Luther und die Reformation aus freikirchlicher Sicht 9783847098331, 9783847101338, 9783847001331

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Luther und die Reformation aus freikirchlicher Sicht
 9783847098331, 9783847101338, 9783847001331

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Kirche – Konfession – Religion

Band 59

Herausgegeben vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes unter Mitarbeit der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen von Walter Fleischmann-Bisten und Reinhard Hempelmann in Verbindung mit Hans-Martin Barth, Andreas Feldtkeller und Gury Schneider-Ludorff

Volker Spangenberg (Hg.)

Luther und die Reformation aus freikirchlicher Sicht

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0133-8 ISBN 978-3-8470-0133-1 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Berta Scheve Stiftung und der Gerhard-Claas-Stiftung. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Günter Balders Luthers Lieder in freikirchlicher Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Uwe Swarat Jenseits der Taufkontroverse – Wo sich Baptisten Luther anschließen könn(t)en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erich Geldbach Wie evangelisch ist der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten)? Einige Gedanken im Blick auf das Reformations-Jubiläum 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andrea Strübind Erbe und Ärgernis. Was gibt es für Kirchen aus täuferischen und nonkonformistischen Traditionen anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 zu feiern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Roland Gebauer Rechtfertigung und Heiligung bei Luther und Wesley. Eine Verstehensbemühung mit biblisch-theologischem Ausblick . . . . . . . .

89

Manfred Marquardt Zur Bedeutung Luthers für John Wesley und die Evangelisch-methodistische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Ulrike Schuler Was tun mit 2017? Die ökumenische Herausforderung des Jubiläums aus methodistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

6

Inhalt

Markus Iff Der Wort-Gottes-Begriff Martin Luthers (verbum efficax) in seiner Bedeutung für die Soteriologie und Ekklesiologie Freier evangelischer Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Walter Fleischmann-Bisten Die Reformations- und Lutherjubiläen in freikirchlicher Rezeption

. . . 171

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Vorwort

Jubiläen geben Anlass zum Nachdenken. Das gilt erst recht für ein prominentes Jubiläum wie das bevorstehende Reformationsjubiläum im Jahr 2017. Auch für Theologinnen und Theologen aus den evangelischen Freikirchen ist das Gedenken an den Beginn der Reformation vor 500 Jahren ein bedeutsames Datum. Verstehen sich doch die Freikirchen als legitime Erben der Reformation und als eine eigenständige Ausprägung des evangelischen Christentums. Aus diesem Grund haben sich die Kollegien der Theologischen Hochschulen Elstal, Reutlingen und Ewersbach 2012 auf einer gemeinsamen Tagung in Elstal der Frage gestellt, welche Bedeutung Luther und die Reformation für die eigene Identität ihrer Kirche besitzen. Was verdanken Baptisten, Methodisten und Angehörige von Freien evangelischen Gemeinden dem Reformator Martin Luther und der von ihm maßgeblich bestimmten Erneuerungsbewegung der Kirche? Wo werden Gemeinsamkeiten sichtbar, die es zu fördern gilt, wo Differenzen, die man zumindest verstehen sollte? Schnell wuchs die Überzeugung, dass die in Elstal vorgetragenen Tagungsbeiträge aus der Feder von Uwe Swarat, Roland Gebauer und Markus Iff einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Dabei traf es sich gut, dass der Verein für Freikirchenforschung, dessen Arbeit der wissenschaftlichen Erforschung von theologischen und kirchengeschichtlichen Themen aus freikirchlicher Perspektive gilt, sich 2010 ebenfalls des Themas der Rezeption der Wittenberger Reformation in den Freikirchen angenommen hatte. Auf diese Weise war es möglich, das Spektrum des Blicks auf Luther und die Reformation durch die Aufnahme einiger auf der Tagung des Vereins vorgetragener Beiträge in den hier vorliegenden Sammelband deutlich auszuweiten. Die Autoren Günter Balders, Manfred Marquardt und Walter Fleischmann-Bisten haben dafür ihre im Jahrbuch 20/2011 des Vereins gedruckten Aufsätze noch einmal einer intensiven Überarbeitung unterzogen. Dem Verein für Freikirchenforschung und seinem derzeitigen Vorsitzenden Prof. Dr. Christoph Raedel sei für das freundliche Entgegenkommen einer Abdruckerlaubnis herzlich gedankt. Schließlich konnten mit Ulrike Schuler, Andrea Strübind und Erich Geldbach weitere freikirchliche Stimmen mit ein-

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Vorwort

schlägigen Beiträgen zum Thema gewonnen werden. Der vorliegende Band darf damit als repräsentative Sammlung von Äußerungen zur Frage nach der Gegenwartsbedeutung der Reformation für die Freikirchen aus baptistischer, methodistischer und frei-evangelischer Perspektive gelten. Es versteht sich dabei von selbst, dass die gewonnenen Erkenntnisse durchaus unterschiedliche Züge tragen, ja gelegentlich auch inhaltlich differierende Zugänge bieten. Der wissenschaftliche Beirat der Lutherdekade hat in seinen »Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017« formuliert: »Von verschiedenen Standpunkten aus werden die Wirkungen, die die Reformation hervorgebracht hat, verschieden wahrgenommen und bewertet. Die Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 ist Gelegenheit und Herausforderung, in Diskussionen und, soweit möglich, Verständigungsprozesse über die unterschiedlichen Perspektiven auf die Reformation und ihre Wirkungen einzutreten.« Der vorliegende Sammelband will eine solche Diskussion fördern und zeigen, dass auch die Auseinandersetzung mit der freikirchlichen Sicht auf die Reformation und ihre Wirkungen lohnend sein und zur Verständigung zwischen den unterschiedlich verfassten Kirchen und Gemeinden beitragen kann. Die Berta Scheve Stiftung und die Gerhard-Claas-Stiftung haben mit einem Druckkostenzuschuss zur Finanzierung des Buches beigetragen. Dafür sei ihnen herzlich gedankt. Berlin, im Februar 2013

Volker Spangenberg

Günter Balders

Luthers Lieder in freikirchlicher Rezeption

*

Vorbemerkung Wer das derzeitige landeskirchliche Evangelische Gesangbuch (EG) durchblättert, findet mithilfe des biographischen Anhangs nicht weniger als 33 Lieder von Martin Luther, genauer : Liedtexte, um die es hier gehen soll.1 Dreiunddreißig Liedtexte also aus Luthers Feder im EG, hinzu kommen noch zwei weitere in der Ausgabe der Nordelbischen Kirche, also 35 Liedtexte nach fast 500 Jahren immer noch oder wieder präsent, zumindest: präsentiert! Das ist angesichts der rund 40 Lieder Luthers, die die Forschung nachgewiesen hat, rein liturgische Stücke nicht mitgerechnet, ein dicker Brocken. Wenn man die Präsenz Paul Gerhardts, dessen Bedeutung nicht nur für die allgemeine Kulturgeschichte, insbesondere die Kirchenmusik (Bach!), sondern vor allem für Singen und Seelsorge durch das Jubiläum 2007 wieder stark ins Bewusstsein gerückt ist, mit der Luthers vergleicht, wird man stutzig. Von Gerhardts über 120 geistlichen Liedtexten finden sich im EG-Bereich 30 an der Zahl. Dabei bin ich mir ganz sicher, dass die Verankerung der Lieder Gerhardts in Kirche, Frömmigkeit und Kultur diejenige der Lieder Luthers übersteigt. Aber Luther steht gewissermaßen »unter Denkmalschutz«, verdankt ihm die Christenheit doch nicht nur »die Reformation« mit ihren theologischen und sich daraus ergebenden Änderungen der Kirche, ihrer Ämter und Strukturen, sondern auch – darin verankert – die Einführung des gottesdienstlichen Gemeindesingens über die – vorreformatorisch – minimale Beteiligung durch Leisen und ähnliche Antwortgesänge hinaus. Aus historischer Sicht muss man allerdings festhalten, dass es sich bei der * Für den vorliegenden Druck bearbeiteter Vortrag auf dem Symposium des Vereins für Freikirchenforschung: Die Rezeption der Wittenberger Reformation in den Freikirchen, Schloss Mansfeld, 19./20. März 2010; zuerst erschienen in Freikirchenforschung 20, Münster 2011, 61 – 82. 1 Die Autorschaft Luthers für Melodien ist nur in einzelnen Fällen sicher belegt, auch werden manche Melodien für Texte verschiedener Autoren verwendet. Daher habe ich mich bei meinen Recherchen auf die Liedtexte Luthers beschränkt.

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Günter Balders

breiten Präsenz von Lutherliedern in landeskirchlichen Gesangbüchern um das Ergebnis eines restaurativen Prozesses von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts handelt, also beginnend just in der Epoche, in der die Freikirchen in Deutschland auf den Plan traten. Aufklärung und Rationalismus hatten, um es etwas pauschal zu sagen, auf dem Gebiet des Kirchenliedes gründlich »aufgeräumt«, mit Streichungen und vor allem Textänderungen. In manchen Gesangbüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sucht man viele Lutherlieder vergeblich; in Baden zum Beispiel sind es laut einem Verzeichnis von 1931 gerade einmal sechs Stück. Dem stehen dann im Gefolge der Gesangbuchrestauration (und auch beeinflusst durch die Unionsstreitigkeiten) solche gegenüber, die, um es an einem Extremfall deutlich zu machen, Luthers Lieder als Sondergruppe im Gesangbuch verankern; so Breslau 1800/1845, wo – nach einem Lutherporträt – 19 seiner Lieder die allererste Rubrik bilden. Für die Fragestellung »Rezeption von Lutherliedern in den Freikirchen« muss man diesen Kontext stets im Auge behalten. Was war den freikirchlichen Gesangbuchherausgebern vertraut, was lag ihnen vor, in welcher Form? Die Übernahme welcher Lieder war ihnen wichtig, aus welchen Gründen geschah diese Übernahme trotz der – bei den aus erwecklichen Impulsen entstandenen Freikirchen – zunächst oft dominierenden Produktion an Eigenliedgut sowie der Übernahme klassisch- und neo-pietistischen und dann neuen erwecklichen Liedguts, meist aus dem angelsächsischen Bereich? Schließlich ist zu fragen, worauf – um ein Ergebnis vorwegzunehmen – die seit ca. 1930 deutlich breitere Rezeption von Lutherliedern bei den sog. »klassischen« Freikirchen der Baptisten, Methodisten, Freien evangelischen Gemeinden usw. zurückzuführen ist. Beginnen wir mit statistischem Material. Ich habe die Register von über 100 Gesangbüchern erfasst, die Spannbreite reicht von Ausgaben der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (um die heutige Bezeichnung zu verwenden) über solche der Brüderunität nach 1850 bis hin zu den derzeit in Freikirchen und freien Gemeinschaften, die Gnadauer Gemeinschaftsbewegung dabei vorläufig eingeschlossen, in Gebrauch befindlichen Liederbüchern.2 Schon wenn ich die erste Zahl nenne, wird klar, dass mit einer Addition von Zahlen der Fragestellung nicht beizukommen ist: Die Spannbreite alleine bei den derzeit benutzten Büchern reicht von 35 bis zu keinen Lutherliedern! Trotzdem gehe ich zunächst nach der Häufigkeitsliste vor.

2 Auf eine bibliographische Erfassung der Gesangbücher musste aus Platzgründen verzichtet werden. Im Text werden jeweils Titel und Erscheinungsjahr genannt; nähere Angaben zu den meisten Büchern findet man unter http://www.uni-mainz.de/Organisationen/Hymnologie/ Gesangbuchbibliographie.htm.

Luthers Lieder in freikirchlicher Rezeption

1.

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Breit rezipierte Lutherlieder

An erster Stelle steht, sicher für niemanden überraschend: Ein feste Burg ist unser Gott (EG 362).

Es fehlt bis in unsere Zeit in fast keinem freikirchlichen Gemeindeliederbuch.3 Über »Ein feste Burg« gibt es eine ganze Bibliothek von Veröffentlichungen. Das Lied ist seinem Entstehungsimpuls und der ursprünglichen Überschrift von 1529 (Der XLVI. Psalm) gemäß lange in den lutherischen Gesangbüchern als Psalmlied geführt worden, gelegentlich auch dezidiert als Trostpsalm.4 Dabei ist aber festzuhalten: Dieses Lied »kann … nicht als Nachdichtung von Ps 46 im eigentlichen Sinn gelten«,5 es handelt sich »um eine völlig eigengeprägte, einmalige Liedschöpfung«.6 Später wurde »Ein feste Burg« den Liedern »Von der Kirche« bzw. den »Gemeinde«-Liedern (so in vielen freikirchlichen Büchern) oder denen »Vom Wort Gottes« zugeordnet, neuerdings – dem EG folgend – bei den Methodisten und Mennoniten der Rubrik »Vertrauen« (o. ä.). Doch kann man – auch im Blick auf den Kontext der frühen freikirchlichen Bücher – Folgendes nicht unerwähnt lassen: »Ein feste Burg« war spätestens seit dem ersten Reformationsjubiläum 1617 das Reformationslied schlechthin und hatte dann dominant im 19. Jahrhundert »zusätzlich das Ansehen eines nationalen und konfessionellen Kampfliedes«7 erhalten, in protestantischen Gebieten als eine Art zweiter Nationalhymne. Im Straßburger Gesangbuch von 1899 z. B. findet sich eine Abbildung mit der Unterschrift »Ein feste Burg ist unser Gott«, und dort »ist die vom Meer umbrandete ›feste Burg‹ identisch mit der Wartburg.«8 Bereits Heinrich Heine brachte das – mit legendenhaften Details – 1834 so auf den Punkt: 3 Nur im neuesten Buch aus den Reihen der Brüderbewegung, der früher sog. Christlichen Versammlung, mit dem Titel Loben. Lieder der Hoffnung (Bielefeld 2007) ist kein Lutherlied enthalten, im Unterschied übrigens zu wenigstens ein paar Paul-Gerhardt-Liedern; und ebenso verhält es sich mit der Zionsharfe der schweizerischen Gemeinschaft evangelisch Taufgesinnter (1974) und den Jubelliedern der (pentekostalen) Gemeinde Gottes (1960; 2 1980), Preist den Herrn der (anderen) Gemeinde Gottes (1978) und zwei von drei neuen Liederbüchern rußlanddeutscher Mennoniten (1994; 1996). 4 Vgl. I. Mager, Martin Luthers Lied »Ein feste Burg ist unser Gott« und Psalm 46, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 30 (1986), Hannover 1987, (87 – 95), 95. 5 M. Brecht, Zum Verständnis von Luthers Lied »Ein feste Burg«, in: Archiv für Reformationsgeschichte 70, Gütersloh 1979, (106 – 121), 107. 6 M. Jenny, Luthers Gesangbuch, in: H. Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, Berlin 1983 / Göttingen 1983 (Bd.1: 303 – 321; Bd.2, Anmerkungen: 825 – 832), 311. 7 Mager, Luthers Lied, (Anm. 4), 95. 8 M. Fischer, Ein feste Burg ist unser Gott (2007), in: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: .

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Günter Balders

»Ein Schlachtlied war jener trotzige Gesang, womit er [scil. Luther] und seine Begleiter in Worms [1521! G.B.] einzogen. Der alte Dom zitterte bei diesen neuen Klängen, und die Raben erschraken in ihren obskuren Turmnestern. Jenes Lied, die marseiller Hymne der Reformation, hat bis auf unsere Tage seine begeisternde Kraft bewahrt.«9

Friedrich Engels charakterisierte das Lied in Anlehnung an Heine dann zugespitzt (und interessegeleitet) als die »Marseillaise der Bauernkriege«. Kaum ein Lied hat so viele Instrumentalisierungen erlebt. In der Originalversion oder durch Parodien benutzten es »nicht nur … nationale und militaristische Kreise für ihre Zwecke, sondern auch politisch links stehende Vereinigungen und Personen. Schon bei der Revolution 1848/ 49 wurde das Lied parodiert und in Anspielung auf die christliche Lehre von der Trinität eine neue Dreifaltigkeit beschworen: nämlich ›Freiheit, Wahrheit, Tugend‹. Im ausgehenden 19. Jahrhundert sang die sozialdemokratische Arbeiterbewegung die Umdichtung ›Ein feste Burg ist unser Bund‹. Bertolt Brecht wiederum hat in seinen ›Hitler-Chorälen‹ (1933) dieses – auch von den Nationalsozialisten vereinnahmte – Lied explizit gegen deren ›Führer‹ gewandt (›Ein große Hilf ’ war uns sein Maul‹) und Erich Fried veröffentlichte im Gedichtband ›So kam ich unter die Deutschen‹ (1977) seine Parodie ›Ein feste Burg ist unser Stammheim‹, womit er auf den Tod Ulrike Meinhofs ein Jahr zuvor reagierte. Auch für die neuen sozialen Bewegungen der 1980er Jahre diente das Lied verschiedentlich als Vorlage für kritische Umdichtungen, zumal in der Anti-Atomkraft-Bewegung.«10 .

Karl Dienst nennt es aufgrund einer gründlichen Rezeptionsanalyse ein »Identitätssignal des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert«.11 Wir müssen davon ausgehen, dass das im Grunde flächendeckende Auftreten in Liederbüchern der Freikirchen davon mitbestimmt ist, endlich als Teil des deutschen Protestantismus anerkannt zu werden, sahen sie sich doch im Entstehungsjahrhundert permanent dem Vorwurf ausgesetzt, ein »ausländisches Gewächs« zu sein.12 So überrascht es nicht, wenn im Liederbuch für den (1.) 9 Zit. nach Mager, Luthers Lied, (Anm. 4), 95, Anm. 72. – Auch in neuerer Zeit wurde verschiedentlich die These vertreten, das Lied sei »zwar nicht gedichtet … zur Zeit des Wormser Reichstages, wohl aber geht es der S a c h e nach auf Worms zurück« (R. Köhler, Die biblischen Quellen der Lieder. Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch Band I,2, Göttingen 1965, [320 – 325], 323). 10 Fischer, Ein feste Burg, (Anm. 8); dort mit Abbildungen dokumentiert. 11 K. Dienst, Martin Luthers »Ein feste Burg ist unser Gott« als Identitätssignal des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, www.kreuzwacht.de/feste_burg.pdf. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass dieses Lied auch international lange Spitzenreiter war (danach mehrheitlich angelsächsische Erweckungslieder!), wie eine Auswertung von Gesangbüchern in 300 Sprachen durch Carl Doving (vor 1950) ergab; vgl. G. Rosenkranz, Das Lied der Kirche in der Welt. Eine missionshymnologische Studie, Berlin und Bielefeld 1951, 182, Anm. 20; G. Balders, Freikirchliche Hymnologie – eine unerledigte Aufgabe, in: Theologisches Gespräch 1990, Heft 2, (4 – 24), 7. 12 Dieses Verdikt schwingt noch mit beim Verweis auf das in vielen Freikirchen seit der Er-

Luthers Lieder in freikirchlicher Rezeption

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Europäischen Baptisten-Kongress Berlin 1908, zugleich gefeiert als »Kongress der deutschen Baptisten«, das Lutherlied die Nr. 1 ist, abgedruckt in deutsch, englisch, ungarisch und schwedisch (unter Nr. 2 und 3 folgen zwei Lieder des Baptisten Julius Köbner). Eine ähnliche salvatorische Funktion vermute ich hinter der Aufnahme des Liedes im Gesangbuch der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage, also der sog. Mormonen (1. Aufl. o. J., Nr. 88; 2. Aufl. um 1950, Nr. 112, dort im Sachregister unter »Konferenzlieder« [!]; Neubearb. 1990, Nr. 93), und im Liederbuch der Christlichen Wissenschaft (Christian Science) (1924, Nr. 60), in das solche »Kernlieder aus älterer und neuerer Zeit« aufgenommen wurden, sofern deren Texte »den Geist und den Sinn der Christlichen Wissenschaft widerspiegelte[n]« (S. 5).13 Im (frei-)kirchlichen Kontext könnte noch eine zweite Konnotation mitschwingen: Wer dieses Lutherlied in seinem Gesangbuch hat, signalisiert damit: Wir sind nicht nur Deutsche, wir sind auch evangelisch! Nicht von ungefähr trägt das Büchlein Kernstücke evangelischen Glaubens. Eine Handreichung für die evang. Kriegsgefangenen den Titel »Ein feste Burg ist unser Gott«. »Dieses Buch … will dir eine Waffe des Wortes sein und ein Helfer, auf daß der tiefe Sinn des alten Lutherwortes in fröhlichen und ernsten Stunden in uns lebendig bleibe: ›Ein feste Burg ist unser Gott.‹«14 Über die tatsächliche Rezeption und möglicherweise Reflexion über dieses Lied in freikirchlichen Kontexten liegen mir kaum Materialien vor. So habe ich bisher nicht ermitteln können, welche »klassischen« Freikirchen zum Beispiel jemals das Reformationsfest (mit-)gefeiert haben. Da früher die meisten Gemeindeglieder das Lied aus dem schulischen Religionsunterricht und/oder ihrer persönlichen Vorgeschichte in landeskirchlichem Kontext gekannt haben dürften, ist etwas spezifisch »Freikirchliches« kaum zu ermitteln. Eine erste Anekdote sei hier mitgeteilt: Ein Mitglied des Vereins für Freikirchenforschung, Pastor einer baptistischen Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde, erzählte mir von einer Begebenheit Anfang der 1960er Jahre. Am Predigerseminar war im Zusammenhang einer Deutschlandreise eine nordamerikanische Delegation zu Gast. Bei der gemeinsamen Andacht stimmten die Gäste spontan Luthers Lied weckungswelle der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einflussreiche sog. »englische« Lied, von Musikerseite lange Zeit pauschalisierend als »Trivialmusik« deklariert. 13 In beiden Büchern fehlt die Strophe 4 »Das Wort sie sollen lassen stahn«. Im Gesangbuch der »Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage« (Mormonen), Frankfurt a. M. 1990 findet sich außerdem »Vom Himmel hoch«. Die neue Ausgabe vom Liederbuch der Christlichen Wissenschaft (1983) lag mir leider nicht vor. Kein Lutherlied fand ich in diversen Liederbüchern der Zeugen Jehovas. 14 Das Buch wurde »zusammengestellt von kriegsgefangenen evangelische Pastoren« und hg. von der Oekumenischen Kommission für die Pastoration der Kriegsgefangenen (Oekumenischer Rat der Kirchen und der lutherischen Kommission für Kriegsgefangene), New York, St. Louis, o. J. (um 1945), Zitat im Text: S. 3.

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Günter Balders

an. Die deutschen Seminaristen aber hatten Mühe, nach der ersten Strophe den weiteren Text zusammenzubekommen; also sangen sie wie bei einem Ritornell solange den Text der ersten, bis die Amerikaner alle vier Strophen hinter sich hatten. Dem Gründer des kontinental-europäischen Baptismus, Johann Gerhard Oncken, wäre das nicht passiert. Er war schließlich noch »lutherisch konfirmiert« worden, auch wenn das nach eigener Auskunft in seiner geistlichen Biographie keine Spuren hinterlassen hat. Als er jedoch anno 1840 wegen unerlaubter religiöser Versammlungen inhaftiert worden war und – da er sich weigerte, die Prozesskosten zu zahlen – ihm zu allem Überfluss auch noch das Mobiliar gepfändet wurde, stand er am Fenster, auf den Fuhrwagen blickend, auf den sein Eigentum geladen wurde, und sagte, wie seine Tochter berichtete: »Lass fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn.«15 Im nationalen Kontext damaliger Zeit ein Zeichen von befreiendem englischem Humor… Auf Luthers Lied beruft sich auch Joseph Lehmann, der führende Theologe in der zweiten Generation der deutschen Baptisten in seinem Bericht über die Entstehung der in Rußland verfolgten und von deutschen kirchlichen Medien als von Oncken vereinnahmt dargestellten »Stundisten« bzw. Mennoniten-Brüdergemeinden: »Es war der russischen Brüder eigne That, unter dem Einfluß einer unwiderstehlichen, aus der Schrift geschöpften Überzeugung. Welche Leiden ihnen freilich aus diesem Gehorsam gegen Gottes Wort erwachsen sind, ist weltbekannt. Doch der Sieg wird ihnen werden; denn ›das Wort sie sollen lassen stah’n und kein’n Dank dazu haben!‹«16 In der neuesten Ausgabe des renommierten Lexikons »Die Musik in Geschichte und Gegenwart« klassifiziert Joachim Stalmann »Ein feste Burg« – man höre und staune – als »evangelistisches Lied«.17 Damit verwendet er einen Begriff, der eigentlich erst für Erweckungslieder im Kontext von Evangelisationswochen kreiert wurde. Immerhin erinnert er dadurch daran, dass nicht alle Lieder Luthers Katechismuslieder oder reine Psalmadaptionen sind oder einen speziellen liturgischen Ort haben. Zur Verbreitung des evangelischen Gedankenguts haben Luthers Lieder einen erheblichen Beitrag geleistet; das haben zu seiner Zeit bereits die Katholiken gemerkt und mit neuen und Gegen-Liedern darauf reagiert, und die wissenschaftliche Forschung hat es bestätigt. Die Wirkungsgeschichte von »Ein feste Burg« stellt aber einen Sonderfall dar, dem mit der Re-Kategorisierung als »evangelistisches« Lied wohl nicht beizukommen ist. Jedenfalls kann ich mir kaum vorstellen, dass es kirchenfremden Menschen 15 G. Balders, Theurer Bruder Oncken. Das Leben Johann Gerhard Onckens in Bildern und Dokumenten, Wuppertal und Kassel 21984, 64. 16 J. Lehmann, Geschichte der deutschen Baptisten. Zweiter Teil, Kassel 1900, 315. 17 J. Stalmann, Luther, Martin, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Band 11, Kassel 2004, (Sp. 636 – 654), Sp. 641.

Luthers Lieder in freikirchlicher Rezeption

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unserer Zeit unmittelbar zugänglich ist – es dürfte eher Fremdheitsgefühle wecken. Und doch: Dieses »heilsgeschichtliche Christuslied«18 muss uns doch bleiben wegen seiner christologischen Mitte: »Fragst du, wer der ist«, auf den wir unsere ganze Hoffnung setzen? »Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott. Das Feld muss er behalten.«19 In der freikirchlichen Rezeption steht an zweiter Stelle Luthers Adaption von Psalm 130: Aus tiefer Not schrei ich zu dir (EG 299).

Ich fand es in rund der Hälfte der herangezogenen Gesangbücher. In einigen taucht es allerdings erst nach 1930 auf, z. B. in dem der (methodistischen) Evangelischen Gemeinschaft, die später, wie noch zu zeigen sein wird, einen regelrechten Ruck hinüber ins lutherische Liedgut vollzieht. Der württembergische altpietistische Kontext dominierte offenbar lange, kommt doch z. B. der dortige Altpietistische Gemeinschaftsverband in seinen Philadelphia-Liedern bei einem riesigen Umfang von (1930) 1000, bzw. (1970) 1042 Liedern mit den beiden bisher herangezogenen Lutherliedern aus, während Paul Gerhardt immerhin 24mal vertreten ist, die Lokalgröße Philipp Friedrich Hiller aber mit 111. Entsprechend kommt bei der Evangelischen Gemeinschaft Luther 1873 auf nur zwei, 1931 dann auf fünf Lieder, Paul Gerhardt 1931 aber auf 29 (1953: 30), wiederum übertroffen von Hiller mit 36 Liedern. Platz 3 und 4 bei den Luthertexten belegen in den ausgewerteten Büchern dann die Weihnachtslieder Vom Himmel hoch, da komm ich her (EG 24) und Gelobet seist du, Jesus Christ (EG 23), die hier nicht näher behandelt werden sollen. Beide sind sogar im Pfingstjubel, dem Gesangbuch des Mülheimer Verbands (1925, 1949) zu finden, der insgesamt nur die bisher genannten vier Lutherlieder enthält.

18 Brecht, Verständnis, (Anm. 5), 120. 19 Vgl. Brecht, Verständnis, (Anm. 5), 113 f: »Die Identifikation Christi mit dem Herrn Zebaoth gehört in den Zusammenhang des Ausbaus von Luthers Christologie. […] Seit Ende 1524 hat Luther verstärkt die Personeinheit der göttlichen und menschlichen Natur gegen Zwinglis Unterscheidung der Naturen in Christus hervorgehoben. […] Die Spitzenformulierung, Jesus Christus ist der Herr Zebaoth … war auch eine dezidierte Stellungnahme im Abendmahlsstreit. […] Daß ›Ein feste Burg‹ u. a. eine nicht zu bestreitende innerprotestantische Spitze hat, ist sehr bald und bis heute in der Kirche kaum mehr wahrgenommen worden. Aber das Lied bezieht seine versichernde und tröstende Kraft, deretwegen es so beliebt wurde, letztlich aus der Auffassung, daß nur Christus in der Einheit als wahrer Mensch und wahrer Gott die anfechtenden Mächte zu überwinden vermochte.«

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2.

Günter Balders

Wenig oder nur zeitweilig rezipierte Lutherlieder

Deutlich seltener rezipiert wurde das an fünfter Stelle stehende Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort (EG 193).

Die Adventisten haben es erst seit 1930 in Gebrauch, bei den Methodisten findet man es erstmals im Anhang 1953 des Gesangbuchs der Evangelischen Gemeinschaft, die Baptisten (Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden) und Freien evangelischen Gemeinden sogar erst seit 1978. Die Mennoniten hingegen hatten es schon länger in ihrem Gesangbuch, allerdings mit einer das Hauptproblem der Rezeption markierenden Textänderung. Luthers Originaltext beginnt mit der – übrigens nicht erst heute, um mich vorsichtig auszudrücken, als »erklärungsbedürftig« wahrgenommenen – Strophe: »ERhalt uns, HErr, bei deinem wort / Und steur des Bapsts und Türcken Mord, Die Ihesum Christum, deinen Son, / Wolten stürtzen von deinem Thron.« (1544)

Als im 19. Jahrhundert die Freikirchen auf Religionsfreiheit pochten, lebten sie natürlich in einem anderen Kontext als Luther. Aber dieses Lied in dieser Form wäre für den Herausgeber der ersten baptistischen Glaubensstimme von 1849, Julius Köbner, nicht akzeptabel gewesen, falls er es aufzunehmen erwogen hat. Schreibt doch Köbner, Judenchrist erster Generation, in seinem »Manifest des freien Urchristenthums an das deutsche Volk« von 1848: »Aber wir behaupten nicht nur u n s r e religiöse Freiheit, sondern wir fordern sie für j e d e n Menschen, der den Boden des Vaterlandes bewohnt, wir fordern sie in völlig gleichem Maße für Alle, seien sie Christen, Juden, Muhamedaner oder was sonst«.20

Dies ist natürlich kein Kommentar zu Luthers Lied, der im übrigen ja Gott um sein Eingreifen bittet. Doch hat man aus nachvollziehbaren Gründen den Text schon früh geändert. Die derzeitige Fassung »und steure deiner Feinde Mord« geht auf einen, wenn man so will, »Freikirchler« zurück, auf Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf.21 Mit Verwunderung liest man aus heutiger Sicht, was im 19. Jahrhundert im Kontext der Gesangbuchrestauration dazu an Kommentaren überliefert ist. Das Lied war auch im staatskirchlichen Kontext höchst um20 J. Köbner, Manifest des freien Urchristenthums an das deutsche Volk, Hamburg 1848; als Neudruck hg., eingeleitet und kommentiert von M. Wehrstedt und B. Wittchow, Berlin 2006, 39. 21 Vgl. F. A. Cunz, Geschichte des deutschen Kirchenliedes vom 16. Jahrhundert bis auf unsere Zeit, Leipzig 1855, 63; A. F. W. Fischer, Kirchenlieder-Lexicon. Hymnologisch-literarische Nachweisungen über ca. 4500 der wichtigsten und verbreitetsten Kirchenlieder aller Zeiten in alphabetischer Folge nebst einer Uebersicht der Liederdichter, (Gotha I: 1878) II: 1879, 168.

Luthers Lieder in freikirchlicher Rezeption

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stritten. Die Änderung des Textes aber wurde nachgerade als »Verrat am Protestantismus gegeißelt.«22 Als Albert Knapp eine andere Version veröffentlichte, brach ein Sturm der Entrüstung los. So meinte der Gesangbuchrestaurator G. C. H. Stip: »Der Rückzug nach Rom ist damit principiell angetreten« und man müsse energisch »gegen den sich zu Eisenach und Bremen vorbereitenden Türkenschwindel« vorgehen.23 Übrigens findet sich die ursprüngliche Version als Fußnote in Zionslieder (31876, Nr. 78), dem Gesangbuch der Freien Evangelisch-Lutherischen JesusKirche, einer Berliner Personalgemeinde, die aus ursprünglich judenmissionarischer Arbeit hervorgegangenen war und sich um ihren Hirten Georg Wilhelm Schulze (1829 – 1901; berühmt als »Tränenschulze«) sammelte.24 Bei den Mennoniten aber liest man in ihrem Gesangbuch von 1910 (und der nordamerikanischen Ausgabe von 1942) statt des Papst-und Türken-Textes folgende Version: »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort, und steure aller Feinde Mord«. Diese – ihrer pazifistischen Ethik entgegenkommende – Fassung haben sie aber wohl nicht selbst beigesteuert, sondern eher übernommen aus dem landeskirchlichen Gesangbuch Württembergs von 1841/42.25 Die (deutschkanadische) Ausgabe von 1965 und die in Deutschland herausgegebene von 1972 schließen sich wieder der inzwischen üblichen (Zinzendorfschen) Version an, doch 2004 ist das Lied nicht mehr enthalten. In sechs freikirchlichen »Gesangbuchfamilien« finden wir sodann zu unterschiedlichen Zeiten das Lied Verleih uns Frieden gnädiglich (EG 421).

Es erinnert uns daran, dass Martin Luther nicht jenes – zu Unrecht nur als Kampflied wahrgenommene – »Bittlied in äußerer Gefahr«26 »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« verfasst hat, sondern eben auch diese deutsche Version des Da pacem Domine. Deutsche Adventisten können es bereits seit 1935 anstimmen, Methodisten seit 1969, Baptisten und Freie evangelische Gemeinden seit 1978 endlich auch. Gehe ich fehl in der Annahme, dass erst die Erfahrungen des 2. 22 H. Hoffmann, Tradition und Aktualität im Kirchenlied. Gestaltungskräfte der Gesangbuchreform in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1967, 94. 23 Zit. nach Hoffmann, Tradition, (Anm. 22), 94. 24 Schulze trat auf Anweisung des Konsistoriums aus der Evangelischen Kirche aus, um die Personalgemeinde betreuen zu können; Amtshandlungen aber mussten durch kirchlich ordinierte Pfarrer erfolgen. Später nahm sich die Stadtmission der Gemeinde an. In jenen Zionsliedern wimmelt es übrigens auch sonst von Kommentaren in den Fußnoten. 25 Vgl. P. Dietz, Die Restauration des evangelischen Kirchenliedes. Eine Zusammenstellung der hauptsächlichsten literarischen Erscheinungen auf hymnologischem Gebiete, namentlich auf dem Gebiete der Gesangbuchlitteratur seit dem Wiedererwachen des evangelischen Glaubenslebens in Deutschland, Marburg 1903, 387.394. 26 Stalmann, Luther, (Anm. 17), Sp. 642.

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Weltkrieges und dann verstärkt die Kriegs- und Bedrohungs-Szenarien unserer Tage Freikirchler sensibilisiert haben für Bitten und Fürbitten in – das persönliche Seelenheil weniger direkt tangierenden – politischen und gesellschaftlichen Kontexten? Die Friedensthematik gehört nach meiner Kenntnis nicht zu den besonderen Identitätsmerkmalen der meisten Freikirchen, von den Mennoniten abgesehen, die aber seltsamerweise Luthers Friedenslied erst spät entdeckt und 2004 endlich in ihr Gesangbuch aufgenommen haben. In fünf Gesangbuchgruppen ist das von Luther um drei Strophen erweiterte Lied Nun bitten wir den Heil’gen Geist (EG 124)

wenigstens irgendwann zu finden, meist erst neuerdings. Dies deutet – wie so manche andere Beobachtung – auf eine Annäherung an den evangelischen Kernliedbestand hin. Schon früh hingegen finden wir hier und dort das Lied Nun freut euch, lieben Christen gmein (EG 341).

Bei den Baptisten ist es schon 1849 aufgenommen worden. Ich habe noch nicht herausgefunden, welche Textfassung Julius Köbner vorlag. Die erste Strophe jedenfalls ist nicht original. Im damaligen Lüneburger Gesangbuch, das in der Vorgeschichte der Hamburger Baptistengemeinde zeitweilig benutzt worden sein soll, lautet das Incipit: »Nun freut euch, Christen insgemein«. Aber Köbner beließ es nicht bei dieser Änderung. In seiner Glaubensstimme, verglichen mit der Originalversion, lautet die erste Strophe so: Originaltext (nach EG)

Glaubensstimme 1849

Nun freut euch, lieben Christen g’mein, und laßt uns fröhlich springen, daß wir getrost und all in ein mit Lust und Liebe singen, was Gott an uns gewendet hat und seine süße Wundertat; gar teu’r hat er’s erworben.

Nun freut euch, Brüder, insgemein, Laßt hoch die Stimm’ erklingen! Laßt uns getrost und all in ein Mit Lust und Liebe singen, Was Gott an uns gewendet hat Und seine süße Wunderthat; Gar teu’r sind wir erworben!

Ich nehme an, dass Köbner die Anrede an alle Christen selbst und bewusst geändert hat, denn »Christ« konnte sich im damaligen staatskirchlichen Kontext so gut wie jeder nennen, die christliche Bruderschaft aber setzte und setzt für Freikirchlicher ein bewusstes Bekenntnis zu Christus voraus. Auch die Änderung der Aussage am Schluss könnte auf Köbner zurückgehen: Aus der gewissermaßen »objektiven« Glaubensaussage »gar teu’r hat er’s erworben« wird das persönliche(re) Bekenntnis »Gar teu’r sind wir erworben«. Die anderen Änderungen hat er – so vermute ich – in seiner Vorlage vorgefunden; besonders das –

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auch von Paul Gerhardt geliebte – Motiv vom fröhlichen »Springen« erschien den Gesangbuchredaktoren in Aufklärung und Rationalismus anstößig. Auffällig ist übrigens, dass das Wort »süß« damals offenbar noch keine Fremdheitsgefühle ausgelöst hat.27 Bemerkenswert ist noch, dass Köbner alle zehn Strophen dieses balladenartigen Lutherliedes aufgenommen hat. Die beiden späteren Ausgaben der Glaubensstimme enthalten das Lied nicht. Erst 1978 wurde es (mit 9 Strophen) reaktiviert, doch 2003 wieder gelöscht. Die Freien evangelischen Gemeinden hatten es im von dem versierten Hymnologen Johannes Giffey betreuten Gemeindepsalter von 1930 und ebenfalls dann in Gemeindelieder von 1978; im methodistischen Bereich ist es seit dem Anhang der Evangelischen Gemeinschaft 1953 bis heute beheimatet, während es mir bei den Mennoniten nicht begegnet ist. Das Lied Wir glauben all an einen Gott (EG 183)

taucht seit längerem nur bei einer der »klassischen« Freikirchen auf, bei den Bischöflichen Methodisten 1926 (mit eigener Melodie von August Rücker) und dann wieder im bis 2002 gültigen Gesangbuch von 1969 (mit Luthers Melodie). Dabei muss man sich vor Augen halten, dass in manchen aus der Erweckungsbewegung hervorgegangenen Freikirchen lange Zeit eine große Distanz zu allen »kirchlichen«, konkret: liturgischen Traditionen vorherrschte. Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden und Freie evangelische Gemeinden haben sich erst 1978 entschlossen, wenigstens den Text des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gesangbuch abzudrucken, und bis heute wird es allenfalls bei ökumenischen Veranstaltungen vom Blatt mitgebetet, da es den meisten Gemeindegliedern nicht auswendig bekannt ist. Immerhin findet sich in Feiern & Loben, dem gegenwärtigen Gesangbuch von Baptistengemeinden und Freien evangelischen Gemeinden, erstmalig die Bereimung des Glaubensbekenntnisses von Rudolf Alexander Schröder »Wir glauben Gott im höchsten Thron«. Anders als beim Credo verlief die Entwicklung des liturgischen Gebrauchs des Vaterunsers. Dessen Nutzung im Gottesdienst stand zwar noch in den 1950er Jahren in etlichen Baptistengemeinden unter dem Verdikt der sog. »Verkirchlichung«; heute aber wird es in vielen Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden sonntäglich gebetet. Luthers bereimte Version Vater unser im Himmelreich (EG 344)

hat die methodistische Kirche seit 1953 (Anhang) in ihrem Liederfundus, Baptisten- und Freie evangelische Gemeinden hätten es von 1978 bis 2003 aus 27 Näheres dazu bei W. I. Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied. Vorüberlegungen zu einer Darstellung seiner Geschichte, Kassel 1984, 35 – 50.

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ihrem Gemeindelieder-Buch singen können (taten es aber nicht). Die Mennoniten hatten es im Danziger Gesangbuch von 1869, aber nicht im Buch Ludwigshafen 1910, sondern erst wieder seit 1972.

3.

Nur vereinzelt rezipierte Lutherlieder

Alle anderen Luther-Lieder tauchen, wenn ich recht sehe, nur als Unikate hier und da auf. Einige möchte ich noch vorstellen. Martin Luther hat unter seinen Katechismusliedern zwei Versionen zu den Zehn Geboten verfasst: Dies sind die heilgen zehn Gebot (EG 231) und Mensch, willst du leben seliglich (EG –).

Vom letzteren Lied schreibt Albert Fischer 1878 in seinem Kirchenlieder-Lexicon: »Das Lied fehlt seit seinem Bekanntwerden in keinem lutherischen Gesangbuche.«28 Um so erstaunlicher, dass es plötzlich verschollen ist. In 50 verschiedenen landeskirchlichen Gesangbüchern, deren Liedbestand in vier Konkordanzen (von 1894, 1904, 1926, 1931)29 erfasst worden ist, taucht es nur (1904) zweimal auf. Selbst in der EKG-Ausgabe der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, die – abgesehen vom jetzigen EG – in ihrem Gesangbuch den größten Bestand an Lutherliedern hat (35), fehlt es. Dieses Lied wurde – zu Unrecht – schon früher manchmal verdächtigt, dem sola gratia / sola fide gegenüber kontraproduktive Akzente zu setzen; daher hat man mancherorts zur Absicherung der reinen Lehre zwei Strophen aus dem anderen Zehn-GeboteLied hinzugefügt, die das evangelische Grundelement deutlicher akzentuieren. »Dies sind die heil’gen zehn Gebot« – im Text sind es übrigens nur neun! – konnte im lutherischen Bereich offenbar das katechetisch-musikalische Bedürfnis auch allein abdecken. Es gehört zum Kernbestand lutherischer Gesangbücher. Und nun ein freikirchlicher Rezipient: Die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, die im Laufe ihrer Gesangbuch-Geschichte sieben Luther-Lieder rezipiert hat, nahm dieses Lied Luthers 1935 in ihre Zions-Lieder auf. Offensichtlich fehlte es für die Rubrik »Das Gesetz Gottes« an geeignetem Material. Aus der mitabgedruckten Quellenangabe geht hervor, dass man sich eines 1932 in Augsburg erschienenen lutherischen Choralbuchs bedient hat. Im Geleitwort heißt es: »Wenn ein Dichter einen Gedanken zum Ausdruck gebracht 28 A.F.W. Fischer, Kirchenlieder-Lexicon II, (Anm. 21), 87. 29 G. Brock, Evangelische Liederkonkordanz zum Gebrauche für jedes Gesangbuch, Gütersloh 1 1894; P. Dietz, Tabellarische Nachweisung des Liedbestandes der jetzt gebräuchlichen Landes- und Provinzialgesangbücher des evangelischen Deutschlands, Marburg 1904; G. Brock, Evangelische Liederkonkordanz (s. o.) 21926; F. J. Arnold, Pforte zum heiligen Lied. Wegweiser ins evangelische Gesangbuch, Gütersloh o. J. [1931].

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hat, der unsrer biblischen Erkenntnis nicht entspricht, wurde im allgemeinen nicht versucht, sein Werk durch Veränderungen anzupassen. Dies machte [gemeint ist: jedoch; G.B.] den Fortfall einzelner Strophen und ganzer Lieder notwendig.« Luthers Lied hat in allen 12 Strophen diese Prüfung überstanden. Auffällig ist im übrigen, dass in diesem Gesangbuch für eine im Gottesdienst möglicherweise gewünschte Liedstraffung durch ein Sternchen (*) nach der Strophenziffer die Strophen markiert sind, die nach der Eingangsstrophe auf jeden Fall gesungen werden sollten. Es versteht sich von selbst, dass Luthers Sabbat-Strophe zu den »Sternstrophen« zählt: »Du sollst heilgen den siebten tag, / Daß du und dein haus ruhen mag; / Du sollst von deim Tun lassen ab, / Daß Gott sein Werk in dir hab. / Kyrie eleison!« Jeder Siebenten-Tags-Adventist konnte mit der gedanklichen Interpretation im Hinterkopf, oder besser im Herzen: »Siebter Tag = Sabbat«, fröhlich einstimmen, auch wenn die Sprache 1935 ff. schon leicht antik angemutet haben muss. Nicht von ungefähr folgt wegen des fremden »Kyrie eleison« noch eine aufklärende Fußnote: »Der griechische Ausdruck ›Kyrie eleison‹ bedeutet: Herr, erbarme Dich.« Dieses Beispiel erinnert mich daran, dass auch die Baptisten gerne in legitimatorischer Absicht Lutherzitate (in ihrem Fall natürlich zum Taufverständnis) verwendet haben, z. B. als Fußnote in ihrem Glaubensbekenntnis von 1847. Von hier aus wenden wir noch einmal den Blick hinüber zur methodistischen Luther-Lied-Rezeption. Die aus der wesleyanischen Bewegung hervorgegangene Evangelische Gemeinschaft, die 1968 mit der Bischöflichen Methodistenkirche zur Evangelisch-methodistischen Kirche fusionierte, vollzog 1953 den größten Sprung im hier behandelten Liedbestand. Die 613 Lieder starke Zionsharfe von 1863 enthielt zwar viele klassische (14 von Paul Gerhardt!) und noch mehr pietistische und neopietistische Lieder, aber von Luther nur »Ein feste Burg«, ebenso dann das Gesangbuch von 1873. Dabei blieb es auch in der Ausgabe von 1897 (mit immerhin noch 503 Liedern). 1931 kommen »Aus tiefer Not«, die beiden oben genannten Weihnachtslieder sowie das hier noch nicht erwähnte Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen (EG 518)

hinzu. 1953 aber gesellten sich in einem Anhang diesen fünf Liedern weitere sieben hinzu, nämlich (neben den bereits angeführten Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort; Nun bitten wir den Heiligen Geist; Nun freut euch, lieben Christen gmein; Vater unser im Himmelreich) Christ lag in Todesbanden (EG 101); Komm, heiliger Geist, Herre Gott (EG 125); Vom Himmel kam der Engel Schar (EG 25).

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Dazu heißt es im Vorwort des Anhangs von Johannes Schempp: »In diesem Anhang zum Gesangbuch für die Evangelische Gemeinschaft sind eine größere Anzahl wertvoller Kirchenlieder [43; G.B.], die in der Evangelischen Gemeinschaft zwar bekannt, aber bei der Herausgabe der Notenausgabe 1931 nicht berücksichtigt werden konnten, sowie die für den Gottesdienst notwendigen liturgischen Sätze [8; G.B.] zusammengestellt. Damit ist für das Gesangbuch in seiner um diesen Anhang erweiterten Ausgabe der notwendige Anschluß an das einheitliche deutsche evangelische Liedgut erreicht.« Zwischen den Zeilen ist hier zu lesen, dass damit zugleich eine Annäherung an die Evangelische Kirche erfolgte, die auf landeskirchlicher Seite jedoch zunächst nicht wahrgenommen und erst 1987 mit der wechselseitigen vollen Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft beider Kirchen besiegelt wurde. Dass das Gesangbuch von 1969 dann 17 Luther-Lieder enthält, verstärkte diese Entwicklung. Neu war darunter das Adventslied Nun komm, der Heiden Heiland (EG 4),

(das Baptisten und FeG 1978 aufnahmen). Auch wenn das neue EmK-Gesangbuch von 2002 »nur noch« 13 Luther-Liedtexte enthält, so bleibt unter den »klassischen« Freikirchen die Evangelisch-methodistische Kirche auf Platz 1 der Rezipientenliste. Nebenbei: Die in die EKD eingebundene Herrnhuter Brüderunität hat den Bestand auch zurückgefahren und liegt jetzt (2007) mit 14 Texten nur noch knapp über dem bei den Methodisten. Die EmK hat auch noch ein Unikat beizusteuern. In der Ausgabe von 1969 findet sich Jesus Christus, unser Heiland, der den Tod überwand (EG 102).

Es scheint aber nicht gelungen zu sein, dieses Osterlied heimisch werden zu lassen. – Ob es die Altreformierte Kirche singt? Sie benutzte seit 1965 (bis zur Übernahme der EKG-Ausgabe für die Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland und dann des EG Rheinland/Reformiert mit jeweils vorgeschalteten vollständigen Psalter) zusätzlich zu den 150 Psalmen ein Büchlein Gesänge (1965). Außer diesem Lied sind – bei einem Gesamtbestand von nur 143 Liedern30 – weitere neun Luthertexte enthalten. Ein Fund der besonderen Art schließt diese Liste nur vereinzelt rezipierter Lieder ab: Ach Gott, vom Himmel sieh darein (EG 273).

30 Die davor benutzte Ausgabe hatte insgesamt nur 29 Lieder. Vgl. G. Balders, Hymnologie, (Anm. 11), 9, Anm. 29.

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Luthers Lied über Psalm 12 findet sich (als einziges Lutherlied) in der Sammlung Lieder der Freunde, der Religiösen Gesellschaft der Freunde, erschienen im Quäker-Verlag, Bad Pyrmont [1935]. Das Kennzeichen der Quäker ist ja an sich die »schweigende Andacht«; doch gab es offenbar nicht nur in Nordamerika Tendenzen, gelegentlich auch traditionelle gottesdienstliche Elemente wie eben Choräle zu verwenden.31

4.

Ein Sonderfall: Luthers Musica-Vorwort als Lied

Nun noch ein Blick auf einen Text Luthers, der erst so spät zu einem Lied geworden ist, dass es strenge Hymnologen32 ignorieren. Für Johann Walters »Lob und Preis der löblichen Kunst Musica« von 1538 steuerte Luther eine »Vorrede auff alle güte Gesangbücher« in Gedichtform bei, in der Fraw Musica selbst das Wort ergreift. Hier »kulminiert Luthers Musik-Theologie, die er lebenslang bedacht und geäußert und damit auch Sinn und Wert des geistlichen Singens untermauert hat.«33 So Martin Rößler, der an anderer Stelle über die Transformation des Textes zu einem Lied mitteilt: »Um 1850 liegen die ersten Versuche vor, aus den letzten 16 Zeilen …, in vier Strophen abgeteilt, ein Geistliches Volkslied zu gewinnen: ein Naturlied, ein Loblied auf die Musik als vorfindliche Schöpfungsgabe, kein Kirchenlied. Die Vertonungen, darunter auch Chorlieder, haben sich jedoch nicht weiter verbreitet.«34 Der im Kontext der Singbewegung des frühen 20. Jahrhunderts einzuordnende, bis 1945 in BerlinSchöneberg tätige Kirchenmusiker Karl Lütge (1875 – 1967) hat den »Liedtext« dann mit einer Melodie versehen, die auf Elemente einer um 1400 entstandenen Weise zurückgeht und für Wandervögel bestens geeignet war und ist.35 Das Werk erschien in einem Privatdruck aus Anlass des Reformationsjubiläums 1917. Das Incipit der Liedfassung lautet: Die beste Zeit im Jahr ist mein (EG 319). 31 Das Liederheft enthält in alphabetischer Abfolge 31 Lieder von 25 Autoren und diverser Thematik. Eine Kopie wurde mir freundlicherweise von Claus Bernet zugänglich gemacht. 32 Z. B. J. Stalmann in seinem MGG-Beitrag (Anm. 17). 33 M. Rößler, Art. Luther, Martin, in: W. Herbst (Hrsg.), Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs. Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Band 2, Göttingen 1999, (204 – 208), 207. 34 M. Rößler, 319 Die beste Zeit im Jahr ist mein, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 13, Göttingen 2007, (94 – 96), 94 (musikwissenschaftlicher Teil des Artikels von J. Block / M. Rößler zu diesem Lied aaO., 89 – 96). 35 Näheres s. die Artikel von H. Kornemann, Art. Lütge, Karl, in: W. Herbst (Hrsg.), Komponisten und Liederdichter, (Anm. 33), 203 f., sowie von [Johannes Block und] M. Rößler, Liederkunde, (Anm. 34), 89 – 96.

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Dieses Lied muss begeistert aufgenommen worden sein. Der Hymnologe Julius Smend schreibt bereits 1924 in seiner Festschrift zum 400jährigen GesangbuchJubiläum »Das evangelische Lied von 1524«, Luthers »entzückendste[s] Zeugnis seiner Liebe zur Tonkunst« sei »in seinen letzten viermal vier Zeilen zum Volkslied geworden.«36 Dieses »neue« Lutherlied fand nicht nur Eingang in zahlreiche Liederbücher der Jugend- und der Singbewegung, von dort auch in freikirchliche Jugendliederbücher (Methodisten: Brunnquell aller Freude 1953; EFG/FeG: So singen wir / Jugendpsalter 1957), es fand sogar recht schnell einen Platz in kirchlichen Gesangbüchern: 1931 ist es einer Konkordanz zufolge bereits in sieben landeskirchliche Bücher aufgenommen worden.37 Im Stammteil des EKG von 1950 wurde es aber übergangen; ob es in Regionalausgaben enthalten war, konnte ich noch nicht überprüfen. Auf jeden Fall taucht es erstaunlicherweise (oder doch nicht so erstaunlich?) bereits vor dem EG (dort jetzt Nr. 319) in der EKG-Ausgabe der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (1987, Nr. 555) auf. In anderen freikirchlichen Gemeindegesangbüchern findet man es nur bei den Mennoniten 1972 und ebenso im neuen Gesangbuch von 2004. Dabei fällt aber auf, dass die mennonitischen Herausgeberinnen (ich verwende hier bewusst die feminine Form – es gibt kein anderes offizielles Gesangbuch in Deutschland, das die Impulse der feministischen Bewegung derart konsequent umzusetzen bemüht war), das Incipit wie folgt schreiben: »Die beste Zeit im Jahr ist Mai’n«. Ich weiß nicht, wer diese Lesehilfe erfunden hat; sie ist gutgemeint, aber geht – wie mir Fachleute versichert haben – trotzdem fehl. Man lese den Kontext: Die beste Zeit im Jahr ist mein, da singen alle Vögelein, was in unserem Sprachgebrauch nichts anderes heißt als: Die beste Zeit im Jahr gehört mir, der Musika, nämlich jene Zeit, da, d. h. in der alle Vögelein singen usw. Ich glaube nicht, dass Luther der Meinung war, nur im Monat Mai würden alle Vögel singen! Ansonsten sollte man sich einmal das ganze Loblied auf die Musik zu Herzen nehmen, heißt es darin doch: Hier bleibt kein Zorn, Zank, Haß noch Neid, weichen muss alles Herzeleid. Geiz, Sorg und was sonst hart anleit, fährt hin mit aller Traurigkeit. Auch ist ein jeder des wohl frei, dass solche Freud kein Sünde sei, sondern auch Gott viel bas (mehr) gefällt denn alle Freud der ganzen Welt.

Es folgt das biblische Beispiel Saul/David. Und dann Luthers besonderer Akzent: Zum göttlichen Wort und Wahrheit / macht sie das Herz still und bereit.

Schließlich heißt es von der Nachtigall als Vorsängerin: 36 J. Smend, Das evangelische Lied von 1524. Festschrift zum 400jährigen Gesangbuch-Jubiläum, Leipzig 1924, 78. 37 Vgl. F. J. Arnold, Pforte, (Anm. 29), 8 f.

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[Vor Gott] singt und springt sie Tag und Nacht, Seins Lobes sie nicht müde macht. Den ehrt und lobt auch mein Gesang / Und saget ihm ein ewigen Dank.

5.

Ergebnis

Die bisherigen Ergebnisse lassen sich nicht leicht zusammenfassen. Jedenfalls kann man festhalten, dass einige Lieder Luthers auch im freikirchlichen Raum schon länger zum Kernbestand gehören, während andere erst seit etwa 1930 hinzugekommen sind; dies lässt sich vor allem mit dem Einfluss der Singbewegung erklären, die das »alte« Liedgut besonders pflegte. Dabei waren mit Sicherheit die dem gemeinsamen Christlichen Sängerbund (CS) angehörenden Chöre die Vorsänger der Gemeinden. Das Liedrepertoire des Sängerbundes löste sich während der Tätigkeit von Paul Ernst Ruppel als Bundessingwart (von 1936 bis 1977) mehr und mehr vom zuvor dominierenden Erweckungsliedgut und entdeckte unter anderem das überlieferte »kirchliche« Liedgut. Aus Zeitgründen war es mir nicht möglich, das Liedrepertoire des Sängerbundes auf Lutherlieder hin zu untersuchen; hier ist eine Quelle für die Neuaufnahme von Lutherliedern in den Gesangbüchern der dem CS verbundenen Freikirchen zu vermuten. Parallel dazu ist auch auf das – spätestens seit Gründung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) – sich bessernde zwischenkirchliche Klima hinzuweisen, im Bereich der Hymnologie viele Jahre verkörpert durch die Mitwirkung von Paul Ernst Ruppel in der Arbeitsgemeinschaft Ökumenisches Liedgut. Eine Gegenuntersuchung würde zeigen, dass auf diese Weise auch manche Liedschöpfungen, die in freikirchlichem Kontext entstanden oder veröffentlicht wurden (Ruppel, Herbert Beuerle, Hans-Georg Lotz, auch Johannes Petzold u. a.), in evangelisch-landeskirchliche und katholische Bücher gelangt sind. Schließlich muss noch erwähnt werden, dass die Gesangbuchentwicklung der jüngsten Zeit gänzlich andere Tendenzen zeigt (sog. Neues geistliches Lied, besonders aus dem Kontext Kirchentag; evangelikale Liedermacher ; christliche Popmusik; die worship-song-Welle usw.). In immer mehr Gemeinden und freien Gruppen wird nicht mehr aus einem mit anderen Gemeinden gemeinsamen Buch gesungen, sondern aus Modeschöpfungen des freien Marktes oder per power-point von der Leinwand – der Abstand zu Luther und überhaupt zum klassischen Kirchenliedrepertoire vergrößert sich zusehends. Ein Beispiel: 2001 erschien in einem Privatverlag Unser Liederbuch. Gemeindelieder, gestern – heute – morgen. Zwei Lieder von Luther haben es noch einmal geschafft, hineinzukommen (Ein feste Burg; Vom Himmel hoch), der Rest dürfte als von vorgestern eingestuft worden sein. Der Herausgeber Klaus Heizmann betreute dann auch noch das allerjüngste freikirchliche Liederbuch, das – man höre und staune

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– Gesangbuch der Mennoniten der Vereinigung der Mennonitengemeinden Paraguays (die dort die größte evangelische Kirche bilden!), mit dem gleichen Befund, was Luther betrifft.38 Gilt vom überlieferten Liedgut womöglich: »Laß fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn«? Ich weiß, so einfach ist es nun auch wieder nicht zu erklären.

6.

Würdigung von Luthers Liedschaffen im Spiegel der Gesangbuch-Biogramme

Konzentrieren wir uns abschließend noch einmal auf Martin Luther. Über ihn als Liedschöpfer habe ich leider bisher keine aus freikirchlicher Feder stammenden Aufsätze finden können. Also habe ich mir die Kurzbiographien vor Augen geführt, die in den Anhängen einiger Gesangbücher zu finden sind. Dabei sind manche Einträge erkennbar voneinander abhängig. Schon die jeweils für erforderlich gehaltene Länge des Eintrags sagt etwas. Das vorletzte Gesangbuch der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche etwa bietet vor einer Aufzählung aller Incipits außer Geburts- und Todesjahr und Berufsangabe nur ein Schlagwort, in diesem Fall: Martin Luther. 1483 – 1546. Der Reformator.

Für deren Kirchenmitglieder dürfte das auch gereicht haben. Zum Vergleich: Paul Gerhardt. 1607 – 1676. Lutherischer Konfessor. Diakonus an St. Nikolai in Berlin.

Umgekehrt äußert sich das Luther-Biogramm im neuen EG weitläufig zu Luthers Biographie und zu seinem Wirken als Liedschöpfer – 27 Zeilen lang, eine hymnologische Nachhilfestunde! (Gerhardt muss sich mit 14 Zeilen begnügen.) In Gesangbüchern »klassischer« Freikirchen haben die Baptisten 1895 den knappen Eintrag: Luther, Martin, der deutsche Reformator und Begründer des deutschen Kirchengesanges, geb. 1483 zu Eisleben, gest. 1546 ebenda. Er dichtete 37 geistliche Lieder, darunter [folgen drei Nummern].

Hier gilt die Nachhilfestunde (verständlicherweise) den baptistischen Autoren wie Köbner und Lehmann, die viel längere Einträge bekommen. Dass Luther als »der deutsche Reformator« tituliert wird, entspricht der oben angesprochenen nationalen Tendenz. Auch in der Glaubensstimme von 1950 wird er so benannt. 38 Darin sind immerhin acht Lieder von Paul Gerhardt enthalten, ansonsten aber zahlreiche neue, besonders aus dem sog. evangelikalen Bereich (z. B. solche des Buchbetreuers Klaus Heizmann, aber auch solche von Peter Strauch u. a.). Auf die Proportionen mögen sich spätere Hymnologen einen Reim machen.

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Bei den Mennoniten ist er 1910 – 1950 »der große Reformator Deutschlands«, 1972 abgeschwächt in die neutralere Charakterisierung »der führende Reformator Deutschlands«. Die Ausgabe 2004 bietet einen kurzen Lebenslauf, in dem es heißt: 1517 Thesenanschlag gegen Ablass und damit Beginn der Reformation in Deutschland.

Im Paraguay-Gesangbuch 2007 wird eine Erklärung nachgeschoben: […] Thesenanschlag gegen den Ablass der katholischen Kirche.

(NB: Die katholische Kirche ist in Paraguay nach wie vor offizielle Staatsreligion, obwohl sie sich mehr und mehr vom Staat gelöst hat, v. a. wegen der seit den 1960er Jahren häufigen Konflikte mit der Regierung in Sachen Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit). Der Eintrag im Gemeindepsalter (1930 – 1978 in Gebrauch) der Freien evangelischen Gemeinden, aus der Feder von Johannes Giffey stammend, zeigt sehr deutlich protestantisch-konfessorische Züge mit »deutsch-nationalem« Unterton: Luther, Martin, der deutsche Kirchenreformator und Vater des deutsch-evangelischen Kirchenliedes …, 1508 Professor in Wittenberg, wo er am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen anschlug als Zeugnis wider den Ablaßhandel, sagte sich aber erst 1520 los von der römischen Kirche durch Verbrennung der päpstlichen Bannbulle. Dem deutschen evangelischen Volke schenkte er seine Bibel.

Man vergleiche damit den Text, den man für die adventistischen Zions-Lieder von 1935 i. W. aus Evangelischer Psalter der Gemeinschaftsbewegung von 1930 übernommen hat: Deutschlands Reformator ist auch der Begründer und Meister des deutschen evangelischen Gemeindegesangs, »die Wittenbergisch Nachtigall« [ein Zitat von Hans Sachs; G.B.]. Er überarbeitete ältere Kirchenlieder und legte sie der evangelischen Kirche in den Mund. Die von ihm selbst gedichteten Lieder reißen hin durch ihren weltüberwindenden Glauben und ihre einfache Kunst.

In der Vorlage Evangelischer Psalter »reißen« die Lieder übrigens nicht hin »durch ihre einfache Kunst«, sondern »durch ihre einfache Kraft«. Hier wird im Predigtstil Luthers hymnologische Leistung gelobt. Das Gemeinschaftsliederbuch von 1949 bietet den gleichen munter-ermunternden Text, doch 1983 wird der Satz gekürzt, den Nachsatz: »und legte sie der evangelischen Gemeinde in den Mund« hat man gestrichen – das Thema »evangelische Gemeinde« – Evangelische Kirche ist im Gnadauer Kontext sensibel. Auf den »Kraft«-Aspekt hat man aber nicht verzichtet; er findet sich auch im (mit den Gnadauer Editionen konkurrierenden) Reichslieder (1931), die Luthers Lieder ähnlich charakterisieren:

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Seine Lieder zeichnen sich durch glaubensstarke Kraft aus.

Eigene Akzente versucht das Gesangbuch der methodistischen Evangelischen Gemeinschaft zu setzen (1931; 1953): Luther …, der deutsche Reformator, hat seinen lieben Deutschen [verdecktes Lutherzitat; G.B.] neben der deutschen Bibel auch das deutsche Gesangbuch geschenkt. Bei seinen Dichtungen hatte er das Bedürfnis der Gemeinde im Auge und wollte ihr zum Singen in der Muttersprache verhelfen. Er schuf vor allem Bibellieder, zunächst Bearbeitungen von Psalmen …

Damit verglichen geradezu verhalten äußert sich das Lutherbiogramm der Bischöflichen Methodistenkirche (1926): Luther … der Reformator Deutschlands und Begründer evangelischen Kirchengesangs. Durch Bearbeitung, Uebersetzung und Erweiterung älterer Kirchengesänge sowie durch Originaldichtungen hat er der evangelischen Gemeinde [sic!] eine Anzahl Lieder gegeben.

Nach der Zusammenführung der Evangelischen Gemeinschaft und der Bischöflichen Methodistenkirche erschien 1969 deren neues Gesangbuch. Darin wird der Text der BMK von 1926 fortgeschrieben; aus Kirchengesängen werden Kirchenlieder, nun hat Luther seine »zahlreichen« Kirchenlieder (bisher »-gesänge«) nicht mehr »der evangelischen Gemeinde«, sondern »der evangelischen Christenheit« gegeben (usw.). Fast hört man im Hintergrund Christian Gottlob Barth und Otto Riethmüller singen: »Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit!«39 Sind die Lieder Luthers wenigstens dazu noch geeignet? Anders als der lange, ohne Werturteile daherkommende Text im heutigen EG bezog das bekanntermaßen »restaurative« EKG von 1950 Stellung: Luther ist der Schöpfer des deutschen Gesangbuches. […] Für die innere Ausstattung der Gesangbücher hat Luther selbst als Dichter und Melodieerfinder Entscheidendes beigesteuert, und seine Lieder sind bis heute Vorbild und Richtschnur geblieben.

Richtschnur heißt auf Griechisch Kanon. Luthers Lieder haben also – dem EKG zufolge – für die Evangelische Kirche nachgerade kanonischen Rang. Damit erklärt sich, warum trotz der nicht zu leugnenden Schwierigkeit bei der Nutzung nicht weniger seiner Lieder im kirchlichen Gottesdienst und Alltagsleben auch das aktuell gültige Evangelische Gesangbuch die »alten« ebenso wie die lebendiggebliebenen, also eher »neuen« aus Luthers Nachlass (um nicht zu sagen: Testament) enthält und in Regionalteilen sogar ein paar aus dem Bestand der »Apokryphen« auftauchen, »gut und nützlich zu singen«? Ich erinnere noch einmal an jenes Breslauer Gesangbuch, in dem Luthers Lieder eine eigene Vorweg-Rubrik bilden. Ich gebe Heinz Hoffmann recht mit 39 EG 262; 263.

Luthers Lieder in freikirchlicher Rezeption

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seiner Deutung, hier handele es sich um »pietätvolle Aufbewahrungen. Aber wo wir einer solchen begegnen, ist gerade das Bewußtsein des historischen Abstands um so deutlicher.«40 Dies gilt wohl auch für die Tendenz, wenigstens Luthers Lieder allen Modernisierungstendenzen zum Trotz in möglichst großer Zahl im Gesangbuch präsent sein zu lassen. Geht es den Freikirchlern ähnlich, den Methodisten zum Beispiel mit ihrem »angelsächsischen Paul Gerhardt« Charles Wesley? Oder handelt es sich hier eher um den Versuch, die eigene Identität durch anregende Neuentdeckungen in der eigenen Liedgeschichte zu stärken? Die Baptisten haben übrigens die Eigenbeiträge von Julius Köbner von ursprünglich 62 auf ein Lied zurückgefahren. Selbst die Herrnhuter haben die Anzahl der Lieder Zinzendorfs reduziert… (1967: 174 Texte, 2007 »nur noch« 102 Texte). Aber das alles lässt sich nicht mit Luthers Liedern und deren Wirkungsgeschichte (und analog dem des Genfer Psalters) vergleichen. Als der Baptistengründer Oncken bei einem Jubiläum von ausländischen Besuchern überschwenglich gelobt wurde, erwiderte er : »Hier ist kein Luther und kein Calvin«, und fuhr fort: »Gott allein soll die Ehre haben«. Diesem Nachsatz hätte Luther auf jeden Fall zugestimmt. Und man kann auch getrost bezweifeln, dass er seine Lieder für sakrosankt erklärt hätte. Keine Frage: Martin Luther hat Maßstäbe gesetzt für das Kirchenlied, in allen drei untrennbar miteinander verbundenen Bereichen: Theologie, Musik und Sprache, um Luthers Weihnachtsengel zu zitieren: »Der guten Mär (Nachricht) bring ich so viel, davon ich singn und sagen will.« Davon ist die Wirkungsgeschichte geprägt, auch die in den Freikirchen.

7.

Keine Zusammenfassung

Eine Zusammenfassung ist mir in diesem Fall nicht möglich, zu viele Aspekte greifen ineinander über in den Spannungsfeldern Staats-, dann Landes-Kirche / Freikirche; Kirche / Gemeinde; Poesie / Alltagssprache; Kirchenmusik / Popularmusik; zeitlicher Kontext / zeitgeschichtliche Rezeption; originale Intention (z. B. Trostlied) / faktische Rezeption (Trotzlied); Tradition / Innovation. Neulich las ich einen Artikel über Paul Gerhardt und Johann Sebastian Bach mit der Überschrift: Fremde Vertraute. Dies gilt summa summarum auch für Martin Luther und die Freikirchen. Ein neues Denkmal war in der freikirchlichen Rezeption nicht zu entdecken. Es gibt bereits genug davon, solche, vor denen man sich verbeugen kann und die es verdient haben, dann und wann geputzt zu werden, und solche, die als Relikte vergangener Zeiten verstauben. Soviel ist 40 H. Hoffmann, Tradition, (Anm. 22), 50.

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Günter Balders

klar : Wenn Luther singt: »Das Wort sie sollen lassen stahn und kein’n Dank dazu haben«, dann meinte er das geoffenbarte Wort Gottes, zu dem es nichts hinzuzudichten gibt. Der Wortlaut seiner Lieder ist nicht gemeint, dazu kann man manchen Gedanken äußern.

Uwe Swarat

Jenseits der Taufkontroverse – Wo sich Baptisten Luther anschließen könn(t)en

Wenn man sich als baptistischer Theologe bewertend über Luthers Theologie äußern soll, dann könnte dies gewiss auf den alten Wegen der Kontroverstheologie geschehen. Man müsste dann erklären, warum ein Baptist Luthers Verteidigung der Säuglingstaufe für misslungen hält, möglicherweise sogar, warum Luthers Sakramentsverständnis insgesamt fehlgeht, auch, warum Luthers Anhänglichkeit an das volkskirchliche Modell des Christentums eine wahre Reformation der Kirche verhindert hat und warum sein Vorwurf an den Papst, er sei der Antichrist,1 auf Luther selbst zurückfällt, da auch er, Luther, die Heiligen, nämlich die Täufer, verfolgt hat (vgl. Offb 13,7). Glücklicherweise jedoch hat sich diese Art von Kontroverstheologie im Laufe des 20. Jahrhunderts weitgehend erledigt, weil die ökumenischen Dialoge gezeigt haben, dass die Begegnung mit Vertretern anderer Konfessionen im Geist christlicher Liebe ein differenziertes Wahrnehmen des anderen, ein gemeinsames Fragen nach der biblischen Wahrheit, wechselseitiges Lernen voneinander und das Entdecken zahlreicher Konsense ermöglicht. Angesichts der ökumenischen Lage ist es also durchaus angebracht, wenn ein baptistischer Theologe sich einmal jenseits der Taufkontroverse und der damit zusammenhängenden Streitfragen bewegt und das Verbindende in den Vordergrund stellt. Damit soll nicht geleugnet werden, dass es nach wie vor unaufgelöste theologische Widersprüche gibt, sondern es soll die Erkenntnis vermittelt werden, dass es zwischen baptistischer und lutherischer Theologie auch sehr viele Übereinstimmungen gibt, vielleicht mehr, als viele auf beiden Seiten sich klar machen. Ein solcher Blick auf das Gemeinsame kann sowohl Luthe1 Siehe Passional Christi und Antichristi (1521), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff (= WA) 9,676 – 715 u. ö.; speziell zum Antichristen als Christenverfolger siehe Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind (1521), WA 7,438,26 – 30; auch in Martin Luther, Ausgewählte Werke, hrsg. von H. H. Borcherdt und G. Merz (= Münchener Ausgabe), 2. Band, München 3. Aufl. 1962, 372. Vgl. Bernd Moeller, Luther und das Papsttum, in: Albrecht Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 106 – 115.

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Uwe Swarat

ranern als auch Baptisten helfen, ihre Zusammengehörigkeit innerhalb der reformatorischen Tradition deutlicher wahrzunehmen und entschlossener anzunehmen. Damit zu verbinden wäre natürlich der Wille, diese Gemeinsamkeiten weiter zu vertiefen. In diesem Beitrag sollen Lehraussagen Luthers vorgestellt werden, denen sich Baptisten nach meinem Urteil theologisch anschließen können bzw. könnten, wenn sie denn die nötige Aufgeschlossenheit mitbringen, und zwar ohne dabei ihre eigenen Überzeugungen zu verleugnen – ja mehr noch, aus denen sie lernen könn(t)en, ihre eigenen Überzeugungen in theologisch gut durchdachter Weise zur Sprache zu bringen. Ein solcher Vergleich zwischen luther’schen und baptistischen Lehraussagen ist allerdings nicht ganz leicht, da es auf baptistischer Seite keine Quellen gibt, die an thematischer Breite und Ausführlichkeit mit den Werken Luthers vergleichbar wären. Darum muss ich es gelegentlich wagen, die baptistische Position auf eigene Verantwortung darzustellen, ohne dabei nur für mich selbst sprechen zu wollen, sondern zu formulieren, was nach meiner Wahrnehmung als mündliche Tradition das Denken baptistischer Theologen und Gemeindeglieder in Deutschland bis in die jüngere Vergangenheit geprägt hat. Das Thema dieses Beitrags macht es erforderlich, auch eine bestimmte Deutung der theologischen Aussagen Luthers vorzunehmen – was für jemanden, der weder ein Lutherspezialist ist noch überhaupt einer lutherischen Kirche angehört, natürlich ebenfalls ein Wagnis darstellt. Ich werde mich auf Fachliteratur aus lutherischer Feder stützen, in erster Linie auf neuere Gesamtdarstellungen von Luthers Theologie2, aber auch auf verschiedene Einzeluntersuchungen. Das Bild von Luthers Theologie, das sich mir aus der Lektüre ergeben hat, ist natürlich von meinem eigenen Vorverständnis mitgeprägt, aber – so hoffe ich – dennoch weitgehend zutreffend und auch für Lutherkenner nachvollziehbar. In dem mir zur Verfügung stehenden Raum kann ich nicht die gesamte Theologie Luthers auf Übereinstimmungen und/oder Unterschiede zu baptistischen Überzeugungen durchmustern, sondern muss Themengebiete auswählen. Das tue ich in der Weise, dass ich mich auf die Bereiche Rechtfertigungslehre, Ekklesiologie und politische Ethik, speziell das Verhältnis von Staat und Kirche, beschränke. Ich tue das in der Gewissheit, dass in diesen drei Bereichen Themen zur Sprache kommen, die auch Baptisten ein besonderes Anliegen sind. 2 Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003; 2., durchgesehene Aufl. 2004; Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995; Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962; 2., durchgesehene Aufl. 1963 (= 7. Aufl. 1994); Ders., Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1965.

Jenseits der Taufkontroverse

1.

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Rechtfertigung als Vergebung und Erneuerung

Der Begriff »Rechtfertigung«, der im Zentrum von Luthers Theologie steht, wird in der baptistischen Theologie und Verkündigung nur selten gebraucht. Man spricht hier eher von der Versöhnung zwischen Gott und Mensch, von der Erlösung der Welt durch Jesus Christus oder von der Bekehrung und Wiedergeburt des Menschen. Der Sache nach ist die lutherische Rechtfertigungslehre jedoch sowohl in den baptistischen Bekenntnissen als auch in der Verkündigungstradition präsent.3 Die Erlösung des Menschen beruht demnach allein auf Person und Werk Christi und wird dem Sünder allein aus Gnaden zuteil, und zwar durch das Mittel der Wortverkündigung, die im Glauben angenommen wird, so dass der Mensch durch diesen Glauben allein und nicht durch seine Werke zum Kind Gottes wird. Die lutherischen Exklusivformeln sola fide, sola gratia, per Christum solum sind feste Bestandteile baptistischen Glaubens. Freilich betont der Baptismus besonders die Zusammengehörigkeit von Glauben und Werken, Sündenvergebung und neuem Leben, Rechtfertigung und Heiligung, und zwar derart, dass das Gewicht zumeist auf den jeweils zweitgenannten Begriffen liegt, also auf dem neuen Leben, den Werken und der Heiligung. Das wird wohl auch der Grund sein, warum der für Luther schlechthin zentrale Begriff Rechtfertigung von Baptisten eher selten gebraucht wird. Man sah und sieht in der lutherischen Tradition vielfach eine Lehre und Verkündigung dominieren, die Rechtfertigung als bloßen Freispruch von Sünden versteht, als göttlichen Urteilsakt über den Menschen, der im Menschen selber alles beim Alten lässt und deshalb durch die Heiligung des Menschen ergänzt werden muss. Dieses Bild entspricht einerseits der traditionellen katholischen Kritik an der lutherischen Lehre, andererseits sowohl der Haltung des Täufertums, das bei den Lutheranern die Nachfolge Jesu vernachlässigt sah, als auch dem Leitmotiv des Pietismus, der in den aus der landesherrlichen Reformation erwachsenen Kirchen das heilige Leben der Christen gemäß dem Wort Gottes vermisste und diesem Mangel abzuhelfen versuchte. Der Baptismus in Deutschland hat also vom Täufertum und vom Pietismus die Vorstellung übernommen, dass die lutherische Rechtfertigungslehre gewissermaßen auf halbem Wege stehen geblieben und von der Vergebung der Sünden nicht zur ethischen Erneuerung des

3 Vgl. Volker Spangenberg, Was ist uns wichtig? Grundlegende Identitätsmerkmale der Rechtfertigungslehre aus der Tradition für die heutige Situation (Baptismus), in: Rechtfertigung in freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht, hrsg. von W. Klaiber und W. Thönissen, Paderborn 2003, 57 – 71; Uwe Swarat, Das baptistische Verständnis von Rechtfertigung und die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« von Lutheranern und Katholiken, in: Von Gott angenommen – in Christus verwandelt, Beiheft zur Ökumenischen Rundschau Nr. 78, hrsg. von U. Swarat u. a., Frankfurt am Main 2006, 177 – 197.

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Lebens weitergeschritten sei. Das ist jedoch eine Vorhaltung, die man vielleicht dem nachreformatorischen Luthertum, aber nicht Luther selbst machen kann. Luther nämlich verwendet das Wort »Rechtfertigung« oder »rechtfertigen« in einem doppelten Sinn.4 Einmal bezeichnet er damit das Urteil, mit dem Gott den Menschen für gerecht erklärt, also den richterlichen Akt der Gerechtsprechung des Sünders. Luther gebraucht das Wort aber auch, um das Geschehen zu bezeichnen, durch das der Mensch wesenhaft Anteil gewinnt an der Gerechtigkeit Christi; dabei geht es um das tatsächliche Gerechtwerden des Menschen. Mit dem forensischen, richterlich freisprechenden Akt ist bei Luther also aufs engste der effektive, den Menschen innerlich verändernde Akt Gottes verbunden. In erster Linie ist Rechtfertigung für Luther in der Tat ein forensisches Geschehen. Die Gerechtsprechung des Sünders geschieht einmal dadurch, dass Gott dem Menschen seine Sünde nicht anrechnet, dass er also die Sünde vergibt, und sodann dadurch, dass Gott dem Sünder eine Gerechtigkeit zuerkennt, die er in sich selbst nicht hat, sondern die ihm von außen, als fremde Gerechtigkeit zuerkannt wird, nämlich die Gerechtigkeit Jesu Christi. Die Gerechtigkeit des Christen ist also keine andere als die Gerechtigkeit Christi. Rechtfertigung als Gerechtsprechung oder Gerechtgeltung vor Gott wird uns nach Luther nur im Glauben zuteil. Glauben heißt, dass wir Gottes Urteil über uns gelten lassen: sein Urteil über uns ohne Christus, nämlich die Verwerfung, aber auch sein Urteil über uns um Christi willen, und das ist die Annahme durch Gott. Der Glaube rechtfertigt nicht durch sich selbst, sondern allein dadurch, dass er Christus ergreift und Christus dem Menschen einwohnen lässt. In diesem Verständnis des Glaubens als innere Gemeinschaft mit Christus verbinden sich die beiden Aspekte, in denen Luther von Rechtfertigung redet: Rechtfertigung als Für-Gerecht-Erklärung um Christi willen und Rechtfertigung als Gerechtmachung durch Christus. Die tatsächliche Gerechtmachung des Menschen, d. h. seine neue seinshafte Gerechtigkeit, ergibt sich daraus, dass Christus durch den Glauben in seinem Herzen wohnt. Christus wirkt als Macht Gottes, die uns Sünder von innen her dem Wesen Christi gleichgestaltet. Luther sagt, dass Christus das Gesetz Gottes uns zugute in doppelter Weise erfüllt: einmal durch sich selbst außerhalb von 4 Zur Rechtfertigungslehre Luthers vgl. neben den oben Anm. 2 genannten Gesamtdarstellungen von Luthers Theologie auch Hans Christian Knuth (Hrsg.), Angeklagt und anerkannt. Luthers Rechtfertigungslehre in gegenwärtiger Verantwortung, Erlangen 2009; Dietrich Korsch, Glaube und Rechtfertigung, in: A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 372 – 381; Albrecht Peters, Rechtfertigung. Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 12, Gütersloh 1984, 2. Aufl. 1990, 27 – 62; Otto Hermann Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Mainz 1967 (= Darmstadt 1985); Wilfried Joest, Gesetz und Freiheit. Das Problem des Tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen 1951, 4. Aufl. 1968.

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uns für uns, sodann aber auch durch den Heiligen Geist in uns, indem wir Christus nachfolgen. Der Glaube ist also die Gemeinschaft mit Christus und als solcher zugleich der Ursprung eines neuen Gehorsams Gott gegenüber, der Anfang eines neuen Seins. Das Empfangen der Vergebung im Glauben ist zugleich das Empfangen einer neuen Bereitschaft zum Dienst der Liebe am Nächsten und zum Kampf gegen die Sünde. Die beiden Aspekte der Rechtfertigung des Sünders gehören also wesenhaft zusammen, bleiben aber doch unterschieden. Die Gerechtigkeit aufgrund der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi unterscheidet sich von der seinshaften Gerechtigkeit dadurch, dass sie bereits in der Gegenwart zum Abschluss gekommen ist: Wir sind gerecht. Die Gerechtmachung ist dagegen noch nicht vollendet, sondern hat erst angefangen. Hier muss man sagen: Wir werden erst noch gerecht. Es gilt also ein »schon und noch nicht«: Wir sind schon gerecht im Sinne der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi; wir sind noch nicht gerecht im Sinne der seinshaften Gerechtigkeit in uns. Der Blick auf die seinshafte Gerechtigkeit des Menschen verdrängt bei Luther allerdings nicht den Blick auf Christus. Auch die neue Schöpfung, die im Menschen begonnen hat, ändert nämlich nichts daran, dass der Christ immer noch Sünder ist. Die neue seinshafte Gerechtigkeit hat ja erst angefangen, und das, was ihr in unserem Leben noch nicht entspricht, ist und bleibt Schuld. Wir können unsere Fortschritte in der Heiligung nicht verrechnen mit unserem Versagen, sondern das, was wir Gott schuldig bleiben, kann nur um Christi willen vergeben werden. Solange wir leben, vermischen sich außerdem unser Gehorsam und unsere Liebe mit der Sünde, und darum können auch die Werke, die wir aus Glauben tun, uns vor Gott nicht rechtfertigen; sie bleiben halbherzig, halbfertig und von Sünde befleckt, und können uns nur um Christi willen nicht als Schuld angerechnet werden. Im Rechtfertigungsverständnis Martin Luthers sind also Vergebung und Erneuerung, Freispruch und Verwandlung, Ende des alten und Anfang des neuen Menschen aufs engste miteinander verbunden. Die Heiligung als wachstümlich sich entfaltendes neues Leben gehört für Luther zum Begriff der Rechtfertigung hinzu. Insofern ist in seiner Theologie die Heiligung viel enger mit der Rechtfertigung verbunden als etwa bei Philipp Melanchthon oder auch bei Johannes Calvin.5 Auch für Melanchthon gehören Vergebung und Erneuerung zusammen, er beschränkt den Begriff Rechtfertigung aber auf die Vergebung, die Befreiung 5 Siehe Philipp Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere, hrsg. von R. Jenett und J. Schilling, Leipzig 2002, 271 – 273 und Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, hrsg. von M. Freudenberg, Neukirchen 2009 (Kap. III.11). Vgl. neben dem in Anm. 4 genannten Buch von Albrecht Peters auch die von diesem lutherischen Theologen gemeinsam mit dem Katholiken Otto Hermann Pesch verfasste Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt 1981, 3. Aufl. 1994.

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von der Schuld der Sünde. Die Erneuerung oder die Befreiung von der Macht der Sünde wird als eine notwendige Folge der Rechtfertigung gesehen, aber eben damit nicht mehr als Element der Rechtfertigung selbst betrachtet. Diese begriffliche Einschränkung der Rechtfertigung auf die Zuschreibung der fremden Gerechtigkeit Christi hat wahrscheinlich viel dazu beigetragen, dass in der nachreformatorischen lutherischen Theologie zunehmend der Aspekt der Gerechtmachung, also das effektive Element des Rechtfertigungsvorgangs, hinter den Aspekt der Gerechtgeltung zurücktrat. Auch Calvin hat zwischen Rechtfertigung und Heiligung, bzw. zwischen Sündenvergebung und Wiedergeburt unterschieden. Rechtfertigung ist auch für ihn nicht Gerechtmachung, sondern Gerechtgeltung, zu der die geistliche Erneuerung, die sich durch das ganze Leben des Christen erstreckt, erst noch hinzukommen muss. Obwohl Calvin die tatsächliche innere Erneuerung des Gerechtfertigten so wichtig ist, dass er in seiner Institutio Christianae Religionis (Unterricht in der christlichen Religion) diesen Aspekt sogar vor dem der Vergebung darstellt, hat er die von Luther vollzogene Integration von Vergebung und Erneuerung nicht bewahrt. Den Doppelcharakter der christlichen Gerechtigkeit als zugesprochene und als seinshafte bildet auch Luthers bekannte Formel simul iustus et peccator ab. Der Christ ist für Luther »gerecht und Sünder zugleich«. Beides gilt zugleich, weil es in je verschiedener Hinsicht gesprochen ist. Sünder sind wir im Blick auf Gottes strenges Gericht, gerecht sind wir im Blick auf seine große Barmherzigkeit. Sünder sind wir in uns selbst, in unserer irdischen Realität, gerecht sind wir durch Gottes Urteil, das uns um Christi willen für gerecht gelten lässt. Beides gilt immer gleichzeitig von ein und demselben Menschen, und zwar das ganze Leben hindurch, und es gilt total: Ich bin nicht teils Sünder, teils gerecht, sondern ganz Sünder und ganz gerecht, je nach dem, ob ich auf mich selbst oder auf Christus sehe. Aber das simul iustus et peccator bezeichnet bei Luther nicht nur zwei Totalaspekte des Christen, sondern auch Partialaspekte, d. h. es gilt auch ein teilsteils.6 Unter dem Partialaspekt ist der Christ gerecht, weil er in der Macht Christi, der durch den Glauben in seinem Herzen wohnt, gegen sich selbst als den alten Menschen kämpft; er ist also gerecht, sofern sich die seinshafte Gerechtigkeit in seinem Leben entfaltet; aber er ist zugleich Sünder, weil er zeitlebens gegen die Sünde kämpfen und den alten Adam täglich neu in den Tod geben muss. Das Sünder-und-gerecht-zugleich gilt hier also deshalb, weil wir in diesem Leben das sündige »Fleisch« niemals vollkommen überwinden. Die Formel simul iustus et 6 Besonders prägnant formuliert hat Luther den Partialaspekt des Simul in der dritten Disputation gegen die Antinomer : »Pii partim iusti sunt, partim peccatores« (WA 39 I, 542, 5 f; deutsch: »Die Frommen sind zum Teil gerecht, zum Teil Sünder«); er findet sich aber auch überall dort, wo Luther vom Kampf des Geistes gegen das Fleisch spricht; vgl. Joest, Gesetz und Freiheit (s. o. Anm. 4), 65 – 68.

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peccator wird von Luther also in einem zweifachen Sinn verstanden, als Ganzheits- und als Teilaussage, und dementsprechend ist auch unser Handeln als Christen in doppeltem Sinn zu verstehen. Aus dem Ganzheitsaspekt folgt, dass wir uns täglich neu an Gottes Urteil über uns hingeben, dass wir täglich neu von uns selbst absehen und uns ganz in Christus gründen. Aus dem Teilaspekt ergibt sich, dass wir im Sterben des alten und im Leben des neuen Menschen ein schrittweises Wachstum erleben. Einerseits bin ich ganz gerecht, andererseits muss ich es immer noch mehr werden. Dieses doppelte Verständnis der Formel simul iustus et peccator wurde nach meinem Eindruck in der baptistischen Theologie bisher kaum zur Kenntnis genommen. Wo Baptisten die Formel zitieren, muss sie gewöhnlich als Beleg dafür herhalten, dass die Heiligung in der Rechtfertigungslehre Luthers nicht genügend Raum hat. Man hat also den Partialaspekt der Formel nicht zur Kenntnis genommen, sondern nur den Totalaspekt gesehen und ihn so interpretiert, als könne es kein geistliches Wachstum und keine Überwindung der Sünde, sondern nur eine ständige Schaukelbewegung zwischen Sünde und Vergebung geben. Allerdings nehme ich auch bei lutherischen Theologen zu selten wahr, dass sie wie Luther die Heiligung als Wachstumsvorgang lehren. Oft höre und lese ich das Lutherwort: »Fortschreiten ist nichts anderes, als immer wieder neu anzufangen«.7 Es fehlt jedoch zumeist der darauf unmittelbar folgende Satz, der lautet: »Anfangen ohne Fortschreiten, dies jedoch ist Rückschritt.« Luther kennt eben auch ein Wachsen und Fortschreiten in der Gerechtigkeit.8 Die Thematik berührt sich natürlich auch mit der Auslegung des 7. Kapitels im Römerbrief des Apostels Paulus und der Frage, ob Röm 7 die Situation des Christen beschreibt, wovon Luther überzeugt war, oder ob dort der noch nicht wiedergeborene Mensch beschrieben und der Christ erst in Röm 8 zum Thema wird, wovon die meisten modernen Exegeten überzeugt sind. Damit verbunden ist die vor allem zwischen Katholiken und Lutheranern umstrittene Frage, ob die im Wiedergeborenen verbleibende böse Begierde (gr. epithymia, lat. concupiscentia) als Sünde anzusehen und der Christ gerade darum gerecht und Sünder zugleich ist, oder ob die böse Begierde im Christen nur ein Potential für die Sünde darstellt, so dass der Christ wesenhaft nicht mehr Sünder, sondern Gerechter ist. Damit öffnet sich vor uns ein weites Feld, auf das wir an dieser Stelle besser keinen Fuß setzen, um nicht zu weit vom Thema abzukommen. Allerdings möchte ich den Abschnitt über die Rechtfertigungslehre nicht 7 Dictata super Psalterium (1513 – 16), WA 4, 350,14 (im Original lateinisch). 8 Dass Luthers Wort vom »immer wieder neu anfangen« das Christsein gerade nicht als Sisyphusarbeit beschreiben will, bei der wir ständig auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen werden, sondern als fortschreitende Bewegung, wurde klar herausgearbeitet von Theodor Dieter, Der junge Luther und Aristoteles, Berlin – New York 2001, 317 – 325.

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schließen, ohne darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass Luther eine derartige Hochschätzung der guten, aus Glauben geschehenden Werke hatte, dass wir bei ihm sogar eine Vorform des gewöhnlich als typisch reformiert angesehenen syllogismus practicus finden, d. h. einen Rückschluss von den Werken auf den Glauben. Werke können nach Luther unser Heil nicht bewirken, denn sie werden erst durch den Glauben gut. Die guten Werke erwachsen also aus dem Glauben. Es gibt für Luther aber auch eine umgekehrte Beziehung zwischen Glaube und Werk, nämlich auf der Erkenntnisebene. Luther sagt nämlich auch: Aus dem Werk kann ich erkennen, ob bei mir und anderen echter Glaube da ist oder nur ein scheinbarer oder ein toter Glaube. Wo ein Mensch sich mit seinen groben Sünden arrangiert hat, da ist klar, dass Gott ihm noch keine Vergebung gewährt hat. Aber da, wo man gute Werke, Werke der Liebe, sieht, wo man Kampf gegen die Sünde und neuen Gehorsam wahrnimmt, da kann man gewiss sein, dass auch echter Glaube da ist. Als Schriftbeleg für diese Erkenntnisordnung nennt Luther vor allem 2. Petr 1,10 und die fünfte Vaterunserbitte mit dem Zusatz Mat 6,14 f;9 er nimmt damit aber auch die Botschaft des Jakobusbriefes positiv auf. Luther bleibt dabei, dass Werke uns das Heil weder erwerben noch sichern können, aber sie können uns doch, weil sie Früchte des Glaubens sind, des Heils gewiss machen.

2.

Die christliche Gemeinde als Gemeinschaft von Priestern

Baptistische Ekklesiologie hat seit ihren Anfängen drei zentrale Aussagen enthalten10, nämlich erstens, dass die christliche Kirche die Gemeinschaft von 9 Die Vergebung, die ein Christ seinem Nächsten gewährt, betrachtet Luther nahezu als Sakrament, nämlich als Zeichen und Siegel der von Gott zugesagten Vergebung (siehe seine Auslegung der fünften Bitte des Vaterunsers im Großen Katechismus, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hrsg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 13. Aufl. 2010, [abgekürzt BSLK], 684 f; Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde, Gütersloh 4., überarbeitete Aufl. 2000, Nr. 792 – 94). Auf 2. Petrus 1,10 verweist Luther u. a. in den Schriften Von den guten Werken, 1520, (WA 6,217,26 f; Münchener Ausgabe, 2. Bd., 3. Aufl. 1962, 19), Die ander Epistel S. Petri und eine S. Judas gepredigt und ausgelegt, 1523/24, (WA 14,22 f) und in seinen Wochenpredigten über Matth. 5 – 7, 1530/2 (WA 32,423,15 – 21). 10 Vgl. Karen E. Smith, Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen. Der Bundesgedanke in der Ekklesiologie des frühen Baptismus, in: Andrea Strübind / Martin Rothkegel (Hrsg.), Baptismus. Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2012, 23 – 43; Paul Beasley-Murray / Hans Guderian, Miteinander Gemeinde Bauen. Ein anderer Weg, Kirche zu sein, Wuppertal und Kassel 1995; Wiard Popkes, Gemeinde – Raum des Vertrauens. Neutestamentliche Beobachtungen und freikirchliche Perspektiven, Wuppertal und Kassel 1984; Edwin Brandt, Vom Bekenntnis der Baptisten, in: Günter Balders (Hrsg.), Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. Festschrift 150 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland, Wuppertal und Kassel 1984, 175 – 232, zur Ekklesiologie 191 – 224; Hans Luckey, Die Gemeinde der Gläubigen, in: J. D. Hughey

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Gläubigen ist, die sich freiwillig jeweils an einem Ort im Namen Jesu versammeln, zweitens, dass die versammelte Ortsgemeinde alle Vollmachten hat, die der christlichen Kirche von Jesus Christus verliehen sind, und drittens, dass die Gemeindeglieder in dem Sinne sämtlich »Geistliche« sind, dass sie allesamt begabt und berufen sind, am Leben der Gemeinde mitzuwirken, und auch alle grundsätzlich das Recht haben, sich an der öffentlichen Verkündigung des Wortes und der Leitung von Taufe und Abendmahl zu beteiligen. Diese Ekklesiologie ist historisch nicht denkbar ohne die Ekklesiologie Martin Luthers, und sie stimmt auch im Einzelnen inhaltlich stärker mit Luthers Kirchenverständnis überein, als sich viele Baptisten bewusst sind. Um dies zu zeigen, skizziere ich Luthers Ekklesiologie in aller Kürze.11 Was die christliche Kirche ist, findet Luther knapp und klar im Apostolischen Glaubensbekenntnis definiert. Er versteht nämlich die Formel communio sanctorum, »Gemeinschaft der Heiligen«, im dritten Artikel des Apostolicums als Explikation der unmittelbar voranstehenden Formel sancta ecclesia catholica, »die heilige christliche Kirche«. Die heilige christliche Kirche ist demnach zu begreifen als Gemeinschaft der Heiligen oder – wie Luther lieber sagt – als »Gemeine (Gemeinde)« der Heiligen.12 Im Großen Katechismus umschreibt er den Begriff communio sanctorum mit den Worten »eine Gemeine, darin eitel Heiligen sind« oder »ein heilige Gemeine«. Luthers Kirchenbegriff geht somit nicht von der Institution aus, nicht von der Hierarchie oder der Kirche als Heilsanstalt, wie es in der römisch-katholischen Kirche lange Zeit geschehen ist, sondern er versteht Kirche primär als Gemeinde, d. h. als Personengemeinschaft, als »Versammlung« solcher »Leute, die Christen und heilig sind«. Darum liebte er auch das Wort Kirche nicht, weil er es (irrtümlicherweise) von Kurie herleitete, also von der päpstlichen Verwaltung in Rom, und weil die Deutschen seiner Beobachtung nach bei Kirche zunächst an das Haus aus Steinen denken. Luther dagegen verstand unter »Kirche« die glaubenden Menschen und hat deshalb im Neuen Testament das griechische Wort ekklesia durchgehend mit »Gemeine« übersetzt. (Hrsg.), Die Baptisten (Die Kirchen der Welt, Bd. 11), Stuttgart 1964, 58 – 72; Ernest A. Payne, The Fellowship of Believers. Baptist thought and practice yesterday and today, London 2. Aufl. 1952. 11 Vgl. hierzu im Besonderen Dorothea Wendebourg, Kirche, in: Luther Handbuch, hrsg. von A. Beutel (s. o. Anm. 1), 403 – 414; Ulrich Kühn, Kirche (Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 10), Gütersloh 1980, Karl Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, und: Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I: Luther, Tübingen 6., neu durchgesehene Aufl. 1932 (= 7. Aufl. 1948), 238 – 325. 326 – 380 sowie meinen Aufsatz: Die Kennzeichen der wahren Kirche (notae ecclesiae), Theologisches Gespräch 24 (2000), 4 – 19. 12 Siehe Luthers Großer Katechismus (BSLK, 653 – 658, die folgenden Zitate dort 657, Zeilen 10 – 14; Unser Glaube, Nr. 744 – 46).

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Seine bekannteste Formulierung des Kirchenbegriffs steht in den Schmalkaldischen Artikeln und lautet: »Es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, ›die ihres Hirten Stimme hören‹«.13 Die Kirche, das sind also die Gläubigen, zur Gemeinde zusammengerufen durch die Stimme ihres Hirten Jesus Christus. Der Glaube, der die Menschen zu Gliedern der christlichen Gemeinde macht, entsteht aus dem Hören der Stimme des guten Hirten. Weil der Glaube aus dem Hören kommt (Röm 10,17), darum gehören nicht nur die glaubenden Menschen, sondern auch das Wort Gottes zum Begriff der Kirche. Als gläubiges Gottesvolk wird die Kirche vom Wort Gottes geschaffen. Die Kirche ist also ihrem Wesen nach Versammlung der Gläubigen und darum eine creatura verbi, ein »Geschöpf des Wortes«. Bis hierhin werden wahrscheinlich die meisten Baptisten Luther folgen können und möglicherweise sogar wahrnehmen, dass baptistische Ekklesiologie häufig in der Gefahr stand und steht, die Kirche auf das gemeinschaftsbildende Handeln der Gläubigen und nicht auf das Glauben schaffende Wort Gottes gegründet sein zu lassen.14 Die wechselseitige Zuordnung von Wort und Glaube bei Luther sollte in der Tat gerade auch baptistischer Ekklesiologie zur Anregung und Korrektur dienen. Ein anderer Punkt von Luthers Ekklesiologie ruft jedoch häufig kritische Anfragen von baptistischer Seite hervor, und das ist seine Überzeugung von der Unsichtbarkeit bzw. der Verborgenheit der Kirche. Die Verborgenheit der Kirche ergibt sich für Luther unmittelbar aus dem Wesen der Kirche als Gemeinde der Gläubigen, denn der Glaube eines Menschen ist für andere unsichtbar. Christus als Haupt der Kirche ist ebenfalls unsichtbar, und auch die Kirche als geistliche Gemeinschaft ist ein Werk Gottes, das nicht für jedermann offen zutage liegt, sondern als Werk Gottes nur durch eine Erleuchtung des Heiligen Geistes erkannt werden kann. Gerade gegenüber dem römisch-katholischen Machtanspruch war Luther die Verborgenheit der Kirche Christi sehr wichtig. Der Papst herrscht zwar über das auf Erden sichtbare Kirchentum, jedoch nicht über die verborgene Kirche, denn deren Glieder kennt kein Mensch, auch der Papst nicht. Der päpstliche Bann kann zwar aus der sichtbaren Kirche ausschließen, aber nicht aus der unsichtbaren. Luther hat jedoch die Unsichtbarkeit der Kirche nicht als absolut angesehen, sondern als das vor den Augen der Welt verborgene Wesensgeheimnis der christlichen Kirche verstanden, das unter ihrer sichtbaren Gestalt verborgen liegt. Die wahre Kirche ist für ihn je nach Aussagerichtung sowohl unsichtbar als auch sichtbar, verborgen und offenbar zugleich. Zur unsichtbaren Kirche ge13 BSLK 459 f; Unser Glaube 455. 14 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Der Gemeindebund – mehr als ein Zweckverband? In: Theologisches Gespräch 2001, Beiheft 2, 3 – 32.

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hören nämlich immer auch sichtbare Zeichen, an denen man erkennen kann, wo das wahre Volk Gottes verborgen anwesend ist. Als solche sichtbaren Zeichen der Kirche betrachtet Luther in erster Linie die Verkündigung des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Verwaltung der Sakramente, in manchen Äußerungen darüber hinaus die Beichte, die Berufung von Amtsträgern, Gebet, Anfechtungen und Verfolgungen. Am besten hat er es wohl getroffen, wo er mit Röm 10,10 den Glauben des Herzens und das Bekenntnis mit dem Munde unterscheidet. Den Glauben des Herzens kann man nicht sehen, aber die Glaubenden lassen sich dennoch an ihrem Bekenntnis erkennen. Darum gilt: »Wegen des Bekenntnisses ist die Gemeinde sichtbar.«15 So wird man auch als Baptist mit Luther sagen können, dass die Kirche wesenhaft verborgen und doch zugleich an Wort und Bekenntnis erkennbar ist. Wir müssen noch einmal zum Stichwort »Gemeinschaft (oder Gemeinde) der Heiligen« zurückkommen, denn Luther gibt diesem Begriff noch eine tiefere Bedeutung als die, dass die Kirche eine Versammlung von heiligen Menschen ist. Unter Gemeinschaft der Heiligen versteht Luther auch das Teilgeben und Teilnehmen der Gläubigen aneinander und das Wirken füreinander. Gemeinschaft der Heiligen heißt also für ihn Gütergemeinschaft und fröhlicher Wechsel, wie es in der Beziehung des Einzelnen zu Christus vorgebildet ist. Christus entäußerte sich seiner Herrlichkeit, um unser Elend, unsere Sünde und unsere Verdammnis anzunehmen, und wir dürfen unser Elend loswerden und die Herrlichkeit und das Leben Christi empfangen. Genau so ist es nach Luther auch in der Kirche: Keiner lebt nur für sich, sondern jeder lebt immer für den anderen. Der Glaube der anderen Christen, ihr Gehorsam und ihr Gebet werden für mich in meinen Zweifeln, in meiner Armut und Ohnmacht zur Hilfe. Das geschieht auf verborgene Weise, auf Wegen, die nur Gott kennt, es geschieht aber auch erkennbar durch die Fürbitte der Gemeinde und durch gegenseitige Seelsorge (per mutuum colloquium et consolationem fratrum16). Gemeinschaft der Heiligen heißt für Luther vor allem die eigene Gerechtigkeit für den Sünder einzusetzen, sich von dem gefallenen und schwachen Mitchristen nicht zu distanzieren, sondern sich vielmehr zu ihm zu stellen und ihm aus dieser Solidarität heraus zu versuchen, von der Sünde weg zu helfen. Dies ist ein tiefes Verständnis von dem, was Gemeinde heißt, weil es ein tiefes Verständnis ist von dem, was Christus für uns tut. Zugleich macht es mit der Erkenntnis ernst, dass die Gemeinschaft der Heiligen immer auch eine Gemeinschaft von Sündern ist, die nicht nur auf die göttliche Vergebung, sondern auch auf menschliche Stellvertretung angewiesen ist. Allerdings hat Luther die zum Wesen der Kirche gehörende Solidarität mit den Sündern so verstanden, 15 Die Promotionsdisputation von Johannes Macchabäus Scotus (1542), WA 39 II,161,8. 16 Schmalkaldische Artikel III. Teil, BSLK 449.

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dass sie auch die Solidarität mit einer entarteten Kirche einschließt, und hat deshalb die Bildung von sichtbaren Gemeinden der Heiligen und Gläubigen in der Regel scharf abgelehnt und bekämpft. Für ihn kann die wahre Kirche praktisch nur im Rahmen einer Volkskirche entstehen, also innerhalb einer Institution, die als corpus permixtum, »vermischte Körperschaft«, Gute und Böse umfasst. Als Baptist wird man hier kritisch einwenden müssen, dass Luther den Unterschied von volkskirchlicher und freikirchlicher Gemeindeverfassung verzeichnet, wenn er den freikirchlichen Grundgedanken von vornherein als Ausdruck geistlichen Hochmuts diskreditiert. Auch eine Freiwilligkeitsgemeinde, die Gemeindezucht übt, wird ja – wenn sie sich recht versteht – nicht Anspruch auf Sündlosigkeit erheben, sondern die Heiligkeit der Gemeinde ebenso wie die effektive Rechtfertigung des Einzelnen als einen Wachstumsprozess verstehen, der in diesem Leben nie an ein Ende kommt und dennoch nicht aufgegeben werden darf. Außerdem kann man das Bekenntnis zu Christus in Wort und Tat, das Luther als äußeres Kennzeichen der Kirche benennt,17 nicht auf eine Art »Kerngemeinde« beschränken, wenn aus der verborgenen und der sichtbaren Kirche nicht zweierlei Kirchen werden sollen. In der Einleitung zu seiner »Deutschen Messe und Ordnung des Gottesdienstes« von 1526 hat Luther erkennen lassen, dass ihm eine andere Form von Kirche als die Volkskirche durchaus möglich erschien. Er spricht hier davon, dass »diejenigen, so mit Ernst Christen wollen sein und das Evangelion mit Hand und Munde bekennen, müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Hause alleine sich versammeln«.18 Das wäre eine Freiwilligkeitsgemeinde bekennender Christen, die zu einem eigenen Gottesdienst zusammenkommen, laut Luther aber auch Taufe und Abendmahl feiern sowie christliche Werke und Gemeindezucht nach der Regel Christi in Mt 18,15 f üben. Wir haben hier eine der wenigen Stellen, an denen Luther ein nicht-volkskirchliches Kirchenbild entwickelt. Aber auch diese Gemeinde entwirft er nur theoretisch. »Ich kann und mag noch nicht eine solche Gemeine oder Versammlung ordnen oder anrichten. Denn ich habe noch nicht Leute und Personen dazu.« Diese Begründung dafür, dass er nicht zum Aufbau einer solchen Gemeinde tätig wurde, mag man historisch beurteilen wie man will. An der Tatsache, dass Luther eine Freiwilligkeitskirche ernsthafter Christen jedenfalls grundsätzlich als legitimen Ausdruck evangelischen Kirchentums ansah, ändert sein Zögern in der praktischen Umsetzung nichts. Hier haben zunächst die Täufer und dann die aus dem Puritanismus und dem Evangelikalismus entstandenen Freikirchen in die Tat umgesetzt, was Luther noch nicht wagen wollte. 17 Siehe Von den Konziliis und Kirchen (1539), WA 50,629,20 – 31; Münchener Ausgabe, Ergänzungsreihe 7. Band, 114. 18 WA 19,75,3 – 23; Münchener Ausgabe, 3. Band, 130 f.

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Luther ist der erste gewesen, der die geistliche Autorität einer jeden Ortsgemeinde theologisch begründete. Sie ergibt sich aus seinem Kirchenbegriff, der die verborgene Kirche Jesu Christi dort sichtbar werden lässt, wo man Gottes Wort verkündigt, ihm glaubt und es mit Wort und Tat bekennt.19 Die an einem Ort um Predigt und Sakrament versammelte Schar der Gläubigen ist für ihn die Grundgestalt der christlichen Kirche. Eine solche Ortsgemeinde hat zugleich das Recht und die Macht, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer, d. h. Prediger und Seelsorger, zu berufen, einzusetzen und abzusetzen. Sie hat also alle jene Rechte, die in der römischen Kirche den Bischöfen, den Konzilen und dem Papst vorbehalten waren.20 Das Bischofsamt ist für Luther identisch mit dem Amt des örtlichen Gemeindepastors. Luther hat sich allerdings nicht für eine rein kongregationalistische Kirchenverfassung eingesetzt, denn er wollte, dass auch die überörtliche Einheit der Christenheit sichtbar Gestalt gewinnt. Das ist ein Moment des Kirchenverständnisses, das in der baptistischen Lehre und Praxis allgemein zu wenig Beachtung findet.21 Weil die verborgene universale Kirche in jeder Ortsgemeinde sichtbar wird, eben darum ist jede Ortsgemeinde von vornherein auf die anderen verwiesen und mit ihnen zur Einheit verbunden – einer Einheit, die ebenso sichtbar werden muss wie die Einheit der Ortsgemeinde selbst. Es ist deshalb richtig gewesen, dass Luther für regelmäßige Visitationen der Ortsgemeinden gesorgt und sich um die Schaffung eines evangelischen übergemeindlichen Bischofsamts bemüht hat. Gerade letzteres hätte, wenn es besser gelungen wäre, die Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments verhindern und eine dem Staat gegenüber selbständige überörtliche Organisation der evangelischen Kirche ermöglichen können. Dass eine christliche Gemeinde Recht und Macht hat, aus ihrer Mitte Prediger und Seelsorger zu berufen und einzusetzen, konnte Luther deshalb behaupten, weil für ihn die Norm zur Gestaltung der Gemeindeordnung das allgemeine Priestertum aller Gläubigen war. Dass nicht nur bischöflich geweihte Personen, sondern alle Christen Priester sind, ergibt sich für Luther neben dem klaren Zeugnis der Heiligen Schrift auch aus dem Wesen der Kirche als Gemeinschaft der Heiligen. Priester zu sein, heißt für Luther, für andere stellvertretend vor Gott zu treten, Gott Opfer darzubringen und den Menschen das Wort Gottes zu verkündigen. In diesem Sinne ist Christus unser aller Priester geworden, und in 19 Siehe Anm. 17. 20 Siehe Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen: Grund und Ursach aus der Schrift (1523), WA 11,408 – 416; Münchener Ausgabe 3. Band, 93 – 100. 21 Vgl. meinen Aufsatz Ortsgemeinden und überörtliche Strukturen im Baptismus aus der Perspektive reformatorischer Ekklesiologie, in: Die »Autonomie« der Ortsgemeinden und ihre Gemeinschaft. Ein Lehrgespräch des Baptistischen Weltbundes, Theologisches Gespräch Beiheft 10 (2009), 103 – 116.

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diesem Sinne sollen auch alle Christen sich für andere opfern, für sie Fürbitte einlegen und ihnen Gottes Wort sagen. So wird ein Christ dem anderen zum Priester. In dieses Priestertum aller Gläubigen eingeschlossen ist die geistliche Vollmacht und das grundsätzliche Recht eines jeden Christen zu predigen, zu taufen, Abendmahl zu halten und die Beichte eines anderen zu hören. Was also in der katholischen Kirche den geweihten Priestern vorbehalten ist, das wird bei Luther zur Aufgabe für alle Christen. Wo es ein geordnetes Gemeindeleben gibt, muss die öffentliche Ausübung dieses geistlichen Rechts jedoch an eine ordentliche Berufung durch die Gemeinde gebunden sein. Dass es in der priesterlichen Gemeinschaft der Gläubigen besondere Ämter gibt, begründet Luther damit, dass es zu einem Chaos käme, wenn alle Gemeindeglieder gleichzeitig predigen und das Abendmahl leiten wollten, also aus Ordnungsgründen. Dieser Ordnungsgesichtspunkt ist aber nicht nur praktisch-organisatorisch wichtig, sondern auch und gerade theologisch, um des allgemeinen Priestertums willen. Es würde nämlich die Gleichheit der Gläubigen in ihrer geistlichen Vollmacht verletzt, wenn einzelne Gläubige von sich aus – ohne Berufung durch die Gemeinde – ihr Recht zur öffentlichen Ausübung dieser Vollmacht in Anspruch nehmen wollten. Die Gemeinde muss also eine geeignete Person berufen, um Predigt, Sakramentsverwaltung und Beichtehören stellvertretend für die anderen und im Namen der anderen wahrzunehmen. Der so Berufene hat grundsätzlich der Gemeinde nichts voraus, sondern ist lediglich Diener der Gemeinde an dem allen gemeinsamen Auftrag Gottes. Das Amtsverständnis Luthers ergibt sich also unmittelbar aus dem Gedanken des allgemeinen Priestertums. Man kann eine solche Aussage jedoch nicht machen, ohne zugleich darauf hinzuweisen, dass sie innerhalb der Lutherauslegung bis heute umstritten ist. Seit dem 19. Jahrhundert stehen die sog. Übertragungstheorie und die sog. Stiftungstheorie gegeneinander. Die Übertragungstheorie wurde vom Erlanger praktischen Theologen Johann Höfling (1802 – 53) begründet,22 die Stiftungstheorie am vehementesten vom Marburger Theologen August Vilmar (1800 – 68) vertreten.23 Die Übertragungstheorie leitet das ordinierte Amt aus dem allge-

22 Johann W. F. Höfling, Grundsätze evangelisch-lutherischer Kirchenverfassung, Erlangen 1850, 3. sehr vermehrte und verbesserte Aufl. 1853; vgl. Manfred Kießig, Johann Wilhelm Friedrich Höfling. Leben und Werk (Die Lutherische Kirche, Geschichte und Gestalten; Bd. 14), Gütersloh 1991. 23 August F. Chr. Vilmar, Die Lehre vom geistlichen Amt, Marburg und Leipzig 1870; vgl. Herbert Kemler, Gott mehr gehorchen als den Menschen. Christlicher Glaube zwischen Restauration und Revolution – dargestellt an der kurhessischen Renitenz, Gießen 2005; Gerhard Müller, Die Bedeutung August Vilmars für Theologie und Kirche (Theologische Existenz heute; N.F. 158), München 1969. – Ein anderer bedeutender Vertreter der Stiftungstheorie war der Berliner Staatsrechtler Friedrich Julius Stahl (1802 – 61) mit seinem Werk: Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten, Erlangen 1840, 2.,

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meinen Priestertum der Gläubigen ab, begründet es von der Gemeinde, also gewissermaßen »von unten« her, so wie es hier gerade geschehen ist. Die Stiftungstheorie dagegen will das ordinierte Amt »von oben«, von Christus her begründen und leitet es vom Apostelamt ab.24 Dieselbe Kontroverse ist auch bei der Auslegung des Augsburger Bekenntnisses von 1530 entstanden, und zwar an der Frage, ob der Art. 5 »Vom Predigtamt« das allgemeine Priestertum oder bereits das ordinierte Amt meint, von dem später Art. 14 »Vom Kirchenregiment« ausdrücklich spricht. Mir scheint, dass neuere Untersuchungen die Waage sich deutlich zur Übertragungstheorie hin neigen lassen.25 Aber auch abgesehen davon, welche Lutherauslegung die genauere ist, kann sich eine evangelische Amtstheorie von der Sache her nur auf die Übertragungstheorie stützen, wenn sie nicht Amt und Gemeinde bzw. Klerus und Laien in unbiblischer Weise von einander trennen will. Vor allem aber ist die Übertragungstheorie deshalb die theologisch überlegenere Lösung, weil sie das berechtigte Anliegen der Stiftungstheorie, die Begründung des ordinierten Amts von oben her, integrieren kann. Die Schaffung eines geordneten Amts der Verkündigung und Seelsorge ist nämlich nicht einfach eine menschliche Organisationsangelegenheit, sondern es ist Christus selber, der durch die Gemeinde seine Diener beruft und einsetzt. Die Amtsträger üben ihre Dienste aus, wie Luther sagt, »von wegen und im Namen der Kirche, vielmehr aber aus Einsetzung Christi, wie S. Paulus Eph. 4 sagt: Er hat den Menschen Gaben gegeben.«26 Die Einsetzung durch die Gemeinde und die Einsetzung durch Christus fallen für Luther also zusammen. Dabei gewinnt der berufene Amtsträger als Person keinerlei Überordnung über die Gemeinde. Er steht der Gemeinde nur dadurch und nur soweit gegenüber, wie er im Amt handelt, d. h. wie er seinen Dienst inhaltlich im Namen Christi vollzieht. Aber in diesem Sinn steht nach Luther überhaupt jeder Christ einem anderen im Auftrag Gottes gegenüber, wenn er ihm ein Wort Gottes zu sagen hat. Luthers Amtsverständnis ist also ganz und gar an der Funktion der Verbreitung des Evangeliums orientiert. Aus baptistischer Sicht ist es m. E. aus einem doppelten Grund wichtig, sich auf Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen zurück zu beziehen. Einmal deshalb, weil dadurch im Bewusstsein bleibt, wem die Baptisten erweiterte Aufl. 1862; vgl. Arie Nabrings, Friedrich Julius Stahl – Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik, Bielefeld 1983. 24 Vgl. Gilberto da Silva, Luthers Rezeption in den Vorgängerkirchen der SELK am Beispiel der Lehre vom geistlichen Amt der Kirche, in: Freikirchenforschung Nr. 20, Münster 2011, 117 – 132. 25 Vgl. Harald Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997; Klaus Peter Voß, Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophetentums. Seine gemeindetheologische Aktualisierung in der Reformationszeit, Wuppertal und Zürich 1990. 26 Von den Konziliis und Kirchen (1539), WA 50,633,2 f; Münchener Ausgabe, Ergänzungsreihe 7. Band, 117.

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dieses für sie so bedeutsame Lehrstück verdanken und dass in dieser Hinsicht eine große Nähe zur lutherischen Ekklesiologie besteht. Sodann aber auch, weil Baptisten von Luther lernen können, dass das allgemeine Priestertum keineswegs im Gegensatz zu einer Berufung oder Ordination einzelner Amtsträger steht. Die Berufung von Amtsträgern ist vielmehr eine notwendige Konsequenz aus dem allgemeinen Priestertum. Wenn alle Gemeindeglieder dieselben geistlichen Vollmachten haben, dann muss die Ausübung dieser Vollmachten so geordnet werden, dass niemand sich selbst für zuständig erklären kann, sondern die Gemeinde eine entsprechende Berufung an einzelne Personen ausspricht. Das ist der Kern des evangelischen Amtsverständnisses, das Baptisten nicht nur teilen können, sondern auch teilen sollten.

3.

Die beiden Regierweisen Gottes und die Freiheit des Gewissens

Auf dem Feld der politischen Ethik vertreten Baptisten zwei Grundüberzeugungen, nämlich das Recht jedes Menschen auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, also das Menschenrecht auf freie Ausübung oder auch Nicht-Ausübung einer Religion, und das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat.27 Diese beiden, miteinander eng verbundenen Grundüberzeugungen wurzeln historisch in der Reformation Martin Luthers, und sie lassen sich m. E. auch inhaltlich am besten mit der sog. Zwei-Reiche-Lehre oder besser der Zwei-Regimente-Lehre Luthers begründen. Diese Lehre Luthers hat erst im 20. Jahrhundert nähere Aufmerksamkeit gefunden und ist dabei zugleich Gegenstand heftigen Streits geworden. Karl Barth etwa hat von Adolf Hitler aus eine Linie rückwärts über Otto von Bismarck und Friedrich den Großen bis zu Martin Luther gezogen und letztlich die Zwei-Reiche-Lehre Luthers für den moralischen Zusammenbruch der deutschen Politik unter Hitler verantwortlich gemacht.28 Er und andere 27 Vgl. Martin Rothkegel, Freiheit als Kennzeichen der wahren Kirche. Zum baptistischen Grundsatz der Religionsfreiheit und seinen historischen Ursprüngen, in: Strübind / Rothkegel, Baptismus (s. o. Anm. 10), 201 – 225; Erich Geldbach, Die konfessionsgeschichtliche Bedeutung der Glaubensfreiheit, Una Sancta 62, 2007, 115 – 123; Ders. u. a. (Hrsg.), Religions-Freiheit. Festschrift zum 200. Geburtstag von Julius Köbner, Berlin 2006; Walter B. Shurden, The Baptist Identity : Four Fragile Freedoms, Macon, Georgia, USA 1993, 45 – 54; Edwin Brandt, Vom Bekenntnis der Baptisten, in: Balders, Festschrift 150 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland (s. o. Anm. 10), 175 – 232, zur Religionsfreiheit 225 – 232; Gunnar Westin, Die Baptisten und die Religionsfreiheit, in: Hughey, Die Baptisten (s. o. Anm. 10), 82 – 94. 28 Karl Barth, Ein Brief nach Frankreich, in: Ders., Eine Schweizer Stimme. 1939 – 1945, Zollikon-Zürich 1945, (108 – 117) 113 f. Analog dazu wurde in der Geschichtswissenschaft nach 1945 vielfach die These von einem längeren deutschen Sonderweg vertreten, der schließlich

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deuteten diese Lehre im Sinne eines ethischen Dualismus, der die weltlichen Ordnungen aus dem Geltungsbereich ethischer Normen ausklammert und sie einfach ihren sündigen »Eigengesetzlichkeiten« überlässt.29 Diese Deutung verzeichnet aber das, was Luther zum Verhältnis von Glaube und Politik gelehrt hat. Er hat zwar die Politik wie das gesellschaftliche Leben überhaupt entsakralisiert, indem er sie der Vernunft und nicht der Heilsverkündigung unterstellte, aber er hat sie nicht in dem Sinne säkularisiert, dass er sie der Bindung an Gottes Gebote entnommen hätte. Vielmehr hat er durch seine Zwei-RegimenteLehre deutlich gemacht, wie man als Christ auch im Alltag des öffentlichen Lebens Gottes Willen tun kann, und hat damit einem aus Glauben motivierten, aber von Heilserwartungen freien Engagement von Christen in den Strukturen dieser Welt die Tür geöffnet. Um das zu belegen, skizziere ich kurz mein Verständnis dieser Lehre.30 Die Kernthese der Zwei-Regimente-Lehre lautet: Gott regiert die Welt auf doppelte Weise, sowohl durch das »geistliche Regiment« als auch durch das »weltliche Regiment«. Es geht hier nicht um die Unterscheidung von zwei Herrschaftsgebieten oder Zuständigkeitsbereichen, als wären es getrennte Räume, sondern es geht um die Unterscheidung von zwei »Regimenten«, d. h. Regierweisen oder Herrschaftsformen Gottes in der Welt. Wenn Luther in diesem Kontext von »Reich« redet, meint er die Regierweise, also eine bestimmte zur Machtergreifung Hitlers geführt habe. Dieser These widersprechen allerdings insbesondere englisch-sprachige Historiker wie der Australier Christopher Clark, der im Interview mit einem führenden deutschen Nachrichtenmagazin sagte: »Ich würde ihn (scil. den deutschen Weg zu 1933) nicht im Kaiserreich oder gar bei Luther beginnen lassen wie manche Sonderweg-Historiker, sondern eher mit dem Ende des Ersten Weltkriegs« (Der Spiegel 2007, Nr. 33, 45). 29 Laut der baptistischen Kirchenhistorikerin Andrea Strübind beruhte auch »die apolitische Grundhaltung des deutschen Baptismus«, die ihn gegenüber der Hitlerherrschaft zu unkritisch sein ließ, auf einer in dieser Weise dualistisch interpretierten Zwei-Reiche-Lehre (Die unfreie Freikirche. Der Bund der Baptistengemeinden im »Dritten Reich«; 1. Aufl. Neukirchen 1991; 2., korrigierte und verbesserte Aufl. Wuppertal und Zürich 1995, 45). Nicht ganz verständlich ist es, dass Strübind auch die Position des baptistischen Schriftleiters und späteren Bundesdirektors Paul Schmidt aus dem Jahr 1930 als »eindeutig … dualistische Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre« (56) beschreibt, obwohl Schmidt den üblichen baptistischen Apolitismus kritisierte und die Baptisten zur tätigen Mitarbeit am demokratischen Staat aufforderte. 30 Vgl. dazu im Besonderen Volker Mantey, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005; Eilert Herms, Leben in der Welt, in: Luther Handbuch (s. o. Anm. 1), 423 – 435; Niels Hasselmann (Hrsg.): Gottes Wirken in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zweireichelehre, Zwei Bände, Hamburg 1980 (im Bd. 2 u. a. Thesen des Theologischen Ausschusses der VELKD zu den »beiden Regierweisen Gottes«); Heinz-Horst Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen (Wege der Forschung, Bd. CVII), Darmstadt 1969; Paul Althaus, Luther und das öffentliche Leben, in: Ders., Um die Wahrheit des Evangeliums. Aufsätze und Vorträge, Stuttgart 1962, 249 – 262.

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Relation Gottes zur Welt, die als solche ein »Reich«, einen Herrschaftsbereich, konstituiert. Die Unterscheidung der beiden Reiche oder Regimente ergibt sich für Luther aus der evangeliumsgemäßen Rechtfertigungslehre. Wenn es um unsere Rechtfertigung vor Gott geht, müssen wir die »aktive« Gerechtigkeit, die wir durch unser eigenes Tun erwerben, aus dem Spiel lassen und unser Vertrauen ganz auf die »passive« Gerechtigkeit setzen, nämlich die Gerechtigkeit Christi, die uns aus Gnaden allein durch den Glauben zuteil wird. Die »aktive« Gerechtigkeit hat aber ihr Recht im innerweltlichen Zusammenleben. Darum wird dem Menschen durch Gottes weltliches Regiment die irdische und zeitliche Gerechtigkeit (die Gerechtigkeit vor anderen Menschen) gewährt, die ewige Gerechtigkeit (die Gerechtigkeit vor Gott) dagegen durch Gottes geistliches Regiment. Es müssen also die beiden Regimente Gottes eben so streng auseinandergehalten werden wie die beiden Arten von Gerechtigkeit und wie Werke und Glaube.31 Die beiden Regierweisen sind also klar voneinander unterschieden, weil sie unterschiedliche Ziele haben und unterschiedliche Mittel anwenden. Im geistlichen Regiment sind alle Menschen gleich und eins, im weltlichen Regiment dagegen bestehen Unterschiede und Abhängigkeiten, Über- und Unterordnung. Im geistlichen Regiment gilt nur die Autorität der Liebe und Opferbereitschaft; im weltlichen – vor allem im Staat – herrscht das Recht, das mit Machtmitteln durchgesetzt wird. Im geistlichen Gottesreich regiert Christus durch Wort und Geist, im weltlichen regiert Gott durch die menschliche Vernunft. Im geistlichen Regiment zählt nur Freiwilligkeit; im weltlichen gibt es auch Zwangsmittel. Darum hält Luther es auch für einen Frevel (und zugleich für eine Torheit), wenn weltliche Machthaber versuchen, den Menschen ihren Glauben vorzuschreiben. Die Zwangsmittel, die eine Obrigkeit nach Gottes Willen anwenden darf, betreffen nur die äußere, leibliche Existenz des Menschen, nicht aber die Seele und den Glauben. Die beiden Reiche oder Regimente Gottes sind nach Luther sehr genau zu unterscheiden, aber nicht zu scheiden. Sie müssen sowohl in ihrer Verschiedenheit als auch in ihrer Einheit wahrgenommen werden. Die Einheit der beiden Regimente besteht darin, dass ein und derselbe Gott durch beide Regimente 31 Vgl. folgende Sätze aus Luthers Galaterbrief-Auslegung von 1531 (WA 40 I,43,31 – 45,27; in deutscher Übersetzung hrsg. von Hermann Kleinknecht, Göttingen 1980, 22 f): »Wenn du nämlich das Gesetz nicht aus den Gedanken tust und deine Gedanken so auf die Gnade richtest, als ob kein Gesetz sei, sondern nur die reine Gnade, so kannst du nicht selig werden. … Im Gegensatz dazu muß man in der Welt auf Gesetz und Werken bestehen, als ob es durchaus keine Verheißung oder Gnade gäbe… Das ist unsere Theologie, in der wir diese beiden Gerechtigkeiten, die aktive und die passive, genau zu unterscheiden lehren, damit nicht Sitten und Glaube, Werke und Gnade, Staatswesen und Religion durcheinander geraten. Jede aber ist notwendig, aber jede muß innerhalb ihrer Grenzen gehalten werden.«

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regiert und dass sich in beiden Regimenten Gottes Güte, Liebe und Barmherzigkeit ausdrückt. Auch die obrigkeitliche Gewaltausübung ist letztlich ein Akt der Barmherzigkeit Gottes. Zum weltlichen Regiment gehören neben der »Oberkeit« (wie es bei Luther heißt), also der Staatsgewalt, noch Ehe und Familie, Eigentum, Wirtschaft und Berufe. Diese weltlichen Institutionen sind begründet im Schöpferwillen Gottes und schon vor Christus und unabhängig von ihm da. Die Begriffe »Welt« und »weltlich« haben in diesem Zusammenhang nicht den negativen Sinn des Herrschaftsbereichs der Sünde und des Teufels, sondern bezeichnen den irdisch-zeitlichen Lebensraum der Menschen. Es geht Luther weder um die Unterscheidung der Herrschaft Gottes von der Herrschaft des Teufels noch um die Unterscheidung der gegenwärtigen von der kommenden Weltzeit, sondern um zwei unterschiedliche Herrschaftsweisen Gottes in der gegenwärtigen Weltzeit. Die Gläubigen gehören nicht nur in das geistliche, sondern auch in das weltliche Reich Gottes. Der Christ ist also Bürger zweier Welten: des irdischen Reiches und des himmlischen, des weltlichen Regiments und des geistlichen. Luther kam es zu seiner Zeit vor allem darauf an, dass die beiden Reiche und Regimente nicht miteinander vermischt werden. Eine Vermischung geschah nach Luther etwa durch das römische Papsttum: Der Papst will sich zum Herrn auch über Fürsten und Kaiser machen, und durch das Kirchenrecht sollen weltliche Dinge wie die Ehegesetzgebung geregelt werden. Aber auch auf der anderen Seite, auf dem linken Flügel der Reformation, sieht Luther solche Vermischung: Die von ihm so genannten »Schwärmer« wollen mit der Bergpredigt die Welt regieren und verbieten das Schwören und den Kriegsdienst. Das ist nach Luther unmöglich. Die Zeugen des Evangeliums sollen keine weltlichen Gesetze aufstellen, sondern haben sich auf weltliche Dinge nur so weit zu beziehen, als die Gewissen davon berührt werden. Auch an die politischen Machthaber ist die Forderung zu richten, die beiden Reiche nicht zu vermengen, indem sie ihre Untertanen gegen deren Gewissen zu einem bestimmten Glauben oder Handeln zwingen oder indem sie in die Kirche hineinregieren. Die beiden Regimente und d. h. konkret auch Staat und Kirche müssen unterschieden bleiben. Luther wurde zu dieser Lehre durch die Auslegung der Heiligen Schrift geführt, vor allem der Bergpredigt und der Nachfolgeworte Jesu überhaupt. Im Unterschied zu der ihm überkommenen Zwei-Stufen-Ethik der römischen Lehre, der zufolge die Nachfolgeworte Jesu nur als Ratschläge für vollkommene Christen (consilia evangelica) zu verstehen sind, im Unterschied aber auch zur weltflüchtigen Ethik des Täufertums widerspricht er der Vorstellung, dass die Nachfolgeworte inmitten des weltlichen Lebens nicht erfüllbar seien. Die Freiheit von weltlichen Bindungen und die unbedingte Liebe zum Nächsten, die Christus fordert, lassen sich vielmehr auch in den weltlichen Ordnungen praktizieren. Die Freiheit von der Welt, wie die Nachfolgeworte sie fordern, ist

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nach Luther nämlich nicht als äußere, sondern als innere Distanz zur Welt zu leben. Dass man nicht dem Mammon dienen soll, bedeutet nicht, dass ein Christ auf jedes Eigentum verzichten, sondern dass er sich in seinem Herzen nicht an die irdischen Güter und den Reichtum binden soll. Wenn die Lage es erfordert, dann muss der Christ allerdings auch zur äußeren Preisgabe seiner Güter bereit sein. Aber weil die Freiheit von der Welt ihrem Wesen nach innere Freiheit ist, darum kann sie auch ständig mitten in den weltlichen Ordnungen gelebt werden. Luther unterstreicht, dass in Bezug auf das Handeln des Christen »zwei unterschiedliche Personen in einem Menschen«32 sind, die den unterschiedlichen Regimenten Gottes entsprechen. Der Christ ist zugleich Christ und Weltperson, er ist Person für sich selbst und Person für andere, Privatperson und öffentliche Person. Man muss nach Luther also unterscheiden, ob ein Christ in eigener Sache bzw. im privaten Gegenüber zu anderen handelt oder in einem Amt, d. h. in öffentlicher Verantwortung. Daraus ergeben sich unterschiedliche Pflichten. In beiden Fällen aber handelt der Christ aus Liebe und im Dienst an den ihm anvertrauten Menschen. Ich halte diese Lehre für bis heute tragfähig und wegweisend – gerade auch für Baptisten und andere Freikirchler. Baptisten verstehen ihr Leben zumeist als Nachfolge Jesu und stehen damit vor der Frage, wie sie der Radikalität der Nachfolgeworte Jesu im weltlichen Leben gerecht werden können oder wie sie die Gemeindeethik der neutestamentlichen Paränesen mit den Anforderungen des Lebens in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Übereinstimmung bringen können. Ähnlich wie die Täufer der Reformationszeit schwankten und schwanken viele Baptisten zwischen einem Rückzug aus der Welt, um die neutestamentliche Ethik konsequent befolgen zu können, und dem Versuch, die Verhältnisse so umzugestalten, dass die Welt zum Reich Gottes wird. Da beides sehr schwer realisierbar ist, sehen viele nur die Möglichkeit, ein paar zaghafte Schritte in der einen oder der anderen Richtung zu gehen, erleben es dann aber immer wieder als Enttäuschung, dass in einer Welt, die sich den Idealen der Gläubigen nicht fügen will, dauernd Kompromisse gemacht werden müssen. Aus diesem ganz und gar unbefriedigenden Zustand wird man nur herausfinden, wenn Christsein und weltliches Leben im Sinne der Zwei-Regimente-Lehre zueinander in Bezug gesetzt werden. Auch hier können Baptisten also von Luther lernen. Von Luthers Zwei-Regimente-Lehre lernen, heißt aber nicht, von seinem tatsächlichen Verhalten im Spannungsfeld von Kirche und Staat zu lernen. Hier ist Luther leider seiner eigenen Erkenntnis vielfach untreu geworden. In den Ländern der lutherischen Reformation entstand das sog. landesherrliche Kir-

32 Wochenpredigten über Matth 5 – 7 (1530/2), WA 32,316,18.

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chenregiment, d. h. die Leitung der Kirche durch den politischen Landesherrn.33 Eine solche Verfassungsstruktur, die geistliches und weltliches Regiment vermischt, steht im Widerspruch zur Zwei-Regimente-Lehre. Dennoch hat Luther die Entwicklung dorthin nicht verhindert, sondern zu ihr sogar den Anstoß gegeben. Das erklärt sich historisch aus der besonderen Schwierigkeit einer Reformation der Kirche gegen den Willen der Kirchenleitung, also gegen den Willen der Bischöfe und des Papstes. In dieser Lage berief sich Luther zunächst auf das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, durch das jeder Christ grundsätzlich das Recht habe, ein Konzil einzuberufen. Dieses allgemeine Christenrecht tatsächlich wahrzunehmen, haben in der Praxis freilich nur die Fürsten die Möglichkeit, und eben weil sie die Möglichkeit haben, darum haben sie nach Luther auch die Pflicht, der Kirche in dieser Notlage zu helfen. Auch bei der Einsetzung evangelischer Prediger können und sollen die Fürsten und Stadträte die reformationswilligen Ortsgemeinden unterstützen. Luther verstand die von ihm geforderte Unterstützung der kirchlichen Reformation durch die Regierenden als Folge eines Ausnahmezustands, nicht als Regelfall. Gegen seine eigene Intention ist sie dann aber doch zum Regelfall geworden, und zwar so, dass aus der Unterstützung der Kirche die Leitung der Kirche wurde. Die evangelischen Fürsten haben kein allgemeines Konzil einberufen, sondern sich in ihren eigenen Territorien jeweils selbst an die Spitze der von Rom losgelösten Kirche gestellt. Luther begründete die Pflicht der Obrigkeit, sich an der Reformation der Kirche zu beteiligen, auch mit ihrer Pflicht, Übergriffen der römischen Kirche auf das weltliche Leben der Gläubigen zu wehren, vor allem die finanzielle Ausbeutung der deutschen Länder durch Rom abzustellen. Hier spricht er die Fürsten auf ihre ureigene Ordnungsaufgabe im Dienste des weltlichen Regiments Gottes an. Zu dieser weltlichen Pflicht der Regierenden gehört es für Luther allerdings auch, das Halten von Messen nach römischem Ritus zu verbieten. Luther betrachtete die Messe als offenkundige Gotteslästerung, deren Duldung unweigerlich Gottes Zorngericht über Stadt und Land auslösen müsste, so dass die Obrigkeit, die das zeitliche und irdische Wohl ihrer Untertanen besorgen soll, um dieses Wohles – und nicht etwa um des Seelenheiles – willen die Messe verbieten müsse. Außerdem hielt er mit der Mehrzahl seiner Zeitgenossen eine Stadt oder ein Land, in dem es verschiedene Bekenntnisse und Gottesdienste gibt, für unregierbar. Was man heute unter religiösem Pluralismus versteht, konnte Luther noch nicht denken. Die Pflicht der Obrigkeit, für Frieden zu sorgen, schließt für Luther also ein, dass die Obrigkeit die konfessionelle 33 Dazu immer noch lehrreich Karl Holl, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment (s. o. Anm. 11). Siehe auch Hans-Walter Krumwiede, Art. Kirchenregiment, Landesherrliches, in: TRE XIX (1990), 59 – 68.

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Geschlossenheit ihres Territoriums sicherstellt, indem sie Andersgläubige zur Auswanderung auffordert. Mit einer solchen Argumentation wird nun aber die durch die Zwei-Regimente-Lehre begründete Glaubensfreiheit de facto aufgehoben – jedenfalls für die Gegner Luthers. Indem er die Duldung der Religionsausübung von Minderheiten – sei es der altgläubigen Katholiken, sei es der Täufer – als für das äußere Wohlergehen eines Landes oder einer Stadt gefährlich ansieht, kann er die rechtliche Einschränkung der Religionsfreiheit fordern und damit seine eigene Lehre praktisch außer Kraft setzen. Man wird hier schlicht einen Selbstwiderspruch Luthers konstatieren müssen. Dieser Selbstwiderspruch ist besonders eklatant in der Frage, ob die Obrigkeit Irrlehrer mit dem Tode bestrafen soll.34 Bereits in seiner Verteidigungsschrift von 1520 gegen die päpstliche Bannandrohungsbulle hatte Luther die These bekräftigt, dass Ketzer zu verbrennen wider den Willen des Heiligen Geistes sei.35 In seiner Schrift »Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei« von 1523 erklärt er dann im Sinne der Zwei-Regimente-Lehre, Ketzerei solle und könne man nicht mit dem weltlichen Schwert, sondern nur mit Gottes Wort bekämpfen. »Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man mit keinem Eisen hauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken. Es ist aber allein das Gotteswort da, das tuts«.36 Ganz anders dagegen klingt es 1536 in einem Gutachten an Philipp von Hessen, das Martin Luther, Philipp Melanchthon, Johannes Bugenhagen und Caspar Cruciger gemeinsam erstellt haben.37 Darin vertreten die Wittenberger die Auffassung, dass christliche Fürsten die Pflicht hätten, Wiedertäufer als Angehörige einer teuflischen Sekte mit dem Tode zu bestrafen. Als Gründe dafür nennen sie zum einen, dass die Wiedertäufer Aufrührer seien, weil sie den Eid verweigerten, die Obrigkeit nicht anerkennten und das Recht auf Eigentum bestritten. Zum anderen leugneten die Wiedertäufer das Recht zur Kindertaufe und die Existenz der Erbsünde. Das sei zwar kein Aufruhr, aber doch eine öffentliche Gotteslästerung und müsse ebenfalls mit dem Tod bestraft werden. Auf den Einwand, dass weltliche Obrigkeit mit geistlichen Sachen nichts zu tun haben solle, was Luther ja selbst gelehrt hat, wird hier die Antwort gegeben, dass das vornehmste Amt der Obrigkeit sei, Gottes Ehre zu fördern und darum Gotteslästerung zu bekämpfen. Die Wittenberger scheuen sich sogar nicht, die alttestamentlichen Könige, die 34 Vgl. Gottfried Seebaß, Luthers Stellung zur Verfolgung der Täufer und ihre Bedeutung für den deutschen Protestantismus, in: Ders., Die Reformation und ihre Außenseiter. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Göttingen 1997, 267 – 282. 35 Siehe Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind, WA 7,438,15 – 439,13; Münchener Ausgabe 2. Band, 371 – 373. 36 WA 11, 268,27 – 29; Münchener Ausgabe 5. Band, 31. 37 Daß weltliche Oberkeit den Wiedertäufern mit leiblicher Strafe zu wehren schuldig sei, Etlicher Bedenken zu Wittenberg, WA 50,6 – 15.

Jenseits der Taufkontroverse

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falsche Propheten und Götzendiener getötet haben, als Vorbilder für christliche Herrscher zu benennen. Mit einer solchen Argumentation kann aber nun jede Abweichung von der lutherischen Lehre zu einer Gotteslästerung erklärt werden, die mit dem Tode zu bestrafen ist. Die alttestamentliche Theokratie, also die Einheit von Religion und Politik, wird zum Modell christlichen Staatsverständnisses und die christliche Obrigkeit zum custos utriusque tabulae (»Wächter beider Tafeln [des Dekalogs]«) erklärt, so dass ein »falscher« Glaube mit denselben staatlichen Mitteln wie Diebstahl und Mord bekämpft werden muss. Die in der Zwei-Regimente-Lehre erklärte Begrenzung des Staates auf die äußere Ordnung und die Garantie der Freiheit des Glaubens sind zum reinen Postulat geworden. Man muss also nüchtern feststellen, dass Luther selbst und seine Nachfolger die Zwei-Reiche- oder Zwei-Regimente-Lehre in wesentlichen Punkten ausgehöhlt und damit wirkungslos gemacht haben. Die wahren Erben der Reformation sind in diesem Punkt die Vertreter des Freikirchentums geworden, vor allem die Nonkonformisten, Dissenter und Baptisten. Die heutige Trennung von Kirche und Staat (wie sie in strikter Form in den USA, in eingeschränkter Form bei uns in Deutschland praktiziert wird), vor allem aber die weltanschauliche Neutralität des Staates und das Menschenrecht auf Gewissens- und Religionsfreiheit wurzeln in der Theologie Luthers38, sind aber nicht durch die lutherischen Kirchen, sondern durch die Freikirchen in die Gegenwart vermittelt worden. Viele Lutheraner und auch viele Freikirchler sind sich darüber nicht hinreichend klar. Darum ist es auch für Freikirchler von heute wichtig, sich der theologischen Wurzeln ihrer Überzeugungen vom Staat-Kirche-Verhältnis in der Theologie Luthers erneut bewusst zu werden und sie sich von dorther wieder neu zu Eigen zu machen.

38 Dass mit der Reformation »systematisch und historisch gesehen der Durchbruch zum Prinzip der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Verfassungsstaates gelang«, hat kürzlich auch die Politikwissenschaftlerin Tine Stein in ihrer am Otto-Suhr-Institut in Berlin entstandenen Habilitationsschrift dargelegt (Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt/Main 2007, Zitat 215).

Erich Geldbach

Wie evangelisch ist der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten)? Einige Gedanken im Blick auf das Reformations-Jubiläum 2017

I. Johann Gerhard Oncken (1800 – 1884) und Julius Köbner (1806 – 1884) legten bereits 1837, drei Jahre nach der ersten Taufe in der Elbe bei Hamburg, auf behördliche Anforderung ein »Glaubensbekenntniß der evangelisch-taufgesinnten Gemeinde in Hamburg« vor, und als Oncken die erste Zeitschrift der deutschen Baptisten ab 1844 herausgab, nannte er sie »Missionsblatt der Evangelisch-Taufgesinnten«. Neben den beiden Kennzeichen der Baptisten, das von anderen Kirchen oft gefürchtete Missionsanliegen einerseits und die nicht minder gefürchtete und oft von anderen Kirchen, insbesondere von Staatskirchen, radikal bekämpfte Taufe andererseits, wird im Titel der Zeitschrift sowie im Glaubensbekenntnis ganz selbstverständlich reklamiert, dass Baptisten »evangelisch« sind. Auch das mir vorgegebene Thema dieses Aufsatzes1 stellt ja nicht die Frage, ob der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) evangelisch ist, sondern nur wie, also in welchem Maß, er das ist. Diese selbstverständliche Herleitung des Baptismus aus der evangelischen Tradition könnte auf zwei Weisen gedeutet werden. Es könnte einmal heißen, dass evangelisch sich herleitet aus dem Evangelium, so wie man etwa von den »evangelischen Räten« spricht, das sind Keuschheit, Armut und Gehorsam. Diese Interpretation wäre eine nicht-konfessionelle Sichtweise, setzt aber ein hohes Maß an theologischem Wissen und theologischer Reflexion voraus, was man bei einem schlichten Kaufmann, wie Oncken es war, nicht unbedingt voraussetzen kann. Die andere Möglichkeit liegt näher, nämlich dass Oncken damit den Baptismus innerhalb des theologischen Erbes der Reformation des 16. Jahrhunderts einreihen will. Das ist zumindest die nahe liegende Sicht, weil man mit dem Wort »evangelisch« zurückweist auf die Zeit der Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert. »Evangelisch« hieß dann »nicht-katholisch«. Die Selbstbezeichnung »Bund 1 Dieser Aufsatz wurde zunächst als Vortrag auf der Jahrestagung 2012 der ACK-Beauftragten des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Elstal gehalten.

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Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden« nimmt auf, was Oncken eingeführt hatte. Dagegen scheint die Überschrift über eine Pressemitteilung eher zufällig »Evangelische« und »Baptisten« in ein Gegenüber zu stellen, wenn es am 28. September 2010 hieß: »Evangelische und Baptisten Europas unterzeichnen Kooperationsvereinbarung«. Grundlage aller evangelischen Seinsweise und Theologie ist einmal das oft als »Formalprinzip« bezeichnete »sola scriptura«, also das Schriftprinzip, das sich polemisch aus der Ablehnung römisch-katholischer Autoritäten wie Bischofsund Papstamt sowie der »Tradition« ergibt, und zum anderen das sog. »Materialprinzip«, das sich in der Reformationszeit auf die Lehre von der Rechtfertigung konzentrierte. Auch diese Lehre ist in polemischer Abgrenzung gegen das Pochen auf gute Werke zur Erlangung des Heils hergeleitet, beansprucht aber für sich, die Zentrallehre der biblischen Überlieferung wiederzugeben. Es kommt im Folgenden darauf an, mit dieser Ausgangsposition historisch und systematisch zu untersuchen, inwieweit das »Evangelisch-Sein« des Baptismus etwas mit dem Formal- und Materialprinzip der Reformationskirchen zu tun hat. Dabei werden die Darlegungen zwischen den beiden Polen des Historischen und Systematischen oszillieren. Das erwähnte »Glaubensbekenntniß der evangelisch-taufgesinnten Gemeinde in Hamburg« von 1837 war vorgelegt worden, um Duldung zu erreichen. Als Gottfried Wilhelm Lehmann (1799 – 1882) 1843 in Berlin auch ein Bekenntnis vorzulegen hatte, erhielt er aus Hamburg das Bekenntnis zugeschickt, überarbeitete es aber in seinem Sinn, was in Hamburg mit Schrecken registriert wurde. Das Hamburger Bekenntnis war eher reformiert, das Berliner eher lutherisch, und die Unterschiede betrafen gerade die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl.2 In nächtelangen Verhandlungen und mit »vieler Mühe, unter heißen Gebeten und Thränen« wurde dann 1847 ein gemeinsames Bekenntnis entworfen.3 Lutherische und reformierte Traditionen waren vorhanden und flossen hier zusammen. Freilich stimmt diese Aussage zumindest auf zwei Feldern nicht: Die aus dem Hamburger Streit4 hervorgegangene Betonung der sog. Autonomie der Ortsgemeinde und die Lehre von den Sakramenten sind weit von den 2 Vgl. Günter Balders, Theurer Bruder Oncken. Das Leben Johann Gerhard Onckens in Bildern und Dokumenten, Wuppertal / Kassel 1978, 87. Auf der folgenden Seite ist der Lehmann’sche Text zu Taufe und Abendmahl abgedruckt. Lehmann und Oncken unterschieden sich jedoch nicht, was das Taufalter anbelangt. Beide sahen sich außerstande, die Säuglingstaufe anzuerkennen. 3 Edwin Brandt, Vom Bekenntnis der Baptisten, in: Günter Balders (Hg.), Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. 150 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland 1834 – 1984, Wuppertal / Kassel 1984, 186. 4 Günter Balders, Kurze Geschichte der deutschen Baptisten, in: Ders. (Hg.), Ein Herr, s. Anm. 3, 39 ff.

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reformatorischen Traditionen entfernt. Die Bestrebungen Onckens nach einem »Vorort« aller Gemeinden in der Hamburger Urgemeinde samt einer zentralistischen Leitung hätten eher der lutherischen Konzeption entsprochen, die ja eigentlich eine bischöfliche Leitung vorsah. Das erkennt man daran, dass Luther die Landesherrn, die de facto die Leitung der Kirche übernahmen, als »Notbischöfe« titulierte. Sie sollten in der Notzeit das Sagen haben, bis die Notzeit vorbei wäre und sich die Kirche so gefestigt hätte, dass sie selbst Bischöfe einsetzen und sich selbst verwalten könnte, also ohne die Landesherrn als die Summepiskopaten. Die Selbstverwaltung der lutherischen Kirchen geschah recht eigentlich erst nach dem Ersten Weltkrieg, und die Niederlage Onckens im Hamburger Streit führte im deutschen Baptismus weg von der Idee einer Zentralleitung und damit auch weiter weg vom Luthertum. In Bezug auf die Sakramente sind deutliche Grenzen sichtbar, nicht zuletzt auch deshalb, weil im Gefolge der Reformation gern von »Wort und Sakrament« als den beiden Weisen gesprochen wird, wie Gott sich zeigt. Diese Rede- und Vorstellungsweise ist im Baptismus fremd, ganz abgesehen davon, dass in der Tauffrage die strikte Ablehnung einer Säuglingstaufe im Baptismus den Graben deutlich zeigt. Das hat Auswirkungen bis hin zu der Leuenberger Konkordie zwischen den evangelischen Kirchen Europas, die 1973 zustande kam und die auf drei Pfeilern ruht: 1. Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums, 2. Übereinstimmung im Verständnis der Sakramente Taufe und Abendmahl und damit auch die Möglichkeit der Anerkennung der Ämter und der Interzelebration des Abendmahls sowie 3. Überwindung von Verwerfungen der Vergangenheit. Wenn, was der Fall ist, der Baptismus sich nicht voll in die durch die Konkordie von Leuenberg gestiftete Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) einbeziehen lässt, dann liegt es an dem Unterschied in der Tauffrage, die als immer noch kirchentrennend eingestuft wird.5 Die meisten Baptisten können 5 Im Jahre 2004 ist ein Dialog der GEKE mit der Europäischen Baptistischen Föderation (EBF) zum Abschluss gekommen, der ähnlich wie die Ergebnisse des Baptistischen Weltbundes (BWA) mit dem Lutherischen Weltbund (LWB) weitgehende Übereinstimmungen erzielt hat, aber eine letzte Übereinkunft in der Tauffrage nicht erreichte. Vgl. Wilhelm Hüffmeier / Tony Peck (Hgg.), Der Anfang des christlichen Lebens und das Wesen der Kirche. Der Dialog zwischen der EBF und der GEKE zur Lehre und Praxis der Taufe (Leuenberger Texte 9), Frankfurt/M. 2005. Das Konvergenzdokument der Bayerischen Lutherisch-Baptistischen Arbeitsgruppe (BALUBAG) aus dem Jahr 2009 hat hier nach eigenem Bekunden einen Durchbruch erzielt, weil man einen »Grundkonsens in der evangeliumsgemäßen Gestaltung von Taufe und Abendmahl erreicht« sieht und daher den beteiligten Kirchen »die Aufnahme von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft« empfiehlt. Damit wäre das Tor für die Baptisten in die GEKE offen. Vgl. Erich Geldbach, Voneinander lernen – miteinander glauben. Zum Konvergenzdokument der BALUBAG, in: ZThG 15, 2010, 131 – 151. Die Rezeption der Ergebnisse dieser regionalen Arbeitsgruppe steht auf beiden Seiten noch aus. Von einer durch das Präsidium des BEFG berufenen Arbeitsgruppe wurde ein Zwischenbericht für die Bundesratstagung des BEFG am 18./19 Mai 2012 erarbeitet.

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eine Säuglingstaufe nicht als schriftgemäße Taufe anerkennen. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass das Formalprinzip sola scriptura deshalb nicht hinreichend ist, weil sich bei der Lektüre und dem Verständnis der Heiligen Schrift deutliche Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten auf der einen Seite und Baptisten auf der anderen Seite auftun. Die Frage ist dann zu stellen, ob sowohl die Säuglings- als auch die Gläubigen- oder Bekenntnistaufe »evangelisch« sind oder ob nur eine Art der Taufe das »Evangelische« für sich reklamieren kann. Die Frage verkompliziert sich noch deshalb, weil sich Lutheraner und Reformierte zeitlich etwa seit den Konvergenztexten der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Lima 1981 dazu verstehen können, beide Taufarten als gleichwertig zu akzeptieren, was bedeutet, dass Baptisten durch ihre völlige Ablehnung der Säuglingstaufe auf der ökumenischen Anklagebank sitzen. Das ist aber in diesem Fall ein Ehrenplatz! Es muss historisch davon ausgegangen werden, dass die Reformation keine einheitliche Kirche hervorgebracht hat, sondern dass es mehrere Zentren gab wie etwa Wittenberg, Zürich, Genf, Straßburg, Nürnberg etc. Daraus sind zwei Kirchen hervorgegangen, die sich aufgrund der herrschenden Machtkonstellationen territorial jeweils vorherrschend entwickeln konnten, während andere, ebenfalls in der Reformationszeit entstandene Strömungen keine Möglichkeit der Entfaltung hatten, sondern verfolgt und unterdrückt wurden. Wenn das so ist und wenn man auch die englische Reformation noch mit einbezieht, dann muss man zumindest konzedieren, dass die evangelische Reformation potentiell offen für andere Ausprägungen des »Evangeliums« war. Weder die Lutheraner noch die Reformierten könnten dann ein Monopol auf das »Evangelisch-Sein« beanspruchen, weil beide nur machtpolitisch siegreich waren, nicht aber theologisch in einem freien Meinungsaustausch, was natürlich ein moderneres Bewusstsein voraussetzt als es in der Reformationszeit möglich war. Immerhin aber lassen sich bei etlichen Täufern oder bei Caspar von Schwenckfeld solche »modernen« Gedanken finden. Nun kommt noch etwas Systematisches hinzu, was sich in der gegenwärtigen ökumenischen Situation deutlich zeigt: Sowohl das Formal- als auch das Materialprinzip ist heute keine Domäne der beiden aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen mehr, die sich das Wort »evangelisch« gern ausschließlich zulegen. Auch die katholische Theologie kann sagen, dass es oberhalb der Heiligen Schrift keine Autorität gibt. Freilich muss die Dreiheit aus Schrift, Tradition und lebendigem Lehramt eine Einheit eingehen, um die Autorität für Lehre und Sittlichkeitsnormen zu sichern. Aber das lässt sich ja auch bei den anderen Kirchen beobachten: Dass alle Kirchen auch Traditionen ausgebildet haben oder noch ausbilden, dass man also heute Tradition nicht mehr gegen die Heilige Schrift ausspielen kann oder umgekehrt die Schrift gegen die Tradition,

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lässt sich nicht bestreiten, und dass die universitäre Theologie eine Art Lehramt auf evangelischer Seite darstellt, weil sie beansprucht, die Lehre für heute zu interpretieren, liegt auch auf der Hand. Mithin haben alle Kirchen so etwas wie diesen Dreiklang von Schrift, Tradition und Lehramt, auch wenn man Letzteres in der katholischen Tradition anders verorten muss, weil man hier dem Papst sowie den Bischöfen einen Rang einräumt, den es sonst in keiner anderen Kirche gibt. Wenn nur das Lehramt, das heißt die Bischöfe und in letzter Instanz der Bischof von Rom, also der Papst, das Wort Gottes als Wort Gottes auslegen kann, dann fragt sich schon, ob die oberste Norm wirklich die Heilige Schrift sein kann bzw. wie die oberste Norm aussehen muss. Der Dreiklang von Schrift, Tradition und Lehramt ist jedenfalls im katholischen Raum anders konfiguriert als auf evangelischer Seite. Auch das Materialprinzip ist heute kein Monopol der Reformationskirchen mehr. Er wolle, hatte Luther einmal gesagt, dem Papst die Füße küssen, wenn dieser auf die Lehre von der Rechtfertigung eingehe. Seit 1989 liegt eine vom Lutherischen Weltbund (LWB) und dem vatikanischen Rat für die Förderung der Einheit der Christen unterzeichnete Erklärung mit Blick auf diese Zentrallehre der Reformation vor. Luther würde also heute zum Fußkuss sozusagen gezwungen. Es gibt daher nicht mehr dieses Entweder-Oder wie in der Reformationszeit, sondern die polemischen Vereinseitigungen, die einst das evangelische Profil ausmachten, sind einer anderen Form des Miteinanders gewichen. Von daher ist die Frage, wie evangelisch die Baptisten sind, etwa im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 auch so zu beantworten, dass das Evangelisch-Sein der Reformationskirchen nicht mehr selbstverständlich ist. Die heutigen evangelischen Kirchen sind durch die ökumenische Bewegung verändert, und auch sie trennt nicht minder der garstige Graben der Geschichte von der Reformationszeit wie alle anderen. »Evangelisch« ist daher für Interpretationen offen und nicht festgelegt. Man muss auch noch den folgenden Tatbestand unpolemisch, aber deutlich herausstellen: Entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch in den Medien von Presse, Funk und Fernsehen, die stets von den »beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland« schreiben und sprechen, gibt es die evangelische Kirche nicht. Vielmehr lässt sich »die« evangelische Kirche nur territorial als jeweilige »evangelische Landeskirche« mit einem Anhängsel, also evangelischlutherisch, evangelisch-uniert oder evangelisch-reformiert, fassen. Die Landeskirchen legen großen Wert darauf, dass mit ihren Territorialgrenzen zugleich der »Bekenntnisstand« verbunden ist, was bei den oft sehr artifiziell oder kriegerisch zustande gekommenen Grenzen jeden Betrachter in Verwunderung setzen muss. Dass heute andere Voraussetzungen vorliegen als zur Zeit der Reformation, liegt auf der Hand. Außerdem gilt es systematisch zu beachten, dass die »Allein-Aussage« in

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Bezug auf die Heilige Schrift nicht ausreichend ist. Das wird oft verkürzt so dargestellt. Man sollte aber beachten, dass diese »Allein-Aussage« zumindest von drei weiteren Aussagen mit dem Wort »allein« flankiert wird: allein aus Gnade (sola gratia), allein durch den Glauben (sola fide) und allein durch Christus (solo Christo). Das sind Aussagen, die untereinander in einem Geflecht verbunden sind, so dass man sie nur im Verbund und nicht in sich isoliert in Anspruch nehmen kann. Alle Ausprägungen des Evangelischen, d. h. nicht nur der BEFG, müssen sich diese Leitplanken des Evangelisch-Seins immer wieder vor Augen halten und dabei der Versuchung widerstehen, eine der Aussagen höher einzustufen, also z. B. das sola scriptura zu überhöhen. Noch etwas gilt es im Blick auf das Materialprinzip zu sagen. Oft wird die Rechtfertigungslehre als zusammenfassender Ausdruck reformatorischer Kirchen ausgegeben. Man muss allerdings beachten, dass die »Rechtfertigung« nur eine Möglichkeit ist, wie von der biblischen Überlieferung her das Heil des Menschen zur Sprache gebracht werden kann. Die Redeweise von der Rechtfertigung ist heute schwer verständlich und noch schwerer vermittelbar, weil es sich dabei um eine Form der Rechtssprache handelt, die uns heute so nicht mehr für religiöse Sachverhalte zugänglich ist. Dass man sich für seine Handlungen »rechtfertigt« oder »rechtfertigen« muss, also etwa triftige Gründe vorlegt, um sich selbst zu verteidigen, wie das der heutige Sprachgebrauch will, ist das genaue Gegenteil von dem, was Luther unter der »fremden Gerechtigkeit« verstand, also der von Christus uns geschenkten Rechtfertigung im Sinne von Freisprechung. Daher ist es nicht illegitim, sondern geradezu erforderlich, andere, heute eher verständliche biblische Bilder oder Sprachformen zu benutzen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, nicht »evangelisch« zu sein. Wenn man nicht die Rechtfertigungsvokabeln benutzt, ist man dadurch noch nicht als unevangelisch disqualifiziert. Es muss auch ganz deutlich in Erscheinung treten, dass die evangelischen Territorialkirchen, wenn sie sich auf die Reformationszeit des 16. Jahrhunderts berufen, historisch in Rechnung stellen müssen, dass sie damals verfolgende Kirchen waren und das, was sie gegenüber der römisch-katholischen Kirche einforderten, nämlich unbelästigt bestehen zu können, anderen entzogen. Sie waren verfolgende Kirchen, und selbst an den Händen eines so irenisch gesinnten Menschen wie Philipp Melanchthon, der alles unternahm, um mit den Katholiken eine Übereinkunft zu erzielen, klebt Blut.6 Der Hinweis, Luthers Auftreten in Worms sei der Beginn von Gewissensfreiheit, ist eine Geschichtsklitterung, weil Luther die Bindung an sein Gewissen in Worms in der Tat geltend machte, diese gleiche Gewissensentscheidung und Gewissensbindung aber an6 Vgl. Erich Geldbach, Der etwas andere Melanchthon. Unzeitgemäße Anmerkungen zum Melanchthon-Jahr, in: ZThG 3, 1998, 102 – 111.

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deren nicht zugestand. Man kann den Grundsatz aufstellen, dass, wenn die Bindung an das Gewissen auch nur einem Menschen vorenthalten wird, sie für keinen Menschen gilt. Hier geht es um ein deutliches Entweder–Oder. Gibt es Gewissensbindung, dann gibt es sie für alle ohne Ausnahme. Die evangelischen Kirchen der Reformation, ob in Zürich unter Zwingli, in Genf unter Calvin oder in den deutschen Territorien unter Anleitung Luthers und der anderen Reformatoren, waren keine Kirchen der Freiheit, sondern Kirchen der Verfolgung unter Hinzuziehung der »Obrigkeit«. Das Kuratorium für die Vorbereitungen des Reformationsjubiläums unter dem Vorsitz des EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider hat einen »Wissenschaftlichen Beirat« berufen, der »die Tragweite und Bedeutung des bevorstehenden Reformationsjubiläums in Form von 23 Aussagen aufgeschlüsselt« hat.7 In These 3 dieser »Perspektiven für das Reformationsjubiläum« wird die Behauptung aufgestellt, die Reformation habe »die religiös-kulturelle Differenzierung und Pluralisierung zur Signatur Europas gemacht«. Dieser Aussage kann man nur in einem ganz deutlich begrenzten Ausmaß folgen. Dem Pluralisierungsschub durch Baptisten und andere Freikirchen wie Methodisten, Evangelische Gemeinschaft, Freie evangelische Gemeinden u. a. ist selbst noch im 19. Jahrhundert mit übelster Polemik, ja auch mit Gefängnisstrafen begegnet worden und noch im 20. und 21. Jahrhundert gibt es nur ganz geringe Bereitschaft zur uneingeschränkten Anerkennung religiöser Pluralität. In den evangelischen Landeskirchen wird man nicht müde, sich selbst als glühende Verehrer der Pluralität in den eigenen Reihen zu feiern, aber es gibt wenig Verständnis für eine anders geartete kirchlich-institutionell verfasste Pluralisierung. Nach baptistischem und freikirchlichem Verständnis ist das aber Teil des »Evangelisch-Seins«. In einem eingeschränkten Sinn können Baptisten sich evangelisch verstehen. Mit vollem Recht betont die These 2, dass »die Wirkungen, die die Reformation hervorgebracht hat, verschieden wahrgenommen und bewertet« werden. Man kann auch nur unterstreichen, was danach folgt, dass nämlich die Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 eine »Gelegenheit und Herausforderung« darstellt, »in Diskussionen und, soweit möglich, Verständigungsprozesse über die unterschiedlichen Perspektiven auf die Reformation und ihre Wirkungen einzutreten«. An dieser Stelle sei eine solche Herausforderung genannt: Wenn der repressive Strang der Tradition evangelischer Territorialkirchen bei dem »Reformationsjubiläum 2017« von den Organisatoren nicht auch deutlich geäußert oder nur mit »mangelnder Toleranz« erklärt wird, muss er von den Freikirchen in irenischer Absicht eingebracht werden. 7 www.luther 2017.de/139-perspektiven-fuer-das-reformationsjubilaeum-2017; 10. 2. 2012.

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Ein Beispiel von eklatanter Geschichtsklitterung ist die These 15, die lautet: »Die im Glauben begründete unmittelbare Stellung der Person vor Gott schließt aus, dass politische Institutionen Zugriff auf den Glauben der Menschen haben. Mit diesem Grundsatz, in dem die Forderung der Reformation nach einer klaren Unterscheidung zwischen Kirche und Staat ihren tiefsten Grund hat, ist die Basis zur Ausbildung der modernen Grundrechte von Religions- und Gewissensfreiheit gelegt. Allerdings ist eine so motivierte und der Gewährung von Religions- und Gewissensfreiheit verpflichtete Unterscheidung zwischen Kirche und Staat in der Geschichte des Protestantismus selbst vielfach nicht hinreichend eingehalten worden.«

Die Aussagen sind zum größten Teil richtig, aber nicht auf die Reformationskirchen im 16. Jahrhundert oder in den nachfolgenden Jahrhunderten zu beziehen. Es gab durchaus den politischen Zugriff auf den Glauben der Menschen, und dies noch bis ins das 20. Jahrhundert, und es gab eben keine klare Unterscheidung von Kirche und Staat und damit auch keine Basis für die modernen Grundrechte von Religions- und Gewissensfreiheit. Die kann man im übrigen auch nicht »gewähren«, wie hier unterstellt wird, weil Grundrechte mit der Geburt eines Menschen »gegeben« sind und nicht wie etwa die Toleranz von einem Staat oder einer Kirche oder sonst einer Institution »gewährt« werden. Der letzte Satz der These verniedlicht den Tatbestand über Gebühr. Um nur ein Beispiel von vielen nicht etwa aus dem 16. Jahrhundert, sondern aus dem postaufklärerischen 19. Jahrhundert zu zitieren, sei auf Friedrich Julius Stahl (1802 – 1861) verwiesen, der in seiner Streitschrift »Wider Bunsen« schreibt: »[…] wo steht denn geschrieben, dass das Gewissen der Sektenemmissäre den Vorrang haben muß vor dem Gewissen der evangelischen Obrigkeit?«8 Weiter verteidigt er »das gute Recht christlicher Obrigkeit gegen diese Banalphrase der religiösen Freiheit«, und um zu zeigen, dass diese Banalität nicht auf deutschem Boden erwachsen und deutschem Wesen fremd ist, setzt er in Klammern den englischen Ausdruck religious liberty hinzu, um die Distanz auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Man muss daher ganz deutlich sagen: Hervorgebracht und in die politische Praxis umgesetzt haben die angesprochenen Tatbestände der Unterscheidung von Staat und Kirche und die Grundrechte der Gewissensund Religionsfreiheit die Freikirchen und hier insbesondere die Baptisten. Pluralisierung, Demokratie und Religionsfreiheit sind eben keine Errungenschaften des landeskirchlichen Protestantismus, auch wenn dies der »Wissenschaftliche Beirat« anzunehmen geneigt scheint. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg haben die deutschen Landeskirchen ihren Frieden mit der Demokratie geschlossen, die sie zuvor im ganzen 19. Jahrhundert und in der Weimarer Republik zu großen Teilen bitter bekämpft haben. Auch ist die These 16 alles andere als einsichtig. Sie lautet: 8 Berlin 1856, 95.

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»Das Verständnis der Kirche als einer unhierarchischen Gemeinschaft ihrer Glieder war für die Reformation, abgesehen von einigen Gruppen an ihren Rändern, kein allgemeingesellschaftliches, politisches Modell, ja, es stieß als solches sogar auf Widerstand. Doch, einmal für die Kirche proklamiert, wurde der Gedanke einer radikalen Gleichheit in der Politik ein entscheidendes Movens auf dem Weg zur Demokratie, die sich nicht zufällig in zahlreichen protestantisch geprägten Staaten (Niederlande, Schweiz, Dänemark/Norwegen/Island, Schweden/Finnland, Großbritannien, USA) auf evolutionärem Weg entwickelte.«

Fraglich ist, ob es in den Reformationskirchen je eine unhierarchische Konzeption von Kirche gegeben hat. Noch fraglicher ist es freilich, dieses Konzept in den skandinavischen Staaten auf die Politik zu beziehen.9 In den reformiert geprägten Gebieten und in Großbritannien und den USA trifft die These weitgehend zu, doch auch hier lässt sich das Gesagte weniger auf die Kirchen der Reformation als auf die Kirchen der Nachreformation, also die Freikirchen, anwenden. Der unhierarchische Charakter dieser Kirchen führte unmittelbar in die Politik: Dem church meeting entsprach das town meeting. Noch an einem anderen Punkt muss man sich von der deutschen Reformation absetzen und sich dabei auch selbst in Frage stellen lassen. Das ist die Stellung der Kirche zum Judentum. Luther hatte zwar 1523 in seiner Schrift »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei« für einen freundlichen Umgang mit den Juden geworben und sich gegen die üblichen Ausgrenzungen gewandt, er tat dies aber in der Hoffnung, dass die Juden, wenn sie mit dem reinen und klaren lutherischen Evangelium und nicht mit dem korrupten Papsttum konfrontiert würden, sich zu Christus als ihrem Messias bekehren würden. Freilich traf diese Hoffnung nicht ein, und so wurde sein Ton rauer, bis er schließlich 1543 seine Schriften »Von den Juden und ihren Lügen« und »Von Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi« ausgehen ließ, in denen er in heftige anti-jüdische Ausfälle umkippt, die man noch nicht einmal redigieren musste, um sie im nationalsozialistischen Hetzblatt »Der Stürmer« abzudrucken. In der ersten, wohlwollenden Schrift werden Juden nicht als Juden ernst genommen, sondern nur als potentielle Missionsobjekte, die aber dann fallen gelassen werden, sobald sie die in sie gesetzten Hoffnungen auf Bekehrung nicht erfüllen. An diesem Punkt muss freilich auch unsere jüngere, schuldbeladene Vergangenheit in Deutschland zur Sprache kommen und darf nicht unterschlagen und vergessen werden.10

9 Vgl. Peder A. Eidberg, Norwegian Free Churches and Religious Liberty : A History, in: Journal of Church and State 37, 1995, 869 – 884. 10 In der baptistischen Geschichte trifft man auf wenig Anti-Judaismus; vgl. Erich Geldbach, Baptist-Jewish Relations: Some Observations from a German Point of View, in: Baptist History and Heritage XXXVIII, 2003 No. 2, 20 – 37.

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II. Jetzt kommt der nächste Schritt: Der Baptismus ist als ein Teil des separatistischen Puritanismus nicht im 16., sondern erst Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden. Kann er im Blick auf den Abstand von fast einhundert Jahren überhaupt als evangelisch eingestuft werden, wenn man die Frage als »historische« Frage versteht? Beachtet man, was im englischen Kontext »Separatismus« und »Puritanismus« bedeutet, dann kann die Antwort durchaus positiv ausfallen. Als nach dem blutigen katholischen Schwenk der Maria 1558 Elizabeth auf den Thron kam, verfolgte diese einen vorsichtigen Reformkurs, Elizabethan settlement genannt. Der beinhaltete auch den Anspruch der Königin, die einzige Oberherrin (only supreme governor) sowohl in geistlichen und kirchlichen als auch in zeitlichen Dingen zu sein (1559) und hatte zur Folge, dass mit Hilfe der Uniformitätsakte von 1559 (und später nochmals mit der von 1662 unter Charles II.) eine geistliche und weltliche Einheitlichkeit hergestellt werden sollte. Dass solche Gesetze nötig waren, deutet auf Entwicklungen hin, die solche Einheitlichkeit gefährdeten. Da waren im Zeitalter Elizabeths auf der einen Seite Anhänger der katholischen Kirche, die sich Freiräume zu verschaffen suchten oder sogar Anschläge auf die Königin planten und ausführten, und da waren auf der anderen Seite solche, die auf weitergehende kirchliche Reformen drängten. Sie sahen in der Kirche von England zu viele katholische Reste und hatten es sich auf ihre Fahnen geschrieben, die Kirche vom »papistischen Aberglauben« zu reinigen (engl. to purify). Mit dem Schimpfwort »Puritaner« suchte man die eifrigen Reformer in Misskredit zu bringen, die sich »nonkonformistisch« verhielten, als die Königin eine einheitliche Priesterkleidung und bestimmte Zeremonien vorantrieb, jedoch setzte sich das Wort bald auch als Eigenbezeichnung durch. Allerdings ist der Puritanismus alles andere als einheitlich. Zwischen 1570 und 1640 wurden innerhalb der puritanischen Bewegung verschiedene Ideen entwickelt. Einige suchten eine presbyterianische Ordnung nach dem Genfer Vorbild Johannes Calvins (1509 – 1564) einzuführen und sahen in der bischöflichen Verfassung ein Grundübel. In England wäre dann der Presbyterianismus zur Staatskirche geworden. Andere wollten die Kirche von England von innen reformieren, z. T. auch unter Ablehnung der bischöflichen Verfassung. Andere schlugen einen halb-separatistischen Weg ein, indem sie zwar in der Kirche von England blieben, aber zugleich besondere Gemeinden bildeten, so ähnlich wie in Deutschland die landeskirchlichen Gemeinschaften. Wieder andere propagierten die totale Separation von der Staatskirche, weil diese nicht reformierbar sei, was zu Verhaftungen und Hinrichtungen führte und auch einige ins Exil nach Holland trieb. Darunter waren auch John Smyth (ca. 1570 – 1612) und seine Gemeinde, die zu allen anderen Zankäpfeln auch

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noch die Kindertaufe aufgaben und die Taufe der Gläubigen einführten. Von all diesen Gruppen, wie unterschiedlich auch ihr Programm im Einzelnen oder im Gesamten aussah, wird man sagen müssen, dass sie alle nicht-katholisch waren und sie alle reformatorischen Prinzipien nacheifern wollten. Wenn der Baptismus als ein Teil des separatistischen Puritanismus entstanden ist – und daran kann es keinen Zweifel geben – , so ist er damit von seiner Entstehung her nicht »un-evangelisch«, um es ganz vorsichtig auszudrücken. Die Puritaner, auch die separatistischen Puritaner, sprachen häufig davon, dass man die Reformation »vollenden« müsse. Dies ist ein Schlagwort, mit dem ausgesagt werden soll, dass die Reformation nicht konsequent durchgeführt worden, sondern auf halbem oder viertel oder auch dreiviertel Weg stecken geblieben sei. Ähnliche Überlegungen und Sprachbilder gibt es ja auch im deutschen Pietismus, der nicht nur die Kontinuität zu Luther reklamierte, sondern der auch an einer Vollendung der Reformation arbeiten wollte, und dies nicht nur auf dem radikalen Flügel. In England ist dieser Ansatz durchaus verständlich, weil man in der Tat sagen kann, dass die Reformation dort in ganz anderen Bahnen verlaufen ist und die Kirche von England selbst unter Elizabeth deutlich katholischer war als reformatorische Kirchen auf dem Kontinent. Es gab daher Anlass, an dem »papistischen Aberglauben« in der Kirche von England die Nicht-Vollendung der Kirchenreformation festzumachen und die Weiterführung bzw. Vollendung der Reformation zu fordern. Der Baptismus hat diese Sicht in vielen seiner Vertreter übernommen. In Deutschland kann man davon ausgehen, dass die frühen Vertreter des Baptismus dies auch so sahen, wobei hier die Entwicklungslinien möglicherweise eher vom Pietismus über die Erweckungsbewegung zum Baptismus laufen als über die angelsächsischen Geschwister. Aber die Einflüsse können auch von dort kommen, weil diese Sicht so verbreitet war. Noch 1920 sagte George W. Truett, Pastor der First Baptist Church in Dallas, Texas und später Präsident des Baptistischen Weltbundes (BWA), auf den Stufen des Kapitols in Washington vor mehr als 10.000 Zuhörern in seiner berühmten und rhetorisch sehr geschickten Rede Baptists and Religious Liberty : »The Protestant Reformation of the Sixteenth century was sadly incomplete – it was a case of arrested development. Although Luther and his compeers grandly sounded out the battle cry of justification by faith alone, yet they retained the doctrine of infant baptism and a state church. They shrank from the logical conclusions of their own theses.«

Truett vertritt die These, dass die Reformation des 16. Jahrhunderts »traurigerweise« unvollendet geblieben ist, obgleich Luther und die Seinen die Rechtfertigung allein durch den Glauben gelehrt hatten. Die Logik gebietet es, dass man den Entwicklungsstillstand auflösen und die Entwicklung zu ihrer

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Vollendung führen kann. Die Hindernisse sind die Säuglingstaufe und die Staatskirche. Das Werturteil, dass die Reformation »traurigerweise« unvollständig geblieben sei, muss man nicht teilen, wohl aber kann man den Faktoren, die dafür verantwortlich gemacht werden, etwas abgewinnen: Stimmt es nicht, dass die Säuglingstaufe und die Staatskirche tatsächlich Hindernisse für eine gesunde Entwicklung der Kirche sind? Bedingt das eine nicht das andere? Kann man nicht mittels der flächendeckenden Säuglingstaufe eine Kirche erbauen, die mit der Gesellschaft deckungsgleich ist, und liegt darin nicht zugleich die numerische Größe und die theologische Tragik dieser Gestalt von Kirche begründet? Aber sind diese Fragen notwendigerweise unevangelisch? Ich meine nicht.

III. Jetzt ist es an der Zeit, noch einen linguistischen Schlenker zu machen. Das Wort »evangelisch« wird im Englischen und Amerikanischen mit dem Begriff »evangelical« oder »protestant« oder auch »Reformation +«, also etwa Reformation church, Reformation theology etc. wieder gegeben. Im Deutschen ist seit 1966 das Kunstwort bzw. der Neologismus »evangelikal« im Umlauf. Ist evangelikal gleichbedeutend mit evangelisch? Das kann den Anschein haben, wenn man z. B. die website der Evangelischen Kirche in Deutschland aufruft = Evangelical Church in Germany oder wenn man bedenkt, dass die seit etlichen Jahren in den USA zusammengeschlossenen Lutheraner ihre Kirche Evangelical Lutheran Church in America nennen, und dass im protestantischen Sprachgebrauch in den USA die sog. »evangelischen Räte« Armut, Keuschheit und Gehorsam evangelical counsels heißen, während die Katholiken diese Räte counsels of perfection nennen. Diese Beispiele zeigen eindeutig, dass evangelical nichts anderes bedeutet als evangelisch. So war dies auch in der Zeit, in der das deutsche Wort zuerst im Reformationsjahrhundert in England eingeführt, aber immer öfter durch protestant verdrängt wurde. Zu einer neuerlichen Blüte kam es dann vor allem in der Zeit der Erweckungsbewegung mit den Brüdern John und Charles Wesley, also den Begründern der methodistischen Bewegung. Dafür lassen sich mehrere Gründe nennen. Einmal wollte John Wesley (1703 – 1791) die in den 39 Artikeln der Kirche von England zwar genannte, aber im Leben der Kirche wenig vorkommende Rechtfertigungslehre beleben. John Wesley hatte am 24. Mai 1738 – wider Willen, wie er betont – eine kleine Versammlung in der Aldersgate Street in London besucht, wo gerade Luthers Vorrede zum Römerbrief verlesen wurde. Er schreibt:

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»Ungefähr viertel vor neun, als er [Luther] gerade die Veränderung beschrieb, die Gott im Herzen durch den Glauben an Christus bewirkt, fühlte ich mein Herz seltsam erwärmt. Ich fühlte, dass ich Christus vertraute, Christus allein, zum Heil, und eine Gewissheit wurde mir geschenkt, dass Er meine Sünden hinweg genommen hatte, gerade meine, und mich vom Gesetz der Sünde und des Todes gerettet.«11

Luther stand bei Wesleys Erlebnis der Heilsgewissheit gewissermaßen Pate. Dazu kommen seine Erfahrungen mit Herrnhutern, die er bei der Überfahrt nach Georgia und zurück nach England machte. Peter Böhler wurde zu seinem Seelenführer, der ihm sagte, er solle ruhig die Werke ohne den Glauben weiterhin leisten, bis er den Glauben finde, dann werde er die Werke aus dem Glauben tun. Wesley entfaltete in der Folgezeit eine beispiellose evangelistische und organisatorische Tätigkeit. Für ihn war die Kirche von England die bestverfasste Kirche, aber sie musste verlebendigt, erweckt werden, weshalb er kleine Zellen, »Banden«, Societies, nach Herrnhuter Muster organisierte und evangelistisch predigte. Evangelical wurde jetzt gleichbedeutend mit »erweckt« gebraucht. Der baptistische Historiker David Bebbington schreibt in seinem Buch Evangelicalism in Modern Britain, das 4. Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts »witnessed in the English-speaking world a more important development than any other, before or after, in the history of Protestant Christianity : the emergence of the movement that became Evangelicalism«.12 In den 1730er Jahren sieht David Bebbington eine Bewegung entstehen, die in der Geschichte des protestantischen Christentums mit dem Aufkommen des »Evangelikalismus« seinesgleichen sucht. Er hat vier Kennzeichen herausgearbeitet, die diesen Evangelicalism ausmachen; sie sind allgemein so anerkannt in der Literatur, dass man sogar vom »Bebbington Quadrilateral« spricht: Conversionism (Bekehrung), Biblicism (Biblizismus), Crucicentrism (Konzentration auf das Kreuzgeschehen) und Activism (diakonisch-evangelistischer Aktivismus). Eine Anmerkung sei in Bezug auf die Baptisten erlaubt: Sie waren sowohl in England als auch in den nordamerikanischen Kolonien anfänglich gegenüber den Erweckungen zögerlich. Man stieß sich an den Gefühlsaufwallungen (emotionalism), die Erweckungsprediger erzeugten, oder verwies eher auf die calvinistische Tradition der Erwählung, was John Wesley z. B. wenig behagte. In dieser Frage war es schon 1740 zwischen ihm und George Whitefield zum Bruch gekommen. Whitefield vertrat die Prädestination, die Wesley als a doctrine full of blasphemy bezeichnete. Um diese Ansicht zu unterstreichen, gab Wesley ab 11 John Wesley’s Journal as Abridged by Nehemiah Curnock, London (The Epworth Press) 1967, 51 (eigene Übersetzung). Die berühmten Worte lauten: »I felt my heart strangely warmed«. 12 Zitat bei: Martin Wellings, British Methodism and Evangelicalism, in: William J. Abraham / James E. Kirby (Hgg.), The Oxford Handbook of Methodist Studies, London 2009, 155 – 170, 157.

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1778 eine Zeitschrift heraus, Arminian Magazine, mit der er das »Gift« des Calvinismus bekämpfen wollte.13 Baptisten betonten ferner, dass die Erweckungen durch Priester der Kirche von England oder durch Kongregationalisten in Neu-England hervorgerufen waren, also Kirchen, die beide wenig Sympathien für Baptisten zeigten, sondern im Gegenteil eher Verfolgungsmaßnahmen guthießen. Außerdem vermisste man die Ekklesiologie, und schließlich vertrat keiner der frühen Erweckungsprediger die Gläubigentaufe. Aber dann gaben auch die Baptisten ihre zögerliche Haltung auf und wurden evangelistisch sehr erfolgreich. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in England und in Nordamerika ca. je 100.000 Baptisten, am Ende des Jahrhunderts in England eine halbe Million, in den USA über drei Millionen getaufte Mitglieder. Der deutsche Pietismus, vor allem in Gestalt der Herrnhuter Brüdergemeine, die methodistische Bewegung und die Große Erweckung in den nordamerikanischen Kolonien bilden eine Traditionslinie, die noch verstärkt wird durch das Erstarken der evangelical party in der Kirche von England. In England arbeiteten die »Erweckten« im Kampf gegen soziale Missstände oder gegen die Sklaverei und im Aufbau von Bibel- und Traktatgesellschaften zusammen, so dass die Bildung der Evangelical Alliance (dt. Evangelische Allianz) eine sozusagen natürliche ökumenische Lebensäußerung der internationalen Zusammengehörigkeit der Erweckten bildete. Das Bebbington Quadrilateral stellte so etwas wie die Familienbande der Erweckten dar. Vier neue nicht-theologische Entwicklungen veränderten den Evangelikalismus: Erstens eine Methodenfrage: Wie liest man antike Bücher, und dürfen diese Maßstäbe auch auf die Heilige Schrift angewandt werden? Zweitens die Evolutionstheorie Darwins und ihre Ausgestaltung zu einem Sozialdarwinismus (survival of the fittest), was nicht nur die Herkunft des Menschen, d. h. die Schöpfung, in Frage stellte, sondern auch die sozialen Aktivitäten zur Verbesserung der Gesellschaft und zur Linderung unmittelbarer Nöte: Das muss man alles gar nicht machen, wenn der Beste sich ohnehin durchsetzen wird. Drittens die Psychoanalyse und andere neue Wissenschaften wie Soziologie und Psychologie: Lässt sich der Mensch steuern? Was ist die Rolle des Unbewussten? Wird alles durch die Gesellschaft determiniert? Viertens allgemeine Entwicklungen auf dem Gebiet der Technik. Es kam zu einer allgemeinen Beschleunigung des Lebens durch Dampfschiffe, Eisenbahn, später Fahrräder und Automobile. Auf dem Gebiet der Arbeitsprozesse stellte sich die Frage, wo man am ehesten einen Job findet. Oft genug war die Antwort: »In der Stadt!«, was zu Landflucht und Verstädterung führte. Das Ganze soll jetzt nicht weiter ausgebreitet werden, sondern als Fazit bleibt festzuhalten, dass das Wort evangelical in seiner Bedeutung verengt wurde und jetzt eine besondere Richtung im Pro13 AaO., 158.

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testantismus meint, die sich polemisch gegen den sog. Modernismus abgrenzt. Damit hat dieser Begriff seine Bedeutung »evangelisch« verloren, was sich ja auch nicht zuletzt daran zeigt, dass ein deutscher Neologismus entstehen musste, weil ein Wort zur Erfassung dieser kirchenpolitischen Richtung fehlte. Der linguistische Schwenk bringt als Ergebnis die einfache Behauptung, dass evangelikal im Gegensatz zum frühen Gebrauch von evangelical nicht mehr »evangelisch« bedeutet, sondern eine protestantische Kirchenpartei meint.

IV. Damit kann man zum Ausgang zurückkehren: Was meint evangelisch? Sind die Evangelikalen als Partei nicht doch auch evangelisch im evangelischen Pluralismus? Wenn man die Sonntagsreden evangelischer Bischöfe, Präsides und Kirchenpräsidenten hört, ist das in der Tat der Fall. Offenbar ist die Bandbreite dessen, was »evangelisch« umschließen kann, sehr groß. Dazu könnte man noch ein anderes Beispiel anführen, diesmal bezogen auf die Taufe. Manche Systematiker, auch bekannte wie Wolfhart Pannenberg, können, wenn es um die Verteidigung der Neugeborenentaufe geht, zu eigenartigen Ergebnissen kommen, die weder exegetisch haltbar, noch systematisch als Ableitungen aus dem neutestamentlichen Befund einleuchtend erscheinen – und dies, obwohl sie dem Grundsatz sola scriptura verpflichtet sind. Wenn man mit dem Schriftprinzip sola scriptura evangelikal-verkürzend oder exegetisch und systematisch wenig überzeugend umgehen kann, dann erhebt sich die weitreichende Frage, ob die EKD oder die Landeskirchen oder die evangelisch-theologischen Fakultäten die Definitionshoheit besitzen, um zu bestimmen, was evangelisch ist. Das ist nach meiner Auffassung rundweg zu verneinen. Anders als ich es eingangs von Oncken vermutete, meine ich, dass wir »evangelisch« von »Evangelium« ableiten müssen. Dabei finde ich die vier Allein-Aussagen sehr hilfreich, wenn sie nicht so verzerrt werden, dass etwa die Heilige Schrift zum papierenen Papst erhöht wird, sondern wenn klar ist, dass wir das Evangelium nur in irdenen Gefäßen haben. Die Southern Baptists haben 1999/2000 bei der Revision ihres Bekenntnisses Baptist Faith and Message aus dem Jahr 1925 (revidiert 1963) die Stelle, dass Jesus Christus die Norm der Interpretation der Heiligen Schrift ist, ersatzlos gestrichen. Die Begründung lautete, dass man so der Bibel als dem »unfehlbaren« und »fehlerfreien« Wort Gottes nicht gerecht werde. Das irdene Gefäß Bibelwort wird also gegen das Fleisch gewordene Wort Gottes ausgespielt. Wenn das Schriftprinzip so verzerrt wird, dass das irdische Vehikel zum Inhalt wird, dann kann nur eine seltsame Theologie herauskommen, die nur noch sehr bedingt, wenn überhaupt, evangelisch genannt werden kann. Schließlich ein Letztes: Evangelisch oder reformatorisch hieß auch immer,

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dass die Kirche eine stets zu reformierende ist: ecclecia semper reformanda. Das bedeutet, sich auf neue Fragen einzulassen und schriftgemäße Antworten zu suchen. Auch das ist genuin evangelisch und geht heute nur noch in ökumenischer Gemeinschaft. Die These 21 der »Perspektiven für das Reformationsjubiläum« lautet daher zu Recht: »Die Bewahrung und Fortentwicklung der modernen westlich geprägten Kultur kann heute nur geschehen, wenn beides zur Geltung gebracht wird: das gemeinsam Christliche und das je besondere Profil der Konfessionen – konfessionelle Differenz und ökumenische Gemeinsamkeit.«

Wenn das zutrifft, dann bildet das Besondere, das der Baptismus hervorgebracht hat, kein Hindernis für die Ökumene, ja man kann deshalb auch nach beidem Ausschau halten, nach dem Gemeinsamen und nach dem Besonderen. Das Gemeinsame wäre das »Evangelische«, was immer noch als »nicht-katholisch« angesehen werden muss, z. B. in der Anthropologie, der Soteriologie, der Ekklesiologie, insbesondere der Ämterfrage und der hierarchischen Abstufungen. Es ist dann den Schweiß der edlen Repräsentanten des BEFG in ökumenischen Gremien wert, sich über die Besonderheiten des Baptismus immer wieder neu auszutauschen.14

14 Vgl. etwa James E. Wood, Baptists and Human Rights, BWA 1977; das Heft der Study and Research Division des Baptistischen Weltbundes (BWA): We Baptists, Franklin, TN 1999 oder Bill J. Leonard, An Introduction to Baptist Principles, Brentwood, TN 2005.

Andrea Strübind

Erbe und Ärgernis. Was gibt es für Kirchen aus täuferischen und nonkonformistischen Traditionen anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 zu feiern?

Der verzweigte weltweite Protestantismus versteht sich bis in die Gegenwart als Aneignungsprozess der reformatorischen Botschaft in unterschiedlichen Kontexten, Regionen und Zeitphasen. Zu den »Kirchen der Reformation«1 gehören ihrem Selbstverständnis nach auch die Kirchen und Gemeinschaften, die aus dem täuferischen Spektrum stammen oder aus den heterogenen Bewegungen des Puritanismus des 16./17. Jahrhunderts entstanden sind.2 In Kontinuität zu Reformbewegungen des Spätmittelalters intensivierte die Reformation die religiöse Pluralisierung, die sich ausgehend von verschiedenen Zentren in Europa über Nordamerika schließlich auch weltweit ausbreitete. Sie führte in einem langen Prozess zur Konstituierung einer Vielzahl selbständiger, zumeist antagonistischer und sich von der westlichen Kirche abgrenzenden Konfessionen bzw. Denominationen. Durch die theologisch motivierte Umbruchbewegung, die sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Frühen Neuzeit auswirkte, ist die religiös-kulturelle Differenzierung und Pluralisierung zu einer nachhaltigen Signatur Europas und der westlichen Welt geworden. Etablierte Freikirchen sowie die pentekostalen Bewegungen und Gruppie1 Dieser Begriff wird nach meiner Beobachtung in ökumenischen Diskursen in Deutschland meistens nur verwendet, wenn eine Position gegenüber der römisch-katholischen Kirche hervorgehoben und mit Autorität verbunden werden soll. Unter dem Stichwort »Protestantismus« werden u. a. im Lexikon der Ökumene und Konfessionskunde neben den hauptreformatorischen Strömen (Luthertum, reformierte Kirchen) sowohl die sogenannten vorreformatorischen Bewegungen wie Waldenser und die aus der Reforminitiative von Jan Hus hervorgegangenen Böhmischen Brüder als auch die Freikirchen (u. a. Methodisten, Baptisten) und die anglikanische Kirchengemeinschaft genannt. Ein gewisser Vorrang wird den lutherischen und reformierten Kirchen insofern zuerkannt, als sie als »die eigentlichen Reformationskirchen« bezeichnet werden (Reinhard Frieling, Art. Protestantismus, in: Wolfgang Thönissen [Hg.], Lexikon der Ökumene und Konfessionskunde, Freiburg 2007, 1099). 2 Vgl. Andrea Strübind, Die »Kirche der Freien«. Der Kongregationalismus als Kirchenreformmodell. 400 Jahre Baptismus, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim (MD) 60 (2009), Heft 6, 103 – 109. In diesem Aufsatz steht der Bund EvangelischFreikirchlicher Gemeinden (BEFG) im Vordergrund.

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rungen führen sich daher – unabhängig von allen legitimatorischen Berufungen auf die alleinige Initiation durch den Heiligen Geist – auf die Reformation zurück.3 Warum sollten sie also nicht feiern, wenn 2017 mit großem Aufwand das 500. Jubiläum der Reformation begangen werden wird? Warum sollten sie feiern? Die dissentierenden protestantischen Bewegungen, vor allem das Täufertum, die durch katholische wie auch durch reformatorische Obrigkeiten seit dem 16. Jahrhundert verfolgt und ausnahmslos marginalisiert wurden, können sich andererseits nicht ungebrochen in die Schar der »Jubilierenden« einreihen. Die Reformation produzierte wie alle großen Umbruchsbewegungen auch Opfer. Wie könnten angesichts der Tausenden von hingerichteten, inhaftierten, zur Migration gezwungenen, um Hab und Gut gebrachten und diskriminierten Menschen die Errungenschaften und bleibenden Werte der Reformation vorbehaltlos gefeiert werden? Wie sollen deren Nachfahren und die sich auf diese Tradition berufenden Kirchen das »Identitätsfest evangelischer Konfessionalität«4 mitfeiern oder, mehr noch, dieses als eine Feier ihres eigenen historisch-theologischen Entstehungszusammenhangs adaptieren? Es sei denn, es fände sich ein spezifischer Zugang zum Reformationsgedächtnis, der die Schattenseite der religiösen Konflikte wie der Gewalterfahrungen ebenfalls memorierte und den besonderen Beitrag dieser Traditionen im großen Gesamtbild der Reformation würdigte.5 Bevor diese Lösung weiter bedacht werden wird, soll im Folgenden die Bedeutung von Jubiläen und speziell von Reformationsjubiläen kurz reflektiert werden.

I.

Wozu Reformationsjubiläen?

Unter konfessionskultureller Perspektive war das Selbstverständnis des Protestantismus stets auch durch die Reflexion der eigenen Geschichte geprägt. Die Rezeption der reformatorischen Ursprungsgeschichte, die sich besonders in Jubiläen verdichtete, entwickelte sich zugleich zu einem kontinuierlichen Medium theologischer und kirchenpolitischer Auseinandersetzungen.6 Seit der 3 Vgl. Die Rezeption der Reformation in den Freikirchen, Freikirchenforschung 20 (2011). 4 Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517 – 1617, Stuttgart 2002, 11. 5 Von den anschließenden Ausführungen sind die Mennoniten auszunehmen, die durch einen speziellen »Versöhnungsprozess« auf deutscher und internationaler Ebene eine besondere Haltung zum Jubiläum entwickelt haben. Vgl. dazu: Fernando Enns, Gemeinsam der Versöhnung gedenken, in: Texte aus der VELKD Nr. 163, Mai 2012, 2 – 3. 6 Vgl. Thomas Kaufmann, Reformationsgedenken in der Frühen Neuzeit, in: ZThK 107 (2010), 285 – 324; Wolfgang Flügel, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutheri-

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ersten »Centenarfeier« des Beginns der Reformation im Jahr 1617, die zugleich die Geburtsstunde des »Reformationstages« war, gehören öffentlich inszenierte Reformationsjubiläen zur Spezifik der protestantischen Konfessionskulturen. Interessanterweise war die Hundertjahrfeier des Jahres 1617 abgesehen von päpstlichen Jubel- bzw. Ablassjahren einer der ersten historischen Ereigniszusammenhänge, an die mit einem öffentlichen Jubiläum erinnert wurde.7 Festkultur, literarische Produktion, Gottesdienste und Öffentlichkeitsarbeit (einschließlich Luther-Devotionalien) machten die Jubiläen in den verschiedenen Phasen der Geschichte zu gesamtgesellschaftlichen und kirchlichen Ereignissen. Die erste landesweite, »multimedial« inszenierte Jubiläumsfeier fand in der konfessionell aufgeladenen Krisensituation des Deutschen Reiches vor Beginn des 30-jährigen Krieges statt und wurde für die politische Profilierung der protestantischen Fürsten genutzt, die sich zu Schutzherren des wahren Glaubens aufwarfen. Die veröffentlichten Musterpredigten verweisen auf antikatholische Stereotype und den Widerstand gegen die innerprotestantische Pluralisierung (Calvinismus). Thomas Kaufmann weist dem ersten Jubiläumsfest bereits jene »Lutherzentriertheit« und eine kämpferische, antikatholische Polemik nach, die sich in den kommenden Jahrhunderten fest etablierte.8 »Von Luther selbst an sind die Ereignisse in bestimmter Weise gesehen und stilisiert worden und in Jubiläen, Historie und Lehrbüchern so oft wiederholt und pointiert worden, dass sie längst selbst eine Art Wirklichkeit geworden sind, hinter der die Rekonstruktion komplexerer Wirklichkeiten oft verblaßt.«9

Im 18. Jahrhundert hatten die Jubiläumsfeierlichkeiten aufgrund der konfessionellen Pluralisierung der verschiedenen Herrscherhäuser an gesamtgesellschaftlicher Bedeutung verloren. Innerkirchliche Streitigkeiten, etwa zwischen der bedeutenden Frömmigkeitsbewegung des Pietismus und der konfessionellen Orthodoxie, prägten nunmehr die Gedenktage an die Reformation, die einen zunehmend kirchlichen Charakter annahmen.10 Zur selben Zeit wurde Luther im Geist der Aufklärung zum vermeintlichen Vorkämpfer für Vernunft und Glaubensfreiheit stilisiert. Im 19. Jahrhundert standen die Lutherfeierlichkeiten in enger Verbindung zu nationalen Selbstfindungsprozessen – etwa die Verknüpfung der Reformationsmemoria mit nationalen Forderungen auf dem Wartburgfest 1817 – und der Deutung der Reformation als einem »deutschen

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schen Gedenkkultur in Sachsen 1617 – 1830, Leipzig 2005; Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen 2012. Vgl. Burkhardt, Reformationsjahrhundert, 9. Vgl. Kaufmann, Reformationsgedenken, 321. Burkhardt, Reformationsjahrhundert, 10. Vgl. Peter Lüning, Ungesicherte Identität des Luthertums. Ein kritischer Überblick über die geschichtlichen Reformationsjubiläen, in: Cath (M) 66 (2012), 146; Lehmann, Luthergedächtnis, 297 f.

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Urereignis«. Luther stieg zum Nationalhelden auf, der wie keine andere historische Persönlichkeit das »deutsche Volkstum« bzw. den deutschen Nationalcharakter verkörperte, und galt zugleich als eigentlicher Gründervater des Kaiserreichs. Seine Biographie und sein Familienleben wurden zum Paradigma bürgerlicher Kultur- und Lebenswelten erhoben, so dass auch die Jubiläumsfeierlichkeiten zu seinem 400. Geburtstag 1883 als »Selbstbespiegelung des evangelisch-deutschnationalen Bürgertums« zu verstehen sind.11 Im Kriegsjahr 1917 wurde das Jubiläum zur religiösen Legitimation des Krieges genutzt und angesichts des unabsehbaren Kriegsgeschehens für nationalprotestantische Propaganda mit Durchhalteparolen instrumentalisiert. Gottfried Maron sprach in diesem Zusammenhang von der »Materialschlacht an der Heimatfront«.12 Im Kontext der Feierlichkeiten von 1917 erschienen antisemitische Schriften, die bewusst zur Trennung des aus der Reformation hervorgegangenen »deutschen Christentums« von »jüdischen« Einflüssen aufriefen. Im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde das Geburtstagsjubiläum Luthers ebenfalls politisch vereinnahmt und im Sinne einer »heilsgeschichtlichen« Linie zwischen dem Reformator und dem Diktator missbraucht.13 Als weitere bemerkenswerte Stationen sind die Jubelfeiern 1946 in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie von 1967 in einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchsphase im Licht der ökumenischen Neuorientierung des II. Vatikanischen Konzils zu nennen. Der Antagonismus beider deutscher Staaten, die in die jeweiligen Machtblöcke integriert waren, lässt sich am Lutherjubiläum von 1983 aufzeigen, das in der DDR eine umfassende Diskussion um die Aneignung des Luthergedenkens im Rahmen des nationalen Erbes auslöste.14 Dies sind nur einige Schlaglichter, die die Verflochtenheit der Lutherjubiläen mit der politisch-gesellschaftlichen Situation der vergangenen Epochen aufzeigen und deren kontinuierliche Instrumentalisierung durch Politik, Wissenschaft und Kultur belegen. Die Stationen des Luthergedenkens zeigen zudem, dass die Jubiläumsfeierlichkeiten durch die Jahrhunderte hindurch in erster Linie der Identitätsfindung sowie der konfessionellen Profilierung in Abgrenzung sowohl zur römisch-katholischen Kirche als auch zu den anderen protestantischen Richtungen mittels polemischer Abgrenzung herhielten. Hartmut 11 Lehmann, Luthergedächtnis, 75. Dorothea Wendebourg beschreibt, mit welcher Intensität Jubiläen im 19. Jahrhundert gefeiert wurden und geradezu Hochkonjunktur hatten: »Denn das 19. Jahrhundert war in das Jubiläum verliebt.« Dorothea Wendebourg, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: ZThK 108 (2011), 270. 12 Gottfried Maron, zit. nach: Lehmann, Luthergedächtnis, 132. 13 Vgl. Björn Küllmer, Die Inszenierung der Protestantischen Volksgemeinschaft. Lutherbilder im Lutherjahr 1933, Berlin 2012; Hartmut Lehmann, Hans Preuß 1933 über ›Luther und Hitler‹, in: Ders., Luthergedächtnis, 151 ff. 14 Vgl. Lehmann, Luthergedächtnis, 213 ff.

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Lehmann, der sich besonders nachhaltig mit den Lutherjubiläen befasst hat, kommt zu dem Ergebnis: »Alle bisherigen Luther-Jubiläen waren im hohen Maß politisiert. Luthers Leben und Werk wurden benutzt, um politische und kirchenpolitische Anliegen zu artikulieren, seine 95 Thesen über Jahrhunderte hinweg ohne Bedenken instrumentalisiert.«15 Eine kritische Sicht auf die vergangenen Reformationsjubiläen, von denen es sich abzugrenzen gelte, empfiehlt auch Thomas Kaufmann, wobei auf jeden »Jubiläumstriumphalismus« zu verzichten sei.16

II.

Jubiläum 2017 – eine Chance für die Ökumene?

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) rief 2008 eine Lutherdekade aus, die zur Vorbereitung auf das große Jubiläum 2017 dienen und zugleich als Zielpunkt eines zeitgleich initiierten umfangreichen Reformprozesses der Kirche unter dem Motto »Kirche der Freiheit« gelten sollte.17 Die in der Benennung und der ausgefeilten Imagekampagne ausgedrückte Konzentration auf die Person Luthers18 ist besonders in der innerevangelischen Ökumene vielfach kritisiert worden. Sie werde – so der Einspruch – dem Gesamtereignis der Reformation nicht gerecht, das die vielfältigen reformatorischen Bewegungen umfasst, die von Wittenberg und Zürich ausgingen und über Genf nach ganz Europa bis in die Neue Welt ausstrahlten. Das Jubiläum 2017 findet zudem in einer durch eine multilaterale und plurale Ökumene geprägten Situation statt. Es werden nicht nur die beiden in Deutschland großen Kirchen daran beteiligt sein, sondern auch die orthodoxen Kirchen sowie der vielgestaltige freikirchliche Protestantismus. Unverzichtbar ist auch eine Wahrnehmung der europäischen sowie der – nicht zuletzt in Gestalt der vielen Migrantenkirchen – globalen Perspektive. Kritisch wurde im bisherigen Prozess auch die enge Verflechtung von staatlichen und kirchlichen Interessen bewertet, die vor allem an den Bedürfnissen und Hoffnungen der Tourismusbranche der besonders betroffenen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen orientiert ist. Nach der Halbzeit der Lutherdekade stellt sich gegenwärtig die Frage, welche Funktion dem Jubiläum von 2017 gesamtgesellschaftlich sowie inner- und zwischenkirchlich zugeschrieben werden soll. Dient es in erster Linie der eige15 AaO., 299. 16 Kaufmann, Reformationsgedenken, 321 f. 17 Vgl. Stefan Rhein, Die Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum 2017. Ein Werkstattbericht, in: BThZ 28/1 (2011), 44 ff. 18 Die Fokussierung auf die Person Luthers wurde gegen den Einspruch des Wissenschaftlichen Beirats der Lutherdekade durch das Kuratorium durchgesetzt. Vgl. dazu Walter Fleischmann-Bisten, Ökumenischer Lagebericht 2008, in: MdKI 59 (2008), X.

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nen konfessionellen Profilbildung oder kann es als Chance für ein ökumenisches Gedenken an die Reformation genutzt werden? Zu Beginn der Lutherdekade wurde in der Besetzung der zuständigen Jubiläumsgremien und -initiativen kaum an die Beteiligung von Mitwirkenden aus anderen Konfessionen oder anderen Ländern gedacht, die sich weder im Kuratorium, noch im Lenkungsausschuss finden ließen.19 Der katholische Theologe Thomas Söding wurde schließlich noch für den Wissenschaftlichen Beirat der Lutherdekade nachnominiert. Auf dem Ökumenischen Kirchentag in München 2010 und in zahlreichen Beiträgen, Tagungen sowie Diskussionen in den Medien stand die Frage nach einer angemessenen Gestaltung des Jubiläums, die der gewachsenen Zusammenarbeit der Kirchen und der ökumenischen Situation Rechnung trägt, auf der Tagesordnung. Im Folgenden werden zwei grundlegende Texte zum Reformationsjubiläum untersucht und auf ihr inhärentes Potenzial hin befragt, ob und wie diese für die multilaterale Ökumene, etwa die Kirchen aus der täuferischen und nonkonformistischen Tradition, zum Mitfeiern motivieren könnten. Zunächst soll die Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Beirats der Lutherdekade, der vom Kuratorium20 zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 beauftragt wurde, Perspektiven zum Reformationsjubiläum zu verfassen, herangezogen werden.21 Ein weiteres bedeutsames Dokument stellt die Kundgebung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November 2012 dar, in der theologische Leitlinien zum Reformationsjubiläum verabschiedet wurden.22

Die Perspektiven des Wissenschaftlichen Beirats der Lutherdekade Der Ratsvorsitzende der EKD und zugleich Kuratoriumsvorsitzende Nikolaus Schneider gibt als Intention der insgesamt »23 Perspektiven« des Wissenschaftlichen Beirats an, dass in ihnen eine wissenschaftliche Beschreibung der 19 Zur Genese der leitenden Gremien zur Vorbereitung des Jubiläums vgl. Rhein, Vorbereitungen, 50 ff. 20 Auffallend ist, dass das Kuratorium neben den leitenden Bischöfen der VELKD, UEK und anderen hohen kirchlichen Funktionären mit den Ministerpräsidenten Sachsens, SachsenAnhalts und Thüringens politisch sehr prominent besetzt ist. In den Beirat wurde nachträglich ein katholischer Theologe nachnominiert (Thomas Söding, s. o.). Aus den Kirchen der täuferischen Tradition wurde dagegen niemand zur Mitarbeit eingeladen. Vgl. Rhein, Vorbereitungen, 50 ff. 21 Vgl. http://www.luther2017.de/sites/default/files/downloads/perspektiven-lutherdekade.pdf. Das Dokument wurde im Jahre 2010 veröffentlicht. 22 Vgl. Kundgebung: Theologische Impulse auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 – »Am Anfang war das Wort …« http://www.ekd.de/synode2012/beschluesse/s12_04_iv_be schluss_kundgebung_reformationsjubilaeum2017.html.

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Reformation und ihrer bleibenden Wirkungen bis in die Gegenwart präzise zusammengefasst werde.23 Der Schwerpunkt, so Schneider, liege dabei auf der Wirkungsgeschichte der Reformation in den Themenfeldern Theologie und Kirche, aber besonders auch in den Bereichen Politik, Bildung und Kultur. Die dort formulierten Perspektiven sollen zugleich als Grundlage für das ökumenische Gespräch und die Gestaltung der vorbereitenden Dekadejahre bis zum Jubiläum dienen. Der Adressatenkreis ist eher in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu suchen als im binnenkirchlichen bzw. ökumenischen Bereich.24 Die Perspektiven gelten sogar als die »staatliche und kirchliche Grundlage«25 für das Reformationsjubiläum und die damit verbundenen Aktivitäten. Der erste Teil jener Perspektiven hebt besonders die europäische und weltweite Bedeutung der Reformation als einem »epochalen« Ereigniszusammenhang hervor.26 Zu Beginn werden die mit ihr einhergehende Pluralisierung der einen Kirche und deren Folgewirkungen in religiös motivierten Konflikten – aber auch in wegweisenden Friedensschlüssen – thematisiert, die schließlich ein friedliches Miteinander der europäischen Länder garantierten. Die Reformation wird in diesem Zusammenhang nicht näher definiert, außer mit dem reichlich opaken Begriff eines »Ereignisses«, das »im Kern religiöser Natur« gewesen sei. Weder werden die unterschiedlichen Ströme der Reformation (Wittenberg, Zürich, Straßburg, Genf) noch die prägenden Reformatoren konkret benannt. Lutherzentriertheit kann diesen Aussagen auf keinen Fall unterstellt werden, denn der Reformator, dem die ganze Dekade des Gedenkens namentlich gewidmet wurde und der als »Identifikations- und Aufmerksamkeitsmarke« wirken soll, wird gar nicht erwähnt, sondern nur in einer These mit einer Belegstelle zitiert. Es muss irritieren, dass keinerlei Versuch unternommen wird, den Begriff »Reformation« zu definieren. Fragen der Kontinuität zu den Reformbewegungen des Mittelalters sowie des Umbruchshaften jener Erneuerungsbewegung, die in ganz unterschiedlichen Regionen und Formen sowie getragen von unzähligen Akteuren unterschiedlichster Provenienz das »Kirchen-, Lehr- und Frömmigkeitsgefüge«27 des Mittelalters in Frage stellte, werden überraschenderweise gänzlich ausgespart. Trägerkreise, Rezipienten, Phasen der Durchsetzung der Reformation usw. fehlen ebenfalls. So erscheint die Reformation 23 Vgl. Perspektiven (Anm. 21), Einleitung. 24 Interessanterweise erscheinen die Perspektiven auch auf den Internetseiten des Bundesministeriums des Inneren. http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/ExterneLinks/DE/Themen/ Kirchen_und_Religionsgemeinschaften/luther2017.html?nn=303936 . 25 Rhein, Vorbereitungen, 51 26 Vgl. Perspektiven, These 1 – 5. 27 Berndt Hamm, Die Einheit der Reformation in ihrer Vielfalt, in: Ders. / Michael Welker (Hgg.), Die Reformation. Potentiale der Freiheit, Tübingen 2008, 42.

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schließlich als eine zeitlose Chiffre, die sämtliche Errungenschaften der Moderne präfiguriert bzw. antezipiert haben soll. Den Nachweis dafür soll der umfangreichste zweite Abschnitt der Perspektiven erbringen, der durch dezidiert theologische Aussagen (Perspektive 7 – 11) eröffnet wird. Darin begegnen vorrangig die gemeinreformatorischen Topoi der Rechtfertigungslehre und das ekklesiologische Prinzip des Priestertums aller Getauften. Eher ungewöhnlich hinsichtlich der traditionellen Charakterisierung der Reformation durch die evangelischen Exklusivpartikel ist die Hervorhebung der gesellschaftlichen Verantwortung als notwendige Konsequenz des Rechtfertigungsgeschehens. Allerdings gewinnen die Verfasser dadurch die Leitworte »Freiheit« und »Verantwortung«, die für die folgenden Perspektiven und den Text insgesamt prägend sind. Für Forschende der Reformationsgeschichte einigermaßen überraschend bleibt das in der theologischen Beschreibung der Reformation berühmte und nachhaltig wirksame Formalprinzip der alleinigen Schriftautorität (sola scriptura) völlig unerwähnt. Die Bedeutung der Bibel und der Predigt werden nur im Hinblick auf deren Übersetzung in die jeweiligen Volkssprachen sowie die sich daraus ergebenden kulturellen Leistungen vor allem in der Literatur angeführt. Analog dazu wird die Reformation in kühnen Motivlinien zur Vorbereiterin der Aufklärung, der Demokratie, der Sozialgesetzgebung und der Religionsfreiheit stilisiert.28 Der letzte Abschnitt beschreibt die Ziele der Reformationsjubiläumsfeiern. Nach These 20 sei es Ziel des Jubiläums 2017, das Augenmerk auf die aktuelle Relevanz der Reformation zu richten: »Solche Gegenwartsdeutung ist genuine Aufgabe eines historischen Jubiläums«. Betont wird zudem die bleibende kulturelle Bedeutsamkeit der Reformation für die westliche Welt. In These 21 begegnet erstmalig das Stichwort »Ökumene«, die allerdings nicht vorrangig als zwischenkirchliches Streben nach sichtbarer Einheit der Kirchen, sondern in enger funktionaler Anbindung an die gesellschaftliche Öffentlichkeit gedeutet wird. Die Fortentwicklung der modernen westlichen Kultur könne in diesem Sinne nur bei bleibender konfessioneller Differenz und zugleich in ökumenischer Gemeinsamkeit gelingen. In der Pluralität wachse jedoch der »Sinn für das Gemeinchristliche«. »In der globalen Gesamtperspektive der ›einen Christenheit‹ und über sie hinaus äußert sich das Verlangen, kulturell, aber auch religiös ein identifiziertes und identifizierbares Zuhause zu haben« (These 23). Die vom Beirat formulierten Perspektiven halten durch die Entpersonalisierung der Reformation und den Verzicht auf eine konzise historische Kontextualisierung einen weiten Interpretationsspielraum offen, in den sich letztlich alle Kirchen, die sich aus der Reformation entwickelten, einbezogen wissen könnten. Auf den ersten Blick erwecken die Perspektiven für das Jubiläum daher 28 Vgl. Perspektiven, These 6 – 19.

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den Eindruck, als ob die traditionelle Reformations-Zentriertheit auf Luther und Deutschland sowie die konfessionelle Polemik, die die Reformationsjubiläen in der Vergangenheit nachhaltig bestimmt hatte, endgültig überwunden seien. Von vornherein werden die europäische und die weltweite Dimension der Reformation betont, vor allem aber ihre kulturelle Prägekraft. Zentrales Thema seien ihre »Wirkungen«, nicht ihre historische Genese. Da jegliche konfessionelle Konkretion und die Differenzierung in einzelne Bewegungen innerhalb der Reformation als Gesamtzusammenhang unterbleiben, könnten sich die Kirchen der täuferischen Tradition demnach als durchaus integriert verstehen. Allerdings birgt der weite Deutungsraum der 23 Perspektiven auch die Gefahr, dass die Reformation insgesamt zur ahistorischen Chiffre verkommt. Die 16. Perspektive thematisiert die Wirkung der Reformation auf die Entstehung der neuzeitlichen Demokratien. Interessanterweise wird festgestellt, dass »die« Reformation ihr ekklesiologisches Grundprinzip des »Priestertums aller Getauften« nicht als Vorbild für die politische Ordnung verstanden habe, »abgesehen von einigen Gruppen an ihren Rändern«. Es ergibt sich daraus die Frage, wer mit diesen »Randgruppen« gemeint ist. Hier wird offensichtlich ein Bild von »eigentlicher« Reformation repristiniert, das diese von anderen »randständigen« Bewegungen unterscheidet. Steckt dahinter nicht doch wieder das traditionelle Bild der »Schwärmer«, des »Wildwuchses« oder der »Außenseiter« der Reformation? Die »Randgruppen«, die sich für Glaubens- und Gewissenfreiheit und im Zusammenhang mit diesem Freiheitsdiskurs auch für die Trennung von Kirche und Staat einschließlich demokratischer Gesellschaftsordnungen einsetzten, lassen sich ansatzweise im pluriformen Täufertum und vor allem in den Kirchen, die aus dem separatistischen Puritanismus bzw. Kongregationalismus Englands entstanden sind (u. a. Baptisten, Quäker) nachweisen.29 Zu ihnen gehören heute große Teile der Christenheit in den USA und – bezogen auf den Weltmaßstab – die Mehrheit der protestantischen Christen und Christinnen. Ihr Beitrag für die Entstehung der Religions- und Gewissensfreiheit als unveräußerlichem Menschenrecht ist in der kontinentaleuropäischen Forschung immer noch nicht hinreichend erforscht und gewürdigt worden.30 Es ist im Blick auf die multilaterale Ökumene daher bedauerlich, dass in den »Perspektiven« des Wissenschaftlichen Beirats der Lutherdekade die Anschauung einer »Hauptreformation« mit Randgruppen fortgeschrieben wird. Die mangelnde Differenzierung des Textes führt zudem dazu, dass der Reformation insgesamt eine positive Rolle bei der Entwicklung zur neuzeitlichen Demokratie 29 Vgl. Strübind, Kirche der Freien, 105 ff. 30 These 15 schreibt wiederum der Reformation als Ganzer eine Vorreiterrolle für die Forderung nach Trennung von Kirche und Staat sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu.

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zugeschrieben wird, was einer historischen Überprüfung nicht standhält, sondern lediglich eine weitere Runde der Instrumentalisierung des Reformationsjubiläums darstellt. Es bleibt daher die Frage offen, ob sich die Kirchen der täuferischen Tradition diese Perspektiven unkritisch zu eigen machen können. Die intendierte Überwindung eines konfessionellen »Identitätsfestes« birgt die Gefahr, das Proprium der reformatorischen Bewegung und ihre Binnendifferenzierung bis zur Unkenntlichkeit durch das wenig aussagekräftige Label »kulturelle Prägekraft« für die gesamte westliche Welt zu übermalen.

Die Kundgebung der EKD-Synode November 2012 In ihrer Kundgebung hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November 2012 theologische Leitlinien zum Reformationsjubiläum verabschiedet.31 Darin wird der Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517 als Beginn einer »gewaltigen Befreiungsbewegung« bezeichnet. Unkritisch wird hier die Legendenbildung fortgesetzt, dass Luther bereits mit diesem akademischen Disput ein neues Verständnis des Menschen und seiner Freiheitsrechte entworfen hätte. Die kirchenhistorische Forschung hat hinlänglich belegt, dass die 95 Thesen eine spirituelle Vertiefung des Bußverständnisses intendierten und keineswegs bereits ein reformatorisches Programm enthielten.32 Die Kundgebung der EKD-Synode ist im Grunde eine Meditation über die Geschichte des wunderbaren Fischfangs des Petrus aus Lk 5,5 – 6, die, mit Szenen vorwiegend aus der lutherischen Memorialkultur verbunden, existentiell ausgelegt und verortet wird. Luthers theologische Erkenntnisse werden darin als textliche Versatzstücke ohne Kontextualisierung und damit gleichsam als bloße Garnierung benutzt. Die Thesen werden zudem durch Zitate aus weiteren reformatorischen Quellen eingeleitet, die neben Luther auch von Zwingli und Calvin sowie aus dem Heidelberger Katechismus stammen. Damit soll die berechtigte Gefahr einer Fixierung auf Luther und die Wittenberger Reformation von vornherein ausgeschlossen werden. Auf der Synode gab es offensichtlich heftige Kritik an der Kundgebung, der mangelnde Konkretion und ein wenig markantes gesellschaftspolitisches Profil vorgeworfen wurde.33 Die Aussagen zur Haltung der Reformatoren hinsichtlich 31 Vgl. Kundgebung: Theologische Impulse auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 – »Am Anfang war das Wort…« http://www.ekd.de/synode2012/beschluesse/s12_04_iv_be schluss_kundgebung_reformationsjubilaeum2017.html. 32 Vgl. Volker Leppin, Die Monumentalisierung Luthers. Warum vom Thesenanschlag erzählt wurde – und was davon zu erzählen ist, in: Joachim Ott / Martin Treu (Hgg.), Luthers Thesenanschlag. Faktum oder Fiktion, Leipzig 2008, 69 ff. 33 Vgl. Bernd Bucher, Den Reformationsgeist in die Gemeinden tragen, in: evangelisch.de am 8.

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einer erforderlichen politischen Verantwortung sind tatsächlich an Banalität kaum zu überbieten. Jene hätten sich »leidenschaftlich politisch engagiert zum Wohl der Menschen«. Aussagen wie diese sind in einer solchen Zuspitzung zu einfach – und daher einfach falsch. Das komplizierte Verhältnis der Reformation zur Obrigkeit, sei es zum Landesherrn im fürstlich regierten Kursachsen oder zum Magistrat der selbstbewussten Bürgerrepublik Zürich bis hin zum Dauerkonflikt mit den städtischen Eliten in Genf, lässt sich nicht auf einen derart harmlosen Nenner bringen. Ganz zu schweigen vom Leben in der Illegalität angesichts verfolgender Obrigkeiten bei den Täufern. Die Reformkräfte waren nicht politisch engagiert, sondern kämpften um die von ihnen erkannte und verkündigte Wahrheit in Abgrenzung, in Anpassung und auch in enger Kooperation mit den jeweiligen Machthabern. Auffallend ist zudem, dass in der Kundgebung politische Konkretionen für die Gegenwart unterbleiben. Die anderen Konfessionen kommen dabei erstmalig in der These zum Verständnis der Rechtfertigung zur Sprache. Sie werden darin aufgefordert, »am Thema des Versöhnungshandelns Gottes im Kreuzestod Jesu gemeinsam weiterzuarbeiten« und »um seine Aktualisierung zu ringen«. Für mich als Theologin aus der täuferischen Tradition erscheint es als bemerkenswert, dass die einzigen selbstkritischen Passagen der Kundgebung im Verhältnis von Reformation und Toleranz (Jahresthema 2013) zu finden sind. Bedauernd wird auf Luthers antisemitische Ausfälle und seine Perhorreszierung der aufständischen Bauern verwiesen. Aber auch die Verfolgung Andersdenkender und die Hinrichtung Michael Servets finden als Ausweis reformatorischer Intoleranz Erwähnung. »Der Reformation war die Toleranz in die Wiege gelegt – allzu oft blieb sie dort liegen. Es waren dann vor allem die Freikirchen, und unter ihnen besonders die Friedenskirchen, die den Gedanken von Toleranz und Gewissensfreiheit in der Welt ausbreiteten.« Damit wird zum ersten Mal anerkannt, dass die Hauptreformatoren wenig Sinn für die Glaubens- und Gewissensfreiheit Andersdenkender aufbrachten. Leider wird in diesem Zusammenhang nicht darauf verwiesen, dass die »Freikirchen« und die »Friedenskirchen« zum weltweiten Protestantismus gehören und dessen Profil durchaus bereichern. Wiederum erscheinen sie als zwar positive, aber nicht unmittelbar verwandte Gestaltwerdungen der Kirche. Der gemeinsame Wurzelgrund der Reformation gerät dabei bedauerlicherweise nicht ins Blickfeld. Würde nicht ein erweitertes, inklusives Bild der Reformation, das die täuferischen und nonkonformistischen Traditionen und die sich aus ihnen entwickelnden Freikirchen einschließt, einen großen, überfälligen und zudem wahren Schritt hin auf die multilaterale Ökumene bedeuten? 11. 2012, http://aktuell.evangelisch.de/artikel/41293/den-reformationsgeist-die-gemeindentragen.

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Im selben Zusammenhang bekennt sich die Kundgebung zu einem vertieften Dialog der Konfessionen und Religionen. Die globale Dimension der Reformation wird schließlich am Ende der Kundgebung beschworen: »Die Reformation ist Weltbürgerin geworden. Sie gehört allen. In 500 Jahren hat sie sich über die Welt ausgebreitet und ist in ungezählten Ländern und Kulturen heimisch geworden.«

Freilich bleibt zu fragen, ob dieses Kompliment nicht in erster Linie dem Jubiläumstourismus geschuldet ist, den es anzuregen gilt, oder sich wirklich einer theologischen Erkenntnis verdankt. Die Pluralität der Reformation ist bereits ein Phänomen des 16. Jahrhunderts! Daher liegt m. E. in einer inklusiven Ausweitung des Reformationsverständnisses, das die vielfältigen Bewegungen des Täufertums und des Nonkonformismus einschließt, ein wichtiger Ansatzpunkt für die Akzeptanz der Jubiläumsfeierlichkeiten in der multilateralen Ökumene. Mutige oder wegweisende Sätze zur Zukunft der Ökumene sucht man freilich in der Thesenreihe der EKD-Synode leider ebenso vergeblich wie in den 23 Perspektiven des Wissenschaftlichen Beirats. So kommen die Synodalen nicht über unverbindliche Einheitspostulate hinaus: »Die Synode ermutigt die Kirchen, im innerevangelischen und ökumenischen Gespräch die gewachsenen Gemeinsamkeiten ebenso herauszustellen wie die bleibenden Verletzungen einzugestehen. Uns eint mehr, als uns trennt.«

III.

Was hindert die Kirchen aus täuferischen und nonkonformistischen Traditionen am gemeinsamen Feiern 2017?

Im Unterschied zu den Mennoniten, zu deren Selbstverständnis die geschichtliche Rückbindung an die Reformation gehört, kennzeichnet die Freikirchen aus der nonkonformistischen Tradition, die im 19. Jahrhundert in Deutschland entstanden, eher eine Geschichtslosigkeit bzw. Geschichtsvergessenheit. Die Baptistengemeinden etwa konstituierten sich bewusst in Abgrenzung zu den etablierten Kirchen. Leitmotiv war dabei die Imitation des urchristlichen Vorbilds und ein Anknüpfen an die Zeit des Neuen Testaments ohne Rückgriff auf andere christliche Traditionen.34 Dieses urchristliche Ideal war in der Wahrnehmung der baptistischen Gründergeneration durch die Jahrhunderte nicht bewahrt, sondern vielmehr von den Kirchen verraten worden. Diesem

34 Vgl. Andrea Strübind, Tradition aus baptistischer Sicht, in: Bernd Oberdorfer / Uwe Swarat (Hgg.), Tradition in den Kirchen. Bindung, Kritik, Erneuerung, Beiheft 89 zur Ökumenischen Rundschau, Frankfurt am Main 2010, 153 ff.

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Selbstverständnis folgend bildeten die Freikirchen Kontrastkirchen zu den Traditionskirchen. Baptisten und andere kongregationalistische Freikirchen orientieren sich zudem nicht in erster Linie an der geschichtlich gewordenen Gestalt der Kirche, sondern suchen immer wieder neu nach der kontextuellen Verwirklichung der Kirche (Kirche im Prozess).35 In Geschichtsdarstellungen des deutschen Baptismus sucht man daher vergebens nach einer positiven Rückbindung an die Reformation bzw. das reformatorische Täufertum.36 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete das 400. Jubiläum des weltweiten Baptismus, das 2009 gefeiert wurde.37 Die von der Europäischen Baptistischen Föderation unterstützte Monographie über die Entstehungsgeschichte des Baptismus setzt überraschenderweise mit der Geschichte des Schweizer Täufertums ein.38 Der Verein für Freikirchenforschung hat sich auf zwei Tagungen im Jahr 2010 mit der Rezeption der Reformation in den Freikirchen befasst.39 Walter Fleischmann-Bisten, Leiter des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim und Generalsekretär des Evangelischen Bundes, resümiert in seinem quellengestützten Beitrag zur Aneignung der Reformation am Beispiel der Evangelischmethodistischen Kirche und der Freien evangelischen Gemeinden: »Viele aus den einzelnen Richtungen der reformatorischen Kirchen entstandenen ›Freikirchen‹ haben jedenfalls in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchgängig bewusst und kritisch ihre lutherischen, reformierten oder täuferischen Wurzeln betont. Sie sehen sich als Kinder einer weithin unvollendeten Reformation.«40

In einem weiteren Artikel geht Matthias Lohmann der Frage nach, inwieweit sich in den ersten Glaubensbekenntnissen der Baptistengemeinden und der Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland Spuren reformierter Theologie und Lehre nachweisen lassen.41 Angesichts der Biographien der Gründergestalten und der engen Verflechtung mit der Mission der anglo-amerikanischen und 35 Vgl. Strübind, Kirche der Freien, 103. 36 Vgl. Günter Balders (Hg.), Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. 150 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland 1834 – 1984, Wuppertal und Kassel 31989; Joseph Lehmann, Geschichte der deutschen Baptisten, Kassel 31923. 37 Das Programm der Feierlichkeiten in Amsterdam weist klare Bezugnahmen auf das reformatorische Täufertum auf bis hin zur Verwendung einer Abendmahlsliturgie von Balthasar Hubmaier. 38 Vgl. Ian M. Randall, Communities of Conviction. Baptist Beginnings in Europe, Schwarzenfeld 2009. 39 Vgl. Freikirchenforschung 20 (2011). 40 Walter Fleischmann-Bisten, Kinder einer unvollendeten Reformation. Freikirchliche Rezeption von Reformations- und Lutherjubiläen, in: Freikirchenforschung 20 (2011), 28 f. [Im vorliegenden Band S. 189] 41 Vgl. Matthias Lohmann, Die reformierten Wurzeln von Baptisten und FeG in Deutschland, in: Freikirchenforschung 20 (2011), 173 ff.

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englischen Schwesterkirchen verwundert es nicht, dass er dabei fündig wird. Leider besagen diese theologischen Analogien jedoch nichts über das Selbstverständnis der jungen Freikirchen. Eine bewusste Anknüpfung an die Reformation erscheint aufgrund der problematischen Entstehungsgeschichte, die die Freikirchen in langwierige Konflikte mit dem Staat und der Staatskirche führten, eher unwahrscheinlich. Im Blick auf die Pfingstbewegung spricht Jean-Daniel Plüss im selben Band von einer »Perzeption« reformatorischer Positionen, die er als eher unbewusste »Wahrnehmung ähnlicher Ideen« kennzeichnet im Unterschied zur Rezeption oder gar einer dezidiert historischen Anknüpfung.42 Bisher gibt es immer noch keine Erklärung der in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) zusammengeschlossenen Kirchen zum Reformationsjubiläum 2017.43 Auch der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) und der Bund Freier evangelischer Gemeinden (BFeG) haben bisher keine offizielle Stellungnahme zu den Jubiläumsfeiern abgegeben. Im November 2011 kam es zu einem Kontaktgespräch der VEF mit der Leiterin der Projektgruppe »Reformationsjubiläum 2017« Sigrid Bias-Engels beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und dem Beauftragten der VEF Peter Jörgensen.44 Im Rahmen dieses Gesprächs wurde über die Beteiligung der VEF-Kirchen am Reformationsjubiläum beraten, wobei eine Einigung über die Modalitäten in Abstimmung zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der VEF angeraten wurde. Kurz darauf nahm der Vorstand der VEF direkten Briefkontakt mit dem EKD-Ratsvorsitzenden und gleichzeitig Kuratoriumsvorsitzenden der Lutherdekade Nikolaus Schneider auf.45 Darin verweisen die Verfasser zunächst auf den beeindruckenden Versöhnungsprozess zwischen Lutherischem Weltbund und Mennonitischer Weltkonferenz, dem allerdings die Ausgestaltung des Projektes der Stiftung Luthergedenkstätten zu den »Stätten der Reformation« (Europäisches Kulturerbe-Siegel) vor allem im Blick auf den Gedenkort Münster (Käfige an der Lambertikirche) eklatant widerspreche. Weiterhin wird in diesem Schreiben die Haltung der VEF zum Reformationsjubiläum prononciert zusammengefasst: 42 Vgl. Jean-Daniel Plüss, Die Rezeption der oberdeutsch-schweizerischen Reformation in der Pfingstbewegung. Verwegener Versuch einer Deutung, in: Freikirchenforschung 20 (2011), (203 – 216) 203. 43 Das ergab eine Recherche im Internet und ein Gespräch mit Peter Jörgensen, Beauftragter der VEF am Sitz der Bundesregierung. Der weiteren Forschung bleibt vorbehalten zu untersuchen, inwieweit es eine gewisse Zäsur in der Rezeption des reformatorischen Erbes gab, als die ersten Veröffentlichungen zum normativen Täufertum in den 1960er Jahren im Oncken-Verlag des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) publiziert wurden. Ebenfalls noch nicht aufgearbeitet ist die Haltung des BEFG zum Lutherjahr 1983 in Ost und West. 44 Vgl. Brief der VEF an den EKD-Ratsvorsitzenden Dezember 2011 (Archiv der VEF). 45 Ebd.

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»Auch die Methodisten und Baptisten, Brüdergemeinden und Freien evangelischen Gemeinden, auch die anderen in Deutschland kleinen evangelischen Freikirchen wissen sich als Erben des Protestantismus, als Kinder der Reformation. Sehr gerne würden wir darum dieses Reformations-Jubiläum mitfeiern! Das kirchenhistorisch und geistesgeschichtlich komplexe Geschehen der Reformation ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte, ist deutsche Geschichte. Die Bundesregierung haben wir so verstanden, dass sie genau diese Komplexität, mitsamt der Phänomene, die weniger zum Jubeln und eher zur kritischen Reflexion einladen, bedacht wissen will. Darum wenden wir uns nun an Sie, mit der herzlichen Bitte, in den Planungen, sowohl in der wissenschaftlichen Bearbeitung als auch im Lenkungsausschuss, den Projekten und Feierlichkeiten, die evangelischen Freikirchen mit einzubeziehen. Sehr gerne wollen wir gemeinsam mit Ihnen nach außen deutlich machen, was für ein großes Geschenk die Reformation war und ist, wie vielgestaltig sie stattgefunden hat und in welcher Vielfalt sich auch heute noch der Protestantismus in Deutschland darstellt. Bei der Würdigung, was alles Gutes durch die Reformation geworden ist, wollen wir sehr gerne positiv mitwirken. Denn Deutschland erfreut sich ja sowohl evangelischer Landes- wie auch Freikirchen.«46

Wenige Wochen später, am 19. Januar 2012 fand ein turnusgemäßes Gespräch zwischen Vertretern und Vertreterinnen der EKD und der VEF im Kirchenamt der EKD statt.47 Hinsichtlich des Reformationsjubiläums wurde vom Vizepräsidenten des Kirchenamtes Thies Gundlach vor allem die ökumenische Ausrichtung hervorgehoben. In der intensiven Diskussion um die Beteiligung der Freikirchen, die von VEF-Seite gerade hinsichtlich unterschiedlicher Perspektiven auf die Reformationsgeschichte und -deutung massiv angemahnt wurde, kam es zu keinen klaren Entscheidungen. Die Freikirchen sollten jedoch auf verschiedenen Ebenen eingebunden werden, vor allem im Blick auf das Themenjahr 2013 »Reformation und Toleranz«. Offensichtlich sollten konkrete Zusagen über die freikirchliche Partizipation an den Vorbereitungsgremien vermieden werden. Immerhin wurde eine weitere Beratung zu dieser Fragestellung in Aussicht gestellt. Auf der Mitgliederversammlung der VEF im November 2012 stand das Reformationsjubiläum auf der Tagesordnung.48 Die Delegierten wurden darüber informiert, dass die Mitgliedskirchen der VEF sich an den Großereignissen des Jubiläumsjahrs 2017, die detailliert vorgestellt wurden, intensiv beteiligen wollten und sollten. Die Sichtbarkeit der Freikirchen bei den verschiedenen Anlässen zum Reformationsjubiläum sei im Vorfeld durch gute Vor- und Kontaktarbeit zu fördern. Verschiedene Wege, freikirchliche Beauftragte in die diversen Vorbereitungsgremien zu integrieren, wurden beraten. Als weiteres 46 Ebd. 47 Vgl. Protokoll Kontaktgespräch EKD-VEF vom 19. Januar 2012 (Archiv der VEF). 48 Vgl. Protokoll der Mitgliederversammlung der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) vom 27. bis 28. November 2012 in Karlsruhe, 4 f.

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wichtiges Anliegen ergab sich, dass das Thema des Reformationsjubiläums in den Freikirchen vor allem auf der Gemeindeebene kommuniziert und bewusst gemacht werden sollte. Nur wenig eigene Initiativen der VEF wurden verabredet, wie etwa ein Symposium im Jahr 2016 möglicherweise in Zusammenarbeit mit dem Verein für Freikirchenforschung und ein ZDF-Gottesdienst. Die geringe Relevanz, die diesem Themenfeld zugemessen wird, zeigt sich auch daran, dass keine eigene Arbeitsgruppe der VEF eingesetzt wurde. Aus der im Protokoll wiedergegebenen Diskussion lässt sich erkennen, dass bei den freikirchlichen Delegierten nur wenig Hoffnung bestand, dass die Freikirchen bei den Jubiläumsfeierlichkeiten öffentlich wahrgenommen werden würden. Die Kontaktgespräche mit der EKD wirkten hier wohl wenig motivierend. Der Beauftragte der VEF am Sitz der Bundesregierung wies in seinem Votum auf die Pluralität des Reformationsgeschehens hin, zu dem nicht nur der Hauptreformator Luther gehöre, denn auch die Freikirchen seien »Kinder der Reformation«. Nachdenkenswert ist der Beitrag eines Delegierten der Herrnhuter Brüdergemeine, für den das Jubiläum in erster Linie als stilles Gedenken an die Märtyrer zu begehen sei. Im Protokoll der Mitgliederversammlung wird schließlich festgehalten: »1. Die Freikirchen sollen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. 2. Die Mitglieder aus den Freikirchen sollen wahrnehmen, dass ihre Kirchen reformatorisch sind. 3. Die Kirchen sollen die erneuernde Kraft der Reformation erfahren.«49

IV.

Ein Fazit

Bereits in seinem Ökumenischen Lagebericht aus dem Jahr 2008 mahnte Walter Fleischmann-Bisten eine ökumenische Gestaltung des Reformationsjubiläums unter Einbeziehung des »linken Flügels« der Reformation an.50 »Es besteht eine gute Chance, dieses Datum einmal nicht konfessionalistisch, kirchenpolitisch, nationalistisch oder ideologisch überfrachtet zu begehen.«51 Dazu müsste es m. E. im Prozess der Lutherdekade zur Erarbeitung eines inklusiven Verständnisses der Reformation als Pluralisierung von Religion kommen, das die vielfältigen Bewegungen, Sozialisierungen und schließlich denominationellen Institutionalisierungen umfasst. Der besondere Beitrag der täuferischen und nonkonformistischen »Kirchen der Reformation« sollte in diesem Zusammenhang dargestellt und gewürdigt werden. Es gilt dabei, der Märtyrer des »linken Flügels« der Reformation in angemessener Weise zu gedenken. Die Konflikt49 AaO., 5. 50 Vgl. Walter Fleischmann-Bisten, Ökumenischer Lagebericht, in: MdKI 59 (2008), X. 51 Ebd., IX.

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und Verletzungsgeschichte zwischen Landes- und Freikirchen könnte im gegenseitigen Dialog analog zum gelungenen Versöhnungsprozess zwischen Lutheranern und Mennoniten thematisiert und aufgearbeitet werden. Notwendige Voraussetzung dafür ist eine angemessene Beteiligung freikirchlicher Delegierter in den leitenden Vorbereitungsgremien und eine Konzeption der Jubiläumsfeierlichkeiten in sichtbarer Anerkennung der multilateralen Ökumene. Den Freikirchen ist dabei aufgegeben, sich über ihr Selbstverständnis als »Kirchen der Reformation« zu verständigen und der »Geschichtsblindheit« in den eigenen Gemeinden entgegenzuwirken. Diese Reflexion der eigenen Wurzeln in der Reformation könnte ein wichtiger Impuls für weitere mutige Schritte in der ökumenischen Annäherung bedeuten.52 Mit ganzer Kreativität und mit Energie sollte das Thema Reformation als ökumenische Chance begriffen werden. Am Schluss soll eine Story über erstaunliche Resultate gelungener Erinnerungskultur der Reformation stehen, die noch dazu Baptisten und Lutheraner aufs Engste verbindet. 1934 bereiste der Baptistenpastor aus Atlanta, Michael King, anlässlich des 5. Weltkongresses der Baptist World Alliance in Berlin, der mit dem 100-jährigen Jubiläum des deutschen Baptismus verbunden war, mit einer Gruppe von 10 weiteren Pastoren aus dem Süden der USA die Stätten der lutherischen Reformation in Sachsen-Anhalt und Thüringen.53 Auf dieser Reise entdeckte er die Bedeutung des Reformators und änderte nach seiner Rückkehr seinen eigenen Namen und den seines erstgeborenen Sohnes Michael zu dessen Ehren in »Martin Luther«. Der Baptist Martin Luther King Jr. ging mit dem Namen des deutschen Reformators als Bürgerrechtler, Friedensnobelpreisträger und Theologe des gewaltlosen Widerstands in das kulturelle Gedächtnis der Weltgeschichte ein.

52 Der Dialogprozess, der zum Konvergenzdokument »Voneinander lernen – miteinander glauben« der Bayerischen Lutherisch-Baptistischen Arbeitsgruppe (BALUBAG) führte, wurde von der Entdeckung der gemeinsamen Anerkennung der reformatorischen Rechtfertigungslehre inspiriert. Ausgehend von dieser fundamentalen Übereinstimmung konnten innovative Schritte in Richtung einer gemeinsamen Taufanerkennung gegangen werden. 53 Vgl. Clayborne Carson, The Papers of Martin Luther King, Jr. Volume I: Called to Serve, January 1929-June 1951, (A Centennial Book), Berkeley / Los Angeles 1992, 30.

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Rechtfertigung und Heiligung bei Luther und Wesley. Eine Verstehensbemühung mit biblisch-theologischem Ausblick1

In der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche hat die lutherische Seite nach meinem Verständnis zentrale Positionen Luthers zum Teil erheblich relativiert,2 so dass es für Methodisten ziemlich leicht war, dem gefundenen Konsens mit der katholischen Kirche zuzustimmen. Das Anliegen dieses Vortrags besteht deshalb darin, das Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung sowie ihres Verhältnisses zu einander bei Martin Luther und John Wesley in seiner Gegensätzlichkeit herauszuarbeiten, um schließlich mit Hilfe biblisch-theologischer Erwägungen zu einer gewissen Klärung der Problematik zu gelangen.

1.

Grundzüge des Verhältnisses von Rechtfertigung und Heiligung bei Luther und Wesley

Rechtfertigung und Heiligung sind für Martin Luther nicht zwei verschiedene Vorgänge – wie die Rede von Rechtfertigung einerseits und Heiligung andererseits vermuten lässt, sondern ein einheitliches Handeln Gottes am Menschen. Rechtfertigung ist identisch mit Heiligung, Gerechtsprechung mit Gerechtmachung. Zwar gibt es hier zwei unterschiedliche Aspekte: den forensischen, nach dem Gott den Menschen vor dem Forum des Gerichts frei spricht von der Schuld seiner Sünde und in die (ewige) Gemeinschaft mit sich aufnimmt – und den effektiven, nach dem der Mensch mit seinem Leben nun auch diesem Freispruch entspricht.3 Das forensische Urteil hat effektive Kraft,4 weil es nicht eine bloße 1 Der Vortragsstil ist in der Druckfassung beibehalten worden. 2 Z.B. durch den Verzicht auf die Festschreibung des sola fide als gemeinsame Überzeugung und auf die Qualifizierung der Wirksamkeit der Gnade solo verbo. 3 Vgl. E. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 62011, 170.

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Feststellung Gottes ist, sondern als sein schöpferisches, Leben veränderndes Wort ergeht.5 Aber das sind für Luther nur zwei Seiten ein und derselben Medaille, da es in beiden Aspekten um ein und denselben Vorgang geht: Wen Gott gerechtgesprochen hat, der gilt nicht nur als gerecht, sondern er ist es auch. Als Gerechtfertigter ist der Mensch zugleich ein Gerechter. Allerdings ist diese Gerechtigkeit (bzw. Heiligkeit) nach Luther nicht etwas, was dem Menschen als solchem zu eigen wäre. Aus und in sich selbst ist und bleibt er ein Sünder : einer, der im Widerspruch gegen Gott lebt. Er wird allein dadurch zum Gerechten, dass Gott ihm die Gerechtigkeit Christi zuspricht. Die iustitia aliena Christi, des Gottessohnes und Erlösers, wird so zur Gerechtigkeit des Menschen, die er nur immer wieder neu im Zuspruch des Evangeliums in Anspruch nehmen und ihr entsprechend leben kann. Träger seiner Gerechtigkeit, und das heißt: seiner Heiligung, ist also nicht der Mensch selbst, sondern Christus.6 Gerecht ist der Mensch nicht in sich selbst, sondern nur außerhalb seiner selbst (extra se): in Christus. Gerechtigkeit und Heiligkeit sind demnach keine vorfindlichen Qualitäten im Menschen an sich, sondern real nur im Glauben: in der gelebten Beziehung zu und in der Verbindung mit Jesus Christus.7 »Glaubst du, so hast du; glaubst du nicht, so hast du nicht.«8 Es kommt nach Luther also alles auf die lebendige Verbindung mit dem lebendigen Christus an. Aus dieser Gemeinschaft des Glaubens heraus beziehungsweise in ihr wird das Leben des Menschen neu und erwächst die Kraft zu einer Existenz in der Christusentsprechung.9 Man kann sich diese Christusverbundenheit des Glaubenden nicht eng genug vorstellen. Durch Glauben wirst »du so mit Christus zusammengeschweißt …, daß aus dir und ihm gleichsam eine Person wird, die man von ihm nicht losreißen kann, sondern beständig ihm anhangt und spricht: Ich bin Christus; und Christus wiederum spricht: Ich bin jener Sünder, der an mir hängt und an dem ich hänge«.10 Und so ist es »unmöglich, daß der Glaube sei ohne unablässige viele und große Werke«,11 sondern

4 Vgl. W. Joest, Dogmatik. Band 2: Der Weg Gottes mit dem Menschen, Göttingen 1986, 442; 5., von Johannes von Lüpke völlig neu überarbeitete Aufl. 2012, 110. 5 Vgl. Jüngel, Evangelium, (Anm. 3), 180. 6 Vgl. Joest, Dogmatik, (Anm. 4), 440, 5. Aufl. 103. 7 Vgl. Jüngel, Evangelium, (Anm. 3), 205. 8 M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), WA 7, 24,13 f. 9 Vgl. S. Kettling, Die Rechtfertigung des Gottlosen, in: K. Heimbucher (Hg.), Luther und der Pietismus, Gießen 1983, (78 – 100) 96. 10 Luthers Galaterbrief-Auslegung von 1531, hg. v. H. Kleinknecht, Göttingen 1980, 111 (Hervorhebung RG). 11 M. Luther, Thesen, disputiert 1520, ob die Werke zur Gnade beitragen, zitiert nach E. Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, Berlin 1951, 120.

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»es ist ein lebendig, schäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, daß es unmöglich ist, daß er nicht ohn Unterlaß sollt Guts wirken«.12 Allerdings bleibt der Mensch auch in dieser Christusverbundenheit ein Sünder (Christus spricht ja: »Ich bin jener Sünder, der an mir hängt«). Die Verwandlung, die aus der Christusverbundenheit resultiert, ist keine Aufhebung der sündigen menschlichen Natur als solcher. Das menschliche Wesen ist nach Luther zeitlebens ganz mit der Sünde durchwoben.13 Die Neuwerdung durch Christus ist eine relationale, keine substantielle.14 »Ein Sünder bin ich in mir selbst außer Christo, kein Sünder bin ich in Christo außer mir selbst.«15 Diese Dialektik, die Luther auf die Formel simul iustus et peccator gebracht hat, umschreibt nicht zwei Partialaspekte des Menschseins, sondern zwei Totalaspekte:16 Ganz und gar Sünder bin ich im Blick auf mich selbst – ganz und gar gerecht im Blick auf Christus und in der Verbundenheit mit ihm.17 Heiligung ist demzufolge keine Erneuerung des Menschen an sich, sondern die Dynamik der gelebten Christusbeziehung. Darin kann und soll es freilich Fortschritte geben. Gott will, »daß wir von Tag zu Tag tiefer in Christus hineingerissen werden, nicht auf dem Empfangenen stehenbleiben, sondern ganz in Christus verwandelt werden«.18 Dabei spielt der Heilige Geist die entscheidende Rolle. Christus hat uns darum »Erlösung von Sünden und Tod erworben, daß uns der Heilige Geist soll zu neuen Menschen machen aus dem alten Adam, daß wir den Tod der Sünden und das Leben der Gerechtigkeit hier auf Erden anfangen und zunehmen … Denn Christus hat uns nicht allein gratiam, die Gnade, sondern auch donum, die Gabe des Heiligen Geistes verdienet, daß wir nicht allein Vergebung der Sünden, sondern auch Aufhören von den Sünden hätten.«19 Das aber wird in

12 M. Luther, Vorrede auf die Epistel Sankt Pauli zu den Römern (1522), in: Ausgewählte Werke, Bd. 6, hg. v. H. H. Borcherdt u. G. Merz, München 31958, 90. 13 Vgl. H. Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens. Das Jahrzehnt zwischen dem Wormser und dem Augsburger Reichstag, hg. v. K. Bornkamm, Göttingen 1979, 22. 14 Die im folgenden noch mehrfach in der Gegenüberstellung zum Relationalen herangezogene Begrifflichkeit des Substantiellen (bzw. der Substanz) bezeichnet, in Anlehnung an die Tendenz der klassischen Metaphysik und den allgemeinen gegenwärtigen Sprachgebrauch, etwas Dingliches (vgl. unten S. 97ff; vgl. dazu B. Weissmahr, Ontologie, Stuttgart 1985, 161; W. Brugger, Substanz, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 5, hg. v. H. Krings u. a., München 1974, [1449 – 1457] 1452; zum theologischen Gebrauch der so verstandenen Begrifflichkeit vgl. z. B. W. Härle, Dogmatik, Berlin 1995, 512). 15 M. Luther, Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533), WA 38, 205,28 f. 16 Vgl. Jüngel, Evangelium, (Anm. 3), 187. 17 Vgl. M. Luther, Die dritte Disputation gegen die Antinomer (1538), WA 39/I, 563,14 – 564,4. 18 Lat.: »… in Christum plane transformari« (M. Luther, Rationis Latomianae confutatio [1521], WA 8, 111,33ff; vgl. Bornkamm, Luther, [Anm. 13], 22). 19 M. Luther, Daß der freie Wille nichts sei, in: Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe Bd. 1, hg. v. H. H. Borcherdt u. G. Merz, München 31962, 86 f.

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diesem Leben nie vollkommen gelingen, da der Mensch seiner Natur nach auch als Gerechter ein Sünder ist und bleibt.20 Genau an diesem Punkt setzt Wesley mit seiner Kritik an Luther an. Zwar ist er mit dem Reformator einig, dass die Aufnahme des Menschen in die Gemeinschaft mit Gott auf dem Freispruch Gottes beruht, der ohne Einschränkung gilt und im Glauben angeeignet wird.21 Aber nach Wesley geht das gnädige Handeln Gottes nicht in diesem Akt vorbehaltloser Annahme auf. Die so erfolgte Rechtfertigung zielt vielmehr auf die Erneuerung und Verwandlung des Menschen an sich. Rechtfertigung ist – so hat er prägnant formuliert – Gottes Tat »für uns«, Heiligung dagegen sein Wirken »in uns«.22 Rechtfertigung und Heiligung sind nicht ein und dasselbe, sondern zwei verschiedene Wirkungen der Gnade Gottes.23 Mit Luther kann Wesley sagen: Rechtfertigung ist die »Änderung einer Beziehung«. Über Luther hinaus – und an diesem Punkt gegen ihn – betont er aber die göttliche »Umgestaltung« des menschlichen »Wesens« als unaufgebbare Realität des Heilshandelns Gottes.24 Diese Umgestaltung geschieht in der Wiedergeburt, die mit der Rechtfertigung zwar zeitlich zusammenfällt, aber »ihrem Wesen nach völlig verschieden« ist25 – nämlich die reale Veränderung der

20 In diesem Zusammenhang begegnet bei Luther das simul iustus et peccator auch im Sinne von zwei Partialaspekten (partim iustus, partim peccator). Der Bezugspunkt ist dabei die reale Vorfindlichkeit der christlichen Existenz. Hier gilt: Das totus iustus will, weil es sich um eine im Glauben ergriffene Wirklichkeit handelt, auch im alltäglichen Leben real werden. Das aber ist aufgrund der bleibend sündhaften Natur auch des Glaubenden nur teilweise (partim – im Sinne eines Wachstumsprozesses) möglich. Und umgekehrt gilt: Das totus peccator will, weil es sich um eine in Christus überwundene Wirklichkeit handelt, auch im christlichen Leben überwunden werden – was aus dem genannten Grund aber ebenfalls nur partim realisiert werden kann (vgl. dazu W. Joest, Gesetz und Freiheit. Das Problem des Tertius usus legis bei Luther und in der neutestamentlichen Parainese, Göttingen 21956, 65ff). 21 Vgl. M. Marquardt, Methodistische Lehre und Theologie, in: W. Klaiber (Hg.), Methodistische Kirchen. Die Kirchen der Gegenwart 2, Göttingen 2011, (43 – 72) 59. 22 J. Wesley, Die 53 Lehrpredigten, hg. im Auftrag des Europäischen Rates der Evangelischmethodistischen Kirche, Stuttgart 1986ff, 347; vgl. dazu M. Marquardt, In der Liebe wachsen. Das wesleyanische Verständnis der Heiligung, US 54, 1999, (304 – 313) 307; Ders., Zur Bedeutung Luthers für John Wesley und die Evangelisch-methodistische Kirche, im vorliegenden Band Seiten 107 – 127, S. 111; W. Klaiber, Das Gespräch um die Rechtfertigung. Ein Sachstandsbericht aus evangelisch-methodistischer Sicht, in: Ders. / W. Thönissen (Hg.), Rechtfertigung in freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht, Paderborn/Stuttgart 2003, (73 – 83) 73. 23 Vgl. Marquardt, Bedeutung, (Anm. 22), im vorliegenden Band S. 110. 24 Wesley, Lehrpredigten, (Anm. 22), 347; vgl. Marquardt, Lehre, (Anm. 21), 60 f. 25 Wesley, Lehrpredigten, (Anm. 22), 347; vgl. dazu M. Marquardt, Wie bleibt man Christ? Rechtfertigung und Heiligung in methodistischer Sicht, in: Klaiber/Thönissen (Hg.), Rechtfertigung, (Anm. 22), (159 – 180) 163; Ders., Lehre, (Anm. 21), 61 (beachtenswert scheint mir auch der folgende persönliche Hinweis von M. Marquardt zu sein: Heiligung geschieht bei Wesley gleichzeitig mit der Rechtfertigung [wer gerechtfertigt ist, wird auch geheiligt], beginnt aber [mit der Wiedergeburt] als ein Lebensprozess).

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Glaubenden durch die Gnade Gottes,26 die unsere gefallene Natur erneuert und die durch die Sünde beschädigte Gottebenbildlichkeit als eine Eigenschaft unserer selbst wiederherstellt.27 Nach Wesley ist unsere Gerechtigkeit also nicht nur die fremde Gerechtigkeit Christi, an der wir im Modus des Glaubens Anteil haben, sondern auch und vor allem eine Realität an und in uns selbst. Sie ist die Wirkung der Gnade Gottes in uns – somit zwar nicht unser Besitz, aber doch eine uns von Gott geschenkte Vorfindlichkeit. Das simul iustus et peccator Luthers lehnt er deshalb zumindest in der Radikalität des Totalaspekts ab. Es mag für ihn zwar eine realistische Zustandsbeschreibung des Lebens in der Heiligung sein (in dem sich Sünde nicht immer vermeiden lässt), aber keinesfalls akzeptiert er es als eine grundsätzliche Wesensbestimmung der christlichen Existenz28 – widerspricht es nach seiner Auffassung doch eindeutig dem Zeugnis der Schrift über die Kraft der Gnade im Leben der Christen.29 Ob Wesley Luthers Anliegen im Tiefsten wirklich verstanden hat, mag dahingestellt sein.30 Fakt ist, dass er an ihm die Äußerlichkeit (im Sinne des extra nos) der Heiligung stets bemängelt hat.31 Heiligung ist für ihn eine von Gott bewirkte Umgestaltung nicht nur der menschlichen Gottesbeziehung, sondern auch und vor allem der menschlichen Natur als solcher.32 Sie ist real nicht nur extra nos, sondern auch und insbesondere in nobis. Das zeigt sich vollends an der Qualität dessen, was Wesley unter Heiligung versteht. Ihr Kernbegriff ist die Liebe. Der von der Erfahrung der Liebe Gottes im Innersten seines Wesens berührte Mensch wird von der Macht dieser Liebe so erfüllt, dass sie eine göttliche Kraft in ihm wird und eine Veränderung seines Denkens, seiner Einstellungen und der gesamten Lebensführung bewirkt. Auf 26 Vgl. Wesleys Streitgespräch mit Zinzendorf, in: The Works of John Wesley, Band 19, hg. v. R. Ward u. R. P. Heitzenrater, Nashville 1990, 211ff; vgl. dazu Marquardt, Bedeutung, (Anm. 22), im vorliegenden Band S. 112. 27 Vgl. Marquardt, Christ, (Anm. 25), 163.167. 28 Vgl. Klaiber, Gespräch, (Anm. 22), 82. 29 Vgl. W. Klaiber / M. Marquardt, Gelebte Gnade. Grundriß einer Theologie der Evangelischmethodistischen Kirche, Stuttgart 1993, 299. 30 Als Beispiel für ein mangelndes Verstehen sei auf J. A. Möhler hingewiesen, nach dem die Theologie Luthers auf einem Missverständnis des Verhältnisses von Glaube und Werke beruht (vgl. dazu: The Biblical Foundations of the Doctrine of Justification. An Ecumenical Follow-Up to the Joint Declaration on the Doctrine of Justification, Genf 2011, 28). 31 Vgl. Th. Runyon, Die neue Schöpfung. John Wesleys Theologie heute, Göttingen 2005, 104. 32 Der Begriff Natur meint hier (und andernorts) in der Regel die natürlich-kreatürliche Wesensart und Veranlagung des Menschen – sein An-sich-Sein und So-Sein als Geschöpf Gottes, in Analogie zum philosophischen Naturbegriff als Bezeichnung dessen, was jedem Seienden von seinem Entstehen her wesentlich ist (vgl. dazu R. Spaemann, Natur, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 4, hg. v. H. Krings u. a., München 1973, [956 – 969] 957 f). Von daher berührt sich der Naturbegriff auch mit dem philosophischen Substanzbegriff, insofern letzterer das bezeichnet, »was ein jedes in sich und für sich selbst ist« (vgl. Brugger, Substanz, [Anm. 14], 1451ff, Zitat: 1451).

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diese Weise wird der Mensch ganz und gar mit der Gesinnung Christi, die nichts anderes als Liebe ist, durchdrungen. Das heißt dann auch, dass durch diese Zuwendung der Gnade Gottes nicht nur die Schuld der Sünde vergeben ist, sondern auch und vor allem die Macht der Sünde im Leben des Menschen wirklich überwunden ist.33 Denn wem mit der liebenden »Gesinnung Jesu Christi« die Ebenbildlichkeit Gottes »dem Herzen aufgeprägt« ist, der ist von »himmlischen Neigungen und Regungen« derart bestimmt, dass es zu seiner Natur wird, Gott und die Menschen zu lieben.34 So setzt Wesley dem von Luther übernommenen augustinischen non posse non peccare ein posse non peccare entgegen. Es ist lebbar in der völligen Abhängigkeit von Gott und als solches Ausdruck der christlichen Vollkommenheit, die es anzustreben gilt.35 Dass Wesley mit alledem ein völlig anderes Verständnis von Heiligung und ihrem Verhältnis zur Rechtfertigung vertritt als Luther, ist evident. Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Gibt es Hintergründe und Motive, die die Unterschiede zwischen beiden erhellen, vielleicht sogar erklären können? So begeben wir uns auf die Suche nach biographischen und theologischen Momenten, die uns hier weiterhelfen können.

2.

Hintergründe und Motive der Differenzen

Die unterschiedlichen Sichtweisen Luthers und Wesleys in dieser zentralen theologischen Frage sind nicht am Schreibtisch entstanden, sondern hängen bei beiden zutiefst mit einer grundstürzenden Lebenserfahrung zusammen, die wiederum im Kontext der jeweils vorausgegangenen Biographie gesehen werden muss. Dem wollen wir zunächst in der gebotenen Kürze nachgehen.

a)

Biographische Hintergründe

Luthers gesamte Theologie wurzelt in der sogenannten »reformatorischen Entdeckung«. Auslöser war die Frage nach der Gewissheit der Huld Gottes (favor Dei), die Luther zuvor jahrelang in höchst aufreibender Weise umgetrieben hatte.36 Auslöser für diese Frage wiederum war das Scheitern des mittelalterlichen (katholischen) Gnadensystems in seinem Leben. Anstatt durch die (vielfache) Inanspruchnahme der sakramental vermittelten und so im Menschen 33 34 35 36

Vgl. Marquardt, Lehre, (Anm. 21), 62. Zitate: Wesley, Lehrpredigten, (Anm. 22), 866; vgl. Marquardt, Lehre, (Anm. 21), 62. Vgl. Klaiber/Marquardt, Gnade, (Anm. 29), 299. Vgl. H. Boehmer, Der junge Luther, Gotha 1925, 100.

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wirksamen Gnade zu wahrer Buße und Liebe zu Gott befähigt zu werden, quälte ihn unaufhörlich Sünden- und Verdammungsangst.37 So »lechzte« der junge Mönch »mit allen Fasern seines Herzens nach Gewißheit der Vergebung«.38 Ihm wurde immer klarer : Wenn überhaupt, dann konnte diese Gewissheit nur aus dem Wort Gottes kommen – und damit aus der Bibel, durch die Gott selbst zu uns spricht.39 Und so »klopfte« er in heißem Erkenntnisdrang tage- und nächtelang »bei Paulus an« (Röm 1,16 f), bis ihm mit einem Mal die befreiende Erkenntnis der Gerechtigkeit Gottes nicht als eines den Sünder strafenden, sondern sich seiner erbarmenden und ihn bedingungslos annehmenden Handelns Gottes kam. Damit war mit einem Schlag seine große Lebensfrage: »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?«,40 beantwortet, und er fühlte sich »wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein«.41 Für die Auseinandersetzung mit Luthers Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung sind diese biographischen Hintergründe höchst bedeutsam, denn sie erweisen die Frage der Rechtfertigung als die Lebensthematik des Reformators, um die sich dann auch seine ganze Theologie dreht. Und noch etwas ist relevant für unser Thema: Luther suchte die Antwort auf seine große Frage auf dem Wege der Erkenntnis des Wortes Gottes in der Bibel, und er erfuhr diese Antwort als lebenverändernden Zuspruch aus diesem Wort. Bei Wesley lagen die Dinge sehr viel anders. Sein Lebensthema war von Anfang an die Heiligung,42 vor allem vermittelt durch seine Mutter.43 So entwickelte sich als sein großes Anliegen eine konsequent praktizierte Frömmigkeit, die im Tun des Guten nach Jesu Wort und Vorbild die vollkommene Hingabe an Gott und seinen Willen anstrebt. Dabei ist Heiligkeit identisch mit Seligkeit, denn wer heilig lebt, lebt im Heil Gottes.44 Doch dieses Gebäude geriet ins Wanken, als Wesley durch die Begegnung mit Herrnhutern mit der Frage des Glaubens und der Heilsgewissheit konfrontiert wurde und feststellen musste, dass er – trotz aller religiösen Anstrengungen – weder den rettenden Glauben an

37 Vgl. H. Thielicke, Der Evangelische Glaube. Band. 3: Theologie des Geistes, Tübingen 1978, 27; vgl. auch Boehmer, Luther, (Anm. 36), 93 ff. 38 Boehmer, Luther, (Anm. 36), 109. 39 Vgl. Boehmer, Luther, (Anm. 36), 96.100. 40 Für dieses Zitat gibt es keinen Beleg in Luthers Schriften. Es handelt sich offenbar um eine spätere Zusammenfassung seines Lebensthemas. Der Sache nach kommen der Wendung seine Ausführungen in der Vorrede zu Band I der lateinischen Schriften der Wittenberger Luther-Ausgabe (1545) am nächsten, vgl. dazu: Luther Deutsch, hg. v. K. Aland, Band 2, Stuttgart 1962, 19 f. 41 Luther, Vorrede, (Anm. 40), 20. 42 Vgl. Klaiber, Gespräch, (Anm. 22), 73. 43 Vgl. M. Schmidt, Aufbruch und Veränderung. John Wesley : Leben und Werk Bd. 1, Zürich 1987, 128. 44 Vgl. Schmidt, Aufbruch, (Anm. 43), 89.95.97.

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Christus noch die Gewissheit der bedingungslosen Annahme durch Gott hatte.45 Die entscheidende Hilfe in dieser Krise erfuhr er bei einer Verlesung von Luthers Vorrede zum Römerbrief, in deren Verlauf er plötzlich »spürte, wie mir seltsam warm ums Herz wurde. Ich fühlte, wie ich tatsächlich allein auf Christus und die Rettung durch ihn vertraute;46 ich bekam die Gewissheit geschenkt, dass er meine … Sünden weggenommen und mich vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit hatte.«47 Dieser Durchbruch zur Heilsgewissheit führte bei Wesley jedoch nicht zu einem radikalen Neuanfang wie bei Luther, sondern bildete fortan das rechtfertigungstheologische Fundament des Heiligungsgebäudes, um das es ihm nach wie vor in erster Linie ging.48 So ergibt sich unter biographischem Aspekt bei Wesley eine völlig andere Disposition als bei Luther. Das zeigt sich nicht nur in der sehr unterschiedlichen Gewichtung der Momente im Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung, sondern es tritt auch in inneren Grundhaltungen zutage. Denn für Wesley ist die Erfahrung und mit ihr die Wahrnehmung von Lebenswirklichkeit das ausschlaggebende Kriterium. Er ist – im Gegensatz zu Luther, bei dem das Heilsgefühl aus der Heilserkenntnis hervorging – durch das Gefühl zur Erkenntnis gelangt (»ich spürte« und »fühlte, wie ich tatsächlich … vertraute«). Hier schlägt sich eine Grundeinstellung nieder, die Wesley von Anfang an hatte und stets beibehielt: dass von Glaube und Heil nur dann als Wirklichkeit gesprochen werden kann, wenn sie im gelebten Leben sichtbar und spürbar zutage treten. Das Handeln Gottes am Menschen in Rechtfertigung und Heiligung ist nur dann wahr und wirklich, wenn es im Leben als solches erfahrbar und wahrnehmbar ist. Luther dagegen geht – gerade aufgrund seiner Lebensgeschichte – von der Realität von Rechtfertigung und Heiligung allein in Christus und im Zuspruch des Wortes Gottes aus. Zur Wirklichkeit im menschlichen Leben wird beides nur im Modus des Glaubens – aber nie als eine Vorfindlichkeit der irdischen Existenz an sich. Die Unterschiede und Gegensätze, die sich hier zeigen, verdanken sich keinesfalls allein der jeweils anderen Biographie (mit ihren zeitgeschichtlichen Kontexten in Humanismus und früher Aufklärung) und Persönlichkeitsstruktur, sondern sie basieren auch auf verschiedenen theologischen Grundüberzeugungen, denen nun nachzugehen ist.

45 Vgl. Marquardt, Bedeutung, (Anm. 22), im vorliegenden Band S. 107; Ders., Lehre, (Anm. 21), 44; Schmidt, Aufbruch, (Anm. 43), 133 f.176.184.191.194 f. 46 Engl.: »I felt my heart strangely warmed. I felt I did trust in Christ, Christ alone for salvation« (Works, Bd. 18, hg. v. R. Ward u. R. P. Heitzenrater, Nashville 1988, 250). 47 Deutsches Zitat nach Marquardt, Bedeutung, (Anm. 22), im vorliegenden Band S. 108. 48 Siehe oben S. 92f.

Rechtfertigung und Heiligung bei Luther und Wesley

b)

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Theologische Grundüberzeugungen

Ein augenfälliger Unterschied in den Grundüberzeugungen bei Luther und Wesley im Blick auf unser Thema ist das jeweilige Verständnis von Wesen und Wirksamkeit der göttlichen Gnade. Luther vertritt dezidiert eine ausschließlich personal-relationale Auffassung von Gnade, während bei Wesley ein dinglichsubstantielles Verständnis hinzukommt und letztlich den Ausschlag gibt. Unter diesen Voraussetzungen muss sich zwangsläufig eine gegensätzliche Auffassung von Rechtfertigung und Heiligung und ihrem Verhältnis zueinander ergeben. Luthers Gnadenverständnis ist zweifellos eine Folge seiner reformatorischen Entdeckung. Denn der erkannte und erfahrene Zuspruch der Gerechtigkeit ist für ihn ja nichts anderes als der schlechthinnige Gnadenerweis Gottes.49 Luther versteht Gnade radikal als favor Dei erga nos – als Huld Gottes, erwiesen im Akt der heilvollen Zuwendung zu uns. Gnade ist das rettende und befreiende SichNeigen50 Gottes zum sündigen, verlorenen Menschen – ein für allemal vollzogen in Jesus Christus und jeweils aktualisiert im Zuspruch des Evangeliums. Gnade ist für Luther also ein Relationsbegriff, der das Verhalten Gottes zum Menschen umschreibt und demzufolge einen streng personalen Charakter hat.51 Luther grenzt sich damit auf das Schärfste vom scholastisch-thomistischen Verständnis ab, wonach Gnade nicht nur das gnädige Verhalten Gottes meint, sondern zugleich eine dingliche Gestalt hat, die als gratia infusa ein zuständliches Sein in der menschlichen Seele ist.52 Indem Luther dieses Verständnis der Gnade als göttliche Kraft, die im Inneren des Menschen waltet und ein entsprechendes Handeln und Verhalten vollbringt, ablehnt, muss er zu einem anderen Verständnis von Heiligung und ihrem Verhältnis zur Rechtfertigung gelangen. Heiligung erwächst nicht aus einer dem Menschen verliehenen Gotteskraft, sondern aus der schöpferischen Macht des Wortes Gottes. Indem dieses dem Sünder die Gnade als bedingungslose Annahme durch Gott zuspricht, existiert er als ein Freigesprochener – und wird davon im Innersten seiner Existenz so angesprochen, dass er mit seinem Leben diesem Freispruch entspricht.53 Die neue Existenz in der Entsprechung ist seine Heiligung, wobei die Entsprechung ihrem Wesen nach die immer wieder neu erfolgende Rück-Beziehung des Glaubenden auf Jesus Christus ist, der die ret49 Vgl. Joest, Dogmatik, (Anm. 4), 440, 5.Aufl. 103. 50 So die Grundbedeutung des germanischen Wortstammes von Gnade (vgl. E. Kähler, Art. Gnade IV. Dogmengeschichtlich, RGG3 Bd.2, 1958, [1637 – 1640] 1637). 51 Vgl. Jüngel, Evangelium, (Anm. 3), 167; Thielicke, Theologie, (Anm. 37), 307. 52 Vgl. Thielicke, Theologie, (Anm. 37), 29 Anm. 29, der in der Differenz im Gnadenverständnis den »eigentlichen Dissensus« zwischen der katholischen Mutterkirche und der Reformation sieht (ebd. 28). 53 Vgl. Jüngel, Evangelium, (Anm. 3), 169 f.

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tende Beziehung Gottes zu uns darstellt.54 Da Christus uns aber allein im Wort (solo verbo) begegnet, kommt bezüglich der Heiligung alles darauf an, ihn im Wort des Evangeliums stets neu zu vernehmen, um seiner Beziehung zu uns durch unser Handeln und Verhalten entsprechen zu können. Möglich ist das nach Luther nur durch den Geist Gottes, der uns Christus vergegenwärtigt und sich in seinem Wirken deshalb ganz an das Wort bindet.55 Der Geist ist daher nicht die göttliche Kraft, die nun anstelle der Gnade in uns die Heiligung vollbringt, sondern er ist die Macht der Vergegenwärtigung Christi als der Wahrheit und Wirklichkeit unserer Rechtfertigung56 – oder mit anderen Worten: Er ist die Kraft der Beziehung Gottes zu uns, so dass wir mit unserem Leben darauf eingehen und ihr entsprechen können, auch wenn wir unserem Wesen nach immer noch Sünder sind und es bis zu unserem Tod auch bleiben. Bei Wesley liegen die Dinge wiederum sehr viel anders. Zwei seiner renommiertesten mitteleuropäischen Interpreten, Manfred Marquardt und Walter Klaiber, konstatieren eine gewisse Nähe Wesleys zur katholischen Rechtfertigungs- und Gnadenlehre mit ihren altkirchlichen Wurzeln sowie zur orthodoxen Lehre von der Theosis.57 Beiden Auffassungen ist eine reale Veränderung des menschlichen Wesens durch Gott gemeinsam – entweder aufgrund des (auf Tertullian und Augustin zurückgehenden) Verständnisses der Gnade als Substanz, die die menschliche Natur durch die Mitteilung göttlichen Seins verwandelt,58 oder durch die Teilhabe des Menschen am Leben Gottes (Theosis).59 Beide Traditionen haben richtungweisend auf Wesleys Gnadenverständnis – und damit auf seine Sicht der Heiligung – eingewirkt. Entscheidend ist, dass er der Gnade einen Doppelcharakter zuschreibt: Mit Luther versteht er sie personalrelational als Erneuerung der Gottesbeziehung. Gegen Luther sieht er in ihr aber auch eine weiterwirkende göttliche Kraft im Menschen. Letztere wird von Wesley auch die heiligende – im Unterschied zur zuvorkommenden und rechtfertigenden – Gnade genannt, da sie unmittelbar mit der Heiligung zu tun hat.60 Auf sie haben wir deshalb unser Augenmerk zu richten. Es ist nicht klar erkennbar, was das Wesen der weiterwirkenden beziehungsweise heiligenden Gnade nach Wesley ist. Zweifellos versteht er sie nicht 54 Vgl. oben S. 91. 55 Vgl. H. Feghelm (Hg.), Aussagen D. Martin Luthers zu Fragen der Auslegung der Heiligen Schrift, in: Evangelium und Wissenschaft. Beiträge zum interdisziplinären Gespräch, 1981, (14 – 21) 18; Hirsch, Hilfsbuch, (Anm. 11), 86. 56 Vgl. Joest, Dogmatik, (Anm. 4), 440.442; 5.Aufl. 103.110 f. 57 Vgl. Marquardt, Bedeutung, (Anm. 22), im vorliegenden Band S. 126; Klaiber, Gespräch, (Anm. 22), 74.82 f. 58 Vgl. Kähler, Gnade, (Anm. 50), 1637 f. 59 Vgl. A. Basdekis (Hg.), Orthodoxe Kirche und Ökumenische Bewegung, Frankfurt am Main 2006, 115 f.324 f. 60 Vgl. Marquardt, Bedeutung, (Anm. 22), im vorliegenden Band S. 110.

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im katholisch-tridentinischen Sinn als göttliche Kraft, die der Mensch als sakramental »eingegossenen« habitus besitzt.61 Aber vieles deutet darauf hin, dass auch bei Wesley ein gewisses dingliches Verständnis der Gnade vorliegt. Denn ihr tiefster und eigentlicher Wirkungsbereich ist die Natur des Menschen, sein Wesen, seine Seele.62 Das, was der Mensch also an sich ist, wird durch die Einwirkung der Gnade umgestaltet, verwandelt, erneuert63 – bis dahin, dass Wesley (mit 2 Petr 1,4) von »Teilhabe an der göttlichen Natur« reden kann.64 Das in diesen Auffassungen zutage tretende substanzontologische Denken lässt vermuten, dass er die Gnade als eine Art von Gott ausgehende Geistsubstanz versteht,65 die ihre Wirkung im Kern des menschlichen Wesens als umgestaltende und erneuernde Kraft entfaltet und so die Heiligung bewirkt. Dem entspricht auch der Sprachgebrauch, wonach die Gnade im Menschen überwindend, befähigend, wirkend, heilend, zurechtbringend, ergreifend, verändernd am Werk ist – und so den Menschen neu schafft.66 Die Grundlage für diese Auffassung einer realen Umwandlung beziehungsweise Neuschöpfung des Menschen ist in Wesleys Anthropologie zu suchen – und zwar in seinem Verständnis der Gottebenbildlichkeit. So fällt auf, dass er die Heiligung beziehungsweise Erneuerung des Menschen als Wiederherstellung seiner verlorenen Gottebenbildlichkeit interpretiert. Damit ist zwar hauptsächlich das Ebenbild der »sittlichen Eigenschaften« Gottes, das heißt seiner »wahrhafte(n) Gerechtigkeit und Heiligkeit«, gemeint.67 Aber die Operationsbasis für diese Wiederherstellung ist die Seele, in der Gott eine »große Verwandlung« bewirkt.68 Die Seele aber ist das Ebenbild des geistigen Wesens Gottes.69 Denn die Seele beziehungsweise der unsterbliche Geist ist für Wesley der eigentliche Kern der Gottebenbildlichkeit, sozusagen ihre natürliche Sub61 Vgl. H. Thielicke, Theologische Ethik. 1. Band: Dogmatische, philosophische und kontroverstheologische Grundlegung, Tübingen 1951, 367; Jüngel, Evangelium, (Anm. 3), 162 ff. 62 Die Begriffe werden von Wesley in diesem Zusammenhang (und auch sonst) promiscue verwendet. 63 Vgl. G. Wainwright, Trinitarian Theology and Wesleyan Holiness, in: S.T. Kimbrough (Hg.), Orthodox and Wesleyan Spirituality, New York 2002, (59 – 80) 60.64; vgl. auch Marquardt, Christ, (Anm. 25), 163 f; Ders., Liebe, (Anm. 22), 308; Ders., Lehre, (Anm. 21), 61. 64 Engl.: »participation of the divine nature«, Works 19, (Anm. 26), 97; vgl. Wesley, Lehrpredigten, (Anm. 22), 55; vgl. dazu W. Klaiber, John Wesley und das orthodoxe Verständnis vom Heil. Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Orthodoxie und Methodismus, in: A. Kallis u. a. (Hg.), Orthodoxie in Begegnung und Dialog. Festschrift für Metropolit Augoustinos, Münster/W. 1998, (313 – 327) 321; Runyon, Schöpfung, (Anm. 31), 94 f. 65 Es fällt auf, dass bei Wesley von Gnade und Geist oft parallel die Rede ist und er von beiden vielfach dasselbe aussagen kann. 66 Vgl. Runyon, Schöpfung, (Anm. 31), 94 ff. 67 Wesley, Lehrpredigten, (Anm. 22), 860. 68 Wesley, Lehrpredigten, (Anm. 22), 865. 69 Der Mensch »is … a spirit like his Creator« (J. Wesley, Predigt »On the Fall of Man«, Works Bd. 2, hg. v. A. C. Outler, Nashville 1985, 400; vgl. Wesley, Lehrpredigten, [Anm. 22], 860).

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stanz.70 Sie wird durch die Einwirkung der Geistkraft der Gnade so verändert, dass der Mensch im Tiefsten seines Wesens nicht mehr von der Macht der Sünde, sondern von der Gesinnung Christi und der Liebe zu Gott und den Menschen bestimmt wird.71 Seine Heiligung (bzw. Wiedergeburt) ist somit ein reales Geschehen, das sich am und im Menschen zeigt und als solches auch empirisch wahrnehmbar ist – ja, es sein muss, um wahr und wirklich sein zu können.72 Wesley hat diese naturhafte Umwandlung freilich nie losgelöst von der bleibenden Verbundenheit mit Christus im Glauben gesehen, so dass das substantielle Gnadenverständnis bei ihm nie ohne das personal-relationale vorkommt. Von daher hat Heiligung für ihn immer einen Prozesscharakter ; sie ist nicht einfach nur als unsere »Natur« vorfindlich, sondern will in und mit ihr wachsen und reifen.73 Zieht man dagegen Luthers Anthropologie zu Rate, wird der Dissens vollends deutlich. Die Gottebenbildlichkeit spielt bei ihm nur eine untergeordnete Rolle – und wenn von ihr die Rede ist, dann in einem streng relationalen Verständnis:74 eben nicht als »natura-Unterbau der Gnade«,75 sondern als Teilhabe an der imago Christi im Modus des Glaubens. Luther sieht den Menschen gerade nicht in seinem »An-sich«, sondern ausschließlich in seiner Relation zu Gott.76 Letztere spielt bei Wesley zwar auch eine tragende Rolle, aber sie ist eingebettet in einen substanzialen, das heißt hier : auf den Menschen an sich, in seinem »Selbststand« bezogenen Personbegriff.77 Luther dagegen vertritt ein zutiefst »exzentrisches Personverständnis«:78 Subjekt des gerechtfertigten Menschen ist nicht der Mensch selbst, sondern Christus, der sich als Erlöser und Herr den 70 Der Mensch ist Gottes »natural image … that is, a spirit, as God is a spirit« (J. Wesley, Predigt »The End of Christ’s Coming«, Works 2, [Anm. 69], 474); »God has entrusted us with our soul, an immortal spirit, made in the image of God« (J. Wesley, Predigt »The Good Stewart«, ebd., 284); die natürliche Ebenbildlichkeit bedeutet demnach das »Abbild Seiner (sc. Gottes) Unsterblichkeit« (Wesley, Lehrpredigten, [Anm. 22], 860; vgl. dazu J. Weißbach, Der neue Mensch im theologischen Denken John Wesleys, Beiträge zur Geschichte des Methodismus 2, Stuttgart 1970, 4 f). 71 Liebe ist dabei als Tugend verstanden, mithin als eine Fähigkeit des Menschen (vgl. Runyon, Schöpfung, [Anm. 31], 101 f). 72 Auf die Gefahr, die sich hier auftut, wird auch von methodistischen Theologen hingewiesen; vgl. Klaiber/Marquardt, Gnade, (Anm. 29), 287 f, die fragen, »ob Wesley in seinem Streben, diese Lebenswirklichkeit objektiv festzustellen, nicht doch der Versuchung erliegt, etwas, was ›im Menschen liegt‹, zur Grundlage des Vertrauens und der Hoffnung zu machen«. 73 Diese Präzisierungen verdanke ich einem Hinweis von M. Marquardt. 74 W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 237. 75 Thielicke, Ethik, (Anm. 61), 317. 76 Vgl. Thielicke, Ethik, (Anm. 61), 356. 77 Vgl. Runyon, Schöpfung, (Anm. 31), 17, der sich hierzu allerdings nur sehr vage äußert; zum hier vorliegenden Sprachgebrauch des Substantiellen vgl. Weissmahr, Ontologie, (Anm. 14), 158.164; Brugger, Substanz, (Anm. 14), 1451 f. 78 Joest, Ontologie, (Anm. 74), 269; vgl. 233 ff.

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Menschen angeeignet hat.79 Sein neues Ich ist Christus, auf den er sich im Glauben ständig bezieht und von dem er sich in seiner ganzen Existenz bestimmt weiß.80 Das aber heißt: Seine Heiligung ist nicht eine auf die Rechtfertigung folgende Verwandlung seines An-sich-Seins, die empirisch verifizierbar und existentiell erfahrbar sein muss, um real sein zu können, sondern sie ist die Heiligkeit beziehungsweise Gerechtigkeit Christi selbst, an der der Gerechtfertigte im Glauben Anteil hat und der er so mit seinem Leben entsprechen kann.81 Doch wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Der letzte und eigentliche Differenzpunkt zwischen Luther und Wesley dürfte in der Frage nach dem Wesen des Heils liegen – das heißt in der Frage, um welche Art von Wirklichkeit es sich handelt, wenn Gott sich uns heilvoll zuwendet. Ist diese Wirklichkeit die neue Gottesbeziehung als solche oder ist sie die Auswirkung dieser Beziehung? Bei Luther ist zweifellos Ersteres der Fall: Das Heil Gottes ist die neue Beziehung zu ihm (in Gestalt der Rechtfertigung). Von daher ist der Glaube, also das Leben in dieser Beziehung, die Weise dieser Wirklichkeit auf Seiten des Menschen. Sie steht unter eschatologischem Vorbehalt, denn an sich ist diese Wirklichkeit nur in Gott selbst gegeben. Aber sie hat die Verheißung, im Eschaton zu einer unmittelbaren Realität des Menschen und der Welt zu werden. Deshalb kann und soll der Mensch nichts anderes tun, als sich im Glauben immer wieder auf die jenseitige Realität seiner Rechtfertigung und Heiligung in Christus zu beziehen und in diesem Bezogensein das Heil Gottes (mit allen seinen Auswirkungen!) zu leben. Bei Wesley stellt sich die Sache völlig anders dar. Nach ihm ist »die Erneuerung der Schöpfung und der Geschöpfe durch die Erneuerung der Menschen nach dem Bild Gottes« das Wesen des Heils.82 Die Wirklichkeit der heilvollen Zuwendung Gottes liegt also eindeutig in ihrer Auswirkung: der »neuen Schöpfung«.83 Die Wirklichkeit des Heils ist die Realität der Erneuerung des Menschen (und mit ihm der Welt) – sie ist also in umfassender Weise die Heiligung als vorfindliche Realität in nobis. So kann Wesley mit Blick auf Luthers Rede vom extra nos unserer Rechtfertigung und Heiligung kategorisch sagen: Rechtfertigung »bedeutet auf keinen Fall, daß Gottes Urteil (sc. über den Menschen) der wahren Sachlage widerspricht«. Gott sieht uns nicht als gerecht an, »wenn wir ungerecht sind«.84 Mit anderen Worten: Gott urteilt über uns nicht 79 Vgl. Joest, Ontologie, (Anm. 74), 253: »Gerechtigkeit und Sünde werden [bei Luther] zu Subjekten: die Sünde das Subjekt, das hinsichtlich des Menschen enteignet wird…; die gratia oder spiritualis iustitia das Subjekt, das den Menschen sich aneignet.« 80 Vgl. Jüngel, Evangelium, (Anm. 3), 205. 81 Freilich nicht aus sich selbst heraus. 82 Runyon, Schöpfung, (Anm. 31), 12. 83 Runyon, Schöpfung, (Anm. 31), 16 (Hervorhebung RG). 84 Wesley, Lehrpredigten, (Anm. 22), 96; vgl. E. Gassmann, Erfahrungsreligion. John Wesleys

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gegen eine Wirklichkeit, die nicht in und an uns selbst real wäre. Entsprechend ist nicht der Glaube die eigentliche Weise der Existenz im Heil, sondern die Liebe. Der Glaube hat seinen Wert, aber letztlich nur als »Dienerin der Liebe«.85 Denn sie allein ist die Existenzweise, die der Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit entspricht, und das eigentliche Mittel zur Erneuerung der Schöpfung, um die es Wesley letztlich geht.

3.

Die Problematik in biblisch-theologischer Perspektive

Es dürfte auf der Hand liegen, dass man der aufgezeigten Problematik mit einer Besinnung auf die klassische exegetische Thematik des Verhältnisses von Rechtfertigung und Heiligung nur sehr bedingt beikommen kann. Die Frage, vor die Luther und Wesley uns stellen, liegt tiefer. Ihr zentraler Punkt lautet meines Erachtens: Was beziehungsweise wer ist die Wirklichkeit unserer/meiner Gerechtigkeit – ich selbst in meiner Verbundenheit mit Christus (so Wesley) oder Christus in seiner Verbundenheit mit mir (so Luther)? Oder gar beides (was ja nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann)? Die dabei im Hintergrund stehende ontologische Problematik (in den Aspekten von Substanz- und Relationsontologie86) ist der Bibel in dieser philosophisch-abstrahierenden Weise freilich fremd. Dennoch dürfte es sinnvoll und angemessen sein, die biblischen Texte auf Hinweise zu befragen, die sie im Blick auf die anstehende Fragestellung zweifellos zu geben in der Lage sind.87 Das soll im folgenden in der gebotenen Kürze versucht werden. Wenn man mit Luther und Wesley (und der Bibel) von Jesus Christus als dem Heils- und Gnadenerweis Gottes schlechthin ausgeht, wird man im Blick auf die Verkündigung und das Wirken Jesu nicht am extra nos des Heils vorbeikommen. Die Gottesherrschaft ist nach Jesus zwar mitten unter den Menschen gegenwärtig, aber ausschließlich in ihm selbst: In seiner Person und seinem Wirken, das von außen auf uns zukommt (Lk 11,20; 17,21; Mk 1,15). Wir können und sollen uns lediglich in das Heil der Gottesherrschaft hineinbegeben (vgl. die vielen Worte vom »Hineingehen« in die Gottesherrschaft, z. B. Mt 18,3). MatBotschaft, Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche 35, Stuttgart 1989, 52. 85 Wesley, Lehrpredigten, (Anm. 22), 701; vgl. Runyon, Schöpfung, (Anm. 31), 99. 86 Mit der Unterscheidung von Substanz- und Relationsontologie ist nicht das Vorliegen von zwei sich gegenseitig ausschließenden ontologischen Denkmodellen gemeint (dass dies unangemessen wäre, zeigt sehr schön Weissmahr, Ontologie, [Anm. 14], 160), sondern die jeweils andersartige Verortung der Wirklichkeit der Gerechtigkeit des Menschen durch Luther und Wesley. 87 Vgl. Spaemann, Natur, (Anm. 32), 960, der die Bibel im Blick auf den ihr ursprünglich fremden (philosophischen) Naturbegriff in ähnlicher Weise zu Rate zieht.

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thäus kann das Angekommensein in der Gottesherrschaft zwar als unsere Gerechtigkeit bezeichnen (Mt 5,20; 6,1), aber er versteht darunter offenkundig die Teilhabe an der Gerechtigkeit der Gottesherrschaft (Mt 5,6; 6,33). Gleichwohl liegt hier ein Hinweis darauf vor, dass diese Teilhabe sich in unserem Handeln und Verhalten auswirken und somit zum bestimmenden Moment unserer Existenz werden soll, ohne das die Gottesherrschaft keine Wirklichkeit für uns ist (Mt 5,13 – 16; 12,50; 21,41 – 43; 22,11 – 14; 25,31 – 46). Aber schon allein der Begriff der basileia (tou theou) macht deutlich, dass es um das Herrschen Gottes in unserem Leben geht und unsere Gerechtigkeit somit grundsätzlich eine ist, die uns von außen her zukommt – um dann freilich auch in uns zur Geltung zu kommen.88 Damit befinden wir uns schon mitten in der nachösterlichen Problematik. In ihr geht es im Kern um die Frage der Gegenwart Jesu Christi im Leben der Glaubenden. Grundsätzlich lässt sich vom Neuen Testament her dazu sagen: Der auferstandene Christus – und mit ihm das Heil Gottes – ist im Heiligen Geist in den Glaubenden gegenwärtig. Doch mit dieser scheinbar so eindeutigen Antwort beginnen die Fragen: Was heißt Heiliger Geist? Was heißt Glaube? Was heißt Gegenwart Jesu Christi? Versuchen wir, in aller Kürze einige Leitlinien einer Antwort aufzuzeigen. Zunächst ist ein Grundzug der neutestamentlichen Soteriologie zu bedenken, der eine Schlüsselfunktion für die Antwort hat: Es geht nicht um die Gegenwart einer dinglich-substantiellen Kraft, sondern einer Person: Jesus Christus. Dann aber muss man fragen: Kann die Erneuerung, die die Gegenwart dieser Person im Menschen bedeutet, anders gedacht werden als ein Beziehungsgeschehen? Kann der Christus in nobis (Joh 6,56; 14,20; 15,4 f; Röm 8,10; Gal 2,20; Kol 1,27; 1 Joh 3,24) wirklich gedacht werden als etwas Dinglich-Substantielles? Wenn ja, dann müsste die Umwandlung unseres Wesens auch eine dinglich-substantielle sein. Wenn wir die Weise, in der Christus in uns gegenwärtig ist, in Betracht ziehen – also den Heiligen Geist (Joh 14,17 f; Röm 8,9 – 11; 1 Joh 3,24; vgl. 1 Kor 3,16; 6,19; 1 Thess 4,8; 2 Tim 1,14; 1 Joh 4,4; Jak 4,5), werden wir von einem solchen Verständnis Abstand nehmen müssen. Denn der Geist Gottes wird im Neuen Testament (in Aufnahme der alttestamentlich-jüdischen Pneumatologie) zwar in erster Linie als göttliche Macht und heilstiftende Kraft verstanden. Jedoch ist hierbei eine »Tendenz zur Personalisierung« unübersehbar, so dass die »Zu88 Die »bessere Gerechtigkeit« der Jünger Jesu (Mt 5,20), das »Mehr« ihres Gehorsams im Unterschied zu Pharisäern und Schriftgelehrten, »wird in der den ganzen Menschen erfassenden Hingabe an den barmherzigen Gott erfüllt, die ihre Kraft aus seiner erfahrenen Güte gewinnt« (E. Lohse, »Vollkommen sein«. Zur Ethik des Matthäusevangeliums, in: Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium. FS A. Vögtle, hg. v. L. Oberlinner u. P. Fiedler, Stuttgart 1991, [131 – 140] 140).

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sammengehörigkeit dynamistischer und personaler Elemente« ein unaufgebbares Charakteristikum der neutestamentlichen Pneumatologie darstellt.89 Mit der Erkenntnis des Geistes als »Repräsentant Christi«90 haben die ersten Christen immer stärker den personalen Charakter der Dynamik des neuen Lebens wahrgenommen, das uns in Christus geschenkt ist. Dem entsprechen auch die Aussagen über das Wirken Gottes in uns (z. B. Röm 8,13 – 16; 1 Kor 1,4 – 9; Phil 1,6.9 – 11; 2,12 f; Eph 1,17ff; Kol 1,9 – 14.29; Hebr 13,20 f; 1 Petr 2,4 – 10), die durchweg ein personal-relationales Gepräge haben und nicht den Eindruck erwecken, als ginge es um das Wirksamwerden einer von Christus und dem Geist verschiedenen Kraft in uns. Die Probe aufs Exempel wäre wohl an der Stelle zu machen, an der es Paulus im Römerbrief um den Erweis der Wirklichkeit unserer Rechtfertigung und ihrer Bedeutung für unser Leben (das heißt für die Heiligung) geht. Der Apostel spricht hier von einer grundstürzenden Veränderung unserer Existenz durch Gott (Röm 6,2 – 11) mit dem Ergebnis, dass wir »in Neuheit des Lebens wandeln« (V. 4). Jedoch ist dieses Neue gerade nicht eine vorfindliche Realität an und in uns selbst, sondern wir können an ihr nur teilhaben – und zwar in der Weise des »Dafürhaltens«: Wir sollen uns für das halten, was wir »in Jesus Christus«, also außerhalb unserer selbst, sind (V. 11). Unser neues Leben ist demnach die Teilhabe am (Auferstehungs-)Leben Christi (V. 4.8 – 10; Röm 8,11).91 »In ihm« (so die vielfachen paulinischen und johanneischen Immanenzaussagen) ist es real, in uns nur in der Weise der Beziehung zu Christus – und das heißt: in der Weise des Glaubens und der Vergegenwärtigung Christi im Geist. In diesem personal-relationalen Sinn sind wohl auch die neutestamentlichen Neuheitsaussagen zu verstehen: Die »neue Schöpfung« hat ihre Wirklichkeit »in Christus« (2 Kor 5,17; vgl. Gal 6,15)92 beziehungsweise »im Neuen des Geistes« (Röm 7,6). Sie bezeichnet keinen einmaligen Akt, durch den wir in unserem Dasein und Sosein umgestaltet worden wären, sondern den Beginn eines ständigen Prozesses der Erneuerung (2 Kor 4,16), zu dem auch Christen immer wieder aufgefordert werden müssen (Röm 12,2; Eph 4,23 f; Kol 3,10).93 Die 89 F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments. Band 2: Die Einheit des Neuen Testaments, Tübingen 2002, 286 f; vgl. 272 ff.282 ff. 90 Hahn, Theologie, (Anm. 89), 269. 91 Vgl. W. Klaiber, Der Römerbrief, BNT, Neukirchen-Vluyn 2009, 104. 92 Vgl. U. Mell, Neue Schöpfung. Eine traditionsgeschichtliche und exegetische Studie zu einem soteriologischen Grundsatz paulinischer Theologie, BZNW 56, Berlin 1989, 367 ff. 93 Wenn in Eph 4,24; Kol 3,10 vom Angezogen-Haben des neuen Menschen im Aorist die Rede ist, bezeichnet dies zwar ein einmaliges Handeln Gottes, durch das der Mensch grundlegend verwandelt wird. Jedoch ist dies keine naturhafte Veränderung, sondern ein personal-relationales Geschehen, in dem der Mensch »auf Gottes Güte und Erbarmen«, die ihm »zugesprochene Gerechtigkeit und Heiligkeit«, mit »gottgemäße(m) Verhalten« antwortet (so der katholische [!] Exeget R. Schnackenburg, Der Brief an die Epheser, EKK 10, Zürich 1982,

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Metapher von der Wiedergeburt fasst dabei den durch Gott gewirkten Anfang unseres Christseins in den Blick, der damit gegeben ist, dass der Geist uns Christus und sein Leben erschließt (Joh 3,3 – 8; vgl. 1 Joh 3,9) und sein lebenslanges Erneuerungswerk in uns beginnt (Tit 3,4 – 7).94 Der Erste Petrusbrief spitzt das so umschriebene Erneuerungshandeln Gottes auf seine eschatologische Dimension und die Kraft seines Wortes zu (1 Petr 1,3.23) und unterstreicht somit Glaube und Hoffnung als personal-relationale Weisen unseres Einbezogenseins in dieses Geschehen (V. 3.5.21 f).95 Selbst die neutestamentliche Spitzenaussage von unserer Teilhabe an der »göttlichen Natur« (2 Petr 1,4) ist eindeutig nicht im Sinne einer bereits vollzogenen Verwandlung unseres natürlichen Menschseins oder der Seele durch die Mitteilung göttlichen Seins zu verstehen, sondern ihr »konsequent futurische(r) Bezug« qualifiziert diese Teilhabe als noch ausstehendes, »zukünftiges Heilsgut«.96 Auch hier ist mit der Erkenntnis Gottes und seiner Verheißungen (V. 3.4a) die Gottesbeziehung die Wirklichkeit des Heils und der Heiligung.

Fazit Vom biblisch-theologischen Befund her ist nach meiner Auffassung dem Verständnis Luthers der Vorzug zu geben. Die Wirklichkeit meiner/unserer Gerechtigkeit ist Christus und die Beziehung zu ihm. Unsere Heiligung ist Frucht und Folge dieser Wirklichkeit extra nos, nicht aber Ausweis einer wunderbaren Umwandlung unseres An-sich-Seins (in nobis). Dennoch legt Wesley mit Recht seinen Finger in einen wunden Punkt der Wirkungsgeschichte Luthers: Denn so richtig es ist, dass der Glaube die existentielle Wirklichkeit des Lebens im Heil Gottes ist, so sehr muss der Gefahr einer Selbstgenügsamkeit des Glaubens und eines Desinteresses an seiner Gestaltwerdung in konkreter Heiligung gewehrt werden. Diese Gefahr ist weniger bei Luther selbst, aber in hohem Maße in der Rezeption seiner Theologie gegeben.97 Andererseits steht die Wirkungsgeschichte Wesleys im Methodismus in der Gefahr, die Christusbeziehung nur als

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205). Dem entspricht die durchgängige Präsensform der den Erneuerungsprozess betreffenden Aussagen. Vgl. L. Oberlinner, Der Titusbrief, HThK, Freiburg/Br. 1996, 174 – 176. Vgl. G. Barth, Die Taufe in frühchristlicher Zeit, Neukirchen-Vluyn 22002, 99 – 103. So der katholische Exeget A. Vögtle (Der Judasbrief. Der 2. Petrusbrief, EKK 22, Solothurn 1994, 141 f), der in diesem Zusammenhang ausdrücklich der von manchen katholischen Auslegern vertretenen Deutung auf die »schon geschenkte Anteilhabe an der göttlichen Natur« (141) widerspricht. So sind vom Luthertum insgesamt nur spärliche Impulse zu einem tätigen Glauben und zur Ethik ausgegangen.

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Mittel zum Zweck der Lebens- und Weltgestaltung anzusehen.98 Die Lösung kann meines Erachtens nicht in einer Synthese von Luther und Wesley liegen (weil eine solche ohne Substanzverlust kaum möglich sein dürfte), wohl aber in einer neuen Besinnung darauf, wie die Gerechtigkeit Gottes in uns Gestalt gewinnen kann – und zwar so, dass ihr extra nos in der Gerechtigkeit Christi gewahrt bleibt, sie sich aber zugleich in gelebter Liebe und tätigem Glauben auswirkt. Im Blick auf die gegenwärtig dominierende empirische Fokussierung der Theologie auf soziologische und religionswissenschaftliche Fragestellungen und angesichts des bevorstehenden Reformationsjubiläums könnte man die Herausforderung, vor die uns Luther und Wesley stellen, auch so zuspitzen: Wie kann es gelingen, neben der Lebenswirklichkeit des Glaubens und Christseins die Frage nach dem gnädigen Gott, das heißt nach der Rettung vor dem ewigen Verderben durch die Gerechtigkeit Christi, als ein Thema von höchster Relevanz für die Gegenwart zu etablieren und beide Aspekte mit einander zu verbinden?

98 So wird im Book of Discipline die Aufgabe der Kirche und der Christen wie folgt definiert: »The mission of the Church is to make disciples of Jesus Christ for the transformation of the world« (The Book of Discipline of the United Methodist Church 2008, Nashville 2008, 87 [Hervorhebung RG]). Das Zu-Jüngern-Machen bzw. Jünger-Sein (also die Christusbeziehung) ist demnach Voraussetzung bzw. Mittel zur Weltveränderung, um die es (jedenfalls von der Logik des Satzes her) eigentlich geht.

Manfred Marquardt

Zur Bedeutung Luthers für John Wesley und die Evangelisch-methodistische Kirche1

1.

Luthers und Wesleys Erfahrung der Heilsgewissheit: Rechtfertigung sola gratia – sola fide – solo Christo

Prägend für den Inhalt methodistischer Lehre wurde die Gotteserfahrung der Brüder John und Charles Wesley, die ihnen ein neues Verständnis des Glaubens und des Auftrags vermittelte, den sie als von Gott gegeben verstanden. Als junge Akademiker gehörten beide einer religiösen Gruppe an, die durch tägliches Bibelstudium, regelmäßige Teilnahme an Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern, eine sorgfältig geplante Nutzung ihrer Zeit, durch Hilfe für Arme und Ausgegrenzte sowie eine strenge Gewissensprüfung bemüht waren, den Willen Gottes zu erfüllen. Was sich trotz aller Anstrengungen nicht einstellen wollte, war die Gewissheit, Gott zu gefallen und von ihm trotz eigenen Versagens angenommen zu sein. Dass eine solche Gewissheit kein unerreichbares Ziel war, hatten sie durch Begegnungen mit herrnhutischen Christen aus Deutschland erfahren. Nach langen Gesprächen, einem erneuten Studium des Neuen Testaments, inneren Kämpfen und Gebeten wurde ihnen die Gewissheit des Glaubens geschenkt, die sie von der schmerzlichen Sorge um ihr Heil befreite.2 Sie waren nun überzeugt, dass Gott ihnen auf Grund der Erlösung durch Christus ihre Sünden vergibt und sie trotz ihres unzulänglichen Gehorsams als seine Kinder annimmt. So verstanden sie das Evangelium von Jesus Christus, durch dessen Lebenshingabe am Kreuz Gott die ganze Welt mit sich versöhnt hat.3 John Wesley 1 Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Aufsatzes im Jahrbuch Freikirchenforschung 20, 2011, 98 – 116. 2 Näheres zu dieser wechselvollen Entwicklungsgeschichte findet sich etwa in Karl Zehrer: Mit ruhigem Herzen vertraute er Gott. John Wesleys Leben und Wirken, Leipzig 2003, 98 – 118, oder (englisch) Henry D. Rack: Reasonable Enthusiast. John Wesley and the Rise of Methodism, London 2002, Part One, Kap. IV, der auch eine Diskussion der unterschiedlichen Einschätzungen bietet. 3 Die Ähnlichkeit dieser Erfahrung mit derjenigen des Paulus oder Martin Luthers hat Wilfried Härle in seinem Artikel: Allein aus Glauben! – Und was ist mit den guten Werken? dargelegt

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schrieb am 24. Mai 1738 in sein Tagebuch, er sei am Abend sehr ungern zur Versammlung einer religiösen Gemeinschaft in der Aldersgate Street gegangen, wo jemand Luthers Vorrede zum Römerbrief vorlas. Als der Leiter »ungefähr um Viertel vor neun« die Veränderung des Herzens beschrieb, die Gott durch den Glauben an Christus bewirkt, »spürte ich, wie mir seltsam warm ums Herz wurde. Ich fühlte, wie ich tatsächlich allein auf Christus und die Rettung durch ihn vertraute; ich bekam die Gewissheit geschenkt, dass er meine, ja meine Sünde weggenommen und mich vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit hatte.«4 »Aldersgate«, wie diese Erfahrung genannt wird, war nicht der Tag seiner Bekehrung zum Glauben, sondern »die Versetzung eines unglücklichen, gegen sein sündiges Wesen kämpfenden Christen in den Stand des getrosten Wissens um die Liebe Gottes«.5 Wesley hatte drei Jahre zuvor seine englische Heimat und die sichere Stellung eines Fellow am Lincoln College verlassen, um als Diasporapfarrer und Indianermissionar in die britische Kolonie Georgia zu reisen. »Mein Hauptmotiv, dem alle anderen untergeordnet sind«, so schrieb er in einem Brief von 1735, »ist die Hoffnung, meine eigene Seele zu retten.«6 In der Schlussphase eines längeren inneren Klärungsprozesses erfuhr Wesley die Gewissheit des ihm ohne Vorbedingungen geschenkten Heils und damit die Befreiung zu einem Leben aus der Gnade und Liebe Gottes. Damit wurde das Fundament seines Leben und Dienstes von Grund auf erneuert, auch wenn deren äußere Gestalt weithin unverändert blieb. Die Predigt der Rechtfertigung allein aus Gnade brachte ihm nicht nur den Ruf der »Schwärmerei« und Widerstand von allen Ebenen der Kirche ein, sondern sorgte auch, dem lutherischen Antinomerstreit nicht ganz unähnlich, Jahrzehnte später für Turbulenzen innerhalb der methodistischen Bewegung.7 Die Analogie von Wesleys »Aldersgate-Erfahrung« mit ihrer Vorgeschichte zu Luthers theologischer Biografie und seinem »Turmerlebnis« liegt nahe. Luther verließ im Sommer 1505 seine Universität Erfurt, um ins Kloster zu gehen. Der legendäre Blitzeinschlag bei Stotternheim war nur der Auslöser dafür, die Mönchsgelübde abzulegen; der tiefere Grund war seine Sorge, vor dem ge-

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(Theologie für die Praxis 31, 2005, 32 – 43; abgedruckt in: Ders.: Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt, Leipzig 2007, 156 – 167). Der englische Originaltext findet sich in fast allen Biografien und Darstellungen der Theologie John Wesleys; in der wissenschaftlichen Ausgabe seiner Werke: Band 18, Nashville 1988, 249 f. Michel Weyer : Die Bedeutung von »Aldersgate« in Wesleys Leben und Denken, in: Im Glauben gewiss (Beiträge zur Geschichte der EmK 32), Stuttgart 1988, 27. Zur Einschätzung dieser Erfahrung finden sich weitere Beiträge auch in: Randy L. Maddox (Hg): Aldersgate Reconsidered, Nashville TN (Kingswood Books), 1990. Works (Bicentennial Edition), Band 25: Letters (1980), 439. Näheres in Walter Klaiber / Manfred Marquardt: Gelebte Gnade, 2. Aufl., Göttingen 2008, 305 – 309.

Zur Bedeutung Luthers für John Wesley und die Evangelisch-methodistische Kirche

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rechten Gott nicht bestehen zu können. Aber das strenge Klosterleben brachte nicht die erhoffte Hilfe: »Er merkte: Bei all dem, was ich an kirchlichen Vorschriften erfülle, was ich auch an biblischen Geboten befolge, finde ich keinen Frieden mit Gott. Die Liebe zu Gott, die ich haben sollte, erbringe ich nicht.«8 »Ich liebte Gott nicht«, schrieb er im Rückblick auf jene Zeit, »ja, ich hasste (ihn) vielmehr« – was ihn nur noch tiefer in die Verzweiflung stürzte.9 Wieder und wieder versuchte er zu verstehen, was Gottes Gerechtigkeit ist, was sie verlangt und wie sie urteilt – mit immer demselben Ergebnis: Gott ist gerecht und straft die Sünder und Ungerechten. »Bis ich durch Gottes Erbarmen, Tage und Nächte darüber nachsinnend meine Aufmerksamkeit auf die Verbindung der Wörter richtete, nämlich: ›Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.‹ Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als diejenige, durch die der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich durch den Glauben, und dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes offenbart, und zwar die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben … Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und durch geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein« (ebd.).

Folgt man der überwiegenden Datierung (1518), dann waren Luther und Wesley 35 Jahre alt, als die Gewissheit des Heils durch Christus ihnen geschenkt wurde.10 Sie hat beide von dem langen und vergeblichen Bemühen frei gemacht, Gottes Gnade und Gefallen durch eigene möglichst perfekte Gesetzeserfüllung zu erreichen. Die Entsprechungen gehen freilich über diese Erfahrung und ihre theologische Interpretation hinaus. Wesley erwähnt ausdrücklich die Vorrede Luthers zum Römerbrief und die Beschreibung der »durch den Glauben an Christus bewirkten Veränderung des Herzens«: »Der wahre Glaube aber ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott … und den heiligen Geist mit sich bringt… Glaube ist eine lebendige, unerschütterliche Zuversicht auf Gottes Gnade, … (sie) macht fröhlich, beharrlich und angenehm vor Gott und allen Kreaturen, was der heilige Geist im Glauben bewirkt.«

Dann aber fährt Luther fort:

8 Wilfried Härle: Allein aus Glauben! Und was ist mit den guten Werken? Theologie für die Praxis 31, 2005, 37. 9 Vorrede zum ersten Band der lateinischen Schriften (1545), WA 54, 186, zitiert nach der Übersetzung von Michael Beyer, in: Martin Luther – Lateinisch-deutsche Studienausgabe, hg. von Wilfried Härle, Johannes Schilling und Günther Wartenberg, Band 2, Leipzig 2006, 505. 507. 10 Hinweis von Wilfried Härle, Allein aus Glauben! Und was ist mit den guten Werken?, Theologie für die Praxis 31, 2005, 38, Anm. 9.

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»Daher wird er [sc. der Glaube] ohne Zwang willig und bereit, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, alles zu leiden, Gott zu Liebe und Lob, der ihm solche Gnade erzeigt hat, so dass es unmöglich ist, die Werke vom Glauben zu scheiden, ebenso unmöglich, wie Brennen und Leuchten vom Feuer geschieden werden kann.«11

2.

Differenzen auf dem gemeinsamen Fundament

In drei wichtigen, miteinander verbundenen Aspekten distanzierte sich Wesley von Luthers Theologie, nachdem er im Laufe von Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche von England und angesichts von gesellschaftlichen Herausforderungen ein eigenes Verständnis der Rechtfertigung entwickelt hatte: 1. Die Erneuerung des Menschen durch Gottes Gnade umfasst Rechtfertigung und Heiligung als unterscheidbare Wirkungen. 2. Gottes Gnade schenkt Vergebung der Sünde und eröffnet einen Weg der Befreiung von der Macht der Sünde. 3. Gute Werke und Gottes Gebote bleiben für das Leben der Glaubenden wichtig.

2.1

Die Erneuerung des Menschen in Rechtfertigung und Heiligung

Wesley pries Luther an hervorragender Stelle für die mutige, klare, standhaft verteidigte Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben: »Aus diesem Grund tobt der Widersacher so wütend, wenn ›das Heil, das durch den Glauben kommt‹, der Welt verkündigt wird. Aus diesem Grund hat er die Erde und die Hölle in Bewegung gesetzt, um die zu vernichten, die es zuerst predigten. Und aus demselben Grund, wohl wissend, dass nur der Glaube die Grundfesten seines Reiches stürzen kann, hat er alle seine Heere aufgerufen und alle seine Künste der Lüge und Verleumdung angewandt, um jenen ruhmreichen Streiter des Herrn der Heerscharen, Martin Luther, davon abzuschrecken, dieses Evangelium wieder zum Leben zu erwecken.«12

Das Wirken der Gnade Gottes ist nach Wesley ein dreifaches: zuvorkommend (prevenient), rechtfertigend (justifying) und heiligend (sanctifying); entsprechend befinden sich erweckte Menschen – im Bild eines Hauses vorgestellt13 –

11 Vorrede zum Römerbrief (1522), WA DB 7, zitiert nach: Martin Luther, Gesammelte Werke, hg. von Kurt Aland, Göttingen, 31982, Band 5, 49 f. 12 Predigt 1: Das Heil, das durch den Glauben kommt (Salvation by Faith), III.9 (Lehrpredigten, Stuttgart 1986, 30). 13 J. Wesley : The Principles of a Methodist Farther Explained, Works ed. Jackson 8, 472. Zum

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erst im Vorraum, Gerechtfertigte sind durch das Tor des Glaubens in das Haus des christlichen Lebens eingetreten, in dem nun das Leben in der Heiligung gelebt wird. Hier kann durch Gottes Gnade wachsen, was durch eigenes, angestrengtes Bemühen nicht zu verwirklichen war : ein Leben aus der Liebe Gottes und im Gehorsam gegenüber seinem Willen. Das in der Initiation des christlichen Lebens wie eine zeitliche Folge erscheinende Wirken der Gnade ist jedoch hinsichtlich der Gnade selbst nicht zu trennen: es ist immer die eine Gnade, die zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise im Leben eines Menschen wirken kann. Nach Wesleys Verständnis hat die Heiligung ihren Ursprung in der Erfahrung der Liebe Gottes und ist in ihrem Wesen Liebe zu Gott und zum Nächsten. Wesley hat die Rechtfertigung und die Heiligung als Gottes Tun theologisch so zugeordnet, dass die erstgenannte Gottes Werk für uns, die zweitgenannte Gottes Werk in uns ist. Diese Dynamik der Gnade vermisst Wesley bei Luther, der nur die mit der Rechtfertigung geschenkte Heiligung vertritt.14 In einer späten Predigt hat sich Wesley ungewöhnlich scharf gegen diese Verkürzung der Rechtfertigung auf eine rein zugerechnete Gerechtigkeit gewehrt: »Es wurde oft bemerkt, dass sehr Wenige ein klares Urteil über Rechtfertigung und Heiligung haben. Viele, die bewundernswert über die Rechtfertigung gesprochen und geschrieben haben, hatten von der Heiligungslehre nicht nur kein klares Verständnis, ja, sie kannten sie überhaupt nicht. Wer hat besser über die Rechtfertigung allein aus Glauben geschrieben als Martin Luther? Wer aber kannte die Heiligungslehre weniger als er oder hatte ein so verworrenes Verständnis von ihr? Um sich von seiner völligen Unkenntnis im Blick auf die Heiligung zu überzeugen, braucht man nur vorurteilslos seinen berühmten Kommentar über den Galaterbrief zu lesen.«15

Wie für Luther ist auch für Wesley Gottes Wille in Christus erkennbarer Heilswille. Alle Menschen sind dazu bestimmt, gerettet zu werden. Von der syrophönizischen Frau (Mk 7, 28 par), so hätte Wesley mit Luther sagen können, sollen wir lernen, dass unter dem Nein Gottes, das wir hören, das tiefe heimliche Ja verborgen liegt.16 Mehr als Luther, der auch darauf hinweisen kann, dass die Wirken der Gnade vgl. jetzt vor allem: Theodor Runyon: Die neue Schöpfung. John Wesleys Theologie heute, Göttingen 2005, 33 – 115. 14 Näheres dazu in: Manfred Marquardt: In der Liebe wachsen. Das wesleyanische Verständnis der Heiligung, Una Sancta 54, 1999, 304 – 313. Darüber, ob auch die Heiligung eine »fremde«, nur in Christus bestehende, bleibe oder nicht den Glaubenden, gerechtfertigt, real verändern könne, haben Wesley und Zinzendorf unterschiedlich gedacht. Siehe Works of John Wesley 19 (Journal and Diaries II), 211 ff. Vgl. Peter Vogt: »Keine innewohnende Vollkommenheit in diesem Leben!« Theologie für die Praxis 30, 2004, 67 – 81. 15 Sermon 107: On God’s Vineyard (1787), I.5 (Übersetzung: MM). 16 Vgl. WA 17/2, 203,15 ff. Vgl. auch Paul Althaus: Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 5 1980, 60.

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Wirkungen der Gnade im Leben der Christen nicht verborgen bleiben, legt Wesley Wert auf die Früchte des Geistes als Bestätigung des Wirkens Gottes in uns. Mehr als Luther, der auch vom Wachsen des Glaubens reden kann, legt Wesley den Ton auf das Wachstum in der Heiligung, durch das auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber der Sünde und Anfechtungen zunehmen kann.

2.2

Vergebung der Schuld und Befreiung von der Macht der Sünde

Die durch Christus mit der Rechtfertigung ganz Geheiligten bleiben nicht dieselben, sondern werden durch Gottes Gnade nach ihrer ursprünglichen, aber durch die Sünde verzerrten Gottebenbildlichkeit erneuert. »Die Gerechtigkeit, die das Leben eines Christen charakterisiert, hat er nicht selbst erzeugt…, sondern sie ist vom Geist Christi hervorgebracht worden. Doch führt sie zu einem neuen Geschöpf, dessen Leben im Kern nicht dasselbe bleibt, sondern verwandelt wird, ein in Gott neu geborenes Geschöpf!«17 Gottes erneuerndes Handeln schafft nicht nur einen neuen Status coram deo, sondern erkennbare – überraschend schnell oder erst über längere Zeiträume sich zeigende – reale Veränderungen: ein positives Selbstwertgefühl (gerade auch bei den Armen und Ausgegrenzten), neue Verhaltensweisen und Beziehungen: »Nicht wenige, deren Sünden höchst augenfällig waren – Trinken, Fluchen, Stehlen, Hurerei, Ehebruch – wurden ›von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans zu Gott‹ geführt. Viele hingen in ihrer Bosheit fest; lange, vielleicht viele Jahre lang, hatten sie sich ihrer Schande gerühmt, bis ihre Haare grau wurden. Manche hatten… gerade einmal einen Schimmer von Glauben. Gott hat in diesen letzten Tagen seinen Arm für offenkundige Zöllner und Sünder offenbart; aber auch viele von den Pharisäern, den ›Gerechten, die der Buße nicht bedürfen‹, glaubten an ihn; sie haben, nachdem sie das Todesurteil über sich empfangen hatten, die Stimme gehört, die die Toten aufweckt, und sind eines inneren, lebendigen Glaubens teilhaftig geworden, nämlich der ›Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude im Heiligen Geist‹.«18

Weil das geschah und offen zutage lag und weil die Rechtfertigung nach Wesleys Überzeugung keine reine Statusveränderung oder nur zugerechnete Gerechtigkeit mit sich brachte, konnte er nicht hinnehmen, dass Gott sich mit seinem Urteil, der Gerechtfertigte sei gerecht, gewissermaßen täusche: »… dass er denkt, sie seien, was sie nicht sind; dass er sie anders einschätzt, als sie in Wirklichkeit sind. Sie bedeutet auf keinen Fall, dass Gottes Urteil der wahren Sachlage widerspricht; dass er uns für besser hält, als wir tatsächlich sind, oder glaubt, wir seien 17 Theodor Runyon, 104 (s. Anm. 13). 18 Wesley : Preface (1742) zum Journal vom 12. 8. 1738 bis zum 1. 11. 1739 (Works 19, 3, Übersetzung: MM).

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gerecht, wenn wir ungerecht sind. Sicherlich nicht! Das Urteil des allweisen Gottes entspricht immer der Wahrheit. Es wäre mit Seiner irrtumslosen Weisheit unvereinbar, mich für unschuldig zu halten oder für gerecht und heilig zu erklären, weil es ein anderer ist. Er kann mich auf diese Weise ebenso wenig mit Christus wie mit David oder Abraham verwechseln. Wenn irgendjemand, dem Gott Verstand gegeben hat, diese Frage vorurteilsfrei überdenkt, so muss er einsehen, dass eine solche Auffassung von der Rechtfertigung weder mit der Vernunft noch mit der Heiligen Schrift in Übereinstimmung zu bringen ist.«19

Wesley rechnet mit einer realen Veränderung des gerechtfertigten Sünders, die in seinem Leben Früchte zeitigt. Nicht dass nun zusätzliche Leistungen für den Prozess der persönlichen Heiligung zu erbringen oder immer »höhere« Stufen zu ersteigen wären, nein, Wesley hält daran fest, dass mit der Rechtfertigung sola gratia auch die Heiligung sola gratia geschieht. Sie aber lässt den Menschen nicht bleiben, wie er ist, sondern wieder werden, wozu er von Gott geschaffen wurde: zu Gottes Ebenbild. Das vollzieht sich vor allem als ein – aus der Beziehung zu Gott ermöglichtes und genährtes – Wachsen in der Liebe. Es geht Wesley nicht um einen sukzessiven ordo salutis, in dem Stufen des Wachstums einander ablösen, sondern um einen Weg des Heils, den Gott so mit Menschen geht, dass seine Gnade sich ihnen stets als zuvorkommende, als rechtfertigende und als heiligende zuwendet. Der menschliche Wille wird dadurch nicht ausgeschlossen oder außer Kraft gesetzt, vielmehr durch die Gnade so befreit, dass er sich an der Liebe Gottes ausrichten und im Tun der Nächstenliebe wirksam werden kann. So wird ein Leben der Heiligung möglich, in dem die vollkommene Liebe – trotz der Sünde und gegen ihre Kraft – gestaltend präsent ist. Wenn Wesley auch bei Luther selbst mehr Unterstützung für seine Position hätte finden können als er weiß, so bleibt doch eine unterschiedliche Akzentsetzung in der Sache: Zwar führt die Heiligung nicht zu einer ethischen Perfektion (so ist Wesley oft missverstanden worden), Gottes Gnade bewirkt aber eine Heilung von den Kräften der Sünde und eine Umgestaltung des glaubenden Menschen, so dass die Gesinnung Jesu sie mehr und mehr bestimmt, motiviert und zum entsprechenden Verhalten befähigt. Darum legt Wesley einen so großen Wert auf die Inanspruchnahme der Gnadenmittel (Abendmahl, Gebet, Gottesdienst, Bibelstudium u. a.)20, durch die Gott den Menschen die Gnade 19 Predigt 5: Die Rechtfertigung durch den Glauben, II.4 (Lehrpredigten, 95 f). Dass er damit die Frage anklingen lässt, ob Gottes Rechtfertigungsurteil als ein analytisches oder ein synthetisches zu verstehen sei, ist ihm natürlich nicht bewusst. Dem Verständnis dieses Urteils als eines performativen ist er aber (intuitiv) näher als spätere Kontrahenten. Vgl. zu diesem Problem Wilfried Härle: Analytische und synthetische Urteile in der Rechtfertigungslehre, NZSTh 16, 1974, 17 – 34. 20 Näheres dazu habe ich in meinem Artikel: Gnadenmittel – Kraftquellen für ein Leben mit

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zufließen lassen will, ohne die keine Erneuerung möglich ist. Zugleich wird das christliche Lebenszeugnis auch auf die Krankheiten der Gesellschaft eine heilende Wirkung ausüben.21 Heiligung ist also nicht nur eine Herzensangelegenheit, sondern zugleich eine Lebensrichtung, in die Gottes Geist einweist, indem er die Glaubenden leitet und mit der notwendigen Erkenntnis und Kraft erfüllt. Sie lebt aus der lebendigen Beziehung zu Gott, dessen Liebe das Heilmittel für alle Übel der Welt ist.22

2.3

Gute Werke und Gottes Gebote

Dem Erneuerer von Kirche und Nation war es natürlich ein Dorn im Auge, wenn der Gehorsam gegenüber Gottes Geboten oder gute Werke gering geschätzt oder gar als schädlich hingestellt (»stillness«) wurden. Sie waren nötig, wenn auch nicht für die Rechtfertigung, wohl aber – sofern Zeit und Gelegenheit dazu gegeben waren – für das Leben im Glauben, für den Dienst der Liebe und für die Überprüfung der eigenen Gottesbeziehung auf ihre Lebendigkeit. So konnte er auch gegen Luthers »Solafideismus«23 wettern, der sich u. a. darin zeigte, dass er den Jakobusbrief zu einer »strohernen Epistel« herabstufte.24 Wesley hörte hier keine Aufforderung zu einem ernsthaften Streben nach einer »Heiligung des Herzens und Lebens«, sondern sah eine Einstellung, nach der begnadigte Sünder

21

22 23

24

Gott dargelegt, in: Michael Nausner (Hg): Kirchliches Leben in methodistischer Tradition (Reutlinger Theologische Studien, Band 6), Göttingen 2010, 112 – 126. Darauf hat u. a. auch Jürgen Moltmann hingewiesen und hinzugefügt: »Das methodistische Zeugnis der persönlichen Heiligung wirkte nachweislich therapeutisch auf die Krankheiten der entstehenden Industriegesellschaft in England« (Der Geist des Lebens, München 1991, 185). So in seinem Earnest Appeal to Men of Reason and Religion (1744), Works 11, 45. Vgl. Manfred Marquardt: Praxis und Prinzipien der Sozialethik John Wesleys, 3., überarbeitete Auflage, Göttingen 2008, 32 f. Eine an Jak 2, 24 angelehnte Bezeichnung für die Auffassung, der Mensch werde allein aus Glauben gerechtfertigt. Der Ausdruck ist wohl in vortridentinischer Zeit als Vorwurf gegenüber Teilen der katholischen Reformbewegung des »evangelismo« in Italien entstanden, später von Kritikern der reformatorischen Rechtfertigungslehre auf Luther oder auch schon auf Augustin angewendet worden. Vermutlich hat Wesley ihn aber ohne Reflex auf diesen historischen Hintergrund verwendet. Zur Auseinandersetzung mit dem (angeblichen) Solafideismus Luthers vgl. Journal 4. 4. 1739 (WJW 19, 47); und Letters (ed. Telford, 1931), IV, 175 (»We are justified by faith alone and yet by such a faith as is not alone.‹‹) Für Wesley siehe sein Tagebuch vom 4. 4. 1739 (Works of JW 19, 47), für Luther seine Vorrede auf das Neue Testament (1522): »Darum ist der Jakobusbrief eine rechte stroherne Epistel gegen sie (sc. Joh, 1Joh, Paulus-Briefe); da er doch keine evangelische Art an sich hat«, und anders als die genannten »Hauptbücher« des NT nicht »Christus zeigen und dich alles lehren (kann), was dir zu wissen not und selig ist« (Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, hrsg. von Kurt Aland, Stuttgart und Göttingen, Bd. 5, 2., erweiterte und neubearbeitete Aufl. 1963, 43).

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frei sind, ihr bisheriges Leben unter Berufung auf eine »angerechnete Gerechtigkeit« (»imputed righteousness«) unverändert weiterzuführen. Er hätte jedoch Luther an seiner Seite sehen können, der beides zu unterscheiden wusste, ein vergebliches Bemühen um Gnade durch eigene Werke von einem wesentlichen Zusammenhang von Glauben und guten Werken: »Denn der wahrhaft Gerechte kommt durch den Glauben und die Gnade zu den Werken, der Heuchler aber erstrebt die Gnade in verkehrtem Eifer durch die Werke, d. h. nach etwas Unerreichbarem.«25 Freilich war sein Blick auf Luther durch die Auseinandersetzung mit einer Gruppe um den Herrnhuter Philipp Molther verengt, wie ein Eintrag in sein Tagebuch26 exemplarisch erkennen lässt: »Wie frevlerisch spricht er [sc. Luther] von guten Werken und vom Gesetz Gottes? Ständig verbindet er das Gesetz mit Sünde, Tod, Hölle oder Teufel! Er lehrt, dass Christus uns von ihnen gleichermaßen ›erlöst‹, während es aus der Heiligen Schrift ebenso wenig bewiesen werden kann, dass Christus uns vom Gesetz Gottes ›erlöst‹ wie von Heiligkeit oder vom Himmel. Hier (so sehe ich das) ist die wirkliche Quelle des kolossalen Irrtums der Herrnhuter. Sie folgen Luther zum Besseren wie zum Schlechteren. Daher (kommt) ihr ›keine Werke, kein Gesetz, keine Gebote‹. Wer bist du aber, dass du ›das Gesetz verleumdest oder verurteilst‹?« (Jak 4,11)

Gut zwanzig Jahre später klang Wesleys Einschätzung Luthers als des großen Erneuerers der Lehre von der Rechtfertigung ganz anders, wie ein Blick in die Predigt Der Herr unsere Gerechtigkeit zeigt. Wesley möchte den innerprotestantischen Streit zwischen lutherischen, calvinistischen und methodistischen Positionen zu einem Abschluss bringen, indem er das gemeinsame Fundament herausstellt: »Die Wahrheit, die in Jesus ist«, ist in den Worten (aus Jer 23) enthalten: »Der Herr (ist) unsere Gerechtigkeit«. Dies ist »eine Wahrheit, die tief in das Wesen des Christentums eindringt und sozusagen das ganze Gerüst stützt. Von ihr kann man zweifellos behaupten, was Luther von einer mit dieser eng verbundenen Wahrheit sagt: Sie ist der articulus stantis vel cadentis ecclesiae – die christliche Kirche steht oder fällt mit ihr. Sie ist wirklich Säule und Grund des Glaubens, durch den allein das Heil kommt; nämlich des katholischen oder universalen Glaubens, der bei allen Kindern Gottes zu finden ist…«27

Er stimmt zu, dass die Glaubenden durch die zugerechnete Gerechtigkeit Christi, durch den Glauben, nicht durch Werke, gerechtfertigt seien.28 Dennoch glaube er 25 Vorlesung über den Hebräerbrief (1517/1518), Luther deutsch, Bd. 1, 1969, 332. Ähnlich in der Vorrede zum Römerbrief und anderen Orten. 26 Am 15. Juni 1741 (Works 19, 201; Übersetzung MM). 27 Predigt 20: Der Herr unsere Gerechtigkeit (1765), 4 (Lehrpredigten, 363). 28 Predigt 20, II.9 f, (Lehrpredigten, 369). Er zitiert dazu Zinzendorfs Lied »Christi Blut und

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an eine »innewohnende eigene Gerechtigkeit«, nicht »als Grund für unsere Annahme bei Gott, wohl aber als ihre Frucht; nicht anstelle der zugerechneten Gerechtigkeit, sondern als ihre Folge«.29 Wesley verlässt also die Basis der Rechtfertigung sola fide, solo Christo, sola gratia nicht, wenn er in Bezug auf die Bedeutung der guten Werke, des Wortes Gottes als Gesetz und der realen Erneuerung der Gläubigen andere Akzente setzt als Luther. Der Reformator stellte sich – kurz gesagt – gegen ein kirchliches Lehrsystem und seine Konsequenzen, in dem die Gewissheit des Heils nur ein Gegenstand der Hoffnung war und die Zurechnung der Verdienste Christi in der Hand der Kirche lag, während John Wesley gegen eine oberflächliche Rechtgläubigkeit (»form of religion«), eine Geringschätzung der guten Werke und ethische Fehlentwicklungen in Kirche und Gesellschaft anzugehen versuchte. In diesem Kontext versteht Wesley auch die Funktion des Wortes Gottes als Gesetz im Unterschied zum Evangelium nicht nur im Sinn des usus politicus und des usus elenchticus legis, sondern auch im calvinischen Verständnis eines tertius usus. In diesem Sinne hat es eine heilsame Funktion für die Einzelnen wie für die Gemeinde, die darin besteht, »uns am Leben zu erhalten«. Die Gebote sind trotz ihres gebietenden Charakters auch Verheißungen der Gnade Gottes, die Einsicht und Kraft zu ihrer Erfüllung schenkt. Unter der Wirkung des Heiligen Geistes wird das Gesetz ein Gnadenmittel, das uns »angesichts unserer Unzulänglichkeit im Blick auf die Erfüllung der Gebote in der Hoffnung bestärken (soll), dass wir Gnade um Gnade empfangen, bis wir die Fülle Seiner Verheißungen wirklich besitzen«.30 In eigenmächtigem Gebrauch durch den Menschen, ohne die Wirkung des Heiligen Geistes, kann das Gesetz freilich sowohl zur Verzweiflung als auch zur Selbstgerechtigkeit führen. Darum soll es als Einführung in die christliche Freiheit und in ihre Gestaltung gemäß der Gesinnung Christi, der Liebe, ausgelegt und gepredigt werden. Denn »Liebe ist das Ziel aller Gebote Gottes. Die Liebe ist … das einzige Ziel aller Weisungen Gottes…«31 Diese Liebe ist ihrerseits ein Geschenk der Gnade Gottes, durch die Freiheit empfangen, gelebt und bewahrt werden kann. Wesley stand trotz gelegentlicher Differenzen auch innerhalb der methodistischen Konferenz zu der Überzeugung, dass für die Rechtfertigung allein der Glaube und in keinem Fall gute Werke notwendig sein können, dass sich aber die Aufrichtigkeit des Suchens wie die Lebendigkeit des Glaubens auch in guten Werken erweisen, die aus der Liebe zu Gott und den Menschen erwachsen und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid«, das er selbst ins Englische übertragen hatte. 29 Predigt 20, II.12 (Lehrpredigten, 370). 30 Predigt 34: Ursprung, Wesen, Eigenschaften und Funktion des Gesetzes (1750) IV.4 (Lehrpredigten, 674). 31 Predigt 36: Das durch den Glauben aufgerichtete Gesetz (Röm 3,31) (Lehrpredigten, 702).

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gerade so die Gebote Gottes erfüllen. Gute Werke sind sowohl die der Frömmigkeit (works of piety), der Gebrauch der von Gott gegebenen Gnadenmittel (Abendmahl, Gebet, Bibelstudium, Gottesdienst u. a.)32, durch die wir seine Gnade empfangen, als auch Werke der Barmherzigkeit (works of mercy), durch die wir die erfahrene Liebe Gottes im Dienst für andere weitergeben. Bei einem recht verstandenen und gelebten »allein aus Glauben« bleibt der Glaube nicht allein, sondern wird durch die Liebe tätig und bringt Frucht. Wesley hielt daran fest, dass »wir, gerechtfertigt durch seine Gnade, die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen haben«.33 Sein Lieblingsmotto in diesem Kontext blieb darum: »In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist« (Gal 5, 6). Die dem Glauben entsprechende konkrete Gestaltung des individuellen und sozialen Lebens in seinen jeweiligen Zusammenhängen und angesichts der tatsächlichen Herausforderungen ist den Christen auf diesem Fundament stets neu aufgegeben.

3.

Lehrgespräche zwischen lutherischen und methodistischen Kirchen

Aus Platzgründen überspringen wir die überwiegend schwierige Geschichte der Beziehungen zwischen den lutherischen und den methodistischen Kirchen in Deutschland bis zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (1948)34, an der sie von Anfang an beteiligt waren. Stattdessen wähle ich zwei Beispiele von Lehrgesprächen aus der jüngeren Vergangenheit, in denen die Thematiken von Gesetz und Evangelium sowie der Rechtfertigungslehre in mehreren Schritten verhandelt wurden. Die erste Gesprächsreihe fand innerhalb der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa35 statt, zu der die metho32 Vgl. dazu Wesleys Predigt 16, Die Gnadenmittel (Lehrpredigten, 287 – 310), und meinen in Anm. 14 genannten Artikel. 33 Predigt 12: Das Zeugnis unseres eigenen Geistes (Lehrpredigten, 226). 34 Gründungsmitglieder der ACK waren 1948 die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (Baptisten), die Methodistenkirche in Deutschland und die Evangelische Gemeinschaft in Deutschland, die Vereinigung der deutschen Mennonitengemeinden und das Katholische Bistum der Alt-Katholiken. Erster Vorsitzender wurde Martin Niemöller. 35 Die Lehrgesprächsgruppe wurde 1994 in Wien eingesetzt und hatte die Aufgabe, über das Thema »Gesetz und Evangelium«, »besonders im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen«, zu arbeiten. Der fertige Text wurde als ein »beachtlicher Beitrag zur Klärung der innerreformatorischen Differenzen« und als Hilfe »für die ethische Urteilsbildung in den Kirchen« den Mitgliedskirchen zugeleitet »mit der Bitte, ihn bei Äußerungen zu ethischen Fragen zu berücksichtigen.« Siehe Leuenberger Texte 10: Gesetz und Evangelium, Frankfurt am Main 2007.

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distischen Kirchen seit 1997 gehören, die zweite wurde zwischen dem Lutherischen Weltbund, dem Reformierten Weltbund, dem Einheitssekretariat der römisch-katholischen Kirche und dem Weltrat methodistischer Kirchen (WMC) geführt36 und mit der Offiziellen gemeinsamen Bestätigung durch die lutherischen, römisch-katholischen und methodistischen Leitungsgremien37 2006 abgeschlossen.

3.1

Gesetz und Evangelium – auch im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen (2005)

Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) hatte eine Arbeitsgruppe eingesetzt mit der doppelten Zielrichtung, einerseits den Klärungsprozess zwischen den reformatorischen Kirchen fortzuführen und andererseits Leitlinien für ethische Fragestellungen zu erarbeiten. Diese doppelte Zielrichtung hat dem Ergebnis der Arbeitsgruppe nicht zu einer für »Leuenberg« gewohnt hohen Akzeptanz in den Mitgliedskirchen verholfen. Der Grund dafür lag weniger in einer unzureichenden Klärung der lehrmäßigen Aussagen über Gesetz und Evangelium als in unterschiedlichen Auffassungen der verschiedenen kirchlichen Leitungsgremien in Bezug auf die Art und den Grad der Bedeutung, die Gesetz und Evangelium in ihrer Zuordnung zueinander als zwei Weisen, in denen Gott sich in seinem Wort offenbart, für heutige ethische Entscheidungen haben oder haben können. Für Lutheraner war vor allem das (reformierte und methodistische) Verständnis eines tertius usus legis ein problematischer, wenn nicht abzulehnender Standpunkt. Dass damit gerade auch ein methodistisches Grundanliegen umstritten blieb, legt die Fortsetzung dieses Dialogs nahe. Ich werde mich hier auf die Darstellung der methodistischen Position beschränken, da das offiziell angenommene Gesprächsergebnis im Gesamtwortlaut verfügbar ist (s. Anm. 35). Die Ursprünge der methodistischen Bewegung im Kontext einer sich tiefgreifend verändernden gesamtgesellschaftlichen Lage haben dem Methodismus ein eigenes Gepräge innerhalb des Protestantismus gegeben. Es ist gekennzeichnet durch eine enge Verknüpfung zweier Grundaussagen der neutestamentlichen Botschaft: der Verkündigung der freien Gnade Gottes, durch die das 36 Nach dem Auftakt methodistischer Lehrgespräche zwischen dem Einheitssekretariat in Rom und dem Weltrat methodistischer Kirchen (seit 1967) wurden seit dem Ende der 1970er Jahre Lehrgespräche auf internationaler Ebene (Lutherischer Weltbund, World Alliance of Reformed Churches) geführt, die in den meisten Fällen die Erklärung von Kirchengemeinschaft zur Folge hatten. 37 Der Reformierte Weltbund hat sich nach der ersten Gesprächsrunde (2001) aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage gesehen, den Weg der drei anderen Partner mitzugehen.

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Heil in Christus allen Menschen zugesagt wird (Rechtfertigung), und der Betonung der Gnade Gottes, die das ganze Leben der Glaubenden durchdringt (Heiligung). In beiden Geschehenszusammenhängen ist Gott der souverän Handelnde, dessen Gnade zum Glauben befreit, im Glauben empfangen und in der Liebe wirksam wird. In der Nachfolge Christi und der geschwisterlichen Gemeinschaft werden die Glaubenden befähigt, Gottes Willen zu verstehen und sich an ihm auszurichten. Gottes Geist erneuert die durch die Sünde beschädigte und verkehrte Gottebenbildlichkeit des Menschen in das Bild Christi, dessen Gesinnung zum Leitmotiv christlichen Existenzvollzugs werden soll. »Gottes Gnade schafft die Voraussetzung für Glaubensantwort und Christusnachfolge.«38 Welche Bedeutung haben in diesem Geschehen Gesetz und Evangelium? Das Gesetz ist in Wesleys Theologie in erster Linie die eine Seite der Offenbarung Gottes, schon den ersten Menschen »mit dem Finger Gottes in ihr Herz geschrieben«39. Zwischen Gesetz und Evangelium besteht, obwohl sie voneinander zu unterscheiden sind, kein wirklicher Gegensatz; beide haben vielmehr als unterscheidbare Weisen des Redens Gottes unterschiedliche Aufgaben. Die Verkündigung des Gesetzes ist nötig um des rechten Verständnisses des Evangeliums willen, um es nicht in sentimentale oder belanglose Rhetorik verkommen zu lassen. Die Verkündigung des Evangeliums ist nötig, um das gute Gesetz Gottes zu verstehen und seine Verurteilung durch den im Glauben gehörten Freispruch der Gnade Gottes außer Kraft zu setzen. »Auf der einen Seite bereitet das Gesetz fortwährend dem Evangelium den Weg und weist uns darauf hin; auf der anderen Seite leitet uns das Evangelium fortwährend zu einer genaueren Erfüllung des Gesetzes an.«40 Das Gesetz hat – so Wesley mit Paulus und Luther – überführenden Charakter. Das wird etwa daran deutlich, dass es von uns fordert, »Gott und unseren Nächsten zu lieben, demütig, sanftmütig und heilig zu sein«, uns aber erkennen lässt, »dass wir dazu nicht fähig sind, ja, dass ›dies bei den Menschen unmöglich ist‹.« Als Evangelium hören wir dasselbe Wort Gottes als »eine Verheißung«, »nach der Er uns diese Liebe geben und uns demütig, sanftmütig und heilig machen wird«. Dieselben Worte können – »von verschiedenen Blickpunkten her betrachtet« – »Teil des Gesetzes wie auch des Evangeliums« sein. (Ebd.) Insofern sind die Gebote trotz ihres gebietenden Charakters auch Verheißungen der Gnade Gottes, die Einsicht und Kraft zu deren Erfüllung schenkt. 38 Grundlagen der Lehre und der theologische Auftrag der Evangelisch-methodistischen Kirche, in: Verfassung, Lehre und Ordnung der EmK, Ausgabe 2010, Frankfurt am Main 2011, 52. 39 Predigt 34: Ursprung, Wesen, Eigenschaften und Funktion des Gesetzes (Röm 7,12) (Lehrpredigten, 661 ff.). 40 Predigt 25: Über die Bergpredigt unseres Herrn V (Lehrpredigten, 483).

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Den Glaubenden sollte darum das Gesetz auch als Beschreibung der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes und ihrer lebenspraktischen Gestaltung gepredigt werden. Denn Liebe ist ja »das Ziel aller Gebote Gottes«, ja »das einzige Ziel aller Weisungen Gottes… Sie wird bestehen bleiben, wenn Himmel und Erde vergehen. Denn allein ›die Liebe höret nimmer auf‹.«41 Doch diese Liebe ist ihrerseits allein Geschenk der Gnade Gottes, ohne die Freiheit weder zu gewinnen noch zu bewahren ist. Unter dem Wirken des Geistes wird das Gesetz zu einem Gnadenmittel, das Christen in der Hoffnung bestärkt, die Fülle der Verheißungen zu empfangen.42 Wesley hat das Gesetz nicht legalistisch verstanden. Liebesgebot und naturrechtliches Denken haben ihn – etwa in der Auseinandersetzung um den Sklavenhandel, aber nicht nur dort – davon überzeugt, dass die Berufung auf den Wortlaut biblischer Normen nicht immer dem Willen Gottes entspricht. In seiner Annahme einer Offenbarung des (»natürlichen«) Sittengesetzes außerhalb der biblischen Tradition spielen auch aufklärerisch-naturrechtliche Gedanken eine Rolle.43 Schließlich ist mit dieser Zuordnung von Gesetz und Evangelium auch der Zusammenhang von Glauben und guten Werken in der methodistischen Theologie stark akzentuiert worden. Ohne an der Lehre von der Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben zu rütteln, ist der biblisch-reformatorische Gedanke von den guten Werken als den Früchten des Glaubens deutlich hervorgehoben worden. Vor dem Hintergrund einer sterilen Rechtgläubigkeit, in der der »Herzensglaube« zugunsten eines Festhaltens an orthodoxen Auffassungen an Bedeutung verloren hatte, wird die wesentliche Zusammengehörigkeit von Glauben und guten Werken als Wirksamwerden der Liebe zu Gott und den Mitmenschen betont. Wesley könnte sich in Calvins Worten gut wiederfinden: »Wir träumen nicht von einem Glauben, der leer wäre von allen guten Werken, auch nicht von einer Rechtfertigung, die ohne gute Werke bestünde…, aber wir begründen die Rechtfertigung auf den Glauben und nicht auf die Werke!… Christus rechtfertigt keinen, den er nicht zugleich heiligt!«44 Ebenso würde Wesley Luther zustimmen: »Christus wird in uns fort und fort gebildet, und wir werden nach seinem Bilde gebildet, so lange wir leben. Derhalben, wiewohl wir ohne Gesetz und des Gesetzes Werke gerecht werden, so leben wir doch im Glauben nicht ohne Werke.«45 Die Nähe zu Calvin ist hier jedoch größer als die zu 41 Predigt 36: Das durch den Glauben aufgerichtete Gesetz (über Röm 3,31) ( Lehrpredigten, 702). 42 Predigt 34 (Lehrpredigten, 674). 43 Vgl. Manfred Marquardt: Praxis und Prinzipien (s. Anm.22), 94 – 96. 44 Calvin, Institutio Christianae religionis, 1559, III, 16, 1 (Übersetzung von Otto Weber). 45 5. Disputation über Röm 3,28 am 1. 6. 1537, WA 39/I, 202ff (deutsch nach Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, Berlin 41964, 124 f). Vgl. ferner Otto Hermann Pesch /

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Luther. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Frage des Verhältnisses von Glaube und Werken und damit von Evangelium und Gesetz im 18. Jahrhundert eine theologische Lösung forderte, die sich neuen Herausforderungen stellte.

3.2

Die Offizielle gemeinsame Bestätigung der Gemeinsamen Erklärung über die Rechtfertigungslehre (2006)46

Dieser letzte Abschnitt meiner Ausführungen soll noch einmal mit Hilfe eines Beispiels die internationale Entwicklung in den Blick rücken. Diese weitere Perspektive soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass theologische Einflüsse Luthers und der lutherischen Kirchen auf ihre Nachbarn in Europa stärker waren als in anderen Kontinenten; inzwischen haben aber sowohl die engeren ökumenischen Beziehungen zwischen den meisten christlichen Kirchen als auch weltweit ähnliche Herausforderungen, denen sie sich gegenüber sehen, dazu geführt, die Jahrhunderte alten »landeskirchlichen«, national oder regional, sprachlich oder kulturell orientierten Grenzen zu überschreiten. Mit ihren jeweiligen »Weltbünden« haben die protestantischen Kirchen Gesprächspartner, die Dialoge auf der globalen Ebene sowohl miteinander als auch mit anderen Kirchen, sowohl bilateral als auch multilateral führen können. Die nationalen und internationalen Lehrgespräche zwischen offiziellen lutherischen und methodistischen Gesprächspartnern haben in den letzten drei Jahrzehnten vielfach zu Erklärungen von Kirchengemeinschaft geführt, d. h. in der Regel zur gegenseitigen Anerkennung als christliche Kirchen, deren Differenzen in der Lehre und Praxis keinen kirchentrennenden Rang haben, zur gegenseitigen Anerkennung der kirchlichen Ämter und Amtshandlungen sowie zur Selbstverpflichtung, weitere Schritte auf dem Weg zum gemeinsamen christlichen Zeugnis und Dienst in einer klarer sichtbar werdenden Einheit zu gehen – gemäß dem von Jesus vorgegebenen Ziel, »damit die Welt glaube«.47 Nach mehreren Gesprächsrunden hatte eine Kommission des Lutherischen Weltbundes und des Weltrats methodistischer Kirchen bereits 1984 – also vor dem Abschluss der Lehrgespräche zwischen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelisch-methodistischen Kirche, Albrecht Peters: Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt, 31994, 164 f, die WA 39/I, 96,6 zitieren: »Opera sunt necessaria ut testentur nos esse iustos.« 46 Eine ausführlichere Darstellung dieses Prozesses findet sich in meinem Artikel: Einig in Sachen Rechtfertigung, in: Christoph Raedel / Burkhard Neumann (Hg): Als Beschenkte miteinander unterwegs. Methodisten und Katholiken im Dialog, Göttingen 2010, 108 – 123. 47 Die bisher letzte Erklärung von lutherisch/methodistischer Kirchengemeinschaft wurde in den USA zwischen der größten lutherischen Kirche (ELCA) mit 4,7 Millionen Mitgliedern und der United Methodist Church (UMC) mit 8 Millionen Mitgliedern vollzogen.

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deren Ergebnis dann auch von den anderen Kirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland angenommen wurde – ein gemeinsames Dokument unter dem Titel »Die Kirche – Gemeinschaft der Gnade« verabschiedet. Das ist schon insofern bemerkenswert, als sich in methodistischen Kirchen ohne unmittelbare Nachbarschaft zu lutherischen Kirchen simplifizierende Auffassungen über »die Lutheraner« hielten, wie umgekehrt und oft in höherem Maße in lutherischen Landeskirchen tradierte Vorstellungen über den Methodismus genauere Kenntnis vermissen lassen. Die internationale lutherisch-methodistische Dialogkommission hat diese Auffassungen nicht beiseite gelegt, sondern ausdrücklich erörtert; außerdem hat sie ihre Sitzungen in verschiedenen Teilen Europas und Nordamerikas durchgeführt und dort Kontakt mit den örtlichen Gemeinden und Kirchenvertretern aufgenommen. Das Ergebnis dieser Gesprächsreihe ist seit seiner Veröffentlichung 1984 Impetus und Fundament weiterer Dialoge geworden, zu denen auch der deutsche, 1987 abgeschlossene48, gehört. Bemerkenswert ist fernerhin, dass beide Partnerkirchen »die Ausdrucksformen ihres Glaubens und Lebens, ihres Ethos und ihrer Kirchenverfassung« als »Ergebnis einer bestimmten Entstehungsgeschichte und der sich daraus ergebenden weiteren Entwicklungen« ansehen49 und diese Perspektive für ihre Verstehensbemühungen fruchtbar machen. »Das Luthertum begann als eine Reformbewegung innerhalb der spätmittelalterlichen Kirche und erhielt seine spezifische Identität in der Überzeugung, im Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes und in Kontinuität mit den Kirchenvätern grundlegende christliche Wahrheiten wiederentdeckt und neu ausgesprochen zu haben. Seine Identität wurde auch geprägt durch seine Unterscheidung von und seinen Konflikt mit der Römisch-Katholischen Kirche einerseits und den Anabaptisten, und teilweise auch der reformierten Tradition, andererseits. Der Methodismus entstand in einem völlig anderen Kontext und zu einem späteren Zeitpunkt. Der Kontext seiner Entstehung war die anglikanische Tradition. Der Methodismus war eine Reformbewegung, die allen Menschen, vor allem den vernachlässigten Massen innerhalb und außerhalb der Kirche, ein auf die Heilige Schrift gegründetes Christentum bringen wollte. Er entwickelte seine spezifische Identität als Reaktion auf den immer stärker werdenden Unglauben des Aufklärungsdenkens und im Rahmen der sich rasch verändernden menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse im neuen Zeitalter der Industrialisierung und Urbanisierung.«50 48 Vom Dialog zur Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, Hannover/ Stuttgart 1987. 49 Die Kirche: Gemeinschaft der Gnade (1984), in: Dokumente wachsender Übereinstimmung (DwÜ), Band 2, Paderborn/Frankfurt am Main 1992, 233 f. 50 DwÜ 2, 234. Dazu müsste hinzugefügt werden, dass Wesley die Aufklärung nicht vorwiegend negativ aufnahm, sondern sich bewusst an die »Menschen von Vernunft und Religion« wandte. Vgl. seine ausführlichen Appeals to Men of Reason and Religion (1743 – 45), Works 11, 37 – 325.

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Keine wesentlichen Unterschiede wurden in Bezug auf die Autorität der Heiligen Schrift und den Sendungsauftrag der Kirche notiert. Die Kapitel über die Kirche und die Gnadenmittel stellen Differenzen fest, die sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit aus dem voranstehenden Thema »Erlösung aus Gnade durch den Glauben« ergeben. Einigkeit besteht hinsichtlich der Überzeugung, dass »die Rechtfertigung das Werk Gottes in Christus ist und allein durch den Glauben51 geschieht«. Dann heißt es aber : »Methodisten verstehen Rechtfertigung durch den Glauben an Jesus Christus … als etwas, das das ganze christliche Leben durch Gottes Handeln und persönliche Aneignung initiiert und somit bestimmt. Lutheraner glauben, dass Gott in der Rechtfertigung unmittelbar und beständig Vergebung, Gerechtigkeit und ewiges Leben schenkt. Christen sind daher in jedem Augenblick abhängig von Gottes rechtfertigender Gnade und kommen niemals über den Stand gerechtfertigter Sünder hinaus. Für beide Traditionen sind die Christen ihr ganzes Leben lang angewiesen auf Gottes vergebende Gnade.«52

Im anschließenden Abschnitt über die Heiligung kann – wie erwartbar – gesagt werden, dass sie »ein Werk der Gnade Gottes« sei. Nicht erwartbar stimmen beide Partnerinnen auch darin überein, dass »Heiligung einerseits verstanden wird als Gottes abgeschlossenes und vorweggenommenes [completed and anticipated] Handeln, wenn er Menschen rechtfertigt und versöhnt. Andererseits ist Heiligung Wirken Gottes, das sich im Leben des Christen, das im Heiligen Geist geführt wird, ständig vollzieht.« Hier haben beide Seiten erkennbar konvergierend formuliert. Dann aber heißt es kontrovers und klar, dass (lutherisch) die Gerechtfertigten »gleichzeitig doch Sünder vor Gott bleiben (simul justus et peccator)« bzw. (methodistisch) »der neugeborene Christ in sich ständig vertiefender und immer fruchtbarerer Liebe zu Gott und seinen Mitmenschen lebt«. (Nr. 25) Der nächste Abschnitt über Gehorsam und gute Werke überbrückt diesen Dissens nicht, aber zum Schluss dieses Kapitels wird wieder gemeinsam betont, dass »Gottes schöpferische und erhaltende Gnade in der Welt und im Leben der Menschen ständig gegenwärtig ist« und Gott als »Früchte des Heilshandelns Christi« den Menschen »Sündenvergebung und ewiges Leben« schenkt. (Nr. 27) An dieses Abschlussdokument, das ohne Unterdrückung oder Übermalung der Differenzen Kirchengemeinschaft zwischen lutherischen und methodistischen Kirchen empfiehlt, knüpft Geoffrey Wainwright53, methodistischer 51 Nicht »durch den Gläubigen«, wie DwÜ das Original »comes through faith alone« übersetzt hat! (a. a. O. 238). 52 A.a.O. Nr. 23, 238. 53 1976 – 91 Mitglied der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des ÖRK, seit 1986

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Theologe, in einem Beitrag über die lutherisch/katholische »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (1999) und den Protest von (lutherischen) Hochschullehrern an. Er stellt die Frage, warum »ein schlichter Methodist (sich) in diese Affäre einmischen« sollte, und antwortet: »Weil kein Christ – wenigstens kein ökumenisch gesinnter Christ – ein Außenseiter ist, wenn es um die Einheit der Kirche Christi geht« und weil »schon 1987« zwischen der EmK und der VELKD sowie den anderen Mitgliedskirchen der EKD »Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zu erklären und zu feiern« gelungen ist, danach auch in anderen Ländern und schließlich die Aufnahme der methodistischen Kirchen Europas in die Leuenberger Kirchengemeinschaft (GEKE) vollzogen wurde.54 In allen diesen »erfolgreichen« Gesprächen ist einerseits eine wesentliche Gemeinsamkeit im Verständnis des Evangeliums sowie in der Lehre von Rechtfertigung und Heiligung von grundlegender Bedeutung gewesen und andererseits der für eine Kirchengemeinschaft als ausreichend festgestellte Konsens stets als Ausgangsbasis für weitergehende und das Leben der Kirchen insgesamt einbeziehende Zukunftsperspektiven verstanden worden. Konzentrieren wir uns noch einmal auf die Frage der Bedeutung Luthers und der lutherischen Lehre für die methodistische Lehre, dann lässt sich an der »Methodistischen Stellungnahme« zur »Gemeinsamen Erklärung« sehr gut erkennen, worin die Übereinstimmung und die unterschiedlichen Akzentsetzungen bestehen und wie sie in der für einen solchen Text üblichen knappen Ausdrucksweise beschrieben werden. Auf der einen Seite werden die Absätze 15 – 17 der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) begrüßt, weil sie das »gemeinsame Verständnis der Rechtfertigungslehre« darlegen, wie es »der methodistischen Lehre entspricht«.55 Diese drei Abschnitte lauten: »(15) Es ist unser gemeinsamer Glaube, dass die Rechtfertigung das Werk des dreieinigen Gottes ist. Der Vater hat seinen Sohn zum Heil der Sünder in die Welt gesandt. Die Menschwerdung, der Tod und die Auferstehung Christi sind Grund und Voraussetzung der Rechtfertigung. Daher bedeutet Rechtfertigung, dass Christus selbst unsere Gerechtigkeit ist, derer wir nach dem Willen des Vaters durch den Heiligen Geist teilhaftig werden. Gemeinsam bekennen wir : Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Ko-Vorsitzender der Dialogkommission des WMC und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. 54 Rechtfertigung: lutherisch oder katholisch? KuD 45, 1999, Heft 3, 182 – 206, abgedruckt in: Methodistische Stimmen zur Römisch-katholischen – Lutherischen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, EmK-Forum 18, Stuttgart 2000, 6 – 36, hier 15. 55 Methodistische Stellungnahme, in deutscher Sprache zugänglich als pdf-Datei unter : http:// www.umc-europe.org/world_methodist_council_d.php. Abgedruckt in: Una Sancta 61, 2006, 252 – 256, dem Dokumentationsband Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, hg. von Friedrich Hauschildt, Göttingen 2009, 1078 – 1084, hier Nr. 2, und in Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 4, Paderborn und Leipzig 2012, 1158 – 1162.

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Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken. (16) Alle Menschen sind von Gott zum Heil in Christus berufen. Allein durch Christus werden wir gerechtfertigt, indem wir im Glauben dieses Heil empfangen. Der Glaube selbst ist wiederum Geschenk Gottes durch den Heiligen Geist, der im Wort und in den Sakramenten in der Gemeinschaft der Gläubigen wirkt und zugleich die Gläubigen zu jener Erneuerung ihres Lebens führt, die Gott im ewigen Leben vollendet. (17) Gemeinsam sind wir der Überzeugung, dass die Botschaft von der Rechtfertigung uns in besonderer Weise auf die Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Christus verweist: Sie sagt uns, dass wir Sünder unser neues Leben allein der vergebenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur schenken lassen und im Glauben empfangen, aber nie in welcher Form auch immer verdienen können.«

Doch begnügt sich die methodistische Seite nicht mit einer bloßen Zustimmung zu den koinzidierenden Überzeugungen, sondern stellt außerdem sieben Punkte, die »ihrer eigenen Lehre von der Rechtfertigung ihr bestimmtes Profil gegeben« haben, als eigenen Beitrag hinzu. Sie lauten in gekürzter Fassung: (1) Die verderbte menschliche Natur kann von uns selbst nicht geheilt werden; doch Gottes zuvorkommende Gnade befähigt und befreit den Menschen, Gottes Ruf zu hören und darauf zu antworten, zwingt ihn aber nicht. (2) Gottes Heilshandeln schließt Rechtfertigung und Heiligung, Gerechtsprechung und Gerechtmachung ein. Beides, die »erlösende Annahme in die Gemeinschaft mit Gott und die schöpferische Erneuerung unseres Lebens« sind ganz Gottes Werk. (3) Durch den Glauben werden wir gerettet, im Glauben überlassen wir uns dem Wirken der Gnade und der Liebe Gottes. »Darum ist der echte christliche Glaube ein Glaube, der in der Liebe tätig ist.« Auch hier gilt: Glaube und Liebe gehören zur »Wirklichkeit des göttlichen Heils«, sie sind nicht »das Ergebnis menschlichen Bemühens«. (4) Die Theologie der Gnade schließt die Gewissheit der Vergebung der Sündenschuld und die Verheißung der Befreiung von der Macht der Sünde ein. Wesleys Lehre von der christlichen Vollkommenheit bezieht sich nicht auf eine absolute Vollkommenheit, sie ist in ihrem Wesen Liebe zu Gott und zum Nächsten. Sie bleibt Gottes Gabe, die Gefahr des Rückfalls ist aber nicht auszuschließen oder zu leugnen. Vielmehr haben Christen ihr ganzes Leben lang mit Versuchung und Sünde zu kämpfen. Sie werden darin »durch die Verheißung des Evangeliums gestärkt, dass Gott in Christus die Macht der Sünde gebrochen hat«. (5) Gesetz und Evangelium sind »Ausdruck von Gottes Wort und Gottes Willen.« Das Gesetz dient »zur Orientierung auf dem Weg des Lebens und des Guten« und ist im Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten zusammengefasst. »Gott rettet uns und gibt uns Leben durch die Liebe« in Christus, so dass das Gesetz keine Kraft mehr

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hat, die in Christus sind zu verdammen. Dennoch ist es ein unverzichtbarer Führer zum Willen Gottes. (6) Gewissheit des Glaubens und des Heils sind kein sicherer Besitz, sondern Vertrauen auf die Beziehung zu Gott, die im Gebrauch der Gnadenmittel gelebt wird. Durch sie lässt Gott uns seine Gnade zukommen. Die durch das Zeugnis des Heiligen Geistes geschenkte Gewissheit, dass wir Kinder Gottes sind, ist »die Quelle von Frieden und Freude« im Leben der Glaubenden. (7) Werke der Frömmigkeit und Werke der Barmherzigkeit sind »Früchte des Geistes im Leben derer, die Jesus nachfolgen«. Sie helfen, die Gemeinschaft mit Gott zu leben, Mitarbeiter Gottes in seiner Mission und im Dienst für die Armen zu sein. Doch sind alle diese Werke dem Wirken der Gnade Gottes verdankt.

In diesen Akzentuierungen lässt sich nachverfolgen, was die Autoren der »Methodistischen Stellungnahme« selbst so zum Ausdruck bringen: »Die Methodistische Bewegung hat sich immer zutiefst abhängig gesehen von der biblischen Lehre über Rechtfertigung, wie sie von Luther und den anderen Reformatoren und dann wieder von den Wesleys verstanden wurde. Aber sie hat ebenso immer Elemente der Rechtfertigungslehre festgehalten, die zur katholischen Tradition der frühen Kirche sowohl im Osten wie im Westen gehören.«56 Diese Brückenfunktion hat ihren Ursprung nicht in einer die eigene Bedeutung überschätzenden Absicht, zwischen der römisch-katholischen und der lutherischen Lehre vermitteln zu wollen; sie ergibt sich vielmehr aus der Verwurzelung der methodistischen Theologie und Verkündigung in der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre und in altkirchlichen Lehrelementen, die das Weiterwirken der Gnade in den Glaubenden stärker zum Ausdruck gebracht haben als die Reformation des 16. Jahrhunderts: die orthodoxe Lehre von der Theosis und die katholische Betonung der inneren Heiligung der Glaubenden durch das Wirken des Heiligen Geistes. (GER 24) In diesem Sinne ist die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre«, die nun von drei Kirchenfamilien gemeinsam getragen wird, nicht nur eine Klärung vergangener Konflikte, sondern ein Anfang weitergehender aufrichtiger Schritte der wechselseitigen Annäherung christlicher Kirchen zur Erfüllung ihres Auftrags der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus und des in ihm geschenkten Heils für alle Menschen. Ob und wie weitere Schritte gewagt werden und mit welchem Ernst und welcher Demut die Christen sie zu gehen bereit sind, wird inzwischen genauer, aber auch nüchterner betrachtet.57 Me56 Nr. 4 der Stellungnahme. 57 Die in dieser Hinsicht wichtigste und anregendste Veröffentlichung ist der Band über die »Rechtfertigungslehre im multilateralen ökumenischen Dialog«, als Beiheft 78 zur ÖR unter dem Titel »Von Gott angenommen – in Christus verwandelt« von Uwe Swarat, Johannes Oeldemann und Dagmar Heller 2006 herausgegeben.

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thodisten betrachten es als ihre Aufgabe, auch hier ökumenische Impulse zu geben, wozu sie sich nicht nur von ihrer Tradition, ihrem Verständnis von Kirche und ihrer Verfassung her, sondern auch durch die »Offizielle Gemeinsame Bestätigung« motiviert wissen, die mit folgenden Sätzen schließt: »Aufbauend auf ihrer gemeinsamen Bestätigung grundlegender Wahrheiten der Lehre von der Rechtfertigung verpflichten sich die drei Parteien gemeinsam, sich für eine Vertiefung ihres gemeinsamen Verständnisses der Rechtfertigung im theologischen Studium, in Lehre und Predigt einzusetzen. Das gegenwärtig Erreichte und die ausgesprochene Verpflichtung werden von Katholiken, Lutheranern und Methodisten als Teil ihres Strebens nach voller Gemeinschaft und gemeinsamem Zeugnis an die Welt angesehen, die der Wille Christi für alle Christen ist.« Eine notwendige Konsequenz dieser Verständigung liegt meines Erachtens darin, sie für das Zeugnis und den Dienst der Christen und Kirchen in der gegenwärtigen Lebenswelt fruchtbar zu machen und gemeinsam konkrete Schritte zu den Menschen außerhalb ihrer Kirchen- und Gemeindegrenzen zu gehen.

Ulrike Schuler

Was tun mit 2017? Die ökumenische Herausforderung des Jubiläums aus methodistischer Perspektive1

I.

Einführende Vorüberlegungen und thematische Differenzierung

Eine Internetrecherche zum Thema Reformationsfest oder Reformationsjubiläum lässt umgehend Lutherbilder in verschiedenen Varianten erscheinen – in der Regel bekannte Abbildungen Martin Luthers in modernem Design. Dieser erste Befund erscheint wenig verwunderlich, hat sich doch seit knapp 350 Jahren, seit Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen den 31. Oktober zum 150. Jubiläum 1667 als Reformationstag festsetzte, Luther unumstößlich als »der« Reformator im kulturellen Gedächtnis eingeprägt – und das nicht nur in Deutschland.2 Im Brennpunkt steht die spektakuläre Öffentlichmachung seiner zur Disputation anregenden 95 Thesen. In der öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation spitzen sich theologische Klärungsprozesse im Gegenüber zu Kaiser und Papst auf die Lutheranhänger und ihre reichsständischen Fürsprecher zu, so dass schließlich diejenigen, die der Confessio Augustana zustimmen, bis zum Westfälischen Frieden 1648 die einzige zugelassene evangelische Konfession darstellen. Die rechtlich nicht Zugelassenen – Täufer, Reformierte3 und weitere entstehende Glaubensgemeinschaften – 1 Vortrag, gehalten anlässlich des 46. Internationalen Ökumenischen Seminars, 4. bis 11. Juli 2012, Straßburg/Frankreich. Die Fragestellung wurde zudem aus römisch-katholischer, orthodoxer, anglikanischer, lutherischer, reformierter, pfingstlerischer, täuferischer, sowie lateinamerikanisch- und afrikanisch-lutherischer Perspektive behandelt. 2 Wenngleich seit einigen Jahren nicht mehr in allen Bundesländern Deutschlands, so wird doch der 31. Oktober als ein gesetzlicher Feiertag sogar in Slowenien und Chile begangen. In der Schweiz feiern die reformierten Kirchen am ersten Sonntag im November (also am ersten Sonntag nach dem 31. Oktober) den Reformationssonntag. Im überwiegend katholischen Österreich ist der Tag zwar kein gesetzlicher Feiertag, aber evangelische Schüler haben zumindest am 31. Oktober schulfrei, und evangelischen Arbeitnehmern wird ein Besuch des Gottesdienstes ermöglicht. 3 Nachdem der Schweizer Reformator Heinrich Bullinger und Jean Calvin sich in der Frage des Abendmahls 1549 im sogenannten Consensus Tigurinus (Zürcher Übereinkunft) einigen

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sind von daher auch in der Kirchengeschichte dieses geografischen Raums für Jahrhunderte eher am Rande (wenn überhaupt) behandelt worden. Gemeinhin wird 1517 im Kontext weltgeschichtlich bedeutsamer Phänomene4 als epochales, in vielen Ländern nicht nur in der Kirchen-, sondern auch in der Profangeschichte als das eine Epochenwende markierende Schlüsselereignis verstanden, wenngleich es Jahrzehnte5, wenn nicht Jahrhunderte6 lang vorbereitet wurde und weitere wichtige Differenzierungen nach sich zog. Luther steht im Brennpunkt des Geschehens; andere kirchengeschichtlich relevante Reformer oder auch »Kirchenmütter«7 bleiben eher unberücksichtigt. Auf ein erstaunliches europäisches Beispiel für einen ökumenisch geweiteten Blick auf 2017 bin ich in Österreich gestoßen: Die drei evangelischen Kirchen im Ökumenischen Rat der Kirchen in Österreich, die Evangelischen Kirchen A.B.8, H.B.9 und die Evangelisch-methodistische Kirche10 bewerben seit 2010 Veranstaltungen zu einer gemeinsamen »Reformationsoktav« mit einer Grafik, die nebeneinander Porträts von Martin Luther, Johannes Calvin, John Wesley, Katharina von Bora und Huldreych Zwingli abbildet. Die lutherischen und reformierten Konfessionsgründer stehen hier – und allein das ist schon beachtlich – in einer Linie mit Katharina von Bora, der Prototypin der deutschen Pfarrfrau11.

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konnten, wurden Zwinglianer und Calvinisten gewöhnlich gemeinsam als »Reformierte« bezeichnet. Entdeckungen Ende des 15. Jahrhunderts, geistesgeschichtliche Bewegungen wie der Humanismus etc., spezifisch einzelne Länder betreffende Ereignisse, nationale und auch religiöse wie die Christianisierung. Kirchengeschichtlich ist hier an (Vor-)Reformatoren wie den englischen Philosophen und Theologen John Wiclif (ca. 1330 – 1384) und den böhmischen Theologen Jan Hus (um 1369 – 1415) zu denken. Reformbewegungen wie die Waldenser (religiöse Laienbewegung ausgehend von SüdFrankreich im 12. Jahrhundert, heute schwerpunktmäßig in Italien, dort vereinigt mit den Methodisten) und Katharer (Glaubensbewegung in Süd-Frankreich, 12. bis 14. Jahrhundert), die hart bekämpft, verfolgt und zum Teil ausgerottet wurden (die Katharer im Umfeld der Stadt Albi: Albigenserkreuzzug 1209 – 1229, einziger Kreuzzug gegen Christen). Ich greife hier die Bezeichnung der für den Einfluss von Frauen auf die Erneuerung der Kirche des 16. Jahrhunderts aufschlussreichen Publikation von Martin H. Jung auf: Nonnen, Prophetinnen, Kirchenmütter. Kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zu Frauen in der Reformationszeit, Leipzig 2002. Gerade bezogen auf den Tagungsort Straßburg ist besonders an die Laientheologin Katharina Zell zu erinnern (Forschungsergebnisse über sie ebd., 121 – 168). Augsburgisches Bekenntnis – lutherisch. Helvetisches Bekenntnis – reformiert. Verwaltungsmäßig haben sich die Kirchen A.B. und H.B. 1949 mit Sitz in Wien zusammengeschlossen. Seit 2003 darf die Evangelisch-methodistische Kirche auch in Österreich die konfessionelle Kennzeichnung »evangelisch« im Kirchennamen nennen, den sie nach eigener Kirchenverfassung im deutschsprachigen Europa bereits seit einer weltweiten Kirchenvereinigung 1968 tragen wollte. So in Biografien über Katharina von Bora beschrieben, wie etwa bei Jung, der darstellt, wie

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Wenngleich etwa Balthasar Hubmaier12 als zeitgenössischer Vertreter des linken Flügels der Reformation fehlt, wird überraschenderweise der Pfarrer John Wesley, Inspirator und Organisator der methodistischen Reformbewegung der Kirche von England des 18. Jahrhunderts – letztlich, wie die anderen, Kirchengründer wider Willen – in die Reihe der für das Reformationsjubiläum relevanten Persönlichkeiten aufgenommen. Natürlich hat die Platzierung Wesleys auf dieser Grafik etwas mit einer gewachsenen ökumenischen Beziehung der evangelischen Minoritätenkirchen in Österreich zu tun. Seit 2003 sind die genannten drei Kirchen gemeinsam für den evangelischen Religionsunterricht in Österreich verantwortlich, seit 2008 führen sie eine gemeinsame Pfarrer-/Pfarrerinnentagung durch und veranstalten jährlich zusammen einen »Reformationsempfang«. 2010 feierten sie 20 Jahre Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft und leiteten damit die »Reformationsoktav« ein. Dieses Beispiel deutet an, womit wir im Methodismus zu rechnen haben: mit ganz unterschiedlichen konfessionellen Konstellationen und kontextabhängigen Entwicklungen in verschiedenen Ländern weltweit. Darin liegt auch die Schwierigkeit und besondere Herausforderung meiner Ausführungen, in denen ich »die methodistische Perspektive« vorrangig aus dem Blickwinkel der United Methodist Church (im deutschsprachigen Raum der Evangelischmethodistischen Kirche), der weltweit größten und international vernetzten (konnexionalen13) methodistischen Kirche vorstelle.14 Die United Methodist Church ist aber nur eine unter mehreren methodistischen Kirchen, die sich aufgrund von Differenzen über Fragen der Struktur der Kirche15 oder über

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ihr Lebensbild Pfarrfrauen nachhaltig prägte, die dann im »traditionellen Ideal der evangelischen Pfarrfrau« wirkten (Jung: Nonnen, Prophetinnen, Kirchenmütter, 33). Balthasar Hubmaier (ca. 1480 – 1528) war Prorektor der Universität Ingolstadt, Domprediger in Regensburg und Pfarrer in Waldshut, bevor er sich der Täuferbewegung anschloss und einer ihrer herausragenden Theologen wurde. Er hat eine bedeutende Wirksamkeit in Nikolsburg/Mähren entfaltet und wurde am 10. März 1528 in Wien als Ketzer hingerichtet. Zum Verständnis der typisch methodistischen, konnexionalen Kirchenstruktur s. Nausner, Michael: Geistgewirktes Mit-Sein. Methodistische Ekklesiologie als Ausdruck globaler Verbundenheit, in: Burkhard Neumann / Jürgen Stolze (Hg.): Kirche und Gemeinde aus freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht, Göttingen / Paderborn 2010, 149 – 178; Minor, Rüdiger : Konnexionalismus und Katholizität, in: EmKG 28/2, 2007, 7 – 14; Das konnexionale Prinzip, in: Berufen zu Liebe und Lobpreis. Das Wesen der christlichen Kirche in methodistischer Erfahrung und Praxis. Konferenzpapier der Britischen Methodistischen Kirche 1999, Stuttgart 2000, 83 – 88 [EmK-Forum 19]. Ca. 12 Millionen Mitglieder weltweit (Stand 2010; s. zu den Mitgliedskirchen im einzelnen sowie weiteren Aktivitäten des Weltrates die Homepage http://worldmethodistcouncil.org). Einige Beispiele: In England die Art und Weise der Partizipation von Laien an der Kirchenleitung (The Methodist New Connexion, 1797), ein kongregationalistisches Kirchenverständnis (The Independent Methodists, 1806), vermehrte Feldpredigten (camp meetings) anstelle von vorrangigen Versammlungen in Gebäuden, sowie Gleichberechtigung der Laienmitarbeit von Frauen und Männern (The Primitive Methodists, 1811); u. a. Opposition

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ethische Fragen16 im britischen und amerikanischen Methodismus separiert17, neu gebildet18 und teilweise weltweit ausgebreitet haben.19 Zudem entstanden in Europa, Afrika, Asien und Südamerika vor allem aufgrund des zeugnishaften Lebens und Wirkens von Migranten20, im Zuge von Frömmigkeitsbewegungen21 und aufgrund von missionarischem Engagement jüngeren Datums22 weitere selbständige methodistische Kirchen. Es kam aber auch in ökumenischer Gesinnung zu Mitgliedschaften in Kirchenbünden23 oder gar vereinigten Kirchen24.

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gegen die bischöfliche Verfassung der Methodist Episcopal Church in den USA (The Methodist Protestant Church, 1828). Oft kumulieren verschiedene Aspekte – auch kontextuelle wie personelle tragen zu Schismen bei. Z.B. die Uneinigkeit im konsequenten Engagement der Anti-Sklaverei-Bewegung, die in den Südstaaten Nordamerikas zur Separation und Gründung der Methodist Episcopal Church South führte (1844; Wiedervereinigung der Methodist Protestant Church, Methodist Episcopal Church und Methodist Episcopal Church South 1939). Zudem bilden sich aufgrund von Rassendiskriminierungen afroamerikanische methodistische Kirchen in den USA, wie 1816 die African Methodist Episcopal Church oder 1821 die African Methodist Episcopal Zion Church. Markant ist im Zusammenhang der Separierungen Beyreuthers Feststellung der gleichzeitig auch »kirchenverbindende[n] Kraft im Methodismus« (Beyreuther, Erich: Die Erweckungsbewegung, Göttingen 1963, R 8 [Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, Lieferung R (1. Teil)]). Unter deutschsprachigen lutherischen Einwanderern formierte sich nach methodistischem Vorbild die Evangelische Gemeinschaft, unter reformierten deutschen Einwanderern mit zudem täuferischem Einfluss die Vereinigten Brüder in Christo (beide 1800; beide vereinigten sich 1946 weltweit zur Evangelical United Brethren Church und 1968 mit der Methodist Church zur United Methodist Church/Evangelisch-methodistischen Kirche). S. hierzu Klaiber, Walter (Hg.): Methodistische Kirchen, Göttingen 2011 [Bensheimer Hefte 111]; Yrigoyen, Charles (ed.): T & T Clark Companion to Methodism, London 2010. Die missionarische Arbeit der Methodisten begann in der Regel nicht aufgrund von Entscheidungen von Missionsgesellschaften, sondern durch das Zeugnis und die verbindliche Kleingruppen gründenden Initiativen von Laien, die bei Wachstum der Gemeinschaft um professionelle Unterstützung von Predigern baten. Die als innerkirchliche Erneuerungsbewegung begonnene Arbeit führte in konfessionell bereits geprägten Kontexten immer zu Widerständen und letztlich in die Separation. Die von Großbritannien aus betreuten Gemeinden wurden – sobald sie wirtschaftlich unabhängig erschienen – in die Autonomie entlassen. Der amerikanische Methodismus unterstützte eher eine konnexionale Struktur, das heißt, den Ausbau eines internationalen Verbundsystems, in dem alle Gemeinden weltweit durch Konferenzen auf allen Ebenen kirchlichen Lebens in gegenseitiger Verantwortung miteinander in Verbindung stehen. Im Zuge der Heiligungsbewegung gründete sich die Kirche des Nazareners, die die typisch methodistische Akzentuierung der Soteriologie praktisch-theologisch noch stärker betont. Z.B. Süd-Korea, wo die Geschichte des Methodismus über humanitäre Hilfe erst vor Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hat und mit einem rapiden Wachstum eine selbstständige koreanische methodistische Kirche entstand (The Korean Methodist Church, heute ca. 1,5 Millionen Mitglieder). Z.B. Schweizer Evangelischer Kirchenbund seit 1922. Fortgeschrittene Vereinbarungen in Großbritannien, an denen seit 1982 Anglikaner, Methodisten, die United Reformed Church und die Moravians (Herrnhuter Brüderunität) arbeiteten, führten 2003 lediglich zwischen

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An jenen Bünden und Vereinigungen waren übrigens bislang noch nie lutherische Kirchen beteiligt. 76 dieser unterschiedlich organisierten wesleyanischmethodistischen Kirchen sind derzeit Mitglied im Weltrat Methodistischer Kirchen (World Methodist Council)25, der damit etwa 75 Millionen Mitglieder in wesleyanischer Tradition in internationalen Dialogen vertritt und zudem verschiedene evangelistische Programme verantwortet.26 All diesen wesleyanisch-methodistischen Kirchen ist gemein, dass sie in unterschiedlichen nationalen Kontexten ihre grundlegende »ökumenische Gesinnung«27 sehr verschieden zu konkretisieren versuchen und zusammen mit anderen evangelischen Kirchen – Staats-, Landes- und Freikirchen – aber auch mit der Römisch-katholischen Kirche und mit orthodoxen Kirchen international und regional Gespräche geführt wie auch Wege der Zusammenarbeit gefunden haben, die letztlich die jeweilige Relevanz des bevorstehenden Reformationsjubiläums mit bestimmen. Der Gruppenbildung zum Reformationsjubiläum auf der österreichischen Grafik kann inhaltlich noch mehr abgewonnen werden als auf den ersten Blick ersichtlich erscheint. Sie basiert auf kirchengeschichtlich und theologisch bedeutsamen Zusammenhängen zwischen der methodistischen Bewegung und

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der Methodist Church und der Church of England zu einer festen Vereinbarung (covenant), partnerschaftlich in lokalen Projekten ökumenisch zusammen zu arbeiten. Kirchenunionen in Europa, an denen methodistische Kirchen beteiligt sind: Belgien 1963 Eglise protestante de Belgique, nach weiteren Vereinigungen mit zwei reformierten Kirchen 1978 Eglise protestante Unie de Belgique; Spanien 1955, Vereinigung mit einer bereits 1869 gegründeten evangelischen Kirche, Iglesia Evang¦lica EspaÇola; in Italien vereinigten sich die Methodisten 1979 mit den Waldensern zur Chiesa Evangelica Valdese. 2011 haben sich die lutherische schwedische Missionskirche, der schwedische Baptistenbund und die Evangelisch-methodistische Kirche in Schweden zusammengeschlossen zur Gemensam framtid (Gemeinsame Zukunft). Weltweite Kirchenunionen: 1925 United Church of Canada (britische und amerikanische Methodisten zusammen mit Kongregationalisten und Presbyterianern); 1977 Uniting Church in Australia (britische Methodisten mit Kongregationalisten); 1947 Church of South India (britische Methodisten, Anglikaner, verschiedene Kongregationalisten); 1970 Church of North India (Anglikaner, britische Methodisten und Methodisten in australischer Tradition). Der Weltrat Methodistischer Kirchen wurde bezeichnenderweise 1881 als Ecumenical Methodist Conference gegründet, zu der zunächst weltweit alle Kirchen und Gemeinschaften mit wesleyanisch-methodistischen Wurzeln alle zehn Jahre eingeladen wurden (Namensänderung 1951 in World Methodist Council). Stand 2012. Die Heilsarmee (Salvation Army) ist auch eine Kirche mit wesleyanisch-methodistischer Tradition. William Booth, Reiseprediger der Methodist New Connection in England, löste sich 1865 aus seiner Konferenz, um eine dezidierte Sozialarbeit im Londoner East End, einem sozialen Brennpunkt, zu gründen. Die Heilsarmee ist kein Mitglied des World Methodist Council. So auch programmatisch der Titel von John Wesleys Lehrpredigt 39, The Catholic Spirit, in der deutschen Übersetzung übertragen als »Die ökumenische Gesinnung« (s. Wesley, John: Die 53 Lehrpredigten, hg. i. A. des Europäischen Rates der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart 1986).

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lutherischen wie auch reformierten Theologien. Sie hat ebenfalls zu tun mit weltweiten ökumenischen Entwicklungen in Dialogen, Gremien, gemeinsamen Verlautbarungen und Vereinbarungen. All das werde ich nun nach diesen einführenden Informationen im Folgenden näher erläutern.

II.

Die methodistische Bewegung in der Kirche von England und ihre Ausbreitung28

Zunächst eine kurze konfessionskundliche Einordnung: Der Methodismus entsprang im 18. Jahrhundert der Kirche von England als Erneuerungsbewegung mit dezidiert evangelistisch-missionarischen sowie sozial-diakonischen Akzentsetzungen. Er entstand also nicht infolge theologischer Kontroversen. Die Kirche von England hatte im 16. Jahrhundert als letzte der von Rom sich lösenden Kirchen lehrmäßig und spirituell einen Mittelweg zwischen römischem Katholizismus und Protestantismus eingeschlagen. Sie konnte bereits grundlegende Lehrbildungen einbeziehen.29 John Wesley (1703 – 1791), ein Geistlicher der Kirche von England, der wirkungsgeschichtlich zusammen mit seinem Bruder Charles (1707 – 1788) Gründer der methodistischen Kirche wurde, kennzeichnete die Kirche von England als die am besten verfasste Nationalkirche der Welt, die die Lehre der Alten Kirche bewahrt und gemäß der Heiligen Schrift interpretiert habe.30 Hierin wird die Wertschätzung seiner Kirche ge28 S. hierzu und zum folgenden Kapitel ausführlicher Schuler, Ulrike: Die Entstehung der methodistischen Bewegung, in: Klaiber, Walter (Hg.): Methodistische Kirchen, Göttingen 2011, 7 – 42 [Bensheimer Hefte 111]. 29 Bei der Lehrbildung der Kirche von England Mitte des 16. Jahrhunderts hatte bereits das Konzil von Trient getagt (zwischen 1545 und 1563) und die römisch-katholische Theologie weiter präzisierend festgelegt. Die Confessio Augustana (1530) lag vor, während die Konkordienformel (1577) und das Konkordienbuch (1580) zum Abschluss lutherischer Bekenntnisbildung noch bevorstanden. Als reformiertes Bekenntnis war erst das Erste Helvetische Bekenntnis der Eidgenossen (1536) verfasst. Später sollten noch der Heidelberger Katechismus (1563), das von Heinrich Bullinger verfasste Zweite Helvetische Bekenntnis (1564 – u. a. in Österreich gültig) und das Dordrechter Bekenntnis (1632) für Reformierte an Bedeutung gewinnen. Das Book of Common Prayer der Kirche von England orientierte sich zunächst an der calvinistischen Lehre, wenngleich das bekenntnismäßige Kernstück, die 39 Articles of Religion, sich an der Confessio Augustana ausrichteten, später dann im Sinne der Confessio Virtembergica (1552) revidiert wurden (1562). Indem die Neununddreißig Artikel durch das Parlament 1571 in den Status des kodifizierten Rechts erhoben wurden, kam die Bekenntnisbildung der Kirche von England zum Abschluss. Den Einfluss des kontinentaleuropäischen Protestantismus auf die Lehrbildung der Kirche von England belegen überzeugend Autoren in Chadwick, Henry (Hg.): Not Angels, but Anglicans. A History of Christianity in the British Isles, Norwich 2000. 30 In einem Brief zur Gründung der Methodist Episcopal Church in den USA schrieb John Wesley 1784 an die »Brüder in Amerika« und erläuterte u. a. die Übersendung einer Liturgie,

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genüber deutlich, von der er sich zeitlebens nicht trennte. Er war im Gegenteil bemüht, die lehrmäßigen Übereinstimmungen seiner systematisch- und praktisch-theologischen Akzentsetzungen mit ihr zu überprüfen und zu dokumentieren. Theologisch betont der Methodismus später im Kontext reformatorischer Theologie mehr die Soteriologie – eine Heilslehre, die zu einer persönlichen Beziehung zu Gott, zu einer erfahrbaren Umwandlung in einem zunehmend heil werdenden Verhältnis zu ihm31 und – die empfangende Liebe in die Welt spiegelnd – zu den Mitmenschen hinführt.32 In Großbritannien vollzog die methodistische Gemeinschaft trotz de facto selbstständigen kirchlichen Lebens bis Mitte, spätestens Ende des 19. Jahrhunderts keine formale Trennung. Die Ablösung erfolgte eher schleichend in einem dynamischen Prozess der Distanzierung und Verselbständigung.33 In Nordamerika wurde mit der Staatengründung 1776 eine neue Rechtslage geschaffen. Die Trennung von Staat und Kirche forderte die Christen heraus, sich unabhängig vom Herkunftsland neu zu organisieren. So konstituierte sich die methodistische Bewegung 1784 dort als Methodist Episcopal Church34 und übernahm im Wesentlichen die von Wesley adaptierten Lehrgrundlagen der Kirche von England.35

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die in wenig veränderter Weise dem Book of Common Prayer entnommen ist: »I believe there is no liturgy in the world, either in ancient or modern language, which breathes more of a solid, scriptural, rational Piety, than the COMMON PRAYER of the Church of England. And though the main of it was compiled considerably more than two hundred years ago, yet is the language of it, not only pure, but strong and elegant in the highest degree.« (John Wesley’s Sunday Service of the Methodists in North America with an introduction by James F. White, QR 1984, 1). Gemeint ist ein therapeutischer Prozess, der durch die verwandelnde Kraft des Geistes Gottes zur Wiederaufrichtung der Gottebenbildlichkeit des Menschen führt. S. zu diesem theologischen Konzept Runyon, Theodor : Die neue Schöpfung. John Wesleys Theologie heute, Göttingen 2005, sowie Klaiber, Walter / Marquardt, Manfred: Gelebte Gnade. Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Göttingen 2 2006. Runyon formuliert m. E. sehr treffend das Wesen der von Gott empfangenen und durchdringenden Liebe: »Liebe kann nicht als ein abstrakter Gedanke angeeignet werden; man muss ihr begegnen, an ihr teilhaben. Wir müssen ihr gestatten, ihre verwandelnde Kraft an unseren Herzen einzusetzen, im Zentrum unserer Person, wo ihr Ja empfangen und erwidert wird. Und durch eben diese Liebe bleibt Gott stets unser Schöpfer! Diese stark machende Liebe ist die Quelle unserer Liebe zu unseren Mitgeschöpfen…« (243). Durch die Deed of Declaration (Deklarationsurkunde) von 1784 erhielt die methodistische Konferenz eine gesetzlich anerkannte Gestalt. Die Methodisten sahen sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts nicht auf der Seite der Dissenter, sondern als innerkirchliche Bewegung. Das änderte sich mit zunehmender hochkirchlicher Entwicklung der Church of England (besonders der Oxford Bewegung). Ein genaues Datum der Separation ist nicht festzustellen. Zu jener Zeit ca. 15.000 Anhänger der methodistischen Bewegung. Die von 39 auf 25 gekürzten und minimal revidierten Articles of Religion, eine modifizierte Form des Book of Common Prayer (= Sunday Service), wie auch die in Predigten verfasste Lehre, Standard Sermons (53 Lehrpredigten John Wesleys), sowie seine Notes upon the New Testament.

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Migrationen bewirkten auch Impulse zu kirchlicher Erneuerung in weiteren Ländern weltweit. Die auf authentische christliche Frömmigkeit abzielende evangelistische und sozial-diakonische Arbeit36 methodistischer Gemeinschaften37 stieß v. a. in Europa immer wieder auf Widerstände vorherrschender Konfessionen. Deren gesellschaftlicher Status war inzwischen überall rechtlich gesichert – als Landes-, Staats- und/oder Nationalkirche. Dieser Rechtsstatus und -anspruch führte intendierte Reformenbewegungen innerhalb dieser Kirchen zu Separationen methodistischer Kirchen. Der Methodismus hat weder verpflichtende Lehrbekenntnisse formuliert38 noch Verwerfungen ausgesprochen. Unterschiedliche Lehraussagen wurden und werden als zeitgebundene Interpretationen der Bibel verstanden, die es immer wieder neu zu erforschen, zu bedenken und miteinander ins Gespräch zu bringen gilt. Hieraus ergibt sich eine große Offenheit zu anderen Konfessionen, die damit rechnet, auch dort den Reichtum ernsthaft erworbenen Schriftverständnisses zu entdecken. Wesley führt in einer seiner 53 Lehrpredigten, betitelt »The Catholic Spirit« / »Die ökumenische Gesinnung« aus: »Daher maße ich mir nicht an, meine Form der Frömmigkeit irgend jemand anderem aufzuzwingen. Ich glaube, sie ist wirklich urchristlich und apostolisch. Aber meine Überzeugung ist keine Regel für andere. Ich frage daher den, mit dem ich mich in Liebe vereinigen will, nicht: ›Gehörst du zu meiner Kirche, zu meiner Gemeinde? Hältst du dieselbe Form der Kirchenleitung und dieselben kirchlichen Ämter 36 V.a. in orthodoxen und römisch-katholischen, aber auch in nicht-christlichen Kontexten haben Methodisten akzentuiert Bildungsarbeit als notwendige Grundlage befreiten Denkens und Glaubens geleistet und damit auch dem Analphabetismus – besonders von Frauen – entgegengewirkt. 37 In Europa haben folgende methodistische Kirchen bzw. Gemeinschaften gegen Mitte des 19. Jahrhunderts eine evangelistische und sozial-diakonische Arbeit begonnen: von England aus die Wesleyan Methodists, aus den USA die Methodist Episcopal Church, die Evangelische Gemeinschaft und die Vereinigten Brüder in Christo. Nach dem Ersten Weltkrieg hat auch die Methodist Episcopal Church, South eine Missionsarbeit (v. a. Sozial- und Bildungsarbeit) in Europa aufgenommen. 38 Lehrgrundlagen der United Methodist Church sind als allgemeinchristliches Erbe die altkirchlichen Bekenntnisse (Apostolikum, Nizänum), sowie Lehrdokumente des spezifisch methodistisches Erbes (hier in der deutschen Version): die Glaubensartikel der Methodistischen Kirche, das Glaubensbekenntnis der Evangelischen Gemeinschaft, Die Allgemeinen Regeln (s. Verfassung, Lehre und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche, Frankfurt am Main 2010, 61 – 71; auch im Internet abrufbar), die 53 Lehrpredigten John Wesleys (deutsche Ausgabe: Stuttgart 1986 – derzeit Überarbeitung der Übersetzung), John Wesleys Notes upon the New Testament (sie wurden bislang nicht ins Deutsche übersetzt) und das Soziale Bekenntnis sowie die Sozialen Grundsätze, die alle vier Jahre von der Generalkonferenz aktualisiert werden (Soziale Grundsätze der Evangelisch-methodistischen Kirche. Frankfurt am Main 2010 [EmK Forum 36]; Elsner, Lothar / Jahreiß, Ulrich [Hg.]: Das Soziale Bekenntnis der Evangelisch-methodistischen Kirche. Geschichte – aktuelle Bedeutung – Impulse für die Gemeinde, Göttingen 2008).

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wie ich für richtig? Verwendest du dieselbe Form des Gebets, in der ich Gott anbete?‹ Ich untersuche nicht: ›Empfängst du das Heilige Abendmahl in der gleichen äußeren Haltung und Art wie ich?‹ Ich frage auch nicht, ob du mit mir in der Verwaltung der Taufe, in der Zulassung von Taufpaten und in ihrer Mitwirkung übereinstimmst, oder im Blick auf das Alter derer, denen sie erteilt wird. Ich frage nicht einmal (so sehr ich meiner eigenen Auffassung sicher bin), ob du die Taufe und das Heilige Abendmahl überhaupt anerkennst. Laß das alles vorerst beiseite! Darüber wollen wir zu einer gelegeneren Zeit reden, wenn es nötig ist. Heute frage ich nur : ›Ist dein Herz aufrichtig gegen mich wie mein Herz gegen dein Herz?‹«39 Von dieser ökumenischen Weite lassen sich auch heute noch Methodisten und Methodistinnen weltweit in ihrem Handeln bestimmen. Generell hat sich der Methodismus den von Wesley gerne zitierten Grundsatz Augustins zu Eigen gemacht: »Im Wesentlichen Einheit, im Unwesentlichen Freiheit, über allem die Liebe.«

III.

Begegnungen Wesleys mit dem Luthertum

Begegnungen mit lutherischer Theologie und Frömmigkeit fanden in der Biografie von Charles und John Wesley an geistlichen Wendepunkten statt und prägten tief greifend die gesamte methodistische Bewegung. Als nicht unerheblich ist dabei festzuhalten, dass diese Berührungen Wesleys und des Luthertums auf beiden Seiten in kuriosen Ausnahmesituationen stattfanden.

39 John Wesleys Lehrpredigt 39. In: Wesley, John: Die 53 Lehrpredigten. Bd. 2: Lehrpredigten 30 – 53, Stuttgart 1986, 754. Im Original: »… my belief is no rule for another. I ask not, therefore, of him with whom I would unite in love, Are you of my church, of my congregation? Do you receive the same form of church government, and allow the same church officers, with me? Do you join in the same form of prayer wherein I worship God? I inquire not, Do you receive the supper of the Lord in the same posture and manner that I do? Nor whether, in the administration of baptism, you agree with me in admitting sureties for the baptized, in the manner of administering it; or the age of those to whom it should be administered. Nay, I ask not of you (as clear as I am in my own mind), whether you allow baptism and the Lord’s Supper at all. Let all these things stand by : we will talk of them, if need be, at a more convenient season, my only question at present is this, ›Is thine heart right, as my heart is with thy heart?‹«

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Herrnhuter Brüderunität

Die Wesleybrüder als Geistliche der Kirche von England trafen 1735 auf ihrer Überfahrt in die neu gegründete englische Kolonie Georgia40, in der sie u. a. als Betreuer der englischen Siedler arbeiten wollten, auf eine Gruppe böhmischmährischer Glaubensflüchtlinge41. Jene hatten sich erst jüngst als Herrnhuter Brüderunität42 konstituiert. In den Gebieten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation waren sie noch nicht anerkannt. Sie hatten verschiedene Ausweisungen, zuletzt auch aus dem lutherischen Königreich Sachsen erfahren und erhofften sich Glaubens- und Gewissensfreiheit wie auch Möglichkeiten zur Mission in den Kolonien Nordamerikas. Die Herrnhuter Brüderunität sollte lehrmäßig noch verschiedene Sondierungsphasen vor sich haben, bevor sie eine klarer lutherisch orientierte Theologie entwickelte.43 Aber die authentische Frömmigkeit dieser selbst in Todesgefahr gelassenen, glaubensgewissen Christen motivierte die Wesleys, diese ersehnte, ihnen jedoch bislang fremd gebliebene Glaubens- und Heilsgewissheit näher zu ergründen. Sie selbst befanden sich seit Jahren rastlos in einem spirituell-asketischen wie auch sozialdiakonisch-aktivistischen Heiligungsstreben, das ihnen und ihren Mitstreitern im universitären Kontext Oxfords den Spottnamen »Methodisten« eingetragen hatte. Die nun erlebte Frömmigkeit dieser deutschen Pietisten zog sie an – zunächst also nicht eine überzeugende Theologie, die sie aber dann auch hinter 40 Die Kolonie wurde 1732 gegründet, um dort Gefangenen aus Schuldnergefängnissen und ihren Familien einen Neustart zu ermöglichen. Der befehlshabende General Oglethorpe hatte sich auch für Gefängnisreformen und die Behebung der Arbeitslosigkeit eingesetzt. Die Kolonie sollte zudem eine Pufferzone zwischen den englischen Kolonien und der südlichen spanischen Kolonie Florida bilden. In Kontinentaleuropa war zudem für die Ansiedlung von Glaubensflüchtlingen geworben worden. 41 Diese aus religiösen Gründen Vertriebenen sahen sich selbst zunächst eher in der Tradition des böhmischen Reformators Jan Hus mit einer Nähe zu den Waldensern, näherten sich dann jedoch im Laufe der Verfolgungszeiten im 18. Jahrhundert zunehmend den Lutheranern an. 42 In Herrnhut hatten sich die Siedler am 13. August 1727 mit einer Abendmahlsfeier und Unterzeichnung von Statuten als überkonfessionelle Herrnhuter Brüdergemeine konstituiert. 1734 ließ Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf von der Tübinger Fakultät ein Gutachten zur Übereinstimmung der Herrnhuter mit der lutherischen Lehre ausstellen. Er legte zudem im damals schwedischen Stralsund eine theologische Prüfung – schriftlich und mündlich – zu lutherischen Lehrfragen ab. Am 4. Advent 1734 trat er das geistliche Amt mit einer Predigt in der Tübinger Stiftskirche an und wurde somit lutherischer Theologe. Nach einem »Rechtgläubigkeitsexamen« durch die Berliner Pröpste und einem Gutachten des Erzbischofs der Kirche von England wurde Zinzendorf 1737 von Bischof Daniel Ernst Jablonsky in Berlin zum Bischof geweiht. Der preußische König Friedrich Wilhelm I. billigte Zinzendorfs Ordination und somit die besondere Struktur der Brüdergemeine. 43 S. zur Geschichte der Anfänge der Herrnhuter Brüdergemeine Meyer, Dietrich: Zinzendorf und Herrnhut, in: Brecht, Martin / Deppermann, Klaus (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1995, 5 – 106.

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dem gelebten Glauben zu ergründen suchten. So wurden sie in theologischen Gesprächen mit der paulinisch-reformatorischen Lehre von der Heilsgewissheit aufgrund der allein im Glauben angenommenen rechtfertigenden Gnade Gottes konfrontiert. Sie waren bewegt von diesem Gnadenverständnis als Fundament (nicht Folge) des Glaubens sowie von dessen praktischer Bedeutung – dem Anstoß zur erneuernden Umgestaltung des Menschen im Prozess der Heiligung. Neben theologischen Gesprächen suchten sie eine Vertiefung des Glaubenslebens in der intensiven Gemeinschaft mit den Herrnhutern im gemeinsamen Gebet, Bibellesen und Singen.

2.

Geistliche Wende44

Zurück in England festigten die Wesleys ihre Kontakte mit Herrnhuter Theologen45, die auf der Durchreise in die Kolonien Nordamerikas in London Station machten. Auch gründeten sie mit Herrnhutern zusammen eine erste religiöse Gesellschaft, die sich aus Anhängern der methodistischen Bewegung, überwiegend Mitgliedern der Kirche von England, und deutschen Herrnhutern wie auch später vereinzelten Dissenters zusammenfand.46 Charles und John Wesley befanden sich nach ihrem persönlichen Scheitern in der Kolonie Georgia47 in einer depressiven geistlichen Krise. Beide Brüder gelangten letztlich nach langem Ringen durch Schriften Luthers zur befreienden Klarheit des rechtfertigenden Glaubens, der ihnen zu neuer Orientierung verhalf – Charles als bett44 Die heutige theologische Bewertung der Heilserfahrungen der Wesleys hat die früheren Darstellungen als »Bekehrungserlebnisse« überzeugend zu »geistlichen Wenden« korrigiert (s. zur Interpretation der »Aldersgate-Erfahrung« Weyer, Michel / Klaiber, Walter / Marquardt, Manfred / Sackmann, Dieter: Im Glauben gewiss. Die Bedeutung der AldersgateErfahrung John Wesleys, BGEmK 32, Stuttgart 1988; Nausner, Michael: ›Aldersgate‹ oder ›Everyday‹. Zur Rolle der Erfahrung im christlichen Leben, in: Theologie für die Praxis 36/ 1,2, 2010, 46 – 68). 45 Enge Kontakte entwickelten sich zu Peter Böhler (1712 – 1775), einem jungen Theologen, der in Jena studiert und sich der Herrnhuter Brüdergemeine Zinzendorfs angeschlossen hatte. Zinzendorf stellte ihn 1737 zur Erziehung seines Sohnes an. Im Dezember 1737 ordinierte er ihn zum Geistlichen der Brüderkirche. Als Beauftragter Zinzendorfs reiste Böhler 1738 in die nordamerikanischen Kolonien. Im Auftrag einer Gesellschaft sollte er als Katechet in der Siedlung Purysburg schwarze Sklaven (Negersklaven) unterrichten. Böhler hatte auch den Auftrag, auf seiner Zwischenstation in England Kontakt mit den Oxforder Studenten (Methodisten) aufzunehmen. 46 Die Society in der Fetter Lane Street und nach ihr benannt. 47 Der konfliktreiche Aufenthalt der Geistlichen unter den z. T. kirchenfernen Siedlern (Charles sechs, John 22 Monate) geht aus ihren Tagebüchern hervor, wie z. B. in deutscher Übersetzung Wesley, Charles: Tagebuch 1736 – 1738. Übersetzt und kommentiert von Martin Brose, Frankfurt a.M. 2007 [EmKG.M 53]. Eine Zusammenfassung der Ereignisse bietet z. B. Heitzenrater, Richard P.: John Wesley und der frühe Methodismus, Göttingen 2007, 82 – 100.

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lägeriger Kranker beim Lesen der Vorrede Luthers zum Galaterbrief48, John beim Hören der Vorrede Luthers zum Römerbrief in der Abendversammlung einer religiösen Gesellschaft in der Aldersgate Street. Für Lutheraner war die Vorrede Luthers zum Römerbrief Jahrhunderte lang eine Art Kompendium neutestamentlicher Theologie. Hierin wird der Römerbrief, den Luther als »das rechte Herzstück des Neuen Testaments« ansah, als christliche Lehre mit praktischen Konsequenzen für Glauben und ethisches Handeln zusammengefasst. Aus diesem Grund wurde auch noch im 18. Jahrhundert nicht nur in Lutherbibeln diese Vorrede dem Römerbrief vorangestellt, sondern zudem in Erbauungsbüchern, Predigtbänden und theologischen Abhandlungen abgedruckt. Auch im Pietismus erhielt diese Lutherschrift über den wahren Glauben prominente Beachtung.49

3.

Klärungsprozesse

Die Vorrede Luthers zum Römerbrief gehört in methodistischer Geschichte und Theologie untrennbar zur geistlichen Wende des fast 35-jährigen John Wesley – als Durchbruch einer durch Erfahrungen und Reflexionen vorbereiteten grundlegenden theologischen Korrektur. Sie hatte eine weittragende Bedeutung für Wesleys Leben und Werk wie für den gesamten Methodismus. Wesley verifizierte Luthers Rechtfertigungslehre anhand der Bibel und fand sie zudem in den Lehrgrundlagen der Kirche von England – den Glaubensartikeln50 und 48 John Wesley äußerte sich in seiner Tagebuchnotiz später äußerst negativ über Luthers Vorwort zum Galaterbrief, die er sogar als gefährlich falsch (dangerous wrong) bewertete (Tagebuchnotiz vom 15. Juni 1741, WJW 19, 200 f). 49 S. die detaillierte Untersuchung, die zum 450. Reformationsjubiläum veröffentlicht wurde: Schmidt, Martin: Luthers Vorrede zum Römerbrief im Pietismus, in: Ders., Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969, 299 – 329 [Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2], darin auch die Bedeutung für John Wesley, die Schmidt als »letzte bedeutsame, kirchengeschichtlich größte Wirkung, die Luthers Römerbriefvorrede beschieden war« einstuft (325). Zur Bedeutung in England vgl. Klaiber, Walter : Luthers Schriftprinzip in seiner Bedeutung für die anglikanische und methodistische Theologie und Kirche, in: Knuth, Hans Christian (Hg.): Luther als Schriftausleger. Luthers Schriftprinzip in seiner Bedeutung für die Ökumene, Erlangen 2010, 71 – 87. Demnach hat sich auch William Tyndale (1490 – 1536) bei seiner Bibelübersetzung ins Englische »in langen Passagen eng an Luthers Vorrede zum Neuen Testament gehalten« und sie separat herausgegeben wie ebenfalls die Vorreden zu den einzelnen Schriften des Neuen Testaments (73). 50 Article XI Of the Justification of Man: »We are accounted righteous before God, only for the merit of our Lord and Saviour Jesus Christ by faith, and not for our own works or deservings. Wherefore that we are justified by faith only is a most wholesome doctrine, and very full of comfort; as more largely is expressed in the Homily of Justification.«

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Lehrpredigten51 – bestätigt. Er scheint sich nicht weiter mit Luthers Theologie beschäftigt zu haben, sondern hat vielmehr literarisch grundlegende theologische Belege der Rechtfertigung allein aus Glauben bei den Kirchenvätern der Alten Kirche gesucht. Er entdeckte v. a. in Bezug auf die Gott-Mensch-Beziehung bei den griechischen Kirchenvätern die relationale Relevanz, die Interaktion von Gott und Mensch, die ein verändertes Leben in der Heiligung, in heil werdender Beziehung bewirke und sogar die verheißene christliche Vollkommenheit möglich erscheinen lasse (verstanden als Vollkommenheit in Beziehung, als Teilhabe an der Liebe Gottes bzw. Vervollkommnung dieser Liebe in uns).52 Wesley ging gleichzeitig auch der Frage nach der konkreten Alltagsrelevanz der Rechtfertigungslehre für den Glauben weiter nach, die er (idealisierend) bei den lutherischen Pietisten seiner Zeit am ehesten zu finden glaubte. So machte Wesley eine Deutschlandreise53 zu Lebenszentren der Herrnhuter54 wie auch der Hallischen Pietisten55, einer ebenfalls vonseiten der lutherischen Orthodoxie wie Aufklärern Ende des 17. und im 18. Jahrhundert bekämpften FrömmigkeitsReformbewegung im deutschen Protestantismus. Auch zu den Hallischen Pietisten bestanden seit Begegnungen auf der Überfahrt und in der Kolonie Georgia kontinuierlich Kontakte.56 Wesley führte u. a. Gespräche mit Nikolaus Graf von 51 Hierauf weist Runyon hin: »Außerdem entdeckte er die Bedeutung der Rechtfertigung in den Homilien der Kirche von England, die ihm für sein neu gefundenes Verständnis sichere Basis in seiner eigenen Tradition gab« (Runyon, Die neue Schöpfung, 58 f). Es handelt sich z. B. um die Predigt Sermon of the Salvation of Mankind. 52 Da die Bedeutung der biblisch bezeugten »christlichen Vollkommenheit« in der Kirchengeschichte zu theologischen Kontroversen führte, sei hier zur Klärung des wesleyanischen Verständnisses als Neuinterpretation auf das gut erläuternde Kapitel in Runyon, Die Neue Schöpfung, hingewiesen: »Ganze Heiligung und christliche Vollkommenheit« (104 – 115). Es geht nicht um ein Streben nach Perfektionismus, sondern um eine Vollkommenheit in Beziehung. 53 Eine genaue Rekonstruktion der Reise und Begegnungen anhand der Tagebücher John Wesleys bietet Schmidt (s. Schmidt, Martin: John Wesley – Leben und Werk, Bd. 1: Aufbruch zur Veränderung, Zürich 21988, 241 – 267). 54 Schloss Marienborn bei Frankfurt, Jena, Herrnhut. 55 In den Franckeschen Stiftungen in Halle inspirierte Wesley das Bildungsprogramm, die Einrichtung von Waisenhaus, Armenapotheke und Verlagsanstalt – all das findet sowohl im britischen als auch amerikanischen Methodismus einen Niederschlag. Es wurden in England und Nordamerika Waisenhäuser gegründet, der erste Verlag 1779 in der Foundry Society in London sowie eine Armenapotheke, eine erste Poliklinik sowie Schriften mit Naturheilverfahren verbreitet (die bekannteste: Primitive Physick mit ca. 900 Hausmittel-Rezepturen und Heilmitteln gegen 288 Beschwerden) etc. 56 George Whitefield (1714 – 1770), Mitglied des Holy Club der Oxforder Studenten, dann maßgeblich mitverantwortlich für die Ausbreitung des Methodismus, war ein bedeutender Erweckungsprediger in Großbritannien wie auch in den britischen Kolonien Nordamerikas. Zusammen mit dem Presbyterianer Jonathan Edwards löste er durch seine Feldpredigten die dortige Erste Große Erweckung (First Great Awakening, 1740 – 1760) aus. Er führte eine 30jährige Korrespondenz mit Gotthilf August Francke, die lediglich eine Unterbrechung

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Zinzendorf und traf auch Gotthilf August Francke57. Im Blick auf die Frömmigkeit stieß Wesley der im Hallischen Pietismus geforderte Bußkampf im Zusammenhang eines Bekehrungserlebnisses ab, während er der bei den Herrnhuter Pietisten durchaus möglichen »Minutenbekehrung« aufgrund seiner empirischen Befragungen zustimmen konnte. Wesley wurde in Frömmigkeitspraktiken der Herrnhuter einbezogen. So nahm er an Gottesdiensten, Liebesmahlen, Versammlungen für Gäste, Zusammenkünften verschiedener kleiner Erbauungskreise und Singstunden teil – scheint aber in der kritischen Distanz eines Beobachters geblieben zu sein, nicht zuletzt verletzt, als rastloser Mensch (homo perturbatus) nicht zum Abendmahl zugelassen worden zu sein. Wesley machte auch empirische Erhebungen über Bekehrungserlebnisse von Mitgliedern der Gemeine. Ihn interessierte die Frage der christlichen Erfahrung, die für ihn neben Schrift, Tradition und Vernunft Kriterium theologischer Reflexion war.58

4.

Sondierungsphase

Mit den Herrnhutern in der Londoner Fetter Lane Society kam es nach seiner Rückkehr zum Eklat über die Frage nach den sichtbaren Zeichen (»den Früchten«) des Glaubens. Hier zeigt sich auch, dass die in dieser Bewegung vertretenen theologischen Bewertungen noch recht personenabhängig waren. Peter Böhler hatte dem spirituell an sich zweifelnden John Wesley einst empfohlen: »Predige den Glauben, bis du ihn hast, dann wirst du ihn predigen, weil du ihn hast«59. Nun hatte Philipp Molther60, ein Herrnhuter Theologe auf der Durchreise in die

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vonseiten Franckes fand, als er Whitefields Straßenpredigten als Missachtung kirchlicher Ordnung missbilligte. Gotthilf August Francke (1696 – 1769), Sohn des Gründers der Franckeschen Stiftungen in Halle August Hermann Francke (1663 – 1727). Den biblisch-hermeneutischen Kriterien der Kirche von England – Schrift, Tradition und Vernunft – fügte Wesley im Zeitalter des Empirismus die Erfahrung, verstanden als Gotteserfahrung, hinzu. Im Methodismus spricht man bei diesem hermeneutischen Schlüssel verkürzt vom methodistischen Quadrilateral. In der Phase der Glaubenskrise, in der John Wesley stark zweifelte, überhaupt predigen zu dürfen, hatte ihm Peter Böhler den weisen Rat gegeben: »Preach faith till you have it, and then, because you have it, you will preach faith«. Tagebucheintragung John Wesleys vom 5. März 1738, in: Ward, W. Reginald / Heitzenrater, Richard P. (Ed.), The Works of John Wesley, Vol. 18, Journals and Diaries I (1735 – 1738), Nashville 1988, 228; eigene Übersetzung im Text. Philipp Heinrich Molther (1714 – 1780) studierte an der Universität Jena, unterrichtete den Grafen von Zinzendorf in Musik und Französisch, schloss sich der 1736 Brüdergemeine an, begleitete den Grafen auf Missionsreisen und gründete Gemeinden v. a. in der Schweiz und Deutschland. 1775 wurde er zum Bischof der Herrnhuter Brüdergemeine gewählt.

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englischen Kolonien im Osten Nordamerikas, in London Station gemacht und den Mitgliedern der Fetter Lane Society wegen ihrer ungeklärten geistlichen Verfassung61 eine quietistische Haltung verordnet – das schweigende beieinander Verharren der noch nicht Gläubigen in der Erwartung des direkten Eingreifens Gottes. Wesley hingegen hielt kontinuierliches Beten, Bibellesen, das Hören der Predigt, Singen, den Empfang des Abendmahls für unerlässlich. Diese seien Gnadenmittel, durch die Gottes rechtfertigende Gnade selbst den Ungläubigen geschenkt werden könne. Auch war Wesley überzeugt, dass der rechtfertigende Glaube einen Veränderungsprozess (transformation) einleite: den Beginn eines Weges in der Heiligung. Die Herrnhuter wiederum befürchteten, in all dem lauere die Gefahr der Werkgerechtigkeit. Als man sich nicht einigen konnte, trennte man sich 1740. Die Befürchtung Wesleys, dass es in der von Herrnhuter Brüdern dominierten Gemeinschaft zu einer Separierung von der Kirche von England kommen könnte, bestätigte sich auch wenige Jahre später, als die Fetter Lane Society 1742 die erste Kirche der Herrnhuter Brüdergemeine (Moravians) in England wurde. Bemühungen Peter Böhlers und August Spangenbergs62 um eine Versöhnung scheiterten letztendlich in einem Gespräch zwischen Wesley und Zinzendorf im Dezember 1741.63 Die Aussprache der beiden starken Führungspersönlichkeiten der mentalitäts- und frömmigkeitsgeschichtlich recht verschiedenen Bewegungen verdeutlicht den theologischen Lehrunterschied in Predigtweise und Auffassung speziell in Bezug auf eine biblisch bezeugte christliche Vollkommenheit. Wesley gab das Gespräch in seinem Tagebuch wieder. Demnach betonte Zinzendorf die Alleinwirksamkeit Gottes im Glaubensgeschehen, lehnte also jede Form der Mitverantwortung, geschweige denn Entscheidungsfreiheit des Menschen ab. Er beharrte auf dem lutherischen: »Wir sind vollkommen in Christo, in uns selbst niemals«, und konnte demnach auch ein Wachsen in der Liebe und in der Heiligung nur rigoros verneinen. Wesley hingegen war auch aufgrund seiner gesammelten biografischen Studien überzeugt von dem in der Beziehung zu Gott zu erwartenden Wachsen in der Gnade und einem heiligen 61 U. a. wurden emotionale Ausbrüche bei Predigten oder Gebetsversammlungen unterschiedlich gewertet (Zeichen des Unglaubens bzw. Zeichen befreiter Veränderung). 62 August Gottlieb Spangenberg (1704 – 1792) studierte an der Universität Jena, wurde als Adjunkt an die Universität Halle berufen und betreute dort das Waisenhaus der Franckeschen Anstalten. Nach seiner Vertreibung 1733 schloss er sich der Herrnhuter Brüdergemeine an, deren Bischof er 1744 wurde. Er reiste verschiedentlich in die Kolonien Nordamerikas und begleitete dabei auch Gruppen von Glaubensflüchtlingen. Nach Zinzendorfs Tod wurde er dessen Nachfolger. 63 Zinzendorf ließ vom Erzbischof von Canterbury, John Potter, die Lehre seiner Brüderkirche im Verhältnis zur Kirche von England als in Übereinstimmung stehend bestätigen. Die Anerkennung der Herrnhuter Brüdergemeine in England wurde 1747 durch ein Parlamentsgesetz erlangt.

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Leben in Christus als sichtbaren Früchten des Glaubens. Um im Glauben wachsen zu können, sei es nötig, in der Schrift zu lesen, zu beten, das Abendmahl zu genießen und mit anderen Christen im Gespräch zu bleiben. Das alles jedoch könne nicht durch passives Stillsein (stillness) erlangt werden. Mit diesem Verständnis scheint Wesley Luther näher gestanden zu haben als Zinzendorf.64 Da das Gespräch keine Einigung brachte, war der endgültige Bruch besiegelt.65 Ein Teil der methodistischen Bewegung schloss sich der Herrnhuter Brüdergemeine an. Es kam schließlich auch in der Begegnung mit der reformierten Theologie noch zu einer weiteren Sondierung in der anfänglich breiteren methodistischen Erneuerungsbewegung. Einige Prediger – Laien und Ordinierte, unter ihnen George Whitefield – predigten die doppelte Prädestination, die unwiderrufliche Vorherbestimmung des Menschen, Gottes Erwählung Einzelner zum ewigen Heil oder zu ewiger Verdammnis. Wesley hingegen betonte die freie Gnade Gottes, die den Willen des Menschen durch die vorlaufende Gnade befähige, Gottes rechtfertigendes Gnadenangebot in freier Entscheidung anzunehmen oder zu verwerfen. Außerdem beginne mit dem Glauben ein Prozess der Heiligung. Diese theologischen Akzentsetzungen erschienen unvereinbar, so dass die persönlichen Kontakte untereinander zwar bestehen blieben, die wachsenden Gemeinschaften sich jedoch Whitefields oder Wesleys Mitarbeitern und von ihnen bedienten Gemeinschaften anschlossen. Hierdurch entstanden schließlich methodistische Gemeinschaften calvinistischer bzw. arminianischer66 Prägung.

64 Hierauf weist u. a. auch Franz Hildebrandt hin: From Luther to Wesley, London 1951, 123. 65 Das von Wesley im Tagebuch wiedergegebene Gespräch findet sich in deutscher Übersetzung in: John Wesleys Gespräch mit Zinzendorf, 3. September 1741, Wesley Journal II, 488 – 490 / Deutsch in: Mitteilungen der Studiengemeinschaft für den Methodismus I/1,2 (1962), 26 – 29. Eine Analyse dieses Gesprächs nimmt Peter Vogt vor in seinem Artikel »Keine innewohnende Vollkommenheit in diesem Leben«. Zinzendorfs Einspruch gegen die Heiligungslehre John Wesleys, in: Theologie für die Praxis 30/1 – 2, 2004, 68 – 82. 66 »Arminianisch«: Lehrmäßige Akzentsetzung gemäß eines wesentlichen Aspekts der Lehre des niederländischen Theologen Jacobus Arminius (1560 – 1609), die den »freien Willen« des Menschen, den Gott zwar zuvor kenne, aber nicht bewirke, und die Abwehr von Dogmen betonte, ohne damit jedoch die gesamte, auf der Dordrechter Synode 1618/19 verhandelte Lehre des Arminius zu übernehmen. Mit Wesleys sehr begrenzten Reflexionen der Lehre des Jacobus Arminius hat sich Stephen Gunter detailliert auseinandergesetzt: John Wesley, A Faithful Representative of Jacobus Arminius, in: Wesleyan Theological Journal, 42/2 (2007), 65 – 82.

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IV.

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Die Bedeutung Luthers und der reformatorischen Lehre für John Wesley und den Methodismus sowie umgekehrt des Methodismus für das Luthertum

Der Methodismus verdankt seine Erkenntnis, dass im Zentrum biblischer Botschaft Gottes verzeihende und vergebende Gnade steht, die bedingungslos im Glauben entgegen genommen werden darf, der Vermittlung durch lutherische Pietisten. Lutherische Theologie spielt über diesen grundlegenden Teilaspekt hinaus für Wesley keine weitere Rolle. Sie inspiriert ihn hingegen, sich mit der Auslegung der paulinischen Rechtfertigungslehre in verschiedenen Lehrtraditionen zu befassen. Wesley hat beispielsweise weder Lutherlieder ins Englische übersetzt noch Lutherschriften in seine 50-bändige Christian Library67 aufgenommen, in der er seinen Laienpredigern und Gemeindegliedern frömmigkeitsgeschichtlich und theologisch wichtige Schriften in gekürzter Fassung preiswert zur Verfügung stellte. Im Pietismus verbreitete Schriften von zeitgenössischen Vertretern des lutherischen Pietismus wie Johann Arndts »Wahres Christentum« und August Hermann Franckes »Nicodemus« fanden dort hingegen Aufnahme. Für Wesley war nicht der Bekanntheitsgrad eines Theologen und seiner Theologie maßgebend, sondern deren biblische Verankerung und Alltagstauglichkeit. In sein Tagebuch schrieb er nach Abschluss der Übersetzung einer Lutherbiografie: »Ich schloss die Übersetzung über Martin Luthers Leben ab. Zweifellos war er ein von Gott hoch begnadeter Mann und ein gesegnetes Instrument in seiner Hand. Aber oh! Wie schade, dass er keinen treuen Freund hatte! Niemanden, der ihn unter allen Umständen einfach und scharf für seinen rauen und eigensinnigen Geist und erbitterten Eifer für Ansichten gerügt hätte, die für Gottes Werk so sehr hemmend sind.«68

Der hier angesprochene Charakterzug Luthers scheint den eher pragmatisch handelnden Wesley in der Weite seiner eigenen theologischen Gesinnung abgestoßen zu haben. Der Theologe Franz Hildebrandt spricht von einer mehr gefühlsmäßigen als analytischen Auseinandersetzung Wesleys mit Luther. Er belegt diese Beobachtung mit einem markanten Zitat aus einem Briefwechsel, in dem Wesley schrieb: 67 Die Christian Library, 50-bändige Christliche Bibliothek, publiziert zwischen 1749 und 1755, mit gekürzten theologischen und literarischen Standardwerken wie auch Biographien bedeutsamer Theologen, die den Laienpredigern und Gemeindegliedern zur Fortbildung dienen und günstig zu erwerben sein sollten. 68 Journals of John Wesley, Eintrag vom 19. Juli 1749 (meine Übersetzung).

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»I love Calvin a little; Luther more; the Moravians, Mr. [William] Law, and Mr. [George] Whitefield far more than either. But I love truth more than all«.69

Dennoch wurde Wesley wirkungsgeschichtlich zum Mediator lutherisch-reformatorischer Lehre. Im 17. Jahrhundert hatte der Calvinismus starken Einfluss auf die Kirche von England gewonnen70 und die Extremform des Puritanismus ausgeprägt. Es galten zwar theologisch die vier Grundsätze der evangelischen Reformation (sola fide, sola gratia, solus Christus, sola scriptura), aber die befreiende rechtfertigende Gnade schien von streng asketischen Glaubens- und Lebenspraktiken überschattet. Indem Wesley auch in der Lehre seiner Kirche, der Kirche von England, die Rechtfertigungslehre wiederentdeckte, rückte er die Grundlage evangelischer Theologie auch im anglo-amerikanischen Raum wieder ins Zentrum. Bei seinen Nachforschungen zu Belegen für die Rechtfertigungslehre in der Tradition der Kirche wurde Wesley v. a. bei den griechischen Kirchenvätern der Alten Kirche (u. a. Makarios, Gregor von Nyssa, Ephraim dem Syrer etc.) in einer für die Westkirche neu orientierenden Weise fündig. Durch sie lernte er die verwandelnde, neu schaffende Kraft der Gnade sowie einen eher spirituellen als intellektuellen Zugang zur Heiligen Schrift kennen. Wesley griff diese Sichtweise in der Akzentuierung und Entfaltung der Soteriologie auf, der er als der »gelebten Gnade«71 sein Hauptaugenmerk schenkte. Jüngere Publikationen auch nicht-methodistischer Verfasser machen auf die ökumenisch vermittelnde Rolle der Soteriologie Wesleys sowie des Methodismus allgemein aufmerksam.72 Wesleyanische Theologie schöpft aus unterschiedlichen Erkenntnissen christlicher Lehre. Wesley verband die protestantische Betonung der Heiligung als im Glauben angenommene wirksame Gnade Gottes und die römisch-katholische Vorstellung eines christlichen heiligen Lebens mit der orthodoxen therapeutischen Sichtweise, in der Gottes Gnade im Glaubenden gestaltende Kraft entfaltet und die Gottebenbildlichkeit im Menschen erneuert wird. Hierdurch wurde der Methodismus konfessionell offen und vielseitig anschlussfähig, so dass er eine Brückenfunktion zwischen den Konfessionen wahrnimmt. Diese Mittlerstellung bedeutet keinesfalls eine Gleich69 Rattenbury, John E.: The Conversion of the Wesleys, London 1939, 171 (zitiert bei Hildebrandt, Franz: From Luther to Wesley, 14). 70 Diese Entwicklung hing mit Rekatholisierungsversuchen Englands zusammen, während denen Glaubensflüchtlinge vor allem Kontakt mit Calvinisten in den Niederlanden und in Genf hatten wie auch mit Hugenotten in Frankreich. 71 So auch der Titel eines Standardwerks methodistischer Theologie: Klaiber, Walter / Marquardt, Manfred: Gelebte Gnade. Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Göttingen 22006. 72 S. beispielsweise Rigl, Thomas: Die Gnade wirken lassen. Methodistische Soteriologie im ökumenischen Dialog, Paderborn 2001 [Konfessionskundliche und Konfessionstheologische Studien, Bd. LXXIII].

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gültigkeit oder Verflachung theologischer Unterschiede, wohl aber eine prüfende und einordnende Wertschätzung unterschiedlicher Auslegungstraditionen. Sie gilt es gemeinsam zu erkunden, über sie nachzudenken, gewissenhaft nach biblischen Belegen zu forschen und im christlichen Alltag nach wahrnehmbaren Bestätigungen zu suchen. Luther und lutherische Theologie haben im Umfeld der geistlichen Wende John Wesleys bei aller bereits dargelegten Begrenztheit und spezifischen (pietistischen) Prägung eine prominente Stellung in der methodistischen Geschichte und Theologie. Die historisch und theologisch Interessierten diskutieren seit nunmehr gut zweieinhalb Jahrhunderten, welche Textpassage aus Luthers Römerbriefvorrede Wesleys »Herz seltsam erwärmte«73 – wie er seine geistliche Erfahrung in seinem Tagebuch festhielt. Sie versuchen dabei, die Bedeutung dieser Schrift selbst zu ergründen. Darüber hinaus wurde zunehmend im Zeitalter der Ökumene Luthers Theologie auch von methodistischen Theologen umfangreich erforscht und mit wesleyanischer Theologie in Einzelaspekten in Beziehung gesetzt.74 Kirchenhistoriker bezeichnen den Methodismus bisweilen als »letzte große Kirchenbildung im Raum des Protestantismus«75 bzw. »letzte wichtige Kirchenbildung, die im Bereich des Protestantismus vor sich gegangen ist«76, in der die Reformation mit ihren noch unerfüllten Anliegen fortgesetzt worden sei, wie es die Reformatoren selber gefordert hatten (ecclesia semper reformanda est). Während Luther noch im Vorwort zu seiner »Deutschen Messe« 1526 betonte, die Sammlung bekennender Christen in Gemeinschaften sei erstrebenswert,

73 Wesley beschreibt die Veränderung des Herzens, die Gott durch den Glauben an Christus bewirkt habe: »Da spürte ich, wie mir seltsam warm ums Herz wurde. Ich fühlte, wie ich tatsächlich allein auf Christus und die Rettung durch ihn vertraute; ich bekam die Gewissheit geschenkt, dass er meine, ja meine Sünde weggenommen und mich vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit hatte« (Tagebucheintrag unter dem 24. Mai 1738). Die Ähnlichkeit der Erfahrungen mit Paulus und Luther beschreibt Wilfried Härle in seinem Artikel »Allein aus Glauben! – Und was ist mit den guten Werken?«, in: Theologie für die Praxis 31/1 – 2, 2005, 32 – 43. 74 Hildebrandt, Franz: From Luther to Wesley, London 1951; Watson, Philip S.: Die Autorität der Bibel bei Luther und Wesley, Stuttgart 1983 [BGEmK 14]; Rupp, Gordon E.: John Wesley und Martin Luther. Ein Beitrag zum lutherisch-methodistischen Dialog, Stuttgart 1983 [BGEmK 16]. Hinzu kommen Kapitel in Sammelbänden wie Klaiber, Walter : Luthers Schriftprinzip in seiner Bedeutung für die anglikanische und methodistische Theologie und Kirche, in: Knuth, Hans Christian (Hg.): Luther als Schriftausleger. Luthers Schriftprinzip in seiner Bedeutung für die Ökumene, Erlangen 2010, 71 – 87; Marquardt, Manfred: Zur Bedeutung Luthers für John Wesley und die Evangelisch-methodistische Kirche, im vorliegenden Band S. 107 – 127. 75 So geprägt von Erich Beyreuther, aber auch zu finden bei Pfleiderer, Georg: Art. Methodismus/Methodisten, in: RGG4, Bd. 5, 1179. 76 Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen, Göttingen 72000, 324.

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aber er habe die Leute dazu nicht,77 erreichte Wesley Menschen der Arbeiterklasse, die ernsthaft »im Glauben wachsen« wollten und sich als Weggemeinschaften regelmäßig in Kleingruppen zum Bibellesen, Beten und Empfang weiterer Gnadenmittel versammelten. Der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom schlug sogar vor, John Wesley als »anglikanische Version Luthers« zu bezeichnen.78 Frömmigkeitsgeschichtlich wird der Methodismus seit Ausweitung der Pietismusforschung auf Erweckungsbewegungen außerhalb Deutschlands oft als britische Spielart des Pietismus gesehen. Seither wird immer wieder der Versuch unternommen, den Methodismus zu kontinentaleuropäischen Entwicklungen in Beziehung zu setzen. Das ist aufschlussreich in Bezug auf die Vernetztheit beider Frömmigkeitsbewegungen, die sich – wie hier exemplarisch dargelegt – auch gegenseitig beeinflusst und Kontakte gepflegt haben. Herausfordernd ist die Frage nach den Ursachen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Relevanz der Bewegungen in jeweils anderen nationalen Kontexten. So konstatiert beispielsweise Bernd Moeller »neue soziale Formen [gemeint sind die in Klassen unterteilten Gesellschaften], die im Zeichen der Heimatlosigkeit, die im Gefolge der Industrialisierung aufbrach, stabilisierende Bedeutung gewannen.«79 »Die spezifisch soziale Prägung, die der methodistischen Bewegung von ihren Anfängen her zu eigen war, hat die englische Geschichte und Kirchengeschichte im 19. Jahrhundert und bis in unsere Gegenwart mitbestimmt. In England blieb die Industriearbeiterschaft mit dem Christentum enger verbunden als auf dem 77 »Die dritte Weise (des Gottesdienstes), welche die rechte Art der evangelischen Ordnung (an sich) haben sollte, dürfte nicht so öffentlich auf dem Platz unter allerlei Volk geschehen. Sondern diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit der Tat und dem Munde bekennen, müßten sich mit Namen (in eine Liste) einzeichnen und sich etwa in einem Haufen für sich allein versammeln zum Gebet, (die Schrift) zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke zu üben. In dieser Ordnung könnte man die, welche sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern, ausstoßen oder in den Bann tun nach der Regel Christi Matth 18,15 ff. Hier könnte man den Christen auch ein gemeinsames Almosen auferlegen, das man freiwillig gäbe und unter die Armen nach dem Vorbild des Paulus austeilte (2 Kor 9,1) … Aber ich kann und mag eine solche Gemeinde oder Versammlung noch nicht ordnen oder anrichten. Denn ich habe noch nicht die Menschen und Personen dazu, ebenso sehe ich auch nicht viele, die sich dazu drängen« (Luther deutsch, hg. von Kurt Aland, Bd. 6, Stuttgart und Göttingen 2. Aufl. 1966, 89 f). 78 Zitiert bei Hildebrandt, From Luther to Wesley, 15 – leider ohne Quellenangabe. 79 Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen, Göttingen 2., völlig neu bearb. Aufl. 1979, 325. Ähnliches gilt auch für die Pioniersituation in den nordamerikanischen Kolonien und später für die Ausbreitung der Siedlungsbewegung in den Westen Nordamerikas (s. O’Malley, Steven: On the Journey Home. The History of the Evangelical United Brethren Church, 1946 – 1968, New York 2003. O’Malley belegt die Funktion der »Ersatzfamilie«, die die Kleingruppen und das Netzwerk der Gemeinden sowohl für die nordamerikanische Pioniergesellschaft als auch Ende des 19. und im 20. Jahrhundert in der industriellen Gesellschaft der USA hatten).

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Kontinent. Und die Erinnerung an die christlichen Maßstäbe der Nation war hier in den folgenden weltanschaulichen und politischen Kämpfen elementarer, glaubwürdiger und zum Teil auch erfolgreicher.«80 Diese schlussfolgernde Interpretation könnte für die heutige Standortbestimmung und Zukunftsplanung christlicher Gemeinden relevant sein. Neben all diesen im historischen Zusammenhang bedeutsamen Anstößen auch zur theologischen Reflexion haben methodistische Kirchen im 19. und 20. Jahrhundert ganz pragmatische Gründe gehabt, sich intensiv auch mit lutherischer Theologie zu beschäftigen. Überall, wo lutherische Kirchen staatskirchenrechtliche Privilegien genossen oder genießen, mussten erwecklichmissionarische methodistische Reformbewegungen ihr Existenzrecht definieren und um Anerkennung kämpfen. Sie mussten ihre konfessionelle Zuordnung als »evangelische Kirche« darlegen und ihre theologischen Akzentsetzungen im Gegenüber zu anderen Konfessionen erläutern, um – ihrem missionarischen Auftrag entsprechend – handlungsfähig zu werden. Die entstehenden methodistischen Kirchen tragen in der Regel die konfessionelle Kennzeichnung »evangelisch« in ihrem Kirchennamen.81 Sie bekennen, dass sie mit dem Kern protestantischer Lehre, der Rechtfertigung allein aus Glauben, auf dem Boden der Reformation stehen. Obgleich sie in ihrer ökumenischen Gesinnung eher die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede zu anderen Konfessionen betonen möchten,82 hatten sie vorrangig die Unterschiede zu begründen – in den weltweit unterschiedlichen Kontexten auch je verschieden im Gegenüber zu weiteren konfessionellen Majoritäten. Das war für den international vernetzten Methodismus auch ein nützliches ökumenisches Übungsfeld, von dem Methodisten und Methodistinnen bis heute profitieren. Auf diese Weise haben sie sich in vielfältiger konfessioneller Anschlussfähigkeit einüben können und sich stets aufs Neue ihre Brückenfunktion zu anderen Kirchen bewusst gemacht. Sie blieben in Bezug auf die bereichernden Quellen anderer Traditionen aufmerksam. Hilfreich war 80 Ebd. 81 Dass diese Herausforderungen zur Definition von Kriterien des »Evangelischseins« ganz aktuell sind und nicht nur die Evangelisch-methodistische Kirche als Freikirche bewegen, belegt die jüngste Stellungnahme der VEF zu diesem Thema: Evangelisch sein. Stellungnahme der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) anhand der Leuenberger Konkordie (LK), 2012 (bisher unveröffentlicht). 82 John Wesley hat 1742 eine bis heute im Methodismus bedeutsame Schrift verfasst, The Character of a Methodist, in der er im Gegenüber zu polemischen Anfeindungen die Grundsätze christlichen Glaubens und Lebens darlegt, die Methodisten mit allen Christen teilen (Original in: Davies, Rupert E.: The Works of John Wesley, Vol. 9, Nashville 1989, 32 – 42; deutsch: Kennzeichen eines Methodisten. Warum Methodisten schlicht und einfach Christen sind. Neu übersetzt und bearbeitet von Manfred Marquardt, Frankfurt am Main 2 2011).

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dabei beispielsweise im deutschen Kontext83, dass methodistische Theologinnen und Theologen, die eine wissenschaftliche Karriere einschlagen wollten, an evangelischen lutherischen Fakultäten studiert haben und somit die wesleyanisch-methodistische Theologie schärfen konnten, wie auch kompetente Gesprächspartner für Lutheraner wurden.84 Der Methodismus ergreift zudem immer wieder auch stellvertretend das Wort für Schwesterkirchen. Als bezeichnend entdeckte ich folgendes Beispiel: In England haben sich methodistische Theologen nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst mit lutherischer Theologie auseinandergesetzt und darüber publiziert, um der Rehabilitation Luthers in England nach dem Zweiten Weltkrieg zu dienen, »als englische Kirchenmänner Luther als ›geistigen Ahnherrn Adolf Hitlers‹ brandmarkten und drauf und dran waren, das englische Lutherbild zu verfälschen.«85 In den letzten 50 Jahren wurden in den ökumenischen Beziehungen rasante Fortschritte gemacht. Bilaterale Dialoge des Weltrates Methodistischer Kirchen haben mit fast allen größeren Kirchen die Grundlagen zur nationalen Weiterarbeit geschaffen.86 In Bezug auf die reformatorischen Kirchen haben abgeschlossene Dialoge mit den lutherischen und reformierten Weltbünden mit den grundlegenden Feststellungen, dass es keine kirchentrennenden Lehrunterschiede gibt, weltweit zu Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaften geführt.87 Sie haben an der Basis Erleichterung geschaffen im Zusammenleben und -arbeiten – für Arbeitgeber und Arbeitnehmer/innen, Ehepartner und Familien. Methodistische Kirchen setzen sich auf allen Ebenen für ökumenische Zusammenar83 In anderen konfessionellen Kontexten wäre Entsprechendes zu belegen. 84 Z.B. im deutschen ökumenischen Kontext bekannt: Wilfrid Härle, Walter Klaiber, Manfred Marquardt. 85 So im Vorwort von Karl Steckel zu Gordon E. Rupp, John Wesley und Martin Luther. Vgl. auch Watson, Philip S.: Let God be God! An Interpretation of the Theology of Martin Luther, London 1947; in deutscher Übersetzung: Um Gottes Gottheit. Let God be God. Eine Einführung in die Theologie Luthers, Berlin 1952. 86 Roman Catholic Church (seit 1967); The Lutheran World Federation (1979 – 1984), Abschlussbericht: The Church – Community of Grace; The World Alliance of Reformed Churches (1987), Abschlussbericht: Together in God’s Grace; The Anglican Communion (seit 1992); The Salvation Army (2003 – 2011), Abschlussbericht: Working Together In Mission: Witness – Education – Service; Vorbereitungsgespräche mit Abgesandten des Orthodoxen Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel (1993, 1995, 1996, 2012). Hinzu kommen die Zustimmung der Mitgliedkirchen des World Methodist Council zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) in Seoul/Süd-Korea 2006. 87 U.a. Schweiz: Methodistisch-Reformierte Kirchengemeinschaft im Schweizer Evangelischen Kirchenbund (1922), BRD: mit den Mitgliedkirchen der VELKD und Arnoldshainer Konferenz (1987), DDR: mit den Gliedkirchen des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR (1990), Österreich: mit den Kirchen A.B. und H.B. (1990), mit den lutherischen Kirchen in Schweden (1993) und Norwegen (1997), USA: mit der Evangelical Lutheran Church in America (2005).

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beit ein und gehören zumeist zu den Gründungsmitgliedern internationaler wie auch regionaler ökumenischer Gremien.88

V.

2017 – Der methodistische Beitrag zu einer ökumenischen Herausforderung

Welche Erwartungen verbinden Methodisten nun mit dem Jubiläum 2017? Hierzu habe ich eine kleine Umfrage an Kolleginnen und Kollegen in verschiedenen Ländern unterschiedlicher Kontinente geschickt und sie um eine persönliche Einschätzung gebeten. Abgesehen von der historischen Bedeutung, die Luthers Vorrede zum Römerbrief in der Biografie unseres Kirchengründers und damit grundlegend für die methodistische Theologie bekommen hat, sind die Einschätzungen hier ganz methodistisch, nämlich pragmatisch. Die Herausforderung zur Mitgestaltung des Reformationsfestes scheint sich vorrangig an den konfessionellen Kontexten, tagespolitischen kirchlichen Herausforderungen wie auch je verschiedenen National- bzw. Lokalgeschichten methodistischer Kirchen und ihrer ökumenischen Zusammenarbeit zu entscheiden. So sind die gesellschaftlichen und auch konfessionellen bzw. religiösen Herausforderungen methodistischer Kirchen beispielsweise in Makedonien, Polen, Bulgarien, im Kongo, Simbabwe, auf den Philippinen oder in Brasilien – um nur einige konkret zu nennen – wesentlich gravierender als die Frage nach Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum. In Norwegen beispielsweise beschäftigen sich die Kirchen mit einer Neuorientierung im Staat, nachdem die gesetzliche Trennung von Staat und Kirche erfolgt ist – auch die lutherische Kirche. Ein Statement aus den USA sagt, dass das konfessionelle Bewusstsein insgesamt wenig verbreitet und damit auch das gesellschaftliche Interesse an konfessionellen Ereignissen gering sei. Auch scheint die protestantische Theologie des Ursprungslandes der Reformation in den letzten Jahrzehnten weltweit neuen relevanten christlich-theologischen Reflexionen gewichen zu sein, zumal sich die christlichen Zentren auf andere Kontinente verlagert haben, für die 88 Nach meinen Kenntnissen trifft das derzeit lediglich für die autonome Methodistenkirche in Brasilien nicht zu, die sich im Kontext pfingstlerischer Entwicklungen derzeit aus ökumenischer Zusammenarbeit zurückzieht, erneut ein Beleg für kontextuelle Einflüsse – auch Gefährdungen – der Kirche. Gründung ökumenischer Gremien auf europäischer Ebene: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK), Konferenz Europäischer Kirchen (KEK, jeweils Gründungsmitgliedschaft), 1997 Beitritt zur Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Bedeutsame Erklärungen der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland: 2003 Unterzeichnung Charta Oecumenica, 2007 Unterzeichnung Magdeburger Erklärung (wechselseitige Taufanerkennung von elf Kirchen in Deutschland), 2012 Evangelisch sein. Stellungnahme der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) anhand der Leuenberger Konkordie.

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kontextuelle Fragen wesentlich bedeutsamer erscheinen (in Asien, Afrika, Lateinamerika). In orthodoxen oder römisch-katholisch dominierten Ländern finden sich Methodisten oft mit anderen evangelischen Kirchen in einer Diasporasituation, die sie eint.89 Als Minoritätenkirchen befassen sie sich weiterhin vorrangig mit Kernfragen christlicher Verantwortung. Als Methodistinnen und Methodisten fühlen wir uns weltweit zusammen mit anderen Kirchen herausgefordert, die frei machende Botschaft der rechtfertigenden Gnade Gottes und die aus ihr resultierende heil werdende Beziehung zu Gott und unseren Mitmenschen zu glauben, zu verkündigen und zu leben. Wie diese zentrale biblische Botschaft in unterschiedlichen Auslegungstraditionen entfaltet und spirituell wie auch praxisorientiert Gestalt gewinnen kann, entdecken wir in bereichernder Weise auch in anderen Konfessionen. Diese positiven Erfahrungen mit anderen Kirchen, Gemeinschaften und Konfessionen können wir in das Reformationsjubiläum innovativ einbringen. Es gibt viele Beispiele daraus erwachsener vertrauensvoller Zusammenarbeit weltweit. Allgemein erkennen wir als Methodistinnen und Methodisten die Bemühungen in Deutschland an, im Gegensatz zu früheren Jubiläen das Reformationsjubiläum wirklich ökumenisch zu feiern und nicht einem konfessionellen oder nationalen Triumphalismus zu huldigen. Es geht doch weniger darum, ein kirchengeschichtlich bedeutsames Ereignis zu feiern, als den immer wieder neuen Auftrag wahrzunehmen: die Wahrheit und die Freiheit des Evangeliums aus den Verkrustungen und der Gefangenschaft unserer Traditionen (auch protestantischer!) zu lösen und gemeinsam Gottes Stimme zu hören. Daran wollen wir uns gerne mit allen unseren Erfahrungen und den zur Verfügung stehenden Kräften beteiligen. Eine fortgesetzte ökumenische Auslegungsgemeinschaft wäre grandios!90 Das gemeinsame Ergründen biblischer Zeugnisse zu Rechtfertigung, Heiligung und christlicher Vollkommenheit, dabei auch die Überprüfung verschiedener christlicher Traditionen hierzu wären in ökumenischer Gemeinschaft und Weite instruktiv. Das Erkennen der daraus erwachsenen ethischen Konsequenzen für Glauben und Handeln ist aus methodistischer Sicht unerlässlich. Darin liegt die große Herausforderung des Reformationsjubiläums 2017 aus methodistischer Sicht. Dieser Veränderungsprozess kann uns unter Gottes Führung gemeinsam auf einen Weg der Heiligung lenken, der soziale Heiligung einschließt.

89 So z. B. in Europa in Österreich, Polen, Spanien, Italien. 90 Sie existiert bereits in erfreulichen Ansätzen unter Experten, wie die folgende Publikation belegt: The Biblical Foundations of the Doctrine of Justification. An Ecumenical Follow-Up to the Joint Declaration on the Doctrine of Justification, Genf 2011 (deutsch: Biblische Grundlagen der Rechtfertigungslehre, hg. von W. Klaiber, Leipzig und Paderborn 2012).

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Der Wort-Gottes-Begriff Martin Luthers (verbum efficax) in seiner Bedeutung für die Soteriologie und Ekklesiologie Freier evangelischer Gemeinden

Zum theologischen Selbstverständnis Freier evangelischer Gemeinden gehört zweifelsohne der Rückbezug auf das Reformationsgeschehen. Dieser Sachverhalt war nicht nur den Gründervätern sehr wichtig1, sondern kommt auch in der jüngst veröffentlichten Stellungnahme der Bundesleitung zum Evangeliumsverständnis der Leuenberger Konkordie dezidiert zum Ausdruck, wenn es dort heißt: »Die Freien evangelischen Gemeinden verstehen sich als Gemeinden Jesu Christi, die geschichtlich und theologisch an die Reformation des 16. Jahrhunderts anschließen. Sie teilen mit den evangelischen Landeskirchen und anderen evangelischen Freikirchen und Gemeindebünden das Erbe der Reformation, das in dem viermaligen Solus (sola gratia, sola fide, solus Christus, sola scriptura) zum Ausdruck kommt und sein Zentrum im Evangelium als der frohen Botschaft von Gottes freier Gnade hat. Freie evangelische Gemeinden sehen ihr Verständnis von Gemeinde als ›Gemeinschaft der Glaubenden‹ in Martin Luthers Schrift über den Gottesdienst (Deutsche Messe, 1525/ 26) intendiert. Ihr theologisches Profil ist mit bedingt durch drei zentrale sich aus der Reformation ergebende Fragen: Wie können wir als Menschen Gottes Wort annehmen? Wie ist eine Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden zu verwirklichen? Wie ist eine Erneuerung des Lebens durch das Evangelium möglich?«2

In den folgenden Ausführungen soll es um die Frage nach dem theologischen Anschluss der Freien evangelischen Gemeinden an Martin Luthers Wort-GottesTheologie gehen. Damit soll nicht überlagert werden, dass mentalitätsgeschichtlich und sozialgeschichtlich der eigentliche Boden für die Entstehung der Freien evangelischen Gemeinden erst in der Moderne gegeben ist, wie der 1 Vgl. W. Haubeck / W. Heinrichs / M. Schröder (Hg.), Lebenszeichen. Die Tagebücher Hermann Heinrich Grafes in Auszügen, Wuppertal-Witten 2004, 44 ff. 56 ff.; R. Schmitz, Heinrich Neviandt, Witten o. J. (1926), 67 – 77. 2 Stellungnahme der Leitung des Bundes Freier evangelischer Gemeinden (K.d.ö.R.) zum Verständnis des Evangeliums, Witten 2011, I. Einleitung, Ziffer 1 und 2. Zum ausführlichen Rückbezug auf Luthers Schrift über den Gottesdienst vgl. auch K. Bussemer, Die Gemeinde Jesu Christi. Ihr Wesen, ihre Grundsätze und Ordnungen, Witten 81984, 9 f.

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Markus Iff

Historiker Wolfgang Heinrichs in seiner Studie zu den Freikirchen als moderner Kirchenform aufgezeigt hat.3 Gleichwohl liegen diesen in der Moderne entstandenen Freikirchen theologische Strukturelemente in Ekklesiologie und Soteriologie zugrunde, deren Analogie zu den Kirchen der Reformation unübersehbar ist.

1.

Annäherung an die Schlüsselbedeutung und Verortung des Wort-Gottes-Begriffs in Martin Luthers Theologie und in Freien evangelischen Gemeinden

Zu Martin Luthers zentralen Einsichten für die Soteriologie und die Ekklesiologie gehört die grundlegende Unterscheidung und die In-Beziehung-Setzung von opus Dei und opus hominum. Im Verständnis des Wesens des christlichen Glaubens geht es um die Beziehung zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln der Menschen. Das Verständnis der Kirche wiederum ist im Verständnis des Wesens des christlichen Glaubens, seines Vollzugs und seines Ermöglichungsgrundes enthalten. Es ist das Handeln Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, der die von Gott entfremdete Menschheit mit sich versöhnt, indem er die Wahrheit über die Beziehung des Schöpfers zur Schöpfung als Glaubensgewissheit erschließt und so verwirklicht. Die Frage des Verhältnisses von opus Dei und opus hominum bietet den Rahmen, innerhalb dessen Luther und auch die anderen Reformatoren die ihnen überlieferten Formeln zur Beschreibung des Wesens und der Aufgabe der Kirche interpretierten.4 Gottes Handeln in der Schöpfung, der Offenbarung und der Inspiration begründet die Beziehung zwischen Gott und seinen Geschöpfen, indem Gott der schöpferische Grund ihrer Existenz ist. Das Handeln Gottes des Vaters, des Sohnes und des Geistes setzt menschliches Handeln frei und befähigt Menschen in Übereinstimmung mit dem Willen des Schöpfers zu handeln, der in Christus durch den Geist erschlossen und gewiss gemacht wird. Aufgrund dieser Unterscheidung können göttliches und menschliches Han3 W. Heinrichs, Freikirchen – eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal, Gießen 1989, 16 ff. 4 Chr. Schwöbel hat nachgewiesen, dass die Unterschiede zwischen Luthers und Calvins Verständnis der Kirche die gemeinsamen Grundlagen reformatorischer Ekklesiologie nicht überlagern. Calvin teilt mit Luther die Erkenntnis, dass die Kirche als Glaubensgegenstand von der Kirche als einem menschlichen Handlungsbereich, als einer institutionellen Ordnung und als Feld von Reformbemühungen, genau unterschieden werden muss. Vgl. dazu Chr. Schwöbel, Das Geschöpf des Wortes. Grundeinsichten reformatorischer Ekklesiologie, in: Ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 345 – 377, insbesondere 362 ff.

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deln in Bezug auf die Konstituierung des Glaubens und der Gemeinde niemals auf derselben Ebene konkurrieren oder kooperieren. Gottes Werk ist immer die Bedingung der Möglichkeit allen menschlichen Handelns. Diese Unterscheidung ist allerdings keine Trennung. Alles menschliche Handeln bleibt für immer von Gott als seinem schöpferischen Grund abhängig. Luther hat nun die Einheit des Handelns von Gott Vater, Sohn und Geist in der Metapher des Wortes Gottes zusammengefasst, weil Gott das Ziel seines Handelns seinen Geschöpfen in der Zusage ewigen Lebens in der Gemeinschaft seines Reiches mitteilt. Das Evangelium ist somit für ihn in seinem Kern die Zusage, dass Gott seine Beziehung zur Menschheit in Jesus Christus schöpferisch wiederhergestellt und die Entfremdung überwunden hat.5 Die reformatorische Entdeckung Luthers ist verbunden mit der Erkenntnis, dass das Wort Gottes ein wirksames Wort ist. Es wirkt in menschlicher Sprache als befreiende und gewiss machende Zusage. Dem Wort-Gottes-Begriff kommt in Theologie und Bekenntnis der Freien evangelischen Gemeinden eine Schlüsselrolle zu. Dies lässt sich sowohl in Bezug auf die entsprechende Semantik wie auch in Bezug auf die inhaltlichen Strukturmerkmale und theologischen Grundlagen zur Soteriologie, zur Ekklesiologie und zur Hermeneutik an prominenten Stellen der Geschichte der Entstehung Freier evangelischer Gemeinden, an der gegenwärtig gültigen Verfassung und an theologischen Veröffentlichungen zeigen. Dabei begegnet der Wort-Gottes-Begriff überwiegend in Bezug auf und in eins gesetzt mit den biblischen Schriften. Hermann Heinrich Grafe, Gründer der ersten Freien evangelischen Gemeinde, begründet beispielsweise sein Verständnis der Ordnungen und der Ämter der Gemeinde mit dem Verweis: »Das Wort Gottes läßt keinen Aufrichtigen darüber in Zweifel, wie eine sichtbare, örtliche evangelische Gemeine sein soll, sowohl aus was für Gliedern sie bestehen, als auch nach welchen Ordnungen sie sich einrichten soll. Die apostolischen Briefe sprechen sich darüber in der umfassendsten und bestimmtesten Weise aus; und ich finde immer, dass man das Wort Gottes verleugnen muss, wenn man nicht eine Gemeine von Gläubigen in der zur Zeit der Apostel gegebenen und bestehenden Ordnung für alle Zeit bis zur Wiederkunft des Herrn beibehalten will.«6

Der Glaube an die Heilige Schrift als das verbum Dei externum aber besagt – und hier kommt in Grafes Gebrauch des Wort-Gottes-Begriffs ein Genitivus sub5 Vgl. dazu die Formulierung in Luthers Predigtauslegung zum 1. Petrusbrief: »Evangelion aber heisset nichts anderes, denn ein Predigt und Geschrei von der Gnad und Barmherzigkeit Gottes, durch den Herren Christus mit seinem Tod verdienet und erworben; und ist eigentlich nicht das, das in Buechern stehet, und in Buchstaben verfasset wird, sondern mehr eine muendliche Predigt und lebendig Wort und eine Stimme, die da in die ganze Welt erschallet und oeffentlich wird ausgeschrien, dass man’s ueberall hoeret.« Epistel St. Petri gepredigt und ausgelegt (1523), D. Martin Luthers Werke, Weimar (= WA), 12, 259. 6 H. H. Grafe, Lebenszeichen. Tagebücher Bd. VI, 24. 1. 1859.

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jectivus zum Tragen –, der »Autokratie des Wortes Gottes«7 die Selbstdurchsetzung zuzutrauen. Auch bei Friedrich Heinrich Neviandt, dem ersten Prediger und Theologen der Freien evangelischen Gemeinde, findet sich der Wort-Gottes-Begriff als theologische Qualifizierung der apostolischen und biblischen Schriften und der Begründung ihrer Autorität. Neviandt geht von der überzeitlichen und unbedingten Autorität der Bibel als – dem geschriebenen (!) – Wort Gottes aus.8 Er nimmt somit eine spezifische Gestalt des Wortes Gottes in den Blick. Deren Autorität wiederum liegt darin, dass sie von dem einmaligen Heilsgeschehen in Jesus Christus Zeugnis gibt. Eigentlicher Aussage- und Wirkgehalt des Wortes Gottes ist somit seine Botschaft vom Heil, das letztgültig im Christusgeschehen besteht. Ein weitergehend ausdifferenziertes Verständnis zum Wort-Gottes-Begriff finden wir bei Otto Schopf9, einem führenden Theologen der zweiten Generation des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland. Das Wort Gottes ist Grund des Heils und der Gemeinde insofern, als es der entscheidende »Geistesträger« ist, wie Schopf hervorhebt. Weil das Wort und der Geist Christi eine unauflösliche Einheit bilden, so kommt durch das Wort, das Gott »in uns durch seinen Geist lebendig« macht, der Geist Gottes selber in unser Inneres hinein mit seiner lebenschaffenden Kraft. Die neue Kreatur ist darum aus dem Wort gezeugt und nur, wenn sie im Wort bleibt und das Wort »bei uns Fleisch wird«, sind wir des Geistes teilhaftig.10 Und es ist der eine Geist im Wort Gottes, der die Gläubigen zu einer Gemeinde zusammenbringt. In der seit 1976 gültigen Verfassung des Bundes Freier evangelischer Gemeinden heißt es in der Präambel unter Ziffer (1): »Verbindliche Grundlage für Glauben, Lehre und Leben in Gemeinde und Bund ist die Bibel, das Wort Gottes.« Der hier mit der Bibel in eins gesetzte und im Gebrauch nicht weiter reflektierte und ausdifferenzierte Wort-Gottes-Begriff wird allerdings in den letzten beiden Jahrzehnten des ausgehenden 20. Jahrhunderts von den Theologen Kurt Seidel und Gerhard Hörster im Anschluss an Karl Barth in eine Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes geweitet. Die Qualität der Heiligen Schrift ruht nicht primär in sich selbst als dem inspirierten Gotteswort, sondern in der »Offenbarung Gottes in der Geschichte und besonders in Jesus Christus« 7 A.a.O., 22. 1. 1859. 8 Zu Fr. H. Neviandts Schriftverständnis vgl. H. Lenhard, Studien zur Entwicklung der Ekklesiologie in den Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland, Wuppertal-Witten 1977, 131 – 134. 9 Zur Person und zum Werk von O. Schopf vgl. H. Weyel, Zukunft braucht Herkunft. Lebendige Porträts aus der Geschichte und Vorgeschichte Freier evangelischer Gemeinden, Bd. 2, Witten 2010, 227 – 264. Siehe auch die dort angeführten Literaturhinweise 260 – 264. 10 O. Schopf, Zur Casseler Bewegung, Bonn (3. Auflage) o. J. (1. Auflage 1907), 316 f.

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als der »einzigartige(n) und grundlegende(n) Gestalt des Wortes Gottes«11, welches durch die Bibel bezeugt wird. Der jetzige Rektor der Theologischen Hochschule des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Dietzhölztal-Ewersbach, Michael Schröder, nimmt in der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Hochschule im Rahmen eines Beitrages zum Schriftverständnis in frei-evangelischer Tradition den WortGottes-Begriff auf. Er setzt allerdings dezidiert mit der Schöpfung im und durch das Wort Gottes ein und hebt in diesem Zusammenhang darauf ab, dass Gottes Wort ein »wirkmächtiges, Gestalt bildendes und damit auch … Geschichte machendes Wort«12 ist. Er differenziert zudem den Wort-Gottes-Begriff in einen Genitivus subjectivus und einen Genitivus objectivus aus, wenn er einerseits das den Menschen nicht verfügbare Reden Gottes betont. »Das Reden Gottes wird durch das Wirken seines Geistes zur (persönlichen) Anrede, die nicht verfügbar ist, sondern sein souveränes Handeln bleibt.«13 Andererseits betont er die besondere Autorität der Bibel als schriftgewordenes Wort Gottes. Weiter zu bedenken wäre noch, wie sich diese schriftliche Gestalt des Wortes Gottes zum menschgewordenen Wort Gottes Jesus Christus verhält. Die zentrale Bedeutung des Wort-Gottes-Begriffs für die Ekklesiologie und Soteriologie Freier evangelischer Gemeinden deutet sich bei Schröder darin an, dass Schröder die Verkündigung des Wortes Gottes als grundlegende Aufgabe der Gemeinde Jesu Christi versteht. Auf die Schlüsselrolle des Begriffs »Wort Gottes« für Freie evangelische Gemeinden verweist nicht zuletzt auch die »Ordnung der Vereinigung Evangelischer Freikirchen«, in denen diese mit anderen etablierten Freikirchen die theologische Vorlage und Vorgabe der Kirchen der Reformation bezüglich der Grundfragen der Ekklesiologie anerkennen. Demgemäß gilt für die in der VEF verbundenen evangelischen Gemeindebünde und Kirchen: »Mit allen Kirchen der Reformation bezeugen sie die Errettung der Sünder um Jesu Christi willen aus Gottes freier Gnade allein durch den Glauben … Sie verstehen die Kirche bzw. die Gemeinde Jesu Christi als Gemeinschaft der Gläubigen, geschaffen durch das Wort Gottes und gestaltet als Lebens- und Dienstgemeinschaft im Sinne des Priestertums aller Gläubigen.«14

11 G. Hörster, Die Bibel – Gottes Wort im Menschenwort, Gärtner-Forum 20, 1986, 9. 12 M. Schröder, Ganz Menschenwort und ganz Gotteswort. Aspekte zum Schriftverständnis, in: Lernen ¢ Begegnen ¢ Senden. FS 100 Jahre Theologische Hochschule Ewersbach, hg. von W. Haubeck und M. Schröder, Witten 2012, 35 – 51, 36. 13 A.a.O., 51. 14 Freikirchenhandbuch der Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF), hg. von K. P. Voß, Wuppertal 2004, 141.

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2.

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Grundlegende Aspekte zum Wort-Gottes-Begriff und zur Wort-Gottes-Theologie Martin Luthers

Bei Martin Luther wird mit dem Begriff »Wort Gottes« dasjenige benannt, was die Theologie zur Theologie macht. Es geht ihm mit diesem Begriff um das, was in allen theologischen Aussagen das Wesentliche und Konstitutive darstellt und damit um die fundierende Dimension allen theologischen Redens. Der Begriff »Wort Gottes« ist daher ein allgegenwärtiges Element in Luthers Schriften und Predigten; es gibt wohl kaum irgendeine Seite eines Textes von ihm, wo nicht das Wort Gottes erwähnt und herangezogen wird.15 Die grundlegende Bedeutung des Wort-Gottes-Begriffs für die Theologie Martin Luthers wird deutlich, wenn man Luthers Theologie von der Sprache her zu begreifen und Gott von der Sprache her zu denken versucht. Darauf haben Albrecht Beutel und in jüngster Zeit Joachim Ringleben aufmerksam gemacht.16 Eine solche Wort-Gottes-Theologie wie auch die Verwendung des WortGottes-Begriffs ist kritisch auf Karl Barths Lehre vom Wort Gottes17 zu beziehen, die üblicherweise als eine kraftvolle und wegweisende Erneuerung der reformatorischen Worttheologie gilt. In diesem großen Entwurf ist allerdings der Zusammenhang zwischen dem »Wort Gottes« und der menschlichen Sprache nicht berücksichtigt. Das Verständnis und die Konzeption eines »Selbstwortes« Gottes impliziert bei Barth die theologische Legitimation, den Bezug zur wirklichen Sprache ausblenden zu können. Übergeht man diesen Bezug nicht, muss man sich gleichwohl bei der Bestimmung und Verwendung des Wort-Gottes-Begriffs mit einer immer noch widerständigen Feststellung Emanuel Hirschs auseinandersetzten: »Dass Gott, bei sich oder zu andern, spricht, ist ein ebenso grober Anthropomorphismus, wie dass er mit Pfeilen schießt oder mit Hammern wirft.«18 Diese neuzeitliche Bestreitung des mehr als gleichnishaften Sinns einer Rede vom »Wort Gottes« gibt der Theologie die Aufgabe, auch theologisch damit ernst zu machen, dass das Wort »Gott« ein Wort unserer Sprache ist.19 Es lässt sich aber durchaus zeigen, dass Luthers Rede vom eigenen Sprechen und vom Worte Gottes keinen

15 Vgl. J. Ringleben, Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her, Tübingen 2010, 1 ff. 16 A. Beutel, In dem Anfang war das Wort, Tübingen 1991; Ders., Luther Handbuch, Tübingen 2005; J. Ringleben, Gott im Wort (Anm. 15). 17 K. Barth, Kirchliche Dogmatik (KD) I/1, Zollikon-Zürich 1932. 18 E. Hirsch, Leitfaden zur christlichen Lehre, Tübingen 1938, 79. Allerdings lässt Hirsch zugleich eine vorsichtige Einschränkung folgen: »Darüber, was mit solchen Gleichnissen gemeint ist, und ob es Maßstäbe für Angemessenheit und Unangemessenheit solcher Gleichnisse gibt, ist damit noch nicht geurteilt« (ebd). 19 Vgl. dazu E. Jüngel, Gott – als Wort unserer Sprache (1969), in: Unterwegs zur Sache, Tübingen 1972, 80 – 104.

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naiven »Anthropomorphismus« im Sinne von Hirsch impliziert.20 Luther behält die Sachfrage im Auge, dass und wie Gott als Schöpfer auch in der menschlichen Sprache »sich« vernehmlich machen kann. Unter Berufung auf Ps 94,9 weist er darauf hin, dass in der Sprache auch ihr Ursprung spricht bzw. sich vernehmlich macht und sich vergegenwärtigend mitgeht. Dazu gehört, dass für Luther menschliches Sprechen auch ein abgeleitetes Ereignis dessen ist, dass Gott als Schöpfer selber schon worthaft ist bzw. immer schon spricht. Martin Luthers Wort-Gottes-Theologie ist nicht zu verstehen, wenn man nicht bedenkt, dass er in vollem Ernst davon ausgeht, dass Gott wirklich selber geredet hat und redet. »Wort Gottes« ist also keineswegs eine uneigentliche Redeweise oder ein Symbol für etwas Außersprachliches. Zudem ist Gottes Reden wirklich als Reden in unserer menschlichen Sprache zu verstehen, wie sie in Gestalt von heiliger Schrift, der Worte Jesu und der christlichen Verkündigung an uns kommt. Damit korrespondiert, dass für Luther die religiöse Grunderfahrung schlechthin ist, dass Gott kein stummer (mutus) Gott, sondern in seinem ewigen Wesen bereits ein redender (verbosus) Gott ist. Gottes Sprachlichkeit ist die ewige Lebendigkeit seines Seins als Dreieiniger. Gottes ewiges Sein im Gespräch ist sein eigenes Leben, das er ganz in sich ist, weil er es ganz aus sich selber hat (Joh 5,26). Sein Sprechen eröffnet eine spezifische Gemeinschaft, wobei der hörende und im Glauben antwortende Mensch dadurch, dass »das Wort« sich in menschensprachliche Worte übersetzt, d. h. durch das Evangelium, in diese innergöttliche Kommunikation zu seinem Heil einbezogen wird. Die Mitte von Martin Luthers Theologie, der Theologie des Predigers und Schriftauslegers, dessen ganzes Denken »sich als vielgestaltige Auslegung der heiligen Schrift«21 vollzieht, kann so bestimmt werden, dass Gott selber mit dem Menschen in dessen eigener Sprache redet und dass er bislang eigentlich nicht anders geredet hat als in der menschlichen Sprache, mit den Worten von Menschen. Im Horizont einer solchen sprachtheologischen Perspektive ist wahrzunehmen, was Luther 1535 im Zusammenhang des Gebetes schreibt: »Zum andern dancke ich seiner grundlosen barmherzigkeit, das er sich so veterlich zu mir verlornen menschen herunter sencket und sich selbs ungebeten, ungesucht, unverdienet mir anbeutet mein Gott zu sein, sich mein anzunemen … wo er sich selbs so 20 Eine aufgeklärt-neuzeitliche Bestreitung des mehr als gleichnishaften Sinns einer Rede vom »Wort Gottes« hat einen radikalen Ausdruck bei dem skeptisch-nominalistischen Sprachkritiker Fr. Mauthner gefunden. In seinem »Wörterbuch der Philosophie« (2 Bände, 1910/11) schreibt er : »Es ist schwer ernst zu bleiben, wenn man den Begriff Gottes Wort untersuchen will. Wirklich: im Anfang war das Wort und Gott war ein Wort. Und diesem verstiegensten aller Worte, dem Gotte, hat [sc. der Monotheismus] … Worte in den anthropomorphen Mund gelegt, Menschenworte …« F. Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (1910), Neudruck 1980, 458 f. 21 A. Beutel, Luther-Handbuch (Anm. 16), 444.

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öffentlich hören liesse und uns jnn unser menschlichen sprache anböte, das er unser Gott sein wölle«22.

2.1

Gott und Sprache – Gott im Wort

Ausgangspunkt für Luthers Verständnis des Wort-Gottes-Begriffs ist dessen Eingebundensein in eine umfassende Sprachtheologie sowie der grundlegende Vorgang, dass Gott spricht, indem er sich in unsere Menschensprache herabgelassen hat. Indem er mit seinem Wort in unserer Sprache ist, spricht er durch Menschen, so aber spricht er selber zu uns. Ist davon auszugehen, dass das Wort Gottes auf Erden »nur durch Menschenmund ergeht, ohne damit jedoch seinen Charakter als Wort Gottes einzubüßen«23, so ist beides zu reflektieren, um den Status des göttlichen Wortes zu beschreiben: einmal der Umstand, dass es nur in unserer Sprache als Wort da ist, und sodann, dass Gott sein eigenes Wort durch unser Reden zur Sprache bringt. Gott macht sich unser Wort zu Eigen bzw. hat dies immer schon getan. Nur so spricht er ; aber so spricht auch wirklich er in unserer Sprache. D. h. in unseren eigenen Worten sagen wir dabei mehr als diese – als lediglich unsere Worte – menschlich besagen können. Indem Gott in menschlichen Worten zu uns redet, ist die Sprache – kraft seiner Herablassung in sie – wirklich sein Reden und redet er an ihrem Ort eigentlich und als er selber. Zugleich muss die abwegige Annahme vermieden werden, dass Gott selber im empirischen Sinne so redet, wie wir es tun, wenn wir Worte hervorbringen. Daher ist der Ausdruck »Wort Gottes« kein Anthropomorphismus. Damit Gott selber mit uns redet und uns sein eigenes Wort zukommen lässt, bedarf es nicht der absurden Annahme, er brächte eigens – im physikalischen Sinne – Worte so hervor wie wir : »Unser Gott redet nicht wie die Menschen, hat kein maul, sed loquitur per homines«24. Zu Gottes Geist-Sein gehört, dass er selber redet, obwohl er nicht (allein) selber redet bzw. dass, wo ein anderer die Worte – als sinnliche Laute – hervorbringt, er doch selber sein Wort spricht. Was unter dem Namen Gottes zur Sprache gebracht wird, transzendiert zugleich den Ort seines Auftretens (im hörbaren und lesbaren menschlichen Wort) auf Gott selber hin, der sich so als er selbst vernehmlich macht. Kraft seiner Kondeszendenz ist Gottes Wesen im Wort, das zugleich ein Schall menschlicher Stimme oder ein Gebilde menschlicher Lautzeichen, d. h. Buchstaben, ist. Macht Gott sich selber gegenwärtig »im Wort«, so ist er in unendlicher Selbstherab22 WA 38, 365, 10 – 13 u. 16 f. 23 So A. Beutel, Luther-Handbuch (Anm. 16), 113. 24 WA 48, 68, 4.

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lassung auch mit seinem ganzen Sein und seiner wirksamen Wesensgegenwart darin: »Denn GOTT hat da sein Wort hyn gelegt, darynn die gantze göttliche majestet ist«25 ; daher gilt: »wer das wortt hatt, der hatt die gantze gottheyt«26. Gerade wegen der untrennbaren Einheit, mit der Gott im Wort ist, ist aber auch zwischen Gottes eigenem Wort und bloßem Menschenwort zu unterscheiden. Die von Gott ausgehende Einheit von Gottes- und Menschenwort setzt – als solche – ihre qualitative Differenz voraus und impliziert sie auch in gewisser Weise. Die Einheit von Zeichen und Bedeutung im göttlichen Wort bzw. von Gottes Wesensmitteilung und Gottes Wort gilt nämlich exklusiv vom Wort Gottes als solchem. Sie gilt gerade nicht vom menschlichen Wort, nimmt man es für sich allein. Daraus folgt, dass nur aufgrund und im Horizont einer Fundamentalunterscheidung von Gottes eigenem Wort und bloßem Menschenwort die Einheit von Gotteswort und Menschenwort ausgesagt, d. h. begriffen werden kann, dass und wie Gott selber im Wort als Wort unserer Sprache ist. Dass Gott sich mit seinem Wesen ins Wort hineinbegibt, das gilt schon allem seinem Sein im Menschenwort zuvor. Im Anschluss an Joh 1, 1 – 3 ist die Fleischund Sprachwerdung des Wortes auf ein Gott selber innewohnendes Wort zurückzuführen: das ewige Wort. Dieser innertrinitarische Vorgang göttlichen Sich-Mitteilens ist aber nichts anderes als die Zeugung des Sohnes als des ewigen Wortes. Die worthafte Konstitution des Sohnes ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Gott im Wort zum Menschen gelangt. Gottes wesentliches Sich-Mitteilen verlängert sich ins Sich-Mitteilen des Sohnes an die Glaubenden. Im Sohn als »dem Wort« erst kann er als Wort bei Menschen ankommen. Wie Gott mit seinem Wesen im Wort sein kann – und weil er es ist –, so ist Christus in seinem Wort – d. h. ins Wort gefasst – ganz bei denen, die dieses Wort »fassen und halten«. In Christus, dem Wort, und in seinen Worten vermittelt sich an den Glauben Gottes eigene ewige Rede und seine zeitliche Anrede an den Menschen. Daher gilt es »Erkennen, das Christus ist der rechte Brieff, das güldene Buch, darinnen wir lesen, Lernen in sehen vor Augen den Willen des Vaters«27. Ist Gott wesenhaft Wort, so öffnet er worthaft sein Innerstes für uns, und eben dafür steht Christus. Bringt Gottes Wort sein ganzes Wesen mit sich, so erschließt er sein Herz völlig im Sohn, der selber »das Wort« schlechthin ist, und in diesem sehen und erkennen wir : »nämlich wie er [sc. Gott] sich ganz und gar ausgeschüttet hat und nichts behalten, das er uns nicht gegeben habe.«28 Allerdings bleiben Gott und Heilige Schrift nicht weniger unterschieden als 25 WA 16, 491, 29 f. 26 WA 10 I/1, 188, 8. Vgl. auch WA 15, 792, 13 f.: »Dicimus dei templum esse ibi, ubi verbum dei. Deus est ubi verbum eius est, alias essentia est ubique.« 27 WA 1, 274, 41 – 275, 1. 28 Die Bekenntnisschriften der evangelisch–lutherischen Kirche, Göttingen 1930, 132010 (=BSLK) 651, 13 – 15.

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Schöpfer und Geschöpf, obwohl er doch in seinem Sohn selber Geschöpf geworden ist und in seinem Wort sein Herz aufgetan hat. Auch für Luther steht fraglos fest, dass Gott selber mehr und größer ist, als dass er in den vorgegebenen Rahmen menschlicher Sprache eingebunden werden könnte. Dieses in Gottes Eigensein und unfassbarer Realität liegende »Mehr« und »Größersein« stellt sich aber genau als der sprachliche Mehrwert dar, der dem Wort »Gott« als Wort unserer Sprache zukommt. Denn nur und gerade in und mit der Sprache können wir über sie hinausgehen. Inwiefern Gott nicht nur im Sprachlichen zu fassen ist, muss daher gerade in der Sprache zur Geltung gebracht werden.

2.2

Die Kirche des Wortes

Die Kirche ist creatura verbi divini, Geschöpf des Wortes Gottes. Sie ist durch Gottes Handeln und nicht durch das Handeln der Menschen konstituiert. So ist sie weder eine Vereinigung von Menschen, die durch ihren gemeinsamen Geschmack an der Religion zusammengeführt werden, noch das Geschöpf irgendeines menschlichen Gemeingeistes. Weil Gott mit uns durch sein schöpferisches Wort (verbum efficax) handelt, darum ist das Evangeliumswort Vollendung seines Schaffens: »Ecclesia enim creatura est Euangelii«29, denn die Schöpfung zielt letztlich auf den Glauben. Gottes Wort ist so conditio sine qua non des Kircheseins der Kirche. Nur indem sie ihren Schöpfer Schöpfer sein lässt, d. h. dem Wort, das sie hervorruft, in sich einen uneinholbaren Vorrang vor allen ihren Vollzügen einräumt, bleibt die Kirche Kirche Jesu Christi. Die Kirche wird durch das Wort Gottes geschaffen, weil dieses die menschliche Antwort des Glaubens provoziert. »Das Wort weckt den Glauben. Der Glaube ist unsere Antwort auf Gottes Wort.«30 Das Wort Gottes schafft die Gewissheit, die den menschlichen Akt des Glaubens möglich macht. Luther interpretiert die Konstitution der Kirche im Zusammenhang des Verhältnisses zwischen äußerer und innerer Klarheit der Schrift. Die äußere Klarheit der Schrift ist der eindeutige literale Sinn der Schrift als Christusbotschaft, als Zusage der Gnade Gottes in Jesus Christus, durch die Gott seine Treue zu seiner gefallenen Schöpfung verwirklicht. Die innere Klarheit der Schrift bezieht sich auf das Lehren des Geistes im Herzen, durch die Gott die Wahrheit seiner Offenbarung in Jesus Christus, die im äußeren Wort der Schrift bezeugt wird, dem Glaubenden als persönliche Gewissheit erschließt. Wo das äußere Wort der Schrift durch das innere Zeugnis des Geistes im Herzen gewiss gemacht wird, 29 WA 2, 430, 6 f. 30 H. Bornkamm, Der weltgeschichtliche Sinn der 95 Thesen, in: Ders., Luthers geistige Welt, Lüneburg 1947, 134.

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wird es Gottes Wort, viva vox Dei. Diese Gewissheit, die durch die Bewahrheitung des Wortes der Schrift geschaffen wird, ermöglicht den Glauben als unbedingtes Vertrauen auf Gott den Schöpfer, Versöhner und Vollender. Dieser Glaube ist die einzig angemessene Antwort auf das Wort Gottes, durch das Gott die Kirche schafft, indem er den Glauben schenkt. Da nur Gott die Glauben ermöglichende Gewissheit schaffen kann, indem die Wahrheit der Offenbarung des Schöpfers in Christus von Gottes Geist gewiss gemacht wird, kann die Gewissheit des Glaubens durch menschliches Handeln nicht effektiv weitergegeben werden. Sie kann von keinem menschlichen Werk inkorporiert und in keiner menschlichen Institution real repräsentiert werden. Die Kirche muss die Glaubenskonstitution Gott überlassen und geschehen lassen – ubi et quando visum est Deo.31 Bedeutet das, dass Gott ganz unabhängig von der Verkündigung der Christusbotschaft in der Kirche Glauben schafft? Wiederum kann die Lehre vom äußeren und inneren Wort hier wichtige Hinweise auf Luthers Verständnis der Rolle des menschlichen Zeugnisses in der Konstitution der Kirche geben. Gottes Wort kann nicht von einem menschlichen Wort inkorporiert werden. Aber Gott inkorporiert das menschliche Zeugnis des Evangeliums in seinem Wort, insofern er das äußere Wort des Evangeliumszeugnisses durch das innere Wirken des Geistes so bewährt, dass Gewissheit geschaffen wird. Gott gebraucht das menschliche Evangeliumszeugnis in Freiheit, um Glaubensgewissheit zu schaffen. Allerdings schließt diese Beziehung zwischen Gottes schöpferischem Handeln in der Konstitution der Kirche und dem menschlichen Handeln der Verkündigung der Wahrheit des Evangeliums aus, dass das menschliche Handeln an die Stelle des Handelns Gottes in der Erschaffung der Kirche treten könnte.

2.3

Wort und Glaube

Das Verhältnis von Wort und Glaube hat Luther ganz aus dem Verhältnis Gottes zum Menschen bzw. des Menschen zu Gott gedacht. Im Wort seiner Zusage und Verheißung »verspricht« sich Gott definitiv dem ihm durch die Sünde entfremdeten Menschen. Innerhalb der Korrelation von Wort und Glaube – und gerade durch sie – kommt die Exklusivität Gottes als des alleinigen Urhebers unseres Heils zur Geltung. Gott kommt uns in seinem Wort uneinholbar zuvor, um so als er selber bei uns zu sein. In Gottes Wort an uns, seinem sprachlichen 31 Vgl. E. Herms, Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen. Die ökumenische Bewegung der römischen Kirche im Lichte der reformatorischen Theologie, Göttingen 1984, 100 ff.

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Handeln mit uns, ist der Glaube mithin passiv konstituiert. Im menschensprachlichen Wort Gottes als von uns zu hörendem bzw. in der notwendigen Bezogenheit von Wort der Verheißung und Glaube aufeinander sind Mensch und Gott wahrhaft beieinander (convenire). Weiterhin will Gott als Urheber unseres Heils allein an uns handeln und allein durch das Wort. Dabei wirkt er durch sein schöpferisches Wort alles und besonders die grundlegende Neugeburt im Glauben. Indem es im Heiligen Geist zum Glauben kommt, findet sich auch das glaubende »Ich« von Christus, dem personifizierten Wort Gottes her identifiziert und begründet (vgl. Gal 2,20). Das schließt in sich, dass es Glauben nur als den je meinen gibt. Es ist ihm wesentlich, dass er sich in der 1. Person Singular ausspricht: »Ich glaube …«. Nur als eigenen Glauben gibt es den Glauben überhaupt. Daher nützt die göttliche Verheißung auch niemandem »nisi ipsi credenti soli propria fide«.32 Es ist nun gerade das sprachliche Verhältnis zwischen Gott und dem glaubenden Selbst, das diesem vor Gott Selbstständigkeit gewährt. Die im anredenden Wort selber liegende Intention begründet das wesentliche Pro-me-Sein des Geglaubten. Die Heilsgewissheit des Glaubens ist nur als eigene Gewissheit möglich. Als selbsthaft Glaubender ist der Christ ganz selbstverantwortlich vor dem Wort: »eine Person für sich selbst, er gleubt für sich selbst und sonst für niemand«33. In dieser Weise gehören Wort und Glaube zusammen: nur im eigenen Glauben ist Gott »mein« Gott und auch so Gott für mich (pro me). Das Wort Gottes ist die eigentliche dynamis der heiligen Schrift. Solche Macht ist sowohl geschichtlich wirksam, als auch persönlich: im Glauben. Dieser bildet sich aus durch intensives Lesen in der und Hören auf die Schrift: »Darumb muß Du immerdar Gottes Wort im Herzen, Mund und fur den Ohren haben. Wo aber das Herz müßig stehet und das Wort nicht klinget, so bricht er ein [sc. der Teufel]«34. Es ist die eigene »Energie« des göttlichen Wortes der heiligen Schrift, die das menschliche Herz und den Glauben nicht »müßig« bleiben lässt. Was am Wort der Schrift Glauben entzündet, ist das sogenannte testimonium spiritus sancti internum, das nur die Selbstbeglaubigung des göttlichen Wortes selber ist, d. h. die Wirksamkeit der heiligen Schrift als sui ipsius interpres. Weil und indem das Wort dem Herzen genugtut, überführt es von seiner Wahrheit und bringt Gewissheit mit sich. Darum gilt: »Man muss das wort Gottis nicht alleyn lesen und hören, sondern yns hertz fassen«35. Von der Wirksamkeit des Gotteswortes kann nun nach Luther nicht geredet 32 33 34 35

WA 6, 512, 8. WA 19, 648, 19 f. BSLK 586, 5 – 17. WA 12, 296, 16 f.

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werden, ohne zugleich vom Glauben als seiner Wirkung zu reden: »Verbum est causa fidei, hoc est certum. Verbum non est opus nostrum, sed regnum Dei efficax et potens in cordibus nostris«36. Ist das wirkende Wort die »causa fidei«, so ist der Glaube als »Wohnen« im Wort, d. h. im göttlichen Haus der Sprache, eine Lebensform. Und erst in einer solchen hat der christliche Glaube seine spezifische Wahrheit. Der Liebe Tun – aus dem Glauben heraus (Gal 5,6) – ist mithin ein verlängertes, d. h. praktisch werdendes Hören auf Gottes Wort, das Reflex von dessen Intensität ist: »Darumb wisse, dass nicht alleine umb Hören zu tuen ist, sondern auch soll gelernet und behalten werden«37; eben in diesem Sichdurchdringen-lassen vom Wort besteht das Ehren des Gotteswortes. Und erst mit solchem existenzbestimmenden »Erinnern« mit seiner Nachhaltigkeit erschließt sich ganz die virtus verbi.

3.

Geistliche Erneuerung und grundlegende Kirchenkritik – soteriologische und ekklesiologische Dimension des Wort-Gottes-Begriffs

In einem kaum beachteten Text für eine brandenburgische Sprengelsynode, die sich mit den Missständen im kirchlichen Leben befasst und nach Möglichkeiten der Erneuerung gesucht hat, kommt Martin Luthers Hauptanliegen einer grundlegenden, die Kirche radikal erneuernden Reformation besonders zur Geltung.38 In diese Debatte hat Luther eingegriffen, indem er für Georg Mascov, den Probst des Leitzkauer Klosters, eine Rede ausarbeitete, die dieser dann vermutlich vorgetragen hat. Wann genau und für welche Synode sie geschrieben worden ist, lässt sich allerdings kaum noch mit letzter Sicherheit ermitteln. Der Herausgeber des Textes in der Weimarer Ausgabe plädiert für eine Bezirkssynode, die im Juni 1512 in Ziesar getagt hat.39 Martin Brecht nennt demgegenüber 1518 als Entstehungsjahr.40 36 WA 39 I, 332, 11 f. 37 BSLK 585, 6 – 9. 38 WA 1, 10 – 17. Vgl. J. von Lüpke, Radikale Kirchenkritik, radikale Erneuerung. Eine Synodalrede Luthers aus der Frühzeit der Reformation, in: Luther 79 (2008), 2 – 10. Die Rede ist in der Lutherforschung relativ wenig beachtet worden. Allerdings hat H.-J. Iwand ihr programmatische Bedeutung im Blick auf das Reformationsgeschehen eingeräumt. Vgl. Ders., Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre (1941), wieder abgedruckt in: Glaubensgerechtigkeit. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, hg. von G. Sauter, München 1980, 11 – 125, ausführliches Zitat 17 – 19. 39 Unter dem Gesichtspunkt der Kirchenkritik lässt sich die Synodalrede Luthers mit frühen einschlägigen Äußerungen aus der ersten Psalmenvorlesung (1513 – 1515) und aus der Römerbriefvorlesung (1515/1516) zusammenstellen. 40 M. Brecht, Martin Luther, Bd. 1: Sein Weg zur Reformation, Stuttgart 31990, 94.

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Im Vordergrund der Rede steht die Thematik der Wiedergeburt, nicht die Rechtfertigung. Ausgehend vom Predigttext 1Joh 5,4 f. (»Alles, was aus Gott geboren ist, überwindet die Welt; und das ist der Sieg, der die Welt überwindet: unser Glaube. Wer ist aber, der die Welt überwindet, wenn nicht der, der da glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist«) und unter beständiger Heranziehung von Jak 1,18 (»Er hat uns gezeugt nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit«) betont Luther nachdrücklich die schöpferische Macht und Heilswirksamkeit des Wortes. Die radikale Reformation, die das Leben des einzelnen und das Leben der Kirche insgesamt zu erneuern vermag, ist eine Sache des Wortes Gottes und seiner vollmächtigen Verkündigung. Und es ist zugleich Sache des Glaubens, der sich ganz auf Christus verlässt.41 Die rechte Lehre, so Luther, beginne mit der Kenntnis der »Buchstaben und Wörter« [literae et voces;]42 ; man müsse zuerst »die Sprache des Apostels verstehen und ihre Bedeutung erkennen« [necessarium est prius linguam Apostoli intelligere et signum eius cognoscere]43. »Die Geburt aus Gott [nativitas Dei] ist eine Zeugung [generatio], durch die wir aus Gott geboren werden … Es geschieht aber diese Zeugung durch nichts anderes als durch das Wort Gottes, wie Jakobus, Kapitel 1, sagt: ›Nach seinem Willen‹, so spricht er, ›zeugte er uns durch das Wort der Wahrheit‹ [Jak 1,18]. ›Nach seinem Willen‹ [voluntarie], sagt er, das heißt: umsonst und nach seinem freien Wohlgefallen, nicht nach unserem Verdienst und Würdigkeit … »44 »Und was kann das für eine Geburt sein, wo durch das Wort der Menschen und nicht durch Gottes Wort gezeugt wird? Wie das Wort, so die Geburt, wie die Geburt, so das Volk.«45 »Denn hier ist der Angelpunkt der Dinge [cardo rerum]. Hier [geht es um] das Ganze einer rechten Reformation [legitimae reformationis summa]. Hier [geht es um] das Wesen der ganzen Frömmigkeit [totius pietatis substantia]. Denn was ist das doch für ein Irrsinn und eine so verkehrte Verkehrtheit, dass du über gute Sitten nachsinnst und dich nicht viel mehr darum sorgst, wie diejenigen werden müssen und wie sie [jetzt] sind, die du zu guten Sitten zurüsten willst … Fest steht der Satz: Die Kirche wird geboren und besteht in ihrem Wesen allein durch das Wort Gottes [Stat fixa sententia, ecclesiam non nasci nec subsistere in natura sua, nisi verbo Dei]. ›Er hat uns gezeugt‹, heißt es, ›durch das Wort der Wahrheit‹.«46

41 Die Rede ist in lateinisch geschrieben. Die Hauptmotive des Predigttextes aufnehmend, erläutert Luther nacheinander die Begriffe »Geburt aus Gott« [nativitas Dei], »Welt« [mundus] und »Sieg« [victoria]. Zur Übersetzung vgl. J. von Lüpke, Radikale Kirchenkritik (Anm. 38). 42 WA 1,10,19. 43 WA 1,10,21 f. 44 WA 1,10,24 ff. 45 WA 1,12,16 – 20. 46 WA 1,13,24 ff.

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»Welches ist denn nun die [rechte] Weise zu kämpfen? Welches ist die gewisse Hoffnung auf den Sieg? Unser Glaube.«47 »Daher ist Tapferkeit im Glauben nötig, damit er durch das Anschauen der unsichtbaren Dinge die von den sichtbaren Dingen bewegten Begierden verachtet. Wenn aber dieser Glaube wirklich im Herzen ist, dann ist gleichsam Christus anwesend [Christus praesens est], an welchen mit diesem Glauben geglaubt wird. Wenn aber Christus gegenwärtig ist, so ist alles zu überwinden. Und es ist keine andere Weise des Siegens wirkungsvoller und edler ; ja fürwahr, das allein ist der Sieg: unser Glaube [1Joh 5,4].«48

In seiner Synodalrede legt Martin Luther Grundlagen für die Erneuerung und das Verständnis der Kirche und des Heils. Dabei kommt auch die Unterscheidung von opus Dei und opus hominum zum Tragen. Im Evangelium ist uns das Wort der Wahrheit gegeben. Es unterscheidet sich von den sonstigen Worten und Lehren dadurch, dass es einen Autor hat, der gleichsam zu seinem Wort steht und der weiterhin durch sein Wort wirkt. Jesus Christus, der Autor des Wortes, ist zugleich derjenige, der durch sein Wort den »Sieg des Glaubens« schafft. Auf Seiten des Menschen ist es nun allein der Glaube, der ihn zu Gott ins rechte Verhältnis setzt und Gottes Wirken wahrnehmen lässt. Allein durch den Glauben kann es zu jener radikalen Veränderung kommen, die Luther in der biblischen Rede von der Wiedergeburt zu denken unternimmt. Hier hängt alles von einer neuen Einstellung des Herzens ab. Der durch den Heiligen Geist gewirkte Glaube des Herzens ist es allein, der die sündhaften Begierden, das Kreisen des Menschen um sich selbst, zu überwinden vermag. Gottes Wort, verdichtet im Evangelium, ist wirksames Wort. Es ist »Wort der Wahrheit«, indem es diejenigen, die es hören und mit ihm umgehen, wahr werden lässt. »So wie aus dem Samen eines Weizenkorns ein Weizenhalm hervorgeht, daraufhin dieselbe Frucht, also Weizen: so wird aus dem Wort der Wahrheit nichts anderes als ein wahrer Mensch geboren.«49 So wie im Evangelium der Ursprung der geistlichen Geburt des einzelnen Menschen, der Ursprung seines Wahr-Werdens liegt, so ist auch die Reformation der Kirche insgesamt eine Sache des Wortes Gottes: »Wie das Wort, so die Geburt: wie die Geburt, so das Volk«50. Dass die Kirche ein »Geschöpf des Wortes« (creatura verbi) sei, diese für die reformatorische Ekklesiologie wesentliche Einsicht51, findet sich hier in aller Klarheit ausgesprochen: Dass die Kirche »allein durch das Wort Gottes« geboren und in ihrem Wesen allein durch das Wort Gottes 47 48 49 50 51

WA 1,16,11 f. WA 1,16,23 ff. WA 1, 11,12 – 14. WA 1, 12,20. Vgl. WA 2, 430,6 f. (Resolutionen zur Leipziger Disputation, 1519); WA 7, 721,10 – 13 (Antwort auf Ambrosius Catharinus, 1521).

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bewahrt wird, gilt als feststehender Satz. Das Wort Gottes ist Lebensgrund der Kirche, in ihm »subsistiert« sie.52

4.

Das Wort Gottes und seine Bedeutung für Glaube und Gemeinde – Erbe und Fortführung der Reformation in Freien evangelischen Gemeinden!?

Die Reformation der Kirche von der Wiedergeburt und Erneuerung durch Wort und Geist Gottes her zu denken, darf als Grundzug frei-evangelischer Soteriologie und sich daraus ergebender Ekklesiologie verstanden werden. Das Wort Gottes ist Grund des Heils und der Gemeinde, denn durch das Wort, das Gott »in uns durch seinen Geist lebendig«53 macht, kommt der Geist Gottes selber in unser Inneres hinein mit seiner lebenschaffenden Kraft. Die neue Kreatur ist darum aus dem Wort gezeugt. Es geht um die effektive Neuwerdung des gesamten Menschen in der Wiedergeburt, die sich der freien Gnade und der Wirksamkeit des Wortes Gottes verdankt. Die Erweiterung des Begriffs Gnade durch das Attribut »frei« entspricht dabei in Freien evangelischen Gemeinden dem reformatorischen sola gratia insofern, als damit die Unbedingtheit des Heils extra nos, aber pro nobis festgehalten werden soll.54 Das Wort Gottes ist für Freie evangelische Gemeinden, wie auch für andere evangelische Freikirchen, die Grundlage für Glaube, Lehre und Leben und somit der »Angelpunkt der Dinge« (so Luther in seiner Synodalrede). Sie gehen davon aus – um eine Formulierung von Wilfried Härle zu gebrauchen –, dass das Wort Gottes »die Ermöglichungsbedingung für allen menschlichen Glauben«55 ist. Insbesondere die existenzbezogene Bedeutung des Wortes Gottes, das vermittels des Geistes Anredecharakter erlangt, der sich konkretisiert im Zuspruch neuen Lebens und im Anspruch an und auf unser Leben, ist rückgebunden an Martin Luthers Verständnis vom verbum efficax. Theologisch fundamental ist die Betonung der befreienden Wirkung des Wortes Gottes im »Gewissen« bzw. im »Herzen«, d. h. in seiner existentiellen Bedeutung hinsichtlich der eigenen Lebensgeschichte, in der Frage des religiösen (Non-)Konformismus gegenüber der Gesellschaft sowie bezüglich der Gestalt der Kirche bzw. der Gemeinde. Das theologische Erbe Martin Luthers spiegelt sich in den Freien evangeli52 Vgl. dazu J. von Lüpke, Radikale Kirchenkritik (Anm. 38), 10. 53 O. Schopf, Zur Casseler Bewegung (Anm. 10), 316. 54 H. Lenhard hat in seiner Dissertation zur Entwicklung der Ekklesiologie in Freien evangelischen Gemeinden nachgewiesen, dass Grafe sich mit der Bestimmung und Verwendung des Begriffs »freie Gnade« an den Gründer der Lyoner Gemeinde A. Monod anschließt. Vgl. dazu Ders., Studien zur Entwicklung (Anm. 8), 43 f. 55 W. Härle, Art. Kirche VII. Dogmatisch, TRE 18 (1989), 277 – 317, hier : 308.

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schen Gemeinden auch in der grundlegenden Überzeugung, dass der eigentliche Aussagegehalt des Wortes Gottes, die Botschaft vom Heil ist, das letztgültig in Jesus Christus besteht. Zugespitzt kann daher auch in frei-evangelischer Perspektive gesagt werden: Jesus Christus als Person und mit seinem Werk ist das Wort Gottes. Christus, der Autor des Wortes, ist zugleich derjenige, der durch sein Wort und seinen Geist den »Sieg des Glaubens« schafft. Das Wort Gottes ist mithin ein »Tätigkeitswort« und ein »zeitliches Wort«56. Das Wort Gottes ist Christus selber, sofern er sein Sein im Sichkommunizieren bzw. Sichmitteilen hat. Die Einheit von Gotteswort und Menschenwort, wie sie in der Person Jesu als des menschgewordenen Logos begründet liegt, ist nicht nur kommunikativ bewegt, »sie beteiligt vielmehr auch den Menschen … an einem Wortwechsel, in dem sich Gott der Sprache des Menschen geradezu ausliefert«57. Im Vertrauen auf die Wirksamkeit des Wortes Gottes dürfen und sollen wir erwarten, dass Gott durch die Verkündigung des Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders immer wieder neu Glauben und Gehorsam bewirkt und dadurch Gemeinde entsteht und wächst. Das glaubende Hören auf Christi Wort verändert den Hörer, indem er in die Gemeinschaft aller Glaubenden versetzt wird. Hier scheint mir der Anschluss an Martin Luther evident. Insbesondere in der Frühzeit der Freien evangelischen Gemeinden ist der Zusammenhang von Rechtfertigungslehre und Ekklesiologie praktisch-theologisch wirksam geworden und damit Luthers Unterscheidung zwischen opus Dei und opus hominum grundlegend gewesen. Dieses doppelte Erbe – das von Luther und den Vätern – scheint mir gegenwärtig in Freien evangelischen Gemeinden verschüttet. Damit verbunden ist ein unevangelischer und in weiten Teilen unreflektierter Aktionismus. Eine Besinnung auf das Erbe der Reformation könnte für Freie evangelische Gemeinden die Möglichkeit eröffnen, die Gestaltungskraft des Wortes Gottes und der freien Gnade neu zu entdecken. Aber wie genau sind opus Dei und opus hominum in Bezug auf das Wirken und das Annehmen des Wortes Gottes zu bestimmen, wie vollzieht sich die Gemeinschaft, das commercium, zwischen Gott und Mensch im Wort? In Übereinstimmung mit anderen evangelischen Freikirchen sind Freie evangelische Gemeinden davon überzeugt, dass Gottes Wort erst da zu seinem Ziel kommt, »wo es menschlichen Glauben weckt und im Gehorsam des Glaubens angenommen wird«58. Daraus ziehen sie für die Struktur der Kirche die 56 J. G. Hamann konnte daher in der Auseinandersetzung mit M. Mendelssohn sagen, dass »ich auch von keinen ewigen Wahrheiten, als unaufhörlich Zeitlichen weiß« (Sämtliche Werke, Hist.-krit. Ausgabe hrsg. von Josef Nadler, Bd. III, Wien 1951, 303, 36 f; vgl. 311, 37). 57 J. von Lüpke, Theologie als »Grammatik zur Sprache der heiligen Schrift«, NZSTh 34 (1992), 244. 58 W. Härle, Art. Kirche (Anm. 55), 308.

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Konsequenz, dass diese nicht nur »Raum bieten muss für das Lautwerden des bedingungslos ergehenden (Glauben allerdings erst ermöglichenden) Wortes Gottes«, sondern auch »für das auf das Wort Gottes antwortende Bekenntnis des Glaubens in Wort und Tat.«59 Von der Wirksamkeit des Gotteswortes kann nicht geredet werden, ohne zugleich vom Glauben als seiner Wirkung zu reden. Noch einmal: »Verbum non est opus nostrum, sed regnum Dei efficax et potens in cordibus nostris«60. Nach frei-evangelischer Überzeugung reichen das Wirken des Wortes Gottes und die Antwort darauf im Glauben bis hinein in die ekklesiologischen Strukturen. Insofern gehört es zum Gemeindeverständnis der Freien evangelischen Gemeinden, dass die Gemeinde, theologisch gesprochen, »von oben«, durch das Wirken des Wortes und Geistes Gottes konstituiert wird. Sie wird aber eben zugleich auch »von unten«, nämlich durch den Willen von Menschen im Sinne eines responsorischen Geschehens mitbestimmt.61 Die Menschen glauben zwar nicht »aus sich selbst«, wohl aber »als sie selbst«. Sie sind passiv, aber ihre Passivität ist die »responsorische Passivität des Sichlassens«62 wie Wilfried Joest zu Recht im Anschluss an Luk. 1,38 betont. Dieser Glaube, der das Wirken des Heiligen Geistes in der Wiedergeburt voraussetzt, ist mit seinen kognitiven und voluntativen Dimensionen nicht nur soteriologisch, sondern auch ekklesiologisch unverzichtbar. Im Vertrauen auf die Wirksamkeit des Wortes Gottes dürfen und sollten Menschen danach gefragt werden, was dieses Wort in ihrem Leben bewirkt. Wir dürfen erwarten, dass Menschen darüber Auskunft geben können, ob sie zu Christus gehören oder nicht und dass dies auch ihre Zugehörigkeit zu Kirche und Gemeinde bestimmt.

59 Ebd. 60 WA 39 I, 332, 12. 61 Zu den ekklesiologischen Grundzügen Freier evangelischer Gemeinden vgl. M. Iff, Was sind Freie evangelische Gemeinden? Systematisch-theologische Grundzüge zum Selbstverständnis, in: Theologische Impulse 22 (2011), 138 – 168. 62 W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 313.

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Die Reformations- und Lutherjubiläen in freikirchlicher *) Rezeption

Schon 2004/2005 haben das »Wittenberger Lutherforum« und der Kieler Kirchenhistoriker Johannes Schilling in seiner Eigenschaft als Präsident der Luthergesellschaft dafür gesorgt, dass rechtzeitig begonnen wurde, den 500. Geburtstag der Reformation angemessen zu planen und mit allen daran Interessierten vorzubereiten.1 Nachdem dann am 21. September 2008 die feierliche Eröffnung einer »Lutherdekade« als großes Medienereignis in Lutherstadt Wittenberg begangen wurde, habe ich dazu kritisch in meinem jährlichen ökumenischen Lagebericht Stellung genommen: »Dass der ›Linke Flügel der Reformation‹ (Heinold Fast) fester Bestandteil der aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangenen Kirchen und Gemeinden ist, wird hoffentlich heute nicht mehr in Frage gestellt. Daher müssen sie auch – am besten über die Schiene der ›Vereinigung Evangelischer Freikirchen‹ (VEF) – mit ins Boot der Planungen für 2017 genommen werden. Und dies, obwohl nicht immer klar ist, wie Freikirchen heute selbst ihr reformatorisches Erbe verstehen und den Reformationstag als Feiertag nutzen.«2 Auch wenn dieser Klärungsprozess aktuell noch nicht in allen Freikirchen vorgenommen wurde, können doch einige Fakten in historischer Sicht festgehalten und ausgewertet werden. Nach der Klärung einiger Begrifflichkeiten gebe ich im Folgenden einen Überblick über die verschiedenen Reformations- und Lutherjubiläen seit 1616 und gehe dann auf deren freikirchliche Rezeption ein. Schließlich versuche ich thesenartig Konsequenzen zu ziehen.

*) Überarbeitete Fassung des Beitrags »Kinder einer unvollendeten Reformation«, in: Freikirchenforschung 20 (2011), 12 – 29. 1 Vgl. Stefan Rhein, Die Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum 2017. Ein Werkstattbericht, in: BThZ 28 (2011), 44 – 61. 2 Ökumene lebt von dosierter Überforderung. Konfessionskundliche Beobachtungen und Aufgaben, in: MdKI 59 (2008) Beilage zu H. 6, IX f.

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Begrifflichkeiten

Im Unterschied zu dem aus dem Lateinischen stammenden Verb »reformieren«, das bis heute in allen kulturellen Zusammenhängen im Gebrauch ist, wird das sich schon bei Seneca und Plinius d.J. findende Substantiv »Reformation« spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Einfluss des Historikers Leopold von Ranke (1795 – 1886) fast nur noch für die Epoche der Reformation des 16. Jahrhunderts verwendet. Das Adjektiv »reformatorisch« wird heute sogar ausschließlich auf die theologischen, strukturellen und kirchenpolitischen Veränderungen bezogen, die aus dem Reformprozess der abendländischen Kirche vor 400 bis 500 Jahren entstanden sind. Dieser reformatorischen Erneuerung konnte sich der damals altgläubige Religionspartei genannte Teil der abendländischen Christenheit bekanntlich nicht öffnen. Dieser entwickelte sich vornehmlich durch die mit dem Konzil von Trient (1545 – 1563) einsetzende »Katholische Reform« eben zur römisch-katholischen Kirche. Dass Martin Luther (1483 – 1546) selbst den Begriff »Reformation« nur selten verwendete, sei am Rande vermerkt. Er sprach etwa von einer »guten reformation der universiteten«, aber von »des Christlichen standes besserung« – statt von »Reformation«. Damit bezeichnete er jedoch an anderer Stelle die Beendigung verschiedener von ihm angeprangerter kirchlicher Missstände, sog. Gravamina. Während Philipp Melanchthon (1497 – 1560) im Rahmen seiner Würdigung von Luthers Leben und Werk noch 1548 den Begriff »Reformation« vermied, stellte schon 1520 Luthers theologischer Gegner, der sächsische Kontroverstheologe Hieronymus Emser (1478 – 1527) die Frage, ob denn Luthers Werk eine »Reformation« oder eine »Deformation« sei.3 Jedenfalls muss aus historischer wie konfessionskundlicher Sicht der Auffassung von Gottfried Seebaß (1937 – 2008) widersprochen werden, dass heute als »reformatorisch« nur das zu gelten habe, »was in den der Reformation entstammenden großen Konfessionen und Kirchen gelehrt und vertreten wurde«, und »also nicht ohne nähere Bestimmungen den weiten Bereich dessen« umgreife, »was als ›linker Flügel‹ der Reformation oder auch als ›radikale Reformation‹ bezeichnet wird«.4 Nicht nur die Ergebnisse dieser Untersuchung stehen einem solchen Verdacht entschieden entgegen.

3 Vgl. Gerhard Müller, Art. Reformation, in: LThK3 Bd. 8, 1999, 930 – 949. 4 Gottfried Seebaß, Art. Reformation, in: TRE 28, 1997, 386 – 404, 386 f. Als Folge dieser problematischen Sichtweise gliedert Seebaß auch den dritten Teil »Konfessionelles Zeitalter« seines Lehrbuches (Geschichte des Christentums III, Theol. Wiss. Bd. 7, Stuttgart 2006) so: Der Herausbildung der Konfessionen und ihrer Konsolidierung (Luthertum, Reformierte, Anglikanische Reformation in England und Schottland, Römisch-katholische Konfessionskirche) stellt er Gemeinden und Kirchen »Abseits der Konfessionen« gegenüber, zu denen er

Die Reformations- und Lutherjubiläen in freikirchlicher Rezeption

2.

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Schwerpunkte der Reformations- und Lutherjubiläen

Ein Blick auf die sehr unterschiedlich erforschte Geschichte der Reformationsjubiläen5 zeigt Überraschungen, die man als Kuriosa festhalten muss: Erstens gibt es dazu bis jetzt (Sommer 2012) nirgends einen eigenen Artikel in den einschlägigen Lexika – Fehlanzeige selbst in der Theologischen Realenzyklopädie (TRE) und in Wikipedia!6 Zweitens steht heute wissenschaftlich fest, dass Luther seine 95 Thesen zum Ablass nicht am 31. Oktober 1517 an der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen, sondern lediglich an Albrecht von Magdeburg und Hieronymus Schultz versandt hat. Daneben gibt es mehrere Aussagen Luthers, dass er diese Thesen auch erst dann veröffentlicht habe, als ihm deutlich wurde, beide Bischöfe würden nicht mit ihm in ein Gespräch hierüber eintreten wollen. Daran ändern auch die anders lautende Behauptung Melanchthons in der Vorrede zum zweiten Band der Werke Luthers von 1546 und angeblich neue Funde von Notizen des Luther-Adlatus Georg Rörer nichts, wie Volker Leppin genau belegen konnte.7 Dennoch hat Luther selbst später den 31. Oktober 1517 als den Beginn der Reformation gefeiert.8 Auch wenn der Zürcher Reformator Huldreich Zwingli (1484 – 1531) bereits 1516 gegen den Ablass gewettert hat und die Anfänge der Reformation in all ihren Facetten in den einzelnen Regionen insgesamt schwer datierbar sind, war und bleibt der 31. Oktober 1517 entscheidend für die reformatorische Erinnerungskultur.

Das Reformationsjubiläum 1617 Das dritte Kuriosum besteht darin, dass das erste und von fast allen evangelischen Reichsständen gemeinsam gefeierte Reformationsjubiläum vor allem ausgerechnet von kurpfälzischen Calvinisten ausging und dafür politische Gründe im Hintergrund standen. »Für die Unionsterritorien war das Fest bereits

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Schwenckfelder, Täuferische Gruppen, Waldenser, Antitrinitarier u. a. zählt (237 – 276 bzw. 276 – 284). Eine gute Übersicht über die wichtigste Literatur bietet Harm Cordes, Hilaria evangelica academica. Das Reformationsjubiläum von 1717 an den deutschen lutherischen Universitäten, FKDG Bd. 90, Göttingen 2006. Der für Oktober 2012 bei Vandenhoeck & Ruprecht angekündigte Band von Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, konnte leider nicht mehr verarbeitet werden! Zugriff am 04. 09. 2012 besagt, dass es weder einen Artikel »Reformationsjubiläum« noch »Reformationsjubiläen« gibt. Die Monumentalisierung Luthers. Warum vom Thesenanschlag erzählt wurde – und was davon zu erzählen ist, in: Joachim Ott / Martin Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt Bd. 9, Leipzig 2008, 69 – 92; vgl. Ders., Martin Luther, Darmstadt 2006, 117 – 126. WA Br 4, 275, 25 – 27 (1164).

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beschlossene Sache, als man sich auch in Kursachsen um das Zustandekommen einer Jubiläumsfeier und ihre Verbreitung in den protestantischen Ländern bemühte.«9 Und das kam so: Im April 1617 trafen sich in der freien Reichsstadt Heilbronn lutherische und reformierte Reichstände der protestantischen »Union«. Kurfürst Friedrich V. (1596 – 1632) schlug erfolgreich vor, durch eine Art öffentliche Danksagung und in Form eines Bußtages gegen die papst- und kaisertreuen altgläubigen Reichsstände Front zu machen. Die durch verschiedene Konfessionswechsel ohnehin verunsicherten Kurpfälzer hatten auch das verständliche Interesse, durch eine solche »Consonantz« das reformierte Bekenntnis den Anhängern der Augsburgischen Konfession als »konfessionsverwandt« zu dokumentieren.10 Freilich hatte auch die Theologische Fakultät in Wittenberg eine lokale Gedenkfeier beabsichtigt und aus diesen Anregungen entstand dann der Plan für ein landesweites Reformationsfest in Kursachsen.11 Aber der entscheidende Anstoß für ein das ganze evangelische Deutschland umfassende Jubiläum kam von einem reformierten Landesherrn;12 ein Umstand, der übrigens in älteren wie jüngeren Würdigungen meist unerwähnt bleibt. Dies gilt auch für Georg Arndt, der dafür interessante lokale Details bietet und auf die jesuitischen Gegenschriften und deren protestantische Repliken eingeht.13 Bemerkenswert sind die Forschungsergebnisse des heute in München lehrenden Kirchenhistorikers Harry Oelke. Seine Analyse zeitgenössischer illustrierter Flugblätter charakterisiert dieses Jubiläum »als Kristallisationspunkt konfessionellen Bewußtseins« und beschreibt die römische Reaktion: Papst Paul V. (1605 – 1621) verstand die geplanten protestantischen Feiern als enorme Provokation und reagierte mit der Verkündigung eines außerordentlichen Jubeljahres für 1617.14 Für die marxistische Reformationsgeschichtsschreibung steht im Vordergrund, dass jene »am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges abgehaltene erste Säkularfeier 1617 […] ganz im Zeichen landesfürstlicher Autorität« stand und »mehr einem von den protestantischen Landesherren von oben angeordneten Glaubensfest denn einem historischen Jubiläum« glich. 9 Hans-Jürgen Schönstädt, Das Reformationsjubiläum 1617. Geschichtliche Herkunft und geistliche Prägung, in: ZKG 93, 1982, 5 – 57, 7. 10 Vgl. Andreas Meier, Reformationsjubiläum – Luthertag?, in: FAZ Nr. 252 v. 29. 10. 2008, N3. 11 Vgl. Wolfgang Flügel, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617 – 1830, Leipzig 2005, der zwar deutlich macht, dass die Wittenberger Initiativen eng mit den dort und anderswo praktizierten Universitätsjubiläen zusammenhingen (29 – 33), die kurpfälzischen Aktivitäten aber ganz übergeht. 12 Vgl. Fritz Wolff, »Ein Tag, der gar in hundert Jahren nur einmal dich begrüßt…«. Ev. Jubiläumsfeiern in Hessen vom 17. bis zum 20. Jh., in: Günter Bezzenberger / Karl Dienst (Hg.), Luther in Hessen, Kassel / Frankfurt/M. 1983, 71 – 89. 13 Georg Arndt, Das Reformationsjubelfest in vergangenen Jahrhunderten. Gedenkblätter aus der Geschichte der evangelischen Kirche in Deutschland, Berlin 1917. 14 Harry Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter, AKG 57, Berlin / New York 1992, 415 – 429, bes. 424 f.

Die Reformations- und Lutherjubiläen in freikirchlicher Rezeption

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Begründet wird dies u. a. damit, dass der Kurfürst einen achttägigen Gottesdienst vorschrieb und »sogar die Texte angab, nach denen gepredigt werden sollte«.15

Das Reformationsjubiläum 1717 Hundert Jahre später war infolge des westfälischen Friedens von 1648 der blutige und unchristliche Kampf zwischen protestantischem und römisch-katholischem Lager zu einem offiziellen Ende gekommen. Die Reformierten wurden im Unterschied zu den Taufgesinnten reichsrechtlich anerkannt. Aber infolge der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) waren große Flüchtlingsströme von Hugenotten aus Frankreich und von Waldensern aus Savoyen in einige deutsche Länder gekommen, denen bald die von den Habsburgern um ihres Glaubens willen vertriebenen Protestanten aus Salzburg, Niederösterreich, der Steiermark und Kärnten folgten. Im Luthertum standen die lehrmäßigen Auseinandersetzungen in der Orthodoxie und mit dem aufkommenden Pietismus im Mittelpunkt. Es war wohl das Verdienst des Landgrafen Ernst-Ludwig von HessenDarmstadt (1667 – 1739), dass damals trotz zahlreicher Widerstände überhaupt Feiern durchgesetzt werden konnten. Diese fanden vor allem an den lutherischen Universitäten statt, die sich mit Ausnahme Altdorfs (bei Nürnberg) alle beteiligten. Nach den umfassenden Studien von Hans-Jürgen Schönstädt und Harm Cordes lassen sich folgende Schwerpunkte der Feiern von 1717 beobachten: (1) Wie tief die Gräben zwischen Lutheranern und Reformierten inzwischen waren, zeigt sich an der Tatsache, dass letztere sich »dem Werben für eine gemeinsame Jubiläumsfeier nahezu vollständig entziehen konnten«: »Was 1617 noch und 1817 wieder möglich war, die Besinnung von Lutheranern und Reformierten auf die gemeinsamen theologischen und historischen Wurzeln, war im ausgehenden Zeitalter des Konfessionalismus undenkbar.«16 (2) Die landeskirchlichen Jubiläumsverordnungen orientierten sich weithin an denen von 1617. Obwohl diese noch deutlich »vom Geist heftiger Auseinandersetzung … um die Wahrheit geprägt« waren, wurden andererseits bereits Konsequenzen aus den »Erfahrungen der Fruchtlosigkeit der hemmungslosen Polemik« erkennbar.17 15 Leo Stern, Probleme der Reformation im Spiegel ihrer Jubiläen, in: Ders. / Max Steinmetz (Hg.), 450 Jahre Reformation, Berlin 1967, 20 – 43, 25. 16 Harms Cordes (Anm. 5), 301. 17 Hans-Jürgen Schönstedt, Das Reformationsjubiläum 1717. Beiträge zur Geschichte seiner Entstehung im Spiegel landeskirchlicher Verordnungen, in: ZKG 93 (1982), 58 – 118, 117.

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(3) Die auffällige Distanz zur politischen Lage und zur Konfessionsproblematik erklärt sich wohl durch das weithin beobachtbare Befolgen eines kaiserlichen Dekrets, das die evangelischen Gesandten auf dem Reichstag zu Regensburg 1717 ermahnt hatte, sich bei den bevorstehenden Feiern nicht wie der gemeine Pöbel zu verhalten. In Sachsen spielten auch die 1697 bzw. kurz vor dem Jubiläum erfolgten Konversionen des Kurfürsten Friedrich August (1670 – 1733) und des Kurprinzen zum Katholizismus eine wichtige Rolle. Dennoch muss es auch kritische Stimmen gegeben haben, wie die Äußerungen des Hallenser Historikers und Juristen Johann Peter von Ludewig (1668 – 1743) zeigen, der »nach der Berechtigung evangelischer Jubel- und Lutherfeste fragte und vor einer Nachahmung des römischen Jubiläumspompes und des weltlichen Festglanzes warnte«.18 (4) Im Mittelpunkt der Reden und Schriften steht nicht ein historisches Interesse an der Reformation insgesamt, sondern die Reformation und Theologie Luthers, während unter dem Einfluss der Orthodoxie »Melanchthon und andere Mitarbeiter Luthers übergangen« oder »nur eingeschränkt als Reformatoren gewürdigt« werden.19 Schließlich bleibt festzuhalten, dass die Säkularfeiern von 1617 und 1717 einen entscheidenden Einfluss darauf hatten, den 31. Oktober als zentralen Gedenktag der Reformation zu begehen. Während etwa in den hessischen Gebieten keine zusätzlichen Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Confessio Augustana von 1530 oder an den Augsburger Religionsfrieden von 1555 bekannt sind, sind solche für Kursachsen bereits ab 1655 überliefert. Auch der 150. Jahrestag des Thesenanschlags wurde dort 1667 begangen und in dessen Folge ab 1668 ein jährliches Reformationsfest für den 31. Oktober festgelegt, das aber meist am Sonntag danach begangen wurde.20 In Klammern sei hier angemerkt, dass heute der Reformationstag (31. Oktober) in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ein gesetzlicher Feiertag ist. In Baden-Württemberg ist dieser Tag schulfrei. In Niedersachsen haben evangelische Schüler auf Antrag die Möglichkeit, für einen Gottesdienst vom Unterricht befreit zu werden, ähnlich ist die Regelung in Österreich. In Chile und Slowenien ist der 31. Oktober ebenfalls ein gesetzlicher Feiertag. Nicht unwichtig scheint mir, dass die reformierten Landeskirchen in der Schweiz (wie übrigens auch viele lutherische und unierte Gemeinden in Deutschland) den Sonntag, der dem 31. Oktober folgt, als »Reformationssonntag« feiern. Die Vorstöße evangelischer

18 Fritz Wolff (Anm. 12), 79. 19 Harm Cordes (Anm. 5), 305. 20 Vgl. Helmut Merkel, Art. Feste und Feiertage IV, in: TRE 11, 1983, 115 – 132, 128.

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Bischöfe in Deutschland, diesen Tag bundesweit als gesetzlichen Feiertag zu begehen, dürften wohl auch im Vorlauf zu 2017 zu keinem Erfolg führen.

Das Reformationsjubiläum 1817 Die Säkularfeier des Jahres 1817 »stand unter dem Eindruck der nach heißem Kampfe errungenen Freiheit, der Errettung aus drückender Knechtschaft eines fremden Herrschers«, weshalb die Begeisterung »reiner war als 1617 und 1717«. So beginnt Georg Arndt 1917 seine Betrachtung in einer im Verlag des Evangelischen Bundes in Berlin verlegten Broschüre. Er verschweigt dabei jedoch die damals erneut bedrückende politische und damit auch kirchenpolitische Situation jener Zeit.21 Nach dem Sieg über Napoleon und der restaurativen Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress 1814/15 wurden viele von der Aufklärung angeregte Reformvorhaben wieder gestoppt. Die Beteiligung der Bürger an der Regierung, die Trennung von Staat und Kirche und die Durchsetzung der Religionsfreiheit mussten letztlich noch rund 100 Jahre warten. Die freiheitlichen Parolen der Befreiungskriege gerieten ins Abseits. Dies trübte auch in erheblichem Maße das »Wartburgfest« am 18./19. Oktober 1817, als dort die Burschenschaften gegründet wurden – »getragen von einer eigenartigen Mischung von protestantischem Nationalismus und einem eher gefühlsbetonten Liberalismus«.22 So galt diese religiös-nationale Feier einem doppelten Anlass, der Erinnerung an die Leipziger Völkerschlacht von 1813 und dem Beginn der Reformation vor 300 Jahren. Martin Luthers Kampf gegen das römische Papsttum und gegen die Missstände in seiner Kirche waren in Vergessenheit geraten. Er wurde nun zum deutschen Nationalhelden und zur Galionsfigur gegen den Geist der Französischen Revolution. Sehr klar wird diese geistige Gemengelage im »Nachtwächterlied am 1. Januar 1817«, das sich in einem der frühen Reformationsalmanache findet:23 »Hört, ihr Herrn, und lasst euch sagen! Der Geist ist nicht mehr in Fesseln geschlagen. Gedenkt an Luther, den Ehrenmann, Der solche Freiheit euch wieder gewann; Bewahret das Licht, der Wahrheit Licht, Bewahret das Feuer, entweihet es nicht! Vor allem aber, Ihr Frauen und Herrn; 21 Georg Arndt (Anm. 13), 27. 22 Martin Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert, Zugänge zur Kirchengeschichte 8, UTB 2789, Göttingen 2006, 56. 23 Friedrich Keyser (Hg.), Reformations-Almanach für Luthers Verehrer auf das evangelische Jubeljahr 1817, Erfurt 1817, 389.

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Lobt im Jahr siebzehn Gott den Herrn; Feyert das Jubeljahr fern und nah, Amen, Amen, Victoria!«

Immerhin hatte das Jubiläum von 1817 für die innerprotestantische Ökumene eine erhebliche Bedeutung, da es zur Geburtsstunde verschiedener Formen von Unionen zwischen lange zerstrittenen Lutheranern und Reformierten wurde. In der preußischen Grafschaft Mark beschlossen die lutherische und die reformierte Synode, aus jenem Anlass eine gemeinsame Abendmahlsfeier in der Stadtkirche zu Hagen zu feiern. Unter dem theologischen Einfluss Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768 – 1834), der Unionen als Abendmahlsgemeinschaft angeregt hatte, verstand sie der preußische König Friedrich Wilhelm III. (1797 – 1840) als Schritt zur Kirchenvereinigung, für die er zunächst nur werben, sie aber nicht verordnen wollte.24

Das Lutherjahr 1883 Aus Anlass des 400. Geburtstages Martin Luthers wurde 1883 leider nicht nur die Arbeit zur kritischen Edition von Luthers Gesamtwerk, der sog. Weimarana, in Angriff genommen. Luther wurde auch als Gründungsvater des neuen deutschen Kaiserreiches proklamiert. Mit ihm habe »der politische und kulturelle Aufstieg der Deutschen zu einer Nation begonnen, der von den Hohenzollern fortgesetzt und im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und in der Reichseinigung vollendet wurde«. Kein Wunder, dass im Zuge des wachsenden Antisemitismus damals schon Luthers »germanische Qualitäten« gerühmt wurden, die ihn »zum Vorbild für alle Deutschen machten«.25 Und der im Gefolge dieses Lutherjahres dann 1886 in Erfurt gegründete »Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen« kämpfte nicht nur gegen den politischen Katholizismus, gegen die Gleichgültigkeit und den Materialismus in den evangelischen Landeskirchen und mühte sich um deren Zusammenwachsen. Er sorgte auch mit seinem Schrifttum und Liedgut dafür, dass im Verlaufe der anstehenden Säkularfeier 1917 Luther neben Hindenburg als Retter der Deutschen in Kriegsnot gefeiert werden konnte, dank dessen vorbildhaften Gottvertrauens und unbeugsamen Kämpferwillens der Weltkrieg noch gewonnen werden könnte.26 So hieß es schon in einem 1902 für die Provinzialver24 Vgl. J.F. Gerhard Goeters / Rudolf Mau (Hgg.), Die Geschichte der Evangelische Kirche der Union, Bd. 1, Leipzig 1992, 88 – 158. 25 Hartmut Lehmann, Die Deutschen und ihr Luther. Im Jahr 2017 jährt sich zum 500. Mal der Beginn der Reformation. Jubiliert wurde schon oft, in: FAZ Nr. 199 v. 26. 8. 2008, 7. 26 Vgl. Walter Fleischmann-Bisten, Art. Evangelischer Bund, in: Ev. Staatslexikon Stuttgart 2006, 536 – 539 (Lit.!).

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sammlung des Rheinischen Hauptvereins in Saarbrücken gedichteten und dort (nach der Melodie »Deutschland, Deutschland über alles«) gesungenen Kampfliedes: »Martin Luther, deutscher Kämpfer, Sieger aus dem Stamme Teut, Ruhm und Ehre deinem Namen bis in alle Ewigkeit! Martin Luther, deutscher Kämpfer, der von Rom die Welt befreit, Ruhm und Ehre deinem Namen bis in alle Ewigkeit. Martin Luther, Gottesstreiter, der den schweren Kampf gewagt, der dem welschen Unterdrücker den Gehorsam aufgesagt. Martin Luther, deutscher Bürger, der die morsche Form zertrat, der ein deutsches Weib genommen, trotz des Papstes Zölibat.«27

Das Reformationsjubiläum 1917 Gottfried Maron (1928 – 2010) hat in einer umfassenden Studie über die Literatur des Gedenkjahres 1917 nicht nur dessen Bedeutung für die wissenschaftliche Erforschung von Luthers Person und Werk analysiert und bewertet (Stichworte: Lutherrenaissance, Gründung der Luthergesellschaft usw.), sondern auch die damit verbundenen Aufbrüche in der katholischen Lutherforschung nachgewiesen. Er hat gezeigt, mit welch theologischem Irrsinn die damals geachteten Vertreter der evangelischen Theologie jenem dann 1933 ff. mit verheerenden Folgen auftretenden Deutschchristentum den Weg bereitet haben. Selbst der berühmte Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851 – 1930) geriet in jene nationalprotestantische Falle: Erst Luther habe »den deutschen Geist erweckt« und darum bezeichnete er Luther als »Vater« und »Urbild« der Deutschen.28

Das Lutherjahr 1933 So verwundern die Töne der Deutschen Christen und ihrer Geistesverwandten in der frühen Zeit des Nationalsozialismus nicht. Der Tenor insgesamt lautete etwa so: Nach Überwindung der politischen Notlage infolge des Schandfriedens von Versailles und der ihre Unfähigkeit bewiesenen Demokratie hat nun die Wiedergeburt des deutschen Volkes begonnen. Wie umstritten allerdings bald Luthers Vermächtnis für das sog. Dritte Reich und die auf staatlichen Druck hin 27 Bibliothek des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim, Bestand EB. 28 Luther 1917. Beobachtungen zur Literatur des 400. Reformationsjubiläums, in: ZKG 93 (1982), 177 – 221, 156.

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entstandene Deutsche Evangelische Kirche war, zeigen nicht nur die Konflikte in den ersten Jahren des Kirchenkampfes, sondern auch die Tatsache, dass durch staatliche Anordnung der lange geplante »Deutsche Luthertag 1933« kurzfristig abgesagt wurde. In den zur Vorbereitung landauf landab gebildeten »Ehrenausschüssen« waren unter der Schirmherrschaft des Reichspräsidenten von Hindenburg und des Reichsbischofs Ludwig Müller neben Vertretern des Staates und der NSDAP »auch Kirchenmänner« vertreten, »die später zur Bekennenden Kirche gehörten«.29 Die »Kundgebung des Reichsbischofs zum 450. Geburtstag Martin Luthers« vom 26. Oktober 1933 ist darum einerseits eine der oft wiederholten und bedingungslosen Ergebenheitsadressen an Adolf Hitler »in einer der ernsten Schicksalsstunden des Vaterlandes«: »Unser Volk ist von seinem Kanzler aufgerufen, vor aller Welt zu bezeugen, daß es geschlossen hinter der Regierung steht. Wir deutschen evangelischen Christen nehmen die Errettung unseres Volkes durch unseren Führer Adolf Hitler als ein Geschenk aus Gottes Hand. Wir stimmen von ganzem Herzen zu, daß der Kanzler Leben und Ehre der Nation verteidigt; wir sind mit ihm eins in seinem echten und wahrhaften Friedenswillen gegenüber den anderen Völkern der Erde.« Diese Kundgebung ist andererseits eine klare Absage an alle Formen des Protestes aus Kirche und Gesellschaft gegen die gewaltsamen Aktionen von Staat und Partei. Denn es wird gefordert, dass die Erinnerung an Luthers Vermächtnis dafür zu sorgen habe, »daß Gottes ewige Wahrheit nicht verdunkelt, sondern in dieser Zeit der Lüge und Unwahrheit um so lauter und gewaltiger gepredigt und in die Tat umgesetzt wird«.30

Das Reformationsjubiläum 1967 Zweifellos standen 1967 die Erinnerung an »450 Jahre Reformation« (und später ähnlich der 500. Geburtstag Luthers 1983) jedenfalls in Deutschland unter dem Vorzeichen einer in der Bundesrepublik und in der DDR sehr unterschiedlichen Erinnerungskultur.31 Das wohl eindrücklichste Dokument für die Zielsetzung des staatlichen Reformationsgedenkens in der DDR ist der Aufsatz Leo Sterns über die »Probleme der Reformation im Spiegel ihrer Säkularfeiern«. Erinnert 29 Fritz Wolff (Anm. 12), 88. 30 KiJb für die EKD 60 – 71 (1933 – 1944), hg. von Joachim Beckmann, Gütersloh 1948, 28 – 29, 28. 31 Vgl. Claudia Lepp, Erinnerungsgemeinschaft? Die innerdeutschen Kirchenbeziehungen am Beispiel der Reformationsfeierlichkeiten 1967 und des Lutherjubiläums 1983, in: Jan Scheunemann (Hg.), Reformation und Bauernkrieg. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im geteilten Deutschland, Leipzig 2010, 133 – 148.

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wird an die »Erklärung des Nationalrats der Nationalen Front des demokratischen Deutschland« vom 5. Juli 1966, worin es heißt: »In der deutschen Geschichte sind die Reformation und das Wartburgfest der Burschenschaften bei all ihrer komplizierten Problematik Ausdruck des Kampfes der fortschrittlichen Klassen und der Volksmassen für gesellschaftlichen Fortschritt, Demokratie und nationale Einheit, gegen die herrschende reaktionäre Feudalordnung.« Alle »westdeutschen« Unterstellungen, die aus Pressemeldungen bruchstückhaft wiedergegeben werden, werden zurückgewiesen: DDR und SED wollen Luther nicht »usurpieren«, keinen »Vorläufer des Sozialismus« oder »sozialistischen Helden« aus ihm machen, ihn nicht für »volkseigen« erklären oder »ideologisch entstellen«. Mit großem Selbstbewusstsein werden die entscheidenden Argumente für das staatliche Interesse am Reformationsgedenken zusammengefasst: »Weil die deutsche Arbeiterklasse, die in der DDR im Bündnis mit der Bauernschaft und allen Werktätigen die Macht ausübt, die rechtmäßige Erbin aller fortschrittlichen Traditionen der deutschen Nationalgeschichte ist, hat sie das Recht und die Pflicht, die Reformation als eines der bedeutsamsten Ereignisse der deutschen Geschichte kritisch zu untersuchen und die objektive historische Wahrheit über die Ursachen, den Charakter, den Verlauf und die Folgen der Reformation für die deutsche Geschichte in 450 Jahren herauszuarbeiten.«32 In der damaligen Bundesrepublik stand dieses Gedenkjahr kurz nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) sowohl im Zeichen des ökumenischen Aufbruchs als auch im Schatten der Eskalation des Vietnamkrieges und des Krieges im Nahen Osten. Die gut dokumentierte Generalversammlung des Evangelischen Bundes, die sich unmittelbar an die offizielle EKDFeier in Worms im November 1967 anschloss, zeigt besonders das Bemühen, die Reformation nicht mehr nur deutsch, sondern im europäischen Kontext und dezidiert ökumenisch zu würdigen.33 Der damalige Präsident des Evangelischen Bundes, Kirchenpräsident Wolfgang Sucker (1905 – 1968) forderte von den Christen aller Konfessionen »endlich den ökumenischen Charakter der Reformation (zu) begreifen«, zumal »eine neue Gemeinschaft evangelischer und katholischer Christen« im Wachsen begriffen sei.34 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Kirchliche Jahrbuch der EKD »450 Jahre Reformation« nicht in einem eigenen Kapitel behandelt, sondern darauf nur in den einzelnen Rechenschaftsberichten des Ratsvorsitzenden u. a. Bezug genommen wird. Dafür enthält dieser Band unter Bezug auf die Gründung der ACK 1948 einen 45 Seiten 32 In: Ders. / Max Steinmetz (Hg.), 450 Jahre Reformation, Berlin 1967, 20 – 43, 21 f. 33 Jb. »Im Lichte der Reformation« 11 (1968). 34 Walter Fleischmann-Bisten, »Eine neue Gemeinschaft evangelischer und katholischer Christen ist im Wachsen.« Wolfgang Suckers ökumenische Impulse, in: MdKI 56 (2005), 74 – 77, 76; vgl. auch: Ders / Holger Bogs (Hg.), Erziehung zum Dialog. Weg und Wirkung Wolfgang Suckers, BenshH 105, Göttingen 2006.

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umfassenden Bericht »Zwei Jahrzehnte deutscher Ökumene in freikirchlicher Sicht« aus der Feder von Hans Luckey (Seminardirektor der Baptisten in Hamburg-Horn), der aber unsere Thematik nicht aufgreift.35

Das Lutherjahr 1983 Immerhin war durch die ökumenische Atmosphäre von 1967 schon der Weg geebnet, das Lutherjahr 1983 in noch größerer ökumenischer Offenheit zu begehen.36 Allein die unerwartete Fülle neuer katholischer Lutherliteratur ist ein beredtes Zeugnis dafür. In deren Würdigung erinnerte Gottfried Maron daran, dass der katholische Lutherforscher Peter Manns (1923 – 1991) bekannt habe, »das ungewöhnlich starke ökumenische Potential« Luthers wäre im 16. Jahrhundert für die Christenheit verloren gegangen. Hieraus folgerte Maron eine längst noch nicht bewältigte Aufgabe: »Heute fragen wir endlich danach und wir sind dabei, eine verlorene Dimension wiederzuentdecken – auf dem Wege zu einem ökumenischen Lutherbild.«37 Das Kirchliche Jahrbuch der EKD widmete der Erinnerung an den 500. Geburtstag Luthers eine eigene Lieferung von 214 Seiten. Freikirchlich nicht uninteressant ist das dort von Wolf-Dieter Hausschild (1941 – 2010) genannte Globalziel und das Resümee aller Aktivitäten: »Der populäre Reformator sollte nach 500 Jahren dem so gänzlich veränderten ›Volk‹ die Sache des Evangeliums erneut nahebringen. Insofern können alle Veranstaltungen zum Lutherjubiläum direkt oder indirekt als volksmissionarische Impulse gewertet werden, von den Fernsehfilmen bis zu den populären Lutherausgaben.«38 Zusammenfassend ist der These Hartmut Lehmanns nur zuzustimmen, dass bisher alle Reformations- und Lutherjubiläen »in hohem Maß politisiert« waren und dass Luthers Leben und Werk stets missbraucht wurden, »um politische und kirchenpolitische Anliegen zu artikulieren« und »seine 95 Thesen über die Jahrhunderte hinweg ohne Bedenken instrumentalisiert« wurden.39 Eine freikirchliche Beteiligung bei offiziellen Feierlichkeiten darf für die Zeit vor der 35 KiJb der EKD 94 (1967), Gütersloh 1969, 371 – 416. 36 Nicht berücksichtigt werden kann hier die Frage nach den unterschiedlichen Gewichten der Feiern im Osten und Westen Deutschlands. Vgl. dazu Peter Maser, Mit Herrn Luther alles in Butter? Das Lutherjahr 1983 im geteilten Deutschland, in: Jan Scheunemann (Hg.), Reformation und Bauernkrieg (Anm. 31), 163 – 179. 37 Auf dem Wege zu einem ökumenischen Lutherbild. Katholische Veröffentlichungen zum Lutherjahr 1983, in: Ders., Die ganze Christenheit auf Erden. Martin Luther und seine ökumenische Bedeutung, Göttingen 1993, 142 – 173, 173. 38 KiJb der EKD 110 (1983) Lieferung 1 »Bilanz des Lutherjubiläums«, Gütersloh 1986. 39 Hartmut Lehmann (Anm. 25), 7.

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Gründung der ACK 1948 ausgeschlossen werden und bedürfte für die zuletzt genannten Jahre 1967 und 1983 einer gesonderten Prüfung.

3.

Die freikirchliche Rezeption der Reformations- und Lutherjubiläen

Die umfangreiche Quellenlage hierzu hat meine Erwartungen weit übertroffen. In der freikirchlichen Spezialbibliothek der Hochschule Friedensau fanden sich sehr viele, wenn auch nicht alle freikirchlichen Zeitschriften und Blätter. Ausgewählt wurden schwerpunktmäßig die Publikationen der Methodisten (d. h. die der Bischöflichen Methodistenkirche und der Evangelischen Gemeinschaft) und die des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, weil diese Bestände nahezu vollständig sind.

Rezeption im deutschsprachigen Methodismus Bereits das Lutherjahr 1883 war im Bewusstsein deutscher Methodisten. Das »Sonntagsschulmagazin«, in dessen Mittelpunkt die Erklärung der einzelnen biblischen Lektionen steht, bringt unter der Überschrift »Von den Kindern lernen« (damals sicher nicht die vorherrschende pädagogische Meinung!) das Gedicht »Luther am Schreibtisch«, um zu zeigen, wie »Gottvertrauen, Liebe, Gehorsam und Einfalt« von kleinen Kindern gelernt werden können.40 Eine besondere Fundgrube für unsere Fragestellung ist eine dreiteilige Serie, die im Herbst 1917 in der in Bremen verlegten Wochenzeitschrift »Der Evangelist« erschien.41 Zunächst liest man von P.G. Junker »Was wir Dr. Martin Luther zu verdanken haben«. Dies wird so zusammengefasst: Er hat der Christenheit den Sinn des Glaubens wieder erschlossen, er hat der Christenheit die verschütteten Quellen des Glaubens wieder aufgedeckt und er hat die Grundlagen christlichen Gemeindelebens wiederhergestellt. Neben Artikeln zu den Themen »Luther als Beter«, »Luther der Kämpfer«, »Luther und Käthe«, zahlreichen Lutherworten und Gedichten finden sich Hinweise zu den Reformationsfeiern in der Schweiz, denen insgesamt jegliches nationale oder militärische Pathos fehlt. Drei Beiträge zeigen die tiefe Verwurzelung des Methodismus in der Wittenberger Reformation, ohne jedoch kritische Rückfragen zu vermeiden. Ein Aufsatz des schwedischen Kirchenhistorikers Edvard Lehmann »John Wesley vollendete die Reformation« wird »ohne Kommentar im Auszuge in Deutsch« 40 Bd. V, Nr. 11/November 1883, 174. 41 Jg. 68 (1917) Nr. 42, 43 und 44 vom 20.10, 27.10. und 3. 11. 1917.

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nachgedruckt. Er äußert sich positiv zur Abkehr des Luthertums von rein dogmatischen Fragen hin zu praktisch-theologischen Themen wie »individuelle Erneuerung« und »soziale Verbesserungen«. Damit sind die heutigen Lutheraner »mehr Kinder John Wesley’s als irgendeines anderen Nachfolger Luthers«. Denn Wesley habe »eine Reformation der vorausgegangenen lutherischen Reformation« vollzogen, da er »das lutherische Individualprinzip innerhalb der calvinistischen Gemeinden zum Leben erweckte und es mit der praktischen Moral und den weltweiten Missionsbestrebungen des Calvinismus vereinigte«. Der Leitartikel zum 27. Oktober 1917 steht unter dem Thema »Das Reich muß uns doch bleiben« und versucht nachzuweisen, wie sich viele lutherische Christen im Laufe der Jahrhunderte von Luthers »Glaubens- und Bekenntnisgrund« entfernt haben. Salz- und Lebenskraft hätten keine Ausstrahlung mehr. Die lutherischen Mitchristen werden ermahnt, »die große Gnadenerfahrung der Rechtfertigung und Wiedergeburt«, die Luthers Frömmigkeit bestimmt habe, neu zu entdecken. Ferner wird als Frucht dieses Festjahres der »Reformationskirche« gewünscht, »eine vom Geist Gottes und aus dem Worte Gottes gezeugte Neugestaltung an Haupt und Gliedern« zu betreiben, wenn sie mit Unterstützung der evangelische Freikirche »aus dem verschärften Kampf mit Rom den Sieg davon tragen will«. August Rücker fragt in der Ausgabe vom 3. November »Wie feiern wir das Reformations-Jubiläum würdig?« und bezeichnet es als die »beste Reformationsfeier«, wenn es »innerhalb der ganzen evangelischen Christenheit zu einer wirklichen neuen Reformation des Lebens« käme, nachdem im 16. Jahrhundert »die Reformation der kirchlichen Lehren und Gebräuche« durchzuführen war. Schließlich erklärt er : »Wir stehen auf den Grundlagen von Wittenberg. Ohne Reformation gäbe es keinen Methodismus, ohne Luther keinen Wesley. Es ist bekannt, daß Wesley zur Heilsgewißheit kam, während Luthers Vorrede zum Römerbrief vorgelesen wurde […] An der Wiege des Methodismus stand deutsche Frömmigkeit. Die Hauptlehren des Methodismus […] sind reformatorisches Erbgut.« Deshalb wurde auch der 4. November durch das Bischofskollegium als offizieller Tag der Reformationsfeiern in allen methodistischen Kirchen festgelegt. Kritik wird verständlicherweise an der ablehnenden Haltung der lutherischen und reformierten Kirchen geübt, gemeinsam mit den Freikirchen das Werk der Reformation in ökumenischer Verbundenheit fortzusetzen: »Auch wir als evangelische Freikirche werden an ihrer Seite unsere Aufgabe zu lösen haben, und wir werden sie mit Gottes Hilfe lösen, wenn uns nicht von der sogenannten Reformationskirche in Verkennung ihrer gottgewiesenen Stellung die Hände gebunden oder doch die Mitarbeit beständig erschwert wird.«42 42 Der Evangelist 68, Nr. 42 v. 20. 10. 1917, 338.

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Ein ähnliches Ergebnis bietet auch die Lektüre des »Schweizer Evangelist«, der in seinem 24. Jahrgang vom 27. Oktober bis 1. Dezember (Nr. 43 – 48) die unterschiedlichen Stränge der schweizerischen und der deutschen Reformation und die vorreformatorische Traditionen für die Grundlagen und das reformatorische Profil des Methodismus in Erinnerung ruft. Auch im Lutherjahr 1933 wird an dieser engen Verbundenheit festgehalten. Dafür steht eine Anzeige in der Zeitschrift »Der Evangelist – Dienst am Kinde« vom 5. November 1933, die für eine von Bischof Nuelsen verfasste Broschüre »Reformation und Methodismus« wirbt. Dem Werbetext sind zwei Zitate vorangestellt: »Der echte Methodismus ist nichts anderes, als das richtig verstandene Luthertum«, und: »Der Methodismus steht auf der Grundlage von Wittenberg«. Nirgends werden in diesem Zusammenhang die lutherischen Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts thematisiert. 1967 wird im »Evangelischen Botschafter« heiß diskutiert, was denn »ecclesia semper reformanda« heute heißt.43 Das Titelblatt zeigt die Wittenberger Stadtkirche mit einem für das freikirchlich-lutherische Verhältnis höchst bedeutungsvollen Zitat des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Hermann Dietzfelbinger : »Die Reformation in der Kirche geht nie zu Ende. Sie geht weiter in Reinigung und Sammlung, auch in Verfolgung und Demütigung.« Die kurz vor dem Lutherjahr 1983 erschienene »Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche« hat daher konsequenterweise auch einen eigenen Abschnitt über »Das reformatorische Erbe in der methodistischen Theologie«.44 Dort wird im Wesentlichen der Einfluss von Wilhelm Nast (1807 – 1899) auf das theologische Denken im deutschen Methodismus dargestellt.45 Karl Heinz Voigt konnte in der österreichischen Methodistenzeitschrift sogar die These formulieren: »Im weltweiten Methodismus wirkt niemand so stark nach wie Martin Luther.«46

Rezeption in den Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland Obwohl in den mir zugänglichen Beständen der Jahrgang 1917 der Zeitschrift »Der Gärtner« nicht vorhanden war, kann ich doch zeigen, wie früh schon die Freien evangelischen Gemeinden (FeG) eine interessante Mischung von Zustimmung und Kritik der Wittenberger Reformation formuliert haben. Denn der 43 100. Jg., Nr. 45 vom 5. 11. 1967. 44 Hg. von Karl Steckel / C. Ernst Sommer, Stuttgart 1982, 51 – 53. 45 Vgl. Karl Heinz Voigt, Art. Nast, Wilhelm, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 6, 1993, Sp. 464 – 468. 46 Von Martin Luther zu John Wesley, in: Der Methodist 31, Nr. 1/Februar 1983, 8 – 10,10; vgl. auch seinen Beitrag »Was wären die Methodisten ohne Martin Luther?«, in: Ev. Orientierung 2008, H. 3, 9 – 11.

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von Jakob Millard (1860 – 1938) zum 400jährigen Reformationsjubiläum verfasste Beitrag »Die Reformation und die außerkirchlichen Brüderkreise« wurde nämlich genau 50 Jahre später mit dem Hinweis »als Zeichen unserer Zustimmung« erneut wiedergegeben.47 Folgende Schwerpunkte sind dabei erkennbar : – Die Reformation war nicht das Werk eines einzelnen Menschen namens Luther, sondern viele hat Gott seiner Gemeinde geschenkt. Typisch sind Verweise auf andere Reformatoren wie Huldreich Zwingli (1484 – 1531) und Johannes Calvin (1509 – 1564), die als »Sterne erster Größe« gewürdigt werden. – Wir können nicht allem zustimmen, da nach den »herrlichen Anfängen der ersten Jahre schon bald in kirchlicher und staatskirchlicher Richtung« ein bedauerlicher Rückzug von den ursprünglichen reformatorischen Grundsätzen erkennbar ist. – Gewarnt wird vor einer Verkennung oder Verkleinerung der reformatorischen Säulen: »Und wir stehen selber auch, sonderlich in der Lehre von der Heilsgewißheit durch den Glauben auf Grund der Rechtfertigung […] ganz entschieden auf dem Standpunkte Luthers und Calvins«, die Paulus neu entdeckt haben. – Unter der Überschrift »Wir sind Kinder der Reformation« werden die Verbundenheit mit dem Erbe vorreformatorischer Forderungen (»die liebliche Frucht des evangelischen Heilsglaubens«) wie die engsten familiären Bande mit der Reformation des 16. Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht: »So sehr wir in vielen Stücken mit den kleinen Kreisen der evangelischen Brüder der alten Zeit verwandt sind, deren Kreise wir gerne als altevangelische Gemeinden bezeichnen, so bekennen wir als Freie evangelische Gemeinden uns doch um jenes Haupt- und Mittelpunktes der evangelischen Heilswahrheit willen nicht (nur) sowohl als nachgeborene Kinder jener Kreise, sondern als Kinder der Reformation.« Anders als viele Landeskirchen haben die Gemeinden des BFeG bereits am Reformationsfest 1933 eine deutliche Kritik an der erstarkenden NS-Ideologie öffentlich gemacht: »Der Strom, der die Gemeinde Gottes neubelebt, muß aus dem Heiligtum entspringen. Seine Quellen liegen nicht in der Erneuerung unseres Volkstums, sondern im Stillewerden der Gesamtgemeinde und der einzelnen vor dem Herrn in Beugung und Umkehr.« Gegenüber den sensibel wahrgenommen »rauschenden Feiern zum 450. Geburtstags Luthers« wird »das treue, schlichte Zeugnis des Evangeliums im Leben und aus dem Munde« der in der Nachfolge stehenden Christen eingefordert.48 1967 betitelt Wilhelm Wörle seinen Rückblick auf Erbe und Auftrag der lu47 Der Gärtner 74 (1967) Nr. 44 v. 29. 10. 1967, 884. 48 Der Gärtner 41 (1933) Nr. 45 v. 5. 11. 1933, 883.

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therischen Reformation bezeichnenderweise mit »Unvollendete Reformation«. Luther wird als »Werkzeug Gottes« charakterisiert, »auf dessen Schultern« seit Jahrhunderten viele Generationen »reiche Wahrheitserkenntnisse gewonnen haben und auf dem Weg des Glaubens das Heil in Jesus Christus gefunden und erfaßt haben«.49 Seine kritischen Rückfragen zur Erinnerungskultur in der DDR gipfeln in einem Zitat des hessen-nassauischen Kirchenpräsidenten Wolfgang Sucker, der sich in Worms für die Wahrung der »einzigartigen Besonderheit« der Reformation und gegen einseitige sozialgeschichtliche Vereinnahmungen eingesetzt hatte: »Man kann Luther und die Reformation feiern, indem man sie totschlägt, oder totschlagen, indem man sie feiert.«50 Mit Dank für eine neue Würdigung der Reformation durch römisch-katholische Theologen unterstreicht Wörle deren Behauptung offensichtlicher »katholischer Reste« bei Luther und fordert deshalb ganz im Sinne einer »ecclesia semper reformanda«, dass man aus freikirchlicher Sicht gerade deshalb von einer »unvollendeten Reformation« sprechen müsste.51 Diese Forderung wird dann ausführlich unter eben dieser Überschrift im Blick auf die lutherische Auseinandersetzung mit Täufern und Spiritualisten begründet: Während die Täuferbewegung unter Verweis auf vorreformatorische Forderungen »unter Luthers Führung einen neuen Geistesfrühling und eine Befreiung vom Joch des Papstes« erhoffte, wurde sie bald schwer enttäuscht. Denn »im Zusammenhang mit der politischen Weltlage brachen aufs neue Verfolgungen über sie herein«, die mit Wittenberger Genehmigung »die Greuel früherer Verfolgungen noch übertrafen«.52 Schließlich muss noch an die offensichtlich seitens der Bundesleitung des BFeG geforderte und geförderte Rezeption der lutherischen Theologie im Gedenkjahr 1983 erinnert werden. Unter der Überschrift »Allein durch den Glauben!?« formuliert der damalige Dozent für Systematische Theologie am Seminar in Dietzhölztal-Ewersbach, Kurt Seidel, »Anmerkungen eines Freikirchlers zum Lutherjahr«. An »drei Gipfeln des Bergmassivs« (Reformation) müssen die freikirchlichen Blicke sich weiterhin orientieren: An Luthers Bibelübersetzung (Dankbarkeit für dieses besondere Geschenk zur Quelle des Glaubens und Lebens), an seinem Eintreten für die Gewissensfreiheit (in deren Hochachtung die Väter des BFeG 1854 ihren Austritt aus der Volkskirche erklärt haben!) und an Luthers Eintreten für die biblische Rechtfertigungsbotschaft, die deutlich mache »wie dieses ›für uns‹ zu verstehen sei, besonders aber darüber, wie der Mensch des Heiles teilhaftig wird«. Kritische Anfragen werden an Luthers späte Sicht des Zusammenhangs von Glaube und Taufe gestellt wie an die 49 50 51 52

Der Gärtner 74, 868. A.a.O., 914. A.a.O. 868. A.a.O., 1008.

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eigene Adresse im Blick auf das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung, weil nicht selten »unsere Frömmigkeit und Verkündigung daran zu überdenken« sei: »Die doppelte Gefährdung besteht darin, daß Glaube und Werke vermengt werden oder daß Glaube und Werke getrennt werden.«53 Auch in neuester Zeit hat sich der BFeG wohl im Blick auf 2017 mit dem reformatorischen Erbe befasst und damit zugleich die nicht immer erfreuliche, aber wohl nötige Diskussionsrunde über das Verhältnis von »evangelisch« und »evangelikal« fortgeführt. Der derzeitige Präses Ansgar Hörsting rief die Aktualität der vier reformatorischen Maßstäbe (Allein die Schrift, Allein Christus, Allein die Gnade, Allein der Glaube) als Grundwerte und »wesentliche Identitätsmerkmale« der BFeG-Gemeinden in Erinnerung. Da trotz dieser Pfeiler, auf denen weiterhin Gemeindeaufbauarbeit betrieben werden muss, das »Gütezeichen ›evangelisch‹ im Laufe der Geschichte auch manche Schramme abbekommen« habe, müsse die Zusatzbezeichnung »evangelikal« akzeptiert werden. Diese beschreibe zutreffend, was heute unter »evangelisch« zu verstehen sei.54

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Zusammenfassung und Konsequenzen

1. Eine Vielzahl kirchlicher, wissenschaftlicher, staatlicher und wirtschaftlichtouristischer Institutionen und Gremien bemüht sich seit 2004, den Zeitraum bis zum Reformationsjubiläum von 2017 für die je eigenen Interessen von Erbe, Auftrag, Feier, Gestaltung und Vermarktung dieses Datums für sich zu nutzen. Ökumenische Implikationen waren lange kaum erkennbar.55 Im Vorfeld und im Verlauf des Zweiten Ökumenischen Kirchentages in München im Mai 2010 gewannen sie zunehmend an Bedeutung. Dass Gerhard Feige, der römisch-katholische Bischof von Magdeburg, »ökumenische Sensibilität« angemahnt hat, ist in einer Reihe historischer Entwicklungen und ungelöster theologischer Kontroversen begründet. Dies muss in allen ACKKirchen gehört und berücksichtigt werden. 2. Reformationsjubiläen haben eine nur zum Teil in überregionaler Sicht erforschte Geschichte und hatten sehr unterschiedliche Wirkungen. Sie spiegelten stets politische, gesellschaftliche, kirchliche und theologische Standpunkte und daraus resultierende Konflikte. Die vielschichtigen nationalprotestantischen Verirrungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an denen auch der Evangelische Bund einen nicht zu leugnenden Anteil hatte, führten 53 In: Der Gärtner 90 (1983) v. 26. 6. 1983, 402 – 404. 54 »e« wie evangelisch. Das FeG-Profil, in: Christsein heute 5/2010, 12 – 13, 13. 55 Vgl. dazu meine Thesen im ökumenischen Lagebericht für 2010: Reformation und Ökumene im Melanchthonjahr, in: MdKI 61(2010), 103 – 108, 106.

Die Reformations- und Lutherjubiläen in freikirchlicher Rezeption

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jedenfalls dort sehr früh dazu, sich kritisch mit den Lasten und der Schuld der Vergangenheit auseinander zu setzen. Die Reformation war und ist jedenfalls nicht »Deutschlands Schicksal«, sondern es gilt »endlich den ökumenischen Charakter der Reformation (zu) begreifen« (Wolfgang Sucker). Für 2017 besteht wohl erstmals in der Geschichte eine gute Chance, dieses Datum nicht konfessionalistisch, kirchenpolitisch, nationalistisch oder ideologisch überfrachtet zu feiern. Die Frage, wen oder was und wozu wir 2017 »500 Jahre Reformation« feiern, hat nicht nur für den römischen Katholizismus, sondern auch in der innerevangelischen Ökumene eine spezielle Relevanz. Könnten die Freikirchen von Martin Luther als einem »gemeinsamen Lehrer der Kirche« (Kardinal Willebrands) oder einem »Vater im Glauben« (Peter Manns) und von der Reformation als geistlicher und theologischer Herausforderung über die Grenzen der eigenen Konfession hinaus sprechen? Die evangelischen Freikirchen können infolge ihrer eigenen Geschichte darauf höchst unterschiedlich antworten.56 Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) hatte dieses Thema jedenfalls 2010 auf ihrer Agenda. Deren damalige Präsidentin, die methodistische Bischöfin Rosemarie Wenner, machte in einem Interview deutlich, dass »evangelisch« kein auf die EKD-Gliedkirchen begrenzter »Konfessionsbegriff« sein kann und beschrieb zugleich die damit zusammenhängende Aufgabenstellung für die einzelnen Freikirchen: »Entscheidend ist, ob wir als Freikirchler das Erbe der Reformation profiliert in unsere Zeit tragen.«57 Viele aus den einzelnen Richtungen der reformatorischen Kirchen entstandene »Freikirchen« haben jedenfalls in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchgängig bewusst und kritisch ihre lutherischen, reformierten oder täuferischen Wurzeln betont. Sie sehen sich als Kinder einer weithin unvollendeten Reformation. Ob dies in den USA oder in Großbritannien ähnlich reflektiert und bewertet wird, bedarf weiterer Forschungsarbeit. Widersprochen werden muss daher mit aller Deutlichkeit (sowohl nach den Ergebnissen der historischen Forschung als auch nach dem weit überwiegenden Selbstverständnis der Freikirchen) der These, der »linke Flügel der Reformation« gehöre grundsätzlich nicht zu den Kirchen der Reformation.

56 Vgl. meine Thesen: 2017 – 500 Jahre Reformation in evangelischer und ökumenischer Sicht, in: MdKI 62 (2011), 97 – 98 und meinen Beitrag »Warum nicht auch mal nach Canossa?«, in: MdKI 62 (2011), 103 – 109, 106 f. 57 »Ein anderes Selbstverständnis«. Ein Gespräch zur Rolle der Freikirchen mit Rosemarie Wenner und Peter Jörgensen, in: Die Gemeinde 05/2010, 12 – 15, 13.

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Erfreulich ist jedenfalls, dass die EKD selbst sich im Vorfeld zu 2017 dazu bekannt hat, die »Schatten der Reformation« beim Namen zu nennen.58 7. Ob und welche Freikirchen in Europa neben den Methodisten das Leuenberger Ökumenemodell voll und ganz akzeptieren können, bleibt dem künftigen ökumenischen Dialog als Herausforderung. Gerade im Blick auf das Taufverständnis der Leuenberger Konkordie sind zahlreiche Fragen nicht endgültig geklärt.

58 Vgl. dazu meinen Beitrag »Die Stiefkinder der Reformation«. Thesen und Fakten zur innerevangelischen Intoleranz, in: EKD-Magazin zum Themenjahr 2013 »Reformation und Toleranz«, Hannover o. J. (2012), 14 – 17.

Register

39 Articles of Religion 134 95 Thesen 27, 75, 80, 129, 162, 173, 182 Abendmahl 39, 42, 44, 56 f., 113, 117, 129, 137, 142 – 144 Abendmahlsgemeinschaft 178 Abendmahlsstreit 15 ACK 25, 55, 117, 181, 183, 188 Adventisten 16, 20, 27 Alte Kirche 134, 141, 146 Altpietistischer Gemeinschaftsverband 15 Altreformierte Kirche 22 Amt 9, 43 – 45, 50, 52, 57, 121, 136, 138, 155 Anfechtung 41, 112 Anthropologie 70, 99 f. Anthropomorphismus 158 – 160 Apostolisches Glaubensbekenntnis 19, 39 Aufklärung 10, 19, 73, 78, 96, 122, 177 Augsburger Bekenntnis 129, 134, 176 Augsburger Religionsfrieden 176 Autonomie der Ortsgemeinde 56 Baptisten 7, 10, 13 f., 16 – 19, 21 f., 26, 29, 31 – 33, 37 – 40, 45 – 47, 50, 53, 55 – 59, 61 f., 67 – 69, 71, 79, 83, 85, 87, 117, 182 Barmherzigkeit 36, 49, 117, 125 f., 155 Bayerische Lutherisch-Baptistische Arbeitsgruppe 57, 87 Befreiung 35 f., 108, 110, 112, 125, 187 Begierden 167 Beichte 41, 44 Bekehrung 33, 63, 67, 108

Bekennende Kirche 180 Bekenntnis 18, 38, 41 f., 46, 134, 136, 155, 170, 174 Berufung 41, 44, 46 Bibel 27 f., 68 f., 78, 95, 102, 136, 140, 147, 156 f. Bischofsamt 43, 51, 57, 59, 69, 76, 173, 177 Böhmische Brüder 71 Book of Common Prayer 134 f. Brüderbewegung 11 Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden 16, 55 f., 71, 84, 117 Bund Freier evangelischer Gemeinden 84, 153, 156 f., 183 Buße 95, 112 Calvinisten 68, 73, 130, 146, 173, 184 Christlicher Sängerbund 25 Christologie 15 Consensus Tigurinus 129 consilia evangelica 49 corpus permixtum 42 creatura verbi 40, 162, 167 DDR 74, 150, 180 f., 187 Demokratie 62 f., 78 f., 179, 181 Deutsche Messe 42, 147, 153 Dissenter 53, 135, 139 Dordrechter Bekenntnis 134 Dordrechter Synode 144 Ebenbild 99, 113 Ekklesiologie 32, 38 – 40, 43, 46, 68, 70, 131, 153 – 157, 167 – 169

192 Erneuerung 33, 35 f., 82, 91 f., 98 f., 101 – 104, 110, 114, 116, 125, 130, 136, 153, 158, 165, 167 f., 172, 184, 186 Erweckungsbewegung 19, 65 f., 132, 148 Eschaton 101, 105 Europäische Baptistische Föderation 57, 83 evangelikal 25 f., 66 – 69, 188 Evangelische Allianz 68 Evangelische Kirche in Deutschland 66, 75 f., 80, 84, 117, 122 Evangelischer Bund 178 Evangelisches Gesangbuch 9, 20, 23, 28 evangelistisch 14, 67 f., 133 f., 136 Evangelium 41, 45, 47, 49, 55, 57 f., 63, 69, 89 – 91, 97 – 99, 101, 107, 109 f., 116, 119, 121, 124 – 126, 148, 152 f., 155, 159, 163, 167, 169, 182, 186 Evolutionstheorie 68 extra nos 93, 101 f., 105 f., 168 forensisch 34, 89 Freie evangelische Gemeinden 7, 10, 19, 27, 61, 83, 85, 153 – 157, 168 – 170, 185 f. Freiheit 12, 16, 34, 36, 46, 49 f., 53, 61 f., 75, 77 f., 90, 92, 116, 120, 137, 152, 163, 177 Freikirchen 7 – 10, 12 f., 16, 19, 22, 25 f., 29, 42, 53, 61 – 63, 71 f., 81 – 87, 133, 153 f., 157, 168 f., 171, 184, 189 f. Frieden 17, 51, 62, 109, 112, 126 Frömmigkeit 19, 95, 117, 126, 136 – 138, 141 f., 166, 184, 188 Frucht 38, 105, 112, 116 f., 120, 126, 144, 167, 184, 186 Fürbitte 18, 41, 44 Gebet 41, 56, 107, 113, 117, 137, 139, 148, 159 Gebote 20, 47, 109 f., 114 – 117, 119 f. Geist Christi 112, 156 Geist Gottes 98, 103, 135, 156, 168, 170, 184 Gemeinde Gottes 11 Gemeindezucht 42

Register

Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre 33, 89, 124, 126, 150 Gemeinschaft 34 f., 38, 40 f., 43 f., 63 f., 89 f., 92, 119, 122, 125 – 127, 139, 147, 152 f., 155, 157, 159, 169, 181 Gemeinschaft der Heiligen 39, 41, 43 Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa 57, 117 f., 124, 151 Genfer Psalter 29 Gerechtigkeit 34 – 37, 41, 48, 60, 90 f., 93, 95, 97, 99, 101 – 106, 109, 111 f., 115 f., 123 f. Gerechtigkeit Christi 34 – 36, 48, 90, 93, 101, 106, 115 Gericht 36, 89 Geschöpf 40, 93, 101, 112, 154 f., 162, 167 Gesetz 20, 34, 48 f., 67, 96, 108, 115 f., 119 – 121, 125, 147 Gesetz und Evangelium 117 – 120, 125 Gewissensfreiheit 46, 53, 60, 62, 79, 81, 138, 187 Gewissheit 32, 67, 94 – 96, 107 – 109, 116, 125 f., 138 f., 147, 154, 162 – 164 Glaube 27, 33 – 36, 38 – 41, 44, 47 – 49, 53, 56, 58, 60, 62, 65, 67, 83, 90 – 93, 95 f., 100 – 103, 105 – 117, 119 – 121, 123 – 125, 139 – 149, 152, 155 – 157, 159, 161 – 170, 186 – 189 Glaubensbekenntnis 21, 39, 55, 136 Glaubensfreiheit 46, 52, 73 Gnadauer Gemeinschaftsbewegung 10 Gnade 33, 35, 48, 60, 89 – 95, 97 – 100, 108 – 113, 115 – 126, 139, 143 – 146, 152 f., 157, 162, 168 f., 188 Gnadenmittel 113, 116 f., 120, 123, 126, 143, 148 Gottebenbildlichkeit 93, 99 f., 102, 112, 119, 135, 146 Gottesdienst 19, 21 f., 28, 42, 51, 73, 86, 107, 113, 117, 129, 142, 148, 153, 175 f. Gottesherrschaft 102 f. gratia infusa 97 Großbritannien 63, 132, 135, 141, 189 gute Werke 38, 56, 107, 109 f., 114 – 117, 120, 123, 125, 147

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habitus 99 Halle 141 – 143 Heidelberger Katechismus 80, 134 Heil 18, 38, 56, 60, 67, 95 f., 99, 101 – 103, 105, 107 – 110, 113, 115 f., 119, 124 – 126, 144, 156, 159, 163 f., 167 – 169, 187 Heilige Schrift 43, 49, 58 – 60, 68 f., 98, 113, 115, 122 f., 134, 146, 155 f., 161 f. Heiliger Geist 21, 35, 40, 52, 72, 91, 103, 109, 112, 116, 123 – 126, 154, 164, 167, 170 Heiligung 33, 35 – 37, 89 – 102, 104 f., 110 – 114, 119, 123 – 126, 139, 141, 143 f., 146, 152, 188 Heiligungsbewegung 132 Heilsarmee 133 Heilsgeschehen 156 Hermeneutik 155 Herrnhuter Brüderunität 10, 22, 132, 138 Hugenotten 146, 175 iustitia aliena 90 Juden 16, 63 Katholizismus 39, 60, 71, 74, 118, 133 f., 172, 176, 178, 189 Kirche 7 f., 11, 15, 26 – 29, 31, 38 – 46, 49, 51, 53, 57 – 68, 70 f., 77 – 81, 83, 106, 108, 114 – 116, 126 f., 130 – 134, 136, 143, 146, 149 – 154, 157, 162 f., 165 – 170, 177, 180, 184 f., 188 f. Kirche des Nazareners 132 Kirche von England 64 – 68, 110, 131, 134 f., 138 – 143, 146 Kirchengemeinschaft 22, 57, 71, 118, 121 – 124, 131, 150 Kirchenrecht 49 Kirchenspaltung 55 Kirchenunion 133 Kirchenväter 122, 141, 146 Kondeszendenz 160 kongregationalistisch 43, 68, 83, 131, 133 Konkordienbuch 134 Konkordienformel 134 Kontroverstheologie 31

Konzile 43, 134, 172 landesherrliches Kirchenregiment 39, 43, 51 Lehramt 58 f. Leuenberger Konkordie 57, 149, 151, 153, 190 Liebe 18, 24, 31, 35, 38, 48 – 50, 92 – 95, 99 f., 102, 106, 109 – 111, 113 f., 116 f., 119 f., 123, 125, 131, 135 – 137, 141, 143, 165, 183 Liebe Gottes 93, 108, 111, 113, 117, 125, 141 Linker Flügel der Reformation 172 Lutheraner 11, 13 – 15, 17, 20, 26, 31 – 38, 44, 46, 50, 53, 56 – 59, 63, 66, 71, 73, 80, 83 f., 87, 89, 105, 108, 115, 117 f., 121 – 124, 126 f., 129 f., 132 – 134, 137 f., 140 f., 143, 145 – 147, 149 – 151, 161, 172 – 176, 178, 184 f., 187, 189 Lutherdekade 8, 75 f., 79, 84, 86, 171 Lutherlieder 10 f., 15 f., 20, 25, 145 Luthers Bibelübersetzung 187 Luthers Vorrede zum Römerbrief 66, 96, 108, 140, 151, 184 Märtyrer 86 Mennoniten 11, 14, 16 – 20, 24, 27, 72, 82, 87 Menschenrechte 27 Messe 51 Methodisten 7 f., 10 f., 15 – 17, 19, 21 f., 24, 28 f., 61, 66, 68, 71, 83, 85, 89, 92 f., 99 f., 102, 105 – 108, 114 – 127, 129 – 142, 144 – 152, 183 – 185, 189 f. Modernismus 69 Mülheimer Verband 15 Nachfolge 33, 50, 119, 186 Natur 15, 77, 91 – 94, 98 – 100, 102, 105, 125 neue Schöpfung 35, 93, 101, 104, 111, 125, 135, 140 f., 156, 168 non posse non peccare 94 Nonkonformismus 53, 64, 71, 76, 81 f., 86

194 Obrigkeit 48, 51 – 53, 61 f., 72, 81 ökumenisch 19, 31, 58 f., 68, 70 f., 74, 76 – 78, 82, 85 – 87, 89, 121, 124, 126 f., 129 – 134, 136 f., 146, 149 – 152, 163, 171, 181 f., 184, 188 – 190 Ökumenischer Rat 151 opus Dei 154, 167, 169 opus hominum 154, 167, 169 Ordination 46 orthodoxe Kirchen 75, 133 Ortsgemeinde 39, 43, 51 Österreich 129 – 131, 134, 150, 152, 176 Papst 17, 27, 31, 39 f., 43, 49, 51 f., 59, 69, 73, 124, 129, 174, 179, 187 Passivität 170 Pfingstbewegung 84 Pietismus 33, 65, 68, 73, 90, 138, 140 – 142, 145, 148, 175 Pluralisierung 61 f., 71, 73, 77, 86 politische Ethik 32, 46 posse non peccare 94 Prädestination 67, 144 Prediger 43, 51, 132, 144, 156, 159 Priestertum aller Getauften 78 f. Priestertum aller Gläubigen 43 f., 51, 157 pro me 164 pro nobis 168 Protestantismus 12, 52, 62, 69, 71 f., 75, 81, 85, 118, 134, 141, 147 Puritanismus 42, 64 f., 71, 79, 146 Quäker 23, 79 Rationalismus 19 Rechtfertigung 32 – 37, 42, 48, 56, 59 f., 65 f., 78, 81, 87, 89 f., 92, 94 – 98, 101 f., 104, 107 f., 110 – 117, 119 – 121, 123 – 127, 140 f., 145 f., 149, 152, 166, 169, 184, 186 – 188 Reformationsfest 13, 73, 129, 151, 171, 174, 176, 186 Reformationsjubiläum 7 f., 11, 23, 59, 61, 70 f., 75 – 77, 80, 84 – 86, 106, 129, 131, 133, 140, 151 f., 171, 173 – 175, 177, 179 f., 186, 188

Register

Reformierte 22, 38, 56, 58 f., 63, 71, 83, 118, 122, 129 f., 132 – 134, 144, 150, 172, 174 – 176, 178, 184, 189 Religion 35 f., 46, 48, 53, 62, 79, 82, 86, 114, 122, 135, 162 Religionsfreiheit 16, 46, 52 f., 62, 78, 177 Religionsunterricht 13, 131 Sakrament 38, 41, 43, 56 f., 125, 148 Säuglingstaufe 31, 56 – 58, 66 Schöpfer 135, 154, 159, 162 f. Schöpfung 68, 99 – 102, 154, 157, 162 Schuld 35 f., 89, 94, 112, 189 Schwärmer 49, 79 Seelsorge 9, 41, 43, 45 Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche 10, 20, 24, 26 semper reformanda 70, 147, 185, 187 simul iustus et peccator 36 f., 91 – 93 sola fide 20, 33, 60, 89, 107, 116, 146, 153 sola gratia 20, 33, 60, 107, 113, 116, 146, 153, 168 sola scriptura 56, 58, 60, 69, 78, 146, 153 solo Christo 33, 60, 107, 116, 146, 153 Soteriologie 70, 103, 132, 135, 146, 153 – 155, 157, 168 Sprache 29, 60, 155, 158 – 162, 165 f., 169 Staat 27, 29, 43, 47 f., 50, 53, 62 f., 74, 84, 133, 136, 151, 180 Staat und Kirche 32, 46, 49 f., 53, 62, 79, 135, 151, 177 Stiftungstheorie 44 f. Sünde 24, 33 – 38, 41, 49, 67, 89 – 98, 100 f., 107 – 110, 112 – 115, 119, 123 – 125, 147, 157, 163, 169 Sündenvergebung 33, 36, 123 syllogismus practicus 38 Taufe 38 f., 42, 55 – 58, 65, 69, 83, 105, 137, 187 Täufer 31, 33, 42, 49 f., 52, 58, 72, 79, 81 – 84, 129, 131, 187 tertius usus 34, 92, 116, 118 testimonium spiritus sancti 164 Theokratie 53 Theosis 98, 126

195

Register

Toleranz 61 f., 81, 85, 190

Übertragungstheorie 44 f. Vaterunser 19, 38 Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche 47, 72, 76, 121, 124, 150 Vereinigung Evangelischer Freikirchen 84 – 86, 149, 151, 157, 171, 189 Verfolgung 41, 52, 61, 81, 185, 187 Vergebung 33, 35 – 38, 41, 91, 95, 110, 112, 123, 125 Verheißung 48, 101, 105, 116, 119 f., 125, 163 f. Verwerfung 34, 136 Volkskirche 31, 42, 187 Vollkommenheit 94, 111, 113, 125, 141, 143 f., 152

Wahrheit 12, 24, 31, 81, 98, 113, 115, 122, 127, 152, 154, 162 – 167, 169, 175, 177, 180 f. Waldenser 71, 130, 133, 138, 173, 175 Werke 33, 35, 38, 42, 48, 67, 90, 93, 110, 114 f., 117, 120 f., 126, 148, 188 Westfälischer Friede 129, 175 Wiedergeburt 33, 36, 92, 100, 105, 140, 164, 166 – 168, 170, 179, 184 Wittenberg 7, 9, 27, 52, 58, 75, 77, 80, 95, 171, 173 f., 183 – 185, 187 Wort Gottes 11, 30, 33, 40, 43, 45, 52, 59, 69, 95 – 97, 116, 119, 122, 155 – 170, 184 Zeichen der Kirche 41 Zwei-Regimente-Lehre 46 f., 50 – 53

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Günter Balders, geb. 1942, Dozent i.R. für Kirchengeschichte am Theologischen Seminar Elstal (Fachhochschule) des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden. Walter Fleischmann-Bisten, geb. 1950, Dr. theol., Leiter des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim. Roland Gebauer, geb. 1955, Dr. theol. habil., Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen der Evangelisch-methodistischen Kirche. Erich Geldbach, geb. 1939, Dr. theol., Professor em. für Ökumenische Theologie und Konfessionskunde an der Ruhr-Universität Bochum. Markus Iff, geb. 1964, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach des Bundes Freier evangelischer Gemeinden. Manfred Marquardt, geb. 1940, Dr. theol., Professor em. für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen der Evangelisch-methodistischen Kirche. Ulrike Schuler, geb. 1956, Dr. phil., Professorin für Kirchengeschichte, Methodismus und Ökumenik an der Theologischen Hochschule Reutlingen der Evangelisch-methodistischen Kirche. Volker Spangenberg, geb. 1955, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie am Theologischen Seminar Elstal (Fachhochschule) des Bundes EvangelischFreikirchlicher Gemeinden.

198

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Andrea Strübind, geb. 1963, Dr. theol., Professorin für Kirchengeschichte und Historische Theologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Uwe Swarat, geb. 1955, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie am Theologischen Seminar Elstal (Fachhochschule) des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden.