Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter 9783534250813

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Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter
 9783534250813

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Gerd Althoff Die Macht der Rituale

Gerd Althoff

Die Macht der Rituale Symbolik und Herrschaft

im Mittelalter 2.Auflage

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

2., mit einem neuen Vorwort versehene Auflage 2013 © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2003 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Umschlaggestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Umschlagbild: Kniefall Friedrich Barbarossas vor Heinrich dem Löwen. Sächsische Weltchronik, Hamburger Handschrift vor 1290. Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, ms 0033, fol. 88v Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-25081-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72895-4 eBook (epub ): 978-3-534-72896-1

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung ........................................... . Das Thema .......................................... . Begriffliche Annäherungen ............................ . Machtausübung im Mittelalter im Verständnis moderner Forschung ........................................... . Beratung und Konsens und ihre Folgen für die Königsmacht .. Kommunikation und Ritual ............................ . Besondere Domänen und spezifische Leistungen ritueller Kommunikation im Mittelalter -Ausgangspunkte ......... . Wie entstehen Rituale? oder: Die Geschichtlichkeit der Rituale .......................................... . Leitfragen ........................................... .

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1. 1.1 1.2

u 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8

11. 11.1 11.2 11.2. l 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.2.5 111. 111.1 111.2 111.2.1 111.2.2 111.2.3 111.3 111.3.1

Die Ritualisierung der Herrschaftsausübung im Frühmittelalter ................................................ . Bescheidene Anfänge in der Merowingerzeit ............. . Rituale in der öffentlichen Kommunikation der Karolingerzeit: Aspekte und Probleme eines Lernprozesses .......... . Die Begegnungen von Päpsten mit Karolingern .......... . Rituale beim Sturz des Bayernherzogs Tassilo ............ . Rituelle Ausdrucksformen der Entmachtung Ludwigs des Frommen und seiner Restitution .................... . Rituelle Interaktion zwischen Karolingern und ihren Vasallen Zusammenfassung ................................... .

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28 32 32

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Die Ausbreitung ritueller Verhaltensmuster im 10. und 11. Jahrhundert ...................................... . 68 Konfliktbeendigung durch rituelle Akte ................. . 68 Rituelle Ausdrucksformen für Ansprüche und Verpflichtungen ...................................... . 84 Verbindliche ,Aussagen' der Herrscher durch symbolische Handlungen ......................................... . 85 Symbolische Dienste der Vasallen ...................... . 92 Symbolische Artikulation umstrittener Ansprüche ........ . 96 Formen königlicher Selbstdemütigung .................. . 104 Selbsterniedrigung gegenüber den himmlischen Mächten .. . 106

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Inhalt

IIl.3.2 Demonstrative Selbsterniedrigung in der politischen Auseinandersetzung .................................. . 119 IIl.3.3 Selbstdemütigungen Heinrichs IV....................... . 125 III.4 Zusammenfassung ................................... . 130 IV. IV.1

Herrschaftsrituale im 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuschöpfungen nach Canossa: Rituelle Handlungen bei Papst-Kaiser-Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Milde und Strenge: Unterwerfungsrituale in der Stauferzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agonale Aspekte in Ritualen der Stauferzeit . . . . . . . . . . . . . . Zusam~enfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.2 V.3

Ausblicke ins Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einritt des Landesherrn und die Huldigung der Untertanen........................................... Symbolische Ausdrucksformen der Kurfürstenwürde . . . . . . . Unterwerfungsrituale im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI. Vl.1 Vl.2 Vl.3

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ,Gemachtheit' der Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschichtlichkeit der Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Macht der Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 189 195 199

IV.2 IV.3 IV.4 V. V.1

137 145 160 168

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Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Vorwort zur Neuausgabe Das knappe Jahrzehnt, das seit dem Schreiben dieses Buches vergangen ist, kann als Zeitraum intensiver Ritualforschung in den Kulturwissenschaften charakterisiert werden. Dies manifestiert sich aktuell etwa in der vom Heidelberger SFB „Ritualdynamik" herausgegebenen fünfbändigen Publikation (A. Michaels (Hg.), Ritual Dynamics and the Science of Ritual, Wiesbaden 2010), die Beiträge einer interdisziplinären und internationalen Tagung zu dieser Thematik aus dem Jahre 2009 versammelt. Der Austausch, den die Ritualforschung über die Grenzen von Disziplinen, Epochen und Kulturen hinweg betrieben hat, verstärkte die Einsicht, wie unterschiedlich die Formen, Funktionen und Leistungen sind, die den Erscheinungen, die man Rituale nennt, jeweils zugeschrieben werden. Diese hängen ganz entscheidend von sozialen, religiösen oder politischen Rahmenbedingungen in den Gesellschaften ab, in denen diese rituelle Kommunikation praktiziert wird. Dies gibt allen Anlass, zur zweiten Auflage dieses Buches nachdrücklicher auf Rahmenbedingungen der Gesellschaft hinzuweisen, die die hier untersuchten Rituale praktizierte. Diese Rahmenbedingungen bewirkten spezifische Funktionen und Leistungen der mittelalterlichen Rituale, die bei jedem Epochen- und Kulturvergleich in Rechnung zu stellen sind. Der Geltungsanspruch der in diesem Buch !!,Cgebenen Einschätzungen ist daher zunächst einmal auf die mittelalterliche Gesellschaft und auf ihre Führungsschichten beschränkt. Die früh- und hochmittelalterliche Gesellschaft, die im Zentrum des Interesses dieser Forschungen steht, unterscheidet sich von modernen Gesellschaften vor allem durch den vorstaatlichen Charakter ihrer Ordnungsstiftung: Diese ist gekennzeichnet durch das weitgehende Fehlen expliziter Regeln und abstrakt-genereller Normen in schriftlicher Form und durch die Befolgung von ,Gewohnheiten', die erst im Bedarfsfall in mündlich-persönlicher Beratung ,gefunden' werden. Begründet wird diese Ordnung vorrangig durch rituelles Verhalten, mit dem symbolisch verdichtet gezeigt wird, welche Rechte und Pflichten man anerkennt. Ohne Teilnahme gab es keine Verpflichtung. Solche öffentlichen Rituale etablierten oder verlängerten eine bestimmte Ordnung, weil das gezeigte Verhalten für die Zukunft band. Damit praktizierte diese mittelalterliche Gesellschaft Formen der Ordnungsstiftung, die eine große Ambiguität kennzeichnete. Die rituellen ,Aufführungen' konstituierten generelle Verhältnisse und Verpflichtungen, regelten kt:inerlei detaillierten Rechte und Pflichten. Gegenüber dieser deutlichen

Vorwort

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Schwäche der Ordnungsstiftung durch Rituale war man lange Zeit relativ indifferent, seit dem 12. Jahrhundert bemerkt man jedoch zunehmend, wie diese ordnungsstiftenden Rituale durch zusätzliche schriftliche Vereinbarungen substituiert und damit in ihrer Wirkung effektiver gemacht wurden. Dieser ,Lernprozess' minderte jedoch nicht die Intensität der rituellen Kommunikation. Von anderen, vormodernen Gesellschaften, die Ethnologen als nicht stratifizierte oder ,primitive' bezeichnen, unterschiedet sich die mittelalterliche bezüglich ihrer rituellen Praxis vor allem in zweierlei Hinsicht: Zum einen widmet sich die rituelle Kommunikation in hohem Maße der Fixierung und Anerkennung von Rang und Stand der Akteure. Viele Rituale und viel Semantik der Rituale sind dem Anliegen verpflichtet, die differenzierte Rangon;lnung verbindlich festzulegen oder aus der Rangordnung resultierende Rechte wie Pflichten zu benennen. Zum anderen gehen in die Aussagen mittelalterlicher Rituale Vorstellungen ein, die aus zwei sehr unterschiedlichen Wertehorizonten stammen: aus dem der Adels- und Kriegergesellschaft und aus dem des Christentums. Die rituelle Kommunikation in den Führungsschichten und mit dem Sakralkönigtum dieser Zeit scheint dabei stark von Ausdrucksformen geprägt zu sein, die christlichen Vorstellungshorizonten entstammen. Beide Rahmenbedingungen beeinflussen jedenfalls die Eigenart und Komplexität mittelalterlicher Ritualsemantik deutlich und müssen bei vergleichenden Betrachtungen in Rechnung gestellt werden. Dieses Buch, das ist dem Autor bei der erneuten Lektüre wieder vor Augen geführt worden, ist zunächst einmal geschrieben, um die engeren Fachkolleginnen und Kollegen von der Tragfähigkeit der die mittelalterliche Gesellschaft betreffenden Vorstellungen und Thesen zu überzeugen: Diese zielten auf den Nachweis einer vorstaatlichen Gesellschaft, die ihre Ordnung auf Rituale gründet. Gleichrangiges Ziel war der Nachweis, aus welchen Bausteinen sich diese Rituale zusammensetzten, und hier lag der Schwerpunkt auf der Verarbeitung christlichen Gedankenguts und christlicher Ausdrucksformen in den Herrschaftsritualen. Diese Konzentration kann und will das Buch nicht verleugnen. Verwendbar ist es aber auch für den Vergleich mit anderen Ritualkulturen, obgleich es selbst diesen Vergleich nicht explizit durchführt. Münster, im November 2011

Gerd Althoff

1. Einleitung 1.1 Das Thema Als Johannes Haller in seiner Papstgeschichte auf den Frieden von Venedig (1177) zu sprechen kam und damit auf Vorgänge, die für das VerstHndnis der Funktionen von mittelalterlichen Ritualen fundamental sind, 11rgumentierte er wie immer sehr entschieden: „Der Friede war geschlossen. Bei den Feierlichkeiten, die ihn umgaben, dem Marschalldienst, den der Kaiser dem Papst leistete, der begeisterten Teilnahme der Volksmen~e. den Schwüren der Vertreter, die die Ausführung der Ausbedingungen verhtirgten, brauchen wir uns nicht aufzuhalten. Prüfen wir vielmehr, was der Friede enthält. Da ergibt sich die überraschende Tatsache, dass der im l'elde Geschlagene aus den Verhandlungen als Gewinner hervorging." 1 Was hier als „Feierlichkeiten" beiseite geschoben und geradezu als für die politische Bewertung der Vorgänge irrelevant diffamiert wird, soll uns im h1lgenden beschäftigen - und nicht nur am Beispiel des Friedens von Venedig. Es geht um das Verständnis ritueller Verhaltensmuster und ihrer l'unktionen in der öffentlichen Kommunikation mittelalterlicher Herrsrhaftsträger. Im Gegensatz zu Haller halte ich es für dringend geboten, sich hei diesen Phänomenen aufzuhalten und sich um ein adäquates Verslllndnis zu bemühen. Diese Phänomene begegnen im Mittelalter nämlich l'infach zu häufig und an zu zentralen Stellen, um an ihnen vorbeigehen zu kllnnen. In der zitierten Geringschätzung manifestiert sich eine lange und lief sitzende Abneigung nicht nur der historischen Forschung gegen Ritual und Zeremoniell, gegen deren ,leeren Schein' schon häufig mächtige antiri l ua listische Bewegungen angetreten sind, die Reformation, die Aufklllrung und nicht zuletzt die Französische Revolution. 2 Es sind begründete Zweifel erlaubt, ob sie die bösen Geister wirklich vertrieben haben, oh diese nicht immer wieder in neuen Gewändern zurückkehren, weil menschliche Kommunikation trotz aller Medienumbrüche der nonverbakn Zeichen, der demonstrativen Verhaltensweisen, der Aufführungen und Inszenierungen offensichtlich nicht entbehren kann und will. Die Sensibilillll filr die hiermit aufgeworfene Problematik ist gerade im Zusammenhnng mit dem Siegeszug der ,Neuen Medien' in Theorie und Praxis wieder J!l'Wachscn.3 In dieser neuen Aktualität mag auch ein Grund liegen, dass ~id1 die Wissenschaften verstärkt um das Verständnis dieser ErscheinunJ!l'll hemilhen - mit dem nachdenklich stimmenden Effekt, dass Begriffe wil' ,l{itual' oder ,Inszenierung' im transdisziplinären Diskurs nahezu zu Modcwllrtcrn verkommen sind. 4

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Einleitung

Um das Verständnis dieser Erscheinungen geht es auch in diesem Buch, wobei an der Zeit des Mittelalters paradigmatisch die Frage behandelt werden soll, wie Epochen der Vormoderne mit rituellem Verhalten umgingen, welche Funktionen sie ihm zuwiesen, welche Leistungen diese Art der Kommunikation für das Zusammenleben erbrachte.s Vergleiche mit der Gegenwart werden nicht ständig gezogen, es entspräche aber den Intentionen des Autors, wenn der Leser dieses Defizit ausgliche und sich hin und wieder fragte, inwiefern die Beobachtungen auch noch für das Verständnis gegenwärtigen Verhaltens hilfreich sind. Der Titel des Buches enthält eine These, die zu belegen in der Tat ein Hauptziel der folgenden Bemühungen ist: dass mit Ritualen Macht ausgeübt werden kann und wird; dass die Rituale aber auch diejenigen in ihren Bann zwingen, die sie durchführen. Insoweit ist dieses Buch auch ein Versuch, Rahmenbedingungen und Erscheinungsformen mittelalterlicher Machtausübung zu beschreiben und so zugleich das Verständnis für diese Zeit zu verbessern. Diese Rahmenbedingungen änderten sich im Verlauf des Mittelalters erheblich. Auch die Macht hat ihre Geschichte. Wenn sich aber Bedingungen der Macht in den Ritualen spiegeln, müssen Veränderungen dieser Bedingungen sich dort gleichfalls bemerkbar machen. Es gilt daher, die Geschichte der Rituale mit der Geschichte der Machtausübung zu konfrontieren, um zu prüfen, ob es sich gewissermaßen um ein System kommunizierender Röhren handelt.

1.2 Begriffliche Annäherungen Weit mehr als Historiker haben Soziologen Begriff und Inhalt der Macht seziert und herausgearbeitet, in welchen Formen Macht von Menschen über Menschen begegnet, wie sie etabliert, stabilisiert und nicht zuletzt legitimiert wird. So hat etwa Heinrich Popitz vier Formen der Machtausübung unterschieden, die er ,Aktionsmacht', ,instrumentelle', ,autoritative' und schließlich ,datensetzende Macht' nannte.6 Realtypisch tritt Macht häufig als eine Mischform dieser Typen auf, doch ist es zweifelsohne für ein Verständnis des Phänomens förderlich, begrifflich zwischen diesen 'fypen zu unterscheiden. ,Aktionsmacht' meint hier in erster Linie die Fähigkeit, sich mit Gewalt durchzusetzen. ,Instrumentelle Macht' bezeichnet die Möglichkeit, schon durch die latente Drohung mit der Anwendung von Gewalt, durch die Fähigkeit, notfalls Gewalt zu gebrauchen, das gleiche Ziel zu erreichen. Unter ,autoritativer Macht' ist jenes Prestige zu verstehen, das Gehorsam und Gefolgschaft aus den unterschiedlichsten Gründen erreicht, sei es durch eine übernatürlich-sakrale Legitimierung, sei es durch die Attraktivität der Belohnungen, die dem Gehorsam auf

Begriffliche Annäherungen

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dem Fuße folgen. Die Wesenszüge der ,datensetzenden Macht' können hier vernachlässigt werden, da diese in den Zeiten des Mittelalters noch nicht relevant war. In dieser Zeit haben wir es bei den Interaktionen der Führungsschichlen, um die es uns vorrangig geht, in erster Linie mit dem Typus der ,autoritativen Macht' zu tun, die sich sakral legitimiert und als Herrschaft ,von 11ss Bischof Praetextatus auf diese Lösung setzte, beweist, dass er sie für 11rfolg versprechend hielt. Im vorliegenden Fall geschah jedoch etwas ganz

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Ritualisierung der Herrschaftsausübung im Frühmittelalter

anderes: „Praetextatus warf sich auf die Erde und rief: ,Ich habe gesündigt im Himmel und vor dir, gnädigster König; ein ruchloser Mörder bin ich; ich wollte dich töten und deinen Sohn auf den Thron erheben.' Bei diesen Worten warf sich der König den Bischöfen zu Füßen und sagte: ,Höret, wie dieser Verbrecher sein abscheuliches Verbrechen bekennt, ihr frommen Bischöfe!' Und als wir unter Tränen den König vorn Boden erhoben hatten, hieß er den Praetextatus die Kirche verlassen. "13 Dann wurde er vor aller Augen ergriffen und ins Gefängnis geworfen. Seine Hoffnung auf eine entsprechende Wirkung seiner rituellen Handlung hatte getrogen. Es war offensichtlich nur eine Hoffnung gewesen, die nicht genügend abgesichert war. Ist hier ein Ritual nur einmal in betrügerischer Absicht zweckentfremdet worden? Kann man aus dieser Erzählung schließen, dass mit rituellen Akten wie Fußfall und Geständnis verbunden mit dem Fußfall von Fürsprechern Konflikte in der Regel auf eine sichere und allseits akzeptierte Weise beendet werden konnten? Eine Antwort lässt sich auf der Basis eines Einzelfalls gewiss nicht geben. Doch ist mehr als auffällig, dass sich auch in anderen Fällen die Erwartung, die an die Wirkung rituellen Verhaltens geknüpft wurde, nicht erfüllte. Ganz ähnlich stellt sich nämlich der Fall des Grafen Leudast dar, der die Huld der Königin Fredegunde verloren hatte. Er vertraute nach der Erzählung Gregors auf die Wirkkraft ritueller Verhaltensmuster, und dies trotz ausdrücklicher Warnungen, die ihm Gregor von Tours selbst zukommen ließ: „(Leudast) bat das Volk, bei dem König Fürbitte für ihn einzulegen, dass er ihm einen Empfang gewähre. Da nun das ganze Volk für ihn bat, gewährte ihm der König, dass er vor ihm erscheinen durfte. Da warf sich Leudast dem König zu Füßen und bat um Gnade. Der König aber sprach zu ihm: ,Sei noch kurze·Zeit auf der Hut, bis ich die Königin gesehen und mit ihr vereinbart habe, wie du dir ihre Gunst wieder gewinnen kannst; denn du hast viel gegen sie verschuldet.' Unvorsichtig und leichtfertig wie er war, verließ er sich darauf, dass der König ihm einen Empfang gewährt hatte. ( ... ) Er warf sich eines Sonntags in der heiligen Kirche der Königin zu Füßen und bat sie um Gnade. Sie aber stieß ihn wutknirschend und seinen Anblick verwünschend von sich. Dann warf sie sich dem König zu Füßen und sagte: ,Weh mir, die ich meinen Feind vor mir sehe und vermag nichts gegen ihn. "' 14 Daraufhin wurde Leudast aus der Kirche geworfen, nach der Messfeier in Ketten gelegt, nach einem Fluchtversuch schwer verwundet in den Kerker geworfen und grausam umgebracht, als abzusehen war, dass er an den erlittenen Wunden sterben würde. Man kann aus diesen Geschichten folgern, dass hier ein etabliertes Unterwerfungsritual an der Dummheit des Leudast scheiterte. Man kann aus dem Berichteten aber auch schließen, dass rituelle Verfahren der Unter-

Bescheidene Anfänge in der Merowingerzeit

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werfung noch nicht die allseits akzeptierte Verbindlichkeit besaßen, die sie später auszeichneten. Zwar gab es bereits die Hoffnung, durch rituelle Unterwerfung Gnade erlangen zu können. Vor Willkürreaktionen der Könige oder auch Königinnen war man jedoch nicht ausreichend geschützt. Die Macht der Könige war durch die Macht der rituellen Verfahren noch kaum beschnitten. Dies wahrscheinlich deshalb nicht, weil die Technik noch nicht eingeführt war, die uns später immer wieder entgegentritt: rituelle Interaktionen zunächst verbindlich abzusprechen und erst dann durchzuführen. Aus solchen Beobachtungen, die sich nur unerheblich durch andere vermehren ließen, wird man eines schließen dürfen: Königsmacht wurde in der Merowingerzeit offensichtlich nicht gezielt in interaktiven Ritualen öffentlich sichtbar und erfahrbar gemacht. Genauso wenig lässt sich erkennen, dass die Könige in rituellen Verhaltensweisen zum Ausdruck brachten, wie sie bestimmten Normen und Anforderungen genügen wollten, indem sie etwa bestimmte Königstugenden wie Milde oder Barmherzigkeit demonstrativ und öffentlich unter Beweis stellten. Der höheren Geltung ritueller Verhaltensweisen, wie sie dann die Karolinger entwickelten, dürfte auch jenes böse Diktum Einhards verpflichtet sein, der für die Praktiken der Merowinger gerade auf dem Gebiet der Repräsentation und der Rituale nur Verachtung übrig hatte: „Dem König hlieb nichts übrig (angesichts der faktischen Macht der Hausmeier), als zufrieden mit dem bloßen Königsnamen, mit langem Haupthaar und ungeschorenem Bart auf dem Throne zu sitzen und den Herrscher zu spielen, die von überall her kommenden Gesandten anzuhören und ihnen bei ihrem Abgang die ihm angelernten oder anbefohlenen Antworten wie aus eigener Machtvollkommenheit zu erteilen („.) Überall, wohin er sich be~ehen musste, fuhr er auf einem Wagen, den ein Joch Ochsen zog und ein Rinderhirte nach Bauernweise lenkte. So fuhr er nach dem Palast, so zu der öffentlichen Volksgemeinde, die jährlich zum Nutzen des Reiches lugte, und so kehrte er dann wieder nach Hause zurück."15 Mag dieses Verdikt auch übertrieben sein und Vorgänge der Spätphase merowingischer Herrschaft verabsolutieren, da von merowingischen Köni~en durchaus die Wertschätzung kostbarer Kleider und Geschenke sowie d11s Führen von königlichen Insignien wie Speer, Schild und ähnlichem Hherliefert ist. 16 Dass sie jedoch keine höher entwickelte Ritualkultur 11111z1en, um ihre Machtausübung zu befördern, lässt außer Einhards Bemerkung auch die erhaltene Überlieferung der Zeit zumindest begründet vermuten. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass in der Merowingerzeit Ril11nle hcreits die dominante Rolle in der Kommunikation der Führungssd1iehten spielten, wie wir es in den nächsten Kapiteln beobachten werdl'n. Anhaltspunkte dafür, dass Rituale durchgeführt wurden, um die Ak-

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Ritualisierung der Herrschaftsausübung im Frühmittelalter

teure durch bestimmte Aussagen für die Zukunft zu verpflichten, gibt es aus der Merowingerzeit eher spärlich. Man kann wohl nicht davon ausgehen, dass diese Funktion von Ritualen in den frühen Jahrhunderten des Mittelalters bereits genutzt wurde, um zur Klärung wichtiger politischer Fragen beizutragen.

11.2 Rituale in der öffentlichen Kommunikation der Karolingerzeit: Aspekte und Probleme eines Lernprozesses Angesichts der angesprochenen Befunde dürfte es gerechtfertigt sein, die eigentliche Untersuchung in der Karolingerzeit zu beginnen. Für diese Epoche macht die erhaltene Überlieferung nämlich unmittelbar evident, dass man nun rituelle Kommunikationsformen bewusst zur Gestaltung politischer Verhältnisse einsetzte, dass ein differenziertes Verständnis für den Sinn der Zeichen zumindest bei den Führungsschichten entwickelt war und dass die Zeichen schließlich bereits die Funktionen erfüllten, die ihnen auch in späteren Jahrhunderten des Mittelalters eigen waren. Allerdings lässt sich auch deutlich erkennen, dass rituelle Kommunikation in dieser Zeit zunächst nur auf bestimmten Feldern aufwendig praktiziert wurde und so das Interesse der Autoren fand, während sie in anderen Bereichen erst im Verlaufe der Karolingerzeit oder sogar erst nach ihrem Ende stärker in Erscheinung trat. Wir dürfen deshalb trotz aller Unzulänglichkeit der Überlieferung von Prozessen ausgehen, in denen sich rituelle Kommunikationsformen in immer mehr Bereichen herrschaftlicher Tätigkeitsfelder etablierten und durch die der Herrschaftsverband daran gewöhnt wurde, differenzierte Botschaften in diesen Kommunikationsmodi aufzunehmen und zu verstehen. Es ist aber auch in Betracht zu ziehen, dass der Verband der Getreuen selbst dafür sorgte, dass er aktiver in den Ritualen in Erscheinung trat oder dass bestimmte Verpflichtungen oder Zugeständnisse der Herrscher in rituellen Formen zum Ausdruck gebracht wurden, wodurch sie für diese einen höheren Grad an Verbindlichkeit bekamen. Die Frage nach den Antriebskräften und Ursachen dieses Prozesses wird damit wohl evident. Die karolingische Epoche stellt überdies nicht zuletzt deshalb ein wichtiges Untersuchungsfeld dar, weil sie auch in der Frage der Königsmacht beträchtliche Entwicklungen aufzuweisen hat. In dieser Epoche vollzog sich sowohl die Phase der Machtausweitung unter Karl dem Großen mit ihren beträchtlichen Modernisierungsschüben als auch die Entwicklung der Vorstellung vom ,Gottesgnadentum'? der Könige. Die Epoche wurde aber auch durch die lang dauernde Krise der Königsmacht nach dem Tod Karls

Rituale in der öffentlichen Kommunikation der Karolingerzeit

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geprägt und durch eine stärkere Partizipation von Adel und Kirche an der königlichen Machtausübung.17 Gerade das Ringen um eine Neuverteilung der Gewichte könnte öffentlichen Ritualen, die diese Neuverteilung zum Ausdruck brachten, eine besondere Konjunktur beschert haben. Elaborierte rituelle Verkehrsformen benutzten die Karolinger seit ihren Anfängen zunächst im Umgang mit auswärtigen Mächten, dies vor allem auf dem Gebiete des Gesandtschaftswesens, und im Kontakt mit dem Papsttum. Mit einer etwas ungewöhnlichen Geschichte sei eingangs belegt, dass man mit den auf diesem Felde üblichen Spielregeln bereits in der Karolingerzeit sehr ironisch umgehen konnte. Gerade in der ironischen Verfremdung erweist sich aber das Reflexionsniveau, das auf diesem Gebiet bereits erreicht war. Notker von St. Gallen erzählt eine Anekdote, wie man angeblich den Byzantinern die unehrenhafte Behandlung fränkischer Gesandter in Byzanz heimzahlte. Das Feld der Revanche war das der rituellen Kommunikation. Ausgelöst wurde diese Revanche durch folgende Unfreundlichkeit der Byzantiner: „Etliche Jahre später schickte der unermüdliche Karl einen Bischof dorthin (nach Byzanz), einen an Geist und Körper vortrefflichen Mann, und mit ihm als Begleiter den edlen Herzog Hugo. Diese wurden sehr lange hingehalten, endlich dem König vorgestellt, aber unwürdig behandelt und auf sehr abgelegene Orte verteilt. "18 Diese Behandlung stellte eine gezielte Beleidigung dessen dar, der diese hochrangigen Gesandten ausgeschickt hatte. Was hier geschildert wird, darf als typisch gelten: Die Gesandten hatten es auszubaden, wenn die Beziehungen zwischen Mächten getrübt waren. Mittels ritueller Angriffe auf ihre Ehre - etwa durch unangemessene Behandlung- machte man die an)1.espannte Situation und den eigenen Standpunkt auch in anderen Jahrhunderten deutlich. Sich in einer solchen Situation zu behaupten, erforderte von den Gesandten größtes Geschick. Im hier geschilderten Fall ergab sich jedoch die Gelegenheit zu einer Retourkutsche: „Bald darauf schickte derselbe König seine Beauftragten an den ruhmreichen Karl. Zufällig traf es sich aber, dass sich damals dieser Bischof mit dem erwähnten Herzog beim Kaiser befand. Als nun das bevorstehende l ·:intreffen der Gesandten gemeldet wurde, gaben diese dem klugen Karl den Rat, sie in den Alpen und in weglosem Gelände herumzuführen, bis sie alles verbraucht und verzehrt hätten und in solch ungeheurer Not vor ihn 1.u treten gezwungen wären. Als sie nun kamen, ließen der Bischof und Nein Gefährte (d. i. der Herzog) den Marschall inmitten seiner Untergebenen auf dem Hochsitz Platz nehmen, so dass man nur ihn als den Kaiser 1111sehen konnte. Als ihn die Gesandten erblickten, fielen sie zu Boden und wollten ihn begrüßen. Aber die Diener stießen sie zurück und nötigten sie, wl·iterzugehen. Danach erblickten sie den Pfalzgrafen, inmitten der Gro-

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ßen zu Gericht sitzend, vermuteten in ihm den Kaiser und warfen sich zu Boden. Aber auch hier wurden sie mit Schlägenweitergetrieben ( ... ) So gingen sie weiter und fanden den Truchsess mit seinen schön gekleideten Dienern. Da hielten sie ihn für den Kaiser und stürzten auf die Knie. Auch hier zurückgewiesen fanden sie im Sitzungssaal die Kammerdiener des Kaisers um ihren Meister und es erschien ihnen nicht zweifelhaft, dass er der Erste unter den Sterblichen sei. Aber dieser erklärte, er sei es nicht, versprach jedoch, sich mit den Palastobersten darum zu bemühen, dass sie wenn möglich vor die Augen des erhabenen Kaisers gelangen könnten. Nun wurden von Seiten des Kaisers Leute abgeschickt, um sie ehrenvoll einzuführen. Da stand nun der ruhmreiche Karl an einem hellen Fenster, strahlend wie die Sonne beim Aufgang, geschmückt mit Gold und Edelsteinen, gestützt auf Heito, so hieß jener Bischof, den er einst nach Konstantinopel geschickt hatte. Rings um ihn standen wie eine Heerschar des Himmels seine drei jungen Söhne, die schon Mitherrscher geworden waren, die Töchter mit ihrer Mutter, ebenso durch Klugheit und Schönheit geziert wie durch Geschmeide, die Bischöfe, unvergleichlich an Gestalt und Tugend, und die Äbte, ausgezeichnet durch Adel und Ehrwürdigkeit. Dazu die Herzöge, so wie einst Josua im Lager von Gilgal erschien, und die Kriegsleute gleich denen, welche die Syrer und Assyrer aus Samaria verjagten ( ... ) Da wurden die Gesandten der Griechen bestürzt und mit stockendem Atem und benommenem Verstand fielen sie zu Boden. Der gütige Kaiser aber hob sie auf und versuchte, ihnen durch tröstenden Zuspruch Mut zu machen. Endlich fanden sie wieder Atem, aber als sie den einst verachteten und verstoßenen Heito in solcher Ehre sahen, entsetzten sie sich von neuem und blieben so lange am Boden liegen, bis ihnen der Kaiser beim Himmelskönig schwor, er werde ihnen in keiner Weise ein Leid antun. "19 Diese Geschichte zeugt deutlich von fränkischem Wunschdenken, es den arroganten Byzantinern einmal so richtig zu zeigen. Wichtiger aber ist für unseren Zusammenhang, dass ihre Pointen auf ein Publikum zählen, das die Spielregeln rituellen Verhaltens genau kennt und um die Zwänge weiß, die öffentliche Kommunikation mit sich brachte. Als Gesandter - so lehrt die Geschichte - musste man schon an Kleidung und Haltung erkennen, wen man vor sich hatte und dementsprechend reagieren. Die Ehrerbietung gegenüber dem Höchstrangigen ließ sich offensichtlich am besten durch einen wortlosen Fußfall zum Ausdruck bringen. Auch reichte es zu sehen, dass Karl von dem Bischof Heito gestützt wurde, um zu ermessen, welche Rolle dieser Bischof am Hofe Karls spielte. Die Verteilung der Personen im Raum symbolisierte ihre Nähe zum Herrscher und dies wiederum wies auf den Einfluss, den sie ausüben konnten. Der Fußfall, mit dem die Gesandten in dieser Geschichte geradezu ste-

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reotyp reagierten, begegnet in den verschiedensten rituellen Situationen späterer Jahrhunderte immer wieder. Er war offensichtlich das adäquate rituelle Ausdrucksmittel, den hohen Rang eines Gegenübers anzuerkennen. Folglich löste es bei den Gesandten einen geradezu Pawlow'schen Reflex aus, wenn sie vermuteten, auf den Kaiser gestoßen zu sein. Der Fußfall diente aber auch dazu, vermuteten Unmut oder Unwillen des Gegenübers zu besänftigen, ihn nonverbal um Verzeihung zu bitten. Gleiches war uns auch schon in Erzählungen Gregors von Tours begegnet. Der Rang aller Personen kommt in der Szene überdies nicht zuletzt durch entsprechende Kleidung und Aufmachung zum Ausdruck. Deshalb war es von desaströser Wirkung, wenn man durch die Umstände genötigt wurde, abgerissen und in Not auftreten zu müssen. Auch von dieser Komik lebt die Geschichte, indem sie die Pracht der Franken mit der Not der Byzantiner konfrontiert. Es dürfte angesichts der detailliert geschilderten Anordnung des fränkischen Hofes im Raum nicht einmal Zufall sein, dass Notker die Platzierung Karls „vor einem hellen Fenster" erwähnt. Diebeabsichtigte Wirkung dieses Arrangements war wohl, dass er so zunächst nur schemenhaft erkennbar war und sich sein ganzer Glanz erst im Zuge des Näherkommens entfaltete. Diese aufwendige und phantasiereiche Verformung des Auftritts einer Gesandtschaft am karolingischen Hof zu einer Groteske darf daher wohl als Beweis dafür genommen werden, wie empfänglich das Publikum im späten 9. Jahrhundert für die Darstellung ritueller Verhaltensmuster bereits war. Gerade die komische Verfremdung erweist den hohen Stellenwert, den rituelles Verhalten in der karolingischen Zeit bekommen hatte. Die Komik einer Situation können ja vor allem diejenigen ermessen, die im realen Leben mit dem Ernst dieser Situation besonders konfrontiert waren. Es scheint daher lohnend zu fragen, wie es zu dieser Empfänglichkeit für rituelle Fiktionen anekdotischer Art gekommen sein kann, die kaum ohne einen hohen Stellenwert vergleichbarer ritueller Verhaltensmuster in der Realität zu denken ist.

11.2.1 Die Begegnungen von Päpsten mit Karolingern Dennoch sind wir über die konkrete Ausgestaltung von Ritualen gerade lfü die Zeit König Pippins und Karls des Großen nur sehr ungenügend in-

formiert. Dies allerdings mit einer Ausnahme, denn über die rituellen Akte hci den Begegnungen der Karolinger mit den Päpsten sprechen die Quellen beider Seiten sehr ausführlich, wenn auch nicht sehr homogen. Die Analyse dieser Berichte zeigt, dass man in vielen Fällen kaum sicherstelll'n kann, welche Akte bei den Treffen tatsächlich durchgeführt wurden.

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Zu stark sind die jeweiligen Darstellungsperspektiven dem Anliegen verpflichtet, den Rang und die Stellung der Protagonisten ins rechte Licht zu rücken. Dies geschieht, indem man ihnen bestimmte rituelle Handlungen zuschreibt. Und je nach Parteizugehörigkeit sind dies sehr unterschiedliche Handlungen. Den Ritualen kommt aber ganz entschieden die Funktion zu, öffentlich und verbindlich die Beziehung zwischen Päpsten und Frankenherrschern einschließlich der übernommenen Verpflichtungen zum Ausdruck zu bringen. Wenn wir daher nach Entwicklungsstufen eines Prozesses Ausschau halten, in dem Rituale mehr und mehr die Funktion übernahmen, die Qualität und den Zustand von Beziehungen zeichenhaft zum Ausdruck zu bringen, dann verweist uns die Überlieferung nachdrücklich auf die Begegnungen der Karolinger mit den Päpsten. Die erhaltenen Beschreibungen ihrer rituellen Interaktionen seien daher eingehender analysiert, um eine Basis für die Frage zu gewinnen, ob diese Vorgänge einen Schlüssel zum Verständnis der weiteren Entwicklung liefern, die durch zunehmende Interaktivität der Handlungssequenzen, durch eine zunehmende Verbreiterung der Anwendungsfelder und durch eine Verfeinerung der Aussagen charakterisiert zu sein scheint. Schon bei den nun zu behandelnden Begegnungen der Päpste mit den Karolingern sind deshalb vorherige Absprachen über Einzelheiten der Durchführung zwingend anzunehmen. Es mag Überlieferungszufall sein, aber das erste Treffen zwischen einem Papst und dem gerade mit päpstlicher Hilfe zum König erhobenen Pippin, das im Jahre 754 in Ponthion stattfand, bietet zum ersten Mal die Chance zu erkennen, welche differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten die Sprache der Rituale bot und welches Vertrauen man in die Verbindlichkeit ritueller Handlungen setzte. Man geht daher wohl kaum fehl in der Einschätzung, dass die Begegnung von Ponthion einen Meilenstein in der Entwicklung der fränkischen Ritualkultur bedeutet. Diese Bewertung bedarf einer ausführlichen Begründung. Eine persönliche Begegnung zwischen Papst und Karolinger hatte es zuvor nicht gegeben. Man musste sich daher wohl vorweg darauf verständigen, welche rituellen Ausdrucksmittel von beiden Seiten als angemessen akzeptiert werden konnten. Die Handlungen mussten dem Rang der Beteiligten gemäß sein, sie sollten aber auch die politische Situation reflektieren, in der diese Begegnung stattfand. Angesichts dieser Ausgangslage ist es nicht überraschend zu hören, dass die Begegnungen durch Gesandtschaften vorbereitet wurden. Diese dürften auch oder gerade über die rituellen Akte der Begegnung gesprochen und sich auf bestimmte Handlungen verständigt haben, selbst wenn dies in den Berichten beider Seiten nicht konkret gesagt wird. Da man keine Tradition der Begegnungen fort-

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führen konnte, dürfte es unausweichlich gewesen sein, das Treffen mittels Analogien zu gestalten, über die namentlich die Päpste durch ihre Treffen etwa mit den byzantinischen Herrschern verfügten.20 Einigermaßen überraschend ist jedoch, dass Quellen beider Seiten über ganz unterschiedliche Vorgänge berichten. Die Begegnung zwischen König Pippin und Papst Stephan II. in Ponthion ist für Verhältnisse des 8. Jahrhunderts herausragend detailliert überliefert. Zwei fränkischen Berichterstattern, die eine genaue Beschreibung liefern, steht eine ausführliche Darstellung aus päpstlicher Perspektive gegenüber. Die Franken akzentuieren die Tatsache, dass der Papst als Hilfesuchender ins Frankenreich kam und dementsprechend auftrat. Eine der Darstellungen geht auf ein Mitglied der karolingischen Verwandtschaft selbst zurück, das für die Fortsetzung der Chronik des so genannten Pseudo-Fredegar verantwortlich war: „Der König ( ... ) hielt sich in dem Königshof Diedenhofen an der Mosel auf, als ein Bote zu ihm kam mit der Nachricht, dass der Papst Stephan aus Rom mit großem Gefolge und vielen Geschenken den Großen St. Bernhard schon überschritten habe und sich beeile, ihn zu treffen. Als der König das hörte, befahl er, ihn mit Jubel, Freude und großer Sorgfalt aufzunehmen, und trug seinem Sohn Karl auf, ihm entgegenzugehen und ihn bis zum Königshof Ponthion vor ihn zu geleiten. Dort trat der römische Papst Stephan vor den König und beschenkte sowohl den König selbst als auch die Franken mit vielen Gaben und bat ihn um Hilfe gegen das Volk der Langobarden und ihren König Aistulf ( ... ). "21 Noch detaillierter, aber mit gleicher Tendenz schildern die Metzer Annalen diese Vorgänge. Deren Entstehung setzt man um das Jahr 805 im Kloster Chelles an, als dort Karls Schwester Gisela Äbtissin war: „In diesem Jahr (753) ertrug Papst Stephan, der Zacharias nachgefolgt war, die Schädigung durch die Langobarden und den Hochmut des Königs Aistulf nicht mehr und kam zu König Pippin, um seinen Schutz zu erbitten. Als das Pippin gemeldet wurde, erfüllte ihn große Freude und er befahl seinem erstgeborenen Sohn Karl, dem Papst entgegenzugehen und ihn mit 1~hren zu ihm zum Königsgut Ponthion zu geleiten. Als der genannte Papst dorthin kam, wurde er von König Pippin ehrenvoll empfangen. Und er machte dem König wie dessen Großen viele Geschenke. Am folgenden 'Htg aber flehte er zusammen mit seinem Klerus, mit Asche auf dem Haupt und einem Büßergewand bekleidet, auf den Boden hingestreckt den König an, bei der Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes und den Verdiensten der heiligen Apostel Petrus und Paulus, ihn und das römische Volk aus der Hand der Langobarden und des hochmütigen Königs Aistulf durch seine Hilfe zu befreien. Und er wollte sich nicht eher von der Erde l'rhcben, als bis ihm der genannte König Pippin mit seinen Söhnen und den Großen der Franken die Hand reichte und ihn als Zeichen zukünfti-

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ger Hilfe und Befreiung von der Erde aufhebe. Da erfüllte Pippin den Willen des Papstes vollständig ( ... ). "22 Die beiden fränkischen Berichte, die gewiss die Sicht der Dinge fixieren, die die Karolinger selbst von den Vorgängen geben wollten, schildern den Papst als Bittsteller, der zwar ehrenvoll aufgenommen und dessen Bitte positiv beschieden wurde, dem der neue Frankenkönig jedoch durch keine rituelle Handlung einen höheren Rang zuwies. Für unseren Zusammenhang ist aber insbesondere jene Formulierung der Metzer Annalen hochinteressant, dass Pippin dem auf dem Boden liegenden Papst die Hand als Zeichen (pro indicio) seiner zukünftigen Hilfe reichen sollte. An dieser Formulierung wird der für die Zukunft verpflichtende Charakter ritueller Handlungen unmittelbar evident. Und es kann nicht genügend betont werden, dass nach der Schilderung der Metzer Annalen sich der ganze Vorgang in größter Öffentlichkeit abspielte, ja dass nicht nur König Pippin dem auf dem Boden liegenden Papst die Hand gereicht habe, sondern mit ihm seine Söhne und die fränkischen Großen. Auch sie versprachen damit auf diese Weise ihre Hilfe. Die Forschung hat sehr intensiv über die bei dieser Gelegenheit abgegebene promissio Pippins und ihren Inhalt debattiert.23 Sie hat jedoch übersehen, dass nach dieser Darstellung die Promissio schon nonverbal durch die Handreichung gegeben wurde. Die Darstellung der fränkischen Quellen, insbesondere der Metzer Annalen, wirft eine Fülle von Fragen auf. Ein barfüßiger Papst, der sich mit Asche auf dem Haupt einem weltlichen Herrscher bittend zu Füßen wirft, ist bis dahin und bleibt ein Unikum in der an demonstrativen Handlungen gewiss reichen Papstgeschichte. Schon diese Beobachtung allein weist darauf, wie Aufsehen erregend der Vorgang gewesen sein muss. Die erste Frage, die sich daher stellt, ist gewiss die, was den Papst zu dieser Verhaltensweise veranlasst hat. Untl hierauf ist eine eindeutige Antwort möglich. In der Vita von Stephan II. wird nämlich detailliert beschrieben, was dieser Papst tat, als im Jahr zuvor der Langobardenkönig Aistulf mit seinen Kriegern Rom bedrängte und päpstliche Hilferufe nach Byzanz ungehört geblieben waren: Er initiierte Prozessionen der Bevölkerung zu verschiedenen Kirchen Roms, um Gott um Hilfe gegen die Langobarden zu bitten, da man deren Bedrängungen als Folge der eigenen Sünden auffasste. Barfuß und mit Asche auf dem Haupt trug der Papst auf den eigenen Schultern eine Christusfigur und andere sacra mysteria, wobei der von Aistulf gebrochene Vertrag, an ein Kreuz geheftet, mitgeführt wurde. Außerdem aber hatte Stephan in dieser Zeit einen Pilger zum neuen fränkischen König Pippin geschickt und auch diesen um Hilfe gebeten. Der aber erwiderte die Bitte mit einer hochrangigen Gesandtschaft, die den Papst ins Frankenreich einlud. Diese Gesandten müssen ihm und den Römern als

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die von Gott gesandte Hilfe erschienen sein, denn sie erreichten es tatsächlich, dass Aistulf den Papst ziehen ließ.24 Damit dürfte aber evident sein, welches Vorbild Stephan bei seinem Auftritt in Ponthion im Auge hatte. Er wandte die Ausdrucksformen seiner inständigen Bitten gegenüber Gott nun bei einem weltlichen Herrscher an. Man kann auch sagen, er transferierte Zeichen und Handlungen aus dem Ritual der Bittprozession in den Bereich innerweltlicher Bittrituale. Die nächste, für die Analyse von Ritualen fundamentale Frage schließt sich direkt an: Konnte der Papst mit diesem Verhalten Pippin und die Franken überraschen oder dürfen wir hier von einer Inszenierung sprechen, deren Einzelakte abgesprochen waren? Auch wenn es in den Berichten nicht konkret gesagt wird: Es spricht wohl alles dafür, dass man die Gegenseite über einen derart ungewöhnlichen Schritt informieren und zudem sicherstellen musste, dass sie der Bitte auch entsprechen würde. Die anschließenden Auseinandersetzungen im fränkischen Herrschaftsverband beweisen, dass die Hilfeleistung gegen die Langobarden sehr umstritten war.25 Grund genug also, die Bitte wie die Gewährung öffentlich und in demonstrativen Ausdrucksformen zu gestalten, das Ganze zu einem eindrucksvollen Schauspiel zu stilisieren. Natürlich lässt sich der Inszenierungscharakter solchen Geschehens nicht an einem Einzelfall schlüssig beweisen. Es sei hier daher nur der Anfang einer langen Folge komplexer ritueller Handlungen markiert, die ohne die angesprochenen Planungen und Vorabinformationen eigentlich nur misslingen konnten. Ein Misslingen einer solchen Szene wie der in Ponthion aber hätte wohl gravierende Folgen gehabt. Man dürfte daher alles getan haben, um es zu vermeiden, und deshalb sind Absprachen zwingend zu unterstellen. Schauen wir uns nach der Analyse der fränkischen Quellen auch die päpstliche Version an. Das Fehlen jeder Geste, die dem Papst einen superioren Rang zuerkennt, fällt in den fränkischen Berichten vor allem dann auf, wenn man vergleichend die päpstliche Darstellung dieses Treffens heranzieht. Sie wurde kurz nach den Ereignissen in der Vita Stephans festgehalten. Hier werden deutlich andere und widersprechende Akzente gesetzt: „Als der König von der Ankunft des heiligen Papstes hörte, beeilte er sich zusammen mit seiner Gemahlin, seinen Söhnen und Großen sehr, ihm entgegenzugehen. Deshalb schickte er seinen Sohn namens Karl mit anderen seiner Magnaten dem engelsgleichen Papst fast hundert Meilen entgegen. Er selbst empfing den heiligsten Papst fast drei Meilen vor seiner Pfalz Ponthion zusammen mit seiner Frau, seinen Söhnen und Großen, indem er von seinem Pferd stieg, sich mit großer Demut auf den Boden warf und im Dienste des Strators bis zu einem bestimmten Ort neben dessen Sattel eilte. Dann brachte der genannte Segen spendende Mann mit

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allen Seinen und mit erhobener Stimme dem allmächtigen Gott Ehre und unaufhörliches Lob dar, und mit Hymnen und geistlichen Gesängen brachen sie zusammen mit dem schon genannten König in heiligster Feierlichkeit zur Pfalz auf am 6. Tag des Monats Januar, am Feste der Erscheinung des Herrn und Erlösers Jesu Christi. Als sie dort im Betsaal zusammensaßen, hat der heiligste Papst bald den allerchristlichen König auf klagende Art und Weise (lacrimabiliter) gebeten, dass er auf Grund der Friedensbündnisse sich den Fall des heiligen Petrus und der römischen res publica zu Eigen mache. "26 Trotz langer intensiver Beschäftigung mit diesen Ausführungen ist erst in jüngster Zeit aufgefallen, dass in der päpstlichen Darstellung die Tatsache des Strator-Dienstes, den Pippin geleistet haben soll, sachlich und sprachlich wie ein Fremdkörper wirkt.27 Nach der Schilderung wirft sich Pippin ja zuerst auf den Boden und leistet dann den Strator-Dienst. Nimmt man diese Reihenfolge ernst, hätte der Papst zunächst absitzen müssen, um die Prostration entgegenzunehmen und dann sein Pferd wieder besteigen müssen, um Pippin die Gelegenheit zu geben, es am Zügel zu führen. Dies will nicht recht einleuchten. Man hat daher vermutet, der Dienst sei erst als späterer Zusatz der Schilderung angefügt worden. Richtig überzeugen könnte eine solche Vermutung allerdings wohl nur dann, wenn es gelänge, plausible Gründe dafür zu finden, warum gerade dieser Dienst schon bald nach den Ereignissen der Darstellung eingefügt wurde, um ein bestimmtes Verhältnis von Frankenkönig und Papst zu markieren. Gründe für eine solche Konjektur zeichnen sich jedoch nicht ab; und auch ihre potentiellen Urheber bleiben völlig im Dunkeln. Aber ob mit oder ohne diesen Dienst: Der Unterschied zwischen der fränkischen und römischen Version der Begegnung ist gravierend. Schon mit der Prostration hatte der Frankenkönig ja eine rituelle Form benutzt, die höchste Verehrung und auch Unterordnung unter den so Geehrten zum Ausdruck brachte. Lassen sich diese unterschiedlichen Versionen von der Begegnung daher überhaupt vereinbaren? An diesen Berichten wird eine Schwierigkeit greifbar, die nicht nur bei der Analyse von Ritualen immer wieder begegnet und die daher hier exemplarisch diskutiert sei. Sie konkretisiert sich in der Frage: Wie erkennt man durch die sich widersprechenden Darstellungen hindurch das, was in Ponthion wirklich geschehen und durchgeführt worden ist? Oder sind solche Versuche müßig und man ist besser beraten, sie von vornherein zu unterlassen? Unser Fall lässt verschiedene Möglichkeiten des Verfahrens zu: Man kann beide Schilderungen in additiver Weise benutzen, muss dann allerdings davon ausgehen, dass sie jeweils die für ihre Seite weniger ehrenvollen Akte verschwiegen hätten: Die Franken ließen das Entgegenziehen

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Pippins und die Prostration unerwähnt; der römische Autor andererseits die Prostration des Papstes, seinen extremen Bittgestus, den er mit der Formulierung, der Papst habe Pippin lacrimabiliter gebeten, doch mehr als verschleiert. So könnte es gewesen sein. Sicherheit über das, was geschehen ist, gewinnt man so allerdings wohl nicht. Für eine zweite Möglichkeit, nämlich einem Text zu folgen und die Darstellung des anderen mit nachvollziehbaren Gründen zu verwerfen, findet man andererseits wenig Anhaltspunkte. Damit sind jedoch die Möglichkeiten der Analyse noch nicht erschöpft. Wir haben in diesem Fall auch die Möglichkeit zu fragen, ob die berichteten rituellen Akte in einer Tradition stehen oder ob sie eine Tradition begründet haben. Auch die Beantwortung dieser Frage hilft bei der Entscheidung, welche Wirklichkeit hinter den Texten steht. Denn wenn die fraglichen Handlungen zuvor oder später in vergleichbaren Situationen bezeugt sind, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch in Ponthion Bestandteil des Rituals der Begegnung waren. Beides ist hier der Fall und lässt weitere Einsichten zu. Verehrung durch Prostration wurde den Päpsten bereits zuvor von anderen Herrschern erwiesen: von den byzantinischen Kaisern. Der Zügeldienst ist dagegen aus Rom bezeugt, wo ihn vornehme Laien für die Päpste, später auch für die Kaiser leisteten. 28 Dieser Befund ermöglicht die begründete Vermutung, dass die rituellen Akte der Begegnung von Pippin und Stephan nach Vorbildern gestaltet wurden, die von den päpstlichen Unterhändlern in die Verhandlungen eingebracht wurden, wodurch das Zeremoniell für die Franken akzeptabel wurde. Wenn dem byzantinischen Kaiser die Prostration recht war, konnte sie dem Frankenkönig gleichfalls zugemutet werden. Größere Sicherheit, dass die in der Papstvita geschilderte Prostration Pippins tatsächlich historisch ist, gibt aber eine andere Beobachtung: Sie begegnet nämlich bei späteren Treffen zwischen Karolingern und Päpsten gleichfalls. In Ponthion wurde also allem Anschein nach eine rituelle Form gefunden, die auch im Frankenreich eine Tradition begründete. Die Parallelität der benutzten rituellen Formen ist besonders augenfällig bei einem Treffen zwischen Ludwig dem Frommen und Papst Stephan IV„ das im .Jahre 816 in Reims stattfand: „Sobald dieser (Stephan IV.) das Pontifikat angetreten hatte, befahl er dem ganzen römischen Volk, Ludwig eidlich die Treue zu geloben, und schickte an diesen Kaiser Gesandte, indem er ihm sagen ließ, er wolle ihn an irgendeinem Orte, wo es ihm recht wäre, sehen. Als er dies hörte, begann er von großer Fröhlichkeit erfüllt sich zu freuen und befahl sogleich seinen Sendboten, mit vielen Begrüßungen dem heiligen Papst entgegenzueilen und alles zu seinem Dienste vorzubereiten. Nach den Boten ging

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Ludwig selbst dem Papst entgegen: Und als sie sich in der großen Ebene bei Reims trafen, stiegen sie beide vom Pferd; der princeps warf sich dreimal mit dem ganzen Körper zu Füßen des höchsten Bischofs nieder und begrüßte, nachdem er das dritte Mal sich erhoben, den Papst mit diesen Worten: ,Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn, Gott ist der Herr, der uns erleuchtet.' Und der Papst antwortete: ,Gelobt sei Gott unser Herr, der meinen Augen zu sehen gab einen zweiten König David.' Sie umarmten sich dann und küssten sich in Frieden; dann gingen sie zur Kirche; und als sie lange gebetet hatten, erhob sich der Papst und spendete samt seiner Geistlichkeit mit lauter Stimme die ihm (Ludwig) als König zukommenden Lobsprüche. "29 Die Schilderung weist wohl nachdrücklich aus, dass das Zeremoniell der Reimser Begegnung in großen Teilen nach dem Vorbild von Ponthion gestaltet worden sein dürfte, auch wenn die Prostration Ludwigs durch ihre dreimalige Wiederholung vom Vorbild seines Großvaters abweicht. Ein Zwischenglied zwischen beiden Ereignissen stellt gewissermaßen der Empfang dar, den Karl der Große im Jahre 799 Papst Leo III. in Paderborn bereitete. Allerdings sind uns die Einzelheiten dieses Empfangs ,nur' durch ein Preisgedicht überliefert, das die Szene eingehend beschreibt, von Historikern aber nur mit Vorbehalt zur Rekonstruktion des Geschehenen herangezogen wird. Auch in Paderborn schickte König Karl nach diesem Gedicht dem heranziehenden Papst eine Empfangsdelegation mit seinem Sohn Pippin an der Spitze entgegen. Dieser vollzog bei der Begegnung mit seinem gesamten Gefolge eine dreimalige Proskynese. Papst Leo hob ihn gütig vom Boden auf, umarmte ihn und gab ihm den Friedenskuss. 30 Nichts anderes praktizierte man bei der Begegnung mit Karl, der zum Empfang des Papstes seinen Klerus in Chören, das ,Vblk' in einem Ring und das Heer in einem offenen Kreis aufgestellt hatte. Als Leo zum König in diesen Kreis gekommen war, ehrte ihn Karl durch einen Fußfall; dann umarmte ihn der Papst, tauschte mit ihm den Friedenskuss, beide gaben sich die rechte Hand und unterhielten sich freundschaftlich. Sogar das ganze Heer warf sich dem Papst dreimal zu Füßen, worauf Leo jeweils ein Gebet sprach. 3 1 Auch die anderen Details dieses Berichts entsprechen denen, die von Ponthion und Reims berichtet werden. Es kann somit kaum ein Zweifel bestehen, dass man bei den späteren Treffen im Wesentlichen dem Zeremoniell des gelungenen Auftakts der Begegnungen in Ponthion folgte. Diese Beobachtungen aber stellen starke Argumente bereit, die Prostration Pippins in Ponthion als wirklich geschehen anzusehen. Zu geläufig ist zumindest aus späteren Zeiten die Tatsache, dass man sich bei der Gestaltung ritueller Akte an Vorbilder und Präzedenzfälle anlehnte. Von einem Strator-Dienst Ludwigs des Frommen oder Karls des Großen ist da-

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gegen in den behandelten Parallelfällen nicht die Rede. Für ihn bietet die erhaltene Überlieferung erst aus dem Jahr 858 ein zweites Zeugnis. Als Papst Nikolaus 1. Kaiser Ludwig II. im kaiserlichen Feldlager vor den Toren Roms aufsuchte, leistete ihm Ludwig bei Ankunft und Abschied den Strator-Dienst, der genau beschrieben wird: Der Kaiser führte das Pferd des Papstes einen Pfeilschuss weit am Zügel.32 Ob hier jedoch mehr als ein Jahrhundert später das Vorbild von Ponthion oder die Schilderung des Strator-Dienstes im so genannten Constitutum Constantini Pate stand, muss gewiss offen bleiben.33 Die ausführliche Vorstellung der Quellen zu den Vorgängen in Ponthion unter Einbeziehung der Berichte späterer Treffen rechtfertigt sich wohl aus mehreren Gründen. Zum einen bieten die detailliert, wenn auch unterschiedlich berichteten rituellen Akte der Treffen wohl die früheste Möglichkeit im Bereich der mittelalterlichen Geschichte, Sinn und Leistung ritueller Handlungsweisen eingehender zu diskutieren und dabei ihren Beitrag zur Etablierung oder Stabilisierung politischer Ordnung auszuloten. Die Bewertung der Berichte hängt dabei nicht allein von der Frage ab, ob das Berichtete tatsächlich geschehen ist. Auch oder gerade wenn die Parteien ihre Berichte mit Akten angereichert haben sollten, die bei dem Treffen gar nicht durchgeführt worden waren, machen sie damit deutlich, was sie für besonders wünschenswerte und aussagekräftige rituelle Handlungen hielten. Sie geben uns damit Einblick, wie man Beziehungen und Absichten rituell abbilden zu können meinte. Prostration und Strator-Dienst Pippins wie der späteren Karolinger signalisierten Verehrung, Unterordnung wie auch Dienstbereitschaft und stellten das Verhältnis zu den Päpsten auf diese Basis. Die Prostration des Papstes in Ponthion, die als päpstliches Verhalten wohl als Unikum gelten darf, hatte dagegen einen anderen Sinn: Sie stellte die intensivste Form der Bitte dar, die denn auch mit der Handreichung der Franken das nonverbale Versprechen nach sich zog, dieser Bitte zu entsprechen. Schon bei diesem frühen Beispiel dürfte es erlaubt sein, von der Macht der Rituale in dem Sinne zu sprechen, dass sie die Akteure auf die gemachten Aussagen festlegten. Mit dem konzertierten rituellen Tun schufen sich die Akteure eine Basis ihres Verhältnisses, auf der man später aufbauen konnte. Und da dies öffentlich geschah, gab es für die gemachten Aussagen auch Zeugen. Aus dieser Funktion der Rituale dürften sich nicht zuletzt die Unterschiede erklären, die sich in den Berichten beider Seiten abzeichnen. Vor allem die Franken unterließen gern Hinweise auf Akte, aus denen man eine Unterordnung des Königs unter den Papst ablesen konnte. Es ist nur symptomatisch, dass sie stattdessen die Szene dramatisch ausbreiteten, in der der Papst auf dem Boden liegend und im Bußgewand um die Hilfe der

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Geschichte des Konzils von Konstanz (Ulrich von Richental, 2. Hälfte 15.Jh.). König Sigismund leistet Papst Martin V. den Strator-Dienst. Konstanz. Rosgartenmuseum, Ms. l,fol. 105v.

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Franken gebeten hatte, was wiederum die Darstellungen der päpstlichen Seite ausließen. Die fußfällig geäußerte päpstliche Bitte in Ponthion, die mit der kollektiven Handreichung der Franken und ihres Königs Pippin beantwortet wurde, beweist aber zugleich auch, dass bei den Begegnungen nicht einfach ein stereotypes Empfangszeremoniell ablief, selbst wenn einzelne Elemente mehrfach oder sogar immer begegnen. Vielmehr bestand die Möglichkeit, speziellen Anforderungen einer Situation dadurch gerecht zu werden, dass man rituelle Akte in den Ablauf der Begegnung aufnahm, die hier und nur hier nötig und sinnvoll waren. Dieser Eindruck von der ,Gemachtheit' der Rituale stellt sich beim Empfang von Ponthion erstmals ein. Er wird uns von jetzt ab aber immer wieder begegnen. Natürlich haben wir nicht immer die Möglichkeit, den Sinn und den Hintergrund einzelner Änderungen oder Neuerungen zu erkennen. So fällt etwa auf, dass Karl der Große bei seinem Empfang in Rom im Jahre 774 keine Prostration vor Papst Hadrian leistete. Vielmehr erwartete ihn der Papst, nachdem Karl durch Empfangsdelegationen wie ein Patricius eingeholt worden war, oberhalb der Treppe von St. Peter. Bei der Begrüßung umarmten sie sich, der Papst geleitete Karl unter dem Gesang des Klerus zur confessio beati Petri und dort warfen sich beide zum Gebet nieder.34 Ob mit dieser Änderung des Begrüßungsrituals eine bestimmte Aussage gemacht werden sollte, lässt sich nicht entscheiden, geschweige denn, was damit ausgesagt werden sollte. Noch eine andere Beobachtung ist von grundsätzlichem Interesse, auch wenn es in den Quellen nicht konkret gesagt wird: Dass eine auf so dramatische Art vorgetragene Bitte wie die Stephans II. den Adressaten nicht llherraschen durfte, sondern mit ihm abgesprochen werden musste, dürfte plausibel sein. In der gegebenen Situation scheint es kaum denkbar, dass der Papst sich zu solchen Handlungen entschied, ohne sich vergewissert zu haben, dass sie den gewünschten Erfolg zeitigten. Damit tritt aber schon im 8. Jahrhundert die Technik vor Augen, politische Absichten und Verpflichtungen durch inszenierte Handlungen öffentlich bekannt und so verbindlich zu machen. Man war gleich bei der ersten Begegnung zwischen dem Papst und dem Frankenkönig in der Lage und willens, die entscheidende Frage dieser Begegnung mittels ritueller Handlungen zu beantwor1en, die Frage nämlich, ob Pippin bereit sei, dem Papst gegen die Langobarden zu helfen. Auch ein zweites zentrales Problem ging man bei dieser Begegnung mit rituellen Neuerungen an: Der Papst salbte Pippin und seine Söhne und verschaffte ihnen so eine transzendentale Legitimation ihres Königtums.35 Solche Handlungen könnten ihre Wirkung natürlich nicht entfalten, wenn die Gesellschaft nicht daran gewöhnt wäre, rituellen Vorgängen

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einen bestimmten Sinn zuzuschreiben und von der Verbindlichkeit des gezeigten Verhaltens auszugehen. Was nach der erhaltenen Überlieferung in der Interaktion zwischen Päpsten und Karolingern daher als neuartige Praktik erscheint - politische Entscheidungen durch öffentliche rituelle Handlungen bindend zu machen-, muss eigentlich durch entsprechende Gewohnheiten auf anderen Gebieten vorbereitet worden sein. Und in der Tat lässt sich an verschiedenen Beispielen beobachten, dass in den Bereichen von Familie, Verwandtschaft und Genossenschaft rituelles Verhalten bereits früh verbindlichen Charakter aufwies, dass man mit rituellen Handlungen Versprechungen für die Zukunft abgab. Eine solche Funktion erfüllt etwa - durchaus nicht nur in der Zeit des frühen Mittelalters - das gemeinsame Mahl und Gelage, das Einzelpersonen wie Gruppen dazu nutzten, ihre friedlich-freundschaftliche Gesinnung unter Beweis zu stellen. Das auf diese Weise demonstrierte Verhalten band für die Zukunft. Es wurde praktiziert, wenn man Feindschaft in Freundschaft verwandelte; wenn man sich zu genossenschaftlicher Gruppenbindung fand; oder auch, wenn man den Gruppenzusammenhalt demonstrativ stärken wollte. Praktiziert haben es Verwandte und Freunde, aber auch Mitglieder geistlicher Kommunitäten und in Einzelfällen ist schon früh bezeugt, dass auch herrschaftliche Bindungen mit solchen Mitteln gefestigt wurden.3 6 Dennoch dürfte es kein Zufall sein, dass wir die Ritualisierung öffentlicher Kommunikation in der frühen Karolingerzeit nicht auf vielen Gebieten beobachten können. Weder im Falle Pippins noch für Karl den Großen lassen sich den ausführlich geschilderten Ritualen der Begegnungen mit den Päpsten vergleichbare zur Seite stellen, die die Karolinger in ähnlich intensivem rituellem Umgang mit anderen Personen oder Gruppen zeigten. Natürlich ist die Überlieferungschance solcher Ereignisse zu bedenken, und es wäre zweifelsohne zu optimistisch zu erwarten, dass etwaige rituelle Formen des Umgangs Karls mit seinen Großen auf den zahllosen Hoftagen detailliert beschrieben worden wären. Doch ist es angesichts der überlieferten Vielzahl schriftlicher Anweisungen an den Herrschaftsverband, wie sie sich in Kapitularien und Briefen erhalten haben, doch bemerkenswert, dass sich kaum Aussagen über die Gestaltung ritueller Kommunikation mit den weltlichen oder geistlichen Großen finden. Hier zeigt sich jedenfalls ein deutlicher Unterschied zu späteren Jahrhunderten, aus denen eine ganze Reihe von rituellen Akten überliefert sind, mit denen der König und die Großen ihr Verhältnis symbolisch zum Ausdruck brachten. Es spricht daher einiges dafür, dass vergleichbar komplexe Handlungen noch nicht Bestandteil des öffentlichen Kommunikationsstiles in der frühesten Karolingerzeit waren. Wie aber hat sich im Bereich der Machtausübung eine Kultur der rituellen Zeichensprache entwickelt? Zumindest thesenhaft wird man davon

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ausgehen dürfen, dass so spektakuläre rituelle Umgangsformen, wie man sie bei den Begegnungen der Päpste mit den Karolingern praktizierte, Vorbildcharakter bekamen; dass sie zur Nachahmung beziehungsweise situationsbedingten Abwandlung geradezu einluden, weil sie eine wirkungsvolle Möglichkeit bereitstellten, Vorrechte wie Verpflichtungen verbindlich zum Ausdruck zu bringen. Es dürfte daher legitim sein, die im Verlauf der Karolingerzeit berichteten rituellen Interaktionen des Herrschaftsverhandes unter der Fragestellung zu untersuchen, ob sie als Ergebnisse eines ,Lernprozesses' verstanden werden können. Ob sie, anders gesagt, Zeugnis davon geben, dass die Fähigkeit wuchs, politische Aussagen mittels interaktiver Handlungssequenzen zum Ausdruck zu bringen, und ob die Bereiche sich vermehrten, in denen diese Fähigkeit zur Anwendung kam. Ob zu erkennen ist, dass die einmal ausgebildete Grammatik und Semantik der ,Ritualsprache' weiter entwickelt wurde. Eines muss bei einem solchen Versuch allerdings vorweg ins Bewusstsein gerückt werden: Die vermuteten Vorgänge der Adaptation und Weiterentwicklung wurden von den zeitgenössischen Berichterstattern nicht explizit thematisiert. Sie sind vielmehr nur aus Ähnlichkeiten der benutzten Handlungen und aus analogen Verwendungen abzuleiten, was natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die Stringenz der Beweisführung im Einzelfall bleibt.

1//.2.2 Rituale beim Sturz des Bayernherwgs Tassilo Die frühste Möglichkeit, rituelle Handlungen zwischen den karolingischen Herrschern und Mitgliedern ihres Herrschaftsverbandes genauer zu beobachten, bieten Nachrichten, die sich vom Konflikt Karls des Großen mit dem Bayernherzog Tassilo erhalten haben. In der Beschreibung dieses Konflikts, bei der gerade die Reichsannalen größten Wert darauf legen, die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen Karls des Großen wie umgekehrt die Perfidie der Handlungen Tassilos herauszuarbeiten, ist nämlich mehrfach von rituellen Handlungen vor der Öffentlichkeit einer Heeresversammlung oder einer Synode die Rede, durch die die Lösung des Konflikts vorangetrieben wurde.37 Im Jahre 787 zwang Karl den Bayernherzog durch seine militärische i'lhermacht - er war mit drei Heeren von mehreren Seiten in Bayern eingedrungen-, sich persönlich bei dem fränkischen König einzufinden, der mit seinem Heer auf dem Lechfeld bei Augsburg lagerte. Die Reichsannalen heschreiben den Vorgang folgendermaßen: „Als nun Tassilo erkannte, dass er von allen Seiten eingeschlossen war und mit ansah, wie die Bayern alle dem König Karl mehr treu waren als ihm und das Recht des erwähnlcn Königs anerkannten und lieber ihm sein Recht zubilligen wollten als

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sich widersetzen, da kam er, von allen Seiten gezwungen, persönlich und gab sich dem König Karl als Vasall in die Hände (tradens se manibus in manibus) und gab das ihm von Pippin übertragene Herzogtum heraus und gestand, in allem gefehlt und übel getan zu haben. Dann erneuerte er wieder seinen Eid und stellte zwölf auserlesene Geiseln und seinen Sohn Theodo als dreizehnte. Nach Empfang der Geiseln und des Eides kehrte der genannte ruhmreiche König nach Franken zurück. "38 Die Murbacher Annalen bringen in ihrer weitgehend deckungsgleichen Schilderung noch ein rituelles Detail, das sehr aufschlussreich ist: Tassilo habe das Herzogtum an Karl zurückgegeben, indem er ihm einen Stab überreichte, dessen Spitze eine menschliche Figur bildete.39 Das Lechfeld sah somit einen rituellen Akt, der gut mit dem späteren Ritual der Unterwerfung, der deditio, vergleichbar ist, auch wenn die Gestaltung der einzelnen Akte durchaus große Unterschiede aufweist. Wir hören vom Handgang, mit dem ein Vasallitätsverhältnis begründet wird, ebenso von der Aufgabe des Herzogtums, symbolisch angezeigt durch die Übergabe des Stabes, und wir hören nicht zuletzt von der Selbstbezichtigung, durch die alle Schuld am Konflikt von demjenigen auf sich genommen wird, der aufgibt. Letzteres ist auch fester Bestandteil späterer deditiones, zu denen aber ganz zentral ein Fußfall vor dem Gegner gehört, von dem hier nichts erzählt wird.40 Angesichts der ungewöhnlichen Situation kann wohl auch in diesem Fall davon ausgegangen werden, dass man nicht einfach gängige Gewohnheiten anwenden konnte, sondern spezielle rituelle Akte konzipieren musste. Hierzu waren gewiss Verhandlungen nötig, in denen man sich auf die geschilderten Akte verständigte. Ein beträchtlicher Unterschied etwa zu der Situation in Ponthion wird durch die Tatsache markiert, dass hier zwei Gegner im rituellen Handeln einen erzwungenen Konsens zum Ausdruck brachten. Es markiert doch wohl eine beträchtliche Ausweitung der Anwendungsgebiete ritueller Handlungen, wenn nicht nur Bündnispartner sich ihres Einverständnisses auf diese Weise vergewissern, sondern auch Einlenken im Konflikt durch rituelle Handlungen zum Ausdruck kommt. Im Ensemble der berichteten rituellen Handlungen fällt zudem das verbale Eingeständnis des Fehlverhaltens auf, das Tassilo abgibt. Man hört gleiches vereinzelt in früheren Fällen wie dem des Bischofs Praetextatus, später aber wird es zum festen Bestandteil des rituellen Repertoires. Man geht wohl kaum fehl in der Einschätzung, dass die verbalen Äußerungen wie die rituellen Handlungen ebenso die Ernsthaftigkeit des Sinneswandels wie seine Freiwilligkeit unterstreichen sollten. Falls Tassilo gehofft hatte, mit diesen Zugeständnissen und der Anerkennung Karls mittels ritueller Verhaltensweisen seine Freiheit oder sogar

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seine Stellung gerettet zu haben, wurde er sehr enttäuscht, denn gleich im nächsten Jahr unterzog ihn Karl einem Gerichtsverfahren, das angeblich durch die Anschuldigungen treuer Bayern ausgelöst wurde und mit der Todesstrafe für Tassilo endete.41 Diese wurde jedoch nach Eingreifen des milden Karl nicht vollstreckt, weil Tassilo auf dessen Frage, was mit ihm geschehen solle, bat, in ein Kloster eintreten zu dürfen. Zudem bat er darum, nicht in der Öffentlichkeit zum Mönch geschoren zu werden. Auch dies gewährte Karl und ließ ihn in St. Goar zum Kleriker machen und dann in das Kloster Jumieges einweisen.42 Wir sehen an diesem Beispiel zum ersten Mal deutlicher, welche Funktionen rituelle Akte im Konfliktfall übernehmen konnten. Die überlegene militärische Macht des einen zwang den Gegner zum Einlenken. Das Einlenken aber hatte einen hohen Preis. Mit öffentlichen Handlungen wie dem Handgang und der Übergabe des Stabes, die gewiss nicht in sein Belieben gestellt waren, machte Tassilo Aussagen zu seinem zukünftigen Verhältnis zu Karl und gab sein Herzogtum auf. Diese Aussagen dürften ihm vom Sieger in der Auseinandersetzung abgenötigt worden sein, auch wenn die rituellen Handlungen und die Selbstbezichtigungen kaum etwas vom Zwang erkennen lassen, unter dem Tassilo handelte. Nach den Ritualen aber blieb die Angelegenheit ganz eigenartig in der Schwebe; man zog nach Hause, ohne endgültige Entscheidungen getroffen oder gar Frieden geschlossen zu haben. Militärische Überlegenheit bescherte also offensichtlich die Macht, den Gegner zu rituellen ,Aussagen' zu nötigen, die seine Niederlage besiegelten. Und diese Macht wurde von Karl und den Franken so eingesetzt, dass wir das Geschehen der Jahre 787 und 788 für ein abgekartetes Spiel zur Entmachtung Tassilos halten, weil uns diese Technik der Kombination von militärischen Drohgebärden, Offcntlichen Ritualen und Gerichtsverfahren fremd ist. Wie wenig wir in der Tat von diesen Formen der Machtausübung verstehen, zeigt das Nachspiel, das die Auseinandersetzung zwischen Karl und 'lhssilo im Jahre 794 noch einmal hatte. Nach sechsjährigem Klosteraufenthalt erschien der ehemalige Bayernherzog nämlich in Frankfurt auf einer Synode. 43 Und es kann eigentlich kein Zweifel darüber bestehen, dass sein Auftritt von Karl für nötig und sinnvoll gehalten wurde. Inwieweit er da~cgcn im Interesse Tassilos lag, ist schwierig zu erkennen. Der Mönch und l'hcmalige Bayernherzog trat in die Mitte der versammelten Synodalen, hnt um Vergebung für seine Schuld, und zwar sowohl für die, die er gegenUhcr König Pippin als auch gegenüber Karl auf sich geladen habe. In einer lr11111ilis petitio erflehte er Verzeihung von Karl, legte ,reinen Herzens' seinen Zorn ab und begrub jedes Ärgernis zwischen ihnen. 44 Auch wenn das Synodalprotokoll die performativen Akte nicht spezifiziert, mit denen die 1km!ltige Bitte, das ,reine Herz' und das Ende des Zorns zum Ausdruck

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kamen, können wir sicher sein, dass die Rede Tassilos von nonverbaler ,Rhetorik' unterstützt wurde, die seine Sinnesänderung unterstrich. Emotionaler Überschwang begegnet uns später in vielen vergleichbaren Situationen. Wir können daher begründet davon ausgehen, dass die demonstrativ gezeigte Emotionalität auch hier die Funktion hatte, die Glaubwürdigkeit des Sinneswandels zu unterstreichen. Nach seinen demonstrativen Gesten des Einlenkens gestand Tassilo etwas zu, was man für den sachlichen Kern der ganzen Veranstaltung zu halten geneigt ist: Er verzichtete nämlich für sich und seine Kinder auf alle Rechte und Besitzungen in Bayern. Bis heute ist unklar, warum dies von einem Treubrüchigen verlangt wurde, der mit seiner ganzen Familie vermöncht worden war. Das Verhalten seines Gegners bewog Karl den Großen nach dem Protokoll jedenfalls dazu, nun seinerseits Barmherzigkeit und Uneigennützigkeit an den Tag zu legen: Er verzieh Tassilo seine Schuld, schenkte ihm seine Huld wieder uneingeschränkt und nahm ihn in Liebe in sein Erbarmen auf, damit er in Zukunft der Barmherzigkeit Gottes sicher sein könne.45 Man wird annehmen dürfen, dass auch Karl seine gewandelte Haltung in Handlungen wie in Worten zum Ausdruck brachte. Hier wird damit eine Versöhnung inszeniert, die wir am Ende späterer Konflikte in das Ritual der Unterwerfung integriert finden. Im Falle Tassilos lagen sieben Jahre zwischen seinen rituellen Unterwerfungsgesten und den Gesten der Verzeihung und Barmherzigkeit der Gegenseite. Wir wissen nicht, warum nach dem langen Zeitraum diese Demonstration für nötig gehalten wurde. Denkbar sind sowohl politische als auch religiöse Motive, die sich ohnehin nur schwer trennen lassen. Das frühe Beispiel von herrscherlichem Verzeihen und Wiedergewährung der Huld ist aber nicht zuletzt deshalb interessant, weil es in späteren Jahrhunderten zur Voraussetzung und zum festen Bestandteil gütlicher Konfliktbeilegung wurde. Im Falle Tassilos scheint die Tatsache der königlichen Huld das Schicksal des Mönchs nicht erkennbar verändert zu haben; in späteren Fällen bedeutete die Gewährung der Huld jedoch nicht selten zugleich die Reintegration in die frühere Stellung. Sie war so auch politisch höchst folgenreich. Man sieht an solchen Veränderungen Stufen einer Entwicklung, die mit der Tatsache zusammenhängen dürften, dass sich die Position des Adels als Partner des Königtums und als Teilhaber an der Herrschaft seit der Karolingerzeit verfestigte. Dies aber hatte Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Entmachtung und Bestrafung von Gegnern aus dem Adel. Dennoch dürfte die Tatsache, dass im Falle Tassilos mehrfach öffentliche Inszenierungen für nötig und sinnvoll erachtet wurden, wie sie in anderen Fällen nicht bezeugt sind, dafür sprechen, dass nur Mittel und Wege, die eine freiwillige Mitwirkung des Bayernherzogs sug-

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gerierten, eine reibungslose Lösung des Konflikts zu ermöglichen versprachen. Gibt es aber Anhaltspunkte, die die im Falle Tassilos berichteten Verfahren in eine Reihe mit den Ritualen stellen lassen, wie sie bei den Begegnungen der Karolinger mit den Päpsten entwickelt wurden? Trotz aller Unterschiede, die nicht zu übersehen sind, wird man darauf hinweisen dürfen, dass die rituellen Sequenzen in beiden Bereichen interaktiv angelegt sind. Es werden jeweils nonverbale und auch verbale Aussagen gemacht, auf die die andere Seite mit entsprechenden Aussagen antwortet. In dieser Art aufeinander bezogener kommunikativer Akte werden Versprechungen gemacht, Verpflichtungen übernommen, die zukünftiges Verhalten betreffen. Der Unterschied, wenn man so will auch der Fortschritt, besteht nicht zuletzt darin, dass zunächst Bündnispartner auf diese Art kommunizierten, dann auch Gegner. Natürlich wäre es überspitzt zu behaupten, Karl habe im Umgang mit Tassilo direkt von den Erfahrungen profitiert, die sein Vater und er selbst im Umgang mit den Päpsten gemacht hatten. Doch scheint es mir erlaubt, die behandelten Fälle als Zeugnisse eines vielschichtigen Lernprozesses anzusehen, der die Franken befähigte, komplexe Aussagen in rituellen Formen zu tätigen. Vielleicht ist es daher doch kein Überlieferungszufall, wenn wir zunächst hören, dass sich Partner so verständigten und dann erst Gegner.

1/.2.3 Rituelle Ausdrucksformen der Entmachtung Ludwigs des Frommen und seiner Restitution Rituelle Inszenierungen, die denjenigen bei der Entmachtung und dem Sturz Tassilos von Bayern vergleichbar sind, werden gehäuft aus der Zeit Ludwigs des Frommen berichtet. Und hier betrafen sie den Herrscher selbst, der öffentlich seine Fehler und Sünden einzugestehen hatte und dies mit einiger ritueller Dramatik tat. Die Rede ist von der mehrfachen Kirchenbuße Ludwigs, der er sich zunächst freiwillig im Jahre 822, dann aher gezwungenermaßen im Jahre 833 unterzog. Der auf Ludwig ausgeühte Zwang tritt gegenüber der Betonung seiner freiwilligen Mitwirkung jedoch vollständig zurück. Es dokumentiert wohl die gewachsene Bedeu1ung der Großen, dass der fränkische Herrschaftsverband nun in der Lage war, den Herrscher selbst den rituellen Verhaltensmustern zu unterwerfen.46

Ziel der Aktionen war nur beim ersten Mal die Versöhnung mit denjenidenen der Kaiser glaubte Unrecht getan zu haben. Im zweiten Fall sollte der Kaiser herrschaftsunfähig gemacht und zum Eintritt in ein Klos! er veranlasst werden. Nicht nur bei der Entmachtung eines Treuebrüchi~en,

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gen wie bei Tassilo, sondern beim Sturz des Herrschers selbst spielte nun das öffentliche Ritual eine entscheidende Rolle, in dem er selbst einen aktiven Part übernahm und in gleicher Weise wie der Bayernherzog die Freiwilligkeit seiner Entscheidung unterstrich. Zum Jahre 822 werden wir nur unzureichend darüber informiert, in welchen öffentlichen Akten sich die Bußleistungen Ludwigs konkretisierten. Dass es jedoch demonstrative Akte waren, vermittelt der knappe Bericht der Reichsannalen in genügender Deutlichkeit: „Der Kaiser versöhnte sich, nachdem er zuvor mit den Bischöfen und Grafen Rat gehalten hatte, mit seinen Brüdern, die er gegen ihren Willen (zu Mönchen) hatte scheren lassen, und legte sowohl hierüber als über das, was er gegen Bernhard, den Sohn seines Bruders Pippin, und hinsichtlich des Abtes Adalhard und dessen Bruder Wala getan hatte, ein öffentliches Bekenntnis ab und tat deswegen Buße. Dies geschah auf dem Hoftag, den er im August dieses Jahres in Attigny hielt, im Beisein des ganzen Volkes, wo er auch, was er sonst noch dieser Art von ihm oder von seinem Vater begangen finden konnte, mit der größten Demut gutzumachen besorgt war. "47 In allen Einzelheiten werden die Handlungen Ludwigs dagegen im Falle der erzwungenen Kirchenbuße von Soissons geschildert, weil die anwesenden Bischöfe ein Protokoll der Vorgänge unterschrieben. Hierdurch sollte wohl allen Beteiligten die Möglichkeit genommen werden, sich von den Vorgängen später zu distanzieren. Wenn man so will, verließ man sich angesichts der exzeptionellen Situation nicht allein auf das Ritual, sondern bekräftigte die Erinnerung an das Geschehen durch schriftliche Aufzeichnungen und Beglaubigungen. Die detaillierte Darstellung gibt sowohl den verbalen Selbstbezichtigungen Ludwigs wie seinen symbolischen Handlungen breiten Raum: „Herr Ludwig erschien also in der Basilika der heiligen Gottesmutter Maria (d.h. in Soissons), wo die Leiber der heiligen Bekenner Christi Medardus und des sehr verdienstvollen Märtyrers Sebastian ruhen. Vor zahlreichen Priestern, Diakonen und anderen Klerikern sowie seinem Sohn, dem Herrn Lothar, dessen Großen und dem vielen Volk, das in der Kirche Platz fand, warf sich Ludwig auf ein ausgebreitetes Bußgewand vor dem Holzaltar auf den Boden und bekannte vor allen Anwesenden: Das ihm anvertraute Amt habe er sehr unwürdig verwaltet, dabei habe er Gott häufig gekränkt, Christi Kirche habe er Ärgernis erregt und durch seine Gleichgültigkeit das Volk in alle möglichen Gefahren gebracht. Um diese schweren Vergehen zu sühnen, wolle er öffentlich Kirchenbuße leisten, damit Gott sich seiner erbarme und er durch die Amtsgewalt und die Hilfe jener Männer freigesprochen werde, denen Gott die Gewalt zu binden und zu lösen gegeben habe."48 Vorausgegangen waren Verhandlungen mit den Bischöfen, in denen Ludwig auf seine Vergehen hingewiesen und er eindringlich ermahnt wor-

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den war, er solle alle seine Kräfte darauf richten, sein Seelenheil zu retten. Nach Zögern hatte er sich bereit erklärt, alles nach den Ratschlägen der Bischöfe durchführen zu wollen. Es bleibt unklar, wie viel zu diesem Entschluss der freie Wille des Kaisers und sein Sündenbewusstsein beitrug und wie viel Bereitschaft zur Beteiligung durch Androhung von schlimmen Konsequenzen im Falle seiner Weigerung erreicht wurde. In jedem Fall aber hielt man ein Ritual für die angemessene Art und Weise, Ludwigs Bereitschaft zur Befolgung der Ratschläge öffentlich bekannt zu machen. Bei der Durchführung des Bußrituals zeigte Ludwig verbal und nonverbal, wie sehr das Ganze seinen Wünschen entsprach. Die Bischöfe gaben ihm ein Verzeichnis seiner wichtigsten Verfehlungen in die Hand und „er bekannte sich in diesen und für diese Dinge vor Gott, den Priestern und dem ganzen Volk unter Tränen für schuldig, erklärte, in allem gefehlt zu haben, und bat um die Möglichkeit einer öffentlichen Buße, um der Kirche, die er durch seine Sünden beleidigt habe, durch Buße Genugtuung zu geben. Und er bekannte, so wie er ein Ärgernis gewesen sei durch seine große Nachlässigkeit, so wolle er jetzt dadurch ein Beispiel sein, dass er sich einer verdienten Buße unterzöge. Nach diesem Bekenntnis übergab er die Schrift, die eine Aufzeichnung seiner Verfehlungen und seines Geständnisses enthielt, den Priestern zur zukünftigen Erinnerung, und diese legten sie auf dem Altar nieder. Dann löste er seinen Waffengurt und legte auch ihn auf den Altar, entledigte sich auch seines weltlichen Gewandes, wonach er aus der Hand der Bischöfe das Büßergewand empfing. Nach einer so großen und schweren Buße darf niemand mehr zu weltlichem Dienst zurückkehren. "49 Die berichteten kaiserlichen Handlungen sind geprägt durch die gleiche Freiwilligkeit und Intensität einschließlich emotionaler Zeichen wie bei Herzog Tassilo. Das Vertrauen in die Wirkmächtigkeit des Rituals, so kann man folgern, war so groß, dass eine Inszenierung dieses diffizilen Geschehens in der Öffentlichkeit gewagt werden konnte. Man muss sich sicher gewesen sein, dass alle und vor allem Ludwig der Fromme die ihnen zugedachten Rollen spielten. Für die Gestaltung der einzelnen Akte konnte man gewiss auch hier keine direkten Vorbilder nutzen. Daher machte man Anleihen bei der alten Kirchenbuße wie bei den Ritualen der Mönchsprofcss, in denen das Verlassen der Welt gleichfalls durch das Ablegen des Waffengürtels symbolisiert wurde. Man kann aber natürlich auch hier die !!rage stellen, ob nicht auch die Vorgänge von Ponthion zur Vorgeschichte dieser rituellen Handlungen gehören, ob nicht deren Fernwirkung noch spürbar ist. Wenn der Papst selbst sich öffentlich barfüßig und mit Asche auf dem Haupt als Sünder und Büßer zeigte, sich auf den Boden warf und 11111 Hilfe flehte, dann war ein gleiches Verhalten auch für den Kaiser denkbar geworden.

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Der nächste Schritt, Ludwig zum Mönch zu scheren, wie man es im Falle Tassilos praktiziert hatte, schloss sich aus unbekannten Gründen nicht an. Dies ist vielleicht die Ursache dafür, dass wir von einer ganzen Reihe weiterer Rituale hören, die zur Lösung des fortdauernden Konfliktes beitragen sollten. Die Dauer wie die schiere Unlösbarkeit der Krise erzeugte allem Anschein nach eine erhöhte Notwendigkeit, immer wieder in Ritualen den Stand der Dinge zu fixieren, der sich aber immer wieder nur als ein Zwischenstand erwies, denn die Hoffnung auf dauerhafte Lösungen trog. Dies erschütterte aber keineswegs grundsätzlich das Vertrauen in die Verbindlichkeit ritueller Aussagen und deshalb finden wir Rituale in jeder Phase des Konflikts. Der Fall lässt unschwer erkennen, dass auch der Leistungskraft der Rituale in verfahrenen Situationen deutliche Grenzen gesetzt waren. Als es nämlich nach der Kirchenbuße Lothar und den ihn unterstützenden Bischöfen nicht gelang, Ludwig zum Eintritt in den Mönchsstand zu bewegen, als die jüngeren Söhne Ludwigs offensichtlich merkten, dass sie unter der Herrschaft ihres Bruders nicht besser dastünden als unter der des Vaters, als überdies „ein Vatermord drohte", kippte die Stimmung wieder um.5o Der Anhang Ludwigs sammelte und artikulierte sich wieder, bis Lothar den Vater aus seiner Gewalt entließ, mit seinen Anhängern fluchtartig das Feld räumte und sich nach Vienne zurückzog. In der Klosterkirche von St.-Denis wurde der Kaiser daraufhin mit rituellen Akten in seine frühere Würde wieder eingesetzt. Man gab ihm genau das in einem liturgischen Akt zurück, was man ihm in Soissons genommen hatte: die königlichen Gewänder und das cingulum militiae, seine Waffen. Aber nicht nur dies: Mit einer Krönung symbolisierte man zudem den Wiedereintritt in die Herrschaft, den Ludwig auch in seinen Urkunden erinnern ließ, denen er eine neue Devotionsformel einfügte: divina repropitiante clementia. Nithard, selbst Karolinger und Geschichtsschreiber der folgenden Konflikte, schildert die Rituale der Wiedereinsetzung, als ob sie auf spontane Eingebungen des Volkes zurückgingen: „Das zahlreiche Volk aber, welches zugegen war und für den Vater schon gegen Lothar hatte mit Gewalt vorgehen wollen, eilte, als es seinen König wieder hatte, mit den Bischöfen und der ganzen Geistlichkeit in die Kirche von St.-Denis, brachte Gott demütig Lobgesänge dar, setzte seinem König die Krone auf und legte ihm seine Waffen an. Dann traten sie zur Beratung zusammen über das, was sonst noch zu tun nötig schien."5 1 Statt von spontanem Volksempfinden wird man wohl besser davon ausgehen, dass hier von denen, die nun wieder die Macht übernommen hatten, Zeichen gesetzt wurden. Diese sollten die Entscheidung für Ludwig verbindlich machen. Wieder hielt man die rituelle Darbietung für die beste Gewähr, diese Verbindlichkeit zu erzeugen. Wer an den Akten teilnahm,

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hatte sich so wieder unter Ludwigs Herrschaft gestellt. Der unbeschreibliche Jubel des Volkes, den andere Quellen ausdrücklich notieren, zeigte die Zustimmung unmissverständlich an. Damit aber war die rituelle Bewältigung der Vorgänge von Soissons noch keineswegs beendet. Auch mit Lothar, dem Haupt der Kaisergegner, und seinen Anhängern wurde bald ein Ausgleich erzielt, der durch ein Ritual veröffentlicht wurde, das deutlich an die Geschehnisse in Soissons erinnerte. Diesen Vorgang beschreibt Ludwigs Biograph Thegan wie folgt: „Lothar kam dahin, wo sein Vater war. Der Kaiser saß in seinem Zelt, das hoch aufgerichtet war in einem weiten Felde, wo ihn das ganze Heer sehen konnte, und seine getreuen Söhne standen neben ihm. Dahin kam Lothar und warf sich zu Füßen seines Vaters nieder, nach ihm sein Schwiegervater, der furchtsame Hugo. Darauf bekannten auch Matfried und die übrigen alle, welche Anstifter jener Tat gewesen waren, nachdem sie sich von der Erde erhoben hatten, dass sie schwer gefehlt hätten. Dann schwor Lothar seinem Vater Treue, dass er allen seinen Befehlen gehorchen wolle, nach Italien gehen und dort bleiben und nicht von da fortgehen werde ohne Befehl des Vaters. Und der fromme Kaiser gewährte ihnen Verzeihung, wenn sie diesen Eid halten würden. Er ließ ihnen ihr väterliches Erbe und alles, was sie sonst besaßen, außer dem, was er ihnen eigenhändig gegeben hatte. "52 Eine strukturelle Ähnlichkeit dieser Handlungen mit dem, was Ludwig in der Kirche von Soissons bei seiner Kirchenbuße durchgeführt hatte, ist unübersehbar: die Prostration sowie die Selbstbezichtigungen der ,Sünder' bilden in beiden Fällen den Kern des Geschehens. Beides signalisiert ihre Reue und ihren Willen zur Umkehr. Deutlich sind aber auch die Unterschiede zu den Vorgängen in Soissons: Die Leistungen Lothars und seiner Helfer zielen nicht auf das Erbarmen Gottes, sondern auf die Verzeihung des Herrschers. Und im Unterschied zur Kirchenbuße erfolgt hier die Rekonziliation sofort. Besonders hervorzuheben ist aber nicht zuletzt die Nachricht, dass nicht Lothar allein, sondern auch seine hochrangigen Helfer, die teils namentlich genannt werden, aktiv an der gütlichen Beilegung des Konflikts beteiligt waren. Sie fielen zusammen mit dem Kaisersohn zu Füßen Ludwigs und erhielten wie er die Verzeihung des Herrschers. Deutlicher als in Soissons wird in diesem Fall aber auch, wie die gütliche Beilegung des Konflikts zustande gekommen war. Drei Vermittler, einen Bischof, einen Herzog und einen Verwandten, hatte Ludwig zu seinem Sohn Lothar geschickt. Nach anfänglichem Zögern hatte Lothar sie gebeten, „ihm doch für alle Handlungen ihren Rat zu geben". Diese hatten ihm Frieden versprochen, wenn er sich der Barmherzigkeit des Vaters anvertraue.53 Der Ausgang des Konflikts wurde also von den Vermittlern festgelegt und garantiert. Die Barmherzigkeit, d. h. das Verzeihen, wurde so zur

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Verpflichtung des Kaisers. Und die Barmherzigkeit schloss in diesem Falle ein, dass Lothar mit Italien ein angemessenes regnum zugestanden wurde und auch seine Helfer die Erlaubnis erhielten, ihn dorthin zu begleiten. Im Unterschied zum Fall Tassilos hat hier kein Gericht über Lothar und seine Helfer ein Urteil gesprochen; der Konflikt wurde gütlich beigelegt, indem sich die Parteien einem Ritual unterzogen, das Unterwerfung und Schuldbekenntnis mit Verzeihen beantwortete und diesen Kompromiss gewiss dadurch akzeptabler machte, dass keine der Parteien gravierende Einbußen an ihrer Stellung hinnehmen musste. Auf genau diese Lösung aber hatte man sich vorher verständigt, wie man in diesem Fall einigermaßen sicher weiß.54 Wir werden dieses Ritual der deditio in den verschiedensten Varianten durch die Jahrhunderte zu verfolgen haben, weil es seit der Mitte des 9. Jahrhunderts als Musterlösung bei gütlicher Konfliktbeendigung immer wieder Anwendung fand. Mit der Unterwerfung Lothars waren die Inversionsrituale, die die Entmachtung Ludwigs des Frommen annulieren sollten, aber noch immer nicht beendet. Im nächsten Jahr traf man sich vielmehr zu einer großen Reichsversammlung in Metz, die auf einer Versammlung der Bischöfe und Äbte in Diedenhofen sorgfältig vorbereitet worden war. Hier hatte man, gewiss wieder durch das Beispiel von Soissons inspiriert, eine schriftliche Erklärung von allen Teilnehmern verlangt und bekommen, „dass, nachdem durch Gottes Hilfe die Umtriebe jener zuschanden geworden und der Kaiser in die väterlichen Ehren wieder eingesetzt und zu Recht mit der königlichen Würde wieder bekleidet sei, er fortan von allen in treuestem und unbedingtem Gehorsam und Unterordnung als ihr Herr und Kaiser zu achten sei"55. Wie in Soissons hatte zunächst jeder der geistlichen Würdenträger diese Erklärung schriftlich niedergelegt und unterschrieben; dann jedoch war zusätzlich eine gemeiiisame ausführliche Erklärung gleichen Inhalts verfasst und von allen unterschrieben worden. Unter den Unterzeichnern waren gewiss auch solche, die an den Absetzungsaktivitäten in gleicher Weise beteiligt gewesen waren. Erst nach diesen Vorbereitungen aber zog man nach Metz und machte die Entscheidung mittels ritueller Verfahren öffentlich. Sieben Erzbischöfe sangen während der Messe im Stephansdom die Rekonziliationsgebete, dann „nahmen die heiligen und verehrungswürdigen Priester eine Krone, das Sinnbild der Herrschaft, von dem geweihten Altar und setzten sie ihm unter dem größten Jubel aller Anwesenden eigenhändig auf. Und Ebo, der frühere Erzbischof von Reims, der gleichsam der Bannerträger jener Partei gewesen war ( d. h. der Absetzungspartei), bekannte jetzt, indem er auf einen erhöhten Platz in dieser Kirche trat, vor allem Volk freimütig (libera voce), dass dieser Kaiser widerrechtlich abgesetzt und alles, was gegen ihn unternommen worden sei, dem Gesetz und allen Geboten der Gerechtig-

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keit zuwider geschehen sei, und dass nun der Kaiser nach Verdienst und in gerechter und würdiger Weise wieder auf seinen Thron gesetzt sei. "56 Bemerkenswert ist auch hier wieder die willige und aktive Teilnahme eines gegnerischen Protagonisten an dem rituellen Geschehen. Und er erfüllte mit seinem Auftritt eine wichtige Funktion, indem er den Sinneswandel selbst der hartnäckigsten Gegner unter Beweis stellte. Es ist unbekannt, wie man ihn zu diesem aktiven Mitwirken gebracht hat, zu dem er eigens aus seinem Klostergefängnis in Fulda herbeigeholt worden war. Politisch genützt hat es ihm offensichtlich nicht entscheidend, denn eine direkt anschließende Synode brachte ihn dazu, freiwillig auf sein Bistum zu verzichten und sich des Amtes für unwürdig zu erklären. Anschließend wurde er wieder in Fulda inhaftiert. Die Möglichkeiten und der Erfolg solcher Konsensfassaden, deren zwanghafter Charakter verschleiert wurde, resultierten wohl aus dem allgemeinem Bewusstsein, dass man sich Gottes Willen, der letztlich die Geschichte lenkte, nicht verweigern konnte. Daraus entstand wohl die Bereitschaft zu akzeptieren, dass Gott die Entmachtung Ludwigs nicht gebilligt hatte und daher das eigene Tun sündhaft gewesen war. Ein letztes Mal benutzte man im Jahre 839 das Mittel des Rituals, um die Versöhnung zwischen Ludwig und Lothar öffentlich zu demonstrieren. Ludwig hatte Lothar längere Zeit vergeblich aus Italien herbeigerufen, um eine Teilung des Reiches vorzunehmen, die Karl dem Kahlen endlich einen angemessenen Anteil an der Herrschaft bescheren sollte. Lothar hatte sich längere Zeit mit Krankheit entschuldigt und dies war wohl kein Vorwand gewesen. Jedenfalls bemühte man bei der erneuten Begegnung von Vater und ältestem Sohn das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn und inszenierte die Begegnung nach diesem Vorbild: „Demgemäß kamen sie alle, als eine Versammlung nach Worms berufen wurde. Hier warf sich Lothar demütig vor allem Volk zu Füßen des Vaters nieder und sprach: ,Ich weiß, dass ich vor Gott und dir, Herr Vater, gesündigt habe; nicht um ein Reich, sondern um deine Vergebung und Gnade bitte ich.' Ludwig aber als ein frommer und gütiger Vater verzieh dem Flehenden die begangenen Übeltaten und schenkte ihm die erbetene Huld, unter der Bedingung, dass er künftig wider seinen, des Vaters, Willen nichts in irgendwelcher Weise, weder gegen Karl noch das Reich, irgendwo unternehme. Dann hob er ihn gütig vom Boden auf, küsste ihn und dankte Gott für den verlorenen Sohn, welchen seine Hand ihm wieder zugeführt hatte. Darauf gingen sie gemeinschaftlich zum Mahl, indem sie die Beratung dessen, was die Ihren sonst beschworen hatten, auf den nächsten Tag verschoben."57 Wir hören nichts davon, dass neuerliche Vergehen Lothars Fußfall nötig gemacht hätten. Der letzte Satz des Zitats bringt aber deutlich zum Ausdruck, dass die Begegnung detailliert vorbereitet worden war. Mit einiger

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Wahrscheinlichkeit hat man sich dabei auf dieses Ritual der Begegnung geeinigt, das den Willen zur Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen gleich mehrfach zum Ausdruck brachte, nicht zuletzt durch die Geste, zunächst gemeinsam zu speisen und alle Beratungen hintanzustellen. Gerade in der Herrschaftskrise der Zeit Ludwigs des Frommen haben Rituale ihre Funktion als Medium bindender Aussagen wohl voll erfüllt. Da es in fast allen Fällen gänzlich neuartige Situationen waren, die durch rituelles Tun gemeistert wurden, sehen wir auch, wie kreativ man rituelle Handlungen verschiedenster Herkunft zu neuen Sequenzen zusammenführte. Es kann kaum verwundern, dass hierzu Anleihen nicht zuletzt aus dem liturgischen Bereich genommen wurden, da dieser eine Fülle von Gesten und rituellen Handlungen bereitstellte - genannt seien nur die Prostration, der Friedenskuss oder auch die reuevolle Selbstanklage -, deren Bedeutung allgemein bekannt war. Schließlich stellten Frieden und Versöhnung Themen dar, denen auch im liturgischen Zusammenhang große Bedeutung zukam. Auffällig ist gerade bei den behandelten Beispielen aber, welch großer Wert neben den rituellen Darbietungen darauf gelegt wurde, Verpflichtungen und Bekenntnisse auch in schriftlicher Form zu fixieren und sie durch die Unterschriften der Beteiligten beglaubigen zu lassen. Allein auf die Macht der Rituale zu setzen, hat man sich in dieser Krisenzeit offensichtlich nicht getraut.

Il.2.4 Rituelle Interaktion zwischen Karolingern und ihren Vasallen Von Karl dem Großen sind kaum rituelle Interaktionen mit seinen wichtigsten Helfern überliefert. Dies kann Zufall sein, was aber nicht eben wahrscheinlich ist, denn warum sollte die Überlieferung wesentliche Vorgänge einfach ausblenden. Mehr spricht dafür, dass solche Interaktionen noch nicht den Stellenwert hatten, den sie in späteren Jahrhunderten bekamen, als sich Herrscher und Herrschaftsverband in vielfältigen symbolischen Handlungen geradezu ständig über ihr wechselseitiges Verhältnis informierten und vergewisserten. Dies hatte, so kann man zugespitzt formulieren, Karl wohl deshalb noch nicht nötig, weil Adel und Kirche in seiner Zeit noch nicht die partnerschaftliche Stellung zu den Königen erreicht hatten, die nach adäquaten Ausdrucksformen verlangte. Es dauerte mit anderen Worten seine Zeit, bis sich die gewachsene politische Bedeutung der Großen auch in rituellen Akten niederschlug, die diese Bedeutung reflektierten und zum Ausdruck brachten. Wenn unsere Grundannahme von einem Prozess richtig ist, durch den die Fähigkeit zu ritueller Kommunikation verbessert und ihre Anwendungsfelder verbreitert wurden, dann ist es

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nur folgerichtig, dass die Großen ihre angemessene Berücksichtigung und Beteiligung an solcher Kommunikation erst erkämpfen mussten. Sucht man nach einer Begebenheit, die eine aktive Beteiligung fränkischer Großer an rituellem Tun ausweist und somit anders strukturiert ist als die bisher geschilderten Beispiele ritueller Interaktion, die ja die Großen eher als Zuschauer zeigten, so wird man auf relativ späte Ereignisse verwiesen. Ein sehr frühes Zeugnis ist wahrscheinlich der Bündnisschluss zwischen Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen, der sich in den so genannten Straßburger Eiden konkretisierte. Diese Eidesleistung war ein Ritual, das auch die jeweiligen Gefolgsleute einbezog, denn diese schworen gleichfalls einen Eid, der die interessante Passage enthielt, dass alle ihre Herren zur Einhaltung ihrer eidlichen Versprechungen anhalten und sie verlassen würden, falls diese ihr Versprechen brächen.58 Zumindest theoretisch wurden damit die Könige der Aufsicht ihrer Lehns- und Gefolgsleute unterstellt. Ein für das Verhältnis von Königtum und Adel gewiss fundamentaler Vorgang. Und der Gewährsmann Nithard bezeugt sogar, dass die ganze Veranstaltung letztlich auf Initiativen der Vasallen zurückging: „und da wir glauben, dass ihr an unserer beständigen Treue und unveränderlichen brüderlichen Liebe zweifelt, haben wir beschlossen, diesen Eid zwischen uns vor euren Augen zu schwören".59 Es ist daher wenig überraschend, dass wir auch im Umfeld der Straßburger Eide von rituellen Vorgängen hören, die die Funktion hatten, die beabsichtigten politischen Aussagen symbolisch zu verdichten. Nithard erzählt nämlich weiter von demonstrativ-rituellen Handlungen der Könige, mit denen sie vor den Augen ihrer Gefolgsleute nonverbal versicherten, dass sie ihren Schwur einhalten und ihren Verpflichtungen entsprechen würden: „alle die genannten Eigenschaften übertraf der Brüder heilige und verehrungswürdige Einigkeit (concordia). Denn fast immer hielten sie gemeinsam ihre Mahlzeiten und was jeder besaß, das schenkten sie einander in brüderlicher Liebe. In einem Haus aßen und schliefen sie; öffentliche Angelegenheiten betrieben sie mit derselben Übereinstimmung wie ihre privaten, und keiner forderte etwas von dem anderen, von dem er nicht glaubte, dass es auch diesem nützlich und dienlich wäre."60 Zwar ist auch hier zunächst nur von Verhaltensweisen der Könige selbst die Rede, deren Aussagen zwar an die Großen adressiert sind, diese jedoch nicht einbeziehen. Doch ist die Stelle wichtig, da sie verdeutlicht, wie die Eidesleistung von Straßburg in symbolische Handlungen umgesetzt wurde, die den Fortbestand des durch den Eid geschaffenen Zustandes signalisierten. Die Großen waren aber auch aktiv in die symbolischen l landlungen einbezogen, die sozusagen die Straßburger Eide mit Leben l'l'fUllten. Die beiden Herrschaftsverbände veranstalteten nämlich auch Kampfspiele, in denen sie ihren Willen und ihre Fähigkeit zur concordia

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unter Beweis stellten. Nithard kommentiert: „Und es war sehenswert wegen des hohen Sinnes und der Zucht, die dabei herrschte, denn auch nicht einer von dieser so großen Menge und von diesen verschiedenen Völkern wagte, wie es selbst unter Wenigen und unter Bekannten zu geschehen pflegt, einem anderen eine Wunde zu schlagen oder ein Schmähwort zu sagen. "61 Genau darum ging es bei dieser Übung. Obgleich diese wie andere Treffen der fränkischen Könige in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts gut dokumentiert und gut erforscht sind, könnte man der hier ausführlicher vorgestellten Szene nicht viele weitere an die Seite stellen, die demonstrativ-rituelles Handeln unter Einschluss der Vasallen akzentuieren. 62 Karolingische Königsherrschaft hat, so wird man aus diesem Befund folgern dürfen, noch keine ausgeprägte Kultur der rituellen Interaktionen zwischen Herrschern und Vasallen entwickelt und praktiziert, zumindest keine solche, wie wir sie in den nächsten Jahrhunderten beobachten können. Es markiert gewiss schon einen beträchtlichen Fortschritt aus der Sicht der Vasallen, dass sie seit der Mitte des Jahrhunderts mit ihren Eiden die Eide ihrer Herren garantierten und so an einem zentralen Herrschaftsritual aktiv beteiligt waren, doch dauerte es einige Zeit länger, bis sich die erreichte politische Bedeutung der Vasallen auch in einer veränderten rituellen Behandlung durch die Könige niederschlug.

111.2.5 Zusammenfassung Welches Fazit kann man aus den bisherigen Beobachtungen zur Funktion von Ritualen im Rahmen der karolingischen Machtausübung ziehen? Wir haben gesehen, dass an zentralen Punkten der karolingischen Herrschaft rituelle Kommunikationsformen im Vordergrund der Berichte standen: bei den Treffen der Karolinger mit den Päpsten, beim Sturz des Bayernherzogs Tassilo, bei den Versuchen der Entmachtung Ludwigs des Frommen und auch bei der Herstellung von concordia unter Einschluss der Vasallen. In allen Fällen handelt es sich um prekäre, teilweise höchst prekäre Situationen, in denen den geschilderten rituellen Aktivitäten größte Bedeutung zukam. Dass man in der jeweiligen Situation rituelle Akte durchführte, beweist, wie sehr man auf diese Art der Kommunikation, auf ihre Leistungskraft, ihre Verständlichkeit und ihre Verbindlichkeit vertraute, auch wenn man sie hin und wieder mit schriftlichen Festlegungen absicherte. Auf Grund fehlender Überlieferung können wir nicht sagen, inwieweit das Verständnis dieser Rituale der ,großen Politik' durch die Praxis ritueller Kommunikation im alltäglichen Umgang vorbereitet worden war und begleitet wurde. Es ist aber gewiss mehr als eine Vermu-

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tung anzunehmen, dass die erfolgreiche Anwendung der rituellen Akte bei den geschilderten Schlüsselereignissen den Weg zu ihrer Verbreitung und vielfältigen Nutzung in der folgenden Zeit geebnet hat. Auch wenn nicht zu beweisen ist, dass es erstmals ein Papst war, der den Franken zeigte, wie man rituelle Kommunikation zur Veröffentlichung wichtigster politischer Entscheidungen nutzte und wie interaktiv solche Vorgänge angelegt werden konnten, so spricht doch einiges dafür, dass der Auftritt in Ponthion so etwas wie eine Initialzündung war, die den Siegeszug ritueller Kommunikation einleitete oder zumindest beschleunigte. Mit ihr ließ sich Macht in neuer Weise ausüben, indem man etwa Personen wie den Herzog Tassilo, den Erzbischof Ebo von Reims und selbst einen Kaiser wie Ludwig den Frommen dazu brachte, in den Ritualen einen aktiven Part zu übernehmen, sich an ihrer eigenen Entmachtung aktiv zu beteiligen. Sie brachten freiwillig das zum Ausdruck, was die Wirkung des Rituals steigerte oder sogar seine Wirkung ausmachte: ihre Einsicht, Fehler, Versäumnisse, Sünden und Verbrechen begangen zu haben, die ihre Entmachtung rechtfertigten. Durch ihr Mittun gaben sie den Handlungen einen Legitimationsschub, der auf andere Weise wohl kaum zu erreichen war. In keinem der bisher untersuchten Fälle wird etwas darüber gesagt, wie man die Bereitschaft zum Mitwirken derjenigen zustande brachte, die den schwierigen Part des Unterlegenen, Bereuenden, Aufgebenden zu übernehmen hatten. Der Macht der Rituale unterstellten sich aber auch alle anderen Teilnehmer, weil auch sie mit ihren Handlungen etwas zum Ausdruck brachten, was sie für die Zukunft band: Dies konnte ein Versprechen der Hilfeleistung ebenso sein wie die Zusicherung der Verzeihung oder auch einfach nur die Versicherung, weiterhin zu seinen Zusagen zu stehen. Es markiert wohl eine deutliche Stufe der Entwicklung, dass man seit Pont hion Rituale zu interaktiven Kommunikationsakten ausgestalten konnte: In Sequenzen aus Handlungen und verbalen Äußerungen tauschten die Akteure Botschaften aus, deren Sinn die Zuschauer und natürlich auch sie seihst verstanden. Ab einer bestimmten Komplexität konnte so etwas aber nur gelingen, wenn man sich zuvor über den Ablauf der Handlungen versllindigt hatte, wie wir es schon für Ponthion unterstellt haben, an Hand spiiterer Beispiele aber auch konkret belegen können. In den verbindlid1en Abmachungen durch Handlungen liegt nicht zuletzt die Macht, die Rituale bei der Etablierung und Stabilisierung von Ordnung entfalteten.

III. Die Ausbreitung ritueller Verhaltensmuster im 10. und 11. Jahrhundert Während man für Merowinger- und frühe Karolingerzeit die Nachrichten über rituelle Verhaltensmuster wohl noch einigermaßen vollständig auf angemessenem Raum darstellen könnte, wird dies für das endende 9. und erst recht für das 10.Jahrhundert zunehmend schwieriger, wenn nicht unmöglich. Der Grund hierfür ist nicht etwa darin zu suchen, dass die Überlieferung in quantitativer Hinsicht sprunghaft zunähme. Vielmehr schenken die späteren Autoren rituellem Verhalten ungleich mehr Aufmerksamkeit und unterstreichen dadurch seine Bedeutung. Es ist nahe liegend, daraus auf die gewachsene Bedeutung zu schließen, die rituellem Verhalten in der öffentlichen Kommunikation dieser Zeiten zukam. Damit ist noch nicht gesagt, wodurch dieser höhere Bedarf an Ritualen entstand, ein Problem, das jedoch erst zu diskutieren ist, nachdem wir die differenzierte Empirie an Hand einschlägiger Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen behandelt haben.

111.1 Konfliktbeendigung durch rituelle Akte Am Beispiel der Technik, Konflikte durch Unterwerfungsrituale beizulegen, lässt sich wahrscheinlich am besten die zunehmende Verbreitung eines rituellen Verhaltensmusters nachweisen wie auch das ständige Bestreben, das Ritual dem jeweiligen Einzelfall entsprechend zu gestalten. An diesem Exempel lässt sich auch gut demonstrieren, dass im Mittelalter ein Ritual nicht sklavisch wiederholt, sondern auf spezifische Situationen zugeschnitten wurde - und sei es nur durch Änderung von Nuancen.1 Die bewusste Komposition unterschiedlicher Bausteine zu einer Sequenz, die nachweislich in Verhandlungen erarbeitet wurde, verrät, wie viel Bedeutung man Einzelakten zumaß und wie wichtig es häufig für die Akteure war, dass die Durchführung des Rituals sich von anderen Versionen unterschied. Natürlich gab es Standardversionen; aber charakteristischer sind die vielen Einzelfälle, in denen signifikante Details hinzugefügt oder andere weggelassen wurden. Daraus resultiert eine durchaus bewegte Geschichte des Unterwerfungsrituals, dessen Veränderungen sich immer wieder in Beziehung zu Verschiebungen in den politischen Kräfte- und Machtverhältnissen setzen lassen. Seine Feuertaufe hat dieses Ritual bestanden, als das zerrüttete Verhält-

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nis zwischen Ludwig dem Frommen und seinem Sohn Lothar durch die Kombination von Unterwerfung und Verzeihung stabilisiert wurde.z Dadurch, dass der Vater dem Sohn und dessen mächtigem Anhang die Milde und die Verzeihung sicher in Aussicht stellte, wofür sich drei hochrangige Unterhändler verbürgten, machte er diesen den Weg zum Einlenken und zur Unterwerfung frei. Diese wurde vor großer Öffentlichkeit mit einem kollektiven Fußfall vor Ludwig dem Frommen inszeniert, den Ludwig als Genugtuung akzeptierte. Dass dieses Ritual Elemente nutzte, die bei der Kirchenbuße Ludwigs ein Jahr zuvor auch Verwendung gefunden hatten, kann kaum zweifelhaft sein. Rituelle Handlungen der Kirchenbuße dienten also als Bausteine bei der Kreation eines Rituals, das es erlaubte, weltliche Konflikte gütlich beizulegen, indem keine Partei die andere überwältigte, sondern Genugtuung und Verzeihung einander bedingten. Es ist gewiss kein Zufall, dass dieses Ritual später noch mehrfach in der karolingischen Herrscherfamilie selbst bezeugt ist. So beendete etwa auch Ludwig der Deutsche auf diese Weise seine Konflikte mit seinen ,aufständischen' Söhnen.3 Wie viel Vertrauen die Akteure auf der politischen Bühne in die Wirksamkeit solcher Unterwerfungsakte setzten - oder zumindest die Berichterstatter, die solche Akte zum Kern ihrer Darstellung machten-, zeigt ein Bericht der Xantener Annalen: „(873) Ludwig, der östliche König (d.h. der Deutsche), hielt einen Hoftag der Bischöfe und Laien in Frankfurt. Dorthin zogen gegen ihn zwei seiner Söhne voll unbilliger Gedanken, der gleichnamige (Ludwig) und Karl, um eine Gewaltherrschaft aufzurichten, ihre Eide hintanzusetzen, den Vater des Reiches zu berauben und ins Gefängnis zu schicken. Aber ( iott, der gerechte und geduldige Richter, zeigte ebenda öffentlich vor aller Augen ein großes Wunder: Der böse Geist fuhr vor aller Augen in Karl und quälte ihn schrecklich unter misstönenden Lauten. Aber an demselhen Tag wurde er durch die Gebete und Beschwörungen verschiedener Priester ausgetrieben. Bei dem Anblick dieses Schreckens warf sich der ältere Bruder zu Füßen des Vaters, gesteht das schändliche Unternehmen und fordert Verzeihung. Und der Vater legte dies alles klugerweise mit Mlißigung bei."4 In der Logik dieser Geschichte greift der eine Sohn spontan zu dem Verhaltensmuster des Fußfalls, verbunden mit Geständnis und Selbstbezichtigung, aber auch mit der Forderung nach Verzeihung- er macht also l'ine improvisierte deditio -, weil dies ihm in dieser Situation den einzigen Ausweg zu bieten schien, Gottes Zorn zu entgehen. Und mit seiner Hoffnung auf die Milde des Vaters hat er sich nicht verspekuliert. Der Autor bietet den aufsehenerregenden Vorgang, über den auch eine Reihe andern Oucllen in anderer Weise erzählen, ganz nach den Verhaltensmustern, die auch sonst im Mittelpunkt solcher Unterwerfungen stehen.s

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Auch wenn keinesfalls behauptet werden soll, dass sich der Vorgang so abgespielt haben muss, allein dass er so erzählt wird, lässt Rückschlüsse zu: Das rituelle Verhaltensmuster der deditio muss hier schon allgemeiner bekannt gewesen sein und ebenso seine Wirkung, drohende Strafen abwenden zu können. Ob man so etwas erfolgreich ohne Vorabsprachen spontan machen konnte, sei dahingestellt. Der Autor dieser Geschichte vermittelt jedenfalls diesen Eindruck wie andere Autoren vor und nach ihm, die das Ausgehandelte und Inszenierte rituellen Tuns in aller Regel unerwähnt lassen und den Eindruck spontan situationsbezogener Handlungen und Worte erzeugen. Was hier jedoch als Reaktion auf ein Eingreifen Gottes in irdisches Geschehen dargestellt wird, war in vielen anderen Fällen das Ergebnis von Verhandlungen, die Verzeihung gegen Genugtuung sicher in Aussicht stellten. Das Ritual diente jedoch schon bald nicht mehr ausschließlich dazu, Familienzwist in der Herrscherfamilie beizulegen. Von den Vater-Sohn-Konflikten ausgehend, fand es seine Anwendungsfelder schnell auch bei anderen Konflikten in den adligen Herrschaftsverbänden. Bei der Sammlung einschlägiger Fälle zeichnet sich jedoch ein Befund ab, der sich wohl nicht allein Zufällen der Überlieferung verdankt. Die Belege stammen nämlich vorrangig aus dem ostfränkischen und ottonischen Reich. Im Westen scheint es nicht in gleicher Weise dazu gedient zu haben, Konflikte gütlich zu beenden, auch wenn dort keineswegs Mangel an solchen Konflikten herrschte. 6 Es sei auf diese charakteristischen Unterschiede der Entwicklung nur hingewiesen, da bisher nicht erkennbar ist, wie es zu diesen Entwicklungsdifferenzen kam. Dabei ist es einigermaßen verlockend, die Tatsache, dass es im Osten trotz aller Krisen gelang, eine stabile Herrschaftsordnung aufzubauen, während sich die ,Staatlichkeit' des Westens in den Dauerkonflikten des 10. Jahrhunderts 'nahezu vollständig auflöste, mit der Beobachtung in Verbindung zu bringen, dass im Osten neue Wege der Konfliktbeendigung gefunden und allgemein akzeptiert wurden, während dies im Westen anscheinend nicht gelang. Es ist überdies interessant und aufschlussreich, dass gerade die frühesten Belege für eine breitere Anwendung des Unterwerfungsrituals zeigen, wie erkennbar es die Phantasie der Zeitgenossen beschäftigt hat. Dies deshalb, weil das Ritual mehrfach nicht das beabsichtigte Ergebnis erbrachte - das Ende des Konflikts-, sondern Folgekonflikte auslöste, die mit der Hinrichtung der Beteiligten endeten. In zwei spektakulären Fällen zu Ende des 9. und am Anfang des 10.Jahrhunderts scheinen gerade die Verpflichtungen, die man mit dem Akt ritueller Unterwerfung einging, unterschiedlich aufgefasst worden zu sein, wodurch sie Ursache verschärfter Konflikte wurden. In der Erinnerung des St. Galler Konvents hat sich die Geschichte von

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der Beilegung des Konflikts zwischen Bischof Salomo von Konstanz und den schwäbischen Grafen Erchanger und Berthold am Ende des 9. Jahrhunderts erhalten, und in dieser Erinnerung spielt die rituelle Unterwerfung eine herausragende Rolle. König Arnulf hatte zunächst eine gerichtliche Entscheidung des Streits herbeiführen wollen, sich dann aber von Salomo selbst zu einer gütlichen Beendigung der Auseinandersetzung bewegen lassen. Voraussetzung war allerdings, dass die Grafen sich öffentlich vor Salomo demütigten, ehe sie wieder in Amt und Würden eingesetzt wurden. Sie hatten also einen Unterwerfungsakt zu vollziehen, dessen Einzelheiten nicht überliefert sind. Die Selbstdemütigung fungierte hier wie später immer wieder als Genugtuung für zuvor getanes Unrecht.7 Mit dieser Genugtuungsleistung sollte im eigentlichen Sinne des Wortes genug getan sein. Drastisch sind die Geschichten, die man sich in St. Gallen darüber erzählte, wie Bischof Salomo danach die Grafen bis aufs Blut reizte, indem er mit seiner Macht und seinem Reichtum prahlte und die Grafen provozierte.8 Diese Haltung ist eigentlich nur verständlich, wenn er der Meinung war, sie auf Grund der gütlichen Lösung des Konflikts in der Hand zu haben. Er schien davon überzeugt zu sein, dass sie es nie wieder wagen würden, noch einmal einen Konflikt gegen ihn zu eröffnen. Und das ließ er sie spüren. In der Tat ist auch in anderen Fällen bezeugt, dass ein gütliches Ende des Konfliktes durch Unterwerfung nicht mehrfach, sondern nur einmal zu erreichen war.9 Mit seinem Verhalten überspannte Bischof Salomo jedoch den Bogen. Und die mündliche Tradition schmückte wohl aus, dass letztendlich die Grafen die Nerven verloren und aufs Ärgste gereizt Salomo angeblich zu einer Variante des Rituals zwangen, das sie selbst hatten durchführen müssen. Ausgerechnet Schweinehirten benutzten sie dazu, nachdem sie den Bischof gefangen genommen hatten. Diesen hatte Salomo auf Anweisung der Grafen zu Füßen zu fallen und ihnen sogar die Füße zu lecken, damit die Schweinehirten für ihn um Gnade bei den Grafen baten, so wie die Grafen zuvor den Bischof fußfällig hatten bitten müssen, für sie um Gnade beim König zu flehen.10 Genau daran hatte sie Salomo überheblich erinnert, worauf die Grafen ihn auf die geschilderte Weise demütigten. Die Macht der Rituale wird in der Logik dieser Geschichte besonders evident: Wer sich mittels eines Unterwerfungsrituals gütlich mit seinem omkirche und übergab sie dort dem Hauptaltar. Überdies bestimmte er, dass dieser Tag der Translation zukünftig als Festtag begangen werden ~ollte. 129 Neben der Magdeburger Überlieferung berichtet Thietmar von Merseburg knapp über dieses Ereignis und nennt auch einen Grund für

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die königliche Handlung: König Heinrich „begab sich nach Magdeburg, wo er zum hl. Mauritius betete um Fürsprache bei Gott und Glück für seinen Zug"130. Damit könnte der Grund für die außergewöhnliche Handlung des Königs genannt sein, deren spektakulären Charakter Thietmar gar nicht erwähnt: Der angesichts eines Gegenkönigs gefahrvolle Heereszug nach Italien, der sich an die Magdeburger Handlungen anschloss, hätte den Herrscher veranlasst, um Gottes Hilfe in besonders ausdrucksstarker Weise zu flehen, indem er die Gebeine des heiligen Mauritius demütig verehrte und durch eine Stiftung für die memoria dieser Handlung sorgte. Aber auch eine gänzlich andere Interpretation ist jüngst erwogen worden: Da die Translation 30 Tage nach dem Tode des Magdeburger Erzbischofs Giselher geschah, nahm man einen Zusammenhang mit diesem Ereignis an und vermutete, König Heinrich habe ein Bußritual durchgeführt, um den Erzbischof um Verzeihung zu bitten. Diesen hatte er nämlich kurz vor dessen Tod massiv unter Druck gesetzt, als er ihn zu veranlassen suchte, seinen Magdeburger Sitz aufzugeben und auf seinen ursprünglichen Merseburger Bischofsstuhl zurückzukehren.131 Die erste Deutung ist gewiss dieser zweiten vorzuziehen, da es für den Herrscher keinerlei Grund gab, sich bei Giselher zu entschuldigen. Hatte er doch lediglich das kirchenrechtliche Gravamen der Aufhebung des Bistums Merseburg zu korrigieren versucht, wie es auch sein Vorgänger und die mit dem Problem beschäftigten Synoden und Päpste getan hatten. Aber auch Thietmars Deutung lässt Fragen offen, denn angesichts einer Unzahl von Italienzügen fällt ins Auge, dass Herrscher sonst nie in derart eindringlicher Weise einen Heiligen um Hilfe anriefen. Überdies könnte die Tatsache, dass Heinrich sich in der bitteren Kälte zur Barfüßigkeit erniedrigte, darauf hindeuten, dass er für etwas Konkretes Buße tun wollte und nicht nur allgemein seine Sündhaftigkeit unterstrich. In aller Vorsicht könnte man daher noch eine dritte Möglichkeit erwägen, die eine Veranlassung für die königliche Handlungsweise darstellen könnte. Neun Monate zuvor hatte Heinrich II. nämlich das Osterfest in Quedlinburg gefeiert und hier etwas geradezu Ungeheuerliches getan: „Er empfing in Gnaden Gesandte der Redarier und Liutizen, befriedigte die bisher Aufsässigen durch äußerst freundliche Geschenke und gefällige Zusicherungen und gewann dadurch alte Feinde zu engen Bundesgenossen. "132 Heinrich hatte ein Bündnis mit den heidnischen Todfeinden der Sachsen gegen die christlichen Polen geschlossen. Dies rief bei den Sachsen heftigste Empörung hervor, von der nicht nur Thietmar von Merseburg beredt Zeugnis gibt, der das Bündnis als sündhaft charakterisiert.133 Auch dieses Bündnis und die Aufregung, die es in Sachsen nachweislich hervorrief, könnte dem König wohl Anlass gegeben haben, den sächsischen Hauptheiligen wenig später demonstrativ zu ehren und ihn durch Bußleistungen zu versöhnen.

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An diesem Beispiel lassen sich methodische Probleme bei der Interpretation von symbolischen Akten sehr gut verdeutlichen: Eine symbolische Handlung wie das barfüßige Tragen von Reliquien eines Heiligen durch den Herrscher war zunächst mehr- oder vieldeutig. Erst durch den Kontext, in dem diese symbolische Handlung geschah, ergeben sich Kriterien, die den tieferen Sinn dieser Handlung erkennen lassen. Je mehr also vom Kontext bekannt ist, desto besser die Verständnismöglichkeiten. Da im Falle der Magdeburger Aktivitäten Heinrichs II. von der Überlieferung kein Einblick in den Kontext gewährt wird, bleiben verschiedene Möglichkeiten der Interpretation, die mehr oder weniger plausibel sind. Eine methodisch oder sachlich begründete Entscheidung für die eine oder die andere Lösung kann jedoch kaum mit der nötigen Sicherheit gefällt werden. Vielleicht haben sogar schon diejenigen, die diese herrscherliche Handlung konzipierten, die Deutungsmöglichkeiten bewusst offen gehalten. So konnten sich die Sachsen durch diese Demonstration davon überzeugen, dass sich der neue Herrscher von niemandem in der Verehrung des heiligen Mauritius übertreffen ließ. Dies konnte man als eine implizite Distanzierung von dem Heidenbündnis verstehen, das Heinrich allerdings aufrechterhielt. Und eine explizite Selbstkritik an seinen politischen Entscheidungen hatte er damit nicht geübt, da der Zusammenhang mit dem Bündnis allenfalls für die Wissenden gegeben war und leicht geleugnet werden konnte. Genau in dieser Möglichkeit zu unterschiedlicher Deutung liegt aber nicht zuletzt die besondere Leistungskraft rituellen Verhaltens, weil so in strittigen Fällen Konsensfassaden errichtet werden konnten, die es allen Beteiligten ermöglichten, sich mit dem Gezeigten zufrieden zu geben, weil sie es jeweils in ihrem Sinne deuten konnten.134 Vom ersten salischen Herrscher, Konrad II„ sind keine demonstrativen Selbsterniedrigungen vor den himmlischen Mächten überliefert, was aber nicht dazu verleiten sollte, das Klischee vom „vollsaftigen Laien" aufzufrischen, denn Konrad machte durchaus auf demonstrative Weise klar, dass auch er dem theokratischen Amtsverständnis seiner Vorgänger verpflichtet war.135 Expressive symbolische Handlungen, die in unseren Zusammenhang gehllren, sind dann aber von Heinrich III. mehrfach bezeugt, dessen besondere Sensibilität in religiösen Fragen neuerdings thematisiert worden ist. 1 "• Anlässlich des Begräbnisses seiner Mutter Gisela intensivierte er ein Verhalten, das schon Otto der Große bei der Beendigung des Konflikts mit seiner Mutter Mathilde gezeigt hatte.137 Auch bei Heinrich III. war ein Konflikt mit der Mutter vorausgegangen, von dem nicht bekannt ist, ob er 111 ihren Lebzeiten beigelegt worden war. Der König tat jedenfalls beim lkgrllhnis der Mutter öffentlich Buße, indem er sein Purpurgewand ab-

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und ein Büßergewand anlegte. Er ging überdies barfuß und warf sich mit kreuzförmig ausgestreckten Armen vor dem ganzen Volk auf den Boden und vergoss Tränen, was wiederum alle Anwesenden zu Tränen rührte.138 Durch diese Bußleistungen habe er, schreibt Abt Bern von der Reichenau in einem Brief an den König selbst, den Priestern Gottes Genugtuung geleistet und die Barmherzigkeit Gottes erlangt.139 Heinrich hatte die Trauerfeier mit einem Bußritual intensiviert. Diese freiwillige öffentliche Leistung mit allen Attributen des büßenden Sünders tat dem Prestige des Herrschers ganz offensichtlich keinerlei Abbruch, im Gegenteil. Sie war Ausweis seiner humilitas und seiner Fähigkeit zu Reue und Buße, die er unaufgefordert nachwies, weil ihm die Rechtfertigung vor Gott entscheidender Antrieb seiner Handlungen war oder er sie als entscheidend darstellen wollte. Nicht anders verhielt sich Heinrich III„ als ihm 1044 ein großer Sieg über die Ungarn gelang, in deren Thronkämpfe er mehrfach eingegriffen hatte. Die Siegesfeier des Heeres wurde nicht nur, wie es durchaus üblich war, zu einer Dankesfeier für die göttliche Hilfe ausgestaltet.140 Vielmehr warf sich der König barfuß und im härenen Gewand vor einer Reliquie des hl. Kreuzes auf den Boden und das ganze Heer tat es ihm nach. Man stimmte das ,Kyrie eleison' an und verzieh sich gegenseitig alle Vergehen und gab sich Frieden.1 41 Doch damit nicht genug: Als man dann den rechtmäßigen ungarischen König Peter wieder in sein Amt einsetzte, suchte auch dieser mit einem Büßergewand bekleidet und barfuß die Kirchen Stuhlweißenburgs auf und stiftete kostbare Tücher für alle Altäre.1 42 Wenige Wochen später wiederholte dies Heinrich III„ nach Regensburg zurückgekehrt, als er barfuß und im härenen Gewand durch alle Kirchen Regensburgs zog und die dortigen Altäre mit kostbaren Decken versah. Die Öffentlichkeit dieses Vorgangs betont der Chronist, indem er anfügt, dass noch nie in dieser Stadt das Frohlocken des Volkes wie der Fürsten größer gewesen sei.143 Die demonstrative Betonung der eigenen Sündhaftigkeit und die aus diesem Bewusstsein resultierende Bereitschaft zu Verzeihung und Vergebung überraschen als rituelle Handlungen nach einem Schlachtensieg. Dank an Gott für die gewährte Hilfe, so hat man noch kürzlich zu bedenken gegeben, sei zu erwarten, aber warum die betonte Haltung des Büßers?l44 Auch hier ist die Mehrdeutigkeit der Vorgänge zur Zeit kaum stringent aufzulösen, selbst wenn man den langen Brief Berns von der Reichenau nutzt, in dem genau diese königlichen Handlungsweisen kommentiert und reflektiert werden. War David, der als einziger König im Alten Testament Buße tat, das Vorbild, oder wurde die Tötung von Feinden als bußwürdige Tat gewertet, oder aber kann der von Gott gewährte Sieg angesichts der eigenen Sünden nur in solcher Demut entgegenge-

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nommen werden? Wir können auf diese Fragen bisher keine schlüssigen Antworten geben. Angesichts des Gewichts der demonstrativen Bezeugungen von Reue und der Bereitschaft zu vergeben, wie sie in Heinrichs III. Verhalten fassbar werden, wirkt es aber wie ein Kontrapunkt, dass dieser Herrscher, vielleicht bei seiner Kaiserkrönung, jedenfalls aber am Grabe des hl. Petrus, den Herzog Gottfried von Niederlothringen ausdrücklich von der Verzeihung ausnahm, die er dort demonstrativ allen anderen Schuldnern gewährte.145 Damit war gewiss keine religiöse, sondern eine politische Botschaft beabsichtigt: Dieser Herzog habe so viel Schuld auf sich geladen, dass ihm nicht vergeben werden könne. Theologisch war solch eine Verhärtung kaum zu begründen. In dieser eigenartigen Handlung, von der wir nur in einem Satz hören und deren genaue rituelle Ausgestaltung wir daher nicht kennen, siegte augenscheinlich das irdische Rechts- und Machtbewusstsein über die christliche clementia und misericordia und über die Vorstellung von der eigenen Sündhaftigkeit, die Heinrich III. ansonsten so eindringlich in performative Akte umzusetzen verstand. Das Beispiel illustriert besonders eindringlich, wie bewusst rituelle Handlungen konzipiert wurden. Der Kaiser nutzte sicher gezielt die italienische Bühne für diesen demonstrativen Akt, weil ihm Gottfried durch seine Heirat mit der Markgräfin Beatrix von Tuszien in Italien besondere Probleme bereitet hatte.1 46 Zugleich warnt dieser Fall vor einer Deutung der rituellen Handlungen Heinrichs III., die allein die religiöse Motivierung seiner Handlungen thematisiert: Als imitatio Christi lässt sich Heinrichs Verhalten gegenüber Herzog Gottfried nicht verstehen.1 47 Die expressiven rituellen Ausdrucksformen königlichen Sünden- und Demutsbewusstseins fanden nach dem Tode Heinrichs III. keine kontinuierliche Fortsetzung. Von seinem gleichnamigen Sohn ist nur eine BarfußSzcne überliefert, bei der es sich um eine der berühmtesten, wenn nicht die berühmteste Szene aus dem Mittelalter handelt: das dreitägige barfü1.ligc Stehen im Innenhof der Burg Canossa.1 4s Bis heute ist nicht geklärt, t 1b diese ,Leistung' des Königs verordnet war oder ausschließlich seiner eigenen Initiative entsprang. Zentrale Quellen widersprechen in dieser h·age einander diametral: Lampert von Hersfeld erscheint die Genugtuung verordnet; Gregor VII. stellt sie in einem Brief als eigenmächtigen Vorstoß des Königs dar. Dass sie die Genugtuungsleistung darstellen solllc, mit der er seine Bereitschaft zu Buße und Umkehr unter Beweis stellte, 11111 wieder in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen zu werden, isl dagegen kaum zweifelhaft. Als rituelle Handlung stand sie ganz gewiss in der Tradition der vielen verordneten oder freiwilligen Selbsterniedrigungen der Könige, die gerade behandelt worden sind. Zugleich aber bekam sie nun eine neue symbolische Dimension, als

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durch die Geschehnisse von Canossa die Barfüßigkeit des Königs mit der Anerkennung einer päpstlichen Urteilsgewalt verknüpft worden war. Aus dieser Anerkennung folgte der höhere Rang der geistlichen Gewalt einigermaßen zwingend. Es wäre also kaum verwunderlich, wenn durch das Ringen um die ,rechte Ordnung von Kirche und Welt' die Barfüßigkeit als Zeichen königlicher Demut und Sündhaftigkeit nicht mehr unbefangen hätte benützt werden können, weil sie nun mit Bedeutungen belegt werden konnte, die eine Unterordnung unter den Papst signalisierten. 149 Nicht zufällig erwähnen verschiedene Quellen, dass Unterhändler des gebannten Heinrichs V. bei den Verhandlungen mit der päpstlichen Seite 1119 es als unerträglich ansahen, dass der Kaiser bei seiner Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen barfüßig auftreten sollte. Die Verhandlungen scheiterten zunächst, vielleicht genau an diesem Problem. Als dann 1122 die Wiederaufnahme mit dem Wormser Konkordat vollzogen wurde, fehlt jeder Hinweis auf einen öffentlichen Akt, der irgendeine Form der Selbsterniedrigung des Herrschers gezeigt hätte.ISO Es gibt in der Tat nach Canossa nur noch ganz vereinzelte Beispiele, in denen Herrscher des Reiches die rit!-Jelle Ausdrucksform der Barfüßigkeit benutzten. Eines stammt interessanterweise von dem eben genannten Heinrich V. selbst und es gehört in einen sehr signifikanten Kontext. Als dieser sich 1105 gegen seinen Vater erhob und diesen aus der Herrschaft verdrängte, zog er barfuß von Gernrode nach Quedlinburg, um dort am Osterfest mit den Sachsen über deren Beteiligung an seinem Vorhaben zu verhandeln. 151 Es fällt nicht leicht, die Botschaft zu formulieren, die er mit diesem Tun an die Sachsen und an die Welt richtete. Tat er vorweg Buße für die Sündhaftigkeit seiner Erhebung gegen den Vater, dem er immerhin einen Eid geleistet hatte, ihm niemals die Herrschaft streitig zu machen? Signalisierte er den Sachsen und der Kirche, dass er, anders als sein Vater, die alten Zeichen des christomimetischen Königtums wieder ernst nehmen und die damit signalisierten Verpflichtungshorizonte erfüllen wolle: vor der exaltatio die humiliatio? Wir können die Mehrdeutigkeit des Signals heute kaum auflösen, da keine zeitgenössischen Anhaltspunkte überliefert sind. Die Sachsen haben Heinrich V. jedenfalls gegen seinen Vater unterstützt, das Zeichen hat also seine Funktion nicht verfehlt. Ein zweites Beispiel stammt von dem Sachsen, der Heinrich V. lange bekämpft und schließlich als ,treuer Sohn der Kirche' selbst die Königs- und Kaiserwürde erlangt hatte: von Lothar von Supplinburg. Er ging 1137 anlässlich seines Besuches im Kloster Monte Cassino mit entblößten Füßen durch alle Kapellen des Klosters, so behauptet es zumindest die Klostergeschichtsschreibung.152 Ob dies als Akt ,privater Frömmigkeit' oder als eine öffentliche Demonstration gedacht war, lässt sich angesichts der knappen

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Bemerkung des Chronisten nicht entscheiden. Über die bewusste Handhabung anderer Zeichen durch Lothar von Supplinburg wird später zu handeln sein.153 Man muss dann aber schon bis fast ans Ende der Stauferzeit gehen, um einen weiteren Fall kaiserlicher Barfüßigkeit zu entdecken, denn dass Friedrich Barbarossa sich bei seiner Versöhnung mit Papst Alexander III. in Venedig 1177 unbeschuht gezeigt habe, wie es eine lothringische Quelle behauptet, scheint angesichts detaillierter Nachrichten mehrerer Augenzeugen doch eine Reminiszenz an ältere Praktiken, die kaum der Realität entsprach.154 Friedrich II. hat dagegen dieses Zeichen benutzt, als er sich 1236 an der elevatio der Gebeine der hl. Elisabeth in Marburg beteiligte.155 Barfuß und in der Kutte der Zisterzienser half er den Sarg aus dem Grabe zu heben, um dann allerdings der Heiligen eine königliche Aura zu geben. Er setzte ihr nämlich eine goldene Krone aufs Haupt und legte einen goldenen Becher in den Sarg. Solche Belege, die durch einige andere aus verschiedenen Ländern ergänzt werden könnten, deuten jedoch nicht darauf hin, dass die Traditionen des 10. und 11.Jahrhunderts ungebrochen fortgelebt hätten. Wir können vielmehr begründet davon ausgehen, dass die Zeichen der Selbsterniedrigung, mit denen das ottonische und salische Königtum seine Befähigung zur Herrschaft rituell unter Beweis gestellt hatte, keine Dauer in der Zeit gewannen. Viel spricht dafür, dass die eindringliche Symbolik von Canossa dafür verantwortlich war, später gerade von dem Zeichen der Barfüßigkeit Abstand zu nehmen. Zu nachhaltig signalisierte es die Unterordnung unter die päpstliche Binde- und Lösegewalt, um es noch wie zuvor unbefangen als Zeichen für eine humiliatio gegenüber Gott zu benutzen. Doch ist das Verschwinden von königlicher Barfüßigkeit und königlichen Fußfällen nicht das einzige Indiz dafür, dass Canossa für die rituellen Ausdrucksmöglichkeiten der Könige nicht ohne Folgen blieb. Wir werden später noch zeigen, wie schwierig es war, nach Canossa neue und beiderseits akzeptierte Zeichen für das Verhältnis der Könige zur Kirche und namentlich zu den Päpsten zu etablieren.J56

111.3.2 Demonstrative Selbsterniedrigung in der politischen Auseinandersetzung Es markiert gewiss einen gewaltigen Unterschied, ob sich ein König vor och auch hier waren die rituellen Sequenzen, in die sie eingebettet wurdl'n, alles andere als konstant. Als ein Beispiel für eine erstaunliche Konti1111ililt sei abschließend aber das Ritual der Konfliktbeendigung durch Un-

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Ausblicke ins Spätmittelalter

terwerfung ausgewählt, das allen Veränderungen in Herrschaftsauffassung und Herrschaftspraxis zum Trotz seinen Platz als angemessene Form der Beendigung bestimmter Konflikte nicht verlor. Zwar wurde auch hier der Veränderungsdruck bereits betont, dem es ausgesetzt war, doch führte dieser Druck bezeichnenderweise nicht dazu, dass es nicht noch bis in die frühe Neuzeit hinein in genau den Funktionen und mit genau den Akzenten benutzt wurde wie im frühen und hohen Mittelalter. Die Forschungslage erlaubt zurzeit wohl keinen Überblick darüber, wie häufig es noch Verwendung fand, doch hat es nicht den Anschein, dass seine Verwendung die Ausnahme darstellte.32 Auch bedarf es natürlich der Einzelanalysen um festzustellen, welche verändernden Einflüsse die jeweiligen Kontexte ausübten. Der grundsätzliche Eindruck einer relativen Konstanz der Funktionen dürfte jedoch nicht falsch sein. Eine ganze Welle solcher Unterwerfungsrituale beobachtet man sogar noch einmal in einer spezifischen Situation am Beginn der frühen Neuzeit und findet in diesem Zusammenhang auch viele der Eigenarten wieder, die schon mittelalterliche deditiones auszeichneten - und einige neue dazu.33 Als sich Kaiser Karl V. nämlich gegen den Schmalkaldischen Bund der protestantischen Fürsten und Städte militärisch durchgesetzt hatte, standen vor der Wiedererlangung der kaiserlichen Huld Unterwerfungsakte, bei denen die Fürsten persönlich und die Städte durch ihre Bürgermeister den Kaiser mittels Fußfall um Vergebung baten. Aufzug und Kleidung der sich Unterwerfenden wie ihr vorgeschriebener Habitus glichen den mittelalterlichen Vorgängern so genau wie das rituelle Verhalten des Kaisers. Beides war denn auch, wie gut bezeugt ist, Gegenstand intensiver Verhandlungen und Vorabsprachen gewesen, die genaue Anweisungen an die sich Unterwerfenden zum Ergebnis hatten, während sich der Kaiser bestimmte Optionen offen hielt. So wussten die auf dem Boden Liegenden etwa nicht, wann die kaiserliche Aufforderung kommen würde, die Augen und sich selbst zu erheben. Ihnen war nur befohlen worden, so lange auf dem Boden liegen zu bleiben, bis ihnen durch ein kaiserliches Zeichen etwas anderes bedeutet würde. Es sei nur an einem Beispiel verdeutlicht, dass hierbei ähnliche Regeln galten und sich vergleichbare Probleme ergeben konnten wie in früheren Jahrhunderten. Unabgesprochen und nur durch die Hilfe eines Fürsprechers geschützt, erschien der Herzog Wilhelm von Kleve 1543 nach seiner militärischen Niederlage vor Kaiser Karl V. Er warf sich ihm in schwarzer Trauerkleidung zu Füßen, während der Kanzler Granvella für ihn um Gnade bat. Dies blieb vergebens, weil es nicht abgesprochen war und der Kaiser sich nicht nötigen lassen wollte. Er und die Zeitgenossen wussten sehr wohl, dass in dieser Situation schon ein Aufheben als Gnadenerweis verstanden worden wäre, der zukünftige Regelungen präjudiziert hätte.3 4

Unterwerfungsrituale im Spätmittelalter

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Dies alles wirkt noch sehr mittelalterlich. Eine gänzlich neue Dimension gewannen diese Unterwerfungsrituale aber durch die Tatsache, dass manche Protestanten das Knien vor einem gottlosen Herrscher als Idolatrie ansahen und damit als Sünde deklarierten. Hierdurch kamen ihre Anhänger bei solchen Unterwerfungen in schwere Gewissensnöte, die auch nicht dadurch zu beheben waren, dass man den Ausweg der dissimulatio wählte, also im Herzen anders dachte, als es die äußeren Zeichen zum Ausdruck brachten. Die Forderung nach Authentizität des Gezeigten aber brachte ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem ,leeren Schein' rituellen Verhaltens zum Ausdruck, die seither immer wieder gegen diese Art der Kommunikation erhoben wurde und bis heute wird. Für die Unterwerfungsrituale trug diese Einstellung wohl dazu bei, dass diese als demonstrative Formen der Konfliktbeendigung zurücktraten.35 Im Spätmittelalter dagegen praktizierten Kaiser und Könige die Konfliktbeendigung mittels des Rituals der Unterwerfung zwar vielleicht nicht mehr in der Dichte, in der sie in den früheren Jahrhunderten bezeugt ist, doch immerhin noch so häufig, dass man von einer allgemeinen Kenntnis dieses Rituals ausgehen kann. Eine ganze Reihe von Fällen bezeugt, dass dieses Ritual noch in der gleichen Weise vorbereitet wurde, die gleichen Einzelakte wichtig waren und ihm die gleiche Funktion zukam wie in den früheren Jahrhunderten. Noch immer sprach man seine Durchführung ab, noch immer war ein Fußfall der zentrale Akt, noch immer hatte der sich Unterwerfende in Büßerkleidung anzutreten, und noch immer war die Schonung und Milde charakteristisch für die Reaktion der ,Sieger', auch wenn sich diese in den unterschiedlichsten Weisen dieser Verpflichtung zu entziehen versuchten. Gleichfalls zahlreich waren denn auch die Variationen, mit denen man spezielle Botschaften übermittelte. Eine solche benutzte Kaiser Sigismund im Jahre 1414 auf dem Konstant.er Konzil, als er sich von Fürsprechern dazu bewegen ließ, den in Ungnade gefallenen und in der Folge geächteten Herzog Friedrich von Österreich wieder in seine Huld aufzunehmen. Der Herzog wurde mit seinen Vermittlern zum Kaiser bestellt, um den Unterwerfungsakt durchzuführen. Dazu hatte Sigismund die Gesandten der am Konzil Beteiligten in 1·inem Raum versammelt, damit diesem Akt die nötige und für den Her1.0).!. sicher demütigende Öffentlichkeit zuteil würde. Sigismund ließ aber Uherdies den Herzog und seine Vermittler durch eine Tür eintreten, der er selbst den Rücken zuwandte, während die Gesandten sie im Blick hatten. So wurden diese Zeugen der Szene, wie der Herzog und die Vermittler sich immer wieder niederkniend dem Kaiser näherten, der diesen Vorgang Nrheinhar gar nicht bemerkte. Erst als sie ihn mit ihrem ,Bußgang' erreicht hutten, wandte er sich um und nahm Herzog Friedrich wieder in seine l luld auf. Man geht kaum fehl in der Annahme, dass dieses Arrangement

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Ausblicke ins Spätmittelalter

vom Kaiser bewusst getroffen wurde, um die Genugtuungsleistung des Herzogs um einen demütigenden Akzent zu bereichern.36 Schriftliche und bildliche Zeugnisse liegen aus dem Jahre 1311 vor, als sich die Städte Cremona und Brescia Kaiser Heinrich VII. auf dessen Romzug unterwarfen, was in der Bilderhandschrift des Erzbischofs Balduin von Trier plastisch und mit Interesse für rituelle Details dargestellt ist. Bei der Unterwerfung hatten die Bürger Stricke um den Hals, die sie dem Kaiser darboten als Zeichen für die Strafe, die sie eigentlich verdient hätten.37 Mit diesen und anderen auf die verdienten Strafen weisenden Gegenständen wie Schwertern und Ruten waren in den Jahrhunderten zuvor die Bürger anderer italienischer Städte zur Unterwerfung vor die Kaiser und Könige gezogen.38 Heinrich VII. verweigerte sich in Cremona zunächst den Ritualen der Unterwerfung, indem er die ihm angebotenen Stadtschlüssel nicht annahm. Sie wurden vielmehr der Königin übergeben, die dann als Fürsprecherin die Modalitäten der Unterwerfung beeinflusste und die Abmilderung der geplanten harten Bestrafung der Stadt erreichte. In halb Europa zur Kenntnis genommen wurde die Unterwerfung der Stadt Calais unter den englischen König Eduard III., die im Jahre 1347 eines der vielen bemerkenswerten Ereignisse des Hundertjährigen Krieges darstellt.39 Im Gedächtnis der Nachwelt blieb sie wohl auch deshalb besonders präsent, weil eine rege Mythenbildung dem englischen König den Versuch einer Abweichung von allen bis dahin bekannten Regeln der deditiones attestierte. Er wollte nämlich angeblich sechs Bürger von Calais hinrichten lassen, um den langen Widerstand der Stadt zu bestrafen und weil er bei der Belagerung viele eigene Leute verloren hatte. Freiwillig hätten sich daraufhin sechs Bürger bereit erklärt, für das Wohl der anderen in den Tod zu gehen. Erst die konzertierte Intervention seiner Ratgeber und auch hier vor allem der Königin hätten diesen Racheakt verhindert. Eduard habe schließlich seiner Gemahlin diese Bürger übergeben, indem er die Stricke fasste, die diese um den Hals trugen, und sie ihr so überantwortete.4o Diese Dramatisierung und Fiktionalisierung der Vorgänge beweist zugleich, wie bekannt die gängigen Regeln immer noch waren, die bei solchen Belagerungen und Übergaben zur Anwendung zu kommen hatten. Es gab den Anspruch auf Milde nach der Unterwerfung, den Fürsprecher zur Geltung brachten, zur Not die eigene Gemahlin desjenigen, der diese Regeln brechen wollte.41 Ganz ähnliche Regeln werden auch in dem Verhalten deutlich, das Freiherr Johann Werner von Zimmern und seine Partei an den Tag legten, um 1489 aus der Reichsacht gelöst zu werden. 42 Die Zimmer'sche Chronik bietet reiches Material zu diesem und anderen Fällen, in denen die Unterwerfung als Mittel der Konfliktbeendigung nach allen Regeln der Kunst benutzt und auch instrumentalisiert wurde. Im Falle Werners baten die

Unterwerfungsrituale im Spätmittelalter

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Kurfürsten zunächst bei Kaiser Friedrich III. um Gnade für den Geächteten, erreichten jedoch nur die „verdunkelte" Antwort, der Kaiser werde nachdenken. Dann aber erhielten sie vom Sohn des Herrschers, Maximilian, die Zusage, er wolle ihnen „als ain güetiger könig ( ... ) ein verhöretag" zugestehen. Damit war offensichtlich der Durchbruch erreicht und das weitere Procedere klar: Werner und seine Gemahlin kamen in ärmlicher Kleidung bzw. in schwarzem Gewand zu dem Termin und warfen sich Maximilian zu Füßen. Interessanterweise warf sich mit ihnen auch ein Rechtsgelehrter in Zimmer'schen Diensten zu Boden, der dann vor Maximilian gegen das verhängte Strafmaß argumentierte und dabei in Maßen erfolgreich war, denn Maximilian hob die Sache einstweilen auf und vertröstete die Versammlung auf eine zukünftige „erörterung". Selbst Bischöfe griffen im Spätmittelalter zum Mittel der fußfälligen Unterwerfung, um Konflikte mit den Königen zu beenden. So tat dies im Jahre 1293 Bischof Konrad von Straßburg, der sich zusammen mit einigen elsässischen Adligen gegen König Adolf von Nassau gewandt und gegen diesen Fehde geführt hatte. Als Adolf daraufhin die Besitzungen seiner Gegner angriff, erreichten die Gegner durch Fußfall und Bitte um Gnade zumindest einen beachtlichen Teilerfolg: Auf eigene Kosten hatten die früheren Gegner dem König umfassende militärische Hilfe zu leisten, ehe sie wieder zu Gnaden angenommen wurden.43 Beispiele für Konfliktbeendigung durch Unterwerfung lassen sich im Spätmittelalter aber durchaus nicht nur beobachten, wenn Könige in die Konflikte involviert waren. In Konflikten zwischen den Erzbischöfen von Köln und den Bürgern der Stadt beobachtet man etwa von den Tagen Erzbischof Annos bis ins Spätmittelalter immer wieder, wie Konflikte mittels deditiones der Bürger vor ihrem Erzbischof beendet wurden. Ortswahl, Kleidung und rituelle Handlungen verraten ein Wissen um die Tradition, in der diese Akte standen. So wurde etwa der Konflikt zwischen Erzbisies ist in moderner Methodendiskussion zu Recht hervorgehoben worden.2 Der hieraus resultierenden Aporie entkommt man jedoch dadurch, dass unabhängig davon, ob sich das Berichtete tatsächlich so zugetragen hat, schon der Bericht als solcher Zeugnis davon geben kann, welche Vorstellungen über richtiges oder falsches Verhalten existierten. Und schon dil·se Vorstellungen lassen sich als Indizien für eine Beschreibung der Macht der Rituale nutzen, wie es in diesem Buch versucht wurde, dessen A q.~umentationen nicht mit der Frage stehen und fallen, ob die Rituale im l ·:inzclfall tatsächlich so durchgeführt wurden, wie sie beschrieben worden ~ind.

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Zusammenfassung

Die zentralen Anliegen dieses Buches ergeben sich aus drei Beweiszielen. Vorrangig ging es um den Nachweis, dass in den Zeiten des Mittelalters Herrschaftsrituale ,gemacht' wurden. Diese Einsicht begründet ein anderes Verständnis von Ritualen als das gewöhnliche. Damit zusammenhängend und darüber hinaus sollte gezeigt werden, dass sie eine Geschichte haben wie andere Phänomene auch, die einerseits von bestimmten Faktoren beeinflusst wurde und andererseits Indikator für bestimmte Entwikklungen ist. Im Mittelalter spiegeln die Rituale - so das Ergebnis der Untersuchungen - die Herrschaftsverhältnisse sehr deutlich und ändern sich deshalb auch, wenn sich diese Verhältnisse ändern. Schließlich und nicht zuletzt ging es um den Stellenwert, den Rituale für die Technik und Praxis von Machtausübung im Mittelalter besaßen, von wem auch immer diese Macht ausgeübt wurde. Es ging damit um die Leistung, die diese Rituale für die Funktionsfähigkeit der Herrschaftsordnung erbrachten. Diese Ziele verlangten nach einer bestimmten Ausrichtung der Beispiele wie der Argumente und erlaubten es nicht, die Vielfalt der Befunde wirklich auszubreiten. Dies kann natürlich auch in einem Schlusskapitel nicht nachgeholt werden. Doch lässt sich zumindest darauf hinweisen, dass diese Vielfalt auch unter ganz anderen Fragestellungen bearbeitet und geordnet werden könnte, wenn man ein Handbuch mittelalterlicher Herrschaftsrituale und ihrer prominentesten Beispiele hätte verfassen wollen, was hier nicht der Fall war. Im Folgenden werden die für ein Gesamturteil wesentlichen Beobachtungen unter drei Gesichtspunkten zusammengefasst. Überlegungen zum Problem der ,Gemachtheit' der Rituale und damit zusammenhängende Fragen bietet das erste Unterkapitel dieser Zusammenfassung. Die beiden anderen Unterkapitel versuchen, den Ertrag der hier gewählten Perspektive zu bestimmen. Das eine thematisiert die Geschichte der Rituale, die vom Frühmittelalter an durch eine Verbreiterung der Anwendungsfelder ritueller Kommunikation gekennzeichnet ist, die aber auch Stufen und Brüche zu verzeichnen hat, deren Ursachen zumindest begründet angenommen werden können. Das andere diskutiert den Zusammenhang von Machtausübung und ritueller Kommunikation und sucht zusammenfassend die Leistung einzuschätzen, die rituelle Kommunikation erbrachte. Die positive Bewertung der Leistungskraft von Ritualen, des Geltungsanspruchs und der Verbindlichkeit ritueller Aussagen, darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, als stelle sich die Stabilisierung von Ordnung durch Rituale quasi von selbst ein. Vielmehr sind durchaus erfolgreiche Fälle des Missbrauchs ritueller Verhaltensmuster zu notieren und in ein Gesamtbild zu integrieren. Es war nicht zuletzt der Anspruch auf Verbindlichkeit, den rituelle ,Aussagen' erhoben, der einen unter Umständen erbitterten Kampf um die Rituale,

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Hinterlist, Täuschung und Betrug, provokantes rituelles Verhalten oder die schlichte Verweigerung hervorbrachte, an Ritualen teilzunehmen. Nichts wäre wohl falscher als die Vorstellung, Rituale hätten im Mittelalter eine heile Welt kreiert.3 Rituale stellten nicht mehr und nicht weniger als Verfahren dar, mit denen verständliche und verbindliche Aussagen zu vielen zentralen Fragen der Gesellschaft gemacht werden konnten. Aus diesem Anspruch auf Verbindlichkeit ritueller Aussagen - ein Anspruch, hinter dem die ,Macht der Gewohnheiten' stand - resultiert die Konsequenz, dass Herrschaftsrituale eine Geschichte haben, in der sich die Geschichte mittelalterlicher Herrschaft selbst spiegelt, die bekanntlich überreich an Konflikten und Krisen war.

Vl.1 Die ,Gemachtheit' der Rituale Die Frage nach der ,Gemachtheit' der Rituale war eine Grundfrage in diesem Buch.4 Die Einsicht, dass rituelle Handlungen häufiger bewusst gestaltet wurden, um bestimmte Botschaften zu übermitteln, führt zu einer Reihe von Folgerungen, die für die Beurteilung rituellen Tuns von erheblicher Bedeutung sind. Wenn Rituale bewusst gestaltet wurden, folgt daraus wohl auch, dass mit der Gestaltung ein feststehender Sinn zum Ausdruck gebracht werden sollte.s Und dies ließ sich ja häufig auch nachweisen. Damit ist aber das Problem der Deutung symbolischer Handlungen aufgeworfen. In diesem Buch wurde die Vorstellung von der Verbindlichkeit ri1ueller Handlungen entwickelt, die gegeben sein musste, weil mit ihnen Verpflichtungen für die Zukunft übernommen oder Rechte anerkannt wurden. Solche Verbindlichkeit konnte aber nur dann gegeben sein, wenn der Sinn der Handlungen verständlich, und das heißt eindeutig war. Was mit einem Handgang, einer Huldigung, einer Unterwerfung, aber auch mit einem Gruß, einem Entgegengehen oder einem Lächeln symbolisch zum Ausdruck gebracht wurde, durfte daher nicht grundsätzlich mehr- oder gar vieldeutig sein. Sonst hätten aus diesen Handlungen keine Verpflichtunv,cn erwachsen können, was aber unzweifelhaft der Fall war, wenn unsere Bcohachtungen nicht völlig in die Irre gehen. Bei diesem Plädoyer für den festliegenden Sinn ritueller Handlungen dllrfcn aber bestimmte Eigenarten symbolischer Kommunikation im Mitll'l111ler nicht außer Acht bleiben: Die rangbewusste Adelsgesellschaft verIU)l.le Uher elaborierte Techniken, das Gesicht der an öffentlicher Kommu11ikntion Beteiligten zu wahren.6 Dies führte dazu, nicht nur, aber auch auf dem Pclde ritueller Handlungen Unangenehmes zu verschleiern, harte hirderungen in untertänige Bitten zu kleiden, Abgerungenes als freiwillige Gewährung zu kaschieren, Unterordnung durch Ehrung und Pri-

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vilegien zu belohnen usw. Solche Praxis der Freiwilligkeits- und Konsensfiktionen aber hatte zur Folge, dass bei rituellen Akten manchmal Mehrdeutigkeit in Kauf genommen, ja intendiert wurde, weil nur so die Bereitschaft zur Teilnahme an den rituellen Handlungen erreicht werden konnte. Wir haben etwa am Beispiel der ,Ehrendienste' nachgewiesen, wie erfolgreich mit ihnen die Verschleierung der Unterordnung betrieben werden konnte.7 Auch bei den Unterwerfungsritualen konnte man nach der humiliatio häufig die exaltatio beobachten. Der sich Unterwerfende war am Ende des Rituals zum Freund geworden.8 Die Perspektive, die die ,Gemachtheit' der Rituale zum Thema hat, wirft also auch die Frage nach den ,Macharten' auf. Hier ist sicherlich zu betonen, dass es Standardversionen rituellen Verhaltens gab, die früher wie heute kaum Interpretationsprobleme bereiten. Sie musste man nicht eigens ,machen', nicht in Verhandlungen für den Einzelfall festlegen. Es reichte etwa, wenn man sich darauf verständigte, den Frieden durch ein rituelles Mahl zu besiegeln, oder sich bei einer Begrüßung so zu verhalten, wie es die Rangordnung verlangte. Interessanter sind jedoch die Fälle, mit denen komplexere Botschaften übermittelt werden sollten. Hier beobachtet man nicht selten die spezifische Zusammenstellung ritueller Verhaltensweisen, die Sinnstiftung durch besondere Nuancierung anstrebten, bis hin zu Lösungen, die vielleicht nur den Wissenden erkennbar und einsichtig waren, während andere sich mit einer einfacheren Lesart zufrieden gaben. Hierfür noch ein wohl bezeichnendes Beispiel: So überreichte nach Hincmar von Reims Papst Hadrian dem Karolingerkönig Lothar II., der nach Rom gezogen war, um die kirchliche Erlaubnis für die Trennung von seiner Gemahlin Theutberga zu erhalten, als Gastgeschenke „einen wollenen Mantel, einen Palmzweig und einen Stab". Lothar und sein Anhang interpretierten die Geschenke angeblich dahingehend, dass der König „durch den Mantel wieder in den Besitz der Waldrada (seiner Konkubine) kommen, durch die Palme sich als Sieger in dem, was er begonnen, erweisen und durch den Stab die seinem Willen widerstrebenden Bischöfe durch Beharrlichkeit unterwerfen" solle.9 Man geht wohl kaum fehl in der Annahme, dass den Wissenden die Abwegigkeit dieser Interpretation sehr klar und der eigentliche Sinn der Geschenke bewusst war, der für uns nicht leicht erreichbar ist. Er dürfte aber viel mit der Aufforderung zur Buße zu tun haben. Es besteht sogar einiger Grund zu der Annahme, dass Hincmar von Reims, der Autor der Geschichte, mit der berichteten Interpretation Lothar II. diffamieren wollte. Auf diese Weise überstand jedenfalls nach dieser Geschichte der Papst das prekäre Zusammentreffen mit dem Karolinger, ohne dass es zu einem offenen Eklat kam. Die ausgeklügelte Variante beim Gabentausch verrät daher wohl, mit wie viel Einfallsreichtum bei der Gestaltung ritueller

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Handlungen man rechnen muss. So wie man gewohnt war, den Schriftsinn in mehrfacher Hinsicht auszudeuten, so war man auch in der Lage, rituelle Handlungen so anzulegen, dass sie mehrdeutig wurden, unterschiedliche Deutungen erlaubten. Konstatiert und in Ansätzen rekonstruiert wurde in diesem Buch ein ,Lernprozess', indem man in den Herrschaftsordnungen des Mittelalters dazu überging, immer mehr Inhalte mit vielfältigen, rituellen Formen zum Ausdruck zu bringen. Lernprozess ist hier in einem metaphorischen Sinn zu verstehen; der Begriff will die zunehmende Erfahrung im Umgang mit rituellen Verhaltensmustern fassen, der die Führungsschichten in die Lage versetzte, immer komplexere Botschaften mittels rituellen Verhaltens auszutauschen. Dieser Vorgang vollzog sich in deutlichem Zusammenhang mit den Veränderungen, die die Geschichte dieser Ordnungen prägten. Die Übernahme von Verpflichtungen wurde ebenso in rituellen Formen vollzogen wie die Anmeldung von Ansprüchen; das wechselseitige Verhältnis fand seinen symbolischen Ausdruck in verschiedensten Akten, die Unterordnung oder Gleichrangigkeit, Feindschaft oder Freundschaft signalisierten. Dieser Prozess produzierte eine Fülle neuer ritueller Formen, die zu wechselnden Sequenzen zusammengefügt werden konnten. Nicht die strikte Wiederholung der gleichen Muster kennzeichnet das rituelle Geschehen in den untersuchten Jahrhunderten, sondern eher das situationsbezogene Verändern. Häufig beobachtet man, wie die gleichen Bausteine rituellen Verhaltens in unterschiedlicher Weise benutzt wurden, weil eine bestimmte Sinngebung beabsichtigt war. An der Geschichte des Rituals der Unterwerfung ließ sich besonders gut verfolgen, wie durch Veränderungen einiger Details so unterschiedliche Akzente wie Milde oder Strenge gesetzt werden konnten.10 Durchaus nicht immer, aber ab einer bestimmten Komplexität musste man sich über die Einzelheiten solcher Handlungssequenzen vorweg verständigen. Nicht in vielen, aber durchaus in genügend Einzelfällen ist denn auch konkret bezeugt, dass es Verhandlungen über die Durchführung solcher Akte gab. Man darf daher wohl davon ausgehen, dass mündliche, in Einzelfällen auch schriftlich fixierte Absprachen das Gelingen der rituellen Handlungen sichern sollten. Nicht weniger kennzeichnend ist aber, dass gerade in prekären Situationen die Deutung der Handlungen auch (iegenstand von Kontroversen war, in denen man versuchte, die eigenen Ahsichten durchzusetzen. Erinnert sei an die Auseinandersetzungen darüber, was die Leistung eines Strator-Dienstes bedeutete, oder an das protestierende Eingreifen von Zuschauern, wenn sie einen bestimmten Sinn verletzt sahen.lt Bei der Erforschung ritueller Kommunikation ist also grundsätzlich davon auszugehen, dass ihre Handlungen begleitet wurden von Aktivitäten zu ihrer Planung und Vorbereitung wie zu ihrer Deutung,

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die uns nur noch in schriftlichen Formen vorliegen. Diesen aber ging mit einiger Sicherheit ein intensiver mündlicher Diskurs voraus. Die in etwaigen Verhandlungen getätigten Absprachen wurden bei der Durchführung der Rituale jedoch vollständig verborgen. Suggeriert wurde von allen Teilnehmern vielmehr die Spontaneität der Handlungen einschließlich der gezeigten Emotionen.12 Deshalb sind meines Erachtens Begriffe aus der Theatersprache, metaphorisch verwendet, hilfreich, weil sie eine realistische Vorstellung vom Kontext ermöglichen, in dem sich rituelles Geschehen vollzog: Man einigte sich auf ,Inszenierungen' oder ,Aufführungen', deren Ablauf Gegenstand vorheriger Absprachen war. Die Akteure des Rituals spielten gewissermaßen ,Rollen'. Bekannt war auch so etwas wie die Funktion eines ,Regisseurs'. All dies aber entwertete die Verbindlichkeit der Aussagen in keiner Weise. Es ist zurzeit noch nicht gelungen, den Prozess genauer zu analysieren, der zu einer Hochkultur rituellen Ausdrucksvermögens und gewiss auch zu Manierismen führte, und man mag auch skeptisch sein, wie tief man in ihn eindringen kann. Für ein vertieftes Verständnis scheint es jedoch unabdingbar, Kenntnisse über die ,Baugesetze' der Rituale zu erwerben, auch wenn die mittelalterlichen Zeitgenossen darüber so gut wie nie sprechen. An verschiedenen Stellen der Untersuchung wurde darauf hingewiesen, dass kirchliche Riten oder biblische Erzählungen das Vorbild für weltliche Rituale abgaben, dass also der ,Lernprozess' zumindest in Teilen ein Transferprozess war. Thesenhaft kann man wohl formulieren, dass die Kirche die rituellen Ausdrucksformen, die sie nicht zuletzt vom römischen Staatszeremoniell übernommen hatte, phasenverschoben an die mittelalterlichen Herrschaftsordnungen weitergab bzw. diese bei ihr die gleichen Anleihen machten wie sie selbst zuvor beim römischen Staat.13 Mit dieser Beobachtung soll nicht behauptet werden, dass dieser Vorgang bewusst geschah. Der Prozess der Übernahme von Verhaltensmustern erwies sich jedoch als ein vielfältiger. Zu beobachten war eine Fülle von Analogiebildungen, durch die bestimmte rituelle Ausdrucksweisen in den unterschiedlichsten Kontexten zur Anwendung kamen, ohne dass man im Einzelfall die Gebenden und die Nehmenden erkennen und unterscheiden könnte. Dies sei hier an einigen Mustern belegt, deren systematische Betrachtung bisher durch die chronologische Anlage dieses Buches verhindert wurde. Als rituelles Ausdrucksmittel, einen Anspruch zu akzeptieren, begegnet in den verschiedensten Zusammenhängen etwa die Stuhlsetzung. Im Zuge des Einsetzungsrituals setzten die Königswähler den Kandidaten auf einen Thron, die Bürger ihre Ratsmitglieder in das entsprechende Gestühl. Für Herzöge bestimmter Regionen ist eine Setzung auf einen ,Herzogsstuhl' bezeugt; Bischöfe dagegen wurden auf den Altar gesetzt.1 4 Wer diesen rituellen Handlungen beiwohnte, akzeptierte den Gesetzten in seinem Amt.

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Deshalb ertrug ein St. Galler Mönch diesen Anblick nicht und verließ den Raum.15 Es ist gewiss unmöglich, eine Genealogie zu erarbeiten, wer diese Praxis der Setzung eines Amtsinhabers auf den ihm zukommenden Sitz als Zeichen seiner Anerkennung von wem übernommen hat, und dennoch dürfte evident sein, dass die Nutzung dieses rituellen Aktes in den verschiedensten Zusammenhängen durch Kenntnisse von Vorbildern bedingt war - und durch die Fähigkeit, in Analogiebildung rituelle Ausdrucksweisen für die eigenen Erfordernisse zu schaffen. Unübersehbar vielfältig ist in rituellen Handlungssequenzen auch der Gebrauch von Gegenständen, denen symbolische Bedeutung zukam. Schon die höchst verdienstvollen Sammlungen, die Rechtshistoriker im 19. und frühen 20.Jahrhundert zu den so genannten Rechtsaltertümern vorlegten, gaben einen Eindruck von der Vielfalt sowohl der Gesten als auch der Gegenstände, mit denen verbindliche Aussagen auf symbolische Weise gemacht wurden.16 Wir haben hier nur einen kleinen Ausschnitt davon behandelt, indem wir thematisierten, was man alles dem König vorantragen oder an symbolischen Diensten leisten konnte.17 Gerade im Bereich der so genannten Rechtsrituale ist die Vielfalt der Formen jedoch so überwältigend, dass sie gleichfalls ein gutes Argument für die Fähigkeit zur Analogiebildung und zur Kreation neuer ritueller Ausdrucksweisen darstellt. Die Praxis ritueller Ausdrucksweisen vor Gericht bestimmen nämlich nicht wenige, immer wiederkehrende Gesten und Gegenstände, sondern eine Unzahl von Sonderformen, die nicht selten nur einmal bezeugt sind. Auch diese Beobachtung weist nachhaltig auf das gestalterische Vermögen, das in der Formenvielfalt sichtbar wird. Und auch in den Fällen, in denen bestimmte Gegenstände häufiger begegnen, wie etwa der Stab, sind