten Probleme auf. Gemeinsam könnten demgegenüber alle Probleme gelöst werden (siehe Interview Nr. 21.1). Ein solcher Mangel an Kommunikation in der Ehe führe zur Trennung, weil das gegenseitige Verständnis fehle. Wenn Frau und Mann nicht richtig miteinander redeten, dann würden sie das Feld nicht gut bearbeiten, ihr Vieh nicht richtig behüten. Dann fehle das Geld und es gäbe finanzielle Probleme. Dies führe zu Streit um bessere Kleidung und es falle schwer, etwas darzustellen und den Ehrstatus zu wahren (siehe Interview Nr. 20.1), der durch Kleidungspraktiken zum Ausdruck kommt (siehe hierzu auch das achte Kapitel über Kleidung).

202 Insbesondere für die Feldarbeit seien unbedingt Absprachen zwischen beiden Eheleuten wichtig und beide müßten sich sehr anstrengen, diese einzuhalten. Die Frau müsse schon sehr früh aufstehen, kochen und das Vieh versorgen. Immer dann, wenn es faule Männer oder Frauen gäbe, habe das Auswirkungen auf die Produktion, die nicht gut gelinge. Eine schlechte Produktion wird von den männlichen Interviewpartnern als eine wesentliche Ursache für Streit in der Ehe identifiziert. Auch das Gerede wird von den befragten Männern für eine Ursache von Krisen in der Ehe gehalten. Es gebe viel Redereien und Gerüchte. Man dürfe vor allem nicht hinhören, was die Leute reden. In der Ehe müsse man sehr vorsichtig miteinander umgehen. Manchmal sei der Mann sehr quengelig, manchmal sei die Frau schlecht gelaunt und dann gäbe es Streit. Es fallt auf, daß sich die befragten Männer zwar einerseits Mühe geben, nicht zu kritisch über Frauen zu sprechen. Andererseits nehmen sie Frauen jedoch als Wesen wahr, die nicht belastbar und eher zerbrechlich sind, und die sich vor allem um die Kinder und die Familie sorgen. Geringe Belastbarkeit, Ängstlichkeit und Fürsorglichkeit gehören zu männlichen Vorstellungen von Weiblichkeit. Aus männlicher Sicht sind die Frauen immer in Sorge und beunruhigt, immer um die Kinder und das Essen bekümmert, und aufgrund ihres engeren Erfahrungshorizonts und ihres geringeren Bildungsniveaus für Männer kaum Ansprechpartnerinnen. Da die Kommunikation in der Ehe eine Grundvoraussetzung für ihr Gelingen sei, handelt es sich dabei aus der Sicht der Männer um ein zentrales Problem. Die ungleichen Voraussetzungen von Männern und Frauen zur Kommunikation, zum Dialog und zur Argumentation werden von Männern allerdings kaum wahrgenommen. Für Männer stellt der Umgang mit Frauen oft eine Geduldsprobe dar, da Frauen aus ihrer Sicht langsam und überlastet seien, man ihnen nicht zuviel aufbürden könne und weil sie "ein kurzes Gedächtnis haben" oder "nur wenig lernfahig sind". Die Kommunikation zwischen beiden Partnern ist oft gestört und für viele Männer unbefriedigend. Für Frauen besteht demgegenüber das Problem im aus ihrer Sicht mangelnden Einfühlungsvermögen und Verständnis der Männer für ihre Situation und ihre Probleme und in ihrer eigenen Unfähigkeit sich auszudrücken, sich verständlich zu machen, oder ihren Standpunkt zu vertreten. Entweder sie trauen sich aus mangelndem Selbstwertgefühl nicht, dem Ehemann zu widersprechen, oder sie sind es einfach nicht gewohnt, in Form eines Dialogs so zu argumentieren, daß sie vom Ehemann ernst genommen werden. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Männer sich und ihre Beziehung zur Ehefrau im Gegensatz zu den Frauen nicht in bezug auf die Frau und deren Persönlichkeit definieren. Keiner der Interviewpartner sagt etwas darüber, wie er seine Frau einschätzt, ob sie Fähigkeiten hat, ob sie fleißig oder faul ist, oder ob er sich von ihr gut oder schlecht behandelt fühlt, ob sie gut kochen oder weben kann, oder ob sie mit den Kindern gut umgeht. Vielen Männern fehlt

203 der Überblick über die Gesamtheit der benötigten Tätigkeiten, Fähigkeiten und Arbeitsschritte im Familienbetrieb und sie treffen daher häufig Entscheidungen, mit denen Frauen nicht einverstanden sind, oder die sie zusätzlich belasten. Die zusätzliche Belastung oder die abweichende Meinung der Frauen wird von Männern entweder nicht wahrgenommen, oder in Kauf genommen und für unwesentlich gehalten und von Frauen selten artikuliert und sichtbar gemacht. Der Versuch der Frauen, sich in diesen Fällen unterzuordnen, endet häufig mit völliger Überlastung und unzureichender Leistung, auf die Männer wiederum mit Druck und Sanktionen in Form von Abwertung, Beschimpfung, Verspotten oder körperlicher Gewaltanwendung reagieren.

6.5. Gewalt in der Ehe Geschichtlich betrachtet haben Aymara seit dem Beginn der Kolonialzeit, insbesondere bei der Christianisierung und auf den Hazienden viel Gewalt als Unterdrückungsmechanismus erfahren (siehe auch Interview 10.3). Prügelstrafen sind heute sowohl in der Kindererziehung üblich als auch eine sozial legitimierte Sanktionsform unter Erwachsenen. Wie bei eigenen Beobachtungen vor Ort festgestellt werden konnte, kann es zwar auch vorkommen, daß Ehefrauen beispielsweise verzweifelt auf ihre betrunkenen Ehemänner einschlagen, um sie dazu zu bewegen, endlich mit nach Hause zu kommen. Dazu gibt es in den Interviews jedoch keine einzige Referenz, weder von Männern noch von Frauen. Wesentlich häufiger ist jedoch die Gewalt des Mannes seiner Ehefrau gegenüber sowohl im als privat zugeordneten Bereich innerhalb des Gehöfts und auf dem Feld oder der Weidefläche als auch in der Öffentlichkeit zugeordneten Bereichen inner- und außerhalb des Dorfes wie bei Festen oder auf den Märkten. Dabei spielt bei Schlägen in der Öffentlichkeit der Alkoholkonsum eine wichtige Rolle. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die auch heute zur Gewaltanwendung in der Ehe gegenüber andinen Landfrauen beitragen können, darunter ein asymmetrischer Beitrag von Frauen und Männern zu den Familienressourcen oder Erbschaftskonflikte nach der Heirat, insbesondere im Falle von knappen Ressourcen. Aber auch Rivalitäten zwischen den Familienverbänden der Eheleute, fehlende Fähigkeiten oder unzureichende Erfüllung ihrer Aufgaben und Rollen, Ungehorsamkeit gegenüber dem Ehemann, Normenbrüche in bezug auf Anstandsregeln oder die Institution der Zwangsheirat können Gewalt in der Ehe zur Folge haben. Perfiderweise führen Vorstellungen der männlichen Überlegenheit, die Abwertung von Frauen, ihrer Ehre und ihrer Arbeit (Frauen sind keine vollwertigen Menschen, daher müssen sie nicht respektiert werden) zur Legitimation von Gewaltanwendung durch den Ehemann oder andere Familienmitglieder in den

204 Augen der Gemeinschaft. Die Überlastung der Frauen und Familie durch viele Kleinkinder und knappe Ressourcen ist eines der am häufigsten angeführten Streitthemen in der Ehe, die Gewaltanwendung zur Folge haben können. Ein geringes Selbstwertgefühl der Frauen durch niedrigen Bildungsgrad und Unkenntnis ihrer Rechte schränken ihre Möglichkeiten zur Verteidigung eigener Interessen mit Hilfe von Argumenten und einer selbstbewußteren Haltung drastisch ein. Wenn zudem keine männlichen Familienangehörigen (durch Abwesenheit, Waisenstatus oder Unwilligkeit aufgrund der Verletzung von Normen) zur Verteidigung der Frau zur Verfügung stehen, können Frauen der Gewaltanwendung in der Ehe ausgeliefert sein, da es außerhalb der Verwandtschaft in den Dorfgemeinschaften keine legitimierte juristische Instanz gibt, an die Frauen sich im Fall von Mißbrauch und Gewalt wenden könnten. Einige Frauen gehen davon aus, daß ihre Mütter und Großmütter häufiger geschlagen worden seien als Frauen heute. Sie führen als Begründung für diese Einschätzung die Verhältnisse auf den Großgrundbesitzen vor der Agrarreform an: Neben den eigenen Verwandten hätten auch die Besitzer von Hazienden und deren Angestellte die Frauen geschlagen. Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Antiguamente las mujeres se han visto muy maltratadas,

a golpe de patadas, a golpe

de puñetes y pura pelea manejaban los hombres a las mujeres. De la misma manera, cuando no se cocinaba la comida rápidamente, las pegaban. De cualquier cosa ellas se veían pegadas. De parte de nuestros esposos, así como de parte de los que vienen de lejos, diremos de los mistis, también nos hemos visto muy maltratadas.

Igualmente se

veían maltratadas por el hombre. Las mujeres han sufrido bastante en los tiempos antiguos. "

Früher hätten sowohl die Ehemänner als auch Mestizen als Großgrundbesitzer auf die Frauen eingeschlagen. Dies habe sich auch auf das Verhalten der Ehemänner ausgewirkt, die bei jeder Kleinigkeit auf ihre Ehefrauen eingeschlagen hätten. Das Thema Gewalt in der Ehe wird von den Interviewpartnerinnen aus der Seezone häufiger und ausführlicher als von Frauen aus anderen ökologischen Zonen thematisiert (siehe Interview Nr. 6.1 mit einer Gesundheitspromotorin aus der Seezone). Möglicherweise nimmt die körperliche Gewaltanwendung in der Ehe mit der Verknappung von Ressourcen und zunehmender männlicher Migrationserfahrung zu. Bei Ressourcenknappheit steht jedoch nicht nur der Landbesitz im Vordergrund, sondern auch die ständig steigenden Lebenshaltungskosten und die immer weiter fallenden Preise für Agrarprodukte auf dem Markt im Rahmen des ungleichen Tauschs, der Einsatz der männlichen und weiblichen Arbeitskraft inner- und außerhalb der Dorfgemeinschaft sowie Verteilungskämp-

205 fe von Familien untereinander, wie bei Erbschaftsproblemen, von denen alle Aymara betroffen sind. Referenzen zur Gewalt in der Ehe kommen aus allen drei ökologischen Zonen, ohne daß ausdrücklich danach gefragt worden wäre. Dabei spielt die prekäre Lage von besonders armen Familien eine besondere Rolle. Vor allem Frauen aus unvollständigen Familien mit unklaren Abstammungsregeln und ungeklärten Erbschaftsverhältnissen, mit niedrigem Bildungsgrad, ohne Angehörige vor Ort, die sie verteidigen könnten, oder mit geringem Ehrkapital sind der Gewaltanwendung durch Männer inner- und außerhalb der Ehe ausgeliefert und können sich kaum dagegen wehren. Allerdings beschreibt die Mehrheit der Frauen die Anwendung körperlicher Gewalt durch ihren Ehemann in konfliktiven Beziehungssituationen, die entweder mit dem Weg zum Feld, mit der Feldarbeit oder mit dem Kochen zu tun haben. So werden Männer leicht gewalttätig, wenn ihre Frau zu lange braucht, wenn sie z.B. zu langsam geht, sich von den Kindern aufhalten läßt oder aus der Sicht der Ehemänner nicht schnell genug gekocht hat. Körperliche Gewalt in der Ehe findet mit Tritten, Stößen, Schubsen, Boxen, Ziehen an den Haaren (Zöpfen), Ohrfeigen, oder richtigem Prügeln mit einem harten Gegenstand statt. Der Alkoholkonsum auf Festen, bei Gemeinschaftsarbeiten oder auf Märkten erhöht die Gewaltbereitschaft der Ehemänner (siehe Interview. 1.2). Frauen verweisen auch häufiger darauf, daß ihr Mann dem sozialen Druck seiner Familie ausgesetzt sein kann, von der er zur Nutzung körperlicher Gewalt gegenüber seiner Frau angestiftet wird (vgl. hierzu das sechste Kapitel über die Normenbrüche gegen die Zwangsheirat); vor allem dann, wenn seine Familie mit der Ehe nicht einverstanden war oder der Ansicht ist, die Frau würde ihrer Verantwortung nur ungenügend nachkommen. Aber auch im Falle von Erbschaftskonflikten, z.B. bei einer unvorhergesehenen Benachteiligung der Frau durch ihre eigene Familie, kann eine Sanktionsform der Familie des Mannes in der Anstiftung des Mannes zur Bestrafung seiner Frau in Form von körperlicher Gewalt bestehen. Normenbrüche rechtfertigen in den Augen der meisten Interviewpartnerinnen und Interviewpartner die Anwendung von körperlicher und psychischer Gewalt in Geschlechterverhältnissen. De la Torre (1995: 16-18) schildert vergleichbare Beispiele aus der Region von Cajamarca in den Nordanden Perus, in denen das Spannungsverhältnis zwischen ländlichen und städtischen Wertsystemen, Normen und Regeln, beispielsweise im Fall von Erbschaftskonflikten, eine Ursache der Gewaltanwendung gegen Frauen sein kann. Sie bezieht sich dabei auf die Praxis älterer Ehepaare, die allein blieben, weil alle Kinder an die Küste migrierten. Sie würden oft im Alter von einem Enkelkind versorgt, das gleichzeitig wie ein Kind bei den Großeltern aufwachse. Als Gegenleistung werde diesem Enkelkind ein größeres Erbe zugedacht als den eigenen Kindern, die migriert

206 sind, weil diese ihre Eltern im Alter nicht mehr ausreichend unterstützt haben. Fehlende Solidarität und Versorgung der Angehörigen werde auf diese Weise in ganz materieller Form sanktioniert. Die betroffenen Migranten aus Cajamarca wollten die beschriebenen Werte ihrer Eltern jedoch nicht immer anerkennen und bedienten sich notfalls staatlicher Institutionen wie den Gerichten, um sich ihre Erbschaft zu erhalten3. Auf diese Weise gerieten häufig vor allem Frauen in die prekäre Lage, daß andere Familienmitglieder ihnen ihren Erbschaftsanteil streitig machten, mit dem die Familie ihres Mannes seit langem fest gerechnet hat. In Puno lassen viele Eltern zu Lebzeiten einige Parzellen von ihren erwachsenen Kindern bestellen und teilen mit diesen dann die Ernteerträge. Damit wird impliziert, daß die entsprechende Parzelle ein Teil der Erbschaft der Töchter oder Söhne sein wird. Ein Kind, das sehr jung migriert und den Eltern auf dem Land wenig geholfen hat, kann nach den Erbschaftsregeln keine gleichwertige Erbschaft reklamieren, wie diejenigen Kinder, die geblieben sind und hart auf dem Familienbesitz gearbeitet haben. Kinder, die auch noch studiert haben, können häufig überhaupt keine weitere Erbschaft reklamieren. Sie haben schon ihren Teil der Erbschaft in Form von Bildung erhalten. Die geschilderte herkömmliche Praxis steht jedoch oft im Gegensatz zur formalen nationalen Gesetzgebung. Daher kommt es vor, daß Migranten aus Dörfern ohne offiziell anerkannte Gemeinschaftslandtitel mit Informationen über die nationalen Gesetze zurückkehren und die Familientradition nicht mehr anerkennen wollen. Sie gehen vor Gericht, um ihren Teil der Erbschaft einzuklagen, wie folgender Fall aus einem Dorf aus der Seezone ohne gemeinschaftlichen Landtitel zeigt: Lucia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "(...) mi mamita era huérfana. Su madre había fallecido. Después tenía un hijo menor. Ese es bien educadof...).

Son profesores,

ingenieros. Porque ellos tienen dinero, por

eso nos han... nos quieren desheredar. Hasta quieren terreno (...) no tendrá

corazón,

¿no? Ahí también nos han acusado de cualquier cosa y pagan dinero. Después

siempre

quieren deshacerse (...). "

Im geschilderten Fall kommt noch dazu, daß es sich bei dem Migranten um ein Kind aus einer zweiten Ehe eines der Eheleute - in diesem Fall der Mutter - handelt, also um jemanden aus unklaren Herkunftsverhältnissen. Der Halbbruder von Lucia beansprucht einen Anteil, der ihm von den anderen Familienmitgliedern nicht zuerkannt wird, weil er nur Sohn der Mutter ist und außerdem schon eine Ausbildung erhalten hat. Lucia beschreibt, daß ausgebildete Aymara als Lehrer oder Ingenieure anderen Verwandten gegenüber im Vorteil sind, weil sie einen besseren Zugang zu Rechtsanwälten und Richtern besitzen, und über Geld 3

Dies ist im Gegensatz zu der Mehrheit der Dorfgemeinschaften von Puno in der Region von Cajamarca möglich, da es dort keine gemeinschaftlichen Landtitel gibt.

207 zur Bestechung verfugen. Landfrauen sind gegenüber dem Justizapparat aufgrund fehlender Spanischkenntnisse, durch Analphabetismus, geringes Geldeinkommen und Diskriminierung noch einmal besonders benachteiligt, wenn es darum geht, ihre Rechte und ihr Ehrkapital zu verteidigen. Erbschaftskonflikte und Ehrgefühl fuhren dazu, daß jedes Familienmitglied unter anderen Familienmitgliedern nach Verbündeten sucht. Auf diese Weise entstehen Allianzen und Fronten innerhalb von Familien, die sich untereinander bekämpfen. Auch Rivalitäten zwischen den Familien beider Ehepartner können auf diese Weise geschürt werden und dramatische Auswirkungen auf die betroffenen Frauen haben. Sie sind einem extremen Druck durch die Familie und den Partner selbst ausgesetzt, da seit der Heirat mit dieser Erbschaft der Frau gerechnet wurde. De la Torre (1995: 25) kommt in ihrer Untersuchung über Formen der Gewalt gegenüber Landfrauen in Cajamarca zu der Vermutung, daß die verbale Beschimpfung und die Abwertung des Beitrags und des Werts von Frauen noch weitergehende schwerwiegendere Folgen als die körperliche Mißhandlung hat. Auch bei den ländlichen Aymara von Puno kann davon ausgegangen werden, daß Beleidigungen, Beschimpfungen, Mißachtung oder beispielsweise die Ablehnung der von ihr zubereiteten Mahlzeiten nicht nur einen Ehrverlust der Frau bedeuten, sondern daß sich Frauen auch tief getroffen fühlen, emotional verletzt sind und mit noch größerer Verbitterung reagieren, als wenn sie geschlagen werden. Frauen empfinden eine unerträgliche Erniedrigung und schreckliche Scham oder unermeßliche Wut und Ohnmachtsgefühle. Sie können plötzlich nicht mehr denken und werden physisch wie psychisch annulliert: Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Con las riñas moralmente nos maltrata el esposo. Entonces las pobres mujeres estamos atontadas. ¡Pobres mujeres! No conviene maltratar así. "

Männer machen sich oft über Frauen lustig. Wenn Frauen wütend werden, dann werden sie erst recht verspottet: Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Se ríen de nosotras. Así son. Por eso duele bastante mi corazón a veces. Por eso a veces pensamos

algo, nos amargamos

mucho y ese momento podemos

hacer

algo.

Cuando nos amargamos bastante nos duele mucho el corazón, y ellos se ríen de nosotras ".

Nach Ansicht von Rosalía sind wütende Frauen auch zu Gewaltanwendung fähig. Es überwiegt jedoch die passive Ohnmacht gegenüber der strukturell begründeten Form von Gewalt gegen Frauen. Somatische, physische Reaktionen bei Frauen wie Schwindel, Übelkeit, niedriger Blutdruck, starke Kopfschmerzen,

208 Depressionen usw. können die Folge sein. Landfrauen sind extrem sensibel, wenn sie der Lächerlichkeit und Erniedrigung preisgegeben werden, da damit ihr wichtigstes Kapital, die weibliche Ehre in Frage gestellt wird und nur wenige Möglichkeiten bestehen, dieses verlorene Kapital zu verteidigen. De la Torre (1995: 26) hat dieses Phänomen als Hypersensibilität gegenüber der Gruppenmeinung in andinen Gesellschaften bezeichnet. Es gibt eine große Angst vor dem Gerede der Leute, vor dem "was denn die Leute sagen könnten." Bei den Aymara verstößt die moralische Mißhandlung gegen die Regeln der Höflichkeit und des gegenseitigen Respekts, der vor allem verheirateten Personen gegenüber "als vollwertigen Menschen" vorgeschrieben ist. Nachdem Mädchen von klein auf beigebracht wird, daß sie heiraten müssen, um soziale Anerkennung und Respekt zu gewinnen, müssen sie nach der Heirat feststellen, daß ihnen in vielen Situationen auch weiterhin Respekt versagt wird. Rosalia hebt daher hervor, daß Frauen ihren Mann sehr wohl mit Respekt behandeln. Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Lo que hacemos nosotras debe tener valor, que no nos maltraten así. Nosotras también vemos a ellos con respeto. "

Aber während Frauen ständig um den Erhalt ihrer Ehre und ihres Wertes als vollständiger Mensch und als Person kämpfen müssen, stehen diese den Männern einfach zu. Männer, Väter und Ehepartner, aber auch Frauen, Mütter und Schwiegermütter wissen genau, mit welchen Worten und in welcher Form sie eine Frau besonders erniedrigen können. Eine besondere Rolle spielt dabei der symbolische Wert von zubereiteten Speisen. Eine verbreitete Form der Erniedrigung von Frauen besteht darin, ihr das Essen vorzuenthalten, weil sie es nicht wert ist, oder das von ihr zubereitete Essen zurückzuweisen. Wenn der Mann das Essen nicht anrührt, dann dürfen auch die anderen Familienmitglieder nichts essen. Die Frau hat also nicht nur umsonst gearbeitet, sondern sie muß hungrig bleiben und die hungrigen Kinder ruhig halten: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "A veces cuando no cocinamos rápido el fiambre, el esposo sabe encapricharse y se va. Nosotras así no más pasamos el día en la casa, triste y sin comer. Cuando llega por la tarde recién comemos juntos, no sabemos comer aparte. "

Wie diese, so gibt es eine ganze Reihe von Praktiken, die fast wie Rituale von Männern zur Disziplinierung von Frauen in Form von psychischer Mißhandlung eingesetzt werden. Nicht immer steht dabei die körperliche Gewalt im Vordergrund, die vor allem als eine Art Zuspitzung der Rufschädigung von Frauen betrachtet werden muß. Die Abwertung von frauenbestimmten Räumen, wie z.B. der Kochkunst, die ohnehin durch den Wandel, die Knappheit und die städtischen Speisen einen

209 ausgeprägten Wertverlust erfahren hat, wird zur Kontrolle über Frauen eingesetzt. Damit wird ganz gezielt das Fundament weiblicher Machtausübung untergraben. Zwei der vier männlichen Interviewpartner geben ohne ausdrückliche Nachfrage zu, daß es Gewalt von Männern gegenüber Frauen gibt und äußern sich kritisch darüber. Der eine bringt das Thema mit Praktiken und historischen Bezügen in Verbindung. Leider sei es Tradition, daß Frauen nicht immer gut behandelt würden, vor allem, wenn von den Beteiligten nicht richtig nachgedacht und nicht miteinander geredet werde. Früher seien Frauen wie Bedienstete angesehen worden. Eine Frau sei soviel wert gewesen wie ein Hund. Er vertritt jedoch die Ansicht, daß sich die Situation im Vergleich zu früher wesentlich verbessert habe. Dafür macht er vor allem Einflüsse der Außenwelt verantwortlich, so z.B. die Tatsache, daß Frauen jetzt das Wahlrecht, die volle Staatsbürgerschaft und einen Ausweis besitzen. Damit seien Frauen jetzt gleich. Im Dorf würden Frauen deshalb heute im wesentlichen gleich behandelt und nicht mehr so erniedrigt. Der andere Interviewpartner sieht vor allem im Brauch der Zwangsheirat und des Mangels an Zuneigung und Liebe zwischen den Partnern eine der Ursachen für fehlendes gegenseitiges Verständnis und für Konflikte und Gewalt in der Ehe. Während der eine betont, daß die Gewalt gegen Frauen heute durch Einflüsse von außen abgenommen und die Gleichberechtigung der Frauen zugenommen habe, geht der andere davon aus, daß die Weiterführung von Praktiken wie der Zwangsheirat im Kontext zunehmender Ressourcenknappheit und Armut eher eine Verschärfung der Gewaltanwendung gegen Frauen mit sich gebracht haben. Von den Interviewpartnerinnen wird die Gewaltanwendung des Ehemanns gegenüber der Ehefrau grundsätzlich abgelehnt. Aber eine kleine Minderheit rechtfertigt Gewalt gegen Frauen in der Ehe für den Fall, daß eine Frau ihre Aufgaben nicht richtig erledigt oder Fehler macht. Lucia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "(...) mi esposo tampoco suele pegarme.

Yo cumplo con mi deber. Luego no hay de qué

discutir. Si yo haría mal las cosas, entonces mi esposo por mi falta puede

reprenderme.

Si nosotros vamos a cumplir con todos los deberes, entonces no hay problema. Bien no más vivimos."

Lucía vertritt die Ansicht, daß sie selbst alles richtig macht und gehorsam ist. Daher gäbe es in ihrem persönlichen Fall in der Ehe keinen Anlaß für eine Bestrafung durch ihren Mann. Lucia begibt sich mit dieser Argumentation auf die Ebene des Vater-Tochter-Verhältnisses in der Ehe. Damit erkennt sie das Recht des Ehepartners an, sie wie ein Kind dann körperlich zu bestrafen, wenn sie seinen Anforderungen und Erwartungen nicht ausreichend entspricht. Sie hat mit dieser Haltung die Legitimation von Gewalt gegen Frauen in der Ehe verinnerlicht.

210 Von siebzehn Interviewpartnerinnen berichten sieben, daß sie von ihrem Mann geschlagen werden. Sechs Frauen geben an, "glücklicherweise" nicht geschlagen, sondern "nur beschimpft" zu werden. Es steht zu vermuten, daß auch ein Teil dieser Frauen geschlagen wird, die das aus Gründen der Diskretion und ihres Ansehens und der Familienehre wegen aber nicht erwähnen. Einerseits handelt es sich um ein Tabuthema, weil ihr Ehrstatus auf dem Spiel stehen kann, andererseits werden sie vielleicht nicht regelmäßig geschlagen. Drei Frauen erwähnen zwar das Thema Gewalt in bezug auf ihre eigene Ehe nicht. Sie behandeln das Thema jedoch in Form von Beispielen anderer Frauen in der Dorfgemeinschaft. Alle Interviewpartnerinnen (mit Ausnahme alleinstehender Frauen) äußern sich jedoch zum Thema der Gewalt in der Ehe, ohne ausdrücklich danach gefragt worden zu sein. Es muß daher davon ausgegangen werden, daß die Anwendung von physischer und psychischer Gewalt gegen Frauen in der Ehe unter den ländlichen Aymara von Puno ausgesprochen verbreitet ist und möglicherweise zunimmt, weil zunehmende Handlungsalternativen von Frauen einen erhöhten Druck bis Zwang zur Durchsetzung von Verhaltensweisen von Frauen voraussetzen, die für die Reproduktion der dörflichen Lebenswelt der Aymara benötigt werden. Insgesamt entsteht der Eindruck, daß Frauen der Gewalt in der Ehe durch ihren Ehemann weitgehend ausgeliefert sind und insbesondere im Fall von moralischem Druck in Form von Beschimpfungen und Demütigungen nur über wenig Handlungsräume verfugen, um sich dagegen zu wehren. Frauen mit einem größeren Selbstwertgefühl können sich besser selbst verteidigen als Frauen, die weder lesen noch schreiben können, kein Spanisch sprechen und nicht zur Schule gegangen sind (siehe Interviews Nr. 6.2; 3.3). Zum einen hängt das Selbstwertgefiihl mit dem Ehrgefühl zusammen und alphabetisierte Frauen mit Spanischkenntnissen werden mehr respektiert als Analphabetinnen. Zum anderen können sich alphabetisierte, zweisprachige Frauen mit Argumenten besser verständlich machen. Sie neigen daher weniger dazu, eine Opferhaltung einzunehmen und beugen damit der Gewalt in der Ehe vor. Frauen mit einem höheren Ehrkapital haben eine höhere Erbschaft mit in die Ehe gebracht und daher auch eine andere Verhandlungsposition ihrem Ehemann gegenüber als Frauen aus ärmeren Familien und mit niedrigem Ansehen. Eine Strategie zur Verhinderung von Wut- oder Gewaltausbrüchen des Ehemanns besteht darin, ihm nicht zu widersprechen, seine Beschimpfungen schweigend über sich ergehen zu lassen und den Ärger und die Verbitterung in sich hineinzufressen. Mit etwas Glück entlädt er seine Wut und beruhigt sich dann von selbst, ohne eine Eskalation bis zur physischen Gewaltanwendung. Diese Strategie kommt vor allem bei cholerisch veranlagten Partnern zur Anwendung, wenn die Frau erlebt hat, daß sie seinen Wutanfallen gegenüber weitgehend ohnmächtig ist (siehe Interview Nr. 5.5).

211 Aus den Schilderungen der Interviewpartnerinnen wird deutlich, daß es keine kommunale oder anderweitig organisierte juristische Instanz auf den Dörfern gibt, bei der Gewaltanwendung durch den Ehepartner angezeigt werden kann und die den betroffenen Frauen einen Schutz bietet. Eine vergleichbare Instanz wie z.B. in einigen Gebieten von Cajamarca, wo die rondas gewalttätige Ehemänner bestrafen, gibt es in Puno nicht. Dort wird das Problem der Gewalt gegen Frauen als ein privates Familienproblem angesehen, das nur von den Verwandten der Frau oder den Trauzeugen thematisiert und sanktioniert werden darf. Sind diese jedoch nicht vorhanden, sei es weil die Frau Waise oder Halbwaise ist, sei es weil sie migriert sind, oder sei es, weil sie ohnehin mit der Ehe nicht einverstanden waren, dann bleibt der Betroffenen nur die Option, ihren Mann aus Eigeninitiative zu verlassen (siehe Interview Nr. 5.4). Obwohl eine Frau mit diesem Schritt ihre Existenzgrundlage, ihr Ansehen im Dorf, ihre Ehre und das Sorgerecht für ihre Kinder riskiert, gibt es unter den befragten Frauen zwei, die angeben, ihren Ehemann aufgrund von Gewaltanwendung verlassen zu haben, und eine, die diesen Schritt gerade erwägt. In einem anderen Fall hat die Mutter ihrer Tochter geraten, ihren Ehemann doch zu verlassen, und wieder in ihr Elternhaus zurückzuziehen. Eine Alternative für Frauen zur herkömmlichen Dorforganisation scheint in einigen Dörfern die adventistische Gemeinde zu bieten. So berichtet eine Interviewpartnerin, sie sei gemeinsam mit ihrem Mann den Adventisten beigetreten, um Hilfe gegenüber der Gewalttätigkeit ihres Mannes zu suchen (siehe Interview Nr. 1.4). Seit ihre Familie zu den Adventisten konvertiert sei, trinke er keinen Alkohol mehr und habe in Gesprächen erkannt, daß seine Kinder sehr unter seinen Gewaltausbrüchen leiden. Ein weiterer Interviewpartner berichtet davon, daß bei den Adventisten auch das Problem der emotionalen und sexuellen Befriedigung im Rahmen von durch Zwangsheirat geschlossenen Ehen thematisiert und diese Praxis als Auslöser für Gewalt gegen Frauen in der Ehe kritisch betrachtet wird. Schließlich gibt es Frauen, die "der Kinder wegen" die Tortur einer schlechten Ehe aushalten (siehe Interview Nr. 3.4). Und in einigen Frauenorganisationen, wie den clubes de madres, geben Frauen sich gegenseitig Ratschläge, wie sie mit dem Problem der Gewalt in der Ehe umgehen können (siehe Interview Nr. 10.4). Allerdings ist es bis dahin ein weiter Weg: zunächst muß die Angst vor Gerüchten und Gerede, vor Statusverlust, vor Diskriminierung unter Frauen und vor Repressalien der Männer überwunden werden, bevor in der Frauenorganisation überhaupt das Thema von Gewalt in der Ehe angesprochen werden kann. Nur wenige Frauenorganisationen schaffen diesen Weg bis zu einer Art Selbsterfahrungsgruppe und nur mit Hilfe der Orientierung durch Fachpersonal von außen, darunter aus Kirchengemeinden oder aus Entwicklungsprojekten, die das Thema bisher jedoch eher in Ausnahmefällen behandeln.

212 Das Fallbeispiel der Ehe von Flora, die mit 14 Jahren als einsprachige Analphabetin an einen 22-jährigen Mann und Alleinerben einer einflußreichen Familie aus dem gleichen Dorf mit Berufsausbildung an der Küste verheiratet wurde, gibt aufschlußreiche Hinweise auf die Auswirkungen der Koexistenz unterschiedlicher Wertsysteme und der zunehmenden Distanz zwischen den Geschlechtern auf die Institution der Ehe und auf die Geschlechterverhältnisse bei den Aymara heute. Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi esposo es muy colérico hasta para los hijos. De igual manera para su mujer, es decir para mí. (...) Mi esposo valora cuando se va de la casa. La mujer nos quedamos con los hijos o me quedo sola, entonces trabajamos la chacra y cuidamos los animales. Esas cosas nomás me está valorando. A veces me ausento a cualquier otro sitio y me dice que estoy perdiendo por gusto el tiempo. Otras veces me dice que vaya, nomás, pues. Ya has trabajado en la casa. De repente te has aburrido, anda a ver las cosas, diciendo. Así, nomás, es. Después trabajo la chacra. Eso, nomás, siempre hago. " Flora beschreibt die Folgen der Tatsache, daß ihr Mann als Lehrer tätig ist und die Landarbeit ganz seiner Frau und seinen Kindern überläßt. Wenn sie jedoch das Dorf verläßt, um auf den Markt zu gehen oder an einer Versammlung der Frauenorganisation teilzunehmen, dann nimmt er dazu eine widerprüchliche Haltung ein. Manchmal wirft er ihr vor, ihre Zeit zu verschwenden. In anderen Fällen, wenn sichergestellt ist, daß der Hof trotzdem ohne ihn weiter läuft, läßt er sie gehen, "damit sie sich auf dem Land nicht so langweilt". Auf diese Weise bringt er seine Abwertung der "Hausarbeit" auf dem Hof zum Ausdruck. Flora beschreibt im Detail, welche Unlust ihr Mann bei der von ihm entwerteten Landarbeit verspürt: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi esposo no sabe trabajar, no. Uno que otro día trabaja con la yunta. Por eso es dificil trabajar con él. Ya se discute. Hasta a los bueyes los golpea, de paso nos golpea hasta a nosotros más y luego dijimos 'porqué golpeas a la yunta?' Entonces es problemático pelear marido y mujer. Mejor estoy trabajando con mis hijos, como los hijos ya son creciditos. Entonces ya con ellos más bien comentamos. 'Que tu padre se vaya nomás, nosotros trabajaremos'. Así les digo, uno trabaja y el otro descansa, el otro saca el surco con la yunta y uno de ellos descansa. Con ellos vivo alegre no más. Por eso a veces solemos decir como en broma 'qué falta nos vas a hacer tú, anda donde sea a pasear' le digo a veces. Así nomás es mi esposo. Reniega mucho, hasta para los animales. Quizás por lo que es único hijo mayor. Tal vez será por eso (...). Por eso hay caso decir: 'si a una chacra llegamos marido y mujer peleando para trabajar, quizás por eso, no producirá la chacra', el marido debe ser bien (...). "

213 Ihr Mann bringt bei der Arbeit auf dem Feld seine ganze Frustration über seine Situation als Bauer zum Ausdruck, die seinem Status als Lehrer und seinen Ansprüchen an sich selbst offenbar nicht mehr entspricht. Die ganze Familie leidet unter seinen Wutausbrüchen und dem Produktionsausfall aufgrund seiner fehlenden Arbeitskraft. Flora bleibt schließlich nur der Ausweg, allein die Verantwortung für die Arbeit auf dem Hof mit Hilfe ihrer erwachsenen Söhne zu übernehmen und auf die Arbeitskraft ihres Partners zu verzichten. Ihre Situation ähnelt damit zunehmend der von alleinstehenden Frauen. Sie vergleicht ihre heutige Situation mit dem Beginn ihrer Ehe und beschreibt, wie sie versucht, sich gegen die alleinige Verantwortung fiir die landwirtschaftliche Produktion zu wehren: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi esposo me sabia ayudar cuando mis hijos estaban pequeños. En ese momento me ayudaba a moler, diciendo, 'te lo moleré la quinua, te lo jalaré agua'. Ahora cuando mis hijos ya son creciditos mi esposo se ha conseguido su trabajo y se va a su centro de trabajo. Ya nada quiere hacer diciendo que gana dinero. Hasta con eso me saca en cara. Entonces ya no le hacemos trabajar nada y parece que se ha vuelto más flojo. Ya no trabaja la chacra ni nada nos ayuda. '¿Acaso yo sólita como?, ambos comemos los frutos de la chacra', sé decirle. A veces discutimos de esa manera. Ya no se acuerda en ayudarme (...). Pienso que entre esposos debemos vivir muy bien y trabajar mejor, ayudarse entre ambos. Eso quiero, pero mi esposo no quiere. 'Yo gano (dinero)', diciendo. Entonces para la mujer es muy difícil y hay que pensar bien en todas esas cosas. " Ihr Mann begründet seine Weigerung zur Feldarbeit damit, daß er Geld verdiene. Flora hält ihn fiir faul und entgegnet mit dem Argument, daß er schließlich auch von der Landwirtschaft lebe und nicht nur von seinem Gehalt. Sie fordert auch weiterhin die gemeinsame Arbeit und seinen Arbeitsbeitrag in der Produktion. Doch seiner Weigerung gegenüber bleibt sie weitgehend machtlos. Die Ehekrise hat mit ihrer Verzweiflung den Höhepunkt erreicht und es bleibt nur noch eine Frage der Zeit, wie lange Flora diese Situation aushält. Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Entonces a veces hay ganas de llorar, recordando a los padres. En estos tiempos, los jóvenes y las jóvenes se emparejan conociéndose bien. Ambos se conocen el genio. Por esas cosas hay motivo para llorar bastante. Por eso, a veces mis hijos me dicen, 'a ti te entregaron tus padres a punta de látigos y acaso te considera bien. Qué bien te hace llorar?' diciendo me hablan (...). Mis hijos me dicen: 'anda, vete, te vas a perder por unos dos meses, después él va a saber (...) 'pero la gente diría: 'andando en esa organización de mujeres esa mujer ya no anda bien, por eso se fue!', diciendo, me pueden criticar. Por eso nomás me quedo. Después de un momento a otro se enoja y me pega puñetes y patadas en cualquier parte del cuerpo (...) por eso a veces hay ganas de lio-

214 rar bastante. Mi mamá está en Tacna. Entonces así nomás estoy. Ni mi papá ni mi suegra vive, así, nomás, estoy llorando (...). "

Flora macht ihre Eltern und die Zwangsheirat - mit einer aus ihrer Sicht für eine Ehe ungeeigneten Person - für ihre Situation verantwortlich. Ihre Kinder beobachten ihre Ausweglosigkeit und Verzweiflung und raten ihr zu drastischeren Schritten wie beispielsweise der Migration für mehrere Monate. Doch für Flora steht damit ihr Ruf im Dorf und ihre Funktion im Vorstand der Frauenorganisation auf dem Spiel. Sie hat Angst vor der Kritik im Dorf und bleibt. Sie beschreibt, wie sie sogar die Fußtritte und Faustschläge ihres Mannes aushält, ohne auf die Verteidigung ihrer Familienangehörigen zurückgreifen zu können, die entweder schon gestorben oder aber an die Küste migriert sind. Mit ihrem Festhalten am guten Ruf bewegt sie sich weiterhin innerhalb des Wertsystems der Lebenswelt der Aymara. Sie muß sich um ihre weibliche Ehre sorgen, während ihr Mann seine männliche Ehre einfach mit neuem Inhalt gefüllt hat: Anstelle seiner physischen Arbeit in der landwirtschaftlichen Produktion verdient er jetzt Geld und ist als Lehrer mit Gehalt im Dorf sehr gut angesehen. Ohne Migrationserfahrungen und mit geringen Spanischkenntnissen bleiben Floras Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt; die Migration ist für sie zunächst kein Ausweg aus der Situation. Außerdem bliebe in ihrem Fall die Bewirtschaftung des Hofes weitgehend ungeklärt, da nicht sichergestellt ist, ob ihre erwachsenen Kinder auch in Zukunft im Dorf bleiben werden. Schließlich hält sie es doch nicht mehr aus und flieht vorübergehend zu ihrer Mutter nach Tacna an die Küste. Es bleibt offen, wie die Zukunft der Ehe und des Hofes aussieht. Das Beispiel von Flora zeigt, welche Auswirkungen der unterschiedliche Zugang von Männern und Frauen zu verschiedenen Lebenswelten und Wertsystemen auf die Ehe und auf die Situation der Frau im Dorf hat. Die Ehe ist deshalb bei den Aymara eine so relativ stabile Institution, weil sie strengen Normen, Regeln und sozialen Druck- und Zwangsmechanismen unterworfen ist. Mit dem Produktionswandel gerät sie in die Krise und die Situation der verheirateten Frau verschlechtert sich zunehmend und beginnt sich der Situation von alleinstehenden Frauen im Dorf anzunähern. Frauen sehen sich immer häufiger der alleinigen Verantwortung für alle Aufgaben in der Produktion und damit einer drastischen Arbeitsüberlastung durch die Übernahme von männlichen Räumen und Arbeitsleistungen ausgesetzt, ohne dadurch eine nennenswerte Statusverbesserung zu erleben. Sie müssen im Gegenteil auch noch Gewaltausbrüche aufgrund der Frustrationen ihres Partners über die Abwertung des Lebens auf dem Land und des Wertesystems der Aymara ausbaden. Obwohl sich die Handlungsräume von Frauen innerhalb der Dorfgemeinschaft durch die Übernahme von Funktionen und die Teilnahme an Versammlungen in der Frauenorganisation, durch den Handel auf dem Markt und durch die Eigenverantwortung in der Produktion ständig erweitern, können sie sich kaum erfolg-

215 reich gegen eine Entwicklung wehren, die ihnen die gesamte landwirtschaftliche Produktion zusätzlich zu ihrer zentralen Rolle als Reproduzentin der Lebenswelt der Aymara auflädt. Dazu kommt, daß Armut und Ressourcenknappheit den Entscheidungsraum für Frauen in der Familienwirtschaft drastisch reduziert haben. Die alleinige Verantwortung und Fürsorge für die Familie ohne Infrastruktur und soziale Dienstleistungen bedeuten für die Frauen eine zu starke physische und psychische Belastung, so daß sie selbst den Zuwachs an frauenbestimmten Freiräumen nicht als einen Zuwachs an Macht und Ehrkapital betrachten, der andere Ungleichheiten kompensieren könnte.

216

7.

Wertewandel, Weiblichkeit, ethnische Zugehörigkeit und politische Partizipation aus weiblicher Sicht

7.1. Wertewandel, Veränderungen kultureller Praktiken, von Riten und Frauenräumen aus weiblicher Sicht Im ersten Teil des folgenden Kapitels wird den Auswirkungen der Modernisierungsprozesse bei den Aymara im Spannungsverhältnis zwischen zwei Lebenswelten aus weiblicher Sicht nachgegangen. Soziale Differenzierungsprozesse innerhalb der ländlichen Lebenswelt, Veränderungen der Produktionsbedingungen, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, von kulturellen Praktiken und rituellen Fähigkeiten sowie von spezifischen frauenbestimmten Räumen werden aus weiblicher Sicht rekonstruiert. Im zweiten Teil des Kapitels über die Kleidung, die neben der Sprache das wichtigste Symbol für die Lebenswelt der Aymara darstellt, wird der Frage nachgegangen, warum heute vor allem Frauen an der Trachtenkleidung festhalten, während Männer sich auch im Alltag auf dem Land bereits weitgehend städtisch kleiden. Am Beispiel der Kleidung von Aymara-Frauen als Symbol für Weiblichkeit und ethnische Zugehörigkeit wird im Detail untersucht, wie mit verschiedenen Kleiderordnungen und Kleidungspraktiken die interne dörfliche Ausdifferenzierung von Hierarchien, die geographische Zuordnung und die regionale Differenzierung und Abgrenzung unter Frauen zum Ausdruck gebracht werden. Im dritten Teil des Kapitels wird die weibliche Sicht der eigenen kulturellen und weiblichen Identität und der eigenen ethnischen Zuschreibung in bezug zur städtischen Lebenswelt rekonstruiert. Im letzten Teil des Kapitels wird der politischen Partizipation aus weiblicher Sicht nachgegangen sowie der Fragen, welche sozialen Räume und Handlungsoptionen von Frauen neu erschlossen werden und auf welche Hürden und Grenzen sie dabei stoßen. Den Abschluß des Kapitels bilden einige Überlegungen zu den Bedingungen, Motivationen und notwendigen Schritten als Voraussetzung für mehr politische Partizipation von indianischen Landfrauen.

7.1.1. Der Wandel in der Produktion und die Sinnkrise von Ritualen und Praktiken aus weiblicher Sicht Interviewpartnerinnen aus allen drei ökologischen Zonen beschreiben den zunehmenden Wertverlust ihrer Agrarprodukte auf dem Markt, aber auch die Abwertung der eigenen Produkte im Alltag der Aymara selbst, die sich zunehmend

217 auf städtische Konsumgewohnheiten umstellen bzw. diese mit den eigenen verbinden und kombinieren. Einheimische Produkte, die früher für den Eigenbedarf gelagert wurden, werden heute auf dem Markt verkauft und Reis oder Nudeln dafür eingekauft. Selbst der Anbau verschiedener Kartoffelsorten, den wichtigsten landwirtschaftlichen Produkten der Region, ist mit einer Abwertung von Riten und Praktiken und von einem Produktivitätsverlust betroffen, der von den Frauen als Verantwortliche für die Ernährung ihrer Familien besonders beklagt wird. Aufgrund des ungleichen Tauschwertes kann für den Verkauf einer großen Menge von Produkten aus eigenem Anbau nur eine geringe Menge von industriell verarbeiteten oder abgepackten Marktprodukten eingekauft werden. Die zunehmende Marktintegration bringt eine Veränderung des Gefühls für und den Umgang mit Zeit und Raum mit sich. Die Zeit wird knapper, der Lebensrythmus schneller, große Entfernungen sind leichter zu bewältigen, die Märkte rücken näher und der Zugang zu industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln wird immer einfacher. Andrea veranschaulicht diesen Prozeß folgendermaßen: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Antes no había gente, por eso no había nada. En el campo no había gente,

solamente

en la ciudad o cerca de la ciudad y había que ir a comprar a llave. Antes mi mamá sabía ir a comprar harina, llevando 3 llamas. Mi abuela, mi abuelo y una tía habían fallecido para eso iban llevando dos quintales de lana en dos llamas (...) la harina se compraba

"Antes sabían andar de pie, recién está apareciendo motocicleta.

Nosotras nos escondíamos o escapábamos

el carro. Nunca habíamos

de una motocicleta.

rece que están sentados sobre algo dos personas corríamos

solo

en llave. " visto ni

Eso siempre recuerdo.

Pa-

haciendo sonido raro, para eso nos

en el camino. Ahora recién está apareciendo

no había muchos carros, uno que otro tenía carro. Andábamos

el carro.

Antes

con llamas por el cami-

no de herradura para llegar a llave. "

Heute gibt es im Vergleich zu früher mehr Wege, Straßen und schnellere Transportmittel, die zum Markt führen. Während es früher nur Märkte in Städten gab und viel weniger Menschen auf dem Land als heute wohnten1, sind auf dem viel dichter besiedelten Land inzwischen viele zusätzliche Märkte eingerichtet worden. Der Weg zum Markt war früher weiter und beschwerlicher, weil er zu Fuß zurückgelegt werden mußte und der Warentransport fand mit Hilfe von Lasttieren statt. Moderne Fahrzeuge haben den Transport von Menschen, Tieren und Lasten vereinfacht und beschleunigt. Marktbesuche können deshalb immer häufiger, mindestens jedoch einmal wöchentlich stattfinden. Damit verändern

1

Wie mit Hilfe von Statistiken im Kapitel 2.2.2. gezeigt wurde.

218 sich auch die Kriterien für Entscheidungen in bezug auf Subsistenz- oder Marktproduktion und auf die Auswahl von Anbauprodukten. Die hiermit einhergehenden Veränderungen von Anbaupraktiken und Ernährungsgewohnheiten haben negative Auswirkungen auf die verfugbaren Nahrungsmittelmengen und Nährwerte für den Eigenbedarf. Diese komplexen Veränderungsprozesse und ihre vielfältigen Ursachen werden von den Frauen am Beispiel von Einzelaspekten geschildert, die, wenn sie wie Mosaiksteine zusammengesetzt werden, durchaus ein Gesamtbild von Ursachen und Wirkungen ergeben. Dabei setzen die verschiedenen Interviewpartnerinnen je nach regionaler Herkunft, sozialem Status, Familiengröße und -stand, sowie nach eigener Lebenserfahrung jedoch notwendigerweise unterschiedliche Schwerpunkte bei der Beschreibung von Ursachen und Wirkungen. Für viele ältere Frauen steht vor allem die Aufgabe religiöser Riten und kultureller Praktiken als Ursache für die Veränderungen in der Agrarproduktion im Vordergrund, die direkt mit den immer geringeren Erträgen in der Subsistenzproduktion in Verbindung gebracht werden. Für sie waren früher die Ernteerträge deshalb größer als heute, weil sorgfaltiger gesät und geerntet wurde. Maria aus der ökologischen Zone der Kordillere beschreibt diese Veränderungsprozesse am Beispiel der Hirse: Maria, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "En tiempos anteriores hasta la chacra era buena. Yo vi eso. El fruto se sacaba de una pequeña parte. La papa crecía lleno en el surco, de uno solían sacar dos cargas. Ahora ya no hay. Estamos yendo a peor. Ya no da fruto ni la cañihua. Antes para hacer chacra era muy bueno, hasta la cañihua teníamos en trojes. Hasta yo sabía ayudar. Ahora es para arrepentirse. A veces decimos, hubiéramos estado guardando. La cañihua se ponía en costales por poca cantidad en arroba. Y pesaba más. Después queriendo arroz sabíamos comprar. Los hijos me siguen diciendo: 'Mamá, harina de cañihua, hubieras hecho para guardar, para qué vendiste', me están diciendo. " "La cañihua de poquito da bastante fruto, como había bastante producción arrumábamos y dormíamos cerca allí. Aquella pampa de Huacullani es la parte de mi suegra. Ahí sembrábamos cañihua, sabíamos arrumar en arcos como casa y ahí sabíamos dormir, sabíamos ponernos en forma de arcos los palos de cañihua. Ahí dormías una semana trillando cañihua. Así se hacía. Ahora ya no quiere dar fruto, cuando sembramos ya no crece, parece que en la arena se queman. Está seco, ni la lluvia cae, por eso se seca, ni el año pasado, ni antes, ni ahora es bueno. "

María verdeutlicht, wie auch auf kleinen Feldern eine ausreichende Menge Hirse geerntet werden konnte und welche besonderen Anbau- und Erntepraktiken wie das Dreschen, das Hüten der Ernte auf dem Feld, das Schlafen unter Hirsehütten usw. damit verbunden waren. Für sie verursacht daher Landknappheit

219 allein noch nicht notwendigerweise eine geringere Produktivität. Eine Auswirkung der heute geringeren Ernteerträge besteht jedoch im Rückgang der Lagerhaltung, bei dem es sich um einen weitgehend frauenbestimmten Raum handelte, der heute stark an Bedeutung verloren hat. Das Beispiel von Maria zeigt, daß trotz der zunehmenden Landknappheit der Hirseanbau auch heute ein sinnvolles und ertragreiches Anbauprodukt sein könnte, das außerdem sehr gut für die Lagerhaltung geeignet ist. Doch Hirse läßt sich nicht gut verkaufen, da sie in den Städten weitgehend unbekannt ist, nur wenig nachgefragt wird und auf dem Markt nur einen geringen Geldwert hat. Auch für die Aymara selbst hat der Hirsekonsum im Vergleich zu Gerichten aus Marktprodukten wie Reis und Nudeln eine Abwertung erfahren, die zu einer Verringerung der Nährwerte in der Ernährung führt. Maria beschreibt, daß ihre Kinder sich dieser Situation bewußt werden und ihr deshalb vorwerfen, viel Hirse für wenig Geld verkauft und dafür wenigen, aber teuren Reis eingekauft zu haben, anstatt die nährstoffreichere Hirse für den Eigenbedarf selbst zu lagern. Gleichzeitig beschreibt Maria jedoch ansatzweise, wie mühselig, arbeits- und zeitaufwendig die mit der Hirseernte verbundenen Praktiken der Verarbeitung und Zubereitung (durch das Dreschen, das Trennen von Körnern und Stengeln, das Herauswaschen des bitteren, leicht giftigen Stoffes Saponien, das Malen der Hirse etc.) waren. Dabei handelte es sich um Tätigkeiten, die zum Teil von Männern (wie das Dreschen) und zum Teil von Frauen (wie das Waschen, Trocknen, Malen und Zubereiten) durchgeführt wurden. Spezifische, an bestimmte Produkte gebundene kulturelle Praktiken geraten zunehmend in Vergessenheit und spezifisch männliche oder weibliche Fähigkeiten werden nicht mehr benötigt und erfahren eine Abwertung. Das Argument der Zeitersparnis oder Arbeitserleichterung wird dabei jedoch nicht als Vorteil wahrgenommen. Statt dessen werden vor allem klimatische Bedingungen für den Produktivitätsrückgang verantwortlich gemacht. Nach Ansicht von Maria sind vor allem Klimaschwankungen mit Trockenzeiten in der Kordillere der Grund für niedrige Ernteerträge, sowie dafür, daß sich heute der Anbau von Kartoffeln oder Hirse kaum noch lohnt. Sie werden stellvertretend für andere Ursachen angeführt, die eher mit dem Zeit- und Arbeitsaufwand, sowie mit der Verlagerung von Werten und Konsumgewohnheiten zusammenzuhängen. Auch viele Interviewpartnerinnen aus der Seezone wie Gregoria meinen, daß früher alles besser gewesen sei, weil es angeblich keine knappen Jahre gegeben habe: Gregoria, 40 Jahre alt, aus Totojira, Seezone "Los tiempos antiguos eran mejores. La chacra producía. No existían años de escasez como ahora. En tiempos antiguos nos alimentábamos de acuerdo a la siembra. Ahora ya no existe nada. Nosotros vamos totalmente hacia el fracaso. Antiguamente siempre

220 fue mejor. Antes había producido todo completo, había quinua, cebada, cebada pelada. Había producido todo y con eso solían alimentarse un año. " Gregoria führt die geringere Produktivität in heutigen Zeiten im Gegensatz zu früher darauf zurück, daß die Felder heute kleiner und daher die Erträge notwendigerweise geringer seien. Auch Celia ist der Ansicht, daß sowohl Klimaveränderungen aber auch der Gebrauch von chemischem Dünger für die niedrigen Ernteerträge von heute verantwortlich sind: Celia, 56 Jahre alt, aus Tanapaca, mittlere Zone "Antes había sido buena vida, cuando yo estaba al tiempo de mi mamá había producido bastante papa, solamente con guano de animales. Esa papa era muy rica. No se comía ni con ch 'aqhu (tierra para comer con papa sancochada). La papa sancochada se llevaba sola y se comía con un poco de sal nomás que nos llevábamos en el bolsillo. Cuando nos picaba la amargura, comíamos con esa sal. Siempre suele brotar bien, desde agosto la lluvia le sigue, poco a poco continúa. Casi ya por el mes de diciembre están bien verdes las quinuas y las hierbas. Casi por el mes de enero ya se recoge las papas dejadas que han crecido por si, con eso nos ayudábamos. Ahora ya no conocemos ni esas papas, nunca llueve, a lo menos el año pasado nunca llovió. Siempre habíamos vivido con lluvia tanto los animales como la gente. La tierra ya está cansada. Los pozos y los manantiales ya están secándose todo. Sólo sirven unos cuántos ojos de agua. Antes había existido buena vida, ahora los hijos que vienen, sufrirán ". Marcela wiederum macht vor allem den Sinnverlust kultureller Praktiken und den Wandel der Sozialorganisation als Ursache für mangelnde Produktivität verantwortlich. Sie beschreibt am Beispiel des Kartoffelanbaus in der Kordillere, wie die noch von ihren Eltern praktizierten Praktiken und Riten früher kollektiv von Großfamilien und Verwandtschaft in großen Gruppen zur Anwendung kamen, während heute der Kartoffelanbau weitgehend von der Kleinfamilie allein bewältigt wird: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Con mi mamá y mi papá vivíamos también así. Cuando las estrellas estaban esparcidas ya estábamos comiendo un caldo. Y otro de papas sancochadas. Esto comíamos con una arcilla preparada. Antes comíamos harto y ahora ya no hay víveres para comer así. Cuando ya sale el sol íbamos a mi terreno que está allá debajo del salón blanco. Llegamos allí y aplanamos el terreno para poner lo que escarbamos. Más tarde ya estamos haciendo la huatia (...). Antiguamente se aplanaba el terreno a cada dos surcos. Para poner las papas escarbadas. Traíamos las cargas todo el día, pero había un peón que traía las cargas desde temprano. Nosotras escarbamos entre 10 o 20. Así suele ser antes. "

221 Die von Marcela beschriebene Form der Zubereitung von gebackenen Kartoffeln auf dem Feld und der sorgfaltige Kartoffelanbau ihrer Eltern fand noch gemeinsam mit mehreren Familienangehörigen und mit Hilfe einiger bezahlter Arbeitskräfte statt. Früher zog eine große Gruppe von Personen ganz früh, noch in der Dunkelheit gemeinsam aufs Feld und die Kartoffeln wurden sorgfaltig in tief ausgehobenen und gut getrennten Furchen ausgesät. Marcela erinnert sich an wesentlich bessere Ernteerträge und an reichhaltigere Mahlzeiten als heute, die für sie in direktem Zusammenhang mit dem Erfüllen religiöser Riten und sorgfaltiger kultureller Praktiken steht. Auch für Rosalia aus der Seezone stehen religiöse Riten beim Kartoffelanbau, die heute nicht mehr praktiziert werden, als Erklärung für den Produktionsrückgang im Vordergrund:

Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Antiguamente, para sembrar la papa solían ofrecer, bien, los sahumerios y levantar braceros de incienso a la pachamama. Así sembraban, pero ahora ya no recordamos eso. Poco a poco nos hemos olvidado. Antiguamente eran grandes los terrenos. Sembraban sólo la mitad de los terrenos y la otra mitad descansaba. Asi había sido. Pero actualmente ya no hacemos descansar al terreno. "

Sie beschreibt, wie die Erdgottheit der pachamama mit Hilfe von Kräutern feierlich beräuchert und bei guter Laune gehalten wurde, und daß die Felder früher größer waren und daher immer eine Hälfte des Feldes brachliegen konnte. Heute beobachtet sie wie die Felder ständig bebaut werden und ausgelaugt sind.

7.1.2. Auswirkungen der Zunahme der Viehzucht auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Arbeitsbelastung von Frauen Bei der Analyse von Interviewaussagen von Frauen aus allen drei ökologischen Zonen hat sich herausgestellt, daß im Rahmen zunehmender Marktintegration die Viehzucht (Rinder, Schafe, Lamas, Alpakas) gegenüber der Landwirtschaft einen immer wichtigeren Stellenwert erhalten hat. Dabei wird deutlich, daß sich diese Veränderungen insbesondere auf den Aufgabenbereich der Frauen auswirken, da der größte Teil der mit der Viehzucht verbundenen Tätigkeiten zum weiblichen Aufgabenbereich gehört. Die Aussage von Senobia aus der Kordillere verdeutlicht diese Tendenz und beschreibt die Auswirkungen dieser Veränderungen in der Produktion auf soziale Strukturen, auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und auf die Arbeitslast von Frauen, die vor allem für die Versorgung und das Hüten des Viehs verantwortlich sind:

222 Senobia, 48 Jahre alt, aus Ancojaque, Kordillere "En el campo la crianza del ganado nomás es nuestro sostén. Todos los días con ganado nomás pues. Los llevamos tanto al agua como al pasto. Sólo así vemos

incre-

mentados nuestras ovejas, llamas, y vacas. Entonces es con esos animales, que se sostiene nuestra subsistencia, ya que se depende de la venta. También ese ganado nos da la lana y de su lana depende nuestra vestimenta. En suma a nosotros ese ganado nomás siempre nos mantiene en el campo. En tanto que no hay manera de cómo ni de dónde sacar dinero. Pero existe qhatu cada semana y a esa lo llevamos semanalmente,

sea oveja o sea va-

ca. Por tanto ese ganado nomás siempre nos da la sobrevivencia,

puesto que han pa-

sado tiempo de helada, de sequía y de hambruna. En los ciclos de hambre pretendemos

nosotros

acabar siempre con el ganado, por cuanto que el hambre exige nuestra

alimentación. No hay a veces ni qué cocinar. En esa situación realmente nuestra alimentación depende del mercado, de compra a compra de productos mentamos.

nomás nos ali-

En los años pasados bastante pues había la chacra. Se solía agarrar

ductos sea papa, quinua, cañihua, cebada, todo producto

se solía recoger.

pro-

Casi no

comprábamos, solamente se solía comprar un poco de arroz y azúcar. Si no tendríamos ganado estoy segura que pediríamos

limosna. "

Die Viehzucht in der Kordillere trägt dazu bei, daß ausreichend Rohstoff Wolle für die Herstellung selbstgemachter Kleidung vorhanden ist. Darüber hinaus wird das Vieh wie eine Art Sparkasse eingesetzt und ersetzt in gewisser Weise die Lagerhaltung von früher. Bei schlechten klimatischen Bedingungen mit geringen Ernteerträgen kann das Vieh Stück für Stück auf dem Markt verkauft werden, um Nahrungsmittel oder Schuluniformen für die Kinder einzukaufen. Heute werden Schafe und Kühe zum Markt gebracht, während lebendige Lamas und Alpakas von den Zwischenhändlern direkt aus den Dörfern abtransportiert werden. Der Viehverkauf ist auf dem Markt rentabler als der Verkauf von Agrarprodukten und bleibt außerdem von Erntezyklen unabhängig, so daß es das ganze Jahr über, je nach Bedarf, verkauft werden kann. Beim Viehweiden in der Kordillere handelt es sich jedoch um eine sehr einsame Tätigkeit, zu der die Familienmitglieder vereinzelt und voneinander getrennt werden. Die in der Landwirtschaft eingesparte Zeit und die Verringerung der Arbeitsbelastung der Frauen auf den Feldern wird von den Interviewpartnerinnen daher kaum als ein Vorteil betrachtet. Denn einerseits erschweren geringere Ernteerträge die Versorgung der Familie mit Nahrungsmitteln und andererseits kommen intensivere Aufgaben in der Viehzucht hinzu, die das ganze Jahr über täglich nötig sind. Auch in der Seezone ist die Viehzucht seit den 1960er Jahren zur wichtigsten Produktionsform geworden, allerdings unter noch wesentlich schwierigeren Bedingungen als in der Kordillere, wie die Aussage von Lucia verdeutlicht:

223 Lucía, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Aquí en la zona lago, la vida de la mujer parece que es muy triste (...) aquí están andando las mujeres, llevando un poco de comida para sus vaquitas, no hay mucho en el campo, no? Los terrenos son pequeños, hay que ver a la mano los animales,

tenemos

que ver a la mano, no hay ni un poco de libertad para la mujer en esta zona lago. Bien trabajoso es para la mujer. Porque en las zonas altas tienen pasto, si tienen pastales

lo

amarran sus animales. Ya está y se sientan. La oveja también las dejan libre. Creo que ellas descansan un poco. Pero aquí en la zona lago no hay tiempo para

descansar.

Cuando les amarramos la vaca ya estamos cargando de uno y del otro lado. Así es la vida aquí, ni hay tiempo para descansar (...). Aquí en la zona lago no pueden

sentarse

las mujeres. Todas en conjunto viven así. Se buscan pequeñas totoras. Ahora está seco el lago. Después ni las totoras son grandes. Hay uno o dos atados. Eso se hace escoger con tiempo. Después a la vaca hay que darles ahí mismo la comida. (...). No hay comida para la vaca, no tienen ni totora. Ahí por Iscata las mujeres sufren mucho, porque sacudiendo pasto hasta las manos se hacen rajar. Por estar rasgando la tierra,

buscan

raíces, porque la totora está totalmente seca. "

Die Produktionsbedingungen für die Viehzucht am See, in einer feuchten, dicht besiedelten Zone mit großer Landknappheit und geringen Möglichkeiten für den Viehfutteranbau, fuhren zu einer besonders großen Arbeitsbelastung von Frauen. In der Seezone werden weniger Viehsorten als auf höher gelegenen ökologischen Zonen gezüchtet, da aufgrund der klimatischen Bedingungen keine Lamas und Alpakas, sondern nur Kühe und Schafe gehalten werden können. Darüber hinaus reicht das eher für die Landwirtschaft geeignete und dicht besiedelte Land am See nicht aus, um ausreichend Viehfutter anzubauen. Die Kühe müssen deshalb erst mit mühselig von Menschen geerntetem Schilfrohr aus dem See oder mit wilden Pflanzenwurzeln gefüttert werden. Da das Vieh außerdem nicht frei herumlaufen kann, ist die Arbeitsbelastung für Frauen aus der Sicht von Lucia in der Seezone wesentlich größer als in der Kordillere. In allen drei ökologischen Zonen nimmt das Viehhüten einen immer größeren Teil der Arbeitszeit der Frauen in Anspruch. Im Gegensatz zur zyklischen Landwirtschaft handelt es sich bei der Viehzucht um permanente Tätigkeiten. Die Viehzucht fallt zum großen Teil in den Aufgabenbereich der Frauen. Lediglich der Verkauf von großen Tieren auf dem Markt wird häufig von Männern durchgeführt, die in der Kordillere gelegentlich auch beim Viehhüten auf den von den Dörfern weit entfernt gelegenen Naturweiden helfen. Die Verlagerung auf die Viehzucht ist ein Ausdruck für die zunehmende Monetarisierung der Familienwirtschaft der Aymara. In der Seezone muß aufgrund der begrenzten Weideflächen zusätzliches Geld noch durch den Verkauf der Arbeitskraft außerhalb der Dörfer durch saisonale Migration erwirtschaftet werden. Die Subsistenzprodukti-

224 on in der Landwirtschaft verliert zunehmend an Bedeutung, auch wenn sie weiterhin als Ergänzung zur Viehzucht überlebensnotwendig bleibt.

7.1.3. Auswirkungen des Produktionswandels auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung Mehrere ältere Interviewpartnerinnen bringen ihre Verunsicherung darüber zum Ausdruck, daß ihre Eltern noch kulturelle Praktiken durchführten und rituelle Fähigkeiten besaßen, die sie selbst nicht mehr beherrschen oder nicht mehr anwenden. Darüber hinaus verlieren viele der noch durchgeführten kulturellen Praktiken im Kontext des Produktionswandels und der Marktintegration ihren Sinn. Sie werden zunehmend zu formalen Handlungen, deren Bedeutung vielen Frauen oft gar nicht mehr oder nur noch teilweise bekannt ist, und die gegenüber rationalen Erklärungsmustern immer mehr an Wert verlieren. Damit verkommen viele Riten, Techniken und Praktiken zu einer Art lästigem zusätzlichen Aufwand, der zunehmend von den Frauen allein bewältigt werden muß, und der sich nicht mehr in besseren Erträgen niederzuschlagen und damit auch nicht mehr zu lohnen scheint. Kulturelle Praktiken, Riten und Arbeitstechniken bestehen vielfach aus spielerischen Handlungen und Handgriffen sowie grundsätzlich aus meist kollektiven Schritten, deren Ausführung jeweils klar geschlechts- und altersspezifisch zugeordnet sind. Sie tragen zu einer besonderen Atmosphäre des Zusammenhalts in der Gemeinschaft, zur Lebensfreude und Solidarität der Mitglieder einer Gemeinschaft untereinander, und im wörtlichen Sinne zur Agrikultur, d.h. der Landwirtschaft als kulturelle Praxis, bei. Für die Frauen geht mit der Sinnentleerung und der Aufgabe von Praktiken auch ein Teil ihres frauenspezifischen Raumes in Form von spezifisch weiblichen Aufgaben bei der Ausführung dieser Praktiken verloren, die mit Anerkennung, Macht und Kontrolle über Fähigkeiten, Fertigkeiten und Ressourcen und mit Selbstbestätigung verbunden waren. Einige Frauen bringen das Gefühl zum Ausdruck, einem Prozeß der Abwertung von Kenntnissen, Fähigkeiten, Arbeitsleistungen, Produkten, Pflanzen, Tauschmitteln, Geld und vom Sinn des Lebens überhaupt ausgeliefert zu sein. Mit der Verringerung der landwirtschaftlichen Produktion wird die für die Lebenswelt der Aymara charakteristische Gemeinschaftlichkeit und Lebensfreude eingeschränkt. Diese Lebensfreude ist unmittelbar mit der Fruchtbarkeit der Böden, der Befriedigung über selbstproduzierte Ernteerträge, über bewiesene Fähigkeiten und Kenntnisse, mit gemeinschaftlichen kulturellen Praktiken und Riten, mit dem Produkttausch, dem gemeinsamen Essen und Teilen auf Festen und bei Gemeinschaftsarbeiten verbunden. Heute gibt es immer weniger festliche Anlässe im Vergleich zu früher, und die Feldarbeit wird zunehmend von den

225 Mitgliedern der Kleinfamilie, oder sogar von den Frauen allein bewältigt. Erfolgserlebnisse durch hohe Ernteerträge, komplementäre gegenseitige Arbeitsleistungen der Geschlechter und Generationen, die Reziprozität der Arbeitsleistungen und des Produkt- und Gabentausches werden immer seltener. Auf diese Weise verringert sich das individuelle Wohlbefinden der Frauen. Anbaupraktiken, rituelle Handlungen und spezifische weibliche oder männliche Fähigkeiten werden hinterfragt, unterwandert, zersetzt und aufgelöst. Viele existieren zwar noch formal aber haben bereits ihren identitätsstiftenden Inhalt verloren. Diese Veränderungsprozesse sind durchaus mit Ängsten verbunden und die Folge des Nicht-Weiterfuhrens von Praktiken, Anbautechniken und Ritualen drückt sich für viele Frauen in der Angst vor der Bestrafung der Götter in Form von Naturgewalten und Klimakatastrophen aus. Obwohl diese Ängste selten ausdrücklich formuliert werden, kommen sie bei der Suche nach Erklärungen für Phänomene wie Knappheit, Armut und niedrige Erträge, die einer Bestrafung gleichzukommen scheinen, sowie bei den Vergleichen mit den angeblich besseren Zeiten von früher und dem subjektiven Gefühl vieler Frauen, das Klima habe sich im Vergleich zu früher verschlechtert, in indirekter Form zum Ausdruck. Die Situation kann sich aus der Perspektive der betroffenen Frauen, die den erlebten Veränderungsprozessen aus eigener Sicht weitgehend ohnmächtig gegenüber stehen, eigentlich in Zukunft nur noch verschlechtern. Manche Frauen fühlen sich auch selbst mit schuldig für die negativen Veränderungen, weil sie sich nicht den Erwartungen ihrer Eltern und Großeltern, den religiösen Wesen und den vergangenen Werten und Normen entsprechend verhalten. Frauen erfahren eine zunehmende Arbeitsbelastung in der Produktion und eine Trennung ihres Aufgabenbereichs vom Beitrag der Männer. Sie stehen dieser Entwicklung kritisch gegenüber und unterstreichen die Tatsache, daß Männer heute immer weniger Praktiken, Riten, Anbau- oder Webtechniken beherrschen und es in der Produktion an Fähigkeiten und Arbeitseifer mangeln lassen. Frauen sind zunehmend gezwungen, fremde männliche Arbeitskräfte einzustellen und zu bezahlen, die zum einen knapp sind und zum anderen nicht so sorgfaltig arbeiten wie der Eigentümer selbst. Diese Unzufriedenheit der Frauen über den Arbeitsbeitrag der Männer äußert sich auch in ihrer kritischen Einstellung zur ungleich verteilten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und deren Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis in der Ehe in Form von Konflikten und Gewalt gegen Frauen. Die veränderte Nutzung von Zeit, Raum und Arbeitskraft hat Auswirkungen auf die Produktivität, auf die Sozialorganization in der Produktion und auf gemeinschaftlich zu bewältigende Aufgaben und festliche Anlässe. Das Resultat ist die Abnahme von Geselligkeit, eine zunehmende Vereinzelung, Einsamkeit und Überlastung, eine Herausforderung für die Geschlechterverhältnisse in der Ehe, für die Organisation der Kleinfamilie als Betriebseinheit und für die individuelle

226 Urteils- und Entscheidungsfahigkeit von Aymara-Frauen. Die Veränderungen der Produktionsbedingungen in der Land- und Viehwirtschaft wirken sich auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zuungunsten der Frauen aus. Religiöse und kulturelle Riten verlieren ihren Sinn ebenso wie das Reziprozitätsprinzip in Form von Gabentausch oder gegenseitiger Hilfeleistungen in der Produktion.

7.2. Die Kleidung der Frauen als Symbol für Weiblichkeit und ethnische Zugehörigkeit Kleidung verkörpert das Selbstbild, die ethnische Zugehörigkeit, die kulturelle und geschlechtliche Identität und den Status von Menschen. Sie signalisiert Gruppenzugehörigkeit, kann jedoch auch eine Abgrenzung zwischen Untergruppen und Generationen herstellen. Sie ist Ausdruck für das Wertesystem einer Person und einer Gruppe. Mit Hilfe von Kleidung wird Macht ausgeübt und je nachdem, wie eine Person sich kleidet und präsentiert, wird sie auch behandelt. Kleidung hängt von klimatischen und ökologischen Bedingungen ab und wird daran angepaßt. Sie ist darüber hinaus Ausdruck von Lebensgefühl und Gewohnheiten und stellt sowohl einen materiellen Gebrauchswert als Arbeitshilfe oder als Schutz vor Witterungen, als auch einen ideellen Wert in Form von Lebensgefiihl und Status jeder Person dar. Mit Hilfe von Kleidung werden ganz unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten wie Anpassung, Ablehnung, Auf- oder Abwertung, Abgrenzung oder Rückzug zum Ausdruck gebracht. Die Art der Kleidung ist vom Zugang zu Ressourcen, von wirtschaftlichen Bedingungen, von handwerklichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, von der Mode und von Schönheitsidealen abhängig. Die Kleidung ist neben der Sprache das wichtigste Symbol für die Lebenswelt der Aymara und grenzt sie als ethnische Gruppe von anderen Teilen der Bevölkerung ab. Dies gilt jedoch im Alltag heute mehr für Frauen als für Männer. Besuchern und Besucherinnen fallen in Puno besonders die unterschiedlichen Kleidungspraktiken von Männern und Frauen auf, da zwar auf dem Land alle Frauen, aber nur wenige Männer Trachten tragen. Auf diese Weise erscheint für Fremde die Geschlechterdisparität noch größer und die Abgrenzung und Unzugänglichkeit der Frauen noch ausgeprägter. Die Männer tragen heute fast nur zu festlichen Anlässen Tracht. Auch in anderen Regionen der Anden halten Frauen eher an wenn auch sich ständig verändernder - Trachtenkleidung fest als Männer und unterstreichen auf diese Weise ihre Weiblichkeit, ihre regionale und ihre ethnische Zugehörigkeit. Carola Lentz bezeichnet dieses Verhalten der Frauen in Shamanga in Ekuador, die auch weniger städtische Konsumartikel wie z.B. Radios erwerben, als "konservativer" als das der Männer und führt es darauf zurück, daß Frauen sich in städtischer Kleidung schämen, weil ihr Kontakt mit der

227 außerdörflichen Welt noch viel stärker als der der Männer über die familiäre und dörfliche Bezugsgruppe vermittelt sei (vgl. Lentz 1994: 437). Dabei scheint es sich jedoch eher um eine Beschreibung der Auswirkungen von Zuschreibungen zu handeln, denen andine Frauen im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten unterworfen sind, als um eine zutreffende Charakterisierung ihres - im Gegenteil - sehr innovativen Umgangs mit eigenen Handlungsräumen innerhalb dieses Spannungsfelds. Bei genauerer Betrachtung stehen für die Frauen nicht die Konsumgewohnheiten der städtischen Lebenswelt im Vordergrund, obwohl sie davon auch beeinflußt werden. Vielmehr sind sie vor allem an der zum Überleben notwendigen Absicherung ihres Ehrstatus als Daseinsberechtigung als vollwertige Menschen und ihres Zugangs zu Ressourcen innerhalb der ländlichen Lebenswelt der Aymara interessiert. Aus der Analyse ihrer Einstellung zur und ihres Umgangs mit der städtischen Lebenswelt im dritten Teil dieses Kapitels wird jedoch deutlich, daß damit nicht eine Ablehnung von Wertsystemen der städtischen Lebenswelt, sondern im Gegenteil eine große Offenheit verbunden ist. Vor allem wird gezeigt, daß Frauen vor allem pragmatisch mit jeweils vorherrschenden Kleidungs- und Konsumcodes einerseits und mit gesellschaftlichen und ethnischen Zuschreibungen andererseits umgehen, denen je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen und Ausdrucksformen zugeordnet werden. Die Tracht der Aymara-Frauen hat Ähnlichkeit mit spanischer Frauenkleidung des 17. Jahrhunderts. Nach der Eroberung versuchte die spanische Kolonialregierung soweit wie möglich indianische Bräuche und Praktiken abzuschaffen. Mit Hilfe einer kolonialen "Politik der Kleidung" (vgl. Salomon 1988) wurde über Kleidungsvorschriften der soziale Rang einer Person markiert. Indianische Anfuhrer waren die ersten, die spanische Kleidung tragen durften, um ihnen in den Augen der einfachen Dorfbevölkerung Ansehen und Autorität zu verschaffen. Mit der Einfuhrung der repartos, der Zwangsabgaben der andinen Bevölkerung an die spanische Kolonialverwaltung, und der repartimiento de efectos, der zwanghaften Warenverteilung mit dem erzwungenen Konsum neu eingeführter Textilien wurde die Landbevölkerung dazu gebracht, ihre Kleidung dem spanischen Stil anzupassen (Castañeda Leon 1981: 11-15). Auf diese Weise wurden immer mehr Teile der spanischen Tracht übernommen. Der soziale Rang kam durch die Anzahl der spanischen Kleidungsstücke, die Qualität ihrer Stoffe und Schnitte zum Ausdruck. Im 18. Jahrhundert wurde von den Kolonialherren auf der Verwendung von spanischer Standardkleidung bestanden, um Rangordnungen wieder zu nivellieren und indianische Anfuhrer der antikolonialen Rebellionen zu entmachten (Lentz 1994: 434). In ganz Peru wurden weite Trachtenröcke, die sogenannten polleras, und Blusen eingeführt. Diese spanische Grundtracht wurde jeweils mit regionalen und lokalen indianischen Elementen kombiniert und die Farben, Längen und Muster sowie das Material für die Stoffe je nach klimatischen und ökologischen Bedin-

228 gungen variiert. Auch der berühmte andine Poncho wird erst seit dem 17. Jahrhundert getragen, und Hüte und Mützen haben ebenfalls einen spanischen Ursprung. Sie wurden jedoch mit prähispanischen Elementen kombiniert und mit eigenen Mustern und Symbolen versehen. Auf diese Weise war die indianische Bevölkerung durch ihre Kleidung auch weiterhin deutlich von der nichtindianischen Bevölkerung zu unterscheiden. Die indianische Festkleidung entstand im 17. Jahrhundert in vielen Regionen durch Nachahmung der Kleidung der spanischen Kolonialherren und Frauen der Oberklasse, während die Alltagskleidung eher den unteren sozialen Schichten der Spanier entlehnt wurde. Die bäuerliche Landbevölkerung eignete sich die städtische Alltagskleidung der Spanier regional jedoch in sehr unterschiedlicher Weise an und veränderte sie nach von den städtischen Modeströmungen unabhängigen eigenen Regeln. Die heutige Tracht der Aymara-Frauen von Puno besteht aus vielen verschiedenen einfarbigen Röcken aus schwarzen, dunkelbraunen, leuchtend roten oder gelben Farben, die übereinander getragen werden. Wollblusen aus etwas helleren Farben und darüber getragene lange bunte gewebte Tücher gehören dazu, ebenso wie um die Taille gewickelte breite, selbstgewebte, bunte Wollgürtel. In einigen Regionen werden große viereckige buntbestickte Wollhüte, sogenannte monteras, getragen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind jedoch braunschwarze melonenförmige Hüten, sogenannte italienische Borsalinos2 (Castañeda, ebd.: 170) unter Aymara-Frauen im Raum Puno weit verbreitet, die zunächst von englischen Händlern mit dem Bau der Eisenbahn und der Gründung der großen Wollhazienden auf dem Altiplano eingeführt wurden. Heute werden diese Hüte in Handwerksbetrieben in den Kleinstädten von Aymara-Migranten selbst hergestellt. Die meisten Aymara-Männer auf dem Land tragen demgegenüber westliche Hemden, T-Shirts, Hosen und Sportkappen mit aufgedruckter Werbung. Lediglich die ojotas (Gummisandalen aus Autoreifen) werden sowohl von Männern wie von Frauen ohne Strümpfe getragen. Frauen vorangegangener Generationen liefen barfuß. Viele Männer tragen jedoch Tennis- oder Halbschuhe mit Strümpfen. Außenstehenden drängt sich sofort die Frage auf, warum Frauen Tracht tragen und die Männer städtisch gekleidet sind. Denn die Trachtenkleidung setzt Frauen einer verstärkten Diskriminierung durch die Außenwelt aus. Die Vermutung, diese Form der für die Betroffenen selbst mit unangenehmen Folgen verbundenen ethnischen Abgrenzung sei vor allem durch innerdörfliche und familiäre soziale Kontrolle bzw. des Zwangs für Frauen bedingt, erscheint zunächst naheliegend. Patricia Oliart (1991) vermutet in diesem Zusammenhang, daß z.B. bei den Quechua von Cusco vor allem die soziale Kontrolle der Gemeinschaft

2

Ähnlich den englischen Männerhüten.

229 dazu fuhrt, daß Frauen sich schämen, westliche Kleidung zu tragen, weil sie im Dorf ausgelacht werden könnten. Wie die Analyse der Interviewaussagen der Frauen aus Puno ergeben hat, spielt auch bei den Aymara der soziale Druck eine Rolle, um Frauen dazu anzuhalten, bei der Tracht zu bleiben. Auf diese Weise wird die Weiblichkeit und der Unterschied zwischen den Geschlechtern besonders hervorgehoben und unterstrichen. Die Vorstellungen von weiblicher Schönheit und Begehrbarkeit leiten durch lokale Unterschiede in der Trachtenkleidung dazu an, innerhalb der gleichen Region unter Aymara zu heiraten. Die weibliche Sexualität wird auf diese Weise kontrolliert, da Frauen in Tracht nicht den Schönheitskriterien von Nicht-Aymara entsprechen. Die physische Distanz zu Frauen wird durch die vielen weiten Rökke und die um die Taille geschnürten fajas (selbstgewebte bunte Wollbänder) auch innerhalb der Lebenswelt der Aymara unterstrichen. Trachtenkleidung stellt auf diese Weise auch eine Art Schutz für die körperliche Unversehrtheit von Frauen, insbesondere vor sexuellen Angriffen dar. Die Schwere der selbstgewebten Wollkleidung gibt den Frauen darüber hinaus das Gefühl einer gewissen Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit, schafft auch ihnen damit selbst eine gewisse Distanz zum eigenen Körper, zu ihren eigenen körperbezogenen Bedürfnissen und zu einer größeren Bewegungsfreiheit. Bei einer näheren Betrachtung der Kleiderordnungen und der Analyse der Aussagen der Frauen selbst zum Thema Kleidung wird jedoch deutlich, daß es sich dabei um einen weitgehend von Frauen bestimmten Raum handelt. Die Kleidung ist mit sehr ambivalenten Werten und Gefühlen besetzt, die das eigene Lebensgefuhl im Spannungsverhältnis zwischen Werten der ländlichen und der städtischen Lebenswelten mit sich bringt. Dabei ist die soziale Kontrolle durch die Gemeinschaft oder von Frauen untereinander nur einer von verschiedenen Faktoren, die bei der Kleiderfrage berücksichtigt werden. Neben den Kleiderregeln im Zusammenhang mit der Statuszuschreibung durch die Gemeinschaft spielt das eigene Ehrgefühl der Frauen selbst eine wichtige Rolle bei den Entscheidungen, die jede Frau immer wieder neu für sich selbst treffen muß und die jede Altersgruppe erneut für sich definiert. Einerseits ist Anpassung an Mehrheitsgebräuche und Wertvorstellungen je nach Lebenssituation wichtig, andererseits haben Faktoren wie Zeit und Geld, Gewohnheit, Lebenserfahrung, Kenntnisse, Fähigkeiten und Status einen Einfluß auf die individuellen Entscheidungen der Frauen. Die Schwere der selbst gewebten Stoffe läßt sich gleichzeitig als Orientierung zur Erde und als Symbol für Bodenständigkeit, Verwurzelung, Zugehörigkeit zum Haus, zu Grund und Boden und als Nähe zur Mutter Erde (pachamama) und zur Fruchtbarkeit der Landwirtschaft und der Menschen interpretieren. Mit Hilfe der bunten Röcke und Tragetücher sind Frauen in der kargen flachen Landschaft des Altiplano schon von weither zu erkennen. Dies erleichtert zum einen die

230 familiäre und gemeinschaftliche Kontrolle über ihre Bewegungsfreiheit und Sozialkontakte, zum anderen aber auch den Kontakt unter Familienmitgliedern auf dem Weg zur Weide oder zum Feld. Die Argumente der Frauen für die selbstgemachte Trachtenkleidung aus Wolle erwecken den Eindruck, daß sie ihre Tracht als optimal an die Weite der Landschaft, an das Klima und an den Aufgabenbereich der Frauen angepaßt empfinden. Sie wird nicht nur als schön und auffallig, widerstandsfähig und vielfaltig in allen Situationen und Wetterlagen nutzbar beschrieben, sondern auch als gut an die extremen Temperaturunterschiede angepaßt. Sie ermöglicht das Tragen von Babys, von Mittagessen, von Ernteprodukten, von Spindeln, Wollknäueln, Werkzeugen etc. und läßt den Frauen trotzdem die Hände frei, um vielfaltige Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen.

7.2.1. Die Webkunst in Viehzuchtgesellschaften und die Rolle von Webstoffen im Gütertausch Während in der Viehzucht der Kordillere viel Schaf-, Lama- und Alpakawolle produziert wird und bis heute Wollkleidung vorherrscht, hat am See der Schwerpunkt auf Rinderzucht zu geringer Wollproduktion geführt. Dort wird mehr Trachtenkleidung aus industriell hergestellten Stoffen getragen, die in Werkstätten in Kleinstädten und Handelszentren in Seenähe entlang der Straße von der Stadt Puno bis an die bolivianische Grenze von Aymara-Migranten verarbeitet und auf den Märkten verkauft wird, sich aber auch zunehmend in den anderen ökologischen Zonen durchsetzt. Das Spinnen und Weben hatte in Viehzuchtgesellschaften immer eine besondere Bedeutung. Durch die verschiedenen Wollarten auf dem Altiplano der Südanden von Schafen, Lamas, Alpakas und Vicuñas wurde die Webkunst zu einem besonders entwickelten Handwerk, das zwar sowohl von Männern als auch von Frauen beherrscht wurde, in dem sich Frauen jedoch mit besonders komplizierten Webstücken und Gebrauchstüchern unterschiedlicher Größe besonders hervortaten. Während Männer vor allem einfarbige Stoffe als Meterware für Kleidungsstücke herstellten, spezialisierten sich Frauen auf kunstvolle Webmuster auf vielseitigen Stoffen für Kleidungsstücke, Säcke, als Trage-, Servier- und Umhängetücher, die auch für den Gabentausch sehr begehrt waren. Damit handelte es sich beim Spinnen und Weben um einen spezifischen Frauenraum mit eigenen Webtechniken und einem besonderen ausgeprägten ästhetischen Empfinden, der ihnen Ansehen und Anerkennung brachte. Die Webstoffe symbolisierten ihre Fähigkeiten, ihren Fleiß, und ihre Ausdauer. Die Frau übernahm damit eine zentrale Rolle zur Reproduktion der sozialen Beziehungen bei den Aymara. Sie stand nicht nur durch den Frauentausch und ihre Fähigkeit, Kinder zur Welt zu

231

bringen im Zentrum der Reproduktion gesellschaftlicher Beziehungen. Sie war auch die Hauptproduzentin von Webstoffen als Tauschwerten, die im Mittelpunkt des Reziprozitätsprinzips unter Verwandten unterschiedlicher Abstammungslinien standen3. Sowohl Männer als auch Frauen waren bei den Aymara fiir das Spinnen und Weben verantwortlich und wie in der Landwirtschaft gab es eine Komplementarität der geschlechtsspezifischen Aufgaben. So webten in einigen Regionen von Puno die Männer einen wesentlichen Teil der Frauenkleidung, vor allem den Stoff aus Schafwolle, bayeta genannt, aus dem sowohl Männerhosen und Hemden hergestellt wurden, als auch die weiten Röcke (polleras) der Frauen4, während Frauen die Ponchos für die Männer webten, die aus Alpaka-, Schaf- oder Vicuña-Wolle hergestellt wurden. Frauen übernehmen den größten Teil des Spinnens und werden dabei nur in einigen Regionen auch von Männern unterstützt. Heute sind jedoch nur noch selten Männer beim Spinnen zu beobachten und immer weniger von ihnen können weben. Unter den Interviewpartnerinnen sagt jedoch nur eine Frau von sich, daß sie nicht weben kann, während sich ein großer Teil der Frauen darüber beklagt, daß ihre Männer nicht weben können. Auch heute hat das Weben noch eine große Bedeutung für die Herstellung von Decken, Säcken, Tragetüchern, Unterwäsche, Alltagskleidung und Gebrauchsgegenständen für den Haushalt. Beim Thema Kleidung wird die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit der weiblichen Identität der Aymara-Frauen auf dem Land von Puno heute besonders deutlich. Abgesehen von Unterschieden zwischen den Altersgruppen, die eine große Verunsicherung hervorrufen, nimmt die interne Differenzierung innerhalb der Dorfgemeinschaften zu und kommt durch unterschiedliche Kleidung zum Ausdruck. Die Kleidung symbolisiert auch tradierte und redefinierte Inhalte der weiblichen Ehre. Doch zunächst soll der Unterschied zwischen den Generationen näher betrachtet werden. Die Kleidung als frauenbestimmter Raum hat einen radikalen Bedeutungswechsel erfahren, dessen Interpretation an jede einzelne Frau hohe Anforderungen stellt, um ihren eigenen Kleidercode zu definieren und zu begründen. Nicht alle Frauen sind diesen Anforderungen auf gleiche Weise ge-

3

Die Aymara haben ein ausgeprägtes eigenes ästhetisches Empfinden und die Webstoffe bringen ein eng mit ihrer Weltsicht verbundenes Symbolsystem zum Ausdruck, mit der Komplementarität von Gegensätzen sowie der räumlichen Einteilung analog zum menschlichen Körper. Webstoffe haben bei den Aymara Augen und Ohren, Mund und Nase (Cereceda 1987) und bestehen aus zwei Teilen, die in der Mitte in leichter Abwandlung spiegelverkehrt zusammengenäht werden.

4

Aus dem gleichen Wollstoff wurde auch Unterwäsche und Männerkleidung, vor allem Hosen und Hemden hergestellt, die heute aber nur noch selten von Männern getragen werden.

232 wachsen. Dementsprechend widersprüchlich fallen die Begründungen für die eigene Kleidungspraxis aus, bei der durchaus eine gewisse Unsicherheit und Ungleichzeitigkeit zum Ausdruck kommt. Die meisten Frauen haben ihre Kleidung im Laufe ihres Lebens nicht nur aufgrund ihres Lebenszyklus und Alters, sondern auch aufgrund von Bedeutungswandel und Veränderungen ihres Lebensgefühls und ihrer Lebensräume mehrfach verändert. Viele Frauen besitzen heute sowohl selbst gewebte als auch gekaufte Trachtenkleidung aus industriell hergestellten Stoffen und städtische Röcke oder Hosen, die sie jeweils situationsbedingt tragen. Dafür steht ihnen eine Vielfalt von Optionen und Interpretationen zur Verfügung, die auf einen wesentlich größeren individuellen Handlungsraum von Aymara-Frauen schließen läßt, als es zunächst auf ersten Blick den Anschein hat. Aufgrund der Dynamik und der Bedeutungsvielfalt der Handlungsmuster fallt es schwer, am Bild eines konservativen Verhaltens von Frauen festzuhalten (Lentz 1991).

7.2.2. Trachtenkleidung als Symbol für geographische Zuordnung, Differenzierung und Abgrenzung Die Trachten der Frauen unterscheiden sich in Details von Ort zu Ort und von Region zu Region und symbolisieren die Zugehörigkeit zu einer ökologischen Zone und in einigen Regionen sogar den Familienstand der Frau. Diese Symbolik ist vor allem für die Abgrenzung der Aymara untereinander von Bedeutung, wie folgende Aussage von Maria verdeutlicht: Maria, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "En esos lados nos ven simplemente

mujer nomás. Aún más si estamos puesta de polle-

ra. Es así. Si estas con ropa hecha de lana de oveja, te miran con cierta sorpresa,

no-

más. Una y más veces vuelven a mirarte. Además por el hecho de que se tiene

puesto

ropa de lana de oveja, entre ellas se dicen 'de suni 's, es pues. Aquella es 'suni'.

Nues-

tras mantas (llijllas) tejidas por nosotras son notorias con respecto a las de las tejidas por ellas, ya que tienen diversas figuras en colores distintos. De esta forma pues

están

hechas esas mantas de lana industrial, pero de nosotras no tiene esas más que pequeñas figuritas. También es bien notorio la ropa que usamos por estos lugares de altura. Entonces las del lado de zona lago aún más las del lado de Yunguyo suelen 'es suni'.

decirnos

'Suni es'. Como para decir pues, entonces estos son pues de la altura,

pues los suni', diciendo. Siempre dirán algo. Parece que están observándome

una y otra vez. De esa manera las gentes observan. Es pues notoria sea la ropa.

5

Als suni wird die ökologische Zone der Kordillere bezeichnet.

'son

nomás, 'Por

233 eso me debe estar observando pues de ese modo' diciendo, digo, inclusive hasta hace unos días ".

María schildert, wie stark einerseits bei der KJeidungspraxis die Vorstellungen von Weiblichkeit im Vordergrund stehen, die durch die Tracht besonders zum Ausdruck kommen, wie jedoch andererseits Frauen, die außerhalb ihrer Dorfgemeinschaft selbst gewebte Röcke aus Schafwolle tragen, tendenziell als arm angesehen und daher von anderen ländlichen Aymara-Frauen mit einem gewissen Erstaunen betrachtet werden. Aymara-Frauen achten untereinander genau darauf, welche Kleidung getragen wird, um die jeweilige Herkunft regional zuzuordnen. Die Unterschiede bestehen heute vor allem darin, ob die gesamte Kleidung oder ein Teil davon noch selbst gewebt und ob sie aus Schaf-, Lamaoder Alpakawolle oder aus industriell hergestellten Stoffen genäht wurde. Darüber hinaus gibt es Unterschiede in der Farbzusammensetzung, in den Stoffmustern mit Figuren, aus Farbstreifen oder einfarbigen Stoffen. Maria beschreibt, wie Aymara-Frauen aus der Seezone über ihre Kleidung staunen und wie sie sogleich die Zuordnung zur Bergzone (sunt) vornehmen, da dort die Wollproduktion größer ist. Während Maria noch ein selbst gewebtes Wolltuch über den Rücken gebunden hat, tragen die Frauen aus der Seezone eher industriell hergestellte Trachtenkleidung, die der Mode unterworfen ist. In einigen Regionen am See gibt es noch einen spezifischen Kleidercode für unverheiratete Mädchen, die als Jungfrauen eine selbst gestrickte bunte Zipfelmütze mit Blumenmuster tragen müssen und erst als verheiratete Frau einen Hut aufsetzen dürfen.

7.2.3. Kleidung als Ausdruck von Generationskonflikten Frauen

unter

Ältere Frauen drücken beim Thema Kleidung vor allem ein Lebensgefuhl aus, das mit dem Tragen schwerer, bunter und weiter, selbst gewebter Wollkleidung verbunden ist. Ältere Frauen tragen die selbstgewebte Kleidung mit Stolz, da damit früher die ungeteilte soziale Anerkennung ihrer Fähigkeiten, ihres Fleißes und damit auch ihres Ehrstatus verbunden war. Frauen scheren bis heute die Schafe, Lamas, Alpakas und Vicuñas, spinnen die Wolle, weben und färben die Stoffe und nähen schließlich ihre Kleidung und die ihrer Familienmitglieder, sowie Säcke, Tragetücher und andere Produkte aus Stoff für den Alltagsgebrauch und für rituelle Zwecke. In einigen Fällen werden die Westen auch noch bestickt. Bunte Farben und Muster drücken Lebensfreude aus. Muster sind allerdings in Puno relativ selten. In den meisten Fällen handelt es sich um einfarbige oder um verschiedenfarbige Webstücke mit unterschiedlich breiten Streifen.

234 Heute fühlen sich ältere Frauen in selbst hergestellter Wollkleidung jedoch durch die Ablehnung ihrer Töchter und Enkeltöchter zunehmend abgewertet. Jüngere Frauen tragen immer mehr industriell verarbeitete, modischen Strömungen unterworfene Trachtenkleidung, eine Tatsache, die ältere Frauen sehr verunsichert. Für die ältere Generation war das Gefühl und die Befriedigung darüber wichtig, die eigene Kleidung selbst hergestellt zu haben und damit gleichzeitig kunsthandwerkliche Fähigkeiten, Fleiß und die Vermehrung von Ressourcen zur Schau stellen und Anerkennung dafür bekommen zu können. Sie wurden insbesondere unter Frauen bewundert und innerhalb der Hierarchie unter Frauen gehörte die Schönheit der eigenen Kleidung und das Vorzeigen von Webfahigkeiten und gutem Geschmack zu den von Frauen selbst beeinflußbaren Aspekten der weiblichen Ehre, mit deren Hilfe immer wieder ein besserer Platz auf der weiblichen Ehrskala ausgehandelt werden konnte. Gewebte Stoffe brachten aber auch als Tauschgüter soziale Anerkennung insbesondere für Frauen innerhalb der Gemeinschaft und der Region wie kaum eine andere Fähigkeit und Tätigkeit. Das Weben war eine mit besonderen individuellen Fähigkeiten verbundene, für alle sichtbare handwerkliche Tätigkeit, die nicht von allen Frauen gleich gut beherrscht wurde. Gewebte Tücher als Gebrauchsgegenstände haben bis heute einen großen Wert und werden sowohl von Männern als auch von Frauen genutzt und bewundert. Früher galten gewebte Tücher und Kleidungsstücke als besonders geschätzte Geschenke für den Gabentausch. Webstoffe hatten einen hohen Tauschwert und machten einen wesentlichen Teil der Erbschaft von einer Frauen- oder Familiengeneration zur anderen aus, die wiederum großen Einfluß auf die weibliche Ehre hatte. Das Spinnen und Weben ist außerdem eine der wenigen Tätigkeiten, die Frauen aus armen Familien für andere Familien durchführen und mit denen sie sich entweder, wie früher, den Tausch von Nahrungsmitteln oder Wolle ermöglichen oder, wie in neueren Zeiten, Geld verdienen konnten. Mit der industriellen Herstellung von Kleidung wird diese Einnahmequelle für Frauen innerhalb der Dorfgemeinschaften zunehmend eingeschränkt. Die soziale und berufliche Differenzierung hat dazu geführt, daß die Herstellung der modernen Trachtenkleidung heute zur Aufgabe von Spezialisten geworden ist. Sie wird in städtischen Handwerksbetrieben hergestellt, die zu einer Einkommensquelle für Migrantenfamilien geworden sind. Die Auswirkungen der Marktintegration und Geldwirtschaft auf veränderte Praktiken in bezug auf Kleidung und Warentausch haben zu Generationskonflikten zwischen Frauen geführt, die durch folgende Aussage von Andrea veranschaulicht werden: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Me hilo, me tejo en telar, hacemos polleras de lana de oveja, antes no

conocíamos

ropa comprada. Ahora más bien que están en cuentos de flojos. Tanto la manta para

235 cargar, las chompas que se ponen tanto en el interior como encima. Antes confeccionábamos

siempre

nuestras ropas y si no sabíamos lo hacíamos hacer con otro que sa-

be. Tejíamos el poncho. Todo se confeccionaba

de lana, y no de otra cosa. Por eso

hasta ahora yo quiero ropa de lana nomás. La ropa de algodón peor nomás nos hace frío en este tiempo. De la gente de antes, las ropas son tan bonitas (...). "

Für ältere Frauen ist unverständlich, wie die Jüngeren auf den besonders geschätzten frauenbestimmten Raum des Webens und die damit verbundene soziale Anerkennung einfach verzichten können. Für sie hat die Regel der immer beschäftigten, nie ruhenden Frauen mit besonderen kunsthandwerklichen Fähigkeiten weiterhin einen großen Wert und Gültigkeit. Dazu kommt der Nutzwert selbst gewebter Wollkleidung, die ihrer Ansicht nach besonders gut an die klimatischen und ökologischen Verhältnisse auf dem Altiplano angepaßt ist, da ihr zum einen in der Kälte eine gute Wärmefahigkeit, in der warmen Sonne zum anderen eine gute Belüftung und Tragbarkeit in der Hitze bescheinigt wird. Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Por eso digo a mis hijos 'es fácil alzar de lo hecho, hay que hacer', diciendo,

pero

ellos no escuchan. Antes se obedecía lo que el padre y la madre ordena, ahora ya no escuchan. Por eso les digo: Ustedes ya tienen bastante dinero? Nosotros nos hacíamos (...) les digo. (...) hasta para la gente tejía. Hasta ahora sigo tejiendo para la gente. Las mujeres de ahora no quieren tejer, parece que son flojas. Ahora los ponchos

son

comprados, eso no me gusta ni por vida. Yo quiero lo que me hago. Yo tenía tejidos, eso lo vende (mi hijo), eso lo vende a uno y a otro hasta manta de cargar lo vendió. A mí me sacan y lo venden. Yo reniego callada. El trabajo es para mí, acaso ellos hacen, tanto el hombre como la mujer no piensa tejer, ni una pizca (...). "

Für Andrea bedeutet der Sinneswandel der jungen Frauengeneration, die ihre Kleidung kauft und sich nach der Mode richtet, eine große Verunsicherung und sie reagiert mit Verärgerung und Ablehnung. Sie beschuldigt die jungen Frauen, ungehorsam, faul und respektlos zu sein und die Traditionen und die schönen und wertvollen Webstoffe abzuwerten, da sie diese nicht mehr wie früher als wertvolle Erbstücke aufbewahren, sondern für Geld auf dem Markt verkaufen. Fleiß und eigene Fähigkeiten als soziales Differenzierungsmerkmal und als Gradmesser der weiblichen Ehre werden durch den Zugang zu Geldeinkommen zunehmend verdrängt und ersetzt. Wenn jüngere Frauen überhaupt noch Wollkleidung tragen, dann nur, weil sie zu wenig Geld haben. Während selbst gewebte Kleidung früher ein Statussymbol für Frauen war, ist sie heute oft ein Symbol für Armut. Aus der Sicht der Älteren sind die Jüngeren heute faul, weil sie ihre Kleidung nicht mehr selbst herstellen wollen. Faulheit war für sie immer ein Regelverstoß und damit eine Ursache für Ehrverlust. Für Jüngere ist demgegenüber industriell gefertigte, modische Trachtenkleidung ein Symbol für Geld-

236 einkommen und Reichtum und damit prestigeträchtig. Sie ist auch ein Ausdruck für ein verändertes Verhältnis junger Frauen zu Zeit und Raum. Da heute zunehmend für den Markt produziert wird und mehr und schnellere Transportmittel zur Verfugung stehen als früher, bedeutet das Spinnen und Weben vielfach einfach zu viel Zeitaufwand. Dazu kommen Veränderungen durch den Schulbesuch und durch Ressourcenknappheit, die dazu fuhren, daß in vielen ökologischen Zonen die Wolle heute nicht mehr selbst produziert wird, sondern gekauft werden muß. Junge Mädchen, die länger zur Schule gehen, haben oft das Spinnen und Weben von ihren Müttern oder Großmüttern gar nicht mehr richtig gelernt. Schließlich erhält die Art der Kleidung eine Bedeutung über die Dorfgemeinschaft hinaus auf regionaler Ebene bis hin in die Kleinstädte der Umgebung. Der Bezugsrahmen für Kleiderordnungen und Modeströmungen vergrößert sich und lokale Eigenheiten oder Besonderheiten unterschiedlicher ökologischer Zonen verlieren zunehmend an Bedeutung. Modeströmungen sind ein Massenphänomen und setzen der regionalen und zonenabhängigen Differenzierung zunehmend eine sozio-ökonomische Stratifizierung innerhalb der Gemeinschaften entgegen, die sich jedoch über größere regionale und geographische Räume hinweg gleicht. Der Geschmack ist Bourdieu zufolge nie etwas Individuelles, sondern Ausdruck für die Zugehörigkeit zu einem sozialen Raum (der im Kontext der ländlichen Aymara von Puno eine überlokale Erweiterung hin zur regionalen Ebene erfahren hat) und der sozialen Herkunft, zu der ein bestimmter Habitus gehört (Bourdieu 1987). Victoria setzt sich mit den Vorwürfen der älteren Frauen auseinander, die behaupten, heute seien Frauen faul, weil sie ihre eigene Kleidung nicht mehr herstellen wollten: Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Ahora no usan la ropa hecha de la lana de oveja. No sé, ahora parece que ya somos muy flojos, o quizás ya somos muy activos. Nosotros tenemos todavía la lana de oveja, aunque llevamos para vender, pero no vendemos a su precio. Es muy barata. Más bien debemos confeccionar nuestra ropa dijimos. Esa ropa es caliente dijimos. Pero ya no confeccionamos, aunque cuidamos nuestros pequeños animales. Eso cuesta poca plata nomás. Entonces por gusto estamos en las plazas y tenemos que vender nomás. Luego compramos esa ropa nomás, pero esa ropa no nos ataja del frío. Parece que fuera prestada, así nomás son esas ropas ".

Sie erkennt zwar an, daß die selbstgemachte Kleidung wesentlich besser vor der Kälte schützt und scheint sich auch in Wollkleidung eher wohl zu fühlen, als in industriell hergestellter Trachtenkleidung, die ihr "wie geliehene Kleidung" fremd bleibt. Sie weist jedoch den Vorwurf der Faulheit zurück und begründet den Kleiderkauf damit, daß Frauen heute aktiver seien als früher, daß ihnen die

237 Zeit zum Spinnen und Weben fehle, und daß es gar nicht so teuer sei, Kleidung zu kaufen. Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "A veces me gusta también estas ropas compradas, pero no siempre es de mi buen agrado. De vez en cuando para ir a algún otro lugar nomás nos ponemos esas ropas compradas del mercado. Mientras en acá en la comunidad como con vergüenza

nomás

usamos. No hay como usarla. Por eso no suelo usar. Tengo esas ropas compradas

que

por ahí deben estar guardadas. Compré cuando estuve junto a mi madre, siendo soltera. Las ropas que más uso frecuentemente

son estas ropas tejidas de lana de oveja. A

veces digo, si usaría frecuentemente las ropas compradas, pienso que la gente no me vería muy bien. De ahí que no acostumbro

usarla siempre inclusive hasta el día de

hoy. "

Marcela erinnert sich daran, wie sie selbst als junges, unverheiratetes Mädchen dem Reiz nicht widerstehen konnte, sich Trachtenkleidung auf dem Markt zu kaufen. Aber schließlich kann sie sich doch nicht entscheiden, die gekaufte Tracht zu tragen. Wahrscheinlich lag ihre Unentschlossenheit daran, daß die symbolische Bedeutung der käuflich erworbenen Kleidung zwar ihrem Ehrstatus als verheiratete, jedoch später nicht mehr ihrem Familienstand als getrennte, alleinstehende Frau und auch nicht ihrem Bildungsstand ohne Spanischkenntnisse entsprach. Daher bewahrte sie die gekaufte Tracht schließlich doch nur im Schrank auf, um sie später einmal weiterzuvererben. Dieser Versuch von Marcela, dem Trachtenkauf durch die Praxis der Vererbung doch noch einen Sinn zu geben, läßt jedoch den Faktor der Mode unberücksichtigt. Das Vererben von Kleidung hat mit der Einführung industriell hergestellter Trachten nach Modeströmungen seinen Sinn verloren. Junge Frauen verkaufen daher heute auch geerbte Webstücke, da diese einerseits ihren Gebrauchs- und Tauschwert verloren haben und andererseits zum Symbol für Armut und Ausgrenzung abgewertet worden sind. Als folkloristisches Andenken mit Marktwert für Touristen sind sie jedoch in Geldbeträge umzusetzen, die allerdings kaum die Material- und Arbeitskosten für ihre Herstellung abdecken. Für junge Mädchen, die heute länger zur Schule gehen und westliche Schulkleidung in Form von grauen Trägerröcken mit weißen Blusen und geschlossenen schwarzen Halbschuhen mit Socken tragen müssen, stellt sich das Dilemma nicht mehr als eine Entscheidung zwischen selbst gewebter Trachtenkleidung aus Wolle oder industriell gefertigter Trachtenkleidung mit Stoffschürzen aus Baumwolle und maschinell gestrickten Pullovern dar. Sie müssen sich vielmehr zwischen gekaufter Trachtenkleidung und westlicher Kleidung, sowie zwischen Röcken und Hosen entscheiden. Die meisten jungen Mädchen und Frauen, die auf dem Land bleiben, gehen mit dieser Frage eher pragmatisch um, indem sie sich an die jeweilig üblichen Gebräuche weitgehend anpassen.

238 Lucía, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Estoy acostumbrada

a usar pollera. Cuando estudiaba en el colegio más bien usaba

falda. Ahora como ya no estudio uso pollera nomás. Desde chiquita nos hemos acostumbrado en pollera.

Si usamos falda podemos sentir mucho frío. Igual si

pantalón. Como en el campo hace frío no podríamos

usáramos

aguantar. Es que dice que antes

no había ropa para comprar, por eso usaban ropa de bayeta. Ahora ya queremos lo fácil nomás y ya nos hemos acostumbrado.

La ropa de bayeta pesa demasiado.

Con

pantalón podemos ser ágiles, la falda también, en cambio la pollera nos hace cansar ".

Lucía trägt sowohl Schulkleidung als auch gekaufte Trachtenkleidung, an die sie sich von klein auf gewöhnt hat. Sie trägt angeblich keine gekauften Röcke oder Hosen, weil sie zu wenig wärmen. Dieses Argument wird von ihr selbst jedoch im zweiten Teil ihrer Aussage wieder relativiert, in dem sie Röcke und Hosen mit einem heutigen Lebensgefuhl in Verbindung bringt, und so zeigt, daß sie damit vertraut ist. Das Tragen von selbst gemachter Wollkleidung kommt für sie allerdings nicht in Frage. Die Wollkleidung sei zu schwer und vermittele ein ungeeignetes Lebensgefuhl der Unbeweglichkeit. Dann habe sie doch Hosen oder Röcke lieber, die Beweglichkeit und Bewegungsfreiheit bedeuten. Lucia bringt damit ein neues Lebensgefiihl mit einem anderen Umgang mit Zeit und Raum im Vergleich zu älteren Frauen zum Ausdruck. Das schnelle Tempo und der größere Bewegungsradius bis in die Städte lassen vermuten, daß Lucia außerhalb des Dorfes auch Röcke und Hosen tragen würde. Da im Dorf jedoch Tracht getragen wird, paßt sie sich an und trägt industriell hergestellte Trachtenkleidung. Das Beispiel von Lucia veranschaulicht die wichtige Rolle der individuellen Lebenserfahrung bei der Kleiderwahl.

7.2.4. Kleidung als Ausdrucksform für soziale prozesse innerhalb der Dorfgemeinschaften

Differenzierungs-

In der Seezone mit mehr Migration und verbreiteteren Spanischkenntnissen scheint einerseits der soziale Druck zur Beibehaltung von Trachtenkleidung besonders groß zu sein, andererseits ist der Handlungsspielraum in der Kleiderfrage für Frauen mit Spanischkenntnissen und Migrationserfahrung größer als anderswo. Das Beispiel von Teodora, einer 57jährigen Frau, die durch Entehrung und Ächtung zum zeitweiligen Bruch mit dem Wertesystem der ländlichen Lebenswelt durch Langzeitmigration an die Küste gezwungen wurde, zeigt, daß sie sich nach ihrer Rückkehr in die Dorfgemeinschaft durchaus auf ihre Weise über Kleidervorschriften hinwegsetzt. Da sie jahrelang an der Küste als Hausmädchen gearbeitet hat, ist sie an unterschiedliche Klimazonen, Kleidungspraktiken und Lebensgefühle gewöhnt. Sie verhält sich im wesentlichen pragmatisch und paßt

239 sich an die jeweilige lokal übliche Kleidungspraxis an. Sie reklamiert für sich allerdings einen gewissen Freiraum, um sich auch mal über Kleidervorschriften hinwegsetzen und verschiedene Kleidungscodes miteinander kombinieren zu können. Wenn es ihr auf dem Land zum Beispiel zu kalt wird, dann zieht sie schon mal eine Trainingshose unter ihren Trachtenrock: Teodora, 57 Jahre alt, aus Surupa, Seezone "Sobre eso acá nos criticamos bastante. 'Pero de repente viene el viento', diciendo ando cargado de buzo. Cuando anochece me pongo buzo. Cuando tengo que ir temprano a eso de las 5 de la mañana, a veces camino a pie y me pongo mi buzo. Claro que tengo pollera. Sobre eso yo no sé criticar nada. Para cualquier cosa yo siempre estoy lista. Yo no puedo negar a nada, yo tengo mi pantalón. Es para el frío, no es para el día. Aquí yo no me pongo, voy a la costa, no? Allí si me pongo falditay pantalón.

adentro me pongo

Uno no puede estar con ropas delgadas o con faldita nomás, porque el frío

nos pasa. Por eso uno siempre se pone buzo al interior. Siempre me pongo. Para qué voy a mentir, mi sombrero blanco está guardado (...). Eso no es nada. Tengo un sombrero para mi uso, para ponerme.

Yo siempre estoy lista, aunque sea ropa de mujer o

ropa para cambiarse, las tengo todo listo ".

Teodora fühlt sich durch die Kritik an städtischer Kleidung im Dorf eingeschränkt. Sie bringt ihre kritische Haltung gegenüber den dörflichen Kleidervorschriften und der sozialen Kontrolle unter Frauen dadurch zum Ausdruck, daß sie nicht bereit sei, anderen Frauen vorzuschreiben, wie sie sich kleiden sollten. Sie selbst trägt sowohl selbst gewebte oder gekaufte Trachtenkleidung als auch städtische Kleidung, seien es nun Hosen oder Röcke oder moderne Hüte und kombiniert Kleidungsstücke miteinander, die normalerweise nicht gleichzeitig getragen werden. Als Rechtfertigung für ihre Flexibilität werden Gewohnheiten und Klimaunterschiede angeführt. An der Küste sei es für Wollkleidung aus dem Hochland zu warm und auf dem Altiplano friere sie in der dünnen Kleidung, die an der Küste getragen wird. Doch die Frauen aus dem Dorf könnten sich ja auch dickere städtische Kleidung kaufen; Teodora paßt sich jedoch lieber an und trägt Tracht, um ihren Status als Mitglied der Gemeinschaft nicht zu verlieren. Marcela, die nur 10 Jahre älter als Teodora ist und aus der ökologischen Zone der Kordillere kommt, verfügt weder über Schulbildung noch über Migrationserfahrung. Sie schämt sich schon, wenn sie im Dorfalltag industriell hergestellte Trachtenkleidung trägt, weil die Leute schlecht über sie reden könnten. Dabei findet sie gekaufte Trachtenkleidung manchmal durchaus interessant: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "A veces me gustan también estas ropas compradas, pero no siempre es de mi buen agrado. De vez en cuando para ir a algún otro lugar nomás nos ponemos esas ropas compradas

del mercado. Mientras acá en la comunidad como con vergüenza

nomás

240 usamos. No hay como usarla. Por eso no suelo usar. Tengo esas ropas compradas por ahí deben estar guardadas. Compré cuando estuve junto a mi madre, siendo

que solte-

ra. Las ropas que más uso frecuentemente son estas ropas tejidas de lana de oveja. A veces digo, si usaría frecuentemente las ropas compradas, pienso que la gente no me vería muy bien. De ahí que no acostumbro

usarla siempre inclusive hasta el día de

hoy. "

Aber gekaufte Trachtenkleidung wäre für Marcela nur im städtischen Kontext tragbar, im ländlichen Alltag jedoch peinlich. Sie trägt daher weiterhin im Dorf die selbstgewebte Tracht aus Wolle und kann sich nicht an die gekaufte Trachtenkleidung gewöhnen. Während Marcela noch damit beschäftigt ist, sich zwischen selbstgemachter und gekaufter Trachtenkleidung zu entscheiden, stellt sich für die 30 Jahre jüngere Flora aus der Kordillere die Frage, ob sie sich traut, im Dorf neben der Trachtenkleidung auch städtische Kleidung zu tragen: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Yo nunca sé ponerme falda, tampoco sé ponerme pantalón. Algunas ausentes yendo a otro lugar de muchacha ya se ponen faldas que han conseguido, yo nunca sé ponerme. Ahora mi hijita está por el lado de Yunguyo. Ella está sola y se encuentra en el colegio y tiene faldas que me envía bastante. Esas faldas se las he guardado amarradas. eso a veces mi esposo suele decirme:

'por qué no te pones siquiera para cocinar'.

no quiero, con falda parece que puedo caminar como un pajarito acostumbrada

Por Pero

del río. Yo estoy

a la pollera. Mi hija tendrá siempre algún día sus hijas, para ellas se los

estoy guardando ".

Obwohl sie von ihren Kindern, Brüdern oder vom Ehepartner dazu aufgefordert wird, doch ihre Tracht gelegentlich abzulegen und wenigstens in der Küche, wo es keiner sieht, Röcke oder Hosen zu tragen, kann Flora sich nicht dazu durchringen. Sie begründet diese Haltung damit, daß sie an die Tracht gewöhnt sei und sich in der städtischen Kleidung "wie ein kleiner Flußvogel" zu leichtfüßig, d.h. eher unweiblich, klein und unscheinbar vorkomme. Für sie ist Weiblichkeit offenbar unmittelbar mit Bodenständigkeit, Auffälligkeit, einer gewissen Behäbigkeit und einem Schönheitsideal verbunden, das auf bunten Farben und schweren, schwingenden Röcken beruht. Die Anregung ihrer Familie, die städtische Kleidung im eigenen Haushalt sozusagen versteckt vor den Blicken der Dorfmitglieder - auszuprobieren, deutet darauf hin, daß der eigentliche Grund für Floras Ablehnung in der Angst vor Ehrverlust durch das Gerede und die soziale Kontrolle ihrer außerfamiliären Umgebung besteht. Die industrielle städtische Kleidung aus der Massenproduktion ist wesentlich billiger als die handwerklich gefertigte Trachtenkleidung, und daher vor allem für Tätigkeiten im Alltag nutzbar, die mit Schmutz verbunden

241 und abgewertet sind. Es gibt aber auch noch einen weiteren Grund dafür, warum Flora sich noch nicht für die städtische Kleidung entscheidet. Sie hat sich nämlich erst vor relativ kurzer Zeit von gewebter Trachtenkleidung aus Wolle auf moderne Trachtenkleidung aus industrieller Baumwolle oder aus anderen Stoffen umgestellt: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Algunos hombres y maestros todavía se ponen [la ropa hecha de lana de oveja], A veces sé decir a mi esposo a que se ponga, porque tiene sus pantalones. Mi suegra andaba sin salir de la ropa hecha de lana de oveja. Y cuando murió ha dejado muchos pantalones nuevos. Pero mi esposo era solo y empezó a regalar, no quiere ponerse, diciendo que es espinoso. Y como solo está acostumbrado desde pequeño a la ropa de paño y cuando se le dice que se ponga camisa de bayeta, dice que raspa hasta dejar rojo al cuerpo y eso duele. Entonces para acostumbrarse debe ser distinto. Yo tampoco uso. Pero mi papá y mi mamá usaban siempre ropa hecha de la lana de oveja, hasta el pantalón. Yo también he crecido con esa ropa. Ahora con mi esposo usamos ropa de paño, pero me he juntado con mi esposo sin una chompa comprada. Puramente ropa de oveja me tejía, toda clase de chompas nos tejíamos (...). " Während ihre Eltern und Schwiegereltern immer selbstgewebte Wollkleidung getragen haben, hat Floras Mann seine geerbten Wollhosen inzwischen verschenkt. Er will seit seiner Ausbildung an der Küste keine Wollhemden oder Hosen mehr tragen, weil sie aus seiner Sicht seinem Bildungs- und Berufsstand nicht mehr entsprechen, er nicht mehr daran gewöhnt ist und eine Distanz zu dem damit verbundenen Lebensgefühl und Wertsystem der bäuerlichen Lebenswelt der Aymara entwickelt hat. Flora ist noch mit selbst gewebter Trachtenkleidung aus Wolle aufgewachsen und hat auch noch weben und stricken gelernt. Sie hat keine Migrationserfahrung, während ihr Mann und ihre Kinder mit Migrationserfahrung ganz anders darüber denken. Flora spricht nicht gut Spanisch und kann auch nicht besonders gut lesen und schreiben. Sie bewegt sich innerhalb des Wertsystems der ländlichen Lebenswelt der Aymara. Als verheiratete Frau aus gutem Hause mit hohem Ansehen im Dorf kann sie ihren Ehrstatus unter Frauen und in der Gemeinschaft ihren Fähigkeiten entsprechend am besten in gekaufter Trachtenkleidung verteidigen. Mit der Wahl städtischer Kleidung in Form von Rock oder Hose würde sie sich über die Regeln und Hierarchien der Ehre unter den Frauen und Familien im Dorf und über ihr eigenes Ehrgefühl hinwegsetzen und selbst ausgrenzen. Eine Frau aus der mittleren Zone, die zur gleichen Altersgruppe von Teodora aus der Seezone gehört, erinnert sich an Kleiderprobleme in ihrer Kindheit:

242 Celia, 56 Jahre alt, aus Tanapaca, mittlere Zone "Nos quedamos huérfanos y no había ni lana para la ropa. Luego mi hermanito

com-

pró ropas de tela sintética, vestidos y me puso esos vestidos. Yo me ponía pollera. pondré pollera, decía.

'No te pongas pollera ' me decía. Luego me preguntaba

qué no querrá que me ponga pollera?'

Me '¿por

(...) luego pensé que no había bayetas para la

pollera. Por eso me pondré estas ropas de paño. Nos hemos puesto ropa de paño. Yo tampoco sé hablar castellano, tampoco puedo hablar. Entonces en ese momento

seguro

que parecía puesta la tela como a una ovejita, diciendo pienso ahora, así nomás era. "

Als Waisenkind hatte Celia keine Wolle und lernte wahrscheinlich auch nicht weben. Einer ihrer Brüder, der an die Küste migriert war, versorgte sie mit städtischer Kleidung und forderte sie vermutlich aus Kostengründen dazu auf, keine Tracht zu tragen. Da sie jedoch damals noch kein Spanisch sprechen konnte, meint sie im Rückblick, aus der Sicht der anderen im Dorf hätte sie sich damals so wie ein Schaf lächerlich gemacht, das sich Kleider anzieht. Denn sie hätte "Mestizenkleidung" getragen, ohne über die Eigenschaften von "Mestizen" zu verfugen. Dieses Beispiel verdeutlicht den hohen Symbolcharakter der Kleidung im ethnischen Spannungsfeld zwischen "Mestizen" und indios. Von den Interviewpartnerinnen wird das Tragen von Röcken oder gar Hosen aus Baumwollstoffen eindeutig mit dem Status von "Mestizen", d.h. mit Städtern, die Spanisch sprechen, lesen und schreiben können, identifiziert und ist ein Zeichen für die eigene Ausgrenzung aus der Gemeinschaft und der ethnischen Gruppe der Aymara. Einer Frau auf dem Land steht als Analphabetin und mit geringen Spanischkenntnissen das Tragen städtischer Kleidung nicht zu. Die Zuschreibung ihres weiblichen Ehrstatus und ihrer Mitgliedschaft in der Gemeinschaft würde durch eine derartige Kleidungspraxis gefährdet. Männer dagegen dürfen sich auch auf dem Dorf durchaus wie "Mestizen" kleiden, denn die meisten von ihnen sprechen spanisch und haben genug Schulbildung, um lesen und schreiben zu können. Außerdem ist ihre männliche Ehre offensichtlich weit weniger mit Trachtenkleidung verknüpft als die weibliche Ehre und ihr Status als Dorfmitglied wird seltener als im Fall von Frauen in Frage gestellt. Eine Frau hingegen, die Lesen und Schreiben gelernt hat und im Verwaltungszentrum des Bezirks wohnt, trägt als ein Differenzierungsmerkmal gekaufte Trachtenkleidung anstelle von selbst hergestellter Kleidung, um zu beweisen, daß sie über Kenntnisse von "Mestizen" und Geldmittel verfugt und sich Trachtenkleidung kaufen kann. Victoria, 36 Jahre alt und aus der ökologischen Zone der Kordillere, greift bei der Beschreibung ihrer Vorstellungen von Weiblichkeit und der Begründung dafür, warum sie Trachtenkleidung und keine städtische Kleidung kauft, auf den Begriff der chola zurück und orientiert sich damit an den städtischen Aymara von La Paz in Bolivien:

243 Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "A mí me gusta usar pollera nomás siempre acá en el campo. La falda es bueno para ir a las ciudades no más. Con falda me siento muy liviana y rara, no. Luego nos hace frío. Así es con falda. Luego uso pollera no más siempre. A veces conozco a las señoras que tienen falda. Entonces ellas parece que son pequeñas chicas, así nos parece. Pero con pollera nos parece una señora y parecemos

a una mujer. Para una mujer

siempre es bueno pollera. Así es que a mí me gusta pollera y sombrero.

Eso nomás

siempre me gusta. Me gusta vestirme de chola. Nada más me gusta ".

Victoria zufolge sind Symbole für Weiblichkeit in der Lebenswelt der Aymara so stark mit der Trachtenkleidung verknüpft, daß die enge städtische Kleidung ohne Hüte oder gar in Hosen als ausgesprochen unweiblich abgelehnt wird. Die Frauen verlören damit an Präsenz und würden klein und unauffällig. Sie würden wie junge Mädchen aussehen und nicht wie richtige, reife Frauen. Die städtische Kleidung verwische die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen, die von der Trachtenkleidung gerade besonders hervorgehoben werden und die innerdörflichen Hierarchien zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig beschreibt Victoria selbst gewebte Kleidungsstücke jedoch als rückschrittlich und schmutzig, eben wie Kleidung, die von Leuten getragen wurde, die ungebildet waren, weil sie nicht lesen und schreiben, dafür aber gut weben konnten. Obwohl noch einmal die Tradition der Trachtenkleidung und ihre Verbindung zu früheren Generationen herausgestellt wird, haben sich die Vorstellungen von Weiblichkeit und der weiblichen Ehre durch den Einfluß der Zweisprachigkeit und der Lese- und Schreibkenntnisse so grundsätzlich verändert, daß die selbst gewebte Trachtenkleidung aus Wolle ihren Einfluß auf den Ehrstatus weitgehend verloren und als Symbol für Armut einen Prozeß der Abwertung vollzogen hat. Das gilt jedoch nicht für die Tracht als Symbol für die eigene ethnische Zuordnung: Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "No sé por qué usaremos pollera. Nuestros abuelos y nuestras abuelas siempre

usaban

esa ropa. Entonces ahora continuamos usando esa ropa nomás siempre. Sólo que antes usaban pollera y sombrero hechos de la lana de oveja. Nuestros abuelos y

nuestras

abuelas usaban siempre ropa de oveja. Ahora nosotros hemos dejado de usar. Quizás porque ya sabemos leer y escribir. Por eso habremos dejado de usar ropa de bayeta. Nuestra ropa ya nos parece que es sucia o diferente. Antes se teñía con anilina y eran teñidos con bonitos colores que no perdían color. Pero ahora parece que ya no venden buena calidad de anilina. Parece que están mezclados con azúcar y harina.

Entonces

esa anilina los tiñe medio sucio. Ya no tiñe bonito, por eso parece que ya tenemos vergüenza de usar esa ropa ".

244 Die Frauen, so Victoria, wüßten heute nicht mehr, warum ihre Vorfahren diese Tracht überhaupt getragen haben. Selbst gewebte Trachtenkleidung aus Wolle sei heute angeblich nicht mehr so schön wie früher, weil die chemischen Färbemittel mit Zucker und Mehl vermischt würden. Deshalb würden sich jüngere Frauen schämen, diese Kleidung zu tragen. Der Hinweis auf die chola paceña deutet auf den Symbolcharakter der Trachtenkleidung für die ethnische Zugehörigkeit zu den Aymara hin. Ein Ausbrechen aus der Tracht käme einer Zurückweisung der Zugehörigkeit zu den Aymara gleich, etwa vergleichbar mit der Weigerung Aymara zu sprechen oder im Dorf zubereitete Speisen zu verzehren. Migrantinnen, die in städtischer Kleidung und Aufmachung ins Dorf zu Besuch kommen, Spanisch sprechen und das Essen zurückweisen, werden auch von jüngeren Frauen heftig kritisiert: Lucia, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Los que salen a las ciudades, algunos llegan bien creídos, ya ni quieren hablar aymara, algunos desconocen su lugar de origen. Algunos tienen vergüenza de andar con su mamá, no quieren ni comer fiambre. Algunos se hacen que no conocen la comida. " Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Algunos jóvenes de ambos sexos se van a otro sitio. Pero no reconocen a sus padres. Cuando se encuentran con alguien muestran a otros mistis y a los que tienen buenos carros, diciendo que es su padre. Existen varias clases de aymaras que se han ido. Algunos ya tienen vergüenza. Pero otras aymaras no son así. Somos aymaras, nuestros padres y madres son aymaras. Entonces donde sea que estemos o que seamos una buena señora, tenemos que cogerlos diciendo que es mi padre y mi madre. No podemos olvidarnos ni dejar de ser aymara. " Lucía kritisiert Mädchen, die sich schämen, sich mit ihrer eigenen Mutter vom Land zu zeigen. Flora weist darauf hin, daß es verschiedene Formen gibt, wie Aymara, die ihre Dorfgemeinschaft verlassen haben, mit ihrer Herkunft und ihrer Kultur umgehen. Aus ihrer Sicht tragen nur 'Mestizinnen', die ihre AymaraHerkunft leugnen und ablehnen, städtische Kleidung. Im Vergleich dazu wird gekaufte Trachtenkleidung jedoch mit neuen Inhalten der weiblichen Ehre wie Zugang zu Geld, Schulbildung, Spanischkenntnissen und zum Umgang mit der Außenwelt in Verbindung gebracht. Sie wird damit innerhalb des Wertsystems der ländlichen Lebenswelt der Aymara zu einem neuen Statussymbol, mit dessen Hilfe die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung der Lebenswelt der Aymara im Spannungsfeld zwischen zwei Kulturen zum Ausdruck kommt. Innerhalb der weiblichen Ehrhierarchie werden Frauen mit gekaufter Trachtenkleidung heute innerhalb der innerdörflichen Rangordnung höher eingeordnet als Frauen mit selbst gewebter Wollkleidung. Frauen, die außerhalb der Dorfgemeinschaft gelebt haben, kehren mit der Rückkehr ins Dorf zur gekauften Tracht

245 zurück, um ihre Zugehörigkeit und ihren Platz innerhalb der Gemeinschaft zu verteidigen. Sie sind auch weiterhin auf einen guten Ruf angewiesen, wenn sie verhindern wollen, daß ihnen jemand ihren Besitz und ihre Existenzgrundlagen als Mitglied ihrer Dorfgemeinschaft streitig macht. Die Analyse der Interviewaussagen hat gezeigt, daß sich der Übergang von selbstgewebter Trachtenkleidung aus Wolle zur gekauften Trachtenkleidung innerhalb der weiblichen Ehrskala vollzieht und eine zusätzliche Ausdifferenzierung der Hierarchie unter Frauen ermöglicht. Demgegenüber stellt der Übergang von gekaufter Trachtenkleidung zur städtischen Kleidung innerhalb der Dorfgemeinschaften sowohl die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft als auch die kulturelle ethnische und die geschlechtliche Zugehörigkeit in Frage. Junge Frauen, deren Ideal darin besteht, sich in beiden Lebenswelten bewegen zu können, verhalten sich dem jeweiligen Kontext entsprechend und passen sich an. In der Dorfgemeinschaft verteidigen sie damit soziale und wirtschaftliche, familiäre und individuelle Interessen. Dafür müssen sie auffallen und ihre Weiblichkeit unterstreichen. Außerhalb der Dorfgemeinschaft versuchen sie vor allem der Benachteiligung durch Diskriminierung zu entgehen und so wenig wie möglich als Fremde aufzufallen. Dafür müssen sie sich städtisch kleiden und ihre Herkunft verleugnen. Der Kleiderwechsel ermöglicht es den Frauen, sich ihre jeweilige ethnische Zugehörigkeit je nach Opportunität selbst zuzuschreiben. Rosalia ist der Ansicht, daß die Kleidung zwar gewechselt werden kann, aber der Charakter der Personen und ihre Gefühle die gleichen bleiben. Sie zieht sich mit dieser Ausdrucksweise in die ländliche Lebenswelt der Aymara zurück, der sie sich emotional verbunden fühlt und die ihr Sicherheit bietet: Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Solamente es ropa y podemos ponernos pantalón, también podemos ponernos

polle-

ras y faldas. Eso solamente se cambia. La ropa se cambia. Pero nuestro corazón no se puede cambiar. No podemos ponernos otro corazón (...). Podemos usar otra ropa, no es ninguna vergüenza, podemos ponernos pollera, falda y pantalón. Para mí es igual no más. Puedo ponerme cuando estoy en medio de los que tienen pantalón, si me encuentro en ese ambiente puedo estar bien con pantalón. tamos y nos paramos.

Cuando trabajamos nos sen-

Trabajamos muy fuerte acá, entonces usar pantalón aquí no se-

ría bueno."

Aus Rosalías Sicht brauchen sich die Frauen nicht zu schämen, ganz gleich ob sie Tracht oder Hosen tragen. Allerdings hält sie Hosen bei der Landarbeit für unpraktisch. Im Dorf tragen Frauen Tracht, sprechen Aymara und halten sich mehr oder weniger an allgemein akzeptierte Regeln und Normen, selbst wenn sie dazu schon eine innere Distanz entwickelt haben. Außerhalb des Dorfes sprechen sie Spanisch, tragen städtische Kleidung und verleugnen Nicht-Aymara gegenüber ihre Herkunft.

246 Auf Kleidung wird sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Gemeinschaft großen Wert gelegt und genau geachtet. Dabei tragen viele Frauen im Dorf heute im Alltag im Haushalt und in der Produktion oft noch geerbte oder selbst hergestellte Wollkleidung, in die sie keine Geldmittel investieren müssen. Dies hängt auch damit zusammen, daß Frauen als Verantwortliche für die Versorgung der Familie das knappe Geldeinkommen sparen müssen und ihre eigenen Interessen zurückstellen, selbst wenn alle anderen Familienmitglieder gekaufte Kleidung tragen. Lediglich zu besonderen Anlässen wie bei Dorfversammlungen, Festen oder dem Besuch auf dem Wochenmarkt im Nachbarort werden besonders wertvolle Teile der modernen Tracht getragen. Je nachdem wie hoch das Geldeinkommen einer Familie ist, werden gekaufte Kleidungsstücke wie z.B. polleras aus Baumwolle oder Seide getragen. Dabei sind sowohl die Qualität und Muster der Stoffe als auch die Schnitte, die Rocklänge, die Anzahl der Falten oder die Farbkombination regelrechten Modeerscheinungen unterworfen, ohne jedoch das Grundprinzip der Tracht mit mehreren breiten Röcken, Schürzen, Blusen und Hüten aufzugeben. Die Form und Farbe der Hüte variiert ebenfalls mit der Mode. Im Fall von Blusen oder Strickjacken und Pullovern ist je nach lokal zuzuordnender Praxis noch der modernste Einschlag erlaubt. Nur in wenigen Regionen, u.a. in der Seezone, sind besondere bestickte Wollblusen üblich. Auch bei geschlossenen Schuhen, die von Frauen nur zu besonderen Anlässen getragen werden, gibt es Modetrends aus Bolivien. Der Status von Frauen unterscheidet sich daher u.a. auch dadurch, wie häufig sie gekaufte Trachtenkleidung tragen, von welcher Qualität und wie modern die Schnitte, Farben und Stoffe beschaffen sind, wie oft sie gewechselt werden etc. Bei der Analyse der Interviewaussagen über die Kleiderpraktiken ländlicher Aymara-Frauen aus drei ökologischen Zonen in Puno haben sich eine ganze Reihe von Tendenzen und Handlungsmöglichkeiten von Frauen herauskristallisiert: Der Rückzug auf die selbstgewebte Kleidung und den damit verbundenen frauenbestimmten Raum mit der hohen Bewertung von Ehrbarkeit, Schönheit, Ästhetik und Weiblichkeit. Die Ablehnung der abgewerteten selbst gewebten Kleidung als Symbol für Armut, Unbeweglichkeit und höheres Alter. Die unangepaßte Nutzung von Kleidercodes, die nicht dem Status und dem Symbolcharakter entsprechen und daher der betroffenen Person nicht zustehen. Die Aufwertung und Ausdifferenzierung des Ehrstatus von Frauen innerhalb der weiblichen Ehrskala im Dorf durch das Tragen von gekaufter Trachtenkleidung aus teuren Stoffen. Die pragmatische Anpassung an jeweils übliche Kleidercodes einerseits und die Kombination unterschiedlicher Kleidercodes durch praktische Überlegungen andererseits mit dem ständigen Kleiderwechsel, je nach Situation, Umgebung und Lebenswelt.

247

7.3.

Kulturelle Identität und die weibliche Sicht der Ethnizität im Wandel

Im folgenden Teil soll dem Bild der Interviewpartnerinnen von ihrer eigenen weiblichen kulturellen Identität und ihrer ethnischen Zugehörigkeit im Vergleich zu ihren Entwürfen für ihre Kinder nachgegangen werden. Am Beispiel von Formen der Diskriminierung, denen Aymara-Frauen in ihrer Tracht in städtischen Kontexten ausgesetzt sind und ihrer Reaktion darauf soll aufgezeigt werden, wie die städtische Lebenswelt als ein weitgehend unzugänglicher Lebensraum wahrgenommen wird, welche ethnischen, geschlechts- und klassenspezifischen Differenzierungen von ihnen vorgenommen werden und in welcher Weise das Selbstbild und der Lebensentwurf der Frauen sowie ihre Zukunftsperspektiven für ihre Kinder davon beeinflußt werden. Die Trachtenkleidung - ob selbstgewebt oder gekauft - ist in der Stadt ein Grund für die dreifache Diskriminierung von Frauen, da sie dort als Symbol für ihr Geschlecht, für ihre ethnische Zugehörigkeit und für ihre Armut gedeutet wird. Die Interviewpartnerinnen erleben diese dreifache Diskriminierung außerhalb der Dorfgemeinschaften in Form von Beschimpfungen, Erniedrigungen und öffentlicher Abwertung und wie ihnen der Zugang zu Informationen, Dienstleistungen, zum Handel, zu Arbeitsplätzen und zu monetärem Einkommen verwehrt oder extrem erschwert wird. Sie reagieren darauf mit Ärger, Wut, Ohnmachtsgefühlen, mit einer Verteidigungshaltung und mit Selbstbehauptung. Sie ziehen sich auf eigene ländliche Werte und Fähigkeiten zurück und verbinden diesen Rückzug mit der Verachtung der Städter, weil diese dem Wertesystem der Aymara nicht entsprechen; dabei ordnen sie alle Städter pauschal der ethnischen Gruppe der "Mestizen" zu. Victoria beschreibt, wie sie in städtischen Kontexten als Aymara-Frauen ausgelacht werden, weil sie keine Schuhe tragen und ungekämmt in die Stadt kommen. Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Vamos a Puno y a otras ciudades y allí no nos valoran nada, sólo al que tiene zapato, y como los que trabajan en las oficinas tienen zapato que están bien lustrados, a ellos nomás les hace caso; pero nosotras estamos yendo a Puno con los cabellos bien peinados;

pero

para llegar ya nos han despeinado los cabellos el viento, entonces llegamos como si no nos hubiésemos peinado y bien empolvado, luego no nos reciben con cariño. "

Die Frauen haben es in größeren Ortschaften vor allem mit Ladenbesitzern, Zwischenhändlern und Angestellten staatlicher Behörden zu tun. Von diesen werden sie zunächst aus sozialen und ethnischen Gründen ausgegrenzt: als arme Leute ohne Schuhe und sauber gekämmte Haare werden sie als schmutzige, stinkende indias beschimpft. Städter werden bevorzugt behandelt und Aymara-Frauen nur unwillig

248 bedient. Dabei werden sie in der Stadt sowohl von Männern als auch von Frauen, die sich schminken und deshalb für etwas Besseres halten, schlecht behandelt. Flora, 36 Jahre alt aus Tarapoto, Kordillere: "Los hombres de la ciudad nos desprecian mucho a los campesinos, en las oficinas y en otros lugares (...) diciendo que somos aymaras y mujer sucia, apesta mucho, diciendo. Hacen muecas sus labios esas señoras que tienen pintado sus labios. Los caballeros hacen caso solamente a las señoritas pintadas y con pantalones. A nosotras nos retiran para después (...)." "Un año fuimos a la ciudad y nos han mirado como a una loca que hemos entrado. Como tenemos solamente ojotas y no somos tanto, los que tienen plata se compran zapatos. Cuando vamos a los mercados, los mistis nos miran feo y nos desprecian diciendo: 'esas indias'. Así nos desprecian mucho. " Flora beschreibt, wie sie in ihrer Trachtenkleidung gegenüber der städtischen Kleiderordnung von Frauen in Hosen mit festen Schuhen und geschminkten Gesichtern im Nachteil ist und wie die Männer nur diejenigen Frauen beachten, die der städtischen Mode entsprechen. Abgesehen von der Kleidung sind Sprachkenntnisse für die sozio-ökonomische und ethnische Zuschreibung und die damit verbundene Diskriminierung der Aymara-Frauen in der Stadt ausschlaggebend. Dabei werden Landfrauen auch von städtischen Frauen mit Aymara-Herkunft erniedrigt, die sich an der Abwertung der Landfrauen beteiligen, um sich von ihnen abzusetzen. Rosalia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone: "Las mujeres del campo estamos un poco humilladas, en la ciudad nos ven como si fuéramos personas innecesarias. Pero parece que así nos vemos entre nosotras nomás, pero (...). Cuando vamos a las oficinas, viendo a las mujeres, no nos hacen caso: 'esa es mujer nomás' nos dicen. De la misma manera, cuando entramos a las tiendas grandes, viéndonos con pollera y viéndonos con ropa del campo nos miran con malos ojos. Como si nosotras no supiéramos nada, no supiéramos pensar y no tuviéramos sabiduría. Asi nos miran (...) pero ahora con lo poco que sabemos, con nuestra lengua aymara somos pensantes igual que ellas, somos hablantes igual que ellas. Solamente porque ellos no saben aymara, tampoco nosotros sabemos castellano. Por eso nomás no podemos comunicarnos. Ellos deben saber hablar aymara. Nosotras debemos saber castellano y podríamos entendernos bien, digo yo. " Für Rosalía ist neben der Trachtenkleidung - die sie vor allem auf öffentlichen Ämtern der Abwertung aussetzt - auch das Sprachproblem von Aymara-Frauen, die nur selten Spanisch sprechen, für die Diskriminierung in der Stadt ausschlaggebend. Aus ihrer Sicht fuhren diese mangelnden Spanischkenntnisse bei Städtern zu dem Eindruck, Aymara-Frauen seien dumm und sprachlos. Rosalias Ideal

249 besteht in einer zweisprachigen Gesellschaft. Dann könnten die Aymara-Frauen zeigen, daß sie auch denkfahige Menschen sind und über Fähigkeiten verfügen. Ihre weitergehende Forderung nach gleichwertiger Anerkennung der AymaraSprache wird jedoch bisher nur selten von anderen Frauen vorgebracht, die vor allem für sich selbst erst einmal die Zweisprachigkeit anstreben, um sich auf spanisch in städtischen Kontexten und bei Behörden besser verteidigen zu können. Für die meisten Interviewpartnerinnen steht vor allem die Fähigkeit im Vordergrund, sich gegen Beschimpfungen zur Wehr zu setzen; die Notwendigkeit sich auch argumentativ verteidigen, bekommt über die reinen Sprachkenntnisse hinaus damit noch eine zusätzliche Dimension. Das ethnische Spannungsverhältnis zwischen mistis und indios in Puno wurde bereits im zweiten Kapitel beschrieben. Aus der Sicht der Interviewpartnerinnen wird eine ganz unmittelbare Analogie zwischen dem Gegensatzpaar misti/indio und dem Gegensatz Stadt/Land hergestellt. Die spanische Sprache symbolisiert den städtischen, die Aymara-Sprache den ländlichen Kontext. Nur Großgrundbesitzer auf dem Land waren "Mestizen", ansonsten leben alle "Mestizen" in der Stadt. Das Auto, das Geld und die Sauberkeit sind Symbole für den städtischen Kontext, während das Land mit Fleiß, Ausdauer, Zähigkeit, Resistenz gegen Krankheiten sowie Witterung und Solidarität in Zusammenhang gebracht wird. Die Stadt wird mit einem bequemeren, sauberen Leben assoziiert und bewundert, weil Städter gut gekämmt sind, lesen und schreiben können und saubere Kleidung und Schuhe tragen. Sie sind reich, weil sie Geld haben und zur Arbeit gehen. Vor allem für Frauen aus der Kordillere mit geringem Zugang zum Wasser, steht die Sauberkeit und die Trinkwasserversorgung in der Stadt im Vordergrund, wo die Menschen sich täglich duschen und gut kleiden. María S., 46 Jahre alt, aus Aurincota, Kordillere "De ese lado es bueno, es mejor, andar limpias, es siempre limpio, con nosotras no igualan, más bien con la mujer campesina no. Siempre son limpias en la ciudad. Hasta su alimentación es limpia, aquí nosotras comemos a lo apurado (...). "

Doch die Bewunderung für die Sauberkeit wird durchaus mit spöttischer Distanz vorgebracht, auch wenn sie für die Kinder als eine Art Utopie gewünscht wird. Für Andrea bleibt dieser städtische Idealkontext jedoch auch für ihre Kinder unerreichbar: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Los mistis parece que andan muy bien, bien limpio. Luego se lavan cada

mañana.

También se lavan a las doce, por la tarde y por la noche también se lavan,

siempre

están lavándose nomás. En el campo no nos lavamos, acaso siquiera nos lavamos un rato, a la semana nos lavamos una sola vez. Así nomás es. Entonces en la ciudad son limpios, así quisiera que sean nuestros hijos. Da ganas de decir que sean así. "

250 Für Teodora aus der Seezone steht demgegenüber vor allem der Reichtum der Städter und die Stadt als Möglichkeit zum Geldverdienen im Vordergrund. Teodora, 57 Jahre alt, aus Surupa, Seezone "Ellos los de la ciudad tienen bastante dinero (...) los hombres y los jóvenes, se van y hacen llegar un poco de dinero (...). "

Doch die Bewunderung hält sich in Grenzen und weicht einer eher ambivalenten Haltung gegenüber der Stadt, die vor allem Ohnmachtsgefuhle und Wut gegenüber den Kränkungen, Beschimpfungen und Benachteiligungen mit sich bringt. Der Rückzug auf das Land und zu ländlichen Werten wird als Verteidigungs- und Selbstbehauptungsstrategie angetreten und die Vorteile und die positiven Aspekte und Werte des Landlebens aufgeführt, denen die Städter nicht entsprechen. Die ländliche Gemeinschaft erscheint als der Ort, an dem sich die Frauen auskennen, an dem sie bekannt sind und an dem sie zwar auch Unterordnung erfahren, an dem sie aber auch mit Anerkennung und Achtung rechnen und ihr Selbstbewußtsein stabilisieren können. Positive Werte und Fähigkeiten auf dem Land werden in spiegelverkehrter Form in eine negative Bewertung der Städter umgedreht. Maria, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Al menos nosotras comemos bastante. No comemos como las de la ciudad con un poco de agua caliente, con un platito de segundito en el desayuno. Nosotras no somos así, aquí comemos tres a cuatro platos, ni con eso estamos conformes. "

Auf dem Land gibt es aus der Sicht von Maria, die aus einer gut gestellten Familie der Kordillere stammt, wesentlich mehr zu essen als in der Stadt. Diese Schutzbehauptung entspricht in ihrem Fall höchstwahrscheinlich auch den Tatsachen. Sie kann aber nicht als allgemeingültig gelten, wie die Aussage von Teodora, einer alleinstehenden Mutter mit drei Kindern aus armen Verhältnissen, aus der Seezone zeigt: Teodora, 57 Jahre alt, aus Surupa, Seezone "Todos mis paisanos piensan que debe haber trabajo para tener comida. Eso sería mejor. Cuando van a otras ciudades llegan gordos, dicen. Suelen trabajar, comen mejor. Nosotros aquí estamos flacos, ya estamos puros nervios, caminamos puro

cuero

puesto por encima de los huesos, diciendo, se hablan. "

Teodora beschreibt, wie die saisonalen Migranten aus der Seezone in der Stadt besser essen und zunehmen, während die Leute auf dem Land schon ganz dünn und ausgemergelt herumlaufen. Für Maria sind vor allem Spanischkenntnisse in der Stadt wichtig. Für sie gehört Spanisch zur Stadt und Aymara zum Land.

251

María, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Los aymaras hablamos siempre en aymara. Los mistis están bien en las ciudades. Hablar castellano sería bueno en la ciudad. En el campo hablamos en aymara. Sifuéramos a las ciudades quizás hablaríamos castellano, eso estaría bien. Aquí en el campo se ríen cuando hablamos castellano, más bien hablaríamos con los que hablan castellano. En estas organizaciones tampoco se habla, se ríen, así nomás es. Los jóvenes de ahora ya no, hasta ellas sabrán, hasta con falta se hablan. Siempre sería bueno hablar aymara. Los hacendados nomás eran mistis. No sería bueno. Si tuviéramos carros, esos nomás son mistis. Nosotros los pobres no podríamos. Al menos yo ya soy de edad. Quizás de alguna manera nuestros hijos serían (...). "

Sie unterscheidet zwischen denjenigen Dorfbewohnern, die nur Aymara sprechen, und jungen Leuten vom Land, die zwar Spanisch lernen, die Sprache jedoch nur fehlerhaft beherrschen. Sie beschreibt, wie diese jungen Leute auf den Dörfern durch sozialen Druck dazu angehalten werden, auf Versammlungen Aymara und nicht Spanisch zu sprechen. Arme und ältere Leute vom Land haben ihrer Ansicht nach keine Möglichkeit, zu "Mestizen" zu werden. Aber für ihre eigenen Kinder, die aus besseren Verhältnissen kommen, kann sie sich das "Mestizentum" schon vorstellen, allerdings nur dann, wenn sie in die Stadt ziehen. Das Konzept von "Mestizen", die von den Aymara als misti bezeichnet werden, wird außer mit ehemaligen Großgrundbesitzern vor allem mit Händlern und überhaupt allen Städtern in Verbindung gebracht. Die zunehmende Schulbildung hat dazu geführt, daß immer mehr Kinder von ihren Eltern vom Land zur Ausbildung in die Stadt gebracht werden. Dominga, 36 Jahre alt, aus Tanapaca, mittlere Zone "Cuando vamos a la ciudad, siempre estamos despreciados. Del campo llevamos a nuestros hijos al colegio de la ciudad y es molestoso ir y venir. Nos alquilamos la casa y allí nunca son tratados bien nuestros hijos como los hijos de la ciudad. Siempre tratan diferente a nuestros hijos. Cuando yo me encuentro en la ciudad me siento distinta, no siempre es igual que vivir en el campo. Como todo es caro siempre estoy pensativa y triste. En la ciudad no viven igual que en el campo, como nosotros. En el campo muy temprano nos vamos con los animales, nos cocinamos temprano y vivimos con el ganado. Cuando vamos a la ciudad por algo quedamos sorprendidas. Como todo es caro no hallamos qué hacer. No hay como ir así nomás a la ciudad. Para los que vivimos en el campo siempre nos gusta la pampa. La gente de la ciudad no conocen bien ni la chacra, ni los animales. Los que vivimos en el campo trabajamos más. "

Dominga stellt fest, daß nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder in der Stadt diskriminiert werden. Sie selbst fühlt sich in der Stadt ohnmächtig und ratlos, weil alles so teuer ist. Sie kann es sich kaum leisten, in die Stadt zu fahren. Darüber hinaus handelt es sich dabei um eine unangenehme Erfahrung, der sie lieber

252 aus dem Weg geht. Das Resultat ist ein Rückzug auf das Land. Dort fühle sie sich wohl, dort verfüge sie über anerkannte Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dominga ist der Ansicht, daß die Leute in der Stadt weniger hart arbeiten müssen als die Aymara auf dem Land, und daß sie sich mit Landwirtschaft und Viehzucht nicht auskennen. Städter werden für Schwächlinge gehalten, weil sie nicht körperlich arbeiten, da sie vom Markt und vom Geld abhängig sind, sich nicht dem rauhen Klima aussetzen und leicht krank werden können. Flora ist der Ansicht, daß es in der Stadt viel einfacher sei, Geld zu verdienen und sich zu ernähren als auf dem Land: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, KordiUere "Los aymaras trabajamos la chacra y cuidamos los animales. En las ciudades no saben trabajar nada. Ellos ni saben hacer surcos con la yunta. Tampoco saben la manera de cuidar el ganado. De lo fácil nomás ellos tienen dinero. Entonces de lo fácil comen, ¿no? Nosotros los aymaras como pobladores

nomás

del campo somos los que provee-

mos a ellos de comida. Así mismo les damos carne de consumo. Sino hubiéramos

no-

sotros los campesinos, esa gente de la ciudad pueden morir de hambre. Así son, pero ellos no tienen consideración a la gente del campo. Ellos nomás hablan mucho como si ellos fueran algo. Por eso, a veces hay motivo de decirles y discutirles, cuando

quere-

mos vender algo. Ellos nos hablan con gritonería nomás. Entonces ellos agarran

con

menosprecio nomás a los animales, pero cuando les contestamos (...) para nosotros es difícil conseguir dinero, diciendo ellos nos gritan. Entonces ellos no nos

consideran,

eso es para renegar para esa gente de la ciudad. Nosotros pues les mantenemos

a

ellos."

Für Flora leben die Städter auf Kosten der Bauern, von denen sie versorgt werden, deren Arbeit sie jedoch nicht anerkennen wollen. Insbesondere die Viehhändler halten sich für etwas besseres. Sie schreien die Frauen an, versuchen sie zu übervorteilen und behandeln das Vieh schlecht. Demgegenüber können die Aymara mit jeder Situation fertig werden und sich selbst versorgen; sie arbeiten hart und werden nie krank. Oft sind ihre Verwandten, die inzwischen in der Stadt leben, keine Anlaufstelle, weil sie sich für etwas Besseres und vor allem für reicher halten. Dazu kommt, daß der Begriff der chola mit dem Bild der Tracht tragenden städtischen Bolivianerin von La Paz besetzt ist, während die meisten Aymara-Frauen, die in peruanische Städte außerhalb des Altiplano migrieren, sofort ihre Tracht ablegen. Die Haltung der Interviewpartnerinnen zur Stadt und zu den "Mestizen" ist ambivalent. Einerseits ist sie von staunender Bewunderung geprägt. Andererseits führen die Erfahrungen mit der Diskriminierung in der Stadt zur Verteidigungshaltung, die darin besteht, auf die den städtischen Werten untergeordneten ländlichen Werte zu pochen und diese auf die Städter anzuwenden. Die Abweichung der Städter von den Werten der Lebenswelt der Aymara dient nun als Vorwand

253 für deren Abwertung und auf diese Weise wird die Selbstbehauptung der eigenen Lebenswelt ermöglicht. Obwohl sich viele Interviewpartnerinnen mit der Perspektive des "Mestizendaseins" für ihre Kinder durchaus in positiver Weise auseinandersetzen, treten sie gleichzeitig den Rückzug auf das Land und die Selbstbehauptung der Lebenswelt der Aymara an: auf dem Land fühlen sie sich wohler, denn dort können sie sich verständlich machen und Solidarität erfahren. Auf dem Dorf sind sie in der Lage, allen unvorhersehbaren Problemen und Unglücken zu begegnen, weil sie viele Fähigkeiten haben, nicht krank werden, hart arbeiten können, stark, widerstandsfähig und zäh sind. Die städtische Lebensweise wird abgewertet, weil dort angeblich keine Solidarität herrscht, die Leute faul und schwächlich sind, sich nicht gesund ernähren, krank werden, keine Fähigkeiten und keine Kraft haben etc. Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Para nosotros, si somos aymaras tenemos que ser aymara nomás no, nosotros mismos solemos trabajar todas las cosas, nosotras mismas trabajamos nuestra chacra y nuestra ropa. Pero nosotros sabemos todo, por gusto nomás a veces no trabajamos nada nosotras. Nos ponemos esa ropa comprada nomás, si sabemos confeccionar la ropa, cuidar los animales, sembrar nuestras chacras, sabemos cómo trabajar. No somos flojos los aymaras, los aymaras somos trabajadores; pero ahora sólo el medio ambiente no nos favorece, por eso nomás no vemos buena producción de las chacras; no es por gusto que no haya buena producción de las chacras, tampoco es por gusto que nos vemos sin chacras, yo pienso así al respecto. "

Für Victoria machen die Aymara den Fehler, sich zu stark von dominanten städtischen Werten beeinflussen zu lassen. Dabei seien die Leute vom Land fleißig und könnten sich selbst versorgen. Sie machen sich ihrer Ansicht nach zu stark vom Markt abhängig und sind daher selbst dafür verantwortlich, daß die landwirtschaftliche Produktion heute zurückgeht. Sie plädiert daher für eine Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen. Diese Position wird jedoch nicht von allen Interviewpartnerinnen geteilt. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Frauen gegenüber den dominanten städtischen Werten durchaus ambivalent mit einer Mischung aus Bewunderung, Ablehnung, Rückzug, Selbstbehauptung, Offenheit und Innovationsbereitschaft reagieren. Dabei wird deutlich, daß nicht alle Frauen den gleichen Zugang zu städtischen Kontexten und interkulturellen Erfahrungen haben, der wiederum von einer Reihe von Faktoren wie der Abstammung, dem familiären sozio-ökonomischen Status, dem Familienstand, der ökologischen Zone, der Bevölkerungsdichte und der Landknappheit, der Anzahl der Kinder und deren Perspektive, der Übernahme von Posten in Dorforganisationen, der eigenen Migrationserfahrung etc. abhängt. Dementsprechend variieren Strategien und Lösungsvorschläge der Interviewpartnerinnen untereinander und sind so vielfältig wie die individuellen Lebenserfahrungen.

254 Die meisten Frauen wünschen sich für ihre Kinder ein bequemeres, besseres Leben als "Mestizen" in der Stadt. Während diese Wunschvorstellung für einige der befragten Frauen jedoch bereits zur Realität wurde oder in naher Zukunft tatsächlich umsetzbar sein wird, bleibt sie für andere noch ein unerreichbares Ideal. Wiederum andere haben es selbst in der Stadt versucht und sind wieder auf das Land zurückgekehrt, weil sie gelernt haben, daß für sie die Lebensbedingungen auf dem Land auf die Dauer besser sind als in der Stadt. Die Mehrheit der Interviewpartnerinnen empfindet in der Stadt Wut, Scham und Ohnmachtsgefühle. Als Reaktion werden eine Reihe von Forderungen formuliert, um die Handlungsfähigkeit der Frauen in der Stadt zu stärken. Darunter wird die Verbesserung der Schulbildung von Frauen und ihres Zugangs zur Zweisprachigkeit als Notwendigkeit zur verbalen Selbstverteidigung genannt, um sich auf spanisch vor öffentlichen Beschimpfungen, Erniedrigungen und Betrügereien schützen zu können. Die Notwendigkeit des Aushandelns verbesserter Handelsbedingungen mit den Zwischenhändlern wird genannt und vorgeschlagen, die Abhängigkeit der Stadt von der Versorgung mit Produkten vom Land als Ausgangspunkt zu nehmen. Die Anerkennung der Aymara-Sprache und die Zweisprachigkeit in städtischen und ländlichen Kontexten, vor allem aber auf Behörden, ist eine weitergehende Forderung, die jedoch nur von einigen Interviewpartnerinnen aufgestellt wird. Es fallt auf, wie undifferenziert ethnische und ökonomische Unterschiede in der städtischen Lebenswelt wahrgenommen werden und wie wenig die Interviewpartnerinnen zwischen mistis und cholos unterscheiden. Die Perspektiven ihrer Kinder in der Stadt werden wenig problematisiert und die tatsächlichen Lebensbedingungen für Aymara-Migranten in der städtischen im Vergleich zur ländlichen Lebenswelt der Aymara nur selten nachvollzogen oder thematisiert. Das gleiche gilt für die Normen und Werte der Lebenswelt der Aymara im städtischen Kontext, die gar nicht angesprochen werden. Dementsprechend wird die städtische Lebenswelt und das damit verbundene bequeme Leben der "Mestizen" zwar einerseits als Zukunftsperspektive für die Kinder idealisiert, andererseits werden jedoch keine kohärenten Strategien in diese Richtung entwickelt. Im Gegenteil geht die Tendenz eher dahin, so viele Kinder wie möglich auf dem Land zu halten. Die Interviewpartnerinnen selbst sind als Frauen stärker als Männer auf die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft als den Ort angewiesen, an dem sie Anerkennung und Achtung erfahren, sich mit Selbstvertrauen bewegen und der Stigmatisierung und Diskriminierung durch Nicht-Aymara entgehen können. Dieses Angewiesensein von Frauen auf einen sozialen Raum der Abgrenzung nach außen kommt in ihrer bereits beschriebenen Kleidungspraxis zum Ausdruck. Für die Interviewpartnerinnen wird die Lebenswelt der Aymara mit dem Raum der ländlichen Dorfgemeinschaften gleichgesetzt und städtische Wertsysteme

255 oder Infrastruktur wie Elektrifizierung oder Trinkwasserversorgung werden im Rahmen des Gegensatzpaares Stadt - Land eindeutig größeren Ortschaften und Städten zugeordnet. Die Tendenz zur zunehmenden Eroberung kleinerer Ortschaften in ländlichen Regionen durch die städtische Lebenswelt und zu immer kleineren ländlichen Rückzugsgebieten für die Lebenswelt der Aymara wird jedoch vor allem in Form der Einflüsse durch den Markt und durch Zwischenhändler wahrgenommen. Für das Dorf als Rückzugsgebiet werden keine Forderungen nach städtischen Errungenschaften wie Strom-, Trink- und Abwasserversorgung formuliert, obwohl diese sowohl den Arbeitsalltag für Frauen im Dorf stark erleichtern als auch z.B. die bewunderte städtische Sauberkeit der Dorfbevölkerung näher bringen könnte. Aus diesem Beispiel wird deutlich, wie fem und unzugänglich die städtische Lebenswelt fiir die Aymara-Frauen auf dem Land bis heute geblieben ist. Die Forderung der Frauen nach verbesserten Zugangsmöglichkeiten zur städtischen Lebenswelt und nach freier Wahl zwischen Wertsystemen, Sprachen und Praktiken und die Offenheit gegenüber einem "Mestizenstatus" für ihre eigenen Kinder zeigen, daß ihre Einstellung kaum als konservativ bezeichnet werden kann.

7.4.

Zur politischen Partizipation von Aymara-Frauen

In diesem Teil des Kapitels wird anhand des Konzepts dichothomer privater und öffentlicher Sphären das Thema der Grenzverschiebungen zwischen privaten und öffentlichen Räumen und der geschlechtsbezogenen Zuweisung von Handlungsräumen aus weiblicher Sicht behandelt. Lernprozesse und Hürden auf dem Weg zu mehr Partizipation, die Rolle von Frauenorganisationen und der Übernahme von Führungspositionen sowie der Weg zu frauenspezifischen Forderungen werden rekonstruiert und der bisher noch weitgehend versteckte individuelle Charakter des weiblichen Diskurses problematisiert. Am Ende des Kapitels steht die Erörterung des weiblichen Bezugs zu politischen Institutionen und Parteien der städtischen Lebenswelt.

7.4.1. Die Eroberung von öffentlichen Frauenräumen und der dörflichen Selbstverwaltung Die Interviewpartnerinnen unterliegen einer doppelten Ausgrenzung aus der Öffentlichkeit und aus politischen Entscheidungsfindungsprozessen und Organisationen. Einerseits haben sie aufgrund von Diskriminierung und Ausgrenzung durch die städtische Lebenswelt kaum Zugang zu Parteien, Gewerkschaften, Nachbarschaftsorganisationen, öffentlichen Versammlungen etc. Andererseits

256 werden ihnen aber auch innerhalb der ländlichen Lebenswelt vor allem private Räume wie Haus und Hof, Feld und Weide und die direkten Wege dorthin zugeordnet, während öffentliche dörfliche Räume Männern zugeschrieben werden. Der Kontakt der Interviewpartnerinnen zu anderen Frauen, zur eigenen Herkunftsfamilie oder gar zu anderen Männern und Familien aus dem Dorf unterliegt im Alltag einer ausgeprägten sozialen Kontrolle. Dazu gehört auch der Weg zum Markt, der nur in Begleitung von Familienmitgliedern und nur an bestimmten Wochentagen stattfindet. Der Kontakt von Frauen zur städtischen Lebenswelt nimmt jedoch immer mehr zu, da die Dörfer von Märkten, Schulen, Kirchen und Entwicklungsinstitutionen zunehmend 'eingekreist' werden, mit deren Vertretern verhandelt werden muß. Aymara-Frauen haben mit Institutionen bisher noch wenig Erfahrung mit Ausnahme der Kirchen und einigen staatlichen oder nicht staatlichen Entwicklungsprojekten, die sich direkt an Landfrauen wenden. Abgesehen davon, daß alle Alltagserfahrungen der Frauen eine politische Bedeutung haben, werden Aymara-Frauen vor allem auf der lokalen Mikroebene in ihren Frauen- und Dorforganisationen direkt politisch aktiv und machen dort ihre ersten Erfahrungen und Lernprozesse im Umgang mit der Öffentlichkeit, mit Dialog- und Verhandlungsfuhrung, mit Organisationen und Institutionen und mit politischer Praxis. Auf DorfVersammlungen werden Familien normalerweise durch den Mann als "Familienoberhaupt" vertreten und verheiratete Frauen werden nur ungern als Vertretung des abwesenden Ehemanns geduldet. Vielerorts haben nur alleinstehende Frauen auf DorfVersammlungen Rede- und Stimmrecht und Posten im Dorfvorstand werden vor allem mit Männern besetzt. Eine behutsame Veränderung dieser Situation wird durch die zunehmende männliche Migration und durch staatliche und kirchliche Projekte zur Förderung von Frauen begünstigt. Seit der Dürre zu Beginn der 80er Jahre wurden viele Frauenorganisationen in Dorfgemeinschaften in Puno gegründet, um kirchliche und staatliche Nahrungsmitteldonationen für Frauen und Kleinkinder zu kanalisieren. Frauen beginnen außerdem damit, aktiver an DorfVersammlungen teilzunehmen und Posten zu besetzen; ein Prozeß, der in diesem Teil aus weiblicher Sicht rekonstruiert wird. Um die immer höheren Anforderungen innerhalb der Lebenswelt der Aymara zu bewältigen, müssen Frauen zunehmend in der Lage sein, eigenständige Entscheidungen zu treffen, lesen, schreiben und Spanisch zu lernen und sich mit Hilfe von Argumenten zu verteidigen. Auch der Wandel in bezug auf Kleiderregeln, der Kampf um einen Platz innerhalb der Ehrskala und der allgemeine Überlebenskampf in Zeiten zunehmender Verarmung und Verknappung von Ressourcen setzen immer schnellere, eigenständige Entscheidungen über Handlungsstrategien voraus. Insbesondere alleinstehende Frauen sind heute zunehmend bemüht, ihren Ehrstatus durch die sichtbare Übernahme von Posten der

257 dörflichen Selbstverwaltung und die Kanalisierung von Donationen von Institutionen der städtischen Lebenswelt zu verbessern.

7.4.2. Die Rolle der Frauenorganisationen au« weiblicher Sicht Während sich Frauen früher nur beim Viehhüten auf der Weide oder bei Festen, bei Heiratszeremonien oder beim Häuserbau treffen konnten, gibt es inzwischen die Möglichkeit, sich in der Frauenorganisation zu versammeln. Allerdings handelt es sich dabei noch um relativ neue Instanzen, die daher unter gesellschaftlichem Legitimationszwang stehen. Die Einfuhrung dieser neuen öffentlichen Frauenräume fuhrt noch nicht unmittelbar zu gemeinsamen frauenspezifischen Forderungen. Vielmehr ist es bis dahin noch ein wesentlich weiterer Weg als allgemein angenommen, der im Folgenden nachvollzogen werden soll. Die sogenannten Mütterclubs (clubes de Madres), die inzwischen in fast allen Dorfgemeinschaften des Departments Puno gegründet wurden, können sich den Männern und der dörflichen Selbstverwaltung gegenüber nur dann legitimieren, wenn es ihnen gelingt, Nahrungsmittelhilfe oder andere Donationen von Behörden und Entwicklungsprojekten zu kanalisieren. Da Katastrophenhilfe und Entwicklungsprojekte jedoch einerseits zeitlich befristet sind, andererseits die Zusammenkünfte der Frauen bei Wind und Wetter im Freien stattfinden und keine Lagerkapazitäten für Produkte oder Arbeitsgeräte vorhanden sind, ist die Mehrheit der Frauenorganisationen auch noch Anfang der 90er Jahre damit beschäftigt, Bedingungen und Infrastruktur für ihre neuen Frauenräume zu schaffen. Bei der Suche der Frauen nach einem eigenen gemeinschaftlichen Versammlungsraum geht es neben der Lösung konkreter logistischer Probleme auch darum, einen von Frauen kontrollierten öffentlichen Raum zu schaffen, dessen materielle Existenz zur Legitimation des neuen Frauenraums beiträgt und diesen für alle sichtbar institutionalisiert. Die Kontrolle durch die Männer, ihr Widerstand und der Legitimationszwang der Frauenorganisationen als neu geschaffener Frauenraum gegenüber der Gemeinschaft, verhindern bisher noch weitgehend den Konsens unter Frauen in bezug auf kollektive Strategien zur Verbesserung ihrer Situation. Der Weg zur gemeinsamen Aufstellung kollektiver Forderungen ist hürdenreich und wesentlich länger als zunächst vermutet. Die folgenden Interviewaussagen fassen die Lernprozesse der Interviewpartnerinnen in den Frauenorganisationen zusammen. Celia beschreibt die Veränderungen seit Anfang der 80er Jahre, als der Mütterclub in ihrem Dorf gegründet wurde:

258 Celia, 56 Jahre alt, aus Tanapaca, mittlere Zone "(...) cuando yo era joven en ese tiempo no existía el Club de Madres. Si hubiera existido desde ese tiempo, hasta ahora las mujeres hubieran estado en lo alto. Los hijos también hubieran estado bien educados. Hasta los hijos que están en jardín, si es que hubiera existido eso. Por eso ahora me gusta el Club de Madres. La organización de mujeres me gusta bastante. En la organización de mujeres, a veces nos reunimos. A lo menos el año pasado hicimos encuentros. Por eso la mujer un poco nos hemos levantado. Los hombres nos han desvalorizado mucho diciendo que somos mujer, nomás. Hasta no quieren aceptar el Club de Madres. 'Ella nomás esta hablando. Todo habla como hombre. Ella orina distinto y sentada', nos dicen. Por eso, me gusta bastante estar dentro de la organización de Club de Madres (...). " Celia betont, daß es in ihrer Jugendzeit im Dorf noch keine Frauenorganisation gab, eine Tatsache, die sie bedauert, da ihrer Ansicht nach die Frauen in der Dorfgemeinschaft mit einer längeren Organisationserfahrung bereits eine größere Anerkennung als vollwertige und handlungsfähige Menschen eingefordert hätten. Obwohl sich die Männer bis heute gegen die Frauenorganisation wehrten, hebt Celia die Versammlungen der Frauenorganisation als Raum der Weiterbildung, der Sozialkontakte unter Frauen und als Übungsort zur Verbesserung der Dialogund Redefahigkeit von Frauen hervor. Senobia unterstreicht ebenfalls die positive Rolle der Frauenorganisation für den Ideen- und Erfahrungsaustausch unter Frauen sowie für vielfältige andere Lernprozesse der Frauen. Sie erhofft sich außerdem durch den gemeinsamen Verkauf von Web- und Stricksachen mit Hilfe der Frauenorganisation einen verbesserten Zugang fiir Frauen zu Geldeinkommen: Senobia, 48 Jahre alt, aus Ancojaque, Kordillere "Hoy existen las organizaciones y en ellas hay muchas cosas que te dan ánimo. Con este ánimo hablan muchas cosas. Casi con mucha facilidad hacen rodar ideas en la mente. Esas cosas quiero aprender. Por eso a la gente los insto bastante, diciendo 'es buena esa organización'. No existe modo alguno de como conseguir dinero ni de que hacer cualquier trabajo. Entonces esa actividad, la artesanía de como sea siempre se podrá conseguir dinero si en verdad lo hacemos bien. " Andrea beschreibt, wie die Existenz der Frauenorganisationen dazu fuhrt, daß die Meinungen von Frauen überhaupt erst einmal zum Ausdruck gebracht und angehört werden. Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Callada sé escuchar. Las mujeres recién ya opinan. Antes no hablaban. 'Qué cosas saben las mujeres, el hombre siempre sabe', diciendo, los hombres no saben escuchar las opiniones de la mujer. Ni siquiera saben hacernos caso, más bien recién los hom-

259 bres ya hacen caso. Ahora desde que las mujeres ya se han reunido, desde que ya se han organizado, ya es así (...). Antes no hacían caso siempre. "

Andrea stellt nicht ohne Befriedigung fest, daß die Ansichten der Frauen von den Männern ernster genommen werden, seit es im Dorf eine Frauenorganisation gibt. Ihre Aussage zeigt, wie wichtig Lernprozesse wie Zuhören, Reden und Vertreten einer eigenen Meinung in der Öffentlichkeit für die Verbesserung der Verhandlungsfahigkeit von Frauen sind. Neue Frauenräume ermöglichen Prozesse der Bewußtseinsbildung in bezug auf die Beachtung ihrer Ansichten durch Männer und sind wichtige Schritte auf dem Weg zur aktiveren Partizipation von Frauen. Auch die Identifikation der Hürden unter Frauen und die Entdeckung der Unterschiede zwischen Frauen sowie der Notwendigkeit sich gegenseitig zu respektieren und Gemeinsamkeiten zu identifizieren stellen wichtige Schritte auf dem Weg zur Hinterfragung von Wertvorstellungen und Verhaltensnormen dar, die dafür verantwortlich sind, daß Frauen miteinander rivalisieren, anstatt sich zu solidarisieren. Trotzdem haben Männer auch weiterhin Angst davor, die Kontrolle über die Gespräche unter Frauen zu verlieren und damit ihr eigenes Ehrkapital zu riskieren: einige verbieten daher ihren Frauen die Teilnahme an der Frauenorganisation. Teodora, 57 Jahre alt, aus Surupa, Seezone "Los hombres no nos quieren mandar al Club de Madres. Nos dicen que solamente nos reunimos para peleas nomás, y no nos manda. Es que hay señoras que les gusta engañar. Nos hablan bonito y nos piden cuota para hacer varias gestiones y al final nada consiguen. Nos dicen que han gastado las cuotas para que al año habría algo. Tenemos Club de Madres, pero nosotras mismas hacemos problemas. No tenemos ni terreno para construir el local, no hay dónde donar. No tenemos suficiente terreno, nos falta espacio para sacar una plaza con sus calles. "

Aber, so Teodora, es sind nicht nur die Männer, die Frauen von der Organisation fernhalten. Nicht alles ist anregend und harmonisch in den Frauenorganisationen. Die Frauen rivalisieren stark miteinander und geraten in Streit. Einige Frauen sind nur an ihrem eigenen Vorteil interessiert. Die Angst vor Betrügereien untereinander ist groß. Angst vor Ehrverlust, Mißtrauen, Streit und Betrug erschweren die Solidarität von Frauen untereinander. Außerdem sind es nicht nur Männer, sondern auch die Frauen selbst, die soziale Kontrolle über andere Frauen ausüben und eine kollektive Konsensfindung unter Frauen erschweren. Andrea ist es manchmal leid, daß die Frauen sich untereinander immer kontrollieren, kritisieren und sich nicht als gleichwertig betrachten. Konkret bezieht sie sich dabei in ihrer folgenden Aussage auf die Kritik der Frauen an ihrem

260 Trinkverhalten als Patronin eines Dorffestes, das von den anderen Frauen als unweiblich bewertet wird: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Sé renegar a veces. '¿Qué es eso de criticar? Todos somos iguales. ¿Por qué miran mal a los que toman?' diciendo, luego digo 'las mujeres entre nosotras no nos miramos bien '. Acaso los hombres se critican, no se miran mal".

Die Hierarchie unter Frauen schränkt durch Kritik und soziale Kontrolle den Grad der Solidarisierung der Frauen untereinander ein und erschwert die Verfolgung kollektiver Strategien zugunsten von Frauen innerhalb der dörflichen Lebenswelt. Der Statusunterschied zwischen verheirateten und alleinstehenden Frauen und die Abhängigkeit vom männlichen Ansehen für den eigenen Status ermöglicht darüber hinaus immer wieder eine starke Einflußnahme von Männern auf die Frauenorganisationen. Die Vorstellungen der Interviewpartnerinnen von der Frauenorganisation bleiben bisher noch weitgehend auf die gemeinsame Erledigung von frauenspezifischen Aufgaben sowie auf die Erwirtschaftung von zusätzlichem Einkommen reduziert, wie die folgende Aussage von Maria S. zeigt: María S., 46 Jahre alt, aus Aurincota, Kordillere "Entre las mujeres podemos

cambiar la situación ahora por medio de las

que se realizan en el Club de Madres.

reuniones

'Como sea debemos ir adelante', diciendo.

Es-

tamos diciendo que debemos trabajar en forma conjunta, pero para nuestra persona no hay siempre. En ese momento digo: 'debemos trabajar junto a la chacra, junto

debe-

mos mostrar todo y debemos ir adelante'. Ahora no quieren. Algunos parece que se odian peor más bien. Aprenden a trabajar algo, ya está, parece que sólo ella sabe. Así nomás es. No somos iguales de ninguna manera. Más bien yo tengo esa idea. Ya está. Somos Club de Madres. 'La mujer debemos reunimos'

dijimos. En esas ocasiones

de-

bemos trabajar juntos la chacra, hasta hilar debemos trabajar. Rápidamente

podemos

hacer aparecer el trabajo. Esa idea tengo yo. Por eso digo que ahora he sido

directivo

en los años 89/90. Eramos buenos nomás nosotras. "

María S. ist davon überzeugt, daß Frauen zwar einerseits persönlich nur wenige materielle Vorteile aus der Frauenorganisation ziehen können, aber daß sie gemeinsam Lernprozesse durchmachen, die sich auch wiederum materiell durch höhere gemeinsame Produktivität auswirken könnten.

261

7.4.3. Der Weg zur Partizipation von Frauen in der dörflichen Selbstverwaltung Die folgenden Interviewaussagen verdeutlichen, wie Frauen aktiv um mehr Macht- und Entscheidungsfahigkeit auch über die Frauenorganisation hinaus in der dörflichen Selbstverwaltung kämpfen. Paulina bringt die Lernprozesse der Dialog- und Verhandlungsfähigkeit, des Auftretens in der DorföfFentlichkeit auf Versammlungen und der damit verbundenen Verbesserung des Selbstwertgefuhls und der sozialen Anerkennung für Frauen folgendermaßen zum Ausdruck:

Paulina, 43 Jahre alt, Kordillere "Yo sé pensar 'quisiera entrar de dirigente', diciendo, pero no puedo. Parece que la mujer está despreciada, también no vamos a reuniones así como los hombres van. Yo quiero hablar de algo e ir a cualquier sitio. Quiero bastante hermana. Voy a las asambleas, quiero hablar bastante, pienso muchas cosas para decir algo, a veces hablo y hablo; cuando estoy queriendo hablar bien, pero en ese momento que hablo se me pierden las ideas; más tarde nomás recuerdo y digo 'hubiera dicho esto o aquello', diciendo pienso hermana."

Paulina möchte gerne einen leitenden Führungsposten in der Dorforganisation übernehmen und kämpft um die Anerkennung der Männer und um das Recht, als Frau wie Männer an Versammlungen teilnehmen und sich auch außerhalb des Dorfes bewegen und reisen zu können. Sie beschreibt, wie sie trotz Unerfahrenheit und inneren Barrieren Schritt für Schritt lernt, im Dorf auf Versammlungen ihre Meinung zu sagen. Aymara-Frauen beginnen erst langsam damit, in der Öffentlichkeit im Dorf aufzutreten und sich an Entscheidungsfindungsprozessen zu beteiligen. Damit sind eine ganze Reihe von Schritten verbunden, die von den betreffenden Frauen weitgehend auf individueller Ebene ihrem jeweiligen Ehrstatus entsprechend vollzogen werden. Sie müssen zunächst einmal wesentliche Leitwerte ihrer weiblichen Sozialisation und mit Vorstellungen von Weiblichkeit verbundene Eigenschaften wie Passivität, Schweigsamkeit, Gehorsamkeit, niedriges Selbstwertgefuhl und geringes Selbstvertrauen durch mangelnde Erfahrung hinterfragen und überwinden. Darüber hinaus müssen sie sich über gesellschaftliche Erwartungen und Zuordnungen von Frauen hinwegsetzen, diesbezügliche Grenzen überschreiten und neue Regeln für weibliches Verhalten und für die weibliche Ehre aufstellen. Daß diese Form der politischen Partizipation von Frauen in Dorfgemeinschaften nicht auf Anhieb ohne weiteres akzeptiert wird, wie folgende Interviewaussagen zeigen, ist daher nicht verwunderlich:

262 Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Cuando estoy dentro de las asambleas, yo digo 'quisiera ser varón nomás. Quisiera ser hombre y con ellos podemos trabajar bien. Yo quiero asumir los cargos'. Hasta en bromas dije 'tíos, si yo hubiera sido hombre, cualquier cargo podemos ocupar, cualquier cosa podemos trabajar por igual' sé decirles. Como soy mujer nomás no hay como andar en esas cosas ni ir a sitios lejanos. No hay como andar con los hombres. Por eso sé recordar, diciendo 'por qué habré sido mujer, yo debía ser varón', diciendo. "

Flora verweist darauf, daß auch heute noch nicht akzeptiert wird, daß Frauen genauso selbstverständlich wie Männer Posten in der Dorfgemeinschaft übernehmen, reisen oder auf Versammlungen reden. Sie reagiert mit dem ausdrücklichen öffentlichen Hinweis auf die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern darauf, indem sie auf Dorfversammlungen öffentlich Witze macht, in denen sie bedauert, nicht als Mann geboren worden zu sein. Vor allem ältere Interviewpartnerinnen haben sich erst in fortgeschrittenem Alter, als ältere Frau, in die Dorfoffentlichkeit gewagt und dazu getraut, ihre verinnerlichten Normen für Weiblichkeit zu hinterfragen, wie die folgende Aussage von Marcela verdeutlicht: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere 'To intervenía siempre. Hablaba que 'de esta manera o de esa manera debemos de estar'. Asimismo, de esa manera se puede hablar. 'De esa manera puede que esté bien o de esta otra, tíos' diciendo nomás siempre sé decirles. En ese entonces ya se hace reconocer pues como una mujer. Si ellos ya permiten pues que se toma la palabra esa tía (a la persona mayor se le dice tía en señal de respeto), más bien opinan mejor. 'Entonces a esa opinión nomás hemos de reflexionar' diciendo. 'Así de esa manera opina' diciendo se dicen entre ellos. Entonces 'de esta manera o de esa manera se puede hacer para la escuela, que también se podría hacer así o como se debería hacer' diciendo, que al interior de la asamblea se viene ya de hablar y de opinar más y más. "

Marcela berichtet, wie sie erst als ältere Frau damit begann, auf Dorfversammlungen öffentlich zu reden. Heute werde zumindest älteren alleinstehenden Frauen gestattet, auf den Versammlungen ihre Meinung zu sagen. Die Ansichten von Frauen würden von Männern langsam ernster genommen. Vor allem ältere Frauen würden respektiert. Aber dennoch sind Männer grundsätzlich nicht bereit, alle Frauen auf den Versammlungen zu akzeptieren und ihnen zuzuhören, wie Paulina berichtet: Paulina, 43 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Siempre nos desprecian: 'Mujer nomás viene. Debe venir el esposo (...) a la asamblea, porque no las envían a trabajar', diciendo nos desprecian a las mujeres. (...). Al-

263 gunos nos respetan muy bien, otros por oculto quizás 'acaso es así, esa mujer nomás está hablando' dirán. " Viele Männer nehmen die Meinungen von verheirateten Frauen auf der DorfVersamm 1 ung selbst dann nicht ernst, wenn sie nur in Vertretung ihres Mannes auftreten; sie beharren auf der Teilnahme des Ehemanns. Die Widersprüchlichkeit des männlichen Alltags zwischen zwei Lebenswelten holt sie jedoch ein und es kommt immer häufiger vor, daß auf Versammlungen mehr Frauen als Männer anwesend sind, da Männer sich zunehmend außerhalb der Dorfgemeinschaft aufhalten. Dann sind Entscheidungen nur noch unter Beteiligung von Frauen zu treffen, oder aber das System der dörflichen Selbstverwaltung als Instanz der Konsensbildung und Konfliktbewältigung droht zusammenzubrechen. María beschreibt dieses Phänomen am Beispiel einer Elternversammlung in der Schule, an der nur Frauen teilnahmen: Maria, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Antes yo no participaba, sólo los hombres nomás iban a esas asambleas, pero ahora hay que ir ya a esta organización inclusive a las que se llevan en cualquiera de las otras comunidades. Quiero ir pues mucho a esas, por eso dije en mi, mejor iré diciendo a las que se llevan, a nivel de todo el distrito. Pues a mí me gustan bastante esas reuniones que hacen. De las mujeres los hombres dijeron hasta hace pocos días atrás cuando los profesores nos hicieron llamar a la escuela, en ese entonces los varones eran pocos, mientras nosotras éramos muchas las mujeres. Eramos mucho más. En eso pues nos dijeron: 'Hagan la asamblea las mujeres en vista de que los hombres ya no queremos, pueden visitarnos '. Así nos han dicho. Ahora ya nos ven como a persona humana en tanto que las mujeres están en la organización. En los tiempos pasados hemos debido de ser muy tímidas, antes en esta nuestra comunidad no había ninguna reunión ni asamblea. Así que en el pastoreo no más se podía encontrarse un rato. Eso para saludarse. Es así pues que en los años pasados no habían existido las formas actuales de organización. Entonces que en techamiento de casas, que en los matrimonios, sólo en estas actividades había pues motivos de reunirse. No había pues reunión así por así. " María berichtet, wie und warum die Männer den Frauen die Entscheidungsfindung überlassen (müssen). Sie bringt zum Ausdruck, wie die Frauen es genießen, nach und nach die Kontrolle der Männer hinter sich zu lassen und im Vergleich zu den schüchternen Frauen vorangegangener Generationen einen Schritt weiter zu gehen. Sie erschließen neue Räume und neue Machtpositionen, die es ihnen ermöglichen, sich mehr als früher auch untereinander zu treffen und auszutauschen und sich auch außerhalb der eigenen Dorfgemeinschaft bis in die benachbarten Dorfgemeinschaften des Verwaltungsbezirks zu bewegen.

264 Die Männer haben zwar bisher noch nicht die Leitung der Dorfversammlungen aus der Hand gegeben, auf denen die wichtigsten Entscheidungen gefallt werden. Aber Frauen erkämpfen sich zunehmend Rede- und Stimmrecht und nehmen auch mit ihrer Frauenorganisation neuerdings mehr Einfluß. Auf diese Weise gelingt es Frauen langsam aber sicher, in ihren eigenen Worten als "vollwertige Menschen" oder mit anderen Worten als handlungsfähige Subjekte wahrgenommen zu werden und auf diese Weise einen Machtzuwachs zu erfahren.

7.4.4. Frauenspezifische Forderungen Bei der Gründung, Aufrechterhaltung und Legitimation von Frauenorganisationen in den Dorfgemeinschaften handelt es sich bereits um kollektive Strategien der Frauen, um sich veränderten Anforderungen zu stellen. In den Frauenorganisationen üben sie ihre Dialog- und Verhandlungsfähigkeit, das Reden und Position beziehen in der Öffentlichkeit, das Leiten und Durchführen von Versammlungen, das Führen eines Protokollbuchs, einer Organisationskasse etc., um mehr Anerkennung, Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht auch in der Dorföffentlichkeit zu erkämpfen. Allerdings hat sich gezeigt, daß die Existenz von öffentlichen Frauenräumen allein noch nicht unmittelbar auch zur kollektiven Einigung über frauenspezifische Forderungen und deren Vertretung in der Öffentlichkeit führt. Während die Interviewpartnerinnen in den individuellen Interviews dieser Untersuchung viele frauenspezifische Forderungen im Zusammenhang mit ihrem Umgang mit den bereits in den vorangegangenen Kapiteln rekonstruierten, vielfältigen Mechanismen der Unterdrückung und Selbstdisziplinierung aufstellten, verfugen sie jedoch bisher kaum über Erfahrungen der gemeinsamen öffentlichen Einforderung. Dabei sind die individuell im privaten Dialog geäußerten Forderungen der Interviewpartnerinnen nach Veränderung einerseits durchaus mit vielen historischen und aktuellen Forderungen der internationalen Frauenbewegung vergleichbar, darunter beispielsweise ihre Forderung nach Anerkennung als gleichwertige, denk-, lern- und handlungsfähige Subjekte. Das gleiche gilt auch für ihre Forderungen nach der Aufhebung der ungleich verteilten geschlechtsspezifischen Arbeits* und Verantwortungsverteilung sowohl in der Familie als auch in der Gemeinschaft. Auch die Forderungen nach Anerkennung ihrer Arbeitsfähigkeit und ihres Arbeitsbeitrags und eine respektvollere Behandlung von Frauen als gleichwertige Person mit gleichen Rechten und Pflichten gehören dazu. Eine international zunehmend beachtete Frauenforderung entspricht der ausdrücklichen Ablehnung der Interviewpartnerinnen von psychischer, physischer und sexueller Gewalt gegenüber Frauen. Aber die meisten Interviewpartnerinnen sind kaum

265 über nationale und internationale Debatten, Konferenzen und Konventionen der Frauenbewegung und der internationalen Organisationen informiert. Andererseits gibt es auch eine Reihe von Forderungen der Interviewpartnerinnen, die sich aus ihrem spezifischen Kontext zwischen zwei Lebenswelten ergeben: Eine besonders hervorgehobene Forderung besteht in dem Recht auf selbständige Wahl des Ehepartners, worüber unter den Interviewpartnerinnen weitgehender Konsens besteht, ebenso wie über das Recht auf gleichen Zugang zu beiden Lebenswelten und nach freier Wahl zwischen den damit verbundenen Wertsystemen und Praktiken. Kein Konsens besteht unter den Interviewpartnerinnen demgegenüber in bezug auf die Gleichbehandlung für Frauen unabhängig von ihrem Familienstand bzw. auf die besondere Berücksichtigung der Benachteiligung und Minderbewertung alleinstehender Mütter innerhalb der Dorfgemeinschaften. Diese Forderungen alleinstehender Frauen werden jedoch von vielen verheirateten Frauen nicht geteilt. Eine Einschränkung des Forderungskatalogs kann außerdem in bezug auf die Kontrolle über ihren eigenen Körper, über ihre Sexualität und Fortpflanzung und in bezug auf ihre individuelle Autonomie gemacht werden, die nicht von den Interviewpartnerinnen angesprochen werden. Verwandtschafts- und Familienbeziehungen, die Heirat, die Mutterrolle und die Mutterschaft werden nicht grundsätzlich hinterfragt. Eine Einfuhrung einer legitimierten Instanz der innerdörflichen Rechtsprechung, an die sich z.B. geschlagene, mißhandelte oder ungerecht behandelte Frauen wenden könnten, ist bisher nicht verlangt worden. Allerdings handelt es sich bei dem im Verlauf dieser Forschung erfaßten und analysierten unabhängigen weiblichen Diskurs von ländlichen Aymara-Frauen um individuelle Interviews, die in ganz privaten Einzelgesprächen ohne Mithörer aus der Familie oder Gemeinschaft entstanden sind, auch wenn dabei ein Mikrophon benutzt wurde. Daher darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß es sich noch weitgehend um einen (im Sinne von Scott 1990) versteckten, privaten und individuellen weiblichen Diskurs handelt, der erst nach und nach auch in kollektiver Form unter Frauen ausgetauscht und verhandelt wird und bisher nur selten bis in öffentliche Räume vordringt. Nur wenige der individuell aufgestellten Forderungen werden in den Frauenorganisationen unter den Frauen öffentlich verhandelt und kaum eine wird in der Dorfversammlung öffentlich in kollektiver Form als Konsens der Frauen vertreten. Obwohl viele Interviewpartnerinnen nach und nach zunehmend öffentliche Räume erobern, müssen sie dabei immer noch mit mangelnder Akzeptanz von Männern aber auch von Frauen der Gemeinschaft sowie mit der verinnerlichten Abwertung von Weiblichkeit (vgl. De La Cadena 1991) und ihrer Zuschreibungen auf Räume, Fähigkeiten und Verhaltensweisen sowie mit Verunsicherung und mangelndem Selbstvertrauen kämpfen. Es handelt sich daher bei den oben aufgeführten Forderungen der Frauen noch nicht um kollektiv ausformulierte

266 gemeinsame, sondern um individuell formulierte Forderungen, von denen nur einige als weiblicher Konsens aufgefaßt werden können, und die noch nicht in strategischer Form in der Öffentlichkeit weder unter Frauen noch der Gemeinschaft gegenüber ausgehandelt werden. Widersprüchliche Interessen beispielsweise von verheirateten und von alleinstehenden oder von älteren und von jüngeren Frauen müßten zunächst erst von den Frauen untereinander in der Frauenorganisation ausgehandelt werden, bevor sie in kollektiver Weise in der DorfVersammlung vorgebracht werden könnten. Eine bisher noch fehlende öffentliche Erörterung von Unrechtserfahrungen und frauenspezifischen Forderungen nach Veränderung bedeutet jedoch nicht, daß sich Aymara-Frauen in Puno nicht ihrer eigenen Ausgrenzung und Unterordnung bewußt sind. Sie nehmen ihre Diskriminierung bewußt wahr und verfügen über ein ausgeprägtes Unrechtsbewußtsein. Wie diese Untersuchung gezeigt hat, sind viele Frauen bereits in der Lage, individuelle Handlungsstrategien zum Ausbau ihrer eigenen Dialog- und Verhandlungsfahigkeit und zur Verbesserung des eigenen Ehrstatus zu entwickeln. Bisher fehlt jedoch der gemeinsame Bewußtseinsbildungsprozeß, um den Prozeß zur gemeinsamen Formulierung und Einigung, zum Respekt vor Andersartigkeit und zu einer bewußteren kritischen Auseinandersetzung mit Normen und Leitwertsystemen sowie mit den Bedingungen weiblicher Vergesellschaftung im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten zu durchlaufen. Erst die öffentliche Erörterung von Unrechtserfahrungen und die gemeinsame Einforderung von Grundrechten und Menschenrechten, erst das gemeinsame Vorgehen gegen Gewalt gegen Frauen und gegen andere Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung würde jedoch zur tatsächlichen politischen Partizipation der Frauen innerhalb der ländlichen Lebenswelt fuhren und wäre gleichzeitig auch ein wichtiger Schritt zur politischen Partizipation indianischer Landfrauen auf nationaler Ebene und damit zur Demokratisierung des Landes

7.4.5. Die weibliche Wahrnehmung von politischen Institutionen der städtischen Lebenswelt Außerhalb der ländlichen Lebenswelt ist die politische Partizipation von andinen Landfrauen bisher noch stärker eingeschränkt. Sie dürfen zwar seit 1980 auch als Analphabetinnen wählen6, viele von ihnen haben jedoch weder eine Geburtsurkunde, um überhaupt einen Ausweis beantragen zu können, oder trotz Besitzes einer Geburtsurkunde noch keinen Personalausweis, weil die Behördengänge in die Städte relativ hohe Kosten und Gebühren verursachen. Viele der Aymara-

6

In Peru wurde das Wahlrecht für Frauen erst 1955 eingeführt (Gomäriz u.Valdez 1995).

267 Frauen besitzen bis heute weder Personal- noch Militärausweis (libreta electoral bzw. libreta militar)1, obwohl in Peru Wahlpflicht besteht. Alle Aymara-Frauen über 18 Jahre müssen im Falle von Wahlverzicht eine Strafgebühr zahlen. Ihre Teilnahme an den Wahlen ist jedoch bis heute trotz Wahlpflicht in Peru noch nicht gewährleistet. Politischen Parteien oder Bauernverbänden gegenüber ist das Mißtrauen der Interviewpartnerinnen groß. In den meisten Fällen empfinden die Frauen, daß sie von Parteien oder Gewerkschaften schlicht vergessen werden. Viele von ihnen vertreten die Ansicht, nur zu Wahlzeiten seien zwecks Stimmenfangs große Versprechungen gemacht, diese jedoch nie eingelöst worden. Tatsächlich haben sich Bauernverbände und Parteien nicht nur geweigert, überhaupt spezifische Interessen von Landfrauen anzuerkennen. Auch insgesamt haben sie wenig zur Verbesserung der Lebensbedingungen der ländlichen Aymara beigetragen, abgesehen von der Organisation gelegentlicher Landnahmen auf lokaler Ebene nach der Agrarreform, für die auch Landfrauen mobilisiert wurden. Im Department Puno erhielten in den 80er Jahren tendenziell die linken Oppositionsparteien eine Mehrheit bei Wahlen. In den 90er Jahren konnte Präsident Fujimori wegen seiner japanischen Herkunft eine große Mehrheit der Landbevölkerung für sich gewinnen, u.a. deshalb, weil er keine der großen etablierten politischen Parteien vertrat. Aymara-Frauen nehmen sich vor allem als passives Wahlvolk für Parteien und Vertreter von Bauernverbänden wahr und sind daher ihnen gegenüber tendenziell mißtrauisch. Auf lokaler Ebene sind Kontakte und Erfahrungen mit Autoritäten wie Bezirksbürgermeistern, die auch Vertreter politischer Parteien sein können, vor allem durch persönliche, familiäre Beziehungen geprägt, die auch ganz unabhängig von Inhalten und Programmen die politischen Präferenzen der Frauen prägen. Landfrauen haben sich in der Vergangenheit aktiv an Landnahmen und Generalstreiks beteiligt, die jedoch zu Beginn der 90er Jahre zum Zeitpunkt der Interviews bereits eine Weile zurücklagen, da die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Leuchtenden Pfad (Sendero Luminosö) und den peruanischen Militärs in verschiedenen Teilen Perus eine Entmobilisierung von sozialen Bewegungen und eine Krise von Parteien und Verbänden verursachten. Verschärft wurde der Rückgang sozialer Bewegungen durch die oft tödlichen Konfrontationen legaler politischer Parteien und Organisationen mit dem Leuchtenden Pfad. Die Militarisierung großer Teile Perus erreichte jedoch den südlichen Teil des Departments Puno nicht und wurde daher von den Interviewpartnerinnen nicht erwähnt8. 7 8

Für Frauen ist der Militärdienst in Peru nicht obligatorisch. Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Leuchtenden Pfad (Sendero Luminosö) und den peruanischen Militärs, die in verschiedenen Regionen der Zentralanden Perus und in der Hauptstadt von Lima in den 80er und zu Beginn der 90er

268 Nur in seltenen Fällen übernehmen Aymara-Frauen als Folge der geringen direkten Kontakte zu Parteien oder Bauernverbänden eine Führungsrolle. Diese 'Ausnahmefrauen' mußten zunächst einmal einer politischen Partei beitreten, um überhaupt gewählt werden zu können. Da aber Parteien auf dem Land weitgehend unbekannt bleiben, gelingt dies im Normalfall nur der Ehefrau eines bereits bekannten Politikers, eines Bauernführers, eines Parteimitglieds oder Migrantinnen. Diese wenigen (partei-)politisch aktiven Aymara-Frauen werden von den Landftauen eher mit Mißtrauen betrachtet und haben es schwer, wenn sie die Unterstützung der Frauen mobilisieren wollen. Sie haben sowohl gegenüber ihrem eigenen Ehemann wenig Spielraum für die Definition und Akzeptanz von frauenspezifischen Forderungen als auch gegenüber denjenigen Männern, die in ihrer Partei oder in ihrem Bauernverband das Sagen haben. Viele Interviewpartnerinnen halten sich selbst für politisch unerfahren und schlecht informiert. Sie haben es noch nicht geschafft, ihre eigenen Interessen zu artikulieren und fordern sie bisher von Aymara-Frauen in öffentlichen Führungspositionen noch nicht in kollektiver Form ein. Die landesweite Parteienverdrossenheit und die Krise der etablierten politischen Parteien in Peru ist auch in Puno auf lokaler Ebene auf dem Land deutlich spürbar. Die Interviewpartnerinnen fühlen sich von Parteien weder als Frauen, noch als ethnische Gruppe oder als andine Bäuerinnen mit ihren spezifischen Problemen vertreten, sind aber auch noch weit davon entfernt, ihre Interessen und Forderungen in organisierter Form in der Öffentlichkeit der städtischen Lebenswelt einzubringen. Die etablierten politischen Parteien Perus bewegen sich vor allem in den großen Städten und hatten mit Ausnahme der APRA9 in den 80er Jahren nur wenig Einfluß in den ländlichen Südanden. Von linken Parteien oder von neuen politischen Gruppierungen sowie von Bauernverbänden werden andine Landfrauen als leicht zu begeisterndes und mobilisierbares Unterstützungs- und Wahlvolk ohne

Jahre stattfanden und denen Tausende von Menschen in den Anden zum Opfer fielen, hatten im Aymara-Gebiet von Puno kaum Auswirkungen. Allerdings blieben Entwicklungsprojekte von nichtstaatlichen, staatlichen oder kirchlichen Institutionen und politische Autoritäten in der Stadt Puno und im nördlichen von Quechua-Bevölkerung besiedelten Teil des Departments von Puno nicht vor Angriffen des Leuchtenden Pfads in Form von bewaffneten Überfallen, Entführungen, Mord- und Bombenanschlägen, vor allem aber in Form von Drohbriefen verschont. Die Landbevölkerung an der Grenze zu Bolivien wurde jedoch von diesen Vorfällen kaum betroffen, da der Leuchtende Pfad das Grenzgebiet zu Bolivien vor allem als Rückzugsgebiet und zum Waffentransport offenhalten wollte und deshalb dort nicht aktiv wurde. Außerdem verfugt das Grenzgebiet über eine relativ große permanente Präsenz des peruanischen Militärs in mehreren Kasernen entlang der Straße der Panamericana Sur. 9

Die Partei Alianza Populär Revolucionaria Americana, wurde 1924 in Mexiko von Victor Raul Haya de la Torre gegründet. Ihr Präsident Alan Garcia regierte von 19851990 in Peru.

269 eigene Meinung betrachtet. Sie kommen mit Aymara-Frauen vom Land jedoch vorwiegend zu Wahlzeiten in Kontakt, wenn sie sich die Mühe machen, zumindest bis zu den regionalen ländlichen Märkten oder in die Bezirkshauptdörfer vorzustoßen. Die Einstellung der Frauen zu Bauernverbänden ist tendenziell etwas differenzierter als zu politischen Parteien. Selbst wenn sie über keine eigenen Erfahrungen verfugen, kennen sie vergleichsweise viele Erfahrungsberichte von männlichen Verwandten, oder sie haben erlebt, wie Bauemfuhrer die Gründung von Frauenorganisationen in den Dorfgemeinschaften angeregt haben. Bauernverbände werden jedoch stark mit politischen Parteien assoziiert, denen auch deshalb keine wirklich genuine Interessenvertretung zugetraut wird, weil sie von 'weißen' Peruanern aus der Hauptstadt geleitet werden, die weit weg seien und von den Lebensbedingungen der andinen bäuerlichen Bevölkerung nichts verstünden.

7.4.6. Grenzverschiebungen Räumen

zwischen

privaten

und

öffentlichen

Die Analyse der Interviewaussagen der Aymara-Frauen hat gezeigt, daß innerhalb der Dorfgemeinschaften Grenzverschiebungen in bezug auf die geschlechtsspezifische Zuweisung von privaten und öffentlichen Räumen stattfinden, die sowohl auf das aktive und strategische Handeln von Frauen als auch auf Veränderungsprozesse durch Modernisierung zurückzuführen sind. Einerseits werden öffentliche Räume innerhalb der Dorfgemeinschaften zunehmend von Frauen erobert, andererseits ist die dörfliche Lebenswelt insgesamt auf dem Weg, zum Frauenraum zu werden. Männer wiederum tendieren in diesem Prozeß dazu wenn auch eher gezwungenermaßen und oft nicht widerstandslos - Frauen verstärkt den Raum der Dorföffentlichkeit zu überlassen und damit wichtige Macht-, Entscheidungs- und Kontrollpositionen nach und nach aufzugeben. Dabei reagieren sie nicht nur auf die Grenzüberschreitungen und den Druck der Frauen, sondern auch auf Zwänge, die mit ihrer eigenen Orientierung auf die städtische Lebenswelt und der zunehmenden männlichen Migration zusammenhängen und ihre häufige Abwesenheit aus der Dorfgemeinschaft bewirken. Ehemals als männlich geltende kollektive Entscheidungsinstanzen wie Dorfversammlungen, Organisationen, Feste und Posten werden von Frauen zunehmend besetzt und ihnen - wenn auch nicht immer kampflos - von Männern überlassen. Frauen erweitern auf diese Weise ihre Handlungsoptionen und ihre Entscheidungs- und Einflußmöglichkeiten. Dieser Prozeß der Grenzverschiebung von öffentlichen und privaten, männlichen und weiblichen Räumen innerhalb der Dorfgemeinschaften geschieht nicht ohne Widerstand der Männer, die nach wie vor versuchen, die Dorfversammlungen als männlichen Raum zu verteidigen.

270 Frauen übernehmen schrittweise die von Männern aufgegebenen öffentlichen Räume der Mitsprache und Machtausübung innerhalb der Dorfgemeinschaften. Durch diesen Schritt in die Öffentlichkeit tragen sie jedoch zur Sichtbarmachung des männlichen Kontrollverlustes über Frauen bei und setzen sich damit der Gefahr von Sanktionen der Männer aus, wie z.B. dem Verbot der Teilnahme an öffentlichen Versammlungen unter Androhung von Gewalt. Männer empfinden vor allem den Mangel an sozialer Kontrolle über Frauen als ein Problem, das ihre männliche Ehre gefährdet und sie sozialen Sanktionen und der Kritik anderer Männer und der Gemeinschaft aussetzt. Männer mit hohem symbolischen Kapital sind eher in der Lage, dem sozialen Druck und der Kritik anderer Männer und der Gemeinschaft standzuhalten, wenn ihre Frauen in der Öffentlichkeit auftreten. Dieses Beispiel für die Widersprüchlichkeit von Interessen von Männern und Frauen, auf die häufig nur noch mit Zwang und Gewalt reagiert werden kann, zeigt, daß die integrierende Funktion der Ehre (im Sinne von Vogt 1997) in bezug auf die Ehe, Familie und Gemeinschaft im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten an Grenzen stößt.

271

8.

Weiblichkeit, Macht und Geschlechterverhältnisse bei den ländlichen Aymara von Puno aus weiblicher Sicht - ein Resümee

Zum Abschluß der vorliegenden Untersuchung werden im ersten Teil des Kapitels zunächst die wichtigsten Ergebnisse in bezug auf den Wandel der Vorstellungen von Weiblichkeit im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten vorgestellt. Im zweiten Teil wird die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Geschlecht, Ehre und Gesellschaftsstruktur, sowie nach der Veränderung der Regeln des Ehrsystems durch Frauen beantwortet. Die Relevanz der weiblichen Ehre für Frauen wird noch einmal zusammenfassend veranschaulicht und auf die Frage nach dem Einsatz von Zwang und Gewalt gegenüber Frauen im Fall von Normenbrüchen und Regelverstößen Bezug genommen. Im dritten Teil des Kapitels werden die Veränderungen der Geschlechterverhältnisse und die Erweiterung der Geschlechterdisparitäten zusammengefaßt und die Frage der Gewaltanwendung gegenüber Frauen noch weiter vertieft. Dabei geht es zum einen um die Begründungen und Mechanismen, die zur Unterordnung von Frauen zum Einsatz kommen und um ihre Veränderung. Zum anderen werden die veränderten Bedingungen der Vergesellschaftung von Frauen im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten noch einmal abschließend nachvollzogen. Die wichtigsten Ergebnisse der vorliegenden Studie werden im vierten Teil am Ende des Kapitels zusammengefaßt. Neue soziale Räume und Handlungsoptionen für Frauen und ihr Beitrag zur Veränderung von Normen und Leitwerten sowie ihr Umgang mit Zwängen und veränderten Anforderungen durch Transformationsprozesse werden noch einmal ebenso aufgezeigt wie die Hürden für eine aktivere politische Partizipation von Frauen.

8.1. Der Wandel der Vorstellungen von Weiblichkeit Die Vorstellungen von Weiblichkeit im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten sind permanenten Veränderungen unterworfen. Einerseits gehen Frauen unterschiedlicher Altersgruppen mit Normen der Weiblichkeit unterschiedlich um und andererseits entwickeln Männer im Vergleich zu Frauen ihre eigenen Vorstellungen von Weiblichkeit. Ältere Frauen beschreiben ihr subjektives Gefühl für Weiblichkeit mit Auffälligkeit, Farbigkeit und Schönheit durch die Unterstreichung der Größe und Form des reifen weiblichen Körpers mit einer Tracht, die Frauen breiter, größer und behäbiger erscheinen läßt und auf diese Weise den Habitus älterer Frauen definiert. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und ihrer Körperlichkeit

272 werden durch die von den Frauen getragene Trachtenkleidung besonders unterstrichen und symbolisch wird die Verbundenheit mit der Erde noch hervorgehoben. Bodenständigkeit und Schwerfälligkeit werden ebenfalls mit der selbst gewebten schweren Wolltracht assoziiert, ebenso wie der Stolz über ihre Schönheit und über Details wie Gürtel, Umhängetücher oder Schmuck, darunter vor allem Ketten und Ohrringe aus Silber. Zu den subjektiven Gefühlen von Weiblichkeit gehören für ältere Frauen aber auch Angst, Einsamkeit, Unermüdlichkeit, Überlastung, Ohnmacht, Erniedrigung, Scham, Unsicherheit und Lächerlichkeit. Jüngere Frauen weichen hingegen stärker als ältere von den althergebrachten Normen der Weiblichkeit ab und tragen damit zu ihrer Veränderung und zur Entwicklung eines neuen weiblichen Habitus (im Sinne von Bourdieu 1974) bei. Ihre Vorstellungen von Weiblichkeit entsprechen den durch den sozialen Wandel bedingten, sich verändernden Anforderungen an Frauen, wie ein verstärktes Zeitbewußtsein, eine bessere Koordination und Beschleunigung verschiedener Arbeitsschritte, eine größere Mobilität und Beweglichkeit, die Verfügbarkeit von Spanischkenntnissen, usw. Diese veränderten Anforderungen sind stärker von Praktiken, Leitwerten und Fähigkeiten der städtischen Lebenswelt beeinflußt und wirken sich auch auf ihre persönlichen, auf ihre körperlichen und auf kollektive Erfahrungen von Frauen aus. Passivität, Abhängigkeit, Unermüdlichkeit, Gehorsamkeit, Vorstellungen über Fruchtbarkeit und Kontrolle über ihre Sexualität werden zunehmend hinterfragt und treten gegenüber einem langsam wachsenden Selbstvertrauen und höheren Anforderungen an die Lern-, Denk-, Entscheidungs-, Dialog-, Verhandlungs-, Arbeits-, Organisations- und Belastungsfähigkeit von Frauen in den Hintergrund. Diese veränderten Anforderungen an Frauen wirken sich auch auf ihr subjektives Gefühl von Weiblichkeit aus, das sich wiederum in ihren subjektiven individuellen wie kollektiven Erfahrungen auch in ihrem weiblichen Habitus niederschlägt. Bourdieu (1984) hat im Zusammenhang mit dem Geschmack und der Mode darauf verwiesen, daß es sich dabei nie nur um individuelle, sondern immer um kollektive Verhaltensmuster handelt. Die Tracht wird zwar noch beibehalten und damit auch weiterhin die Weiblichkeit innerhalb des dörflichen Kontextes - wenn auch mit gekaufter - Trachtenkleidung unterstrichen, jedoch wird gleichzeitig schon ein verändertes weibliches Körpergefuhl mit mehr Flexibilität, Leichtigkeit und Behendigkeit angestrebt. Anpassungsfähigkeit wird zu einer wichtigen neuen weiblichen Eigenschaft, insbesondere dann, wenn es darum geht, sich im jeweiligen Kontext selbst entweder ethnisch oder dem eigenen Ehrgefühl entsprechend zuzuordnen, zu kleiden und zu frisieren. Der Stolz und die Selbstbestätigung durch spezifisch weibliche Fähigkeiten wie besondere kunsthandwerkliche, rituelle oder produktive landwirtschaftliche Tätigkeiten etc. werden langsam durch zunehmendes Selbstvertrauen, durch Schulbildung und Spanischkenntnisse ersetzt. Ein besonders ausgeprägtes ästhetisches Empfinden

273 in bezug auf Farben und Formen von Geweben und Kleidung, die wiederum von Vorstellungen des menschlichen Körpers und von Symbolen der Naturgewalten geprägt waren, werden von der Unterordnung unter kommerzielle Modeströmungen und vom Zugang zum Markt und zu Geld abgelöst. Zwischen Frauen unterschiedlicher Altersgruppen sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Vorstellungen von Weiblichkeit feststellbar, die wiederum auf den Wandel von Normen verweisen. Konzepte von Weiblichkeit waren für ältere Frauen stark mit Vorstellungen von Passivität, Abhängigkeit, Anordnungen und Entscheidungen anderer, Schweigsamkeit und Zurückhaltung verbunden. Eine Frau hatte gehorsam, sittsam, schüchtern und schamhaft zu sein. Weitere Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Ängstlichkeit, Fürsorglichkeit und Empfindlichkeit wurden Frauen zugeschrieben. Weiblichkeit wurde weitgehend mit Häuslichkeit und Privatheit und mit nur begrenzter Bewegungsfreiheit auf Wegen, Feldern, Weideflächen, Transportmitteln oder Märkten in der Öffentlichkeit identifiziert. An öffentlichen Ereignissen wie Festen, Gottesdiensten und Versammlungen sollten Frauen nur in Begleitung ihres Ehemanns teilnehmen. Ein großer Teil dieser Normen und Zuschreibungen ist jedoch derzeit einem Prozeß des Legitimationsverlustes bedingt durch die sich überlagernden Wertsysteme beider Lebenswelten ausgesetzt. Weibliche Tugenden und Funktionen wie Jungfräulichkeit, Treue, Fruchtbarkeit und Mutterschaft sind ebenfalls direkt mit Normen und Verhaltensanforderungen an Frauen bei den Aymara verbunden. Allerdings wird das Konzept von Jungfräulichkeit im religiösen Weltbild der Aymara nicht so streng ausgelegt wie im Christentum. Solange eine Frau keine Kinder hat und nicht für alle sichtbar zeremoniell verheiratet wurde, gilt sie in der Regel als Jungfrau, und damit als ehrenhaftes Mädchen, das für die Heiratsvermittlung durch die Eltern zur Verfügung steht. Rituale im Zusammenhang mit der Jungfräulichkeit sind unbekannt. Die Fruchtbarkeit wird vor allem mit den andinen Kräften der Natur wie der pachamama und den Vorfahren in Verbindung gebracht1. Die Frauen und die Erde sind Symbole für Fruchtbarkeit und unfruchtbare verheiratete Frauen leiden ebenso unter sozialen Sanktionen und Ehrverlust wie unverheiratete Frauen mit Kindern. Kinder waren und sind nicht nur als Arbeitskräfte und zur familiären Ressourcenvermehrung wichtig. Sie sollten auch für die Altersversorgung zuständig und damit eine soziale Absicherung für ihre Eltern sein, auch wenn sie das heute häufig nicht mehr sind. Schließlich garantieren sie den Fortbestand der Familie in der Dorfgemeinschaft. 1

In der andinen Vorstellung von Befruchtung wird die Seele eines oder einer verstorbenen Vorfahren in den Leib der Frau eingepflanzt. Frauen sollten daher während der Menstruation stehende Gewässer meiden, weil ein Frosch, eine Eidechse oder eine Schlange, die in Tümpeln oder unter der Erde leben und die Ahnen repräsentieren, unbemerkt in die Scheide kriechen und die Frau befruchten könnten.

274 Jedoch wird auch die hohe Bewertung der Fruchtbarkeit zunehmend hinterfragt, da eine große Kinderzahl im Kontext allgemeiner Verknappung von Ressourcen zu Problemen der Ernährung der Familie, bei Erbschaftsregelungen und der Schaffung von Grundvoraussetzungen für die Überlebensfähigkeit einer neuen Familie in der Dorfgemeinschaft sowie zu einer Zunahme der Migration fuhren. Abgesehen davon bedeuten viele Schwangerschaften ein großes Gesundheitsrisiko für Frauen, wie die überdurchschnittlich hohe Müttersterblichkeit bei den Aymara zeigt (vgl. Statistiken im Kapitel 2.2.2.). Eine Verringerung der Kinderzahl ist sowohl durch Abtreibung als auch durch Kindestötung nach der Geburt bzw. durch Nichtbehandlung von erkrankten Kleinkindern weit verbreitet. Allerdings werden diese Formen der Kontrolle der eigenen Kinderzahl sowohl innerhalb wie außerhalb der Lebenswelt der Aymara weiterhin als Normenbruch betrachtet und daher so weit wie möglich heimlich durchgeführt und vor der Gemeinschaft verborgen2. Der Vergleich von Interviewaussagen von Aymara-Frauen und AymaraMännern von Puno hat gezeigt, daß die Konzepte von Weiblichkeit von Männern und Frauen zwar Gemeinsamkeiten aufweisen, jedoch nicht miteinander dekkungsgleich sind. Die Vorstellungen von Männern über Weiblichkeit hängen direkt mit der Notwendigkeit zusammen, den Unterschied zur Männlichkeit hervorzuheben und die eigene männliche Überlegenheit zu begründen. Männliche Konzepte von Weiblichkeit werden von Frauen aber nicht in allen Punkten einfach unwidersprochen akzeptiert. Männer begründen ihr Konzept von Weiblichkeit mit physischer Schwäche, Arbeits- und Denkunfahigkeit, geringer Belastbarkeit und schlechtem Erinnerungsvermögen von Frauen. Weiblichkeit ist direkt mit dem Objektstatus von Frauen verbunden. Sie werden vom Mann als Objekt der Begierde, der Unterordnung und Kontrolle betrachtet. Frauen aller Altersgruppen wehren sich jedoch gegen diese männlichen Vorstellungen und fordern, als aktive Subjekte mit vollwertiger Denk-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit anerkannt zu werden.

2

In einigen Regionen wurden Hagelschauer als eine Strafe der Naturgottheiten für heimliche Abtreibungen angesehen. Nach gelegentlichen grobkörnigen Hagelschauern, die auf dem Altiplano häufiger vorkommen und die Ernte stark beschädigen können, wurde eine Hebamme vom Dorfvorstand in alle Häuser geschickt, um die Brüste unverheirateter Mädchen im gebärfähigen Alter zu untersuchen und herauszufinden, ob sie Milch produzieren. Wurde ein Mädchen gefunden, so galt dies als Beweis für eine geheime Abtreibung und als große Schande für die gesamte Familie, insbesondere für den Familienvater, dessen mangelnde Kontrolle über die Schamhaftigkeit seiner Tochter als Ursache für den Zorn der Naturgottheiten betrachtet, und der daher für die Emteausfälle aller Familien im Dorf verantwortlich gemacht wurde.

275

8.2. Die weibliche Ehre als zentraler Lebenssinn und als soziale Daseinsberechtigung von Frauen innerhalb der ländlichen Lebenswelt Im folgenden wird auf die Wechselbeziehung zwischen Ehre, Geschlecht und Gesellschaftssystem und die Veränderungen des Ehrkodex bei den ländlichen Aymara von Puno Bezug genommen und vor allem auf die weibliche Ehre eingegangen. Darüber hinaus wird der Einsatz von Zwangs- und Kontrollmechanismen Frauen gegenüber behandelt. Die Relevanz der Ehre für Männer und Frauen im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten wird miteinander verglichen. Die Ehre als Leitwertsystem innerhalb der Lebenswelt der Aymara ordnet jedem Mann und jeder Frau einen Platz innerhalb der Dorfgemeinschaft, Verwandtschaft und Familie zu und vermittelt auf diese Weise das Gefühl für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft als einem zentralen Sinn des Lebens. Die Ehre gibt jedem Mann und jeder Frau eine moralische Legitimation als vollwertige Person mit Rechten und Pflichten. Das Ehrsystem regelt den Zugang zu materiellen und ideellen Ressourcen, zu Reziprozitätsleistungen und zur Solidarität durch die Mitglieder der Gemeinschaft, sowie zur Übernahme von Verpflichtungen und Arbeitsleistungen in der Familie und in der Gemeinschaft. Gleichzeitig führt es jedoch zur ungleichen Bewertung von Männern und Frauen und zur Unterordnung der weiblichen unter die männliche Ehre und von Frauen unter Männer innerhalb der innerdörflichen Rangordnung. Durch ihren niedrigeren Rang sind Frauen stärker als Männer dazu verpflichtet, ihre moralische Legitimation als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft immer wieder neu auszuhandeln. Die Ehre steuert die Lebensentwürfe insbesondere von Frauen derart, daß sie vielen gesellschaftlichen Anforderungen entsprechen (müssen). Der Ehrkodex bei den Aymara von Puno enthält widersprüchliche Anforderungen an Männer und Frauen in der Gemeinschaft, die durchaus vieldeutig interpretiert werden können und auf die in unterschiedlicher Weise reagiert werden kann, ohne daß es dadurch gleich zum Bruch mit Werten und Normen oder zu Sanktionen kommen muß. Das Ehrsystem wird daher im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten für die Dauer aber auch für die Veränderung der ländlichen Lebenswelt der Aymara besonders relevant, in dem es Handlungsspielräume vorgibt, die jedoch gleichzeitig begrenzt sind. Die Regeln der Ehre bei den Aymara von Puno sind jeweils von den sich verändernden Vorstellungen von Weiblichkeit oder Männlichkeit und der Zuschreibung von Tugenden, Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen zum jeweiligen Geschlecht geprägt. Aymara-Frauen haben wie Aymara-Männer mehrere Ehren gleichzeitig, aber andere, eben weibliche Varianten. Die Untersuchung hat gezeigt, daß Aymara-Frauen z.B. über eine Sexualehre als Teil ihrer weiblichen Ehre, über eine Familienehre, über eine Gruppenehre als Mitglied der

276 Gemeinschaft und über eine ethnische Ehre als Aymara verfügen. Die Regeln der jeweiligen Ehren können sich untereinander teilweise widersprechen, so daß Aymara-Frauen immer wieder dazu gezwungen sind, sich zwischen der Erfüllung widersprüchlicher Anforderungen zu entscheiden. Dieser Entscheidungsdruck läßt jedoch auch individuell unterschiedliche weibliche Handlungsräume und Lebensentwürfe zu. Frauen gehen daher individuell mit dem Ehrsystem und mit der weiblichen Ehre unterschiedlich um und verändern Werte, Regeln und Anforderungen aktiv oder deuten sie neu. Die Untersuchung hat gezeigt, daß die Regeln der weiblichen Ehre und deren Veränderung bei den Aymara von Puno vor allem von Frauen untereinander ausgehandelt werden. Aber nicht nur die Frauen selbst werden für die Einhaltung der Regeln der weiblichen Ehre und für den weiblichen Ehrstatus verantwortlich gemacht. Ein großer Teil der weiblichen Ehre wird fremd bestimmt und setzt eine passive Haltung insbesondere von jungen Mädchen voraus, deren Rede-, Bewegungsund Handlungsfreiheit vom Kindesalter an auf klar abgegrenzte Räume eingeschränkt wird (vgl. Vogt 1997). Männer, Väter, ältere Brüder und Ehemänner werden beispielsweise für die Sexualehre von Frauen verantwortlich gemacht, da die Regeln ihrer männlichen Ehre wiederum die Kontrolle über die Sittsamkeit und den sexuellen Zugang zu den Frauen der eigenen Familie sowie über die Verfügbarkeit ihrer Töchter für Heiratsstrategien des Familienverbands vorschreiben. Eine Veränderung der Regeln der weiblichen Ehre setzt daher teilweise auch eine Veränderung der Regeln der männlichen Ehre voraus, die jedoch nur situationsbedingt erfolgen kann, weil Frauen darauf so gut wie keinen Einfluß haben. Bei der Rekonstruktion des Ehrgefühls von Frauen unterschiedlicher Altersgruppen wird deutlich, daß junge Mädchen - wie vor allem die Schilderungen der älteren Frauen über ihre Jugend zeigen - kaum ein eigenes Ehrgefühl entwickeln können. Sie nehmen die impliziten Regeln eines ehrenhaften weiblichen Verhaltens nicht bewußt wahr. Mädchen werden vor allem von ihren Vätern und zu Beginn der Ehe häufig von ihren Ehemännern durch Anweisungen dazu angehalten, sich ehrenhaft zu verhalten und die Regeln und Gebote der Ehre einzuhalten, ohne daß diese ihnen gegenüber ausdrücklich formuliert werden. Die Steuerungsfünktion der Ehre kommt im Mädchenalter vor allem in Form von Anordnungen des Vaters und des Ehemanns oder durch die Verinnerlichung von Normen, Regeln und Anforderungen im Verlauf der weiblichen Sozialisation zur Geltung. Daraus läßt sich schließen, daß nur wenige Mütter ihren Töchtern ausdrückliche Erklärungen zu den Regeln der Ehre vermitteln, da das Wertsystem der Ehre eher praktiziert als formuliert wird (vgl. Bourdieu 1974: 43). Aus der Sicht der Interviewpartnerinnen haben Mütter tatsächlich einen erstaunlich geringen Einfluß auf den Ehrstatus ihrer Töchter. Mütter konnten

277 hauptsächlich durch die Vermittlung von als spezifisch weiblich angesehenen Fertigkeiten wie Kochen, Spinnen und Weben sowie von rituellen und produktiven Praktiken in der Landwirtschaft, der Produktlagerung und -Verarbeitung und durch ihre Beteiligung an Entscheidungen in bezug auf Heiratsstrategien und Erbschaftsregelungen Einfluß nehmen. Ein großer Teil dieser Fähigkeiten und Praktiken ist jedoch einem Prozeß der Abwertung ausgesetzt. Gleichzeitig wird aufgrund der Überlastung insbesondere von Müttern mit mehreren Kindern die Weitervermittlung von Aufgaben und Fähigkeiten an die Töchter vielfach an andere weibliche Familienmitglieder wie z.B. die älteste Tochter oder die Großmutter delegiert. Gerade viele jüngere Mütter sind außerdem in bezug auf die Weitervermittlung von kulturellen Praktiken und eigenen Fähigkeiten an ihre Töchter stark verunsichert, weil sie mit den Inhalten der Schulbildung konkurrieren und sich mit der Abwertung ihrer spezifisch weiblichen, ehemals anerkannten Fähigkeiten und Handgriffe auseinandersetzen müssen. Sie erleben, wie ehemals geschätzte weibliche Tugenden heute durch neue Fähigkeiten - wie Lesen und Schreiben - innerhalb des Wertsystems der Ehre ausgetauscht werden. Mütter nehmen heute jedoch einen größeren Einfluß auf Entscheidungen, die den Lebensverlauf ihrer Töchter wesentlich steuern. Demgegenüber hat aus der Sicht der Interviewpartnerinnen die Schwiegermutter einen größeren Einfluß auf das weibliche Ehrkapital. Sie kann dazu beitragen, den Ehrstatus ihrer Schwiegertochter zu erhalten, zu verbessern oder zu verschlechtern. Indem sie die Schwiegertochter akzeptiert und ihr noch zusätzliche Kenntnisse vermittelt, kann sie zur Stabilität der neuen Ehe und zur Ausstattung mit ausreichenden Ressourcen für die neue Familiengründung beitragen. Lehnt sie die Schwiegertochter jedoch ab, beschimpft sie öffentlich, bestraft sie und grenzt sie aus, oder verweigert sie reziproke Verpflichtungen ihrer Familie gegenüber, dann kann sie wesentlich zum Ehrverlust der Schwiegertochter und ihrer Herkunftsfamilie beitragen. Außerdem kann die Schwiegermutter vor allem zu Beginn der Ehe das Verhalten ihres Sohnes gegenüber seiner Ehefrau sowohl zugunsten als auch zuungunsten der Schwiegertochter beeinflussen. Je nach Ausmaß des eigenen symbolischen Kapitals kann die Schwiegermutter höhere oder weniger hohe Anforderungen an die Schwiegertochter stellen und auf diese Weise deren symbolisches Kapital und Handlungsräume innerhalb der Gemeinschaft, in der Familie und in der Ehe erweitern oder einschränken. Eine bewußtere Auseinandersetzung mit den Regeln und Anforderungen der Ehre war für ältere Frauen erst in fortgeschrittenerem Alter und als bereits verheiratete Frauen mit Kindern möglich. Jüngere Frauen (im Alter von unter 40 Jahren zum Zeitpunkt der Interviewerhebung), die nach der Agrarreform aufwuchsen, können oder müssen sich aufgrund von erhöhten Anforderungen bewußter mit dem eigenen Ehrkapital, Ehrgefühl und den Regeln ihrer verschiedenen Ehren schon früher auseinandersetzen. Sie identifizieren zunächst die nicht

278 beeinflußbaren Voraussetzungen und Anforderungen für ihr Ehrkapital wie z.B. ihre Herkunft und die Vollständigkeit ihrer Herkunftsfamilie, ihre Erbschaft und in vielen Fällen die Heiratsstrategien der Eltern. Auf dieser Grundlage definieren sie bewußt oder unbewußt (Bourdieu 1983) den ihnen zugeteilten Ort (im Sinne von Vogt 1997) innerhalb der Ehe und Familie, der Gemeinschaft und der Hierarchie unter Frauen und ihr eigenes Ehrgefühl. Diejenigen Frauen, die eine Verbesserung des eigenen Ehrkapitals für nötig halten, entwerfen daraufhin individuelle Strategien zur Aushandlung ihres Ehrstatus. Zu diesem Zweck werden diejenigen offenen Inhalte der Ehre erschlossen, die von den Frauen selbst beeinflußbar sind, z.B. weibliche Tugenden wie Sittsamkeit und Treue, Fleiß oder die Perfektionierung von Fertigkeiten. In diesem Zusammenhang wägen die Frauen verschiedene Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Eignung für die Aushandlung des eigenen Ehrstatus sorgfaltig ab. Zu diesen Handlungsoptionen gehören u.a. die Vor- und Nachteile einer zweiten Eheschließung, die Übernahme von Pflichten für die Gemeinschaft wie Posten für Feste oder im Dorfvorstand, die Teilnahme an Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen, die Verbesserung der eigenen Dialog-, Rede- und Verhandlungsfähigkeit in der Dorfversammlung oder in der Frauenorganisation, die Aufnahme von Kontakten mit Behörden, das sichtbare Anwenden von Lese-, Schreib- und Spanischkenntnissen. Diese beeinflußbaren Anforderungen und Regeln der Ehre sind ausschlaggebend für individuelle Strategien der Frauen zur Verbesserung ihres Ehrkapitals, von dem ihre Legitimierung und Handlungsfähigkeit als vollwertiger Mensch und ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft mit allen Rechten und Absicherungen abhängt. Diese Form der Inanspruchnahme weiblicher symbolischer Macht hat wiederum auch Einfluß auf den Zugang zu materiellen Ressourcen, zu Solidarität anderer Mitglieder der Gemeinschaft in Form von Arbeitsleistungen und sozialer Sicherung für die Familie und für die Frauen selbst im Alltag und im Alter. Vor allem für diejenigen Frauen, die durch ihre Ehe ihr Ehrkapital verbessern konnten und die auf keinen Fall die Abstammung und die Erbschaft ihrer Kinder gefährden wollen, funktioniert das hinzu gewonnene höhere Ehrkapital wie ein Mechanismus der (Selbst-) Disziplinierung, der sie in der Ehe zurückhält. Die Aussicht auf eine mögliche Verbesserung des Ehrkapitals läßt andere Frauen überhaupt erst heiraten. Hier hat die Ehre auch eine integrierende Funktion in bezug auf die Familie und trägt zur Stabilisierung der Ehe bei, obwohl der Modernisierungsprozeß vielfach zur zunehmenden räumlichen Trennung der Eheleute beispielsweise durch Migration, durch Berufstätigkeit des Mannes außerhalb der Dorfgemeinschaft oder durch die Belastung der Frauen mit der Bewirtschaftung des Hofes führt und daher die Stabilität der Ehe bei den Aymara stärker gefährdet als früher.

279 Vor allem alleinstehende Frauen, Witwen, unverheiratete, verlassene und geschiedene Frauen mit Kindern investieren viel Zeit und Energie in individuelle Strategien zur Verbesserung ihres Ehrstatus im Dorf. Sie legen sich Argumente zur Sichtbarmachung der Einhaltung der Regeln der Ehre ihrerseits und zur Aushandlung ihres Ehrstatus und ihres symbolischen Kapitals zurecht. Damit streben sie zum einen die Verbesserung ihres Ansehens unter Frauen und ihrer Plazierung auf der weiblichen Ehrskala im Kontext zunehmender innerdörflicher Differenzierung an. Zum anderen geht es aber auch um die Absicherung ihres Zugangs zu Ressourcen innerhalb der Gemeinschaft und der Familie und um die Anerkennung als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft mit allen Rechten auf soziale Absicherung und Solidarität, auf reziproke Arbeitsleistung, Gabentausch usw. Viele Frauen sind bei der Suche nach neuen Wegen zur Verbesserung des eigenen Ehrstatus durchaus innovativ und erobern dabei zunehmend öffentliche Räume, z.B. durch die Teilnahme und die Nutzung des Rede- und Stimmrechts auf Versammlungen, die Übernahme von Posten, die gemeinsame Vermarktung von Kunsthandwerk etc. Da die Bewertung eines ehrenhaften Verhaltens vor allem von Anderen vorgenommen wird und nicht nur von eigenen Ansprüchen, Strategien und Ehrgefühlen abhängt, haben sie damit durchaus nicht immer unmittelbar Erfolg. Viele Frauen lernen, ihre Übernahme von Pflichten für die Gemeinschaft zur Absicherung oder Verbesserung ihres Ehrkapitals sichtbar zu machen, d.h. mit Argumenten zu unterstreichen und zu verteidigen. Sie erfinden dadurch neue Regeln der weiblichen Ehre, die entweder zusätzlich zu oder aber im Austausch mit Regeln in bezug auf spezifisch weibliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Einsatz kommen. Die machtgenerierende Funktion der Ehre äußert sich für Frauen darin, daß sich vor allem jüngere Frauen mit einem hohen Ehrkapital nach einer Überwindungsphase der eigenen Angst- und Ohnmachtsgefühle eher trauen, ihre Lern-, Denk- und Dialogfahigkeit und ihren Vertrauensvorschuß durch die Gemeinschaft zu nutzen, um in der Frauenorganisation oder in der Dorforganisation aktiv mitzuarbeiten, ihre Meinung zu äußern und eventuell sogar Posten zu übernehmen. Auf diese Weise trägt ein höheres Ehrkapital zur Erweiterung der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit und zur Eroberung von ehemals Männern zugeordneter Räumen innerhalb der Lebenswelt der Aymara bei. Doch auch viele alleinstehende Frauen mit niedrigerem Ehrkapital werden zur Absicherung ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft dazu motiviert, ehemals männliche Räume zu erobern. Sie übernehmen in sichtbarer Form Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft und verhindern auf diese Weise, daß ihnen und ihrer Familie aufgrund eines niedrigeren Ehrstatus der Zugang zu Ressourcen und zu Solidarität und Absicherung durch die Gemeinschaft und Verwandtschaft streitig gemacht wird. Obwohl es sich bei ihren Lebensentwürfen vor allem um eine Art Rückzug

280 in die ländliche Lebenswelt der Aymara handelt, findet dieser Rückzug insbesondere bei den jüngeren Interviewpartnerinnen jedoch nicht ohne Auseinandersetzung mit bestehenden Regeln und Normen statt, sondern fuhrt zu deren Innovation und damit in argumentativer Form zur Verteidigung der eigenen Interessen. Gleichzeitig sind Aymara-Frauen heute immer mehr dazu gezwungen, sich auch in der städtischen Lebenswelt auf Märkten, zur Organisation des Schulbesuchs ihrer Kinder oder für die Verhandlung mit Behörden und Entwicklungsprojekten zu bewegen, d.h., es handelt sich dabei um einen 'relativen' Rückzug auf die ländliche Lebenswelt in Form einer subjektiven Strategie. Während die Männer die Regeln der männlichen Ehre vor allem unter Einbeziehung von städtischen Werten erweitern, geht es den Frauen oft auch um die Erweiterung der weiblichen Ehre durch Regeln, die bisher nur für die männliche Ehre gültig waren. Je nach Deutungsmuster kann es vorkommen, daß eine Frau durch die Übernahme ehemals 'männlicher Posten' zwar der Gemeinschaft gegenüber ihr symbolisches Kapital verbessert, unter Frauen jedoch kritisiert und abgewertet wird, weil sie Regeln der männlichen Ehre entspricht, die für die weibliche Ehre (noch) nicht gelten. Tatsächlich verfugen Männer, wie Connell (1995) richtig bemerkt hat, über eine Art von Dividende, die aus dem grundsätzlich größeren symbolischen Kapital besteht, das ihnen auch in der Lebenswelt der Aymara von Puno zugeschrieben wird. Dieses hohe Ansehen kann von Männern in Anspruch genommen werden, ohne daß sie es erst aushandeln oder verdienen müssen. Da Vorstellungen von Männlichkeit u.a. auch mit Unzuverlässigkeit und der Nichteinhaltung von Versprechungen und Verpflichtungen assoziiert werden, ist das Ehrsystem für die Männer einerseits dehnbarer als für Frauen, andererseits setzen sie sich durch ihren größeren Zugang zur städtischen Lebenswelt auch tendenziell häufiger über einzelne Regeln der Ehre hinweg. Da Männer grundsätzlich geringerer sozialer Kontrolle unterliegen als Frauen, sind sie eher in der Lage, eine Reihe von Regeln zu brechen, ohne daß sie damit gleich ihre Ächtung oder Ausgrenzung riskieren. Auf diese Weise verfugen Männer über wesentlich größere Handlungsräume als Frauen, was ihnen erlaubt, sich über bisherige Regeln und Werte der ländlichen Lebenswelt der Aymara entweder hinwegzusetzen oder diese durch neue Werte der städtischen Lebenswelt zu ersetzen oder zu ergänzen. Männer, die sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der ländlichen Lebenswelt bewegen müssen, geraten in Konflikte mit den vielfältigen Anforderungen der männlichen Ehre, insbesondere dann, wenn sie durch physische Abwesenheit weniger Kontrolle über ihre Frau, Töchter oder Schwestern ausüben können, wenn sie die von ihnen erwarteten Gegenleistungen verringern und sich aus bestehenden Verpflichtungen zurückziehen. Einige Männer berufen sich auf ihr Geldeinkommen oder ihr Geschick im Bekleiden von Posten (z.B. als Bezirksbürgermeister) oder im Umgang mit Institutionen der städtischen Lebenswelt als

281 Ersatz für andere von ihnen erwartete Verpflichtungen in der Familie, in der Landwirtschaft und in der Dorfgemeinschaft. Indem sie für sich ein hohes Selbstwert- und Ehrgefühl auf der Grundlage von 'städtischen Fähigkeiten' und Statussymbolen entwickeln und eine Fremdbewertung in Form von Anerkennung außerhalb der dörflichen Lebenswelt in Anspruch nehmen, dehnen bzw. erweitern sie die Regeln und Anforderungen für das Ansehen von Männern und zur Verbesserung ihres symbolischen Kapitals innerhalb der ländlichen Lebenswelt der Aymara. Für Frauen sind die Regeln der Ehre nicht nur weniger dehnbar als für Männer, sie können sich im Unterschied zu Männern auch kaum über die Logik der Ehre innerhalb der Lebenswelt der Aymara hinwegsetzen. Durch ihre besonders ausgeprägte Exklusion aus der städtischen Lebenswelt durch Diskriminierung und geringe Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten werden ihnen diesbezüglich noch zusätzliche Grenzen gesetzt. Einerseits ist die Dehnbarkeit der Regeln und Anforderungen und ihrer Deutungsvielfalt für Männer größer als für Frauen, ohne daß sie sich aus der Sicht der anderen damit über das Ehrsystem ganz hinwegsetzen und dadurch etwa selbst ausgrenzen. Andererseits sind Männer durch ihren besseren Zugang zu beiden Lebenswelten in der Stadt und auf dem Land eher als Frauen in der Lage, sich über einzelne Regeln des Ehrkodex der ländlichen Lebenswelt der Aymara hinwegzusetzen. Männer versuchen außerdem, eine Reihe von Verpflichtungen gegenüber der Familie und Gemeinschaft zu umgehen und ihren Anspruch auf Anerkennung und Ansehen neu zu begründen. Dabei greifen sie häufig auf Werte und Symbole der städtischen Lebenswelt zurück, zu denen Frauen weitgehend der Zugang versperrt bleibt. Männer erweitern auf diese Weise (bewußt oder unbewußt) ihre Handlungsräume auf Kosten von Frauen. Sie verbinden damit wiederum widersprüchliche Erwartungen an Frauen: Einerseits sollen sie ihren bisherigen Verpflichtungen und Funktionen innerhalb der ländlichen Lebenswelt weiterhin nachkommen wie bisher, gleichzeitig sollen sie die Arbeitsleistungen und Funktionen von Männern zusätzlich übernehmen und andererseits sollen sie aber von der Öffentlichkeit und von Instanzen der Entscheidungsfindung ausgeschlossen bleiben.

8.3.

Die Veränderung von Geschlechterverhältnissen und die Erweiterung von Geschlechterdisparitäten

Ein prägnantes Ergebnis der vorliegenden Untersuchung besteht darin, daß alle Interviewpartnerinnen und Interviewpartner die Ungleichheit in Geschlechterverhältnissen bei den Aymara beschreiben und Frauen ihre eigene untergeordnete Position in Geschlechterverhältnissen deutlich wahrnehmen. Insbesondere die

282 starke Überlastung von Frauen durch die ungleiche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Zuschreibung von Verantwortung für die Versorgung und das Wohlergehen aller Familienmitglieder wird von den Interviewpartnerinnen als ungerecht empfunden. Sie beschreiben vielfältige Auswirkungen von Veränderungsprozessen, die zur Erweiterung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern fuhren. Aus der Sicht der Interviewpartnerinnen enthält das Weltbild der Aymara eine deutliche Überlegenheit von Männern, auch wenn viele andine religiöse Symbole eher eine ausgewogene Bewertung von Männlichkeit und Weiblichkeit suggerieren. Sie empfinden die Gleichsetzung von Frauen mit Objekten wie Steinen oder mit Tieren wie Hunden als besonders erniedrigend und beschreiben, wie sie darum kämpfen müssen, als vollwertiger Mensch und als handelndes Subjekt betrachtet und anerkannt zu werden. Um Frauen auf die Ehe und die Dorfgemeinschaft einzugrenzen, und um die Abhängigkeit der Männer und der Reproduktion der gesamten Lebenswelt der Aymara von den Frauen überhaupt zu verschleiern, werden Frauen bewußt erniedrigt und unterbewertet. Weibliche Machtsphären werden durch Ablehnung von Arbeitsergebnissen und Verweigerung von Anerkennung, durch Unterbewertung oder Beschleunigungsdruck untergraben. Die Abhängigkeit der Männer von den Frauen wird erfolgreich heruntergespielt hinsichtlich der Arbeitsleistungen und Fähigkeiten der Frauen, ihrer Sexualehre, ihrer Gebärfahigkeit. ihrer Versorgungsleistung für die Familie, für Kinder und Kranke, der Zubereitung von Speisen, der Herstellung von Kleidung und vom weiblichen Beitrag in der landwirtschaftlichen Produktion und in der Verwaltung der Ressourcen, ohne die ein Hof nicht überlebensfahig ist. Frauen werden bei allen möglichen Gelegenheiten in privaten Räumen und in der Öffentlichkeit beschimpft, lächerlich gemacht und beschämt, um ihr Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen und um auf diese Weise ihre Verteidigungs- und Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. Diese Strategien der Unterordnung werden nicht nur von der eigenen Familie den jungen Mädchen gegenüber genutzt, die getäuscht und ignorant gehalten werden, damit sie ohne Widerspruch im Sinne der Eltern verheiratet werden können, sondern auch vom Familienverband des Ehemanns. Nicht nur die Männer selbst, sondern auch weibliche Familienmitglieder tragen jeweils auf ihre Weise zur Unterordnung der Frau innerhalb von Geschlechterverhältnissen bei. Demgegenüber werden verschiedene Argumente für die Abhängigkeit der Frauen von der physischen Kraft der Männer, von männlichen Arbeitsleistungen und Entscheidungen, vom männlichen Ansehen für die Familienehre und vom männlichen Schutz vor Angriffen immer wieder hervorgehoben. Die Unterbewertung von Frauen und ihren Arbeitsleistungen bzw. die Hinterfragung der Arbeits- und Denkfähigkeit von Frauen durch Männer und die damit

283 verbundene Abwertung und Erniedrigung von Frauen wegen angeblich schlechter oder zu langsamer Erfüllung weiblicher Pflichten werden von den Interviewpartnerinnen als Begründungen genannt, die für die Rechtfertigung der Ungleichheit der Geschlechter und der Machtposition der Männer innerhalb von Geschlechterverhältnissen angeführt werden. Früher gab es einigen Aussagen männlicher Interviewpartner zufolge sogar die Vorstellung, eine Frau habe ihrem Mann zu dienen, in gewisser Analogie zu den Arbeitskräften auf den Hazienden, die die Herrschaften zu bedienen hatten. Obwohl Frauen in den ihnen zugeordneten Aufgabenbereichen und privaten Räumen tendenziell durchaus Entscheidungsbefugnisse und Gestaltungsmöglichkeiten haben, kann auch in diesen frauenspezifischen Räumen nicht ausgeschlossen werden, daß der Mann mitreden und entscheiden will. Besteht der Ehemann tatsächlich darauf zu bestimmen, dann bleibt wenig Handlungsraum für die Frau, da sie sich bei Widerspruch oder Beharren auf eigenen Entscheidungen vor Sanktionen furchten muß. Verschiedene Interviewpartnerinnen erwähnen jedoch auch, daß junge Väter heute eher als ältere Väter bereit seien, flexibler mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung umzugehen und auch den Frauen zugeschriebene Aufgaben zu übernehmen. Trotzdem werden in Zeiten allgemeiner Knappheit von Ressourcen weibliche Tätigkeitsbereiche - wie die Verwaltung von Ernteerträgen, der Verkauf von eigenen und der Erwerb von industriell hergestellten Produkten auf Märkten sowie die Zubereitung von ausreichenden Mahlzeiten für die Familie von den Interviewpartnerinnen nicht mehr als besonders anerkannte, frauenbestimmte, machtgenerierende Räume wahrgenommen, sondern vielmehr als eine Verantwortung, die mit permanenten Sorgen einher geht und eine Last darstellt, die von Männern ungerechterweise nicht geteilt wird. Die Schwerpunktverlagerung in der Familienproduktion von der Landwirtschaft zur Viehzucht für den Markt hat nicht nur die Versorgung der Familie mit Nahrungsmitteln aus eigener Produktion erschwert, sondern außerdem zu einer zunehmenden alltäglichen Arbeitsbelastung von Frauen beigetragen, die nicht mehr nur auf bestimmte Jahreszeiten des Agrarzyklus beschränkt bleibt. In Zeiten allgemeiner Ressourcenknappheit sind die Voraussetzungen für eine Familiengründung für junge Ehepaare immer schwieriger geworden und Frauen müssen sowohl als Verheiratete als auch als Alleinstehende zunehmend um ihre Interessen bei Erbschaftsregelungen oder beim Zugang zu Ressourcen innerhalb der Gemeinschaft kämpfen. Die Geschlechterverhältnisse haben sich daher zwar drastisch verändert, die Geschlechterhierarchie hat sich jedoch trotz der Transformationsprozesse hartnäckig gehalten und die Geschlechterdisparitäten haben sich noch dadurch vergrößert, daß sich Frauen und Männer in unterschiedlicher Weise an ländlichen

284 oder städtischen Werten orientieren und verstärkt in "zwei verschiedenen Welten" leben. Obwohl nicht ausdrücklich nach der Gewalt gegen Frauen in den Interviews gefragt wurde, läßt die ausführliche Thematisierung durch die Interviewpartnerinnen keinen anderen Schluß zu, als daß es sich bei der Gewalt in der Ehe um ein bei den ländlichen Aymara von Puno ausgesprochen verbreitetes Phänomen handelt, das den Interviewaussagen zufolge offenbar auch 'Tradition' hat. Die Einschätzungen der Interviewpartnerinnen und -partner in bezug auf Zu- oder Abnahme männlicher Gewalt gegen Frauen in der Ehe sind allerdings unterschiedlich. Während einige Frauen und Männer davon ausgehen, daß die Abschaffung der Hazienden und die Zunahme der Bürgerrechte von Frauen und Analphabetinnen in der peruanischen Gesellschaft mit Wahlrecht und Recht auf eigenen Ausweis auch zu mehr Respekt gegenüber Frauen innerhalb der Dorfgemeinschaften beigetragen habe, erwähnen andere eher negative Entwicklungen wie zunehmende Differenzierungsprozesse und Wertkonflikte, Mißverständnisse und Interessenkonflikte zwischen Frauen und Männern in der Ehe. Streit um die knappen Ressourcen, die Veränderung der Produktionsbedingungen und Verarmungsprozesse haben ebenso Gewalt in der Ehe zur Folge wie Reaktionen auf Normenbrüche und Regelverstöße von Frauen im Kontext erweiterter Handlungsmöglichkeiten und der Eroberung neuer Räume. Der hohe Stellenwert des Themas von männlicher Gewalt gegen Frauen in den Interviews deutet darauf hin, daß unterschiedliche Wertvorstellungen, eine zunehmende Differenzierung auf allen Ebenen, größere Geschlechterdisparitäten und gegensätzliche Interessen von Frauen und Männern die Bereitschaft von Männern zur Gewaltanwendung erhöhen. Frauen reagieren darauf mit Gefühlen der Ohnmacht, Wut und Angst in der Ehe und nur wenigen gelingt es, sich zu wehren oder genug Selbstvertrauen aufzubringen und zu zeigen, um sich den Respekt des Ehemanns zu verschaffen und Strategien zur Verhinderung von bzw. zum Ausweichen vor Gewalt zu entwickeln. Die Abhängigkeit der Frau von ihrer Familie zum Schutz gegen Gewaltanwendung durch ihren Ehemann ist nach wie vor groß und das Fehlen einer dörflichen Instanz zur Bestrafung gewalttätiger Ehemänner bedeutet einen großen Nachteil für Frauen, der ihre Handlungsfähigkeit stark beeinträchtigt. Gewalt in der Ehe wird jedoch als privates Familienproblem betrachtet, das vor der Öffentlichkeit möglichst geheimgehalten werden muß und daher auf der Dorfversammlung nicht verhandelt werden sollte. Das Bekanntwerden von Streit in der Ehe kann außerdem das Ehrkapital der Frau beeinträchtigen, da aufgrund der sozialen Legitimation von Gewalt im Fall von Ungehorsamkeit oder Faulheit, Eifersucht oder Erbschaftsproblemen der Eindruck entstehen könnte, die Frau habe sich unehrenhaft verhalten und habe die Strafe daher sich selbst zuzuschreiben. Bisher gibt es keine Forderungen von

285 Frauen nach Schaffung einer vor Gewalt schützenden bzw. Gewalt in der Ehe sanktionierenden dörflichen Instanz. In diesem Zusammenhang läßt sich das sich verändernde Machtverhältnis zwischen den Geschlechtem am besten an Hand der Sichtbarmachung einer männlichen 'Politik der Weiblichkeit' im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten verdeutlichen: Männer schreiben Frauen heute auf andere Weise als früher die Verantwortung für die Reproduktion der Lebenswelt der Aymara zu. Während bisher die Ausgrenzung der Frauen vom Zugang zur städtischen Lebenswelt, zu Bildung, zu eigener Meinungsbildung, sowie die Verringerung ihres Selbstwertgefuhls, die Verhinderung von Sozialkontakten mit anderen Männern und Frauen - sogar mit ihrer eigenen Familie - und die Kontrolle über ihre Körper mit dem Ziel der biologischen und sozialen Reproduktion der Lebenswelt der Aymara im Vordergrund stand, entfernen sich neuerdings die Männer selbst zunehmend vom Wertsystem der Aymara, sind jedoch weiterhin auf die dörfliche Lebenswelt angewiesen. Männer sind daher oft durch physische Abwesenheit dazu gezwungen, auf die direkte Kontrolle über Frauen innerhalb der Familie und der Gemeinschaft zu verzichten oder diese zu verringern. Einerseits müssen Frauen unbedingt in der Gemeinschaft und der Familie zurückgehalten werden, andererseits wollen Männer immer weniger Verpflichtungen innerhalb der Gemeinschaft übernehmen und profitieren, ohne diesen Beitrag anzuerkennen, von einer verbesserten Dialog-, Mitentscheidungs- und Verhandlungsfahigkeit von Frauen innerhalb der Dorforganisationen und gegenüber städtischen Institutionen wie Schule, Markt und Händler, Behörden, usw.

8.4. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse Im Unterschied zu vielen Forschungsarbeiten über den Andenraum, die vermeintlich egalitär strukturierte andine Geschlechterverhältnisse auf die in der Kosmovision enthaltene gleichzeitige symbolische Komplementarität wie Gegensätzlichkeit der Geschlechter zurückführen, bestand das Erkenntnisinteresse der vorgelegten Untersuchung darin, die hierarchische und asymmetrische Struktur der Geschlechterverhältnisse im Andenraum aus weiblicher Sicht zu rekonstruieren. Dabei wurde zum einen die Wahrnehmung ländlicher AymaraFrauen selbst in bezug auf ihre eigene Ungleichheitserfahrung sichtbar gemacht. Zum anderen konnte gezeigt werden, daß sich Frauen nicht nur als Opfer, sondern als Denkende und Handelnde aktiv mit Veränderungen ihres Alltags auseinandersetzen und die männliche soziale Ordnung der Aymara nicht widerspruchslos hinnehmen, sondern normative Regeln umdeuten und neue Handlungsräume aushandeln. Die Interpretation der lebensgeschichtlichen Aussagen

286 diente nicht nur zur Analyse von Einzelschicksalen oder individuellen Lebensund Alltagserfahrungen, sondern vor allem zur Rekonstruktion kollektiver weiblicher Denk- und Handlungsmuster. Der Vergleich der Aussagen von Frauen unterschiedlicher Altersgruppen gibt im Gesamtüberblick Aufschluß darüber, wie sich Modernisierungsprozesse bei den Aymara auf Geschlechterverhältnisse, Macht und Vorstellungen von Weiblichkeit auswirken. Obwohl weniger Männer als Frauen interviewt wurden und die Aussagen der Männer nur zu einigen Themen ausgewertet werden konnten, ergeben sich Hinweise auf grundsätzliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei den Aymara im Umgang mit dem Alltag, insbesondere in bezug auf soziale Räume, die ihnen jeweils zur Verfügung stehen und ihre Handlungsund Verhandlungsfahigkeit. Erst die Rekonstruktion des Kontextes ermöglichte eine Auswertung der Alltagserfahrungen der Aymara-Frauen in Puno, die berücksichtigt, welche komplexen Veränderungsprozesse von ihnen verarbeitet und welche vielfaltigen Hürden der Einschränkung ihrer Persönlichkeitsentwicklung und ihrer Handlungsfähigkeit überwunden werden müssen, um sich aktiv einzumischen. Die alltägliche Lebenssituation von Frauen wird aus weiblicher Sicht durch Transformationsprozesse auf allen Ebenen verändert. Die Geschlechterdisparitäten nehmen zu, da sich Männer tendenziell stärker an städtischen und Frauen eher an ländlichen Wertsystemen orientieren. Handlungsräume von Männern und Frauen erweitern sich im Spannungsfeld zwischen beiden Lebenswelten und können von Frauen verschiedener Altersgruppen in unterschiedlichem Ausmaß genutzt werden. Der soziale Wandel und die Auswirkungen von Modernisierungsprozessen aus weiblicher Sicht konnten durch den Vergleich der Interviewaussagen von Frauen unterschiedlichen Alters erfaßt werden. Veränderungen der Vorstellungen von Weiblichkeit, der Geschlechterverhältnisse, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und des Umgangs mit Zeit und Raum sind einerseits auf den Einfluß von dominanten städtischen Werten auf die untergeordnete ländliche Lebenswelt zurückzufuhren. Andererseits beruhen sie auf Handlungsstrategien der weiblichen und männlichen Akteure selbst, die in unterschiedlicher Weise mit diesem Spannungsverhältnis umgehen. Zunächst einmal ist interessant, daß Aymara-Landfrauen trotz der Krise in den unterschiedlichsten Sphären nicht nur negative, sondern auch positive Auswirkungen von Transformationsprozessen insbesondere im Zusammenhang mit der Erweiterung von eigenen individuellen Handlungsoptionen identifizieren. Zu den positiv wahrgenommenen Auswirkungen von Transformationsprozessen gehören die Verringerung der sozialen Kontrolle von Frauen, eine Flexibilisierung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sowie die Aushandlung von Grenzverschiebungen in bezug auf Normen und geschlechtsbezogene Zuschrei-

287 bungen zu privaten und öffentlichen Räumen. Wahrgenommen wird auch eine Verbesserung der weiblichen Dialog- und Verhandlungsfahigkeit durch die Erweiterung von Handlungsräumen und Alltagserfahrungen von Frauen. Negativ werden die Erhöhung des Konkurrenz- und Handlungsdrucks, die Zunahme der weiblichen Arbeitsbelastung durch männliche Migration, die Verringerung des Familieneinkommens sowie die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Landfrauen wahrgenommen. Wachsende Spannungsfelder zwischen Normen, Handlungsmustern und Wertsystemen unterschiedlicher Lebenswelten fuhren zur Zunahme von Interessenkonflikten zwischen Familien- und Dorfmitgliedern, Migrationsprozesse werden verstärkt und Familien sowie Ehen werden auseinandergerissen. Innerhalb der Familie und in Dorforganisationen werden Konsensbildungsprozesse erschwert und verlängert. Gewalt, Zwänge und Sanktionen Frauen gegenüber werden verschärft. Interne Differenzierungsprozesse innerhalb der Dorfgemeinschaften sowohl zwischen Familienverbänden als auch zwischen Dorfgemeinschaften nehmen zu. Faktoren wie die beschleunigte Marktintegration, veränderte Produktionsweisen in der Landwirtschaft und entsprechender ritueller und religiöser Praktiken, die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionsgemeinschaften sowie die Koexistenz widersprüchlicher Wertsysteme und Anforderungen verursachen eine Verschärfung von Interessenwidersprüchen zwischen Familienverbänden und Familienmitgliedern, zwischen Männern und Frauen und zwischen Frauen. Dies gilt einerseits für Macht und Ansehen, andererseits auch für den Zugang zu immer knapperen Ressourcen wie Land, menschliche Arbeitskraft, Schulbildung und Geldeinkommen. Diese Veränderungsprozesse und ihre Auswirkungen auf Geschlechterverhältnisse und auf Konzepte von Weiblichkeit laufen bei den Aymara von Puno regional und lokal in ganz vielfaltiger Form ab und bedingen damit für Frauen gleicher Altersgruppen eine Reihe sehr verschiedener Lebensverläufe und Selbstentwürfe. Tradierte Praktiken, Normen und Werte werden auf ganz unterschiedliche Weise aufgebrochen: einige Frauen müssen migrieren, andere dürfen das aus diversen Gründen nicht. Die einen sind gezwungen, sich auf Spanisch zu verteidigen, obwohl sie die Sprache nicht systematisch gelernt haben, die anderen haben keinen Zugang zur spanischen Sprache, obwohl sie ihn gerne hätten. In den seltensten Fällen handelt es sich dabei um Bedingungen, die den Interviewpartnerinnen eine freie Entscheidung erlauben. Vielmehr müssen sie in der Regel fremdbestimmten Entscheidungen und situationsbedingten Zwängen folgen. Ausschlaggebend für ihre soziale Verortung innerhalb der Gemeinschaft und für die Entscheidungen über Migration bleiben jedoch für alle Altersgruppen von Frauen bis heute vor allem drei Faktoren: erstens die Abstammung und der damit verbundene Zugang zu ökonomischen und sozialen Ressourcen durch Erbschaft, zweitens die Heiratsstrategien und drittens ihr Ehrstatus innerhalb der

288 Gemeinschaft. Diese drei Faktoren haben einen wesentlichen Einfluß darauf, ob Frauen in der Dorfgemeinschaft bleiben, saisonal migrieren oder ganz abwandern müssen. Frauen verlieren und gewinnen gleichzeitig durch Transformationsprozesse: einerseits erhöhen sich Arbeitsbelastung, Handlungs- und Entscheidungsdruck und der Umgang mit beiden Lebenswelten und Wertsystemen stellt größere Anforderungen an Frauen trotz nur geringer Verbesserung ihres Zugangs zu Schulbildung. Andererseits eröffnen sich neue soziale Räume und Handlungsmöglichkeiten für Frauen, die es ihnen ermöglichen, Grenzverschiebungen in bezug auf geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Zeit und Raum auszuhandeln. Aymara-Landfrauen sind zwar im Rahmen von Transformationsprozessen zunehmenden Anforderungen ausgesetzt, erweitem gleichzeitig jedoch auch ihre Handlungsoptionen. Dabei geraten sie aber auch häufig in Konflikt mit gesellschaftlichen Erwartungen der ländlichen Lebenswelt. Trotz der positiv wahrgenommenen neuen Handlungsräume kann es daher sogar zur Verschärfung der Verletzung von Frauenrechten kommen, um ins Wanken geratene Handlungsmuster mit Gewalt durchzusetzen. Ein Beispiel dafür ist die Zunahme des Gewaltpotentials gegenüber Frauen in der Ehe und Familie. Durch die zunehmende Abwesenheit von Männern durch saisonale Migration oder andere Strategien zur Erwirtschaftung von monetärem Einkommen außerhalb der ländlichen Lebenswelt vergrößert sich die Arbeitsbelastung der Frauen innerhalb der familiären landwirtschaftlichen Produktion und durch gemeinschaftliche Verpflichtungen durch den Zwang, männliche Aufgaben zu ersetzen. Zugleich verringert sich die soziale Kontrolle über Frauen. Frauen verhandeln ihre Interessen und Einflußmöglichkeiten, erneuern und deuten Nonnen, Regeln, Praktiken und Symbole um. Sie geben ehemals hoch bewertete spezifische frauenbestimmte Räume auf, die ihnen zwar symbolische Macht verliehen haben, heute aber als zeitaufwendig und weniger sinnstiftend empfunden werden. Ehemals ausschließlich von Männern besetzte öffentliche Räume werden von Frauen erschlossen. Zum einen gründen und legitimieren sie öffentliche Frauenräume und erweitern dort ihre Dialog- und Redefahigkeit in der Öffentlichkeit, den Umgang mit Behörden und Institutionen, die Ausübung von öffentlichen Ämtern im Vorstand von Frauenorganisationen etc. Zum anderen fordern sie das Recht auf Meinungsäußerung und Teilnahme an Entscheidungsfindungsprozessen innerhalb der Dorfversammlungen und -Organisationen. Die weibliche Ehre stellt für Aymara-Frauen ihren zentralen Lebenssinn bzw. ihre soziale Daseinsberechtigung innerhalb der ländlichen Lebenswelt von Puno dar. Frauen müssen ihre Daseinsberechtigung als vollwertige Menschen oder als denk- und handlungsfähige Subjekte immer wieder neu einklagen, sichtbar machen und aushandeln. Bei der Ehre handelt es sich im Bourdieuschen Sinne vor

289 allem um ein implizites, eher praktiziertes, als gedachtes und formuliertes Wertsystem, das den Handlungen Form gibt. Die Relevanz der Ehre als Leitwertsystem für Aymara-Frauen konnte einerseits aufgrund ausdrücklicher Darstellungen der Interviewpartnerinnen z.B. in bezug auf ihre moralischen Grundsätze und ihr Sexualverhalten, die Heiratsstrategien der Eltern, eigene Strategien zur Sicherung von Ressourcen und die Lebensentwürfe für die eigenen Kinder rekonstruiert werden. Andererseits wurde der weibliche Ehrkodex der ländlichen Aymara von Puno nicht nur auf der Basis der Interpretation der Eigenbeschreibung sondern darüber hinaus mit Hilfe der Rekonstruktion der Logik und Motivation weiblicher Handlungsstrategien identifiziert. Zu diesem Zweck wurden Strategien von Interviewpartnerinnen jeweils unterschiedlicher Herkunft, verschiedener Altersgruppen und mit unterschiedlichem Familienstand miteinander verglichen und ihre Begründungen für die Nutzung oder Einschränkung von Handlungsräumen und Ressourcen analysiert. Die Untersuchung von Normenbrüchen und daraus folgenden sozialen Sanktionen bis hin zum Ausschluß aus der Gemeinschaft durch Entehrung, Ächtung und Verbannung verweisen auf die Existenz der Ehre und zugleich ihre Bedeutung als symbolisches Kapital bei den ländlichen Aymara von Puno. Die Relevanz einer weiblichen Ehre und eines weiblichen Ehrgefühls für Frauen als zentraler Lebenssinn und zur Sichtbarmachung ihrer Denk- und Handlungsfähigkeit konnte mit Hilfe der vorliegenden Untersuchung nachvollzogen werden. Die Befolgung der Regeln der Ehre als Leitwertsystem bedeutet für AymaraFrauen nicht nur die unkritische Anpassung an gesellschaftlich zugeschriebene Anforderungen, Aufgaben und Funktionen, sondern kann durchaus strategisch im Kampf der kleinen Schritte um die Anerkennung ihrer Fähigkeiten und ihrer Gleichwertigkeit als Person und vollwertige Menschen und zur Eroberung von öffentlichen Räumen und erweiterten Handlungsoptionen eingesetzt werden. Die Ehre wird daher von den Interviewpartnerinnen nicht nur als ein Mechanismus zur Disziplinierung oder als Motivation zu konformem Verhalten zur Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen und Reproduktionsfunktionen durch soziale Kontrolle oder Selbstdisziplinierung empfunden. Der Wunsch nach Verbesserung des eigenen Ehrstatus motiviert Frauen dazu, Veränderungen beispielsweise von Bedingungen der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern anzustreben und auszuhandeln. Ein erfolgreicher Kampf um symbolische Macht sichert den Frauen gleichzeitig auch den Zugang zu den für das Überleben notwendigen Ressourcen innerhalb der Dorfgemeinschaft, der vor allem alleinstehenden Frauen im Kontext allgemeiner Ressourcenverknappung zunehmend abgesprochen wird. Spezifische Regeln der weiblichen Ehre werden insbesondere von den jüngeren Interviewpartnerinnen zunehmend durch die Übernahme von männlichen Regeln der Ehre ergänzt. Auch der weibliche Habitus trägt einerseits zur Konti-

290 nuität von sozialen Praktiken wie z.B. der Beibehaltung der Trachtenkleidung von Frauen bei, läßt andererseits jedoch Raum für kreative Veränderungen und Umdeutungen durch Frauen selbst. Die von Bourdieu entwickelten Kategorien der Ehre als symbolisches Kapital und des Ehrgefühls als Habitus bieten sich für die Analyse von Machtverhältnissen innerhalb der sozialen Ordnung der ländlichen Lebenswelt der Aymara aus mehreren Gründen an: Zum einen, weil sie eine materialistische Interpretation der symbolischen Ebene ermöglichen, die zur Aufdeckung von verschleierten Machtverhältnissen und unausgesprochenen materiellen Interessen führt. Zum anderen weil es sich um dynamische Kategorien handelt, die sowohl die Kontinuität als auch den Wandel erfassen. Regeln sind bei Bourdieu nie starr und der Habitus verbindet Struktur und Handlungsräume auf eine Weise, die zwar Einschränkungen der Handlungsfähigkeit vorgibt, aber auch Raum für Innovationen im Umgang mit Transformationsprozesse von außen und mit Veränderungen von Verhaltensweisen von innen läßt. Bourdieu ist allerdings vielfach (darunter von Wacquant 1992, Calhoun 1993, Lash 1993, Fowler 1997) vorgeworfen worden, die strukturalistischen und funktionalistischen Wurzeln seiner Theorie der Praxis seien geeigneter für die Erklärung der sozialen Reproduktion als für die der sozialen Transformation. Bourdieus Konzeption von Strategie im intersubjektiven Habitus, der durch die objektive Situation geprägt wird, gäbe dem menschlichen Handeln zwar einen nützlichen Sinn, stelle jedoch die Kreativität nicht ausreichend in den Vordergrund. Sozialer Wandel erscheine als ein nicht determiniertes Ergebnis von Bedingungen, aber nicht von intentionaler Aktion. Bourdieu selbst hat auf diese Kritik mit der Aufforderung reagiert, seine Theorie nicht auf rein theoretischer Ebene zu analysieren, sondern seine Kategorien empirisch anzuwenden (Bourdieu 1993: 271-272). Er bezeichnet seinen Ansatz als "Dispositionstheorie des Handelns" und betont, daß Männer und Frauen zwar die soziale Welt konstruieren, dies jedoch nicht mit selbst gewählten oder selbst hergestellten Formen und Kategorien tun (Bourdieu 1997: 97). Die weiblichen oder männlichen Konstrukteure unterliegen demzufolge gesellschaftlichen Voraussetzungen und Mechanismen, die ihre Handlungsfähigkeit einschränken aber nicht generell verhindern. Für Bourdieu besteht das Hauptmotiv für individuelles oder strategisches Handeln in der Suche nach Macht, sozialer Anerkennung und nach dem Zugang zu Ressourcen. Er setzt damit allerdings eine Kohärenz von Wertsystemen voraus, die im Spannungsfeld zwischen zwei Lebenswelten nicht mehr eindeutig ist. Tatsächlich hat jedoch die empirische Anwendung der Kategorien des symbolischen Kapitals und des Habitus im Sinne Bourdieus am Beispiel der Aymara gezeigt, wie veränderbar Regeln und Erwartungshaltungen durch bewußte Stra-

291 tegien von Frauen und Männern sein können, und daß trotz situationsbedingter Einschränkungen auch beträchtlicher Raum für Innovationen bleibt. Die Tatsache, daß die Kategorien der Ehre als symbolisches Kapital und des Ehrgefühls als Habitus von Bourdieu als geschlechts- und altersspezifisch geprägt verstanden werden, macht sie gerade auch für eine Analyse von Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern und deren Wandel geeignet. Die vorliegende Untersuchung zeigt außerdem, daß ein großer Teil der Wünsche der Frauen nach Veränderung nicht etwa aufgrund 'unendlicher' neuer Handlungsoptionen von innen heraus entstanden sind, sondern als Reaktion auf situationsbedingte Zwänge und Negativerfahrungen durch Einflüsse von außen. Die Berücksichtigung der situationsbedingten unterschiedlichen Ausgangspositionen von Aymara-Landfrauen und -männern stellt das weit verbreitete Klischee einer konservativen Haltung von Landfrauen in Frage. Bei der Einschätzung der Lebenseinstellung von Aymara-Frauen zu Modernisierungsprozessen und ihres Umgangs mit Veränderungen muß im Vergleich zu Aymara-Männern berücksichtigt werden, daß Frauen in der ländlichen Lebenswelt nicht nur durch vielfältige Mechanismen stärker als diese eingeschränkt werden. Sie werden außerdem für die Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen verantwortlich gemacht, die zur Dauerhaftigkeit von kulturspezifischen Normen, Regeln, Praktiken und Wertvorstellungen führen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um von ihnen selbst gewählte, sondern um ihnen gesellschaftlich zugeschriebene Funktionen und Aufgaben. In der ländlichen Lebenswelt werden Frauen auch weiterhin durch diverse gesellschaftliche Mechanismen auf die Familie und ihre Dorfgemeinschaft eingegrenzt. Eine Abwanderung der Frauen soll verhindert werden, um eine kulturell eigenständige Reproduktion der ländlichen Lebenswelt der Aymara auch in Zeiten komplexer Transformationsprozesse zu garantieren. Frauen wird einerseits der Zugang zur städtischen Lebenswelt und zu ihren Institutionen und Wertsystemen erschwert, andererseits werden sie aus der städtischen Lebenswelt durch Diskriminierung und geringe Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten ausgegrenzt. Diese Tatsache hat dazu geführt, daß viele Interviewpartnerinnen, die im Laufe ihres Lebens zur Kurzzeit- oder Langzeitmigration gezwungen waren, schließlich doch ihren Lebensmittelpunkt in ihren Dorfgemeinschaften beibehalten und diesen aus situationsbedingten Gründen oft mit viel Aufwand verteidigt haben. Zum einen fühlen sie sich in vertrauter Umgebung innerhalb der Dorfgemeinschaft wohler, weil sie dort weniger der Diskriminierung und Erniedrigung ausgesetzt sind und trotz sozialer Kontrolle und Abwertung auch Anerkennung finden, zum anderen verbessern sich ihre Lebensbedingungen und die ihrer Kinder trotz sich verschärfender Ressourcenknappheit im Vergleich zu einem Leben außerhalb der Gemeinschaft ohne Bezug zur Dorfgemeinschaft. Es handelt sich

292 dabei daher nicht um eine "konservative", sondern um eine realistische Haltung, die den für Frauen zugänglichen Handlungsräumen entspricht. Die Tatsache jedoch, daß Frauen sich mit permanenten Veränderungsprozessen und widersprüchlichen Bedeutungen, Anforderungen und Praktiken aus zwei Lebenswelten auseinandersetzen müssen, zu denen sie im Fall der städtischen Lebenswelt nur begrenzten Zugang haben, fuhrt zu einer großen Offenheit und dem Wunsch nach größerer Teilnahme an Modernisierungsprozessen. Die in diesem Prozeß der Auseinandersetzung mit beiden Lebenswelten permanenten Interpretationen, Umdeutungen und Verhandlungen führen dazu, daß Frauen trotz ihres eingeschränkten Zugangs zu Fähigkeiten und sozialen Räumen einem ungeheuer hohen Entscheidungs- und Handlungsdruck ausgesetzt sind. Viele Interviewpartnerinnen reagieren darauf zunächst mit dem Gefühl, nicht ausreichend darauf vorbereitet zu sein und nicht über die dafür notwendigen Fähigkeiten, Kenntnisse und Lebenserfahrungen zu verfugen und fühlen sich zunächst den steigenden Anforderungen im Umgang mit Veränderungsprozessen nicht ausreichend gewachsen. Sie müssen mit Ohnmachtsgefühlen, niedrigem Selbstwertgefühl, Dialogunfahigkeit, mangelnden Kenntnissen der spanischen Sprache, Analphabetismus, Diskriminierung, Demütigung, Ablehnung und Betrug kämpfen, Faktoren mit denen jede einzelne Frau unterschiedlich umgeht. Schließlich fallen ihre Entscheidungen jedoch durchaus nicht "konservativ" oder rückschrittlich aus, sondern können im Vergleich zu Männern manchmal sogar noch innovativer sein, da sie im Prozeß der Aneignung von Regeln, Praktiken oder Werten der städtischen Lebenswelt einen weiterführenden Umdeutungsund Veränderungsprozeß vornehmen. Während Männer vielfach Werte und Praktiken der ländlichen durch die der städtischen Lebenswelt austauschen, neigen Frauen durch die Kombination von Praktiken und Symbolen beider Lebenswelten dazu, etwas Neues zu schaffen und damit ihre kulturelle Eigenständigkeit zu behaupten. Trotz angesammelter Ressentiments aufgrund von erfahrener Diskriminierung, Abwertung und Ausgrenzung aus der städtischen Lebenswelt überwiegen die Neugier und eine überraschende Offenheit der Interviewpartnerinnen in bezug auf den Wunsch nach gleichem Zugang zu beiden Lebenswelten und nach freier Wahl zwischen Normen und Wertsystemen. Vor allem jüngere Frauen wollen nicht mehr immer den gesellschaftlichen Anforderungen der ländlichen Lebenswelt entsprechen, von denen sie sich gleichzeitig jedoch aufgrund vielfältiger Zwänge nur langsam lösen können. Aymara Landfrauen von Puno werden gleichzeitig mit Eingrenzungs- und Ausgrenzungsmechanismen konfrontiert, die sich gegenseitig verstärken. Sie unterliegen nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der ländlichen Lebenswelt sozusagen auf doppelte Weise ungleichen, autoritär geprägten Machtstruktu-

293 ren, die ihre Partizipationsmöglichkeiten und Bürgerrechte drastisch einschränken. Aymara-Frauen sprechen sich zwar zunehmend gegen Gewaltanwendung und iiir eigene Rechte aus. Sie trauen sich jedoch aus Angst vor sozialem Druck, Beschimpfung oder Abwertung oft noch nicht, ihre Forderungen in den Dorforganisationen in kollektiver Form vorzutragen. Dieses Beispiel veranschaulicht, daß eine zunehmende öffentliche Erörterung von Unrechtserfahrungen und eine Einforderung von Grundrechten und Menschenrechten bisher auch innerhalb von lokalen Basisorganisationen noch nicht gewährleistet ist, geschweige denn außerhalb. Eine solche öffentliche Erörterung wäre jedoch eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche politische Partizipation von Aymara-Frauen nicht nur auf lokaler sondern auch auf nationaler Ebene.

294

Anhang: Im Text zitierte Interviews 5.

Weibliche Sozialisation, Schulbesuch und Heiratsregeln aus weiblicher Sicht

5.1. Die Vermittlung der weiblichen Geschlechterrollen Interview 5.9: Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Era muy malo mi papá. Me enseñaba a latigazos. En las tardes, cuando no hacía tarea, solía azotar y golpear con un palo. Por miedo le decía a mi mamá: 'te ayudaré mamita, voy a moler harina o voy a moler ají.' Mi papá nos reñía fuerte, por eso yo decía: 'me voy', pero mi padre dijo: 'por qué tienes que ir a las ciudades, quieres ganar hijo, quieres llegar cargado de un bebé', diciendo, nos reñía. Por eso yo nunca me movía a otros sitios, ni iba a la plaza de Huapaca (...). " Interview 3.8: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Antes cuando era joven, parece que quería bailar (...). Pero mi mamá me reñía bastante: 'tu debes querer marido', diciendo, me reprendía. Por eso sé estar callada y nunca ya me interesaba el baile cuando era joven. " Interview 11.6: Paulina, 43 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Mi papá era de la religión adventista, por eso nunca sé bailar. 'Si vas a bailar te voy a romper tus piernas, te voy a quemar con fuego', me decía mi padre. "

5.2. Die Problematik des Schulbesuchs aus weiblicher Sicht Interview 8.5: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Cuando era niña he vivido ignorante nomás. A mí, tanto mi padre como mi madre, no querían ponerme a la escuela. Decían: '¿para qué va a aprender una hija? Los hombres nomás van.' Mis hermanos no más iban a la escuela sin faltar, continuamente (...)." Interview 16.3: Gregoria, 40 Jahre alt, aus Totojira, Seezone "Me hago pesar bastante, mi papá me quitó a mí la oportunidad (...). Al menor puso a la escuela e hizo terminar, así no me hizo concluir la escuela. "

295 Interview 5.7: Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Porque mi mamá y mi papá cuentan que era mayorcita. Además me hablan criado muy estimada y consentida. Por eso 'va a concluir primaria', diciendo, me pusieron a la escuela. Por esos años no existían hijas mujeres hasta con quinto año de primaria concluidos (...). Sólo terminamos tres mujercitas de la comunidad de Tarapoto. No hay más alumnos que hayan terminado (...). " Interview 14.2: María, 46 Jabre alt, aus Aurincota, Kordillere "Yo no pude continuar secundaria, porque mis padres no me ayudaron. Ingresé con 5 años y terminé con 13 años. Es que mis padres no querían porque decían que era mucho gasto de dinero. Mayormente estamos con el ganado y la chacra, y tenemos que cuidar a las wawas y al esposo. Es que mis padres no me permitían porque decían que las mujeres solamente conseguíamos wawas. Hubiera seguido estudios, pero mis padres no querían apoyarme. " Interview 12.4: Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Entré a los 8 años, luego después de haber entrado (a la escuela), yo descansé un año. No había algún motivo, sino que no había alguien que ayude a mi mamá. Por eso me quedé. Luego he terminado a los 14 años mi quinto año de primaria. " Interview 8.6: Marcela, 67 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "El poco tiempo que fui a la escuela, no fui seguido. Puesto que faltaba quien pastara el ganado en la época de la siembra. Luego me hacían faltar la asistencia. Entonces no me quedaba otra que retirarme de la escuela (...). " Interview 16.4: Gregoria, 40 Jahre alt, aus Totojira, Seezone "Mi papá no me ha puesto tanto a la escuela. Yo solamente entré a la escuela desde que tuve 12 años. " Interview 4.9: María, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi papá no quería. 'Tú ya sabes firmar, por qué las jóvenes van a ir tan lejos, quién va a venir a verte'. Ahora me lamento. Mi padre me hubiera puesto. Mis contemporáneas son profesoras. Por eso pienso 'cómo no me pudo poner, si yo era única', diciendo, tengo resentimiento. Ahora que ya estamos en tiempos muy caros, así mismo, estamos haciendo terminar (el colegio) uno a uno a nuestros hijos. " Interview 12.5: Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Mi mamá a mí no me quería enviar lejos. No podría estar bien me decía, iría a conseguir esposo nomás, decía. Parece que era así siempre, porque no había quién la controle. Mi papá me decía: 'te iré a dejar a Puno', pero mi mamá dijo: 'no, solamente

296 déjalo al varón. No debes llevar a la chica', decía. 'Yo con quién voy a vivir', diciendo, mi mamá tenía bastante pena. " Interview: 11.7: Paulina, 43 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Los hijos de este tiempo ya no se dejan engañar (...). "

5.3.

Die Institution der Zwangsheirat

5.3.2. Die Erbrechte von Frauen und Männern Interview 18.1: Lucia, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seelage " (...) mi mamita era huérfana. Su madre había fallecido. Después tenía un hijo menor. Ese es bien educado, profesor o ingeniero (...) Ellos tienen sueldo, porque dicen: '¿por qué una hermana que no sabe leer se va a agarrar conmigo (la herencia)?'. Al contrario por tener dinero quieren desheredar, hasta quieren terreno, no tendrán corazón, no? Ahí nos han acusado de cualquier cosa y pagan dinero. Pero él no puede hacer lo que quiere, no? Hoy en día ya conocemos nuestros derechos. Todo tiene pago, así es (..)."

5.3.4. Sanktionen bei Normenbrüchen gegenüber der Zwangsheirat am Beispiel von zwei Generationen Interview 6.1: Rosa, 38 Jahre alt, aus Copamaya, Seezone "Me casé a los 17 años. El llegó de otro sitio. Somos vecinos. Estamos viviendo bien nomás, porque mi esposo no vive en la comunidad, y me trata bien y yo igual. Pero tenemos problemas por parte de su familia. Como ellos pelean mucho, quieren que nosotros seamos así. A mi esposo lo obligan a que me pegue (...). " Interview 4.1: María, 52 Jahre alt, aus Aurincota, Kordillere "Mis hijos están en Tacna, las nueras nos hablan, aquí también vienen. Entonces cuando nos hablan en castellano, tenemos que hablar. También hay pequeños, a ellos tenemos que hablarles, así es (...). Ahorita mi hijo mayor está en la montaña, ya vive allí (...) más bien tengo solamente dos nietos, dicen. Yo no los he visto, solamente sabe llegar mi hijo, su esposa nunca ha llegado. Dice que no se acostumbraría aquí, que su esposa habla el Quechua. "

297 Interview 4.2: María, 52 Jahre alt, aus Aurincota, Kordillere "Ya que mi padre sabía mirar la coca lo llevaban de un lugar a otro 'maestro', diciendo. En eso ha conocido al padre de mi esposo que era comerciante de ganado vacuno. Dice que había entrado en un caso nada bueno, puesto que hacia negocio con los costeños (...) esos costeños dice que le mintieron, pero no sé qué mentiras pues habrían hecho. Suplicaba el servicio de mi padre y este propósito llevaría a mi padre a su domicilio cada vez que lo requerían. Por ese medio nos hemos conocido, pues. Me llevó de oculto (...) entonces de esa parte hasta hoy no me dicen nada. Sabe estar calladita mi madre nomás, pues. " Interview 16.1: Gregoria, 40 Jahre alt, aus Totojira, Seezone "Yo me he casado con mi esposo a los 18 años. Mi papá estaba en juicio. Por eso he cometido esta falta, de esa manera me casé (...) No hemos andado mucho tiempo, después de dos semanas ya nos casamos nomás. Mi suegra y la gente decía que pueden existir habladurías y sus familiares apuraron el matrimonio. Eso fue una fortuna que [ella] me defendió como mi madre. Mi suegro no era buena gente y hablaba muchas cosas, por eso apuraron mi matrimonio. Antes no se llevaba fácilmente. Se tenía que aparecer. El joven siempre tenía que ir donde los padres a suplicar de cualquier forma. " Interview 12.1: Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Estando en el colegio me junté con mi esposo, pero yo no quería casarme. Porque quería estudiar, decía. Pero a mí como sorpresa me agarraron su papá y su mamá de mi esposo y de esa manera por mi honor llegué a casarme. Eso siempre no me hubiera casado. No sé, hasta ahora pienso eso siempre. Después, una vez que me casé ya había hijo nomás, y ya no pude terminar mis estudios. "

6.

Die Vielfalt der Geschlechterverhältnisse in der Ehe

6.1.3. Liebe und Sexualität in der Zwangsehe Interview 15.3: Senobia, 48 Jahre alt, aus Ancojaque, Kordillere "Si no me hubiera encontrado con el hombre, con el marido, tal vez así sola hubiera estado. Antiguamente los padres a criterio suyo habían sabido entregar a la hija mujer al hombre y no como ahora, que ambos hijos llegan a conocerse. No había sido así. Siendo niña no había otra [posibilidad] que aceptar con un 'sí'. Nunca había existido la costumbre de decir 'no', a los padres. De ese modo estoy junto con mi esposo. Quizás no lo hubiera tenido, si tomaba decisión por cuenta propia como los chicos y las

298 chicas de este tiempo. O hubiera sido tal como estoy, pero siendo ya madura. En suma, cuánto yo quise aprender. Sin embargo no fue posible. De esa manera, mis padres han hecho todo lo posible a que me quedara frustrada quiera o no quiera. "

6.2.2. Entscheidungsfindungsprozesse in der Ehe aus weiblicher Sicht Interview 12.1: Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "Dentro de la casa acordamos entre marido y mujer. Siempre tenemos que entrar en acuerdo mutuo. A veces hay que sujetarse a lo que acuerda el esposo, otras veces tiene que sujetarse a lo que acuerda la esposa. Mutuamente acordamos, ambos nos sujetamos. A veces el esposo acuerda algo y nos definimos a eso, otras veces yo acuerdo que puede ser así dentro de la casa. Cuando hay que trabajar las chacras, acordamos cuándo podemos trabajar esa chacra. " Interview 10.1: Rosalía, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "A veces, una vez casados, nos comportamos mal. Los hombres también nos ven mal cuando estamos casadas. A veces hay esposos con diferente genio. A veces son 'comprensibles ' e 'incomprensibles', algunos no quieren dar ni confianza a la mujer. Se celan, nos desprecian, no nos hacen valer nuestra palabra ni nuestro trabajo, así son. Las mujeres, mayormente, siempre nos vemos humilladas. Nosotras decimos que: mi opinión es ésta, haré tal cosa, trabajaré tal cosa, pero el esposo no nos hace valer eso. Sólo quieren que valgan sus acuerdos. "

6.2.3. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und ihre Auswirkungen auf das Geschlechterverhaltnis in der Ehe aus weiblicher Sicht Interview 15.4: Senobia, 48 Jahre alt, aus Ancojaque, Kordillere "No se tratan muy bien entre los esposos. Solamente se riñen. A veces nos atrasamos de cualquier trabajo. Tenemos hijo y con él estamos arrastrándonos despacio. Mientras tanto, los hombres se van rápido. En eso nos atrasamos. Por eso: 'Tu te has quedado, te has atrasado', diciendo, me riñen, sólo con palabras pero no me pega. Algunos suelen pegar (...) En esas situaciones a la fuerza pensamos apurarnos. A las 3 ó 2 de la mañana ya estamos cocinando. Recién el tiempo nos alcanza y nos vamos juntos. También hay que llevar a los animales a la chacra. "

299 Interview 15.6: Senobia, 48 Jahre alt aus Ancojaque, Kordillere "El esposo no sabe tejer y tenemos que suplicar a otro, tenemos que ir cargado de hilos de urdimbre. Después de hacer tejer, tenemos que coser para los hijos. Actualmente hay para comprar ropa. Antes no había para comprar. Todo era tejido nomás (...) En una familia numerosa se necesita, uno y otro, para grande y pequeño (...). " Interview 4.4: María, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Sea cualquier trabajo hacíamos los dos. De ambos 'tú me los tejes pollera para mí y yo te lo tejeré Poncho, pues', diciendo. Entonces él, pues, la hace apurado y yo también, pues. A veces es como para reírse: 'Tú me has de ganar', a veces, 'yo te he de ganar', así diciendo, tejíamos como a la gana gana. En los primeros años de pareja a más de haber tejido el poncho, de inmediato a coser también eso de los bordes, para luego entregar la prenda, todo lista para ser puesto nomás. Más bien ahora se lo cose, solamente hay que entregarlo ya tejido nomás. El ya se lo cose esos bordes (...) Así mismo hizo la pollera para mí. " Interview 5.6: Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi esposo no sabe trabajar, no. Uno que otro día trabaja con la yunta. Por eso es diflcil trabajar con él ya que discute hasta con los bueyes y los golpea, de paso nos golpea a nosotros, más, entonces es problemático pelear marido y mujer. Mejor estoy trabajando con mis hijos. Como los hijos ya son creciditos, entonces ya con ellos mas bien comentamos: 'Que tu padre se vaya nomás. Nosotros trabajaremos', así les digo. Uno trabaja y el otro descansa, el otro saca el surco con la yunta y uno de ellos descansa. Con ellos vivo alegre nomás. "

6.2.4. Das Vater-Tochter-Verhältnis in der Ehe Interview 11.1: Paulina, 43 Jahre alt, Adventistin, aus Huacullani, Kordillere "Para mí cuando trabajamos cualquier cosa bien, mi esposo siempre esta valorando. Nunca, siempre, me ve como a un esclavo. Estamos viviendo bien nomás, siempre. El es mi mayor y nunca, siempre, me trata mal. Hasta ahora me está tratando muy bien, a lo menos en este tiempo no hay ninguna riña. Antes habrán existido las peleas, ahora siempre estamos aconsejando bien a los hijos. Qué podemos decir pues, estamos viviendo bien nomás, siempre, hasta ahora, hermana. " Interview 7.3: Lucía, 23 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "A mi me exige que hay que andar limpio, a la wawa no hay que criar cochino. Igual en la cocina, todo eso me controla, eso me enseña y estoy acostumbrada ya. Tenemos algunas discusiones pero estamos bien nomás, tenemos ganado y cuidamos ambos. Me

300 ayuda a cuidar ganado, también en la cocina, más que todo en cuidar la wawa, mientras cocino. Me ayuda en asear a la wawa mientras que yo tengo que ir a pastear los ganados. Lava la ropa, trabaja la chacra, también ayuda a mi papá. Los dos van a trabajar la chacra. " Interview 13.3: Silveria, 62 Jahre alt, aus Ccamacani, Seezone "No sabía nada, ni rezar, ni otras cosas. Por eso mi esposo me enseñó esas cosas. Ese hombre me crió en un solo sitio como a una niña. Sólo comíamos de la chacra y de los animales. Yo vivía con los ganados a sus órdenes. Me crió ese hombre adulto. Yo trabajaba según su mandato (...) luego hacía llegar todo completo (...). Yo estaba a cargo de la chacra y de los animales (...). El era comerciante que iba de uno a otro lado. " Interview 5.4: Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Me quería harto mi esposo. Yo tenía 14 años y el 22, era mucho mayor que yo. Yo no entendía casi nada, era adolescente, no podía hacer nada. Ni siquiera sabía tejer bien. Así como me agarró pequeña mi esposo, supo criarme de la misma manera. El me ha enseñado muy bien sobre cómo hay que saludar a los familiares, cómo trabajar la chacra, cuidar los animales. Todas esas cosas me ha enseñado muy bien como esposo. Por eso hasta hoy estamos viviendo bien y no tenemos casi nada de problemas. " "El desde antes no solía enseñarme más, tampoco me ayudaba a cocinar. Siempre a la mujer nomás nos responsabilizaba. Ahora ellos nos ayudan a cocinar. Al menos cuando llego de la reunión, ya me hace cocinar y me dice que descanse en el poyo (...). La mujer era para todo, cuando lloraba el bebé, 'llévate el niño afuera' decía como si el hijo existiera sólo de la mujer. " Interview 3.1: Andrea, SO Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Uno que sepa leer con una que no sabe leer no nos hacemos valer. No hay comprensión. El sabe hablar y yo no. No sé hablar, diciendo, así discutimos. 'Con lo que sabes te haces valer y yo no, soy como una zonza, soy ciega con ojos', diciendo, discutimos. "

6.2.7. Das Verhältnis der Schwiegermutter zur Schwiegertochter Interview 15.1: Senobia, 48 Jahre alt, aus Ancojaque, Kordillere "Ahora ya están casados, alguno de los hijos mayores, sin darse cuenta ha conseguido su señora. Es nuestra preocupación. Los hijos agarran (una esposa) fácil nomás, sin tener algo. Tenemos que comprarle todo y atender con alimentación y demás cosas (...) no hay que dejarlos solos. Luego hay que dar alimentación a los hijos solteros. Ellos (los nuevos casados) trabajan aparte tanto en la ropa como en las chacras. Cada año

301 van separándose su chacra y le decimos: 'en otra casa te faltarán las cosas', diciendo, hacemos trabajar los padres. Siempre la madre es la que nos preocupamos, el padre no piensa mucho. " Interview 5.2: Flora, 36 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Yo no podía hacer nada. Ni siquiera sabía tejer bien. Pero cuando me estaban sacando de mi casa, mi suegra decía: 'mi hijo es único y tiene arrumado sus ponchos, también tiene polleras. Voy a criarle de lo mejor a mi nuera, no va a hacer nada'. Pero cuando ya estábamos juntos, no fue así. La suegra me dijo: 'apurada tiene que hilar para el poncho'. Luego 'ya' diciendo hemos hilado para el poncho tanto el hombre como la mujer. Preparamos la urdimbre y mi esposo dijo: 'tu vas a poner las estaquillas y dar comienzo al tejido, sabrás como mujer' y se fue a pastar animales. Todo el día estuve llorando con un poncho. No sabía tejer bien, tampoco tejer desigual como se teje el poncho. Cómo terminar en el otro lado. No hallaba qué hacer, mi esposo no estaba allí. Sola me estaba cansando y lloré bastante mirando el tejido. Después vino una tía a visitar y alcanzándome 'cómo te hace la suegra así, se estaquilla y se empieza así', diciendo. Así he sufrido bastante. "

6.3. Das Gerede, der Ruf, die Ehrskala und die innerdorfliche soziale Hierarchie Interview 18.5: Lucía aus Cocosani, Seezone "Cuando habla una mujer en las juntas a veces sucede que entre los hombres dicen: 'esa mujer habla mucho.' Pero su mujer no sabe opinar ni en las juntas. Callada nomás está sentada. Ni sabe venir a las juntas, ni sabe andar a otro sitio. Después el hombre de esta mujer dice: 'su mujer nomás habla'. 'A esta mujer yo voy a decir esto', dicen. A los esposos les dicen: 'esa tu mujer habla', para que no la vuelva a mandar, y peor la atajan. Ya no la deja ir. Por eso lo hacen los hombres. 'De esa manera vamos a rebajarla', dicen (...). Si sabemos algo y opinamos la verdad, después los hombres las miran con pica. Así son y después dicen: 'a esa tu mujer no la mandes'. Después otros hombres preguntan a sus mujeres: 'Dice que eres así', diciendo. Ahí empieza la pelea (...) por envidia hablan. Cuando hablamos las mujeres nos llegan de cualquier manera a menospreciar. " Interview 5.5: Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Mi esposo es muy colérico con los hijos y con su mujer, es decir para mi. Por eso a veces no hay que hacer renegar y cuando no le contestamos o escuchamos callada 'Ya estás orgulloso para mí, ya estás renegando', diciendo, sabe hablar. Por eso yo no sé renegar nunca para mi esposo, tampoco sé contestarle. Cuando se enoja se vuelve un

302 demonio. Por eso sé andar calladita nomás. Siempre voy por los animales con mis hijos así. Y para él siempre sé estar hablándoles con muy bonitas palabras, nunca, siempre, hay que decirles con rigor. El suele estar renegando y yo nunca, siempre, sé contestarle a eso, aunque me esté pegando o me esté pateando. Callada nomás, siempre sé llorar. No sé discutirle, no sé por qué seré así, nunca, siempre, sé amargarme con mi esposo. El marido suele cansarse y él mismo sabe hacerse quitar su cólera. " "Actualmente esta empeorando más y más. De repente la gente ha instado. Hasta ayer en la tarde mi esposo me dijo: 'ese Artemio del Patronato, él dice que lo encontró en Yunguyo. El es mi primo y parece que él ha dicho: 'Qué carajo, las mujeres de Tarapoto están construyendo el local de ahí arriba (...) ¿Por qué no me están trabajando la escuela? ¿Qué cosa, siempre, estarán haciendo trabajar a las mujeres? Están enseñando a ser flojas a las señoras. ¿Esas mujeres no tendrán algo qué hacer? ¿No tendrán para hilar y para tejer?' Entonces quizás por esos dichos mi esposo habrá cambiado digo, a mi me parece que está cambiando. "

6.3.1. Probleme bei der Wiederheirat Interview 19.2: Mariano, 75 Jahre alt, aus Aurincota, Kordillere "Pero la viuda tiene muchas cosas pasadas en cuanto a la mujer, no pueden levantar nada, ya hay hijos, muchas hay así, pero el hombre se queda así nomás, solamente la mujer cocina todo completo, se quedan así tristes. "

6.3.2. Die Situation von alleinstehenden Frauen Interview 6.3: Rosa, 38 Jahre alt, aus Copamaya, Seezone "Cuando hablamos de terreno, somos marginadas. Es más, no podemos hablar de los derechos de los esposos. Las viudas están peores. Les quitan sus terrenos. " Interview 4.5: María, 56 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Esas malas situaciones nos hacen decir así: ojalá que toda nuestra vida no seremos los primeros que dejemos de existir. Sea la esposa nomás deje de existir antes que nuestro marido, nada en absoluto puede pasarle en tanto que él es varón (...). El marido, aunque sea pues pequeño, no importa cuán bajo sea pues en talla, es siempre respetado (...)."

303 Interview 12.3: Victoria, 36 Jahre alt, aus Huacullani, Kordillere "A veces nuestras mujeres mismas se hablan y critican a las madres abandonadas. Pero a veces las madres solteras, las madres abandonadas y las viudas no nos comportamos bien. A veces los hombres de cualquier forma se burlan. Entonces por ese motivo, a veces nosotras las mujeres mismas las menospreciamos a ellas. Pero por otra parte, cuando ya somos viudas o cuando somos madres abandonadas debemos andar y vivir como una mujer. Pero algunas no se comportan bien, por eso somos muy humilladas. Entonces no estamos respetadas dentro de las mujeres (...). " Interview 3.2: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "(...) cuando era viuda, la gente hablaría mal de mi persona: 'tía, la gente dice que estás embarazada', diciendo, (...) 'me has quitado mi marido', diciendo, hacen llorar. No es bueno. Es una falta muy grave. " Interview 2.1: Celia, 56 Jahre alt, aus Tanapaca, mittlere Zone "Acá en la comunidad existen abandonadas como yo, también hay viudas, hay madres solteras. Ellas no son respetadas, están muy maltratadas, menospreciadas: 'a ésta que vamos a tener miedo', dicen. Pero si vamos a vivir en forma correcta también estamos respetadas. Si vamos a portarnos bien, vamos a estar mejor respetadas, ya sea las madres solteras o madres viudas. Así son las madres viudas y las madres solteras. A algunas el hombre las abandona y no quiere reconocer al hijo. En ese momento para mí los hombres traen muchas amarguras. " "Por eso a los hijos les digo: 'nadie no tiene por qué levantar la voz ni algo sobre mis hijos.' Yo nomás seré abandonada por su padre. Acaso he aumentado otro hijo. Si no andará bien, si conseguiría padrastro, aumentaría hijos y les haría servir a otros hijos y al padrastro, recién los hijos me podrían decir que no has hecho nada. Si yo no hago nada malo, de cómo el hijo va a tener palabra para mí, ahora el no puede reñirme. " Interview 14.1: María, 47 Jahre alt, aus Aurincota, Kordillere "Hay muchos que me proponen matrimonio. Pero nunca quiero hasta ahora. Ya tengo los 47 años. Una vez que ya tienen hijo se casan, pero ese su hijo cómo es visto. Cuando es hija el esposo convive. Al hijo varón lo odian. Esa idea tengo, por eso vivo sola. Cuando muere el esposo hay esos mirones nomás y para mí la viuda está peor despreciada. Algunas están acostumbradas al esposo. Sólo el hombre trabaja cualquier cosa. Ellas cuando muere el esposo se quedan disminuidas y se empobrecen. "

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6.4. Ein Vergleich der Ansichten von Frauen und Männern über Geschlechterverhältnisse in der Ehe Interview 21.1: Adolfo, 35 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Bueno, a veces entre mujer y varón sacamos una conducta para trabajar, qué vamos a trabajar, dónde vamos a trabajar, dónde vamos a estar y a dónde vamos a ir. Si a veces no decimos esto, de ahí vienen problemas. Deseos y acuerdos pensando solo, realizando solo o individualmente, ahí vienen los problemas. Pero cuando acuerdan ambos no hay ningún problema y más bien lo solucionan rápido cualquier trabajo. " Interview 20.1: Timoteo, 48 Jahre alt, aus Challacollo, mittlere Zone "La vida de incomprensión, a veces, de algunos vamos a decir se llegan a separar o las dejan. Eso hay en un hermano o en una hermana, eso pasa cuando no lo piensan bien, no lo tantean bien. Eso hay no, a veces entre marido y mujer no se hablan bien. A veces siendo así no hacen bien la chacra, ni pastean bien sus ganados. Y entonces les falta plata. Por eso a veces en esta pareja llegan a dejarse, hermana (...). A veces cuando nos falta algo, a veces el varón o esposo quiere vestirse mejor, o la mujer quiere vestirse bien y para eso nos falta dinero. Por eso hay discusiones, hermana. Ya después de poco tiempo llegan a veces a tener problemas. "

6.5. Gewalt in der Ehe Interview 10.3: Rosalía, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Antes sufrían bastante. Así me contó un poco mi abuelita: antiguamente nos punzaban y nos hacían sangrar la lengua, aquellos hombres que venían de lejos, por no aprender a rezar. Por eso a Dios han traído mal ellos. Hacen mirar y tener mala imagen a Dios. Ellos hacen humillar con eso. Por eso rechazaron nuestros antiguos abuelos. Así me contó mi abuelita. Dice que los rezos se aprendían a la fuerza. " "Igualmente, a los mistis se tenía que saludar de rodillas: 'si no te quitas el sombrero, tienes que echarte al suelo y allí te daban fuertes zurregos.' Porque dicen que cuando venía un misti se tenía que quitarse el sombrero, echarse al suelo y saludar. De la misma manera, actualmente, continua igual. No ha cambiado mucho. Ellos siguen azotándonos. Nos obligan con las leyes que sacan. Con eso nos obligan. " Interview 6.1: Rosa, 38 Jahre alt, aus Copamaya, Seezone "A mí, cuántos me han buscado para ayuda médica, porque soy promotora de salud. Hay muchos hombres que maltratan a las mujeres, las usan y encima las pegan y no hay justicia de parte de las autoridades. "

305 Interview 1.2: Dominga, 36 Jahre alt, aus Tanapaca, mittlere Zone: "Cuando se fue a llave mi esposo, amaneció lloviendo y le dije que es difícil ir para una mujer, 'tú nomás anda'. No hizo llegar ninguna compra, todo se lo había tomado, asi nomás ha llegado. Por eso en ese tiempo dije que mi esposo toma mucho. (...) Antes cuando mi esposo venía borracho hacía problemas en casa, pero felizmente ya se ha dado cuenta que la borrachera crea problemas con los hijos y con la esposa, entonces ya dejó de tomar. " "Ellos pegan, toman en las tiendas del pueblo y no quieren regresar rápido a la casa aunque los apuremos. Las hermanas, en vano están apurando diciendo que ya va a ser tarde vámonos, pero los hombres contestan: 'Ja, carajo mierdas, anda pues tú', diciendo, las pegan a la mujer, jalada de su bolsa, su kerosene y cargada de su hijito; así las pegan. A algunas comunidades la gente se va en carro, al borracho le suben al carro; pero hasta en el carro la pega, así es siempre. No estamos bien, las hermanas siempre estamos sufriendo un poco en el campo. " Interview 6.2: Rosa, 38 Jahre alt, aus Copamaya, Seezone "(...) a mí me respeta (mi esposo) porque he estudiado en el colegio y hago respetar mis derechos. Otras mujeres no son así, y no pueden defenderse. " Interview 3.3: Andrea, §0 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Uno que sepa leer con una que no sabe leer no nos hacemos valer. No hay comprensión. El sabe hablar y yo no. No sé hablar diciendo, así discutimos. 'Con lo que sabes te haces valer y yo no, soy como una zonza, soy ciega con ojos', diciendo, discutimos. " Interview 5.5: Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "(...) Por eso yo no sé renegar nunca para mi esposo, tampoco sé contestarle. Cuando se enoja se vuelve un demonio. Por eso sé andar calladita nomás. Siempre voy por los animales con mis hijos así. Y para él siempre sé estar hablándoles con muy bonitas palabras, nunca, siempre, hay que decirles con rigor. El suele estar renegando y yo nunca, siempre, sé contestarle a eso, aunque me esté pegando o me esté pateando. Callada nomás, siempre sé llorar. No sé discutirle, no sé por qué seré así, nunca, siempre, sé amargarme con mi esposo. El marido suele cansarse y él mismo sabe hacerse quitar su cólera. " Interview 5.4: Flora, 39 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "A veces cuando hay problemas, duele el corazón y digo: 'Carajo, acaso no voy a ser nada. Me separaré y estaré con mis ganados. Qué me importa lo que sea él. Acaso algo va a faltar a las mujeres'. Pero cuando nos apaciguamos no es así, porque estamos acostumbrados (...)."

306 Interview 1.4: Dominga, 36 Jahre alt, aus Tanapaca, mittlere Zone "Por eso en ese tiempo dije que mi esposo toma mucho y como me estaban exigiendo, mejor me voy allí, diciendo, hemos entrado a esa religión. Desde entonces yo vivo muy bien. Desde que yo fui a la religión adventista, hasta el momento vivo bien. Ya no hay muchos problemas, ni riñas con mi esposo (...). Nosotras vamos a la religión adventista y ahí mi esposo aprende muchas cosas. " Interview 3.4: Andrea, 50 Jahre alt, aus Tarapoto, Kordillere "Entonces: 'he vivido con él por mi hijo', diciendo, lloraba mi mamá, por mi hijo he vivido y por ese papel, él decía que tenia documento. Por eso sé decir: 'hasta esas cosas hay que aguantar, qué será una pequeña pegada para no soportar', diciendo, siempre sé opinar. Por causa del hijo, verdaderamente, podemos vivir como sea, hasta llorando, así sé decir. " Interview 10.4: Rosalía, 36 Jahre alt, aus Cocosani, Seezone "Luego en el Club de Madres nos decimos que algunas mujeres nos vemos muy maltratadas. Nosotras les aconsejamos a ellas: 'No te hagas maltratar así, de esa manera vas a defenderte de tu esposo', diciendo, conversamos allí. 'Tú vas a estar bien de esta manera o de aquella forma', diciendo, conversamos. Nosotras aprendemos a levantar nuestra voz y a defendernos de los hombres. "

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Glossar achachila(s): Seele der Vorfahren mit religiöser Macht APRA: Die Partei Alianza Popular Revolucionaria Americana, APRA, wurde 1924 von Víctor Raúl Haya de la Torre in Mexiko gegründet. apu: religiöse Instanz der Berge ayllu: Familienverband oder Sozialgruppe auf wirtschaftlicher Basis ayni: gegenseitiger Austausch von Arbeitsleistungen oder Produkten bayeta: grobgewebter Stoff aus roher Schafwolle cacique: lokale indianische Anführer während der spanischen Kolonialzeit cañihua: Hirsesorte chaquitaqlla: Stechspaten, der wie ein Fußpflug verwendet wird cholo: eine Person, die, obwohl sie in einem andinen Dorf aufgewachsen ist, ihre Herkunft in der Stadt verleugnet und als Mestize auftritt. Von Städtern wird diese Person abfallig als cholo (im span. Mittelalter bedeutete cholo Hund) bezeichnet. Von den ländlichen Aymara in Puno wird der cholo mit dem misti gleichgesetzt chola: städtische Aymara-Frau in eleganter Trachtenkleidung in La Paz, Bolivien compadres: Paten compadrazgo: Nenn Verwandtschaft oder fiktive Verwandtschaft curaca: lokale ethnische Anführer in vorspanischer Zeit DED: Deutscher Entwicklungsdienst extirpación de idolatrías: Ausrottung der Götzenanbetung, "Stieftochter" der spanischen Inquisition. Sie kam in der spanischen Kolonialzeit in der indianischen Republik mit dem Ziel zur Anwendung, alle heidnischen Idole auszurotten gender: bezeichnet das Geschlecht als soziokulturelle und historische Konstruktion und die sozial determinierte Differenz zwischen Männern und Frauen Indianer: ursprünglich von den spanischen Eroberern eingeführter Begriff für die vorspanische Bevölkerung mit juristischer Bedeutung und Sondergesetzgebung während der Kolonialzeit; unzulässige Vereinheitlichung aller vorspanischen Einwohner von Alaska bis Feuerland

308 indio(s), indigena(s): authochthon, indigen, unterprivilegierte Landbewohner, abschätzige Bezeichnung für die unterworfene, nicht-hispanisch orientierte Bevölkerung indios forasteros: Menschen, die ihr ayllu verlassen hatten, um der Besteuerung durch die spanischen Kolonialherren zu entgehen layqa: Schamane der Aymara mit heilenden Kräften und rituell-religiösen Fähigkeiten leyes de indias: Sondergesetzgebung der spanischen Kolonialzeit zum Schutz der indianischen Bevölkerung libreta electoral: Personalausweis in Peru, in den aufgrund der Wahlpflicht nach jedem Wahl Vorgang ein Stempel die Teilnahme an der Wahl bestätigt. Fehlt der Stempel, muß eine Strafgebühr gezahlt werden, um eine Reihe von Bürgerrechten in Anspruch nehmen zu können libreta militar: Militärausweis in Peru, der auch für Frauen obligatorisch ist, obwohl nur Männer zum Wehrdienst eingezogen werden NRO: Nichtregierungsorganisation minka: gemeinschaftliche, auch festliche Arbeitsleistung als Verpflichtung aller Dorfmitglieder, Ersatzleistung eines oder einer Dritten bei der gegenseitigen Arbeit, Lohnarbeit, Ernteteilhabe misti: in Puno lokal gebräuchlicher Begriff für Mestize, früher Großgrundbesitzer, heute Städter misti-indio-System: ein in den Südanden Perus entstandenes ökonomisches wie ethnisches SpannungsVerhältnis, das früher durch Ausbeutung und Paternalismus auf den Hazienden geprägt war und heute durch vielfältige Formen der Unterdrückung und Diskriminierung der andinen Landbevölkerung durch die Städter aufrechterhalten wird mita: Zwangsarbeit, Arbeitspflicht für die indianische Bevölkerung während der Kolonialzeit mitmaq: Siedler, die von den Inka in kolonisierten Gebieten durch Zwangsumsiedlung zur Sicherung des Inkareichs eingesetzt wurden monteras: buntbestickte Wollhüte der Frauen ojotas: aus alten Autoreifen hergestellte Gummisandalen pachamama: religiöse Figur der Mutter Erde paisanos: Landsleute aus der gleichen Region

309 paqu: Hexenmeister der Aymara mit negativen Kräften und Fähigkeiten

rituell-religiösen

parcialidades: Dorfgemeinschaften ohne staatlich anerkannten gemeinschaftlichen Landtitel polleras: weite Trachtenröcke qulliri: Schamane der Aymara mit heilenden Kräften und besonderen Kenntnissen von Heilkräutern quinua: Hirsesorte reino: vorspanisches Häuptlingstum repartos: Zwangsabgaben der indianischen Bevölkerung an die spanische Kolonialverwaltung repartimiento de efectos: Zwanghafte Warenverteilung während der Kolonialzeit Sendero Luminoso: Leuchtender Pfad, bewaffnete politische Gruppe maoistischer Ausrichtung, die in Peru seit 1980 den bewaffneten Kampf fuhrt(e) servinakuy: erste Phase der Ehe nach der Heiratszeremonie bis zur Geburt des ersten Kindes, während der die junge Ehefrau im Haushalt der Eltern des Ehemanns lebt und arbeitet sex: das biologische Geschlecht, oder die biologisch determinierte Differenz zwischen Männern und Frauen totora: Schilfrohr visitas: Besuche der Steuerbeamten der spanischen Kolonialverwaltung zur Berechnung der Steuern visitador: kolonialer Steuerbeamter yatiri: Schamane der Aymara mit heilenden Kräften und rituell-religiösen Fähigkeiten

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