Wirtschaftsethik und Moralökonomik: Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik [1 ed.] 9783428491254, 9783428091256

Moral - ein Thema für die Ökonomik? Diese von vielen zunächst zweifelnd vorgebrachte Frage wird inzwischen eindeutig aff

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Wirtschaftsethik und Moralökonomik: Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik [1 ed.]
 9783428491254, 9783428091256

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A U F D E R H E I D E / D A B R O W S K I (Hrsg.)

Wirtschaftsethik und Moralökonomik

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann f

Heft 478

Anschrift der Herausgeber: Dr. Detlef Aufderheide Lehrstuhl für Volkswirtschaftstheorie Universität Münster Universitätsstr. 14-16 D-48143 Münster

Dr. Martin Dabrowski Akademie Franz Hitze Haus Kardinal-von-Galen-Ring 50 D-48149 Münster

Die Tagungsreihe „Wirtschaftsethik und Moralökonomik - Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik" wird in Kooperation zwischen der katholisch-sozialen Akademie FRANZ HITZE HAUS und dem Lehrstuhl für Volkswirtschaftstheorie der Universität Münster durchgeführt.

Wirtschaftsethik und Moralökonomik Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik

Herausgegeben von Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski

In Verbindung mit Karl Homann · Christian Kirchner Michael Schramm · Jochen Schumann Viktor Vanberg · Josef Wieland

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wirtschaftsethik und Moralökonomik / hrsg. von Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Volkswirtschaftliche Schriften ; H. 478) ISBN 3-428-09125-6

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 3-428-09125-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Vorwort Moral - ein Thema für die Ökonomik? Diese von vielen lange Zeit zweifelnd vorgebrachte Frage wird inzwischen eindeutig affirmativ beantwortet. Die veränderte Einschätzung ist wohl nicht zufällig im zeitlichen Zusammenhang mit neueren theoretischen Ansätzen der Ökonomik zu sehen, die als Neue Institutionenökonomik oder Konstitutionenökonomik Buchananscher Prägung in die Debatte Einzug gehalten haben: Durch ihre konzeptionelle Unterscheidung zwischen individuellen Handlungen und den ihnen zugrundeliegenden formellen wie informellen Regeln wurde die methodische Voraussetzung für eine ertragreiche ökonomische Auseinandersetzung mit dem „Phänomen Moral" geschaffen. Im Zuge dieser Entwicklung hat, erstens, die ökonomische Analyse moralischer Normen - oder kurz: die Moralökonomik - neue oder erweiterte Einsichten in die Rolle solcher Normen in einer modernen Marktwirtschaft beisteuern können. Wie ein Blick in die jüngste Literatur zeigt, werden nicht wenige der zum Teil neuen, zum Teil wiederentdeckten alten Erkenntnisse über die Entstehung und (Nicht-) Befolgung solcher Normen, über ihre Ursachen und Folgen zunehmend auch von Theologen und Moralphilosophen anerkannt und (aus kritischer Distanz) in ihrer eigenen Forschungsarbeit berücksichtigt. Zweitens werden vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse auch normative Fragen mit der institutionenökonomischen Methode in wohlverstandener Weise neu angegangen. Dabei löst sich die Ordnungsethik bzw. der ökonomische Ansatz zur Wirtschaftsethik energisch von einer Interpretation des Weberschen Wertfreiheitspostulates in den Wirtschaftswissenschaften, die ein solches Vorgehen als vermeintlich unseriös eingestuft hatte, dabei aber wohl weder den Intentionen Max Webers noch der Sache selbst gerecht geworden war. Drittens können im Zuge des neu begonnenen Diskurses zwischen Ethik und Ökonomik, zwischen Ökonomen und Theologen bzw. Moralphilosophen sowie Vertretern anderer Disziplinen auch einige bisher als gesichert geltende Hypothesen wirtschaftswissenschaftlicher Theorien in einem anderen Licht erscheinen als zuvor: Lernen im interdisziplinären Diskurs ist im Idealfall eben ein auf Gegenseitigkeit beruhender Prozeß.

6

Vorwort

Ohne Zweifel sind nicht wenige der bisher vorliegenden Beiträge von Ökonomen, insbesondere in Begründungsfragen, heftig umstritten; die Frage einer Vernunft- oder Vorteilsbegründung der Moral oder die, inwiefern denn nun in einer marktwirtschaftlich verfaßten Ordnung die Moral systematisch in den institutionellen Rahmenbedingungen zu verorten sei, mögen hier nur als prägnante Beispiele dienen. Grundsätzlich unbestritten ist gleichwohl die Fruchtbarkeit des neueren ökonomischen Beitrages: Der Ansatz hat sich binnen weniger Jahre im interdisziplinären Diskurs fest etabliert. Die Tatsache, daß um zahlreiche konzeptionelle Fragen, um konkrete Anwendungen und mögliche Weiterentwicklungen ebenso noch gerungen wird wie um angemessene Begriffe, darf dabei nicht überraschen. Vielmehr fügt sich diese Beobachtung in das Bild eines vielversprechenden neuen (oder wiederbelebten?) Forschungsprogramms. Auch die Heftigkeit der Auseinandersetzung sehen wir, zumal angesichts des theoretischen Niveaus der aktuellen Diskussion, als Indiz für diese Einschätzung. A l l dies war Grund genug, dem ordnungsethischen Ansatz zur Wirtschaftsethik und der Moralökonomik einen eigenen Sammelband zu widmen, der nunmehr vorliegt und die These bekräftigt: Moral - ein Thema für die Ökonomik. Der vorliegende Band dokumentiert die überarbeiteten Beiträge einer Tagung, die unter dem Arbeitstitel „Wirtschaftsethik und Moralökonomik. Beiträge zur Umsetzung ordnungsethischer Erkenntnisse" im Dezember 1996 in der katholisch-sozialen Akademie Franz Hitze Haus in Münster stattfand einer idealen Umgebung für den wissenschaftlichen Gedankenaustausch. Die Tagung geht auf eine Kooperation zwischen der Akademie und dem Lehrstuhl für Volkswirtschaftstheorie an der Universität Münster zurück, über deren dynamische Entwicklung in freundschaftlicher, kooperativer Zusammenarbeit wir uns besonders freuen. Dem Leiter der Akademie, Herrn DDr. Thomas Sternberg, sind wir für die stete und uneingeschränkte Unterstützung des Projekts und für die großzügige Bereitstellung der Fazilitäten im schönen Franz Hitze Haus zu großem Dank verpflichtet, ebenso dem Lehrstuhlinhaber, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Ströbele, für die stets unkomplizierte Begleitung und uneingeschränkte Unterstützung des Vorhabens. Die Tagung soll den Beginn einer kleinen Reihe markieren, die sich im zweijährlichen Rhythmus mit dem Themenbereich „Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik" beschäftigt, wobei stets Vertreter anderer Disziplinen zur Mitwirkung eingeladen werden. Die Ergebnisse sollen jeweils in einem Sammelband dokumentiert werden. Wir freuen uns sehr, daß wir

Vorwort

einen ausgesuchten disziplinenübergreifenden Beraterkreis für unser Vorhaben gewinnen konnten: Wir danken Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Jochen Schumann ebenso wie den Herren Prof. Dr. Dr. Karl Homann, Prof. Dr. Dr. Christian Kirchner, Prof. Dr. Michael Schramm, Prof. Dr. Viktor Vanberg und Prof. Dr. Josef Wieland ganz herzlich für die spontane Bereitschaft zur Unterstützung. Binnen relativ kurzer Zeit nach der Tagung konnte die Druckvorlage für den vorliegenden Band erstellt werden. Dies ist zuerst ein Verdienst der Autorin und der Autoren, denen wir für die sehr kooperative und effiziente Zusammenarbeit im Vorfeld der Tagung und danach besonders danken möchten. Dann besorgte Herr Dipl.-Betriebswirt (BA) Alexander Smajgl eigenverantwortlich und sehr engagiert die rasche elektronische Erfassung und Konvertierung von Texten und Dateien sowie die druckfähige Gestaltung der Texte. Frau Maria Conlan sorgte mit großem Einsatz für eine gewissenhafte Vorbereitung und einen reibungslosen Ablauf der Tagung; beiden danken wir sehr herzlich. Münster, im Mai 1997

Detlef Aufderheide

und Martin Dabrowski

Inhaltsverzeichnis Karl Homann Sinn und Grenze der ökonomischen Methode in der Wirtschaftsethik

11

Franz Haslinger Das Ende der Wirtschaftsethik: Grenzen einer ökonomischen Methode (Korreferat)

43

Peter Weise Ökonomik und Ethik (Korreferat)

59

Gerhard Engel Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis. Zum Vorrang der Empirie vor der Ethik

71

Reinhard Marx Muß die Welt verbessert werden? (Korreferat)

121

Hans G. Nutzinger Pragmatische Moralskepsis und Wirtschaftsethik: Anfragen an ein Programm und seine Durchführung (Korreferat)

129

Michael Schramm Spielregeln gestalten sich nicht von selbst. Institutionenethik und Individualethos in Wettbewerbssystemen

147

Horst Hegmann Die Genese von Präferenzen und das ökonomische System (Korreferat)

177

Ingo Pies Theologische Sozialethik und ökonomische Theorie der Moral: Ein Verständigungsversuch (Korreferat)

183

Andreas Suchanek Sustainability und ökonomische Ordnungsethik

197

Martin Leschke Politik, Politikberatung und gesellschaftliche Moral (Korreferat)

217

10

Inhaltsverzeichnis

Peter Nitschke Sustainability zwischen Politik und Ökonomie (Korreferat)

225

Iris Bohnet Identifikation als institutionelle Bedingung individueller Kooperation: Theorie und Experimente 235 Mathias Erlei Nutzenfunktionen in künstlichen Experimentwelten (Korreferat)

259

Christoph Lütge Identifikation, Homo oeconomicus und Wirtschaftsethik (Korreferat)

267

Ulrich Druwe Die Umsetzung ordnungsethischer Erkenntnisse in der Politik

273

Lars P. Feld Ordnungsethische Erkenntnisse und Politikerverhalten (Korreferat)

299

Stefan Voigt Optimismus allein genügt nicht - die Umsetzung ordnungsethischer Erkenntnisse setzt deren Existenz voraus (Korreferat)

311

Verzeichnis der Autoren

316

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode in der Wirtschaftsethik Von Karl Homann

I. Einleitung N. Luhmann hat wiederholt darauf hingewiesen, daß in Zeiten starken gesellschaftlichen Wandels regelmäßig der Ruf nach Moral und Ethik ertönt. Es wird wohl von niemandem bestritten, daß wir uns gegenwärtig in einer solchen Situation befinden: Dies zeichnete sich bereits in den 80er Jahren ab, und die Entwicklungen haben 1989 eine weltgeschichtliche Dimension angenommen. Da an allen Entwicklungen „die Wirtschaft" grundlegend beteiligt ist 1 , wird der Ruf nach Wirtschaftsethik gesellschaftstheoretisch plausibel. Dieser Ruf nach Moral und Ethik in der Wirtschaft wird in Ingolstadt mit dem nachdrücklichen Verweis auf die Ökonomik beantwortet. Der bislang einzige Lehrstuhl für „Wirtschafts- und Unternehmensethik" an einer deutschen Universität empfiehlt zur Lösung der normativen Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft die ökonomische Methode im Sinne von G. S. Becker und eine mikroökonomisch fundierte Theorie der Moral. Diese Antwort scheint auf den ersten Blick allem intuitiven Verständnis von „Moral" und „Ethik" zu widersprechen. Sie wird sich nur dann theoretisch plausibilisieren lassen, wenn das Problem der angemessenen Theoriebildung ins Blickfeld gerückt wird. Lebensweltliches Verständnis und phänomenologische ,3efunde" ergeben noch keine Theorie. Wissenschaftliche Theoriebildung läuft dem Alltagsverständnis vielmehr oft entgegen. Sie muß deshalb Auskunft über ihre Kriterien, ihre Problemstellung, Grundbegriffe, Methodik und über ihren Sinn und ihre Grenze geben. Hier scheint mir eine wesentliche Ursache vieler Mißverständnisse meiner Konzeption zu liegen, deswegen habe ich dieses Thema gewählt. Vor allem sollte man die Grenze der

1 Vgl. die jüngste, massive Kritik am ökonomischen, „neoliberalen" Denken bei Bourdieu (1996).

12

Karl Homann

ökonomischen Methode und auch die andere Art der Grenzbestimmung in meiner Konzeption in Rechnung stellen: Die Grenze wird weder gemäß einem „Bereich" - wie der „Wirtschaft" - noch gemäß bestimmten „Motiven" - wie „Altruismus" vs. „Egoismus", „extrinsisch" vs. „intrinsisch" - gezogen, sondern durch eine spezifische, dann genau auszuweisende, Problemstellung. 2 Ich will meine Argumentation in sieben Abschnitten entwickeln. Ich gehe von dem Problem der Begründung der Ethik aus (II), zeige die Bedeutung von Dilemmastrukturen für die Begründungsproblematik (III), um dann (IV) die Verwendung des Homo oeconomicus aus der zentralen Rolle von Dilemmastrukturen in Interaktionen abzuleiten. Es folgen die Charakterisierung der ökonomischen Methode (V) sowie die Bestimmung ihres Sinns (VI) und ihrer Grenze (VII) in der Wirtschaftsethik. Ich beschließe die Diskussion (VIII) mit Reflexionen über die Rolle und den Ort von Normativität in der positiven Wissenschaft Ökonomik.

Π . Vernunftbegründung vs. Vorteilsbegründung in der Ethik Ethik läßt sich charakterisieren als die Lehre vom moralisch richtigen Handeln. Dieses klassische Verständnis von Ethik ist normativ. Die Autoren der Tradition wußten in der Regel recht genau, welches Handeln „gut" und welches „schlecht" oder „böse" war. Dieses Verhalten galt es einzuüben: Traditionelle Ethik war paradigmatisch Tugendethik. I m Zuge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme und der zugehörigen Reflexionsform der positiven Einzelwissenschaften und in der Folge des Verlustes des Wertekonsenses in der Moderne erfolgte eine Steigerung der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse, die von der traditionellen Tugendethik nicht mehr zu bewältigen war. Seit I. Kant reagiert die Philosophie auf diese Problemlage mit der Konzentration auf die Frage der Begründung moralischer Normen und Regeln, die dem Anspruch und der Tendenz nach universalistisch sind. In scharfem Gegensatz zur Herleitung der Moral aus dem Gefühl und dem Vorteilskalkül leiten Kant und die an ihn anknüpfende moderne Ethiktradition die moralischen Prinzipien und Regeln aus der „Vernunft" ab. Bemühungen um „Letztbegründung" in der Diskursethik und

2 Dazu

ausführlich Suchanek (1994).

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

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die konstruktivistische Ethik, die beide auch in der Wirtschaftsethik ihren Niederschlag gefunden haben,3 stehen in dieser Tradition. 4 Die von mir entwickelte ökonomische Begründung von moralischen Regeln beansprucht, die Regeln der klassischen kantischen Tradition auch aus Vorteils-/Nachteilskalkulationen der Individuen im Rahmen einer elaborierten modernen Vertragstheorie begründen zu können bzw. eine solche ökonomische Begründung zum erklärten Forschungsprogramm machen zu sollen. Wenn man von Detailfragen absieht, lautet der erste wichtige Einwand gegen dieses Programm, daß es den „moral point of view" verfehle 5, also jene Eigenart und Eigenständigkeit moralischen Urteilens, das sich nicht auf ökonomische Kalkulationen zurückführen lasse. Die Begründung dieser Kritik erfolgt entweder kantisch - aus transzendentalphilosophischen Gründen sei zwischen der Unbedingtheit moralischen Sollens und den bedingten Klugheitsregeln einer ökonomisch begründeten Moral streng zu unterscheiden oder phänomenologisch - wonach Introspektion und Fremdbeobachtung bei moralischem Handeln immer ein „Mehr" gegenüber allem Vorteilsdenken aufweise, wie weit man das Vorteilsdenken im Anschluß an G. S. Becker auch fasse. Oft werden beide Argumentationen vermengt, indem transzendentalphilosophische bzw. -pragmatische Kategorien in empirische Psychologie überführt werden, was natürlich methodisch unzulässig ist. 6 In der Regel bleibt dieses „Mehr" - das der ökonomischen Rekonstruktion grundsätzlich nicht zugänglich sein soll, wenn man nicht in tautologische Argumentationen verfallen will - sehr unbestimmt, eine Restgröße also, für die man nicht viel mehr als den Namen „genuine Moral" o. ä. hat. In einem zweiten wichtigen Einwand wird der ökonomischen Rekonstruktion/Begründung von Moral vorgehalten, sie zerstöre gemäß dem Mechanismus einer self-fulfilling prophecy die genuin moralischen Handlungsmotivationen der Individuen - ein Gedanke, der letztlich schon für Kant den Grund für seine scharfe begriffliche Trennung von Sittlichkeit und Klugheit abgegeben hatte. Es ist immer noch dieselbe Sorge, die Kant und die modernen Kriti-

3

In der Tradition der Diskursethik stehen die Arbeiten von P. Ulrich, in der Tradition konstruktivistischer Ethik die Arbeiten von H. Steinmann und seinen Mitarbeitern. 4

Hier wird vom Utilitarismus zunächst abgesehen: Trotz weiter Verbreitung besonders in der angelsächsischen Tradition enthält er eine Reihe ungelöster immanenter Probleme. Auf den entscheidenden Grund, warum das utilitaristische, besonders das regelutilitaristische Denken für die hier verfolgte Fragestellung unzureichend ist, komme ich in Abschnitt V I I I zurück. 5 Vgl. etwa Ulrich (1996), S. 148, und Ulrich (1996a). 6

So auch Kettner (1994), S. 248.

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Karl Homann

ker umtreibt: Wenn man in Sachen Moral einmal zu kalkulieren anfange, lasse sich dies von der Einzelhandlung nicht fernhalten; die Unbedingtheit von Sollen und Pflicht ginge verloren und damit werde die Verläßlichkeit der wechselseitigen Verhaltenserwartungen untergraben, die für jede soziale Ordnung unabdingbar sei. Eine moderne, vertragstheoretisch entwickelte ökonomische Theorie der Moral hat dieses Problem gelöst: Sie macht eine Unterscheidung stark, die Kant zwar kannte, deren Bedeutung er aber unterschätzte: Sie unterscheidet streng zwischen Handlungen und Regeln, oder zwischen konstitutioneller und operativer Ebene, und sie bezieht - analog dem Regelutilitarismus - die ökonomische Begründung allein auf die Regeln und nicht auf die Handlungen. Die Handlungen werden strikt den Regeln unterworfen, so daß die Verläßlichkeit der Verhaltenserwartungen, um die es auch Kant ging, in dieser Konzeption gewährleistet bleibt. Während Kant diese Verläßlichkeit jedoch durch moralische Verpflichtung der Individuen erreichen will, empfiehlt eine ökonomische Theorie der Moral, die Regeln so zu gestalten, daß die Individuen Anreize haben, die Regeln verläßlich zu befolgen. 7 Auf diese Weise kann sie einen Gedanken denken, den Kant und in seiner Nachfolge breite Kreise der heutigen philosophischen Ethik nicht denken können: den Gedanken der kontingenten Verbindlichkeit moralischer Regeln: In bezug auf die Handlungen sind die Regeln verbindlich - und setzen sich aufgrund der Anreizkompatibilität selbst durch - , in bezug auf alternative Regeln aber kontingent und begründungsbedürftig. Die Vernunftbegründung der Moral ist nach dem Ende metaphysischer und/oder naturrechtlicher Moralbegründungen der letzte Versuch, um der Verbindlichkeit der Moral (im Handeln sc.) willen die Kontingenz dieser Regeln unsichtbar zu machen. Demgegenüber erreichen die zweistufige Handlungsrekonstruktion - Handlungen und Handlungsbedingungen, Spielzüge und Spielregeln - und der Gedanke der kontingenten Verbindlichkeit der Regeln einen Grad der Ausdifferenzierung, der in anderen Konzepten kaum zu finden ist. Gegenüber den Problemen der modernen Welt, besonders auch in Umbruchzeiten mit ihren typischen Regeländerungen, bleiben die sogenannten Vernunftbegründungen der Moral demgegenüber unter komplex.

In der Schrift „Zum ewigen Frieden" von 1795, 2. Aufl. 1796, findet sich allerdings die berühmte Stelle, daß auch „ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)", einen Staat machen könnte; Kant (1910 ff.), Bd. 8, S. 366. Es ist bezeichnend, daß eine solche Aussage den Ethikern größte Schwierigkeiten bereitet. Vgl. dazu u. a. Höffe (1988).

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

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H I . Dilemmastrukturen und Moralbegründung Man kann das bisher Entwickelte auch so ausdrücken: Die Erfahrung moralisch Handelnder, daß die Normen vorgegeben sind und ihnen mit unbedingtem Anspruch entgegentreten, kann man nicht als Modell der Begründung dieser Regeln/Normen nehmen. I m ethischen Diskurs sind Handlungsbegründung und Regelbegründung streng zu unterscheiden. 8 Wenn man sich auf die hier interessierende Regelbegründung konzentriert, lassen sich hier im Prinzip wiederum die beiden Strategien von „Begründung" unterscheiden, die Vernunftbegründung und die Vorteilsbegründung. Wie T. Petersen9 soeben noch einmal gezeigt hat, ist die Kritik der klassischen deutschen Philosophie (Kant und Hegel) an der klassischen Vertragstheorie in dem Gedanken zentriert, daß letztere nur partikulare Interessen in Betracht ziehe und in Betracht ziehen könne, während es in der Gesellschaft, im Staat, um „allgemeine" oder „vernünftige" Interessen gehen müsse. Wiederum sieht man sofort, was die Folge ist: Die Kontingenz der Regelsysteme wird dadurch unsichtbar gemacht, auch wenn insbesondere bei Hegel nachträglich gewisse Kontingenzen wieder eingeführt werden. 10 Um diese Kontingenz der Regelsysteme offen auszuweisen und damit den theoretischen Zugang zu Vorteilskalkulationen zu finden, ziehe ich erneut die ökonomische Begründungsstrategie vor; auf die Frage: partikulare versus allgemeine Interessen, komme ich in Abschnitt V zurück. Die Kontingenz aller Regelsysteme, die nach dem Ende der metaphysischen und/oder naturrechtlichen Begründungen kaum ernsthaft bestreitbar ist, liegt m. E. systematisch in den Dilemmastrukturen begründet. Aus diesem Grund spielen Dilemmastrukturen in meiner Konzeption eine schlechthin fundamentale Rolle, die von der philosophischen Ethik und von der heutigen Wirtschaftsethik noch nicht erkannt 11 ist und die in der Kritik an meinem Ansatz notorisch übergangen wird. Das Gefangenendilemma z. B. illustriert, daß kein einzelner - kein Individuum, kein Unternehmen, kein Verband, kein Staat etc. g Dies gilt auch für den ökonomischen Diskurs, jedoch in anderer Weise: Im ethischen Diskurs wird zwischen Vorteilsbegründung der Regeln und moralischer Begründung der Handlungen unterschieden; im ökonomischen Diskurs handelt es sich beide Male um Vorteilsbegründungen, bei den Regeln jedoch um kollektive und bei den Handlungen um individuelle Vorteilsbegründung, wobei etablierte Sanktionssysteme natürlich eingerechnet sind. 9 Vgl. Petersen (1996). 10

Dazu vgl. neuerdings Bubner (1996), S. 125 ff. (Kapitel IV).

11

(1986).

Allerdings gibt es neuerdings zunehmend andere Entwicklungen; vgl. bes. Gauthier

16

Karl Homann

- das allgemein erwünschte und deshalb moralisch geforderte Ergebnis allein hervorbringen kann. Da dann der Grundsatz „ultra posse nemo obligator" zum Zuge kommt und die Geltung der Moral überhaupt gefährdet, wird diese Geltung moralischer Regeln jetzt von der schon von T. Hobbes genannten Voraussetzung abhängig, „daß andere dazu auch bereit sind" 12 . Die normative Geltung einer Regel hängt von ihrer (hinreichenden) Implementation ab; die Implementation schlägt auf die Geltung durch. Wenn es richtig ist, daß moralische Regeln aus der grundlegenden Dilemmastruktur von Interaktionen zu entwickeln sind, bedeutet dies das Ende des traditionellen Kognitivismus in der Ethik einschließlich der Vernunftbegründung von und seit Kant. In der Wirtschaftsethik geht es dann nicht mehr um die nachträgliche Durchsetzung des vorher als ethisch richtig Erkannten durch Recht und Ordnungspolitik. Es geht vielmehr um die Frage, ob sich ein allseits erwünschtes Regelsystem in einem Ausmaß institutionell stabilisieren läßt, daß es normativ in Geltung gesetzt werden kann. Systematisch gesehen, setzen die Betroffenen selbst die Normen in Geltung, denen sie im Handeln unterworfen sein wollen und sind, und sie tun dies, weil und insofern sie alle Vorteile davon haben, was immer der einzelne unter „Vorteilen" verstehen mag. Selbstverständlich werden die moralischen Regeln im konkreten Handlungsvollzug meist als Beschränkungen erfahren, aber gerade diese Beschränkungen stellen den Grund der Ermöglichung größerer individueller Freiheit dar, indem sie durch Schaffung der Verläßlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen die Handlungsmöglichkeiten der Individuen gegenüber einem fiktiven „Naturzustand" erheblich erweitern. Durch Vereinbarung von Handlungsbeschränkungen werden andere, höher geschätzte Handlungsmöglichkeiten eröffnet: Kollektive Entwicklung individueller Freiheit lautet das Programm einer metaphysikfreien ökonomischen Moralbegründung. 13 Moral hängt legitimationstheoretisch von der Zustimmung der Betroffenen zu den Regeln ab - „kollektive Selbstbindung" - , und die einzelnen geben diese Zustimmung aufgrund individueller Vorteils-/Nachteilskalkulation, allerdings unter zwei systematisch verbundenen Bedingungen: (1) unter der Bedingung der streng allgemeinen Zustimmungsfähigkeit, d. h. der Vorteilhaftigkeit auch für alle anderen, und (2) unter der Voraussetzung, daß ihre allgemeine Befolgung (hinreichend) sichergestellt werden kann - kurz: unter der Bedingung der Anreizkompatibilität für alle.

12

Hobbes (1651/1980), S. 119, i.O. kursiv (14. Kapitel des „Leviathan").

13

Vgl. Homann/Pies

(1993).

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

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I m Unterschied zu vielen anderen Bindestrich-Ethiken, bei denen es um „Anwendung" der allgemeinen Ethik auf verschiedene „Bereiche" geht, was keineswegs nur trivial ist, 14 geht es bei der „Wirtschaftsethik" um Begründung im strengen Sinn, weil in einer nichtmetaphysischen Ethik erst die institutionelle, d. h. anreizkompatible, Implementation die kreierten Normen in Geltung setzt. Mit einer solchen Konzeption wird dem traditionellen Gedanken der Verbindlichkeit moralischer Regeln für das Handeln ebenso wie dem der Aufklärung verdankten Gedanken der Kontingenz aller Regelsysteme Rechnung getragen. Die Kontingenz liegt letztlich in den Dilemmastrukturen begründet. Historische, kulturelle, gruppenspezifische Kontingenzen von Moralsystemen lassen sich dann als Pfadabhängigkeiten begreifen, die daraus resultieren, daß in verschiedenen Situationen und/oder Populationen unterschiedliche Regelsysteme institutionell stabilisiert werden konnten.

I V . Dilemmastrukturen und Homo oeconomicus In diesem Kontext ist eine Revision von Funktion und Bedeutung des Homo oeconomicus vorzunehmen. Dabei darf als unstrittig gelten, daß der Homo oeconomicus nicht normativ verstanden werden kann, als Ideal, daß er vielmehr - zunächst, s. u. - ausschließlich in den Zusammenhang der positiven Forschung gehört. Die zentrale Frage wird in der Regel so gestellt, ob der Homo oeconomicus „realistisch" ist oder nicht; im Rahmen einer epigonalen Popperschen Methodologie läuft sie unter dem Stichwort „Realismus der Annahmen". - Hier wird der Anspruch erhoben, eine Antwort auf die Frage nach der Funktion und Bedeutung des Homo oeconomicus zu geben, die in der Literatur bisher so nicht vorliegt. 15 Hinsichtlich der positiven Verwendung des Homo oeconomicus gibt es eine Gruppe von Autoren, die die Verhaltensannahmen des Homo oeconomicus unter Hinweis auf phänomenologische Beobachtungen letztlich lebensweltlicher Natur als zu „sparsam", als „verkürzt", als „reduktionistisch" zurückweisen. Auch wenn prominente Sozialwissenschaftler wie A. O. Hirschman, A. Sen, J. Elster und A. Etzioni so vorgehen, 16 ist dies wenig elaboriert, um

14 15 16

Darin ist Kersting (1996) Recht zu geben gegen Homann (1996a). Zuerst Homann (1994). Vgl. Hirschman (1985/1989); Sen (1977); Elster (1989); Etzioni (1988/1994).

2 Aufderheide/Dabrowski

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Karl Homann

nicht zu sagen untheoretisch. Das behauptete „Mehr" moralischen Handelns gegenüber ökonomischer Kalkulation bleibt letztlich eine leere Restgröße, der das Etikett „Moral" (oder Äquivalente) angehängt wird. Die professionelle empirische Forschung, über die G. Kirchgässner 17 die maßgebliche Monographie verfaßt hat, ist insofern unbefriedigend, als sie uneinheitliche Resultate hervorgebracht hat. Hier wird regelmäßig mehr und genauere Forschung angemahnt, als ob man damit rechnen könne, irgendwann herauszufinden, wie denn der Mensch „wirklich" gebaut ist, ob er ein Homo oeconomicus ist oder nicht. Demgegenüber steht immer noch M. Friedmans 18 These im Raum, daß es für sinnvolle und erfolgreiche ökonomische Forschung eines solchen möglichst „realistischen" Annahmenkomplexes gar nicht bedürfe. Der Homo oeconomicus dient ihm als Konstrukt, als inference ticket für die Ableitung von Hypothesen, und es seien allein diese abgeleiteten Hypothesen, die dann empirisch getestet werden müßten. Unbefriedigend an dieser Position bleibt, daß Friedman außer dem Hinweis auf den Erfolg des Forschungsprogramms keine weiteren Gründe dafür benennt, warum er den Homo oeconomicus - und nicht den Homo sociologicus, cooperativus oder dergl. mehr 19 - verwendet. Insofern bleibt sein Vorgehen ad hoc, willkürlich. Hier wird die These vertreten, daß der Homo oeconomicus ein problemorientiertes Konstrukt zu Zwecken positiver Theoriebildung darstellt - darin liegt die Nähe zu M. Friedman - , für dessen Wahl aber nicht nur die Fruchtbarkeit in einem Forschungsprogramm, sondern auch eine bestimmte Art von „Realitätsnähe der Annahmen" ausschlaggebend ist, womit Grundgedanken der Popperschen Methodologie Rechnung getragen wird. Allerdings bezieht sich die „Realitätsnähe" nicht auf die (sozial-) psychologische Ausstattung des „Homodes „Menschen", sie bezieht sich vielmehr auf die „Situation", in der die Menschen agieren, und die von dieser „Situation" ausgehenden Handlungsanreize. Insofern ist die Bezeichnung „Homo" irreführend, und auch bei O. E. Williamsons 20 Verschärfung zum „Opportunismus" als angeb-

17

Vgl. Kirchgässner

18

Vgl. Friedman (1953).

(1991).

19

Oder spätere Verfeinerungen zum R E M M oder RREEMM: vgl. Meckling (1976) und Lindenberg (1985), die allesamt nützlich sein mögen, aber die nachfolgende These nicht beeinträchtigen. 2 0 Vgl. Williamson (1985/1990).

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

19

lieh realistischer Verhaltensannahme handelt es sich m. E. um ein methodologisches Selbstmißverständnis. Das gegenüber der Literatur grundlegend Neue ist darin zu sehen, daß diese Interpretation systematisch mit Dilemmastrukturen zusammenhängt. Dilemmastrukturen sind, insbesondere wenn man (1) die Konstituierung der Verfügungsrechte und deren Beachtung und (2) die Aufteilung der Kooperationsgewinne nicht als „gegeben" voraussetzt, sondern in die ökonomische Forschung mit einbezieht, in der Welt allgegenwärtig. Jede gelungene Interaktion setzt die Überwindung einer (latenten) Dilemmastruktur voraus. Insofern sind alle „Verfassungen" - Staatsverfassung, Unternehmensverfassung, Moral, Konventionen - als Resultate von Interaktionen und damit als Überwindung von Dilemmastrukturen zu betrachten. Ihr Sinn besteht darin, die Überwindung von Dilemmastrukturen auf nachgelagerten Ebenen zu ermöglichen, indem sie die Handlungsmöglichkeiten der Akteure beschränken und die Verläßlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen herstellen. Der in die soziale Ordnung = gesellschaftliche Kooperation einer Marktwirtschaft artifiziell eingebaute Wettbewerb stellt ebenfalls nichts anderes als ein gezielt etabliertes und vom Kartellamt überwachtes Dilemma auf einer Marktseite dar. Dilemmastrukturen leben (1) von der Aussicht auf Kooperationsgewinne für alle, falls die Stabilisierung, d. h. die anreizkompatible Implementierung, der sozialen Ordnung gelingt, und (2) von gemeinsamen (Kooperationsgewinne) und konfligierenden (Verteilung der Kooperationsgewinne) Interessen zugleich. Darin kann der Wettbewerb eingelassen sein, so daß wir mehrfach ineinandergeschachtelte Dilemmata erhalten. Phänomenologisch festgestellte Dilemmata sind daher normativ ambivalent: erwünscht im artifiziellen Wettbewerb der Marktwirtschaft, unerwünscht bei öffentlichen Gütern, angefangen bei der sozialen Ordnung über die Moral bis zur sauberen Umwelt. Die Dilemmastruktur ist durch eine grundlegende Asymmetrie gekennzeichnet. Zur Überwindung des Dilemmas ist das Mitwirken ausnahmslos aller Akteure erforderlich; den Zusammenbruch der Interaktion kann demgegenüber ein einzelner Defektierer allein herbeiführen, weil er alle anderen zur präventiven Gegendefektion zwingen kann. Modelltheoretisch reicht sogar ein potentieller Defektierer, um den Prozeß der wechselseitigen präventiven Defektion in Gang zu setzen. Technisch heißt das: Im Gefangenendilemma ist Defektieren die dominante Strategie. Jetzt läßt sich die Frage beantworten, worauf es zurückzuführen ist, daß die Ökonomik mit dem Konstrukt des Homo oeconomicus so erfolgreich arbeitet:

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Karl Homann

Es sind die Dilemma-Situationen, die allem sozialen Handeln, allen Interaktionen inhärent sind, die auch bei einer Population mit zahlreichen „Altruisten" aufgrund der Asymmetrie den Mechanismus der präventiven Defektion in Gang setzen und dadurch das - langfristige - Gesamtresultat determinie^

ren.

21

Ökonomik ist seit A. Smith implizit auf die allen Interaktionen inhärenten Dilemma-Strukturen zugeschnitten, deswegen ist der Homo oeconomicus das geeignete Konstrukt zur Ableitung der Resultate dieser Interaktionen: Er determiniert das Resultat, auch wenn es ihn empirisch gar nicht „gibt"! Der „Realismus " des Homo oeconomicus liegt somit nicht im Realismus der Annahmen über die (sozial-) psychologische Ausstattung des Menschen, sondern in den „Situationen d. h. in den Dilemmasituationen, und in den von ihnen ausgehenden Handlungsanreizen. Der Homo oeconomicus ist daher nicht Teil einer Verhaltenstheorie, sondern der Kern einer Situationsiheorie. Entgegen einem epigonalen Popper-Verständnis kehrt hier die Methodologie zum genuinen Popper, zu seiner „Logik der Situation" aus der frühen Zeit und zu seiner Rationalitätskonzeption von 1967, zurück. 22 Zugleich wird die unglaubliche Robustheit des Konzepts Homo oeconomicus erklärt, zumal wenn man reflektiert mit der „Situation" umgeht und berücksichtigt, daß diese „Situation" - wiederum nach Popper - kein factum brutum darstellt, sondern eine wahrgenommene, theoriegeleitet interpretierte „Situation" ist und daß sie durch veränderte Wahrnehmung/Interpretation und durch Politik umgestaltet werden kann. Gemäß einer modernen, schon bei Popper zum Teil explizierten, heute „konstruktivistisch" genannten Methodologie ist alle Theoriebildung nicht von einer Ontologie der Gegenstandsbereiche und auch nicht von lebensweltlicher Phänomenologie, sondern von den Problemstrukturen bestimmt. Damit ist der Hinweis auf die „Tatsache", daß Menschen nicht nur ökonomische Motive „haben", sondern über ein weit reichhaltigeres Spektrum von Motiven verfü-

21

Natürlich gibt es Teilgruppenmoralen, die als Gleichgewichte in einer evolutionär stabilen Strategie abgeleitet werden können. Aber bei solcherart Überlegungen geht es eher um Fragen der Entstehung von Moral qua Kooperation, die nur in Teilgruppen existiert, als um die langfristige Stabilität von Moral in der Gesamtgesellschaft („soziale Ordnung"), und es geht um Entstehung und Entwicklung solcher Moral in Zeiträumen, die für das Problem der sozialen Ordnung gänzlich irrelevant sind. Aber der Grundgedanke solcher Analysen ist derselbe wie hier: Moral bleibt nur bestehen, wenn sie sich für die Betroffenen als vorteilhaft erweist; vgl. dazu das Korreferat von Weise (in diesem Band). 22

Vgl. dazu mit Nachweis und Interpretation der Fundstellen Suchanek (1994); der Popper-Aufsatz von 1967 ist jetzt auch in deutscher Übersetzung verfügbar: Popper (1967/1995).

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

21

gen, kein Gegenargument gegen die grundlegende Verwendung des Homo oeconomicus in der Ökonomik, sondern lediglich eine Trivialität ohne theoretische Relevanz. 23 Kritiker meines Ansatzes in der Wirtschaftsethik machen des öfteren geltend, daß der Homo oeconomicus grundsätzlich unfähig sei, so etwas wie Moral, moralische Regeln hervorzubringen. 24 Ich habe nie behauptet, die Moral werde vom Homo oeconomicus generiert. Generiert wird sie von „Menschen", die über genau das reichhaltige Spektrum von Motiven verfügen, das mir entgegengehalten wird. Der Homo oeconomicus kommt erst bei der Frage ins Spiel, ob und unter welchen Bedingungen Akteure diese - u. a. altruistischen, solidarischen etc. - Motive im Normalbetrieb einer Gesellschaft von Menschen mit gemeinsamen und konfligierenden Interessen zugleich auch dauerhaft praktizieren können. Diese - gesellschaftstheoretische - Frage beantwortet die Analyse mit Hilfe des Homo-oeconomicus-Konstrukts: Nur wenn institutionelle Arrangements homo-oeconomicus-resistent ausgestaltet werden können, sind sie in der Lage, die gewünschte Rolle zu spielen. Wie man nur TÜV-geprüfte Autos in den Verkehr läßt, so kann der Ökonom nur solche Regeln und Institutionen empfehlen, die den - gedanklichen - Homooeconomicus-Test bestanden haben. Andernfalls mutet er gerade den moralischen Akteuren die Ausbeutung durch die weniger moralischen Akteure zu, und das werden sich erstere nicht unbegrenzt lange gefallen lassen, was den Verfall der Moral in der Gesellschaft zur Folge hat. Nach diesen Ausführungen zur Funktion des Homo oeconomicus in der positiven Ökonomik läßt sich auch eine neue Bedeutung dieses Konstrukts für den normativen Diskurs aufweisen. Wenn es richtig ist, daß im Prinzip jeder einzelne aufgrund der Asymmetrie universaler Dilemmastrukturen die gesellschaftliche Kooperation zerstören bzw. die Realisierung weiterer Kooperationsgewinne blockieren kann, dann ist es ein Gebot der Klugheit (!), jeden einzelnen durch Gewährung elementarer Verfügungsrechte dazu zu bewegen, in der gesellschaftlichen Kooperation bereitwillig mitzuwirken. 25 Auf diese

23

Das bedeutet natürlich nicht eine Mißachtung von empirischen „Befunden", es macht lediglich darauf aufmerksam, daß diese „Befunde" grundsätzlich nur als theoretisch, u. U. alltags-theoretisch, interpretierte „Befunde" darstellen und man sich deshalb auf alternative theoretische Interpretationen einlassen muß. Man hat „die Realität" nur als „gedeutete Realität", nie als factum brutum mit eigenständiger Beweiskraft. In der Sprache Kants heißt das: Das „Ding an sich" ist unerkennbar. 24 So kürzlich wieder Ulrich (1996), S. 153, Osterloh (1996), S. 213, und Rottländer (1996). 25

Die Formulierung in bewußter Anlehnung an Rawls (1971/1979), S. 124.

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Karl Homann

Weise läßt sich eine ökonomische Begründung von elementaren gesellschaftlichen Normen entwickeln, individuell: von Grundrechten, Menschenrechten, intragesellschaftlich: von einer sozialen Mindestsicherung für alle, und intergesellschaftlich: von einer Integration der armen Länder in die Weltgesellschaft mit Hilfe von Entwicklungshilfe o. ä. Die von T. Hobbes für den Gesellschaftvertrag für notwendig erachtete „Gleichheit" - nach der er im „Leviathan" über lange Seiten sucht, ohne eine überzeugende empirische Plausibilisierung liefern zu können - erfährt dadurch eine neue Interpretation: Grundlegend „gleich" sind die Menschen in ihrer grundsätzlichen Fähigkeit, mögliche Kooperationsgewinne aller anderen zu blockieren oder zu zerstören. Als rationale Akteure werden sie das aber nur tun, wenn sie selbst dabei nichts zu verlieren haben: Daher kann die Gewährung elementarer Rechte sie davon abbringen und stellt somit ein Gebot der Klugheit aller anderen dar. Weil Wohlstand und Freiheit moderner Gesellschaften grundlegend aus dem kontrollierten Umgang mit Dilemmastrukturen resultieren, sind sie so anfällig für die Blockadeaktivitäten einzelner bzw. kleiner Gruppen. Selbst ein Philosoph wie O. Höffe (1988) kann diesem Gedanken einer ökonomischen Plausibilisierung von Menschenrechten heute etwas abgewinnen.

V. Zur Methode der Ökonomik Einzelwissenschaften werden heute nicht durch einen Gegenstandsbereich wie z. B. „die Wirtschaft" definiert, sondern durch ihre Methode, 26 Die Methode wiederum wird bestimmt durch die grundlegende Struktur der Probleme, mit denen sie befaßt ist. Diese Problemstruktur ist in der Ökonomik bestimmt durch zugleich gemeinsame und konfligierende Interessen der Interaktionspartner und die daraus folgenden Anreizstrukturen, also durch die erläuterte Asymmetrie in den Interaktionsstrukturen. Vor diesem Hintergrund komme ich zu folgender vorläufiger Bestimmung der ökonomischen Methode bzw. der Wissenschaft Ökonomik: Ökonomik befaßt sich mit der Erklärung und Gestaltung der Resultate von Interaktionen in Dilemmastrukturen. Ich gehe die Elemente durch und profiliere sie in bezug auf alternative Auffassungen.

2 6

Dazu die Nobel-Lecture von Becker (1993), jetzt deutsch in Becker (1996), S. 21 ff.

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

23

1. „Erklärung und Gestaltung" hält an der klassischen Auffassung von Ökonomik fest. Nach dieser müßte es präziser sogar heißen: „Erklärung zwecks Gestaltung". Natürlich ist es legitim, arbeitsteilig vorzugehen und sich vorrangig mit der „Erklärung" zu befassen. Aber schon hier wird deutlich, daß alle Erklärung, da sie hochselektiv verfährt und verfahren muß, ein Selektionskriterium braucht, das nicht platt positivistisch irgendeine vermeintliche „Faktizität" sein kann; bei der klassischen Auffassung von Ökonomik liefert die Gestaltungsabsicht dieses Selektionskriterium. Dabei muß die positive Analyse davon ausgehen, daß sich alle Akteure tatsächlich in dem Sinne „rational" verhalten, daß sie unter den gegebenen Bedingungen das Beste für sich herauszuholen suchen: Es liegt der Methode ein strikt positives Rationalitätsverständnis zugrunde. 27 Das Gesamtresultat, der Status quo, muß methodisch als aggregiertes Resultat individuellen Rationalverhaltens in Interaktionen angesetzt werden, ein Resultat, das, wenn es normativ unerwünscht ist, als „soziale Falle" rekonstruiert werden muß. Damit sind so Dinge wie „Egoismus", „Charakterschwäche" und „Profitgier" sowie „Werteverfall" zur „Erklärung" ebensowenig zugelassen wie „Irrationalität" des Verhaltens. Wenn die „Erklärung" nicht befriedigt, hat der Ökonom nach bisher übersehenen Kosten und Nutzen zu suchen.28 2. Ökonomik erklärt und gestaltet die Resultate von Interaktionen, pointierter: die aggregierten Resultate von Interaktionen. Danach hat Robinson im Prinzip keine „ökonomischen" Probleme: Solche treten erst mit der Ankunft Freitags auf. Wo dominant und systematisch das Robinson-Modell als Paradigma der Ökonomik dient - in der wohlfahrtsökonomischen Allokationstheorie z. B. - , hat man die grundlegenden Probleme, die immer soziale Probleme sind, aus der Ökonomik herausdefiniert. In der wohlfahrtsökonomischen Allokationstheorie geht es paradigmatisch um die effiziente Nutzung von Ressourcen; Fragen der Gerechtigkeit, der Verteilung einschließlich der Verteilung der Anfangsausstattung und ihrer Änderung sowie der sozialen Absicherung werden entweder c. p. gesetzt oder einer von der Allokationsfrage separierten - nicht selten als „irrational", weil effizienzmindernd eingestuften - „Ethik" zugewiesen, obwohl jeder Ökonomiestudent um die Interdependenz von Allokation und Verteilung und die Reziprozi-

27

Es wird konsequent auf „gegebene" Bedingungen abgestellt, woraus folgt, daß das rein positive allgemeine Rationalitätsverständnis durch die Frage: „vollständige oder unvollständige Information?" nicht tangiert wird. Zur Methode vgl. Schramm (1996). 28 Vgl. zu dieser Heuristik Becker (1976/1981), S. 6.

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Karl Homann

tät von Zuweisung von Rechten an A und Entzug dieser Rechte gegenüber Β weiß. Hier wird demgegenüber die soziale Dimension von Interaktionen in den Vordergrund gestellt: Es geht um Resultate, die immer aus Interaktionen entstehen, die also systematisch nie von einem einzelnen Akteur hervorgebracht werden. Dominantes Analyseinstrument ist die Institutionentheorie, die genau auf die soziale Dimension von Interaktionen fokussiert ist und nicht auf die Ressourcendimension. 29 Die Resultate, um deren Erklärung und Gestaltung es geht, stellen sich in zahlreichen relevanten Fällen ein als nichtintendierte Resultate intentionalen Handelns. Typischerweise geht es um Dinge wie Inflationsrate, Kriminalitätsrate, Scheidungsrate, und hier noch einmal nicht um das Niveau solcher Raten, sondern um deren Veränderung in Abhängigkeit von Veränderungen in den Handlungsbedingungen, den Restriktionen. 30 Da die ethisch bedeutsamen Resultate niemals von einem einzelnen Akteur allein herbeigeführt werden können, verfehlen tugendethische Appelle grundsätzlich ihr Ziel. Die Resultate werden durch die Regeln und die von ihnen ausgehenden Anreize bestimmt. Deshalb ist Wirtschaftsethik paradigmatisch als Bedingungsethik, Ordnungsethik oder Anreizethik zu konzipieren. Theoretisch sind moralische Regeln, Normen als Restriktionen individuellen Handelns und nicht als Präferenzen oder Metapräferenzen von Individuen anzusetzen:31 Intersubjektiv gültige Regeln - wenn das nicht schon einen Pleonasmus darstellt - sind von keinem einzelnen Akteur genuin „gewollt"; sie sind in der Theorie, die die Sicht des einzelnen modelliert, aufzufassen als Mittel, auf die sich alle Betroffenen zur Realisierung der Kooperationsgewinne einigen konnten. Der Kern von Kants und besonders Hegels scharfer Unterscheidung zwischen „partikularen" und „allgemeinen" Interessen - und des daraus abgeleiteten Vorwurfs an die klassische Vertragstheorie, nur erstere zu kennen - besteht in deren Einsicht, daß es sich bei diesen Regeln bzw. Nor-

29

Die „Spiele gegen die Natur" auf polypolistischen Märkten haben es ebenfalls systematisch mit Interaktionen zu tun; lediglich technisch ist es zu verstehen, wenn die Prozesse als „parametrische" Anpassungen und als „Spiele gegen die Natur" modelliert werden können. 30

Damit ist das sogenannte Wähler-Paradox als verfehlte Problemstellung erwiesen: Es geht um Veränderungen der Wahlbeteiligung, also weder um das Niveau noch gar um die Einzelentscheidung. Das mikroökonomisch fundierte Modell gibt nur den heuristischen Rahmen für eine Erklärung von Veränderungsraten ab, es enthält als solches keinerlei empirische Behauptung über das Verhalten des einzelnen, gegen die man dann empirisch argumentieren könnte. In der Sprache von Zintl (1989) gesagt, geht es nicht um Mikrotheorie, sondern um mikrofundierte Makrotheorie. 31

Vgl. zum Metapräferenzen-Ansatz Sen (1977).

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

25

men gegenüber den „individuellen Präferenzen" um ein „aliud" handelt. Buchanan und Vanberg reden hier von „konstitutionellen Interessen", und J. Rawls' „overlapping consensus" ist explizit nicht als Schnittmenge individueller Weltanschauungen, sondern als etwas qualitativ anderes, als eine Einigungszone allgemeiner Regeln, konzipiert. 32 Es geht der ökonomischen Methode also nicht um individuelle Psychologie oder Sozialpsychologie, nicht um die genetische, biologische, psychologische, charakterliche Ausstattung „des Menschen" oder einzelner Menschen. Zur Ableitung der Resultate von Interaktionen wird zwar ein mikroökonomisches Entscheidungsmodell verwendet, allerdings in standardisierter, d. h. problembezogener, nämlich auf Dilemmastrukturen fokussierter, Form. M i t R. Zintl (1989) gesagt, geht es nicht um Mikrotheorie, sondern um mikrofundierte Makrotheorie, wobei diese Makrotheorie - je nach Problem - schon bei Resultaten von Interaktionen zwischen zwei Personen anfangen kann. Vor allem fragt die Ökonomik grundsätzlich nicht, was „der Mensch" denn eigentlich ist: Diese Frage ist in der Ökonomik ebenso sinnlos wie in jeder anderen Einzelwissenschaft, weil sie den hochselektiven Charakter positiver einzelwissenschaftlicher Forschung, d. h. den strikten Problembezug aller einzelwissenschaftlichen Theoriebildung, widerrufen würde. 3. Gestaltungsempfehlungen der Ökonomik haben sich an den Wünschen der Betroffenen zu orientieren. Normativität kann nur hier, im Wollen der Betroffenen, ihren Ursprung haben. Vorschläge zur Reform sind auf ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit, d. h. auf die Paretosuperiorität, zu überprüfen, wobei sich diese Prüfung auf die Regeln für Handlungssequenzen gleichen Typs, also auf Institutionen, und nicht auf einzelne Handlungsresultate bezieht. Das Kriterium der Paretosuperiorität wird mit J. M. Buchanan analog auf Regeln, auf durchschnittliche Resultate, auf Ergebnismw^fór angewendet und nicht auf „social states" wie üblicherweise in den Lehrbüchern der (Wohlfahrts-) Ökonomik. Zwar macht der einzelne in einem Konsensmodell seine Zustimmung von seiner eigenen Beurteilung der Resultate abhängig, aber von den Ergebnis mustern. Er 'wählt' also Regeln, nicht „social states" letzteres ist völlig unangemessen, wie Buchanan 33 zeigt. Dabei ist ferner zu beachten, daß grundsätzlich die Möglichkeit besteht, Kompensationen zu 32 Vgl. Vanberg / Buchanan (1988); Rawls (1993), S. 39 f. und 133 ff. - Der Bezug auf Rawls stellt nur eine Analogie dar, da er nicht über Interessen redet, sondern über Weltanschauungen, „comprehensive doctrines", einschließlich der Moral Vorstellungen; aber selbst hier wird die Vorstellung, gesellschaftliche Regeln seien eine Art Schnittmenge, zurückgewiesen. 33

Vgl. Buchanan (1995).

26

Karl Homann

zahlen; in „Limits of Liberty" können sie sogar schon vor Abschluß des Gesellschaftsvertrages erforderlich sein. 34 Um Paradiesvergleiche zu vermeiden, bildet der Status quo immer den Ausgangspunkt der Überlegungen, und er hat eine Prima-facie-Legitimation. 35 Vergleichspunkt sind relevante Regel-Alternativen: Solche Vergleiche bilden die Domäne der modernen Ökonomik und der ökonomischen Politikberatung. Nur paretosuperiore Regelverbesserungen können diskutiert werden - damit sind z. B. alle Forderungen nach „Umverteilung", so gut sie normativ begründet erscheinen mögen, nicht auf dem Stand der ökonomischen Methodik, weil die Gegenleistung für jene, die prima facie etwas abgeben müssen, also deren „Anreize", außerhalb der Betrachtung bleiben. 36 4. Zu der Bedeutung der Dilemmastrukturen sei noch einmal darauf hingewiesen, daß dann, wenn die anfängliche Konstituierung der Verfügungsrechte und die Fragen der sozialen Ordnung allgemein sowie der Aufteilung der Kooperationsgewinne mit in die ökonomische Analyse einbezogen werden, wir in allem Handeln inhärente Dilemmastrukuren haben. Der Grund liegt darin, daß jeder einzelne durch Verstoß gegen die soziale Ordnung ZusatzVorteile gegenüber den anderen gewinnen könnte und daß jede Aufteilung der Kooperationsgewinne erneut eine Dilemmastruktur darstellt. Grundsätzlich weisen ausnahmslos alle Interaktionen Dilemmastrukturen auf. Offenbar haben dies alle bedeutenden Ökonomen implizit registriert, wenn sie das Konstrukt des Homo oeconomicus - implizit oder explizit - verwendet haben. Verhaltenswissenschaftliche Forschung kann dem nichts anhaben, weil sie sich mit anderen Problemen beschäftigt. Das heißt natürlich nicht, daß z. B. Wahrnehmungspsychologie und die Einsichten in die begrenzte Verarbeitungskapazität für die Ökonomik keine Bedeutung hätten: Die Ökonomik hat es mit „Situationen", d. h. wahrgenommenen und verarbeiteten „Situationen", zu tun. Doch dies rechtfertigt lediglich eine instrumenteile Verwendung psychologischer Erkenntnisse im Rahmen eines streng ökonomischen Ansatzes; Versuche, aus solchen Überlegungen heraus die Psychologie zur theoretischen Grundlage in der Ökonomik zu machen, bleiben m. E. theoretisch unfruchtbar - sc. für die Problemstellung der Ökonomik.

34

Vgl. Buchanan (1975/1984), S. 102 ff.

35

Vgl. Brennan /Buchanan

36

Vgl. dazu Homann/Pies

(1985/1993), S. 128 ff. (1996); Brennan / Buchanan (1985/1993), S.173 f.

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

27

V I . Der Sinn der ökonomischen Methode in der Wirtschaftsethik Ethik als Lehre vom richtigen Handeln hat es mit Pflicht, Sollen, Werten u. ä. zu tun. In diesen Kategorien sind wir mit guten Gründen sozialisiert worden: Ziel war und ist es, Menschen zur Ausbildung entsprechender moralischer „Dispositionen" zu erziehen, aus denen heraus sie auch dann handeln, wenn dem Anreize entgegenstehen. Die philosophische Theorie der Moral, besonders die Begründungstheorie, soll diese Dispositionen präzisieren und stärken. Nun wird in meiner Konzeption die ganze Wirtschaftsethik auf die strenge ökonomische Methode umformuliert - gegen das Selbstverständnis der moralisch Agierenden, gegen die Auslegung „teilnehmender Zuschauer" und gegen die phänomenologischen Beobachtungen beider. Die Ethik wird übersetzt - in Vorteils-/Nachteilskalküle und in „Anreize", so daß eine Anreizethik herauskommt. Als der modernen Welt angemessene Gestalt der Moral gilt die Anreizmoral. Abgesehen davon, daß dies höchst kontraintuitiv, ja nachgerade „gewaltsam" erscheint - dieses Verfahren scheint auch unvermeidlich den Mechanismus der self-fulfilling prophecy in Gang zu setzen. Oder ist es vielleicht ohnehin als offener ökonomischer „Reduktionismus" einzustufen, der von einem „materialistischen" bis zynischen Menschenbild zeugt? Ich trage dagegen eine Argumentation vor, die zeigt, daß diese Vorgehensweise zumindest nicht naiv, sondern genau reflektiert ist. Vorweg formuliere ich die These: Allein die auf überwundene (soziale Ordnung) und etablierte (Wettbewerb) Dilemmastrukturen fokussierte ökonomische Methode vermag die gesellschaftlichen Implementationschancen von Moral abzuschätzen, und da in einer nichtmetaphysischen Konzeption alle Moral letztlich in der Überwindung von Dilemmastrukturen besteht, vermag allein die (hinreichende) Implementierbarkeit erwünschter Normen diese überhaupt in Geltung zu setzen: Zur Abschätzung der Implementierbarkeit ist allein die ökonomische Methode in der Lage. In der Weltgeschichte hat noch kein Normensystem längere Zeit Bestand gehabt, das nicht durch Vorteile und Sanktionen, also durch Anreize, gestützt worden wäre. 37 Wenn es also nicht um Ratschläge für Individuen zum richti37

Der sogenannte „Regeltransparenzansatz" von Aufderheide (1995) gründet durchweg auf dieser Voraussetzung. „Moral" ist im Unterschied zum Recht nur informell sanktionierbar, so daß neben dem ebenfalls informellen Sanktionspotential der Abwanderung auf dem Markt besonders die „reputativen Wirkungen" (237) die Akteure veranlassen können, ihren Beitrag zum „Klubkollektivgut" Moral in Form einer „Regeleinhaltung im Konfliktfall" (228) zu

28

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gen Handeln - unter gegebenen Bedingungen sc. - , sondern um die Chancen einer allgemeinen moralischen Praxis geht, müssen die Implementationschancen, muß die Anreizkompatibilität von Normen, abgeschätzt werden. Daraus folgt: Wer zu früh aus dem streng ökonomischen Diskurs aussteigt und ethische Kategorien zu Hilfe nimmt - vielleicht um dem moralischen Selbstverständnis der Akteure oder den Erwartungen an die „Ethik" gerecht zu werden - , der bringt sich genau um die Einsichten, deretwegen er die ökonomische Methode überhaupt angesetzt hatte. Der methodische Ökonomismus muß in der Wirtschaftsethik konsequent durchgehalten werden. Daher handelt es sich hier weder um Zynismus noch um ökonomischen „Reduktionismus". Wer solch eine Kritik übt, beweist nur, daß er die zugrundeliegende konstruktivistische Methodologie mit der strengen und hochselektiven Problemabhängigkeit aller einzelwissenschaftlichen Theoriebildung 38 nicht in Rechnung stellt. Es geht letztlich darum, die enorme Leistungsfähigkeit der positiven Wissenschaft Ökonomik für jene Probleme fruchtbar zu machen, die wir lebensweltlich als „normative" oder „moralische" Probleme einstufen. Daß dies angesichts universaler Dilemmastrukturen tief in Begründungsprobleme der Ethik hineinreicht, sei nur erinnert (vgl. oben Abschnitt III). Um die Notwendigkeit der Übersetzung von Ethik in Ökonomik - und in anderen Zusammenhängen der Ökonomik in Ethik - deutlich zu machen, habe ich in einer früheren Publikation vom Erfordernis eines „Paralleldiskurses" gesprochen (Homann 1994a). Die Diskussionen im „Journal of Economic Perspectives" 1993 und 1996 39 haben erneut die Frage aufgeworfen, ob das Arbeiten mit der ökonomischen Methode, speziell mit dem Gefangenendilemma bei Studierenden, nicht den Mechanismus der self-fulfilling prophecy in Gang setzt und die moralischen Dispositionen dieser Menschen schwächt. Ich antworte zunächst mit einem Frontalangriff: Das war genau auch das Argument der Katholischen Kirche gegen G. Galilei und seine Physik. Der ging in seiner Theoriebildung genau so kontraintuitiv und ausgesprochen „gewaltsam" vor wie der Ökonom mit dem Homo oeconomicus: Noch niemand hat im Herbst Äpfel und Blätter mit gleicher Geschwindigkeit vom Baum fallen sehen. I. Kant hat das Problem in der

leisten. Die Funktionsfähigkeit dieses Mechanismus kann durch ordnungspolitische Maßnahmen wie z. B. öffentliche Testinstitute und Kennzeichnungspflicht für Waren verbessert werden. Diese ordnungspolitisch weiterführenden Überlegungen kann ich nur unterstützen. 38 3 9

Vgl. Suchanek (1994).

Vgl. Frank /Gilovich vich/ Regan (1996).

/ Regan (1993); Yezer / Goldfarb

/ Poppen (1996); Frank / Gilo-

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

29

„Kritik der reinen Vernunft" (1781) dadurch gelöst, daß er streng zwischen zwei Diskursen unterschied, zwischen dem positiv-einzelwissenschaftlichen und dem normativ-metaphysischen. So konnte er zu dem Resultat kommen, daß die Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit im Diskurs der Physik nichts zu suchen haben, aber in einem anderen Diskurs gleichwohl von höchster Bedeutung sein können. Ich mache in der Wirtschaftsethik nichts anderes: Analog zu Kant haben die Begriffe „Pflicht", „Werte", „Sollen" in der ökonomischen Methode nichts zu suchen.40 Gleichwohl stellt die Ökonomik - wie die Physik - eine bedeutende Leistung des menschlichen Geistes dar. Man muß nur wissen, auf welche Problemstrukturen die Ökonomik zugeschnitten ist und auf welche nicht. Wir müssen es in der Tat lernen, die vom Problem bestimmte Selektivität aller wissenschaftlichen Theoriebildung zu begreifen und Theoriebildung nicht eins zu eins in die „Phänomenologie" der lebensweltlichen Praxis zu überführen. Wir können nur hoffen, daß diese Einsicht in die Rolle der Ökonomik, an der die Fortschrittsfähigkeit unserer Gesellschaft hängt, zu ihrer Verbreitung nicht so lange braucht, wie die Katholische Kirche zur Rehabilitierung Galileis - oder zu der erst Ende Oktober 1996 erfolgten Anerkennung der Evolutionstheorie Darwins - gebraucht hat. Das Arbeiten mit Dilemma-Modellen in der Wirtschaftsethik stellt keine self-fulfilling prophecy dar. Es klärt uns vielmehr über die für alle Interaktionen relevanten Problemstrukturen und den Umgang mit ihnen auf. Nur so lernen wir, den für die Entwicklungsfähigkeit der modernen Gesellschaft grundlegenden Gedanken der „kontingenten Verbindlichkeit" zu denken, statt in Beliebigkeit oder Fundamentalismus zurückzufallen. Demgegenüber schenken die verschiedenen Versionen einer „Vernunftbegründung" von Moral der so überaus wichtigen Stützung der Moral durch Anreize keine Aufmerksamkeit und befördern durch diese Naivität - durchaus wider Willen - die Erosion der Moral in der Gesellschaft.

V I I . Die Grenze der ökonomischen Methode in der Wirtschaftsethik Im Rahmen der hier zugrundeliegenden Methodologie kann eine Grenze der ökonomischen Methode in der Wirtschaftsethik nicht durch einen „Bereich" möglicher Gegenstände wie „die Wirtschaft" bestimmt werden. Im Unterschied zur „Wirtschaftswissenschaft" ist moderne „Ökonomik" in bezug

4 0

Sie müssen in ökonomische Begriffe übersetzt werden, wie P. Weise in seinem Korreferat ebenfalls betont.

30

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auf mögliche Gegenstände grundsätzlich „imperialistisch". In bezug auf die (Wirtschafts-) Ethik kann die Grenze auch nicht durch bestimmte, unterschiedliche „Motive" wie „Eigeninteresse" vs. „Altruismus", „extrinsische" vs. „intrinsische" Motivation bestimmt werden: 41 Auch die „intrinsische" Motivation wird in die Vorteils-/Nachteilskalkulation übersetzt. Nicht imperialistisch ist die Ökonomik jedoch in bezug auf die Problemstellung: Eine strikt auf spezielle Problemstrukturen zugeschnittene Einzelwissenschaft findet ihre Grenze grundsätzlich an der Legitimität anderer Problemstellungen. Dies soll im folgenden illustriert werden. Fragen nach den letzten Bausteinen der Materie liegen ebenso außerhalb der Ökonomik wie die Analyse von Genstrukturen oder die Fragen nach der Entstehung des Weltalls: Dies versteht sich von selbst. Außerhalb der Ökonomik liegen auch alle Fragen, die sich mit dem Individuum als solchem, in der Sprache von N. Luhmann gesagt: mit dem „psychischen System", befassen. Ökonomik ist grundsätzlich keine Mikrotheorie, ob man diese nun behavioristisch, psychologisch (in den verschiedenen Varianten), anthropologisch oder geistig-weltanschaulich auslegt. Wer das Verhalten eines bestimmten Individuums im Einzelfall erklären oder voraussagen will, fragt in der Regel tunlichst nicht den Ökonomen, sondern den Psychologen, den Erzieher, die Freunde; auch Biographie und Weltanschauung geben wichtige Aufschlüsse. Der Grund liegt darin, daß jene Größen, die der Ökonom als variabel setzt und in Form von „Anreizen" als explanantia für Veränderungen von „Raten" - seinen explananda - wie z. B. Inflationsrate, Geburtenrate, Korruptionsrate beizieht, bei dieser Frage als „gegeben" angesetzt werden müssen und das Verhalten eines Individuums jetzt, im Einzelfall und im Vergleich zu anderen Individuen unter denselben „gegebenen" Bedingungen, auf Persönlichkeitsmerkmale im weitesten Sinne zurückzuführen sind. Die Entscheidungen einzelner hoher Richter in bestimmten Fragen leitet man besser aus deren ,»Ideologie" ab als aus ökonomischen Anreizen. Die Leistungsfähigkeit der Rechtspflege allgemein wird demgegenüber eher aus den Anreizen der Richter allgemein erklärt werden müssen. Was bei den Richtern „Ideologie" genannt wurde, hat in der Tradition bedeutende Rationalisierungen erfahren: Philosophie, Theologie und Weltanschauungen, die über den Sozialisations- und wissenschaftlichen Ausbildungsprozeß tief in die Persönlichkeitsstrukturen eingehen, spielen hier eine 41

Hier bleibt eine Differenz zu dem Korreferat von P. Weise und dem Beitrag von I. Bohnet in diesem Band bestehen - bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung mit beiden.

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

31

bedeutende Rolle. Das Ziel dieser Bemühungen besteht darin, daß sich das Individuum in seinen Entscheidungen von „Gründen" statt von „Ursachen" leiten läßt. Hier geht es um Faktoren, die die Individuen im Handeln selbst kontrollieren, und die allgemeinen Handlungsbedingungen, für die sich der Ökonom interessiert, werden c. p. gesetzt, wenigstens in der Regel. Die verschiedenen, zum Teil hoch elaborierten Binnenlogiken von Philosophie und Rechtsdogmatik, von Literatur, Kunst und Musik, von Mathematik und Sprache u. a. m. kann man kaum ertragreich ökonomisch rekonstruieren. Die Frage, ob es in der Lyrik eines P. Celan lediglich um einen bestimmten „Sound" oder um eine präzise Auseinandersetzung mit dem Sprachverständnis Goethes im „West-Östlichen Diwan" geht, 42 ist mit der ökonomischen Methode sicher nicht ertragreich zu bearbeiten. Nach diesen Bemerkungen zum Grundsätzlichen sei auf einige Grenzfälle hingewiesen. Erstens ist zu erwähnen, daß es Übergänge gibt. Unternehmensethische Einzelberatung eines Managers in einem konkreten Fall kann ergeben, daß der einzelne Manager die Problematik in dem gegebenen Setting von Bedingungen (z. B. Wettbewerb) allein nicht befriedigend lösen kann und daß er deswegen einen Schritt früher, bei der - über den Verband und/oder die Politik anzuregenden - Veränderung der Handlungsbedingungen ansetzen muß, wo dann wieder die ökonomische Methode gefragt ist. Biologische Evolutionstheorie und Soziobiologie verwenden - zweitens - in modifizierter Form den ökonomischen Kalkül, und dies mit großem Erfolg. Hier geht es im Unterschied zu den bisher erwähnten Problemstrukturen um die Entwicklung nicht von Individuen, sondern von Populationen unter Knappheits-, d. h. Wettbewerbsbedingungen, was den Kalkül verwendbar macht, auch wenn Lebewesen wie Einzeller oder niedere Tiere keinen „Staat", keine Institutionen entwickeln. Daß es bei den höheren Tieren fließende Übergänge geben mag, widerspricht dem nicht. Der dritte Fall betrifft die Bedeutung der physiologisch-psychischen und/ oder kognitiven Ausstattung des Menschen. Die physiologische Wahrnehmung und die Verarbeitungskapazität können einen bedeutenden Einfluß auf das Verhalten von Menschen in Interaktionen haben. Selbstverständlich sind entsprechende Erkenntnisse anderer Wissenschaften zu berücksichtigen, aber in einem grundsätzlich strengen ökonomischen Forschungsansatz, in dem sie dann den Restriktionen zugeschlagen werden müssen. Erkenntnisse anderer

4 2

Vgl. dazu R. Homann (1998).

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Wissenschaften werden gemäß der „Methode der abnehmenden Abstraktion" verwendet, aber im Rahmen eines ökonomischen Problemaufrisses. 43 Grundsätzlich ist die ökonomische Methode für die Erklärung singulärer Entscheidungen ungeeignet. Dazu zählen auch die sogenannten „tragischen Entscheidungen". Wenn es allerdings um die Frage geht, ob man z. B. die „Triage" der französischen Armee als allgemeine Regel etablieren soll, tritt die Ökonomik auf den Plan mit der Frage nach der Zustimmungsfähigkeit einer solchen Regel aus Individualkalkülen. Auch für Alles-oder-nichtsEntscheidungen scheint die ökonomische Methode wenig geeignet. Es ist abschließend noch auf die Grenze der Ökonomik gewissermaßen zur anderen Seite hinzuweisen. Es geht in der Ökonomik immer um eine mikrofundierte Makrotheorie, nicht um eine anders, aus makrotheoretischen Überlegungen abgeleitete Makrotheorie in Gestalt z. B. einer Strukturtheorie der modernen Gesellschaft. Hier liegt die Grenze zur soziologischen Systemtheorie, wenn wir einmal von den kollektivistischen, organizistischen Sozialtheorien absehen, die als überholt gelten dürfen. Man sollte die Systemtheorie nicht vorschnell in denselben Topf werfen und/oder wegen der fehlenden Mikrofundierung und des daraus folgenden „Funktionalismus" abtun. Schließlich hat selbst K. R. Popper die Eigenständigkeit der Soziologie betont, auch wenn ihm seine Schüler darin nicht gefolgt sind, und ein Ökonom wie G. S. Becker hat eine Professur für Ökonomie und Soziologie und meint, daß die Soziologie zumindest die interessanteren Fragen stelle. 44 Aber genau da tritt das Problem auf: Soziologische Systemtheorie hat in der Tradition von Durkheim und Parsons andere Probleme. Luhmann z. B. fokussiert auf die Strukturunterschiede zwischen traditionalen und modernen, funktional differenzierten Gesellschaften und vermag dazu einen überreichen Forschungsertrag vorzulegen, den die neuere Ökonomik nicht annähernd bieten kann, obwohl vieles davon für sie von Interesse wäre. Die methodologisch reflektierte Interdisziplinarität zwischen Ökonomik und soziologischer Systemtheorie steht am Anfang, die Perspektiven scheinen gut zu sein, nachdem in den vergangenen Jahrzehnten beide Forschungsprogramme eher gegeneinander profiliert worden sind 4 5

43

Vgl. Lindenberg (1991).

4 4

Vgl. Becker (1996), S. 239.

4 5

Vgl. Gerecke (1997).

Sinn und Grenze der ökonomischen Methode

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Ich fasse zusammen: In einer Methodologie, die von der hohen Selektivität der positiven Wissenschaften ausgeht, können „Grenzen" der ökonomischen Methode nur durch andere legitime Problemstellungen gezogen werden. Dies macht die Reflexion auf die systemische Verfaßtheit der Teilrationalitäten - in der Sprache Luhmanns: Beobachtung zweiter Ordnung - notwendig. Zahlreiche unterschiedliche Hypothesen, die in einer epigonal verstandenen falsifikationistischen Methodologie als „konkurrierend" aufgefaßt werden - und zu deren Entscheidung im Zuge weiterer Forschung „die Wirklichkeit" als Richterin aufgerufen wird - , entpuppen sich in einer konstruktivistischen Methodologie als Hypothesen im Rahmen verschiedener Fragestellungen, die dann freilich genau reflektiert und expliziert werden müssen. Viele unterschiedliche Hypothesen sind daher eher komplementär. „Falsifikationen" kann es nur innerhalb derselben Fragestellung geben: Die Negation „non-a" zur Behauptung „a" setzt die gleiche Frage voraus. Andere Fragestellungen sind legitim, sie erhöhen die Komplexität, die wir verarbeiten können. Mit „Reduktionismus" hat eine konsequent durchgehaltene ökonomische Methode in der Wirtschaftsethik also nicht das geringste zu tun, weil grundsätzlich alle Problemperspektiven auf solche methodischen Komplexitätsreduktionen angewiesen sind46

VIEL Normativität und positive Wissenschaft Ökonomik Aus den dargelegten Gründen wurde bisher eine streng ökonomische Rekonstruktion moralischer Normen entwickelt. Spielt herkömmlich verstandene Normativität überhaupt noch eine Rolle in der positiven Wissenschaft Ökonomik? Schließlich läßt sich nicht leugnen, daß sich Akteure lebensweltlich durchaus von ihrem moralischen Selbstverständnis leiten lassen und daß normative Wissenschaften wie die theologische und die philosophische Ethik, aber auch Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie einen hohen Standard an normativer Rationalität entwickelt haben. Ist dies für den aufgeklärten Wirtschaftsethiker und seine ökonomische Methode alles nur „falsches Bewußtsein"?

46

Der Philosophie Kants verdanken wir das Resultat, daß die positiven Wissenschaften der Theologie/Philosophie im Prinzip nicht widersprechen können, weil beide grundsätzlich andere Fragen stellen. Das Folgeproblem, das sich daraus ergibt, welche Bedeutung hochselektive positive Wissenschaften für die in Ganzheits-Semantiken argumentierten Fragen und Probleme haben (können), bildet den Kern der modernen Interdisziplinaritätsproblematik. Daran arbeitet „Wirtschaftsethik"; vgl. dazu den folgenden Abschnitt V I I I . 3 Aufderheide/Dabrowski

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Ich lasse hier den theorielosen Eklektizismus beiseite, der positive und normative Versatzstücke in einem bunten Flickenteppich zusammenwebt: Trotz weiter Verbreitung und Berufung auf„Interdisziplinarität" lohnt er nicht die theoretische Auseinandersetzung. Dann bleiben m. E. zwei legitime Formen einer Verwendung von Normativität in der Ökonomik übrig, eine abgeleitete und eine genuine Form. 47 Die abgeleitete Verwendung ist im Prinzip unproblematisch. Normativität - also Normen, Sollen, Pflicht, Werte etc. - hat hier, so die These, den Status einer auf typische Situationen berechneten Kurzfassung langer ökonomischer Überlegungen. Normative Begriffe und Ableitungen können so lange verwendet werden, wie die Normen, Werte, moralischen Prinzipien unproblematisch akzeptiert werden. Zwar gibt es Anwendungsprobleme wie Subsumtion, richtiges Abwägen, aber diese sind paradigmatisch nachrangig. Aus der Perspektive der Ökonomik gehören hierher auch philosophische und theologische Ethik sowie Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie. Wenn diese normativen Regeln aber problematisch werden, d. h. als Regeln von einer nennenswerten Zahl der Betroffenen nicht mehr anerkannt und/oder befolgt werden, müssen sie, wenn auch Rückgriffe auf höhere normative Regeln nicht mehr helfen, in die ökonomische Langfassung der Vorteils-/Nachteilskalkulationen übersetzt und neu durchbuchstabiert werden („Paralleldiskurs"). Dies ist (1) der Fall bei verbreiteter Nichtbefolgung: Hier kann nur die ökonomische Anreizdiskussion von Regeln die Chancen einer allgemeinen Befolgung abschätzen; der rein normative Diskurs ist hier hilflos, Luhmann geißelt ihn daher mit Recht als „Appellitis". Dies ist (2) der Fall, wenn Normen aufgrund veränderter Knappheitsrelationen sich ändern müssen. Dies ist (3) dann der Fall, wenn wir mit Rawls 48 von einem „vernünftigen Wertepluralismus" in der modernen Gesellschaft auszugehen haben, der zur Folge hat, daß als übergreifendes, allgemeines Beurteilungskriterium zunehmend nur noch die Vorteile und Nachteile der Betroffenen gelten können, was immer die Betroffenen selbst als Vorteile und Nachteile ansehen. Und es kann (4) unter Bedingungen transaktionsspezifischer Investitionen und systematisch unvollständiger Verträge ökonomisch vorteilhaft sein, nicht jede einzelne Situation ökonomisch auszureizen, sondern sich „fair" und „gerecht" zu verhalten. Zu diesem Fall lassen sich B. S. Freys 49 „intrinsische Motivation" und 47

Die Grundidee ist erstmals entwickelt worden in Homann (1996); vgl. auch Homann (1996b). 4 8 Vgl. Rawls (1992); Rawls (1993). 4 9

Vgl. Frey (1992).

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G. Kirchgässners 50 „Kleinkostensituationen" ebenso rechnen wie die sogenannten „Reststeuerungsprobleme" der Soziologie u. a. m. Die Verwendung von Normativität in dieser abgeleiteten Form ist unproblematisch, solange man um ihren methodischen Stellenwert weiß und zu erkennen vermag, wann man in den ökonomischen Diskurs hinüberwechseln muß. Aber die Frage bleibt: Ist Normativität unbeschadet ihres Charakters als nützliche Abbreviatur für den aufgeklärten Wirtschaftsethiker nicht „letztlich" doch nur „falsches Bewußtsein"? Damit komme ich zur zweiten, der genuinen Form der Verwendung von Normativität in der positiven Ökonomik. Ich stelle die These vorweg: Normative Ideen, Ideale, Prinzipien fungieren als Heuristik für die Wahl des Paradigmas der positiven Ökonomik, die Arbeit jedoch in und mit diesem Paradigma bleibt streng positive Ökonomik. Die Probleme, die wir lebensweltlich als „normativ" anzusehen uns angewöhnt haben, werden nicht in jedem Paradigma der positiven Ökonomik gleich gut erfaßt und bearbeitet. Im Ausgang jeweils von einer Leitfrage stelle ich zwei Paradigmen gegenüber. 51 Das Paradigma der wohlfahrtsökonomischen Allokationstheorie geht von der Grundfrage aus: Welche Allokation führt zur effizienten Nutzung der Ressourcen? Ich spreche hier vom ressourcenökonomischen Ansatz. Diese Leitfrage hat zwei Folgen. (1) Da vielfaches „Marktversagen" vorliegt, führt die Konzeption zu einer interventionistischen Verwischung des Unterschiedes zwischen Regel- und Handlungsebene, zwischen konstitutioneller und operativer Ebene; (2) die normativen Fragen wie Verteilung, „soziale Gerechtigkeit" u. a. m. werden dem ökonomischen Diskurs entzogen und einer separierten normativen Wissenschaft (Ethik) zugewiesen, als ob die eine Antwort darauf generieren könnte. Die Menschen mit ihren Ansprüchen z. B. an die Sozialpolitik kommen nur als Störfaktoren der Allokations-"Effizienz" vor: Wenn sie so irrational sind und mehr „soziale Gerechtigkeit" wollen, müssen sie eben mit Effizienzverlusten und Standortnachteilen bezahlen; oder es wird zwischen „Freiheit" und „Gerechtigkeit" ein Trade-off konstruiert, 52 der es

5 0

Vgl. Kirchgässner

(1992).

51

Vgl. Homann (1994a); Homann (1995). - Ich stimme dem Korreferat von P. Weise gern darin zu, daß sich in seiner „Neuen MikroÖkonomie" von 1979 eine von der übrigen Literatur abhebende Betonung der sozialen Dimension der Ökonomik findet. 52

Vgl. Homann / Pies 1996 mit Nachweisen.

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Karl Homann

nicht erlaubt, „Freiheit" und „soziale Gerechtigkeit" in einem komplementären Verhältnis zu sehen. Das sich gegenwärtig entwickelnde konkurrierende Paradigma geht von einer ganz anderen Grundfrage aus: Nach welchen Regeln wollen Menschen, die immer gemeinsame und konfligierende Interessen zugleich haben, miteinander umgehen? Ich spreche hier vom interaktionsökonomischen Ansatz. Diese Leitfrage bildet viel besser jene Probleme ab, die im Zentrum des Problems der sozialen Ordnung stehen und die wir gewöhnlich als „normativ" einstufen: die Konstituierung von gegenseitigen Normen und Pflichten, Verteilungsfragen, Gerechtigkeitsprobleme u. a. m. Zugleich ist schon in der Grundfrage auf die Zweistufigkeit der Konzeption - Spielregeln/Spielzüge und die Simultaneität von „AHokation" und „Verteilung" abgehoben. Nun nochmal die These: Die Wahl zwischen diesen beiden Paradigmen der Ökonomik ist durch normative Leitideen zumindest mitbestimmt; das Arbeiten innerhalb dieser Paradigmen ist und bleibt positive Ökonomik. Daraus folgt, daß man auch der Interaktionsökonomik ihren normativen Sinn nicht ansieht, weil in ihr keine normativen Inhalte vorkommen. Daraus folgt aber zugleich, daß das Fehlen normativer Inhalte keineswegs die normative „Neutralität" der Paradigmen bedeutet. Zur Profilierung dieser Art des Umgangs mit Normativität in der positiven Ökonomik sind zwei Bemerkungen hinzuzufügen. Zum einen läßt sich jetzt die Abgrenzung zum Utilitarismus, besonders zum Regelutilitarismus, vornehmen. Während es dem Utilitarismus immer um die Maximierung des (Durchschnitts-) Nutzens (von Regeln) geht und die Überlegungen dem ressourcenökonomischen Ansatz nahekommen, zieht die Interaktionsökonomik die Subjekte der Nutzenbewertung gewissermaßen vor die Klammer und fragt nach den Regeln des Zusammenlebens dieser Subjekte. Interaktionsökonomisch haben Subjekte eine Nutzenfunktion, aber sie sind keine Nutzenfunktionen, sie sind vielmehr Wesen mit „Würde", um es philosophisch zu sagen.53 Zum zweiten läßt sich jetzt das Verhältnis von Ethik und Vorteilsstreben präzisieren. Für viele Wirtschaftsethiker und Ökonomen gehört zur Ethik

53

Der Anklang an Kant ist beabsichtigt, hat er doch seit der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" 1785/1786 immer hervorgehoben, daß die Subjekte aller Zwecksetzungen - als „Zwecke an sich selbst" - von den Zwecken streng unterschieden werden müssen; Kant (1910 ff.), Bd. 4, S. 437 f. Bei Rawls (1971/1979), S. 607, lautet die äquivalente Formulierung: „Denn die Person ist vor ihren Zielen da."

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konstitutiv so etwas wie eine „Durchbrechung" 54 der ökonomischen Vorteils-/ Nachteilskalkulationen; Moral bzw. Ethik müsse „weh tun", wird gesagt. M. E. handelt es sich dabei um eine völlig unzweckmäßige Theoriestrategie. Ich verwende demgegenüber eine andere Strategie, die sogar in der Lage ist, den intuitiven Gedanken jener Autoren von der Notwendigkeit von „Altruismus" und „Verzicht" aufzunehmen. Wiederum macht das Gefangenendilemma die Struktur deutlich. Ausgangspunkt ist methodisch immer der Status quo, der, wenn er als unbefriedigend gilt, als soziale Falle interpretiert wird. Normen wie moralische Regeln haben ihren Grund darin, diesen für den individuellen Akteur paretoinferioren Zustand zu überwinden. Aber es gibt zwei Formen der individuellen Besserstellung: die paretosuperiore und die defektive Besserstellung. „Moral" verbietet lediglich die defektive Besserstellung des einzelnen - gleichzeitig verlangt sie die paretosuperiore Besserstellung. Weit entfernt davon, das Streben nach individueller Besserstellung zu verbieten und statt dessen „Altruismus" oder „Verzicht" zu verlangen, stellt gerade dieses Streben nach Besserstellung den Kern aller Moral dar. Verboten wird lediglich die defektive Besserstellung des einzelnen. Unbändiges Vorteilsstreben bildet den Kern aller Moral - und sogar des christlichen Liebesgebotes. 55 Das impliziert: Moral verlangt durchaus eine Art von „Verzicht", aber sie verlangt Verzicht lediglich auf defektives Vorteils streben, wobei dieser „Verzicht" die Regel des defektiven Vorteilsstrebens betrifft, was dann anreizkompatibel, etwa durch Sanktionen, ausgestaltet werden muß. Einer solchen Art von „Verzicht" kann der einzelne durchaus auch zustimmen, wenn derselbe Verzicht aufgrund veränderter Anreizstrukturen auch von allen anderen praktiziert wird, denn das lediglich defektive Streben nach Besserstellung ist ohnehin instabil - d. h. kann nicht zur allgemeinen Praxis werden - , es muß über kurz oder lang via allgemeiner Defektion in die sozialen Fallen des Status quo zurückführen. „Moral" verlangt dann, in der Einzelentscheidung nicht von der paretosuperioren, konsentierten Regel abzuweichen, und dies wird (sollte) sichergestellt (werden) durch die Anreizkompatibilität der Ausgestaltung dieser Regel.

54

Ulrich (1996), S. 154, i. O. kursiv; hinsichtlich dieses Punktes bleibt eine Differenz zum Korreferat von P. Weise. 55 Daß in dieses Bemühen um paretosuperiore Besserstellung durch Moral in genau definierten Kontexten das defektive Streben nach Besserstellung, d. h. Wettbewerb, instrumenteil eingebaut wird, liegt auf einer anderen Ebene und stellt theoretisch kein Problem dar. Aus diesem Grund heißt es in meiner Wirtschaftsethik: Wettbewerb ist solidarischer als Teilen.

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Ich fasse zusammen: Genuine Normativität spielt für die positive Ökonomik eine bedeutende Rolle, sofern sie deren Paradigma bestimmt. Normative Leitideen der Tradition bestimmen so Fragestellung, Grundbegriffe und Design der positiven Ökonomik, nicht jedoch ihre Inhalte. „Werte", „Pflicht" und „Sollen" haben in der positiven Ökonomik keinen Platz, aber sie bzw. die damit angedeuteten Probleme bestimmen das ganze Paradigma dieser positiven Forschung.

I X . Schlußbemerkung Auf ungeklärte Problemlagen in Modernisierungsprozessen antworten die Menschen regelmäßig mit dem Ruf nach Moral und Ethik: Diese These N. Luhmanns zeigt die große gesellschaftspolitische Bedeutung der Frage, ob die Teilrationalitäten der Sozial- und Denkstrukturen der modernen Welt mit den traditionellen Ganzheitssemantiken der Moral in ein fruchtbares Verhältnis gesetzt werden können. Die normativ durchtränkte Reflexionskultur von Philosophie, Literatur und Kunst und die vermeintlich „wertfreie" Kultur derer, die als Wissenschaftler, Juristen und Ökonomen die Zukunft der Welt faktisch bestimmen werden, stehen sich in unserer Gesellschaft unvermittelt, verständnislos und zunehmend antagonistisch gegenüber. Gelingt die - durchaus spannungsreiche - Integration beider Kulturen nicht, dürfte die Gesellschaft langfristig an Zukunftsfähigkeit einbüßen.56 In dieser Problemlage kann eine Wirtschaftsethik helfen, die der oben entwickelten Konzeption folgt. Allerdings sind damit nicht weniger als ein Umbau der traditionellen Ethik und eine Überwindung des ressourcenökonomischen Ansatzes der Wohlfahrtstheorie erforderlich. So betrachtet, entwickelt sich die Wirtschaftsethik zu einer normativen Gesellschaftstheorie: Sie hat sich viel vorgenommen.

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56

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Das Ende der Wirtschaftsethik: Grenzen einer ökonomischen Methode Von Franz Haslinger

I. Einleitung Natürlich sollte sich ein Ökonom nicht ohne weiteres auf ein Terrain begeben, von dem er vielleicht zu wenig versteht, wie etwa das der Ethik. Andererseits aber darf er sich zu Stellungnahmen aufgerufen fühlen, wenn, wie das im Beitrag Homanns der Fall ist, eine „ökonomische Begründung von moralischen Regeln"1 angestrebt wird. 2 Derartige Begründungen müssen auf seine Skepsis stoßen, da die ökonomische Theorie die Erklärung von (ökonomischen) Sachverhalten als vornehmlichstes Ziel hat und in ihren normativen Analysen üblicherweise nicht moralische Regeln begründet, sondern solche Regeln lediglich anwendet, wie auch immer sie begründet sein mögen. Unglücklicherweise gibt es unter Philosophen keine Einigkeit darüber, wie Normen der Moral zu begründen sind und noch weniger darüber, welchen konkreten Inhalt sie haben sollen. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, daß z. B. sogar über die Frage der Zulässigkeit von Euthanasie unter Philosophen moralischer Dissens besteht. Angesichts dieser Sachlage ist es denn aber auch nicht weiter verwunderlich, sich für die Begründung von Moralnormen nach einem solideren Fundament umzusehen. Homann meint ein solches Fundament in der Ökonomik gefunden zu haben, weil sich diese mit Problemen beschäftigt, die zugleich gemeinsame und konfligierende Interessen der Interaktionspartner und die 3 daraus folgenden Anreizstrukturen" zum Gegenstand haben (Hervorhebung im Original).

1

2

Homann ( 1997), S. 13.

Dabei ist gar nicht klar, ob es um die Begründung oder lediglich um die Rekonstruktion von Moral geht (vgl. Homann 1997, S. 13). 3

Homann (1997), S. 22.

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Franz Haslinger

Die Analysen der Ökonomik verfolgen nach ihm stets auch eine Gestaltungsabsicht. Diese Absicht konkretisiert Homann als Auffinden von Regeln, die das individuelle Handeln so beschränken und dahingehend umlenken, daß vorhandene „Dilemmastrukturen" überwunden werden. Bei der Analyse eines moralischen Problems ist dabei so vorzugehen, daß der Status quo als Ergebnis der Interaktionen individuell sich rational verhaltender Individuen zu deuten ist, „das, wenn es normativ unerwünscht ist, als 'soziale Falle' rekonstruiert werden muß" 4 (Hervorhebung von mir). Und weiter heißt es: „Gestaltungsempfehlungen der Ökonomik haben sich an den Wünschen der Betroffenen zu orientieren. Normativität kann nur hier, im Wollen der Betroffenen, ihren Ursprung haben. Vorschläge zur Reform sind auf ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit, d. h. auf die Paretosuperiorität, zu überprüfen, wobei sich diese Prüfung auf die Resultate von Regeln für Handlungssequenzen gleichen Typs, also auf Institutionen und nicht auf einzelne Handlungsresultate bezieht."5 Die Paretosuperiorität soll die „Implementierbarkeit" der Normen garantieren. Meine Schwierigkeiten mit diesem Ansatz sind vielschichtiger Natur. Abgesehen von der Frage der Originalität des Beitrages von Homann und dem Unterschied zu ähnlichen „ökonomischen" Theorien 6 weist der Ansatz eine Reihe konzeptioneller Unklarheiten auf, die im folgenden Abschnitt angesprochen werden. Danach sollen methodische Probleme diskutiert werden, die auch mit den Unklarheiten zu tun haben bzw. sich aus ihnen ergeben. Sie betreffen den m. E. künstlichen Gegensatz zwischen Vorteils- und Vernunftsbegründungen der Moral, die überschätzte Rolle der Ökonomik bei der Schätzung der „potential gains" und schließlich die Nichtberücksichtigung individueller Tugenden.

I I . Konzeptionelle Unklarheiten Die Homannschen Überlegungen besitzen, so scheint mir, eine gewisse Suggestivkraft, die aus der Unschärfe der von ihm verwendeten zentralen 4

Homann (1997), S. 23.

5

Homann (1997), S. 25.

6

So heißt es beispielsweise auf S. 13 nicht ganz unbescheiden „Die von mir entwickelte ökonomische Begründung von moralischen Regeln ..."; auf S. 15 ist von „meiner Konzeption44 die Rede und auf S. 21 wendet sich Homann an die „Kritiker meines Ansatzes14. Tatsächlich sind Homanns Überlegungen nah an die Analysen Buchanans angelehnt, der nur auf den S. 25 und S. 26 und da eher „en passant44 zitiert wird.

Das Ende der Wirtschaftsethik

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Begriffe resultiert und die wieder verloren geht, so bald man diese zu präzisieren versucht. Ferner zeigt sich, daß die Unklarheiten in engem Zusammenhang stehen und einander wechselseitig zu bedingen scheinen. Diese Unklarheiten betreffen insbesondere die zentralen Konzepte: •

Soziale Probleme,



Dilemmastruktur,



Situationsbeschreibung,



Potential gains,



Regeln.

Sobald ein soziales Problem 7 vorliegt, dann muß es - so lautet das Deutungsgebot Homanns - als Dilemmastruktur rekonstruiert werden. Folglich lautet die Vorfrage: „Wann liegt ein soziales Problem überhaupt vor?" Angesichts seiner zentralen Bedeutung ist es einigermaßen erstaunlich, daß an keiner Stelle in Homanns Beitrag präzisiert wird, was unter „sozialen Problemen" genau zu verstehen ist. 8 Denn erst wenn dieses Konzept klar umrissen ist, ist es möglich, es auch praktisch einzusetzen. Erst dann läge ein trennscharfes Kriterium vor, das es ermöglicht, eine bestimmte reale Konfliktsituation mit all den ihr innewohnenden, auf Veränderung des Status quo abzielenden Kräften als „soziales Problem" zu identifizieren oder aber zu sagen, daß im konkreten Falle kein derartiges Problem vorliegt und mithin auch kein Handlungs- bzw. Regelungsbedarf besteht. Konzeptioneller Klärungsbedarf besteht deshalb, weil Homann ja nur „paretosuperiore Regelverbesserungen" 9 für zulässig erachtet und alle Forderungen nach „Umverteilung" außer Betracht lassen möchte. Wenn aber nur solche sozialen Probleme in Betracht gezogen werden, für die paretosuperiore

7

g

Homann (1997), S. 22.

Auf S. 30 erwähnt Homann die Möglichkeit, daß normative Regeln problematisch werden können und dann „in die ökonomische Langfassung der Vorteils-/Nachteilskalkulation übersetzt und neu durchbuchstabiert werden" müssen. Es bleibt aber hier unklar, ob das problematisch werden von Regeln ein soziales Problem darstellt und Regelungsneubedarf auslöst. Homann schlägt im Falle einer verbreiteten Nichtbefolgung moralischer Regeln vor, mit Hilfe der ,,ökonomische[n] Anreizdiskussion von Regeln die Chancen einer allgemeinen Befolgung ab[zu]schätzen" (S. 34). Heißt das, daß ein soziales Problem erst vorliegt, wenn die allgemeine Befolgung von Regeln gefährdet wäre? Auf S. 37 heißt es lakonisch, daß der Status quo, wenn er als unbefriedigend gilt, als soziale Falle interpretiert wird. Homann (1997), S. 26.

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Regelverbesserungen erzielbar sind, dann besteht die Gefahr, daß der Ansatz für viele gesellschaftliche Konflikte, insbesondere für Umverteilungskonflikte, keine Regelungen vorsieht. Der Ansatz hätte dann nur einen engen Anwendungsbereich; für wichtige soziale Konflikte könnte er keine Lösungsangebote machen, weil die meisten von ihnen auch Verteilungskonflikte sind. Für Homann ist der Begriff der Dilemmastruktur von zentraler Bedeutung. Er meint damit zunächst Interaktionsstrukturen vom Typ Gefangenendilemma 1 0 . Später versteht er darunter aber ganz allgemein Resultate von Interaktionen, die normativ unerwünscht sind, 11 und knüpft daran die methodische Forderung, daß diese Resultate als 'soziale Fallen' (= Gefangenendilemmata?) zu rekonstruieren sind, ohne zu klären, ob derartige Rekonstruktionen stets möglich oder zulässig sind. In seltsamem Gegensatz dazu steht allerdings die Behauptung Homanns, 12 derzufolge ,jede Aufteilung der Kooperationsgewinne eine Dilemmastruktur darstellt. Grundsätzlich weisen ausnahmslos alle Interaktionen Dilemmastrukturen auf." (Hervorhebung im Original) Nimmt man diese Formulierung ernst, gäbe es einerseits nichts mehr zu rekonstruieren, und andererseits würde jede „ökonomische Begründung der Moral" von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Denn wenn jede Interaktion grundsätzlich in einem Dilemma endet, dann kann es keine Interaktion zur Etablierung einer sozialen Ordnung geben, die nicht in einem Dilemma endet. Eine kooperative Lösung zur Überwindung eines gesellschaftlichen Problems ist dann angesichts der divergierenden Interessen nicht möglich und folglich bleibt eine Dilemmasituation bestehen. Denn selbst wenn - wie Homann es fordert - ausnahmslos alle Akteure an der Überwindung des Dilemmas mitwirken, bleibt „Defektieren die dominante Strategie" 13 . Die Zustimmung zu einer Regelung ändert daran nichts. Das Dilemma besteht weiterhin, da Defektieren nach wie vor die dominante Strategie darstellt. Mit der Interpretation von Dilemmastrukturen als Gefangenendilemmata sind aber noch zwei weitere Probleme verbunden, die mit dem spieltheoretischen Hintergrund zu tun haben. Das eine Problem betrifft die Auszahlungen. Während im Gefangenendilemmaspiel die möglichen Auszahlungen als Ergebnis der simultan gewählten Strategien von vornherein feststehen, wird für ein gegebenes soziales Problem behauptet, es hätte die Auszahlungsstruktur

10

Vgl. Homann (1991), S. 15.

11

Vgl. Homann (1991), S. 23.

12

Vgl. Homann (1997), S. 26.

13

Homann (1997), S. 19.

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eines Gefangenendilemmas. Es wird also - abgesehen davon, daß diese Spiele im Modell eine sehr simple Struktur besitzen und schon deshalb eine Übertragung auf reale Situationen problematisch erscheint - behauptet, daß neben dem Status quo eine paretosuperiore Auszahlung existiert, die allein wegen fehlender oder inadäquater Regelungen bislang nicht realisiert wurde. Natürlich stellt sich dann sofort die Frage, wieso es bislang zu keiner Regelung gekommen ist, wenn Verbesserungsmöglichkeiten für alle vorhanden sind. Das andere Problem betrifft den Charakter des Spieles. Gefangenendilemmaspiele sind nichtkooperative Spiele, d. h. die Spieler ziehen in der Regel simultan und können vorab keine bindenden Absprachen treffen, weil es annahmegemäß keine unabhängige Instanz gibt, die die Einhaltung von Absprachen erzwingt. In kooperativen Spielen können die Spieler hingegen bindende Absprachen treffen, deren Durchsetzung garantiert werden kann oder sich aus der Natur der Auszahlungen unmittelbar ergibt. Existiert bereits eine Verfassung mit einer entsprechenden Gerichtsbarkeit und Exekutive, dann haben auftretende soziale Probleme den Charakter von kooperativen Spielen und sind also nicht vom Gefangenendilemma-Typ, weil die Teilnehmer bindende und durchsetzbare Absprachen treffen können. 14 Die Lösungskonzepte von kooperativen Spielen sind in der Regel aber indeterminiert, d. h. es existieren oft viele gleichwertige Lösungen, die allesamt paretooptimal sein können. Dann aber stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Auswahl alternativer Regelsysteme erfolgen sollte? Dieses Argument hängt somit in erheblichem Ausmaße von der Charakterisierung der Situationen ab, aus denen Moralnormen „ökonomisch begründet" werden sollen und auf die die Normen Anwendung finden sollen. Es bleibt vor allem unklar, ob die „Situationen", aus denen Normen abgeleitet werden sollen, hypothetisch oder real sind - worauf noch ausführlicher eingegangen wird - , und ob es sich bei den zu generierenden Normen um Verfassungsnormen handelt oder um ausführende „einfache" Gesetze. Denn nach der zuletzt genannten Differenzierung macht es einen Unterschied, ob Verfassungsnormen erst quasi „aus dem Nichts," d. h. insbesondere ohne Institutionen zu begründen sind, die ihre Durchsetzung auch ermöglichen oder ob Normen vor dem Hintergrund eines gegebenen konstitutionellen Rahmens begründet werden sollen, der auch die Normdurchsetzung erzwingen kann. Davon hängt der zu wählende Spieltyp (kooperativ - nichtkooperativ) ab und 14

Lediglich für die Einigung auf die Verfassung sind nichtkooperative Spiele zur Rekonstruktion adäquat, weil erst dadurch die entsprechenden institutionellen Sicherungen etabliert werden.

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mithin auch die resultierenden spieltheoretischen Lösungskonzepte (Kern, Verhandlungsbereich etc. einerseits sowie NASH-Gleichgewichte und ihre Verfeinerungen andererseits). Mit den Situationsbeschreibungen ist aber auch die Spezifikation der „potential gains" der Akteure verbunden. Da diese für die Konsequenzen, die Inhalte der zu begründenden Normen von erheblicher Bedeutung sind, ist es erstaunlich, wie wenig Augenmerk Homann diesem Aspekt schenkt. Auch hier stellt sich wiederum - wie für die Situationen - die grundsätzliche Frage, ob es sich um „potential gains" bezogen auf eine hypothetische oder bezogen auf eine reale Ausgangssituation handelt. Natürlich sind die „potential gains" Schätzungen für Auszahlungszuwächse (z. B. Nutzensteigerungen), die sich aus der Interaktion der handelnden Individuen unter der Restriktion von Normen ergeben und insofern „potential" oder hypothetisch im Sinne (kontrafaktischer) irrealer Konditionale. Jedoch bleibt unklar um wessen Schätzungen es sich handelt: Um die der Akteure selbst oder die von Ökonomen. Auf letzteres deuten die Ausführungen zur ökonomischen Analyse, auf die im folgenden Abschnitt noch ausführlicher eingegangen wird. In jedem Falle spielen dabei die Interpretation der Ausgangssituation und der Empiriebezug der Schätzungen eine zentrale Rolle. Bezüglich der Regeln wurde bereits angedeutet, daß vor allem unklar ist, ob Homann mit seinem Ansatz vornehmlich konstitutionelle Normen begründen will (worauf z. B. seine Ausführungen auf S. 22 hindeuten, wo von einer „ökonomischen Begründung von elementaren gesellschaftlichen Normen" die Rede ist) oder einfache Normen, wie z. B. der Regel, daß der Sozialhilfesatz unterhalb des marktmäßigen Niedrigstlohnes zu liegen hat oder etwa einem Nachtarbeitsverbot für Lehrlinge.

I I I . Kritik der ökonomischen Methode zur Begründung der Moral 7. Vorteils-

versus Vernunftsbegründung

der Moral

Konstitutiv für Moralnormen ist ihre Verallgemeinerbarkeit, d. h. als Moralnormen werden nur solche Sollvorschriften anerkannt, die frei von Eigeninteressen und somit „unparteiisch" sind. Um diese Unparteilichkeit zu gewährleisten, werden von Philosophen vielfach hypothetische Situationen wie z. B. „ein Urzustand, hinter dem Schleier des Nichtwissens" (Rawls), Verfahren wie „der herrschaftsfreie Diskurs" (Apel, Habermas) oder zufällige Zuteilungen von Präferenzen auf die Individuen (Harsanyi) postuliert. Nur Normen, die in

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solchen „Gedankenexperimenten" generiert werden, sind zweifelsfrei unparteilich und dürfen daher als Moralnormen gelten. 15 Wie erwähnt, sind die Ausführungen Homanns nicht sonderlich präzise. Insbesondere ist nicht ganz klar, ob er sich Situationen vorstellt, aus denen eine ökonomische Begründung von Moralnormen erfolgen soll, die realer oder hypothetischer Natur sind. Für letzteres sprechen jedenfalls Ausführungen, denenzufolge „normativ unerwünschte" Resultate sozialer Interaktionen als „soziale Falle" zu rekonstruieren sind. „In solchen Situationen sind so Dinge wie 'Egoismus', 'Charakterschwäche' und 'Profitgier' sowie 'Werteverfall' zur Erklärung ebensowenig zugelassen wie 'Irrationalität' des Verhaltens." 16 Geht man davon aus, daß die genannten „Dinge" wie Egoismus, Neid, Altruismus in realen Situationen erwiesenermaßen eine wichtige Rolle in den Interaktionen spielen, dann muß es sich auch bei Homann um hypothetische Situationen handeln. Natürlich stellt sich dabei sofort die Frage, ob der Ausschluß bestimmter Präferenzen als unzulässig nicht selbst schon eine moralische Vorentscheidung bei einer Begründung der Moral darstellt. Dieses Problem sei hier nur angesprochen, zumal der Ansatz einer stärkeren Kritik unterliegt. Für den hypothetischen Charakter der Situation spricht ferner, daß intersubjektiv gültige Regeln „von keinem einzelnen Akteur genuin gewollt" sind und daß sich Regeln nicht aus den individuellen Präferenzen, sondern aus den „konstitutionellen Interessen" ergeben. Wenn Moralnormen aber nicht aus realen, sondern aus hypothetischen Situationen deduziert werden, dann ist nicht einzusehen, weshalb für konstitutionelle Entscheidungen eine Orientierung am Status quo erforderlich sein soll und warum zweitens Begründungen von Regeln der Verteilungsgerechtigkeit („so gut sie normativ begründet erscheinen mögen") außer Betracht zu bleiben haben. 17 Offensichtlich erachtet Homann aber beide Einschränkungen für nötig, um die allgemeine Zustimmung zu erlangen, die seiner Meinung nach nur für „paretosuperiore Regelverbesserungen" gewonnen werden kann. Nur darüber glaubt er nämlich die Verbindlichkeit der Normen sicherstellen zu können. Diese Verbindlichkeit müßte dann aber, sofern sie denn nicht ohnehin schon durch die Vernunft geboten erscheint, weil jeder vernünftige Mensch

1 Mit Kelsen (1960) wird hier und im folgenden Text zwischen der Geltung von Normen einerseits und deren Effektivität andererseits unterschieden. Rechtsnormen „gelten", wenn sie rechtmäßig zustande gekommen sind, sie sind effektiv, wenn sie befolgt werden. 16

Homann (1997), S. 23.

17

Vgl. dazu Homann (1997), S. 26.

4 Aufderheide/Dabrowski

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der Regelung zustimmen muß und damit ein Anreiz zur Normeneinhaltung gegeben ist, eine reale Zustimmung sein. Meines Erachtens liegt hier ein fundamentales methodisches Problem seines Ansatzes vor. Der von Homann aufgebaute Gegensatz zwischen der von ihm abgelehnten Vernunftbegründung einerseits und der von ihm präferierten Vorteilsbegründung der Moral andererseits ist in hohem Maße künstlich, weil auch er das Problem der Befolgung und der Durchsetzbarkeit (= Effektivität) von Moralnormen nicht zu lösen vermag. Denn entweder ist die hypothetische Ausgangssituation, „der Urzustand", so gestaltet, daß die daraus ableitbaren Regeln als ethisch korrekt gelten können, oder sie ist so beschaffen, daß das Ergebnis nicht als moralisch zutreffend gelten kann. Wenn der Urzustand Unparteilichkeit sichert und die Schlüsse logisch korrekt sind, dann hat ihnen jeder hypothetische Teilnehmer zugestimmt und sie sind daher „qua procedere" moralisch richtig und beanspruchen deshalb Geltung, unabhängig davon, ob alle Individuen in Kenntnis der realen Umstände der Regel dann auch noch ihre Zustimmung geben würden. Dann aber lautet das Argument: , Jedes rationale (= vernünftige) Individuum würde, sofern es nicht seine eigene Situation kennt, dieser Moralnorm zustimmen." Folglich ist die Geltungsgrundlage dieser Norm die Vernunft. Da realiter immer jemand seine Zustimmung verweigern wird, weil er potentielle Vorteile verliert oder zu verlieren glaubt, kann aus der hypothetischen nicht auf die reale Zustimmung geschlossen werden. Die reale Zustimmung wäre aber nach Homann erforderlich nicht nur für die Geltung, sondern auch für die Effektivität der Norm. Homann möchte ja mit der ökonomischen Begründung offenkundig nicht nur die Geltung der Normen, sondern auch deren Effektivität sicherstellen. Denn weshalb sonst wäre der „Anreiz" der mit der realen Besserstellung aller gegeben ist, erforderlich? Wenn aber die Situation hypothetisch, mit hypothetischen Individuen etc., ist, folgt zunächst nichts für reale Situationen und somit insbesondere nichts für die Effektivität der Moralnormen. Was bleibt, ist somit auch bei Homann eine Vernunftbegründung, wie sie auch - trotz aller Unterschiede im Detail - Kant, Rawls, Harsanyi usw. zu geben versuchen. Die klassische und moderne Vorgehensweise der Moralphilosophie zur Begründung von Normalnormen ist andererseits in gewisser Weise immer auch eine Vorteilsbegründung. Wenn etwa der kategorische Imperativ verlangt, daß man sich überlegen soll, welches Handeln zum allgemeinen Gesetz erhoben werden kann, dann wohl eines, das zum Vorteil aller gereicht. Oder wenn die

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Individuen im Rawlsschen Urzustand Regeln beschließen, so sind es solche, die den Vorteil aller befördern sollen. Die Schwierigkeit, die sich bei all diesen Ansätzen stellt, ist die: Damit die an der Entscheidung beteiligten Individuen Regeln aufstellen, die als moralisch, d. h. verallgemeinerbar, gelten können, muß sichergestellt sein, daß sie ihre persönlichen Charakteristiken nicht kennen. Wenn sie also in Unkenntnis dessen, welche Person sie in Zukunft sein werden, eine ex-ante Entscheidung über die Regeln des Zusammenlebens zum gemeinsamen Vorteil treffen, dann sind diese Regeln: qua procedere moralisch gültig. Ex-post, nach Lüften des Schleiers und nach Zuteilung der persönlichen Charakteristiken (z. B. behindert und intelligent), entsteht das Problem, daß die Individuen in Kenntnis ihrer tatsächlichen Charakteristiken den vereinbarten Regeln ihre Zustimmung verweigern, eben weil sie ihnen ex-post nicht mehr in jedem Fall zum persönlichen Vorteil gereichen. Moralische Begründungen sind also durch hypothetische ex-ante Situationen charakterisiert, in denen atypische Individuen über jene Regeln entscheiden, die dem gemeinsamen Vorteil typisierter Individuen dienen sollen. Sie sind deshalb Vorteilsbegründungen. Da die Ausgangssituation ein Gedankenexperiment darstellt, kann man auch dessen Ergebnis als eine Vernunftbegründung ansehen. Danach sind die Regeln zwar moralisch gültig, aber nicht notwendigerweise effektiv, im Sinne einer Befolgung durch alle. Ob sie effektiv sind, läßt sich erst nach Zuteilung der Typen auf konkrete reale Individuen etwas aussagen. Für einige wird in aller Regel, was ex-ante vorteilhaft war, expost nicht mehr von Vorteil sein. Hierin liegt m. E. eines der Grundprobleme der Moral. Moralische Regeln mögen vernünftig (und daher gültig) sein. Ihre reale Befolgung oder reale Akzeptanz ist damit nicht gesichert. Die Moral hat keine reale Macht zu ihrer Durchsetzung, es sei denn, die Menschen machen sie sich zu eigen. Genau dieses Dilemma glaubt Homann mit seiner Methode überwinden zu können. Solange aber, wie bereits erwähnt, die Normbegründung aus hypothetischen Situationen folgt (und m. E. stets erfolgen muß!), gibt es keine Basis für die Erzwingung ihrer Befolgung. Sollte diese Interpretation nicht zutreffen, und Homann tatsächlich reale Situationen vor Augen haben, aus denen Normenbegründungen erfolgen, dann stellt sich, abgesehen von der Problematik eines naturalistischen Fehlschlusses, natürlich sofort die Frage, ob reale Wirtschaftssubjekte die Zustimmung nicht verweigern werden. Dies wird einfach schon deshalb der Fall sein, weil

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es realiter immer Individuen gibt, die „etwas zu verlieren haben" oder weil sie Neid kennen oder egoistisch sind. Denn in realen Situationen hilft der Hinweis nichts, daß Defektieren langfristig allen schadet, wenn man durch das Defektieren für die eigene Lebenszeit hinlänglich hohe individuelle Vorteile zieht. Die Spieltheorie macht ja gerade deutlich, daß reale, nur endlich lang lebende Individuen in Gefangenendilemmaspielen bei individuell rationalem Verhalten stets defektieren werden. 18 Dazu kommt, daß es sich praktisch bei vielen sozialen Konfliktsituationen um Verteilungskonflikte handelt, in denen die Gewinne des Einen die Verluste des Anderen sind, was z. B. bei erschöpfbaren Ressourcen der Fall ist. Wenn aber Moral darauf verzichtet, für derartige Situationen Aussagen über das moralisch gebotene Handeln oder die korrekten Institutionen zu machen, die diesen Vorstellung zum Durchbruch verhelfen sollen, dann verkommt sie zu einer ex-post Rechtfertigung dessen, was ökonomisch durchsetzbar ist. Wenn Homann reale Situationen und reale Konflikte zwischen realen Individuen mit „seiner Konzeption" lösen will, dann stellt sich zusätzlich die Frage, weshalb diese Individuen nicht profitgierig, altruistisch oder irrational sein dürfen, 19 wenn sie sich in ökonomisch relevanten Situationen tatsächlich so verhalten. Wozu ist eine a priori-Beschränkung des Bereiches zulässiger Präferenzen und eine analytische Reduktion auf den Homo oeconomicus erforderlich, 20 wenn alle realen Individuen in einer realen Abstimmung irgendwelchen beabsichtigten Regeländerungen ohnehin zustimmen müssen? Wenn die Individuen in Abstimmungsprozessen ihre Präferenzen ohnehin kundtun, dann ist nicht einzusehen, weshalb eine theoretische „Vorauslese" der Präferenzen durch die von Homann vielzitierte „ökonomische Methode" überhaupt erforderlich ist, und wenn sich andererseits auch die „Gestaltungsempfehlungen der Ökonomik ...an den Wünschen der Betroffenen zu orientieren" 21 haben. Welche Rolle soll für die Ökonomik in diesem Ansatz noch bleiben, wenn die realen Individuen in realen Entscheidungsverfahren einstimmig über Rechtsänderungen zu befinden haben?

18

In der neuen Wachstums- und Verteilungstheorie wird z. B. gezeigt, daß umverteilende Steuerpolitik zur Schulfinanzierung bestimmte Gruppen einer Generation anfänglich schlechter stellt, daß aber langfristig alle Nachkommen dadurch besser gestellt werden. Siehe dazu den Überblick von Haslinger / Stönner (1997). 19 Vgl. Homann (\997), S. 23. 2 0

Vgl. Homann (1997), S. 17 ff. Homann (1997), S.

.

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2. Abschätzung der potential gains Offenkundig gesteht Homann den Individuen keinerlei Kompetenz bei der Abschätzung der „potential gains" zu. Erst die Kenntnis der „potential gains", die sich aus der Interaktion der Individuen im Rahmen eines bestimmten rechtlichen Systems ergeben, macht eine Einschätzung möglich, ob alle bei Etablierung dieses Systems gewinnen konnten. Nur dann könnte es auch die allgemeine Zustimmung finden. Bei Homann heißt das so: „Zur Abschätzung der Implementierbarkeit ist allein die ökonomische Methode in der Lage." 22 (Der ganze Satz ist im Original kursiv gesetzt; die hier vorgenommene Hervorhebung stammt von mir.) Wie aber kann dem Einzelnen in einer realen Entscheidungssituation über Regeländerungen nahegebracht werden, daß er zu den „potentiellen Gewinnern" der Änderung gehört, obwohl er das z. B. nicht glaubt? Es gibt dazu drei prinzipielle Lösungsmöglichkeiten: Dem Einzelnen wird die Abschätzung der „potential gains" - mangels sachlicher Kompetenz entzogen. Konsequenz davon wäre, daß die Entscheidung keine reale, sondern nur noch eine hypothetische wäre und - wie bereits im vorigen Abschnitt diskutiert - die Implementation und Effektivität der Norm nicht mehr gesichert wäre. In einem „ökonomiebeherrschten Diskurs" wird solange diskutiert, bis alle Individuen davon überzeugt sind, daß sie zu den Gewinnern einer Regelung gehören und der Regelung zustimmen, weil „die Ökonomik" aufzeigt, daß alle gewinnen werden. Es gelingt im „ökonomiebeherrschten Diskurs" nicht, alle zu überzeugen: Die Neuregelung unterbleibt, obwohl die Ökonomik „potential gains" für alle verheißt. Obwohl „die Ökonomik" ein paretobesseres Regelsystem anzugehen imstande ist, gelingt es mithin nicht, „das Dilemma zu überwinden." Wenn aber nach Homanns Moralkriterien paretobessere Regelungen auch potentiell-moralisch (bis zur gelungenen Überwindung des Dilemmas) bessere Zustände herbeizuführen imstande sind, dann unterbleibt im Fall (3) die Etablierung von potentiell-moralisch besseren Zuständen.23 Das aber bedeutet, daß realiter „irrationale" Individuen moralisch wünschenswerte Regeländerun-

2 2

Homann (1997), S. 27.

23

Im Fall (2) kommt Homanns Ansatz sehr Nahe an die von ihm abgelehnte Diskursethik (vgl. Homann 1997, S. 12 f.).

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gen verhindern können. Verweigerer müssen - wenn hypothetische und definitionsgemäß rational handelnde Individuen der Regeländerung zustimmen müßten - sich nach seinem Ansatz konsequenterweise irrational verhalten. Damit ergibt sich für Homann folgendes Dilemma: Entweder akzeptiert man, daß moralisch wünschenswerte Entwicklungen unterbleiben oder man gibt der Ökonomik den Vorzug und entzieht „irrationalen Individuen" das Stimmrecht, um so dem Gesollten den Durchbruch zu ermöglichen. Im erstgenannten Falle bedeutet dies, daß zwar „kein einzelner - kein Individuum, kein Unternehmen, kein Verband, kein Staat etc. - das allgemein erwünschte und deshalb moralisch geforderte Ergebnis allein hervorbringen kann" 2 4 , daß aber ein Einzelner es sehr wohl verhindern kann. Im zweitgenannten Fall würde die Zustimmung aller eingeschränkt auf die Zustimmung aller rational denkender und handelnder Individuen. Diese Einschränkung macht Homann - im Gegensatz zu Buchanan, der sich für weniger wichtige Regeländerungen mit einfachen Mehrheiten begnügt - nicht. Sie wäre auch nicht unproblematisch. Zum einen bedürfte sie der (moralische (?)) Rechtfertigung. Zum anderen setzt sie klare Kriterien zur Identifizierung irrationaler Individuen voraus. Derartige Kriterien existieren aber nicht und können vielleicht auch gar nicht existieren. Denn um irrationale Individuen identifizieren zu können, müßte die Ökonomik vor allem eindeutige und wahre Prognosen der „potential gains" von Individuen bereitstellen. Dies ist sicherlich nicht der Fall, obwohl Homann sie stillschweigend vorauszusetzen scheint. Er sieht zumindest an keiner Stelle seines Beitrages dabei ein Problem, daß Ökonomen, selbst wenn sie sich der gleichen methodischen Grundsätze bedienen, zu durchaus unterschiedlichen Prognosen über künftige Entwicklungen gelangen. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur und können hier nur angedeutet werden: Mit Hilfe der (wenigen) methodischen Prinzipien, die Homann der Ökonomik vorgibt, lassen sich durchaus viele beobachtungsäquivalente Theorien mit konkurrierenden wirtschaftspolitischen Implikationen formulieren. Auf Grundlage einer Theorie lassen sich unterschiedliche Prognosen herleiten, je nachdem, welche Veränderungen in den Randbedingungen erwartet werden.

4

Homann

(1997), S.

.

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Schließlich besitzen wir keine Gewißheit, daß heute (noch) gut bestätigte Theorien in naher Zukunft sich nicht als falsch erweisen werden. Während der von ihm zitierte Sir Karl Popper im zuletzt genannten Umstand ein schwieriges Problem in seiner ,»Logik der Forschung" erkannte, sieht Homann darin offenkundig keine wesentlichen methodischen Schwierigkeiten. Das mag ja vielleicht daran liegen, daß Homann, im Gegensatz zu vielen Ökonomen, die es offenkundig nicht zu wissen scheinen und zu denen er immerhin auch Hirschman, Sen, Elster 25 und Frank rechnet, in seiner Gestaltungsabsicht26 genau weiß, wann richtige Ökonomik betrieben wird und wann nicht. Dementsprechend „muß die positive Analyse" 27 (Hervorhebung von mir) von rationalen Akteuren ausgehen, während die wohlfahrtstheoretische Allokationstheorie verworfen wird, weil sie „die grundlegenden Probleme, die immer soziale Probleme sind, aus der Ökonomik herausdefiniert" 28 (Hervorhebung im Original). Ebenso eindeutig heißt es: „Dominantes Analyseinstrument ist die Spieltheorie ..." und „Typischerweise geht es um Dinge wie Inflationsrate, Kriminalitätsrate, Scheidungsrate und hier noch einmal nicht um das Niveau solcher Raten, sondern um deren Veränderung im Abhängigkeit von Veränderungen in den Handlungsbedingungen, den Restriktionen." 29 Abgesehen davon, daß zur Zeit viele Annahmen der Spieltheorie zur Debatte stehen (darunter auch die adäquate Charakterisierung „rationaler Individuen") ist es doch erstaunlich, wie Homann aus der Spieltheorie im Allgemeinen und aus dem Gefangenendilemma im Besonderen ohne weiteres zu den Veränderungen der von ihm genannten Raten gelangen kann. 30 Die Spieltheorie ist in den von ihm genannten Teilen statischer Natur und daher zur Erklärung „dieser Dinge" ungeeignet und in ihren dynamischen Ansätzen zur Zeit umstritten und wenig prognosetauglich. 31 Dennoch scheint Homann hier über tieferes Wissen zu verfügen, wenn er feststellt und empfiehlt: „Gleichwohl stellt die Ökono25

Vgl. Homann (1997), S. 17.

26

Vgl. Homann (1997), S. 22 f.

27

Homann (1997), S. 23.

28

Homann (1997), S. 23.

2 9

Homann (1997), S. 24.

30

Im von Homann durchaus affirmativ zitierten Beitrag von Zintl (1989) kritisiert dieser, daß in den meisten Wahlmodellen lediglich Niveaugrößen und nicht, wie eigentlich sachlich gefordert, Änderungsraten erklärt werden. Offenkundig ist die theoretische Praxis von Homanns Forderungen nach Erklärungen von Veränderungen von Raten noch weit entfernt. 31 Das gilt insbesondere auch füir Mehrperiodenspiele, in denen das Gefangenendilemmaspiel als konstituentes Spiel fungiert.

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mik - wie die Physik - eine bedeutende Leistung des menschlichen Geistes dar. Man muß nur wissen, aufweiche Problemstrukturen die Ökonomik zugeschnitten ist und auf welche nicht. Wir müssen in der Tat lernen, die vom Problem bestimmte Selektivität aller wissenschaftlichen Theoriebildung zu begreifen und Theoriebildung nicht eins zu eins in die 'Phänomenologie' der lebensweltlichen Praxis zu überführen" 32 (Hervorhebungen im Original). 33

3. Rechtsregeln versus Individualmoral Homann ist, was gut zu verstehen ist, jedes „Moralisieren" zutiefst zuwider. Deshalb kann gesellschaftliche Moral seiner Meinung nach nicht in Appellen an Individuen bestehen, sich doch gefälligst tugendhaft zu verhalten. Vielmehr müssen Rechtsnormen mit ihren Sanktionsdrohungen gesellschaftlich gebotenes Handeln herbeiführen, gegebenenfalls auch mit staatlicher Gewalt erzwingen. Wie schon oben in Abschnitt III. 1 erwähnt und kritisiert, ist Homann der Meinung, seine Vorteilsbegründung der Moral sichere auch die Effektivität der in Rechtsnormen gegossenen Moralvorstellungen: „'Moral' verlangt dann, in der Einzelentscheidung nicht von der paretosuperioren, konsentierten Regel abzuweichen, und dies wird (sollte) sichergestellt (werden) durch die Anreizkompatibilität der Ausgestaltung dieser Regel" 34 (Hervorhebung im Original). Da 'defektieren' angesichts der postulierten Allgegenwart von Dilemmasituationen jedoch stets individuelle Vorteile verschafft, ist die Anreizkompatibilität aber nicht automatisch sichergestellt. Ohne funktionierende Justiz und Exekutive würde nur eine Internalisierung, also ein Rekurs auf die individuellen Tugenden die Befolgung der Rechtsnormen gewährleisten. Weil Homann den Rekurs auf individuelle Tugenden jedoch als „Appellitis" abtut und mithin verwirft, bleiben für ihn nur eine wohlfunktionierende Justiz und Exekutive als Garanten der Einhaltung der Rechtsordnung. Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von Justiz und Exekutive ist aber, daß deren Organe oder zumindest ein Teil derselben sich der Rechtsordnung verpflichtet fühlen. Denn wäre dies nicht der Fall, dann wäre die Effektivität der Rechtsordnung in Gefahr: Richter und Vollzugsorgane können durch Vorteilsannahmen mit Rechtsbrechern kooperieren.

32

Homann (1997), S. 29.

33

„Wer ist 'Wir'? 4 '. Sind damit alle Ökonomen und Philosophen gemeint oder nur die Ökonomen ausschließlich der Ingolstädter Schule oder gar nur die „Ingolstädter Schule"? 34

Homann (1997), S. 37.

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In einer Welt, die durch vielfältige und vielschichtige Informationsasymmetrien gekennzeichnet ist, stellen z. B. die Feststellung bzw. Verifikation von rechtsinkonformen Verhalten oder die Höhe der Auszahlungen" ein schwerwiegendes und grundlegendes Problem für die Effektivität der Rechtsordnungen dar. Das gilt einerseits für Rechtsbrüche, die vor der Justiz bzw. Exekutive verborgen bleiben und andererseits für Rechtsbrüche die mit dem Zutun von Justiz oder Exekutive ungeahndet bleiben. Rechtsbeugungen von bestechlichen Richtern oder Polizeiorganen lassen sich als solche nur schwer feststellen und können mit der nötigen vorteilsbedingten kriminellen Energie praktisch im Verborgenen gehalten werden. Konsequenz solcher Verhaltensweisen wären Umverteilungsaktionen, die die mit Hilfe der ökonomischen Methode aufgestellten Schätzungen der „potential gains" aller, zum Vorteil einiger und zum Nachteil anderer „korrigieren" und damit letztlich obsolet werden lassen. Homanns Überlegungen basieren also ganz entscheidend auf der von ihm postulierten Effektivität der Rechtsordnung. Dieses Postulat ist aber keineswegs automatisch erfüllt, sondern hat als unabdingbare Voraussetzung, daß ein Mindestmaß an individuellen Tugenden vorhanden ist, das die Effektivität der Rechtsordnung zu gewährleisten imstande ist. Die in Juristenkreisen vieldiskutierte Frage: „Wer bewacht die Wächter?", läßt sich m. E. nicht ohne Rekurs auf wohlinternalisierte individuelle Tugenden befriedigend beantworten. Wenn das zutrifft, dann müßte Homanns ökonomische Begründung der Moral bestenfalls als Versuch einer Teilbegründung angesehen werden, der erhebliche Begründungslücken aufweist.

I V . Schlußbemerkungen Homanns ökonomische Methode für ein piecemeal moral engineering " weist m. E. erhebliche konzeptionelle und methodische Mängel auf. Angesichts dieser Mängel scheint sie in ihrer jetzigen Form wenig geeignet, einerseits ein neues tragfähiges theoretisches Fundament einer Wirtschaftsethik und andererseits eine praktisch umsetzbare Moral zu liefern. Der Mangel an konkreten und erfolgreichen Anwendungen auf soziale Probleme läßt Zweifel daran aufkommen, ob die Methode überhaupt praktikabel ist und nicht nur solche „Lösungen" anbietet, die die „Ökonomen" - ohne jeden Rekurs auf moralische Fragen - ohnehin bereits zur Diskussion gestellt haben. Es muß jedenfalls noch gezeigt werden, daß der Ansatz „bessere" oder

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zumindest andere Lösungen zu erzeugen vermag als schlichtes ökonomisches Denken.

Literatur Haslinger , Franz / Stönner , Oliver (1997): The Theory of Income Distribution: A Survey of some Recent Developments, in: Franz Haslinger / Oliver Stönner (Eds.). Aspects of the Distribution of Income, Marburg (im Erscheinen). Homann, Karl (1997): Sinn und Grenze der ökonomischen Methode in der Wirtschaftsethik, in diesem Band. Kelsen, Hans (1960): Reine Rechtslehre, Wien. Zintl, Reinhard (1989): Der Homo oeconomicus: Ausnahmeerscheinung in jeder Situation oder Jedermann in Ausnahmesituationen?, in: Analyse und Kritik 11, S. 52-69.

Ökonomik und Ethik Von Peter Weise

I. Zusammenfassung der Kernaussagen von Homann Homanns Argumentation fußt auf der ökonomischen Methode im speziellen Sinne von G. S. Becker. Er wendet diese Methode auf das Handeln in Gefangenen-Dilemma-Situationen an und zeigt, daß in modernen Marktgesellschaften die Lösung des Gefangenen-Dilemmas in der Durchsetzung von Regeln liegt, die so gestaltet sein müssen, daß die Individuen hinreichende Anreize haben, sie verläßlich zu befolgen. Derartige, die Kooperation begünstigende, Regeln heißen moralisch, sofern sie für alle gelten und anreizkompatibel sind. Moral ist demnach ein Regelsystem, das anreizkompatibel alle Dilemmastrukturen paretosuperior löst. Oder: Moral ist das Entwerfen und Durchsetzen eines derartigen Regelsystems. Oder: Moral ist das Handeln gemäß einem derartigen Regelsystem.

Π . Kritische Anmerkungen Grundsätzlich stimme ich mit Homanns Ansatz überein. Ich weiß auch gar nicht, wie man anders argumentieren kann, soll nicht Nebel das ganze Gedankengebäude durchziehen und die Sicht trüben. Im folgenden übe ich also keine Kritik an der ökonomischen Methode, sondern Kritik an Homanns Verwendung dieser Methode.

7. Die ökonomische Methode Die ökonomische Methode versucht das Handeln von Menschen, Gruppen, Gesellschaften usw. dadurch zu erklären, daß sie den Handelnden als in einer Entscheidungssituation befindlich betrachtet, so daß er wählen muß. Da jede Handlung eine Ursache haben muß, kann die Handlung dann nur dadurch erklärt werden, daß die abgewählte Handlung weniger präferiert wird als die

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gewählte. Der Nutzen der abgewählten Handlung entspricht dann den Kosten der gewählten. Um Handlungen erklären zu können, muß der Ökonom folglich Nutzen-Kosten-Betrachtungen durchführen. Bezüglich der Spezifität der Annahmen unterscheiden sich die ökonomischen Modelle stark: Informationsstand, Informationsverarbeitungskapazität, Handlungsvermögen, Lernkompetenz, Präferenzvariabilität u. a. m. können unterschiedlich definiert werden. Homann entscheidet sich für das BeckerModell. Dies ist aber sehr eng: Vorausgesetzt werden der Homo oeconomicus mit stabilen Präferenzen, gleichgewichtige Markttransaktionen und Identität von Sanktionen und Preisen; vernachlässigt werden jegliche zirkuläre Kausalität, Evolution und Irreversibilität sowie Interaktionen in diffusen Situationen.

2. Der Begriff der Moral Homann definiert nicht exakt, was er unter Moral versteht. Er vermengt moralisches mit regelgetreuem Handeln. Theoretisch exakter wäre es aber, regelgeleitetes, marktliches und moralisches Handeln zu trennen. Moral und Ethik sind Verhaltensweisen, die in einer Welt der Knappheit und Konflikte bestimmte Koordinationsaufgaben erfüllen und die dementsprechend zu definieren sind. Es gibt zwei grundlegende Koordinationsmechanismen, die den Menschen vor der Willkür anderer Menschen schützen. Der eine Mechanismus ist der Markt, und sein Grundprinzip lautet: Alle Handlungen sind erlaubt, aber alle von ihnen Betroffenen sind wertmäßig zu entschädigen. Der zweite Mechanismus ist die Norm, und ihr Grundprinzip lautet: Alle Handlungen, die jeder in bestimmten Situationen durchzuführen hat, sind vorgeschrieben. Der am Markt zu zahlende Preis hat vor allem einen Entschädigungseffekt: Durch die Zahlung des Preises entschädigt der Käufer den Verkäufer für dessen entstandene Kosten. Die mit der Norm verbundene Sanktion hat vor allem einen Abschreckungseffekt: Sanktionen belegen verbotene Handlungen mit Kosten und sollen das Begehen dieser Handlungen verhindern. Sowohl der Preis als auch die Sanktion verteuern die ihnen zugeordnete Handlung, sind also Kosten, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen und werden von den Menschen im Regelfall auch unterschiedlich wahrgenommen. Moral bezeichnet dann Handlungen zwischen Markt und Norm. Denn: 1. Handelt jemand derart, daß er von einem anderen uno actu wertäquivalent entschädigt wird, so hat seine Handlung keinen moralischen Wert. Denn

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sie wird im Hinblick auf die Erlangung von Gütern ausschließlich zum Zwecke des eigenen Wohls begangen. Dies sind die typischen MarktHandlungen. 2. Handelt jemand derart, daß eine Handlung, die einen anderen schädigen könnte, nur deshalb unterbleibt, weil sie mit entsprechenden Sanktionen bewehrt ist, so hat seine Handlung ebenfalls keinen moralischen Wert. Denn sie unterbleibt aus Gehorsam vor der Norm ausschließlich zum Zwecke des eigenen Wohls. Dies sind die typischen Handlungen gegenüber Normen. 3. Handelt aber jemand derart, daß er das Wohl des anderen vermehrt, ohne sicher zu sein, in naher oder ferner Zukunft äquivalent entschädigt zu werden, oder handelt er gemäß einer Norm, obwohl die angedrohte Sanktion zu gering ist, so hat seine Handlung graduell einen moralischen Wert. Denn sie ist nicht ausschließlich zum Zwecke des eigenen Wohls, sondern auch des fremden Wohls begangen. Dies sind die typischen Handlungen in Dilemma-Situationen, in denen jemand dann, wenn er kooperiert, mehr verlieren kann, als wenn er nicht kooperiert, und in denen Menschen, wenn sie kooperieren, mehr gewinnen, als wenn sie nicht kooperieren. Während der Markt es den Menschen geradezu erlaubt, Normen in Form von Verfügungsrechten zu tauschen, d. h. Handlungen zu substituieren, unterbindet die Norm bei Sanktionsandrohung die Substitution von Handlungen. Das Ziel der Norm ist der absolute Schutz eines Gutes, das nicht gegen andere Güter substituiert werden kann. Dieser Schutz soll auch gegen widerstreitende Interessen durchgesetzt werden. So zählen bei der Normkoordination im Unterschied zum Markt Gesinnung, Schuldbewußtsein und Einsichtsfähigkeit; darüber hinaus verschärfen sich im Regelfall die Sanktionen bei Wiederholung der Normübertretung, während der Markt Mengenrabatte zugesteht. Das Ziel, den Menschen vor Willkürhandlungen anderer Menschen zu schützen, gelingt der Norm allerdings nur teilweise. Aus der Sicht des zu Schützenden verlangt die Norm gleichsam einen absoluten Normbefolgungsgrad; der zu Schützende bewertet das in der Regel durch andere Güter nicht zu substituierende Gut mit einem Eigennachfragepreis oder Abgabepreis von quasi unendlich. Die Kosten der Übertretung der Norm sind aus Sicht des potentiellen Normübertreters aber bei weitem nicht so hoch; der Beschaffungspreis des zu schützenden Gutes ist für ihn viel niedriger als der Abgabepreis des durch die Norm zu Schützenden. In dieser Divergenz zwischen Beschaffungs- und Abgabepreis liegt die Wurzel für moralische Bewertungen: Obwohl der Beschaffungspreis für den

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potentiellen Normübertreter geringer ist als der gleichsam unendlich hohe Abgabepreis für den durch die Norm zu Schützenden, wird es von ihm als eine moralische Pflicht verlangt, die Norm nicht zu übertreten. Daher haben anders als Homann meint - Begriffe wie Pflicht, Sollen usw. doch ihren Platz in der Ökonomik. Da Normen eine Divergenz von Abgabe- und Beschaffungspreis bewirken, schaffen sie darüber hinaus die Möglichkeit eines Nutzengewinnes für Anbieter und Nachfrager auf Kosten Dritter, wenn sie die Norm übertreten. Hierdurch entstehen Schwarzmärkte, Bestechung und andere illegale Märkte sowie die Anreize für eine Erodierung der Moral. Man kann diese Definitionen verallgemeinern, indem man graduellmoralische Handlungen zuläßt. Bei Tausch und Gehorsam ist der moralische Grad Null; bei ausschließlicher Berücksichtigung des fremden Wohls ist er Eins. Handlungen in Dilemma-Situationen haben dann je nach Kooperationsneigung einen Moralitäts-Grad zwischen Null und Eins.

3. Arten der Moral Man könnte fünf Arten der Moral unterscheiden: 1. Moral als Handeln gemäß absoluten Werten des Guten und Bösen. Hier werden absolute Werte des Guten und Bösen definiert, wie Würde oder intrinsischer Wert, die man unbedingt zu akzeptieren hat, oder Maximen hergeleitet, denen man pflichtgemäß zu folgen hat. Es ist meiner Meinung nach zu Recht nachgewiesen worden, daß derartige Moralbegründungen unhaltbar sind: Es gibt im Gegensatz zu Kant keine absoluten Werte und kein interesseloses Handeln. 2. Moral als wertäquivalente Entschädigung des anderen. Hier entschädigt man den anderen im Tausch oder durch Zahlung eines Preises wertmäßig für seine aufgewendete Mühe; man befindet sich in einer Marktbeziehung oder Beziehung der direkten Reziprozität. Da man dem anderen nicht mehr gibt, als man von ihm erhält, schätzt man ihn folglich weder positiv noch negativ, d. h. man ist indifferent zwischen fremdem Wehe und fremdem Wohl. Derartige Handlungen sind keine moralischen. 3. Moral als Gehorsam vor einer Norm. Hier werden bestimmte Handlungen durch Abschreckung verteuert; man handelt in einer bestimmten Weise, weil dies so vorgeschrieben ist oder erwartet wird. Diese Art der Moral ist keine Moral, da normgetreues Handeln lediglich aufgrund von Sanktionen

Ökonomik und Ethik

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geschieht, die als Gegenmotive dem Egoismus gegenüber stehen und das Wohl des anderen erzwingen sollen. 4. Moral als Mitleid und Empathie. Hier wird das Wohl des anderen positiv bewertet; man handelt aus einem altruistischen Motiv. In einem sehr engen Sinne ist dies die einzige Art der Moral, da der Egoismus (zumindest teilweise) dadurch überwunden wird, daß der Mensch die anderen Menschen (und anderen Lebewesen) in seinen Präferenzen berücksichtigt. 5. Moral als prosoziale Kommunikations- und Handlungsfähigkeit. Hier wird dem anderen etwas gegeben, was (vielleicht) durch Dritte auf die Dauer und im Durchschnitt wieder entgolten wird, so daß man dann besser dasteht, als wenn man keine Vorleistung erbracht hätte, allerdings auch schlechter dasteht, falls die Entgeltung ausbleibt; man befindet sich in einer Beziehung der indirekten Reziprozität. Diese Art der Moral bedeutet, daß sich der Mensch in die anderen Menschen hineinversetzen kann und prinzipiell darauf vertraut, daß diese anderen Menschen in DilemmaSituationen kooperationsbereit sind, und folglich selbst kooperiert. Für eine allgemeine Definition von Moral sind zwei Punkte entscheidend: 1. Die moralische Handlung muß notwendig sein, d. h. sie ist insofern determiniert, als aus dem Zusammenspiel interner Beschränkungen, d. h. Präferenzen, und externer Beschränkungen, d. h. Handlungsumgebung, über eine Entscheidung eine Handlung erfolgt, die auch entsprechend erklärt werden muß. 2. Damit eine Handlung als moralisch klassifiziert werden kann, muß sie das Wohl des anderen beinhalten, d. h. sie muß dem anderen einen höheren Nutzengewinn gewährleisten, als wenn die Handlung unterblieben wäre, ohne daß der andere eine wertäquivalente Entschädigung leisten muß, und sie darf nicht durch Sanktionen Dritter bewirkt sein. Akzeptiert man diese zwei Punkte, so erkennt man, daß nur Handlungen der Arten 4. und 5. moralischer Natur sind. Ein Referenzpunkt, an dem Moral beginnt, ist 2.: Hier wird der andere durch Tausch oder auf dem Markt wertäquivalent entschädigt, aber er bekommt auch nicht mehr als das Wertäquivalent. Ein zweiter Referenzpunkt, an dem Moral aufhört, ist 3.: Hier wird die Ausgangsausstattung des anderen durch die Respektierung von Normen bewahrt, aber nur, weil die Normeinhaltung billiger ist als der Normbruch. Letzten Endes hat Moral also zwei Ursachen: zum einen die soziale Interdependenz - hieraus entwickeln sich alle Moralvorstellungen und Tugenden,

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die sich auf die Gemeinschaft mit den anderen beziehen, wie Opferbereitschaft, Gerechtigkeit, Pflichtgefühl u. a. m. - und zum anderen die Überlegung, daß der langfristige Vorteil dem kurzfristigen vorzuziehen sei - hieraus entwickeln sich alle Moralvorstellungen und Tugenden, die sich auf den einzelnen beziehen, wie Sparsamkeit, Selbstverpflichtung u. a. m. I m ersten Fall befinden sich zwei Personen in einem sozialen Dilemma: Beide verlieren, wenn jeder ausschließlich individuell-rational egoistisch kalkuliert. Die Lösung liegt in der Berücksichtigung der Ziele und Präferenzen des jeweils anderen. I m zweiten Fall befindet sich eine Person in einem individuellen Dilemma: Eine Person verliert, wenn sie nur die kurzfristigen Präferenzen und nicht die langfristigen Präferenzen berücksichtigt. Die Lösung liegt in der heutigen Berücksichtigung des eigenen zukünftigen Wohls und Wehes. Das eigentliche Problem der Moral liegt in der Begründung der Berücksichtigung des Wohls des anderen, wobei dieses Wohl über die wertäquivalente Entschädigung und die Respektierung der Ausgangsausstattung hinausgeht, ohne daß man durch Sanktionen Dritter dazu angehalten wird. Die eine Ursache für moralische Handlungen liegt in den Präferenzen, d. h. ein Mensch erhält einen emotionalen Eigenlohn für seine moralische Handlung: Er empfindet Mitleid oder hat ein gutes Gefühl, das Gewissen spricht. Die andere Ursache für moralische Handlungen liegt in der Hoffnung, daß das eigene kooperative Verhalten auf die Dauer und im Durchschnitt von anderen erwidert wird. Ein Motiv, moralisch zu handeln, hat man folglich nur, wenn es sich auf die Dauer und im Durchschnitt lohnt. 1

4. Der Homo oeconomicus „Die Realitätsnähe bezieht sich nicht auf die (sozial-) psychologische Ausstattung des „Homo", des Menschen, sie bezieht sich vielmehr auf die Situation, in der die Menschen agieren und die von dieser Situation ausgehenden Handlungsanreize", schreibt Homann - und ich stimme ihm zu. Doch sind die Handlungsanreize nichts anderes als Kosten und mithin subjektiv (also auch von der Wahrnehmung abhängig, wie Homann selbst anmerkt), folglich ein Produkt der (sozial-) psychologischen Ausstattung des Menschen. Hier vernachlässigt Homann die gesamte Entwicklungsgeschichte des Menschen, die aus einem eigennützigen einen prinzipiell kooperationsbereiten Menschen gemacht hat.

1

Siehe hierzu Weise (1995).

Ökonomik und Ethik

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Homann muß also, um zu einer Kooperationslösung des GefangenenDilemmas zu gelangen, bereits eine gewisse Kooperationswilligkeit, die mit individuellen Ausbeutungsverlusten verbunden sein kann, unterstellen. Damit bewegt er sich aber in einem Zirkel: Egoistische homines oeconomici können sich nicht auf moralische Regeln einigen, es sei denn, sie sind individuell bereits kooperationswillig, d. h. moralisch. 2 Aber dies kann man nur evolutorisch erklären. Seit etwa drei Millionen Jahren leben die Menschen nicht als isolierte homines oeconomici, sondern in kleinen Gruppen zusammen. Schließen sich Menschen zur Realisierung von Kooperationsgewinnen in kleinen Gruppen zusammen, so müssen sie sich aber Normen geben. Diese beziehen sich vor allem auf den Schutz des einzelnen gegenüber allen anderen in der Gruppe; hinzu kommen Normen, die die Aufgabenverteilung, die Nahrungsmittelaufteilung u. a. m. regeln. In dieser Phase setzt die Evolution an zwei Stellen an: 1) Diejenigen Gruppen überleben, deren Normen einen Selektionsvorteil haben. 2) Die genetische Ausstattung des Menschen verändert sich so, daß die Gene diejenigen individuellen Verhaltensweisen fördern, die zur Reproduktion der vorteilhaften Normen beitragen. Im ersten Fall bewirkt die kulturelle Evolution das Entstehen überlebensermöglichender Normen; im zweiten Fall wirkt die natürliche Evolution in einer menschen-gemachten Umwelt auf die Selektion von Genen für die Ermöglichung von individuellen Verhaltensweisen hin, die das Überleben der Gruppe sichern. In der natürlichen Selektion wird nämlich nicht allein die Maximierung der persönlichen Fitness, sondern die der Gesamtfitness gefördert, die durch die Summe aus individuellem Fortpflanzungserfolg und dem mit dem Grad der Verwandtschaft gewichteten Reproduktionserfolg der genealogischen Verwandten gemessen wird. Hierdurch entsteht Kooperation auf genetisch eigennütziger Basis. Daneben entsteht Kooperation in Form direkter und indirekter Reziprozität: Das simultane Geben und Nehmen (direkte Reziprozität) wird im Zuge der Evolution ausgeweitet auf nicht-simultane Tauschbeziehungen und auf Geben und Nehmen mit unterschiedlichen Partnern, bei dem anderen Personen vergolten wird, was man von bestimmten Personen erhalten hat (indirekte Reziprozität). Es entstehen also aus der direkten Reziprozität

2

Die übliche spieltheoretische Lösung von Dilemma-Spielen mit Hilfe des NashGleichgewichts unterstellt, da jeder Spieler nur sein eigenes Interesse bei entsprechender Annahme über das Verhalten des anderen maximiert, einen Moralitätsgrad von Null - und kann mithin das Entstehen sozialer Kooperation bei ausschließlichem Eigeninteresse nicht erklären. Dies zeigen sehr klar Giith / Kliemt (1995). 5 Aufderheide/Dabrowski

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durch die kulturelle Evolution auf individuell eigennütziger Basis Normen und Moral, die die Verläßlichkeit der wechselseitigen Kooperation auch zwischen Nicht-Verwandten steigern. Der Mensch entwickelt eine Identität, die Möglichkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Ziele zu berücksichtigen, die Voraussicht auf zukünftige Konsequenzen seiner Handlungen, die Fähigkeit, Strategien zu entwerfen, die Fähigkeit der sprachlichen Kommunikation sowie ein Gefühl für das, was andere von ihm erwarten; kurz: Der Mensch entwickelt eine prosoziale Kommunikations- und Handlungsfähigkeit. Er besitzt folglich die Disposition sowohl für die Berücksichtigung möglicher Schädigungen anderer bei eigennützig-vorteilhafter Durchführung eigener Handlungen als auch für die Voraussicht eigener zukünftiger Nachteile bei Verfolgen kurzfristiger Vorteile, d. h. der Mensch existiert in einem moralischen Spannungsfeld einer doppelt-zwiespältigen Anreizstruktur. Es entsteht Moral als „externe" Einhaltung der Sitte und als „interne" Gewissensinstanz. Es entsteht Moral als die Disposition, das Wohl und Wehe des anderen zu einem eigenen Handlungsmotiv machen zu können und daraus einen Nutzengewinn zu ziehen. Moral bedeutet also einerseits die subjektive Internalisierung der Zwänge der sozialen Interdependenz. Andererseits führt Moral als Sympathie, Empathie, Mitleid und Mitgefühl mit den anderen zu einer Verknüpfung des eigenen Nutzens mit den Konsequenzen der eigenen Handlungen für andere. Grundlage der Moral in diesem Sinne ist die Verankerung von Normen in den Emotionen; es entstehen Scham und Pein sowie Schuldgefühle als Korrelate der „psychischen Kosten". Die Emotionen bewirken, daß der Mensch im Eigeninteresse bei anderen auf Normeinhaltung achtet, sich gegenüber Verrätern und Betrügern rächen will, als Lügner auffällt usw. und bei sich selbst auf die Berücksichtigung selbst gewählter Verhaltensprinzipien achtet und insbesondere seinen heutigen und zukünftigen Nutzen miteinander vergleicht. 3

5. Das Gefangenen-Dilemma Homann betrachtet ausschließlich das Gefangenen-Dilemma und hier ausschließlich die Vertrags- und Zwangsmonopollösung. Es gibt aber noch andere

Für eine Analyse der koevolutiven Beziehungen zwischen Natur und Kultur siehe Boyd / Richerson (1985); zu Konsequenzen der Koevolution für die Moral vgl. Alexander (1987) und Vogel ( 1993).

Ökonomik und Ethik

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Dilemma-Situationen. Solche Dilemma-Situationen sind vor allem das Evolutions-Spiel, das Chicken-Spiel, das Gefangenen-Dilemma-Spiel, das Koordinations-Spiel und Varianten hiervon. In jeder Dilemma-Situation sind die Anreize unterschiedlich, so daß Moral einerseits entstehen und überleben kann, andererseits gefährdet ist und vergehen kann. Darüber hinaus gibt es bei prinzipiell kooperationsbereiten Individuen auch noch andere Lösungen des Gefangenen-Dilemmas. Moral kann sich lohnen, wenn die aufgrund unmoralischer Handlungen in der Zukunft entgehenden Gewinne groß sind; wenn man den anderen mit Moralentzug in der Zukunft bestrafen kann; wenn man glaubwürdig bedingte Kooperation durch geeignete Wahl der Präferenzen oder durch Internalisierung von Moral signalisieren kann; wenn sich alle auf einen Schiedsrichter einigen können; wenn man sich moralisch entrüstet und gegen sein Eigeninteresse zum Rächer wird; wenn bestimmte gesellschaftliche „Rahmen-Normen" existieren oder in geeigneter Weise vereinbart werden können; wenn ein hinreichendes Sanktionspotential eines Zwangsmonopols vorhanden ist. Vertrags- und Gewaltmonopollösung ist also nur eine unter mehreren. Vielleicht hat Homann aber nicht diese spieltheoretische Definition des Gefangenen-Dilemmas im Sinn, sondern verwendet diese Anreizstruktur nur als Metapher für eine Situation, in der sich aufgeklärte Individuen konsensual auf eine kooperative pareto-optimale Lösung, bei der sich alle besser stehen als bei der defekten, verständigen können. Bei dieser Interpretation entfallen natürlich die spieltheoretisch begründeten Argumente. Die Diskussion des Gefangenen-Dilemmas verliert dadurch allerdings an Exaktheit und verläuft sich in einer gewissen Beliebigkeit. „Zur Überwindung des Dilemmas ist das Mitwirken ausnahmslos aller Akteure erforderlich", schreibt Homann und konstruiert eine Alles-oder-NichtsStruktur. Dies ist aber nicht richtig. Im N-Personen-Gefangenen-DilemmaSpiel gibt es nämlich zwei kritische Koalitionsgrößen, jenseits derer es sich für prinzipiell kooperationsbereite Akteure lohnt zu kooperieren. Nur bei einer kritischen Koalitionsgröße kann „ein einzelner Defektierer den Zusammenbruch der Interaktion allein herbeiführen"; jenseits der kritischen Koalitionsgrößen kann er dies nicht. 6. Pflicht,

Werte, Sollen und so weiter

„Pflicht, Werte, Sollen haben in der ökonomischen Methode nichts zu suchen", schreibt Homann und verbaut sich hiermit den Weg, diese Begriffe ökonomisch zu interpretieren. Man kann hinzufügen: Macht, Abhängigkeit,

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Recht, Freiheit, Verantwortung u. a. m. können sehr gut mit Hilfe der beiden Begriffe Kosten und Abwanderungskosten definiert und präzisiert werden. Dazu müßte man nur die herkömmliche Unterteilung in Beschränkung und Präferenzen aufgeben und durch die Unterscheidung von externen und internen Beschränkungen ersetzen. Hier ergäben sich Möglichkeiten für das ökonomische Denken, die weit über die Erkenntnismöglichkeiten mit Hilfe des Homo-oeconomicus-Konstrukts hinausreichen. Denn der Homo oeconomicus kennt nur Preise; Sanktionen übersetzt er in Erwartungswerte. Aus einem „Du darfst nicht", macht er ein „Du darfst, wenn du den Preis zahlen kannst". („Ein Foul ist eine Regelverletzung", sagt der Regelgehorsame. „Nein, ein Foul ist, wenn der Schiedsrichter pfeift", antwortet der Erwartungswertmaximierer.) Der Homo oeconomicus bedarf demnach der Resozialisierung, bevor er in die ökonomische Welt entlassen werden darf.

7. Der interaktionsökonomische

Ansatz

„Das sich gegenwärtig entwickelnde konkurrierende Paradigma geht von einer ganz anderen Grundfrage aus: Nach welchen Regeln wollen Menschen, die immer gemeinsame und konfligierende Interessen haben, miteinander umgehen?... Zugleich ist schon in der Grundfrage auf die Zweistufigkeit der Konzeption Spielregeln/Spielzüge - und die Simultaneität von Allokation und Verteilung abgehoben" schreibt Homann - und nennt diese Vorgehensweise den interaktionsökonomischen Ansatz. Doch ist dieser Ansatz in der Ökonomik kein „sich gegenwärtig entwikkelndes Paradigma", sondern einfach der mikroökonomische Denkansatz:4 „Berücksichtigt man, daß die Menschen wechselseitig Anreize und Zwänge auf sich ausüben, woraus über definierte und durchgesetzte Verfügungsbeschränkungen Organisationsmechanismen entstehen, die adäquat nur unter Betonung der Elemente Prozeß, Umgebung und Interaktion betrachtet werden können, dann ist die folgende Definition der MikroÖkonomie angebracht: Die MikroÖkonomie ist die Wissenschaft von der Entstehung und Funktionsweise von Organisationsmechanismen, die die bei interdependent wirtschaftenden Individuen entstehenden Koordinations- und Konfliktprobleme zu lösen versu-

4

Siehe Weise (1979).

Ökonomik und Ethik

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chen." 5 „Die Organisationsmechanismen schaffen Anreize und Sanktionen für Allokation und Distribution." 6 „Denn immer dann, wenn Individuen nicht isoliert handeln, bestehen in weit stärkerem Maße, als die traditionelle Theorie unterstellt, Prisoner's-Dilemma-Spiele."7 Dieser interaktionsökonomische Ansatz sollte also nicht von dem Homo oeconomicus im Sinne von Becker ausgehen, sondern von einer Gruppe von Individuen, die interagieren, die aber auch ihre internen Beschränkungen verändern können - und mithin Moral lernen und ausüben können.

Π Ι . Fazit Bewerte ich den Beitrag von Homann in der Sprache der Ethik, so könnte ich formulieren: Homann analysiert Moral unter dem Blickwinkel der Anreizkompatibilität und wehrt sich gegen überindividuelle Erklärungsversuche das ist gut. Homann läßt undifferenziert moralisches Handeln in regelgetreuem und sanktioniertem Verhalten aufgehen und vertreibt somit die Moral durch die Norm - das ist schlecht.

Literatur Alexander , R. D. (1987): The Biology of Moral Systems, New York. Boyd , R. / Richerson , P. J. (1985): Culture and the Evolutionary Process, Chicago/London. Giithy W. / Kliemty H. (1995): Elementare spiel theoretische Modelle sozialer Kooperation, in: Ökonomie und Gesellschaft, Bd. 12, Frankfurt/New York, S. 12-62. Vogel , C. (1993): Evolutionsbiologie und Moral, in: Schiefenhövel, Vogel, C. (Hrsg.), Der Mensch, Tübingen.

W. / Vollmer,

Weise , P. (1979): Neue MikroÖkonomie, Würzburg/Wien. Weise, P. (1995): Elemente einer evolutiven Theorie der Moral, in: A. Wagner / H.-W. Lorenz (Hrsg.), Studien zur evolutorischen Ökonomik ΙΠ, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 195/III, Berlin, S. 35-57.

5

Siehe Weise (1979), S. 45.

6

Siehe Weise (1979), S. 13.

7

Siehe Weise (1979), S. 71.

G. /

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis Zum Vorrang der Empirie vor der Ethik Von Gerhard Engel

I. Einleitung: Ethik, Moral und Gesellschaft „We are good, perhaps a little too good, but we are also a little stupid; and it is this mixture of goodness and stupidity which lies at the root of our troubles." Karl R. Popper 1

(1) Philosophische Ethik, 2 so schrieb Wilhelm Weischedel vor 20 Jahren, sei „[...] heute ehrlicherweise nur als Skeptische Ethik möglich." 3 Was es unter heutigen Bedingungen bedeutet, einer solchen Behauptung zuzustimmen, und was das wiederum für die Wirtschaftsethik bedeutet - davon handelt dieser Aufsatz.

1

2

Popper (1963/1972), S. 365.

Die moralphilosophischen Grundbegriffe gebrauche ich in folgender Weise: Unter Moral verstehe ich die vorfindlichen Bewertungsgewohnheiten der Menschen, die sich im wesentlichen auf zwischenmenschliches Handeln beziehen. Moral beantwortet die Frage: „Was sollen wir tun, wenn wir nicht das Mißfallen unserer Mitmenschen erregen wollen?" Die Ethik („Moralphilosophie") dagegen wird hier als eine vorwiegend normativ ausgerichtete philosophische Disziplin verstanden. Sie widmet sich der Rechtfertigung oder „Begründung" dieser vorfindlichen Überzeugungen unter dem Gesichtspunkt der Moralität. Ethik in diesem Sinne beantwortet die Frage: „Wann ist das Mißfallen unserer Mitmenschen gerechtfertigt?" Wir können von Moral und Ethik ferner eine Moraltheorie abgrenzen. Sie ist ausschließlich deskriptiv orientiert und beantwortet die Frage: „Was für Phänomene sind Moral und Ethik?" Die sprachanalytisch orientierte Metaethik beantwortet die sprachanalytischen Aspekte dieser Frage; aber es gibt auch ökonomische, psychologische, historische und evolutionäre Aspekte von Moral und Ethik. Schließlich können wir noch eine Philosophie der Moraltheorie abgrenzen, in der es um metawissenschaftliche und interdisziplinäre Aspekte der Moraltheorie(n) geht. Ich argumentiere in diesem Aufsatz mit wechselnden Schwerpunkten vom Standpunkt der Moraltheorie und vom Standpunkt einer Philosophie der Moraltheorie aus. 3 Weischedel ( 1976), S. 13.

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Gerhard Engel

Zunächst: Weischedels Behauptung klingt radikaler, als sie damals gemeint war. Zwar beruhte seine „Skeptische Ethik" methodisch auf einem radikalen Fragen. 4 Aber die Radikalität seines Fragens ist Cartesianischen Zuschnitts: Ethische Skepsis soll nicht jede beliebige Behauptung unterminieren, sondern wenigstens einige ethische Grundsätze in ihrem Feuer härten. Für Weischedel läßt sich daher durchaus eine philosophische Ethik „[...] entwerfen und philosophisch begründen, und zwar eben aus dem Geiste des Skeptizismus. [...] Keineswegs muß also die einzige Konsequenz aus dem als radikales Fragen verstandenen Skeptizismus der Verzicht auf ethische Anweisungen sein." 5 Heutige Autoren sind hier etwas vorsichtiger. Thomas McClintock etwa verzichtet auf „prescriptions for conduct" 6 . Dennoch zielt auch bei ihm die Skepsis auf einen gerechtfertigten Grundsatz, traditionell formuliert: auf sittliche Erkenntnis: 7 Moralphilosophie hat die Skepsis zu beseitigen, nicht zu begründen: „What is moral, or ethical, skepticism, and how can it be refuted?"8 In der Tat scheint ja der Boden der für sicher gehaltenen Moralvorstellungen gefährlich ins Schwanken zu geraten, wenn man die Möglichkeit sittlicher Erkenntnis skeptisch hinterfragt. Wäre es nicht unerträglich für unsere Weltorientierung, wenn man zu jeder beliebigen moralischen Forderung und zu jeder beliebigen (normativen) moralphilosophischen Behauptung auch deren Gegenteil behaupten könnte, ohne zwischen beiden Behauptungen eine „vernünftige" Entscheidung herbeiführen zu können? Große Teile der Moralphilosophie lassen sich daher als Versuch auffassen, eine solche rationale Entscheidung herbeizuführen. 9 Sie kommen damit einem verständlichen Be-

4

Vgl. dazu Weischedel (1976), S. 190: „Das Wesen des Skeptikers besteht darin, daß er radikal fragt [...]". 5 Weischedel ( 1976), S. 221. 6

7

McClintock (1995), S. X I V .

Nach McClintock lautet der oberste Grundsatz der Moral: „We ought to act only in those ways whose universal performance is both possible and consistent with the rational self-interest (maximal satisfaction of natural interests) of every human being (member of our species)". ( McClintock 1995, S. 155) Aber die Skepsis sollte vor einem solchen Grundsatz nicht haltmachen: Woher wissen wir im Einzelfall, worin dieses rationale Selbstinteresse jedes (!) menschlichen Wesens besteht? Ansonsten begrüßt der Moralskeptiker diese Definition: Sie ist ein großer Schritt zum Humeschen Deskriptivismus und zu einer rationalen Entscheidungstheorie. 8 McClintock (1995), S. X. 9 Dies scheint mir auch für manche deskriptiven Ethikauffassungen zu gelten, etwa für die sprachanalytischen Strömungen der Moralphilosophie. Denn was könnte, pragmatisch gesehen, das Ziel solcher Untersuchungen sein? Man hofft, mit diesen Untersuchungen die Sprache der Moral präzisieren zu können; und das ist (nur?) dann ein erstrebenswertes Ziel, wenn man mit Hilfe entsprechender Präzisierungen moralische Meinungsverschiedenheiten entscheiden zu können hofft.

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dürfnis entgegen: In der gleichen Weise, wie es Aufgabe des Fachmannes ist, uns die Zweifel darüber abzunehmen, ob der Mond aus grünem Käse oder aus Gestein besteht, sollte nach einem unbefangenen Verständnis von Moralphilosophie diese Disziplin uns sagen können, was (in moralischen Zweifelsfällen) zu tun ist. Ein normatives Verständnis von Moralphilosophie kann um so eher auf Zustimmung stoßen, je mehr die Probleme der modernen Gesellschaften als Probleme der (fehlenden) Moral modelliert werden. Nach Ansicht mancher Philosophen und Sozialphilosophen haben wir Probleme, weil die religiöse Basis der Moral und damit die Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens erodiert ist; 1 0 und wir haben Probleme, weil liberale Gesellschaften vergessen haben, daß ohne gemeinsame Werte ein gemeinsames Leben dauerhaft gefährdet ist. 11 Dieses Denken hat auch zahlreiche publizistische Spuren hinterlassen: Wir haben Probleme, weil „Brutalität und Eigennutz" überhandnehmen; wir haben Probleme, weil „Ethik und moralische Grundsätze" vernachlässigt werden oder verlorengegangen sind; und wir haben Probleme, weil wir vergessen haben, daß eine „Selbstbeschränkung der Freiheit" notwendig ist. 1 2 (2) Der Moralbedarf moderner Gesellschaften scheint also beachtlich zu sein. Ich sehe drei Strategien, wie man sich als potentieller Anbieter von Moral in dieser Lage verhalten kann: 1. Die erste Strategie ist, diesem Verlangen umstandslos nachzugeben. Hierzu zählen alle Ansätze, die die Steuerungsprobleme moderner Gesellschaften mit den Steuerungsproblemen der Individuen gleichsetzen. Ethische Reflexion und/oder moralische Erweckung sind die geeigneten Mittel, um das moralische Verhalten von Individuen zu beeinflussen, und ihr dadurch verändertes Verhalten soll die gewünschten Aggregateffekte haben.13 Diese Strategie ist nach Ansicht des Moralskeptikers allerdings wenig erfolgversprechend. Denn zum einen steht nicht fest, daß das Ergebnis ethischer Reflexion (und erst recht nicht das Ergebnis moralischer Erwekkung) im erforderlichen Ausmaß einhellig sein wird; zum anderen übersieht diese Position, daß Intention und Handlungsergebnis in modernen

10

Vgl.dazu Müller et al. (1995).

11

So lautet, kurz zusammengefaßt, die Kritik der Kommunitaristen an liberalen Gesellschaftsentwürfen. Vgl. dazu insbesondere Etzioni (1994) und (1995). Zur Kontroverse zwischen Kommunitarismus und Liberalismus vgl. Honneth (1993). 12

13

Vgl. zum ersten Zitat Dönhoff (1994), zu den beiden anderen Dönhoff (1996). Für ein Beispiel aus der Wirtschaftsethik vgl. Koslowski (1988).

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Gesellschaften (und möglicherweise nicht nur in ihnen) systematisch entkoppelt sein können. Selbst wenn wir also alle eines moralischen Sinnes wären, könnten die erhofften gesellschaftlichen Folgen ausbleiben. 2. Die zweite Strategie besteht darin, Moral zu institutionalisieren: Wie können durch institutionelle Vorkehrungen moralisch erwünschte Systemzustände erreicht werden, wenn wir von einer tatsächlich gegebenen, aber sehr eng begrenzten individuellen Bereitschaft ausgehen, im Interesse anderer zu handeln, und wenn wir die Interdependenz und Komplexität moderner Gesellschaften in Rechnung stellen? Das Steuerungsproblem wird hier von der individuellen auf eine institutionelle Ebene verlagert: Gesellschaftliche Probleme werden nicht durch eine individuell veranlaßte und verantwortete Änderung des Verhaltens , sondern durch eine institutionell veranlaßte und verantwortete Änderung der Regeln gelöst. 14 Der Moralskeptiker sieht in dieser zweiten Strategie einen entscheidenden Fortschritt gegenüber der ersten Strategie. Aber obwohl er ihr nahezu uneingeschränkt 15 zustimmt, legt er doch besonderen Wert auf die Umstände, die diesen Fortschritt ermöglicht haben: Er weist darauf hin, daß es die systematische und unbegrenzte Berücksichtigung von Tatsachenwissen ist, die für diese Strategie charakteristisch ist, und nicht so sehr eine Einigung darüber, was man unter „moralisch" zu verstehen hat. 3. Die dritte Strategie (es ist die des Moralskeptikers) besteht darin, nun auch noch die moralische Restproblematik der zweiten Strategie zu beseitigen. Nach seiner Auffassung können wir allenfalls feststellen, was „erwünscht" ist, aber nicht, was moralisch erwünscht" ist. Er bemüht sich daher darum, nicht Moral und „Moralbegründung", sondern (ausschließlich und systematisch) Tatsachenwissen anzubieten. Der Moralskeptiker tut dies nicht, weil er die moralischen Intuitionen und die moralischen Bedürfnisse der Menschen gering achtet. Aber er versteht sich nicht als Fachmann für solche Intuitionen und Bedürfnisse, schon gar nicht als ein Fachmann für ihre „Berechtigung" oder Begründung". Er fühlt sich vielmehr verpflichtet, über diese Intuitionen und Bedürfnisse aufzuklären. Er sieht sich also nicht so sehr in der Rolle eines Priesters, der den Menschen den Weg in einen besseren Zustand weisen zu können glaubt, sondern (höchstens) in der Rolle eines Arztes, der zwar die Konsequenzen einer ungesunden Lebensweise nach dem ihm zur Verfügung stehenden Wissen analysieren kann, 14 15

Dies ist im wesentlichen die Position von Homann / Pies (1994). Zu einigen Einwänden vgl. die Ziffern (20) - (22).

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

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aber dem Patienten allenfalls einen hypothetischen Imperativ mit auf seinen Weg geben kann, einen Imperativ also, der dem Patienten bestimmte Dinge nur unter der Voraussetzung vorschreibt, daß der Patient bereits bestimmte Ziele hat. Und er ist skeptisch genug, um zu wissen, daß seine Ratschläge oft genug falsch oder unangemessen sind, da ihre kognitiven Voraussetzungen falsch sind. 16 Mit dieser Entscheidung, systematisch über Moral (und Ethik) zu sprechen und nicht selbst eine bestimmte Moral mit dem Anspruch auf allgemeine Zustimmung zu vertreten, steht er der metaethischen Tradition der Philosophie nahe. Er wird daher auch lieber von einer Ordmngstheorie oder einer InstitutionenÖkonomik als von einer Ordrmngsethik oder einer Institutionen^^»/: sprechen wollen. Der folgende Text verdeutlicht diese (hier nur einleitend skizzierte) Position: -

Der 2. Abschnitt untersucht die (unterschätzte) Rolle der Kritik in der Moraltheorie. Ich argumentiere auf der Basis einer syntaktisch begründeten Moralskepsis, daß wir aus der fallibilistischen Wende der Erkenntnistheorie die Konsequenz ziehen sollten, Versuche einer Moralbegründung zugunsten von Moralkritik aufzugeben.

-

Im 3. Abschnitt werde ich das Konzept einer pragmatischen Moralskepsis näher erläutern. Inwiefern trifft Poppers Ausspruch „Der Versuch, den Himmel auf Erden zu errichten, produziert stets die Hölle" auch für „moralisch begründete Empfehlungen" zu? Genauer: Welchen tatsächlichen Einfluß hat praktizierte „Moral" auf ein System, gemessen an den Maßstäben eben dieser Moral?

-

I m 4. Abschnitt schließlich werden einige Konsequenzen für die wirtschaftsethische Diskussion erörtert, die sich aus dem hier entwickelten Ansatz ziehen lassen.

16 Beispiele dafür wären der vor etwa 1985 gegebene Ratschlag, sich cholesterinarm zu ernähren, wenn man an einem langen Leben interessiert ist, und der Ratschlag bis etwa 1990, entweder streßfreier oder mit Magengeschwür zu leben.

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Π . Moral: Kritik oder Begründung? Eine Anmerkung zur Ethik des Kritischen Rationalismus „Der Vorteil einer ökonomischen Theorie der Moral liegt vor allem darin, die Moral nicht moralisch begründen zu brauchen." Birger P. Priddat 17

(3) Wie lassen sich unsere Auffassungen begründen? Seit Karl Popper in die moderne Wissenschaftstheorie die Unterscheidung zwischen Bewährung und Begründung eingeführt hat (Popper 1934/1984), vollzog (und vollzieht) sich eine veränderte Einschätzung unseres empirischen Wissens. Gesetze und Theorien, ja selbst Beobachtungen gelten nicht mehr als unbezweifelbare, sondern als fallible Bausteine unseres rationalen Weltverständnisses. Wir sind uns bewußt, daß jede empirische Aussage über die Welt fundamental falsch sein kann: Beobachtungen können auf Fehlfunktionen von Beobachtungsapparaten, Beobachtungstheorien oder Sinnesorganen beruhen, sie können außerdem falsch interpretiert werden. Zu allem Überfluß gibt es noch nicht einmal wahrheitsbewahrende Erweiterungsschlüsse: 18 Selbst wenn es unbezweifelbare Beobachtungstatsachen gäbe, so könnten wir aus ihnen dennoch keine ebenso unbezweifelbaren Gesetze und Theorien ableiten. Unsere theoretischen Aussagen bleiben also an eine endliche und schwankende Beobachtungbasis gebunden. Diese veränderte Situation hat eine veränderte Motivation unserer Forschung zur Folge: Wir sind an einer treffenden und zwingenden Kritik an geltenden Anschauungen interessiert; und wir versuchen, diesen geltenden Anschauungen neue empirische Tatsachen, Gesetze und Theorien, ja sogar neue Weltentwürfe entgegenzusetzen. Auch die Einschätzung der Rolle, die unsere Intuitionen im Prozeß des Wissenserwerbs spielen, hat sich gewandelt. Die klassische Erkenntnistheorie glaubte, die „Klarheit und Gewißheit" von Überzeugungen noch als Argument für die Wahrheit bestimmter Behauptungen ins Feld führen zu können. Die genauere Untersuchung der Wissenschaftsgeschichte hat jedoch gezeigt, daß

17

Priddat

(1994a), S. 62.

18

Vgl. dazu etwa Stegmüller (1971). Die Nicht-Existenz solcher Schlüsse gehört zu den vorläufig gelösten Problemen der Philosophie - wenigstens in dem Sinne, daß sie zur Zeit nicht mehr ernsthaft diskutiert werden, da man keine guten Argumente mehr für sie mobilisieren kann. Zu den im gleichen Sinne vorläufig gelösten Problemen der Philosophie gehören nach meiner Auffassung noch die Nicht-Existenz Gottes, die Nicht-Existenz eines freien Willens und die Nicht-Existenz zweier ontologisch verschiedener Substanzen. (Hier danke ich Wolfgang Buschlinger für die Ermunterung, das, was man denkt, auch auszusprechen.)

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Tabelle 1 Die Parallelität von Definitionstheorie, Axiomatik und Wertlehre 19 Ideen können sein:

Begriffe

Sie werden formuliert in

Wörtern.

Sie können

Bedeutung haben, Bedeutung Definitionen

und ihre kann durch auf zurückgeführt werden. Der Versuch, die letztgültig zu sichern, führt in das MünchhausenTrilemma, d. h. in einen unendlichen Regreß, bei dem man auf der Suche nach immer weiter zurückgeht, oder in einen logischen Zirkel, wobei man auf zurückgreift, die schon als aufgetreten waren (das ist logisch fehlerhaft), oder zu einem Abbruch des Verfahrens an einem willkürlichen Punkt, wobei bestimmte als „intuitiv klar" oder „evident" bezeichnet werden. Diese Haltung nennt man auch Der einzige Ausweg besteht darin, mit anzufangen, deren man hypothetisch annimmt, um zu prüfen, wie weit man damit kommt.

Aussagen

Normen

Wertungen

beschreibenden normativen Sätzen. Sätzen. wahr sein, gelten,

Werturteilen. gelten,

Grundbegriffe

Wahrheit logische Ableitungen Axiome

Geltung logische Ableitungen Grundnormen

Geltung logische Ableitungen Grundnormen

Bedeutung von Begriffen

Wahrheit von Sätzen

Geltung von Normen

Geltung von Werten

Definitionen

Beweisen

Begründungen

Begründungen

Begriffe definitionsbedürftig

Aussagen beweisbedürftig

Normen begründungsbedürftig

Wertungen begründungsbedürftig

Begriffe

Aussagen

Normen

Werte

Essenti alismus Dogmatismus (Theologie).

Naturrechtslehre.

Wertmetaphysik.

Undefinierten Begriffen Bedeutung

gesetzten Normen Geltung

gesetzten Werten Geltung

unbewiesenen Sätzen Wahrheit

19

Die Tabelle wurde mit leichten Veränderungen entnommen aus Vollmer (1985), S. 8 f. Zur Parallelisierung von Erkenntnistheorie und Ethik vgl. auch Engel (1995), S. 55.

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wissenschaftlicher (und allgemein intellektueller) Fortschritt sich oft gerade gegen bestimmte Intuitionen durchsetzen mußte. 20 Dementsprechend hat sich auch das Belohnungssystem in der Wissenschaft gewandelt: Unsere intellektuellen Bemühungen werden nicht mehr deshalb prämiiert, weil es uns gelungen ist zu zeigen, warum eine Kritik an unseren Auffassungen keinen Erfolg haben wird; sondern wir prämiieren, ganz im Gegenteil, erfolgreiche Versuche der Kritik. (4) Die Geltung moralischer Sätze nimmt nun im Vergleich mit empirischen Sätzen keine Sonderstellung ein: Auch moralische (und ethische) Sätze können letztlich nicht begründet, sondern nur kritisiert und (wenn unsere Kritik scheitert) bewährt werden (vgl. dazu Tabelle 1). Aber darin liegt kein Mangel: Auch eine fallibilistische Wissenschaftsauffassung scheitert nicht am Skeptizismus, nur weil sie einen Zusammenhang zwischen Kritik und Erkenntnisfortschritt (und nicht einen von Begründung und Erkenntnisfortschritt) nachweist. Anders gesagt: Obwohl wir unser Wissen nur durch Kritik und Neuentwurf verbessern können, bedeutet das nicht, daß wir heute nichts über die Welt wissen - im Gegenteil. In der gleichen Weise haben biologische und kulturelle Evolution auch zu einem Bestand an gegenseitigen Verhaltenserwartungen und moralischen Urteilsstandards geführt, die einen brauchbaren Führer durch viele Alltagssituationen liefern - obwohl solche Normen und Standards nicht letztbegründet werden können. (5) Wenn dies so ist, dann kann auch die Aufgabe der Moralphilosophie vernünftigerweise nicht darin bestehen, sich an einer solchen Begründung zu versuchen. 21 Das schadet aber nichts: Es bleiben ihr genug Aufgaben, von denen ich hier die zwei wichtigsten nennen möchte. Sie kann über die logischen Implikationen von Moral aufklären: Sind die normativen Aussagen, die sich aus einem System moralischer Behauptungen gewinnen lassen, alle miteinander vereinbar? Eine vergleichbare Frage stellen wir auch in der Wissenschaftstheorie: Behauptungen werden auf ihre interne Konsistenz geprüft. 20

21

Vgl. dazu etwa Popper (1963/1972); Lakatos und Musgrave (1974).

Einer der prominentesten Versuche in dieser Richtung bildet die sogenannte „Diskursethik" von Jürgen Habermas. Ihr liegt u. a. eine verfehlte Auffassung von den Leistungsmöglichkeiten von Theorien zugrunde. Zur Kritik vgl. Engel (1996). Aber auch außerhalb der Diskursethik sind diese Erwartungen anzutreffen. Vgl. etwa Müller et al. (1995), S. 133: „Was [...] sollte die von der Moralphilosophie erwartete Begründung moralischer Normen leisten? Nicht weniger als: durch Argumente eine Gewißheit herbeizuführen, die verlorengegangen oder erschüttert worden ist oder jedenfalls nicht besteht, die Gewißheit moralischer Überzeugungen."

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

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Sie kann über die faktischen Implikationen von Moral aufklären: Sind die faktischen Aussagen, die moralischen Urteilen zugrunde liegen oder von ihnen impliziert werden, wahr? Auch diese Frage wird in ähnlicher Weise in der Wissenschaftstheorie gestellt: Wir prüfen hier die externe Konsistenz von Aussagen einer Wissenschaft, also ihre Vereinbarkeit mit den Erkenntnissen anderer Disziplinen. Der Moralskeptiker wird in diesen Aufgaben ein kaum erschöpfbares Tätigkeitsfeld sehen. Er kann daher auch darauf verzichten, eine skeptizistische Haltung einzunehmen. Er unterscheidet sich vom Skeptizisten dadurch, daß er zur Frage, ob zu jeder moralischen oder moralphilosophischen Behauptung konsistent auch deren Gegenteil vertreten werden könnte, keine abschließende Stellung nimmt. Er bejaht diese These nicht generell - aber im Einzelfall prüft er schon aus heuristischen Gründen, ob nicht tatsächlich auch das jeweilige Gegenteil vertreten werden könnte, und was wir aus einer so veränderten Betrachtungsweise lernen können. 22 (6) Mit der Betonung der kritischen Funktion moralphilosophischer Reflexion steht der Moralskeptiker in der Tradition des Kritischen Rationalismus. Diese Tradition hat jedoch interessanterweise keine ausgearbeitete Ethik hervorgebracht; die Äußerungen der Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus zu Problemen der Moral und Ethik sind verstreut und unsystematisch, teilweise sogar widersprüchlich, so daß hier einige Anmerkungen zu einer fallibilistischen Ethik angebracht erscheinen. 23 (a) Karl Popper hat zu zwei wichtigen Gebieten bahnbrechende Arbeiten geliefert: zur Wissenschaftstheorie und zur Gesellschaftstheorie. Diese Beiträge sind durch einen Grundgedanken miteinander verbunden: Versuch und Irrtum bilden den einzigen Weg, auf dem wir unser Wissen und unsere Institutionen verbessern können. Um so auffallender ist es, daß er trotz seines gesellschaftstheoretischen Engagements kaum etwas zur Ethik publiziert hat. Nichtsdestoweniger verdienen gerade diese wenigen verstreuten Bemerkungen eine besondere Aufmerksamkeit; denn sie können vielleicht sogar erklären, warum Popper kein besonderes Interesse an einer (normativen) Ethik hatte. Popper trennt zwischen moralisch-praktischen, normativ-ethischen und metaethischen Problemstellungen. Praktische moralische Probleme stellen sich beim individuellen Handeln: „Soll ich χ tun?" Die hier wirksam werdenden 22

Zu Fallbeispielen vgl. die Ziffern (12) bis (17).

23

Hier verdanke ich Christoph Lütge wertvolle Hinweise. Vgl. dazu seine Magisterarbeit »Wirtschaftsethik und kritischer Rationalismus", Braunschweig (1996).

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und relevanten moralischen Bedenken sind und bleiben individuell und können nicht durch eine „normative science of morals" 24 ersetzt werden, die uns sagt, was wir tun sollen. Gegen alle (!) Versuche, das Gute mit Hilfe einer normativen ethischen Theorie inhaltlich zu bestimmen, läßt sich nämlich immer einwenden: „Was folgt daraus? Warum sollte ich mich damit beschäftigen?" 25 Die übliche Antwort: „Damit deine Mitmenschen dich nicht für einen schlechten Menschen halten" pariert Popper so: „Nur ein Liebhaber von Skandalgeschichten ist daran interessiert, die Menschen oder ihre Handlungen zu beurteilen; 'urteile nicht' - das ist für einige von uns eines der grundlegenden und viel zuwenig beachteten Gesetze einer humanitären Ethik." 2 6 Eine normativ verstandene Ethik stellt für Popper also keine wissenschaftliche Beschäftigung dar. Aber wir können, ohne diese „Gesetze einer humanitären Ethik" zu übertreten, wenigstens metaethische Betrachtungen anstellen. Folgerichtig bezeichnet Popper sein „Addendum: Tatsachen, Maßstäbe und Wahrheit" zur Offenen Gesellschaft 27 als einen „essay not on morality but on metaethics" 28 . Man kann nun fragen, ob sein Plädoyer für einen negativen Utilitarismus, für eine Ethik der individuellen Verantwortung oder für Werte wie Toleranz und Gewaltfreiheit 29 oder für die Wahrheit („der höchste der Werte" 30 ) im Rahmen einer rein metaethischen Position nicht entbehrlich wäre, zumal er in der Anwendung der erwähnten Werte keineswegs immer seinen eigenen Maßstäben genügt hat: Insbesondere die (moralische) Behandlung Hegels scheint mir mit ihnen nicht vereinbar zu sein. Jedenfalls schützt eine Konzentration auf metaethische Fragen vor moralischen Urteilen, die nur allzu oft unter dem Eindruck veränderter Einsichten zurückgenommen werden müssen: Sie begrenzt „moralischen Überschuß" 31 .

2 4

Popper (1974), S. 1157.

25

Popper (1992a); S. 293. Ganz ähnlich äußert sich Priddat (1994, S. 10): Erst wenn wir Moral von außen betrachten, also einen „a-moralischen Standpunkt" einnehmen, können wir entscheiden, ob wir ihr folgen sollen oder nicht. Bemerkt sei, daß auch diese Entscheidung nur individuell getroffen werden kann und selbst dann keine negativen Werturteile rechtfertigt, wenn wir mit einer getroffenen Entscheidung nicht einverstanden sind. Vgl. dazu den folgenden Text. 2 6

Popper (1992a); S. 293.

27

Popper (1992b), S. 460-493.

28

Popper (1974), S. 1156.

2 9

Popper { 1992a), S. 289 f.

30

Popper ( 1994), S. 284.

31

Priddat

(1994).

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Der kritische Dualismus von Tatsachen und Werten 32 qualifiziert Popper darüber hinaus als Non-Kognitivisten: Maßstäbe, Normen, Standards und Werte können nicht aus Aussagen über Tatsachen abgeleitet werden. 33 Aber wir können Tatsachen benützen, um Maßstäbe, Normen, Standards und Werte zu kritisieren; so können Absichten und Ziele „[...] miteinander konkurrieren und kritisch verglichen und diskutiert werden" 34 . Ein Beispiel dafür wäre die scheinbar so gut „begründete" Goldene Regel, die „[...] vielleicht noch verbessert werden kann, indem man andere, wo immer möglich, so behandelt, wie sie behandelt werden wollen" 3 5 . (b) Hans Albert 3 6 hat die logische Struktur des Münchhausen-Trilemmas als erster klar dargestellt und seine Anwendung auf ethische Probleme vorbereitet, wie sie in Tab. 1 zum Ausdruck kommt. Ethische Normen und empirische Theorien erhalten in dieser Perspektive gemeinsame logische Eigenschaften: Sie sind Vorschläge, die im Lichte des für sie relevanten empirischen (!) Wissens kritisch diskutiert werden können (und müssen).37 „Metaethik" ist daher für ihn mehr als nur eine sprachanalytische Untersuchung ethischer und moralischer Äußerungen: Sie ist eher der MetaWissenschaft analog. 38 Das Programm von „Konstruktion und Kritik" ermöglicht und erfordert es nach Auffassung Alberts daher, systematisch jene abweichenden Auffassungen von dem zu entwickeln, was als „moralisch" gilt - im Interesse verbesserter Problemlösungen. Ethik und Wissenschaftstheorie haben jedoch dieses Programm unterschiedlich konsequent verwirklicht. In der Wissenschaftstheorie gilt der Verzicht auf Wertungen, die Anwendung der kritischen Methode, die Betonung

32

Popper ( 1992b), S. 460.

33 34

Zum Non-Kognitivismus als einer metaethischen Position vgl. Kliemt (1987). Popper (1994), S. 285 f.

35

Popper (1992b), S. 480.

36

Albert (1968/1980), S. 14.

37 Vgl. dazu Albert (1972, S. 155): „Die Rolle der Begründung in der Ethik wirft offenbar ganz analoge Probleme auf wie die der Methoden in der Wissenschaft." Und an anderer Stelle: „Ebenso wie im Bereich der Wissenschaft wird der kritische Rationalismus auch im moralischen Bereich die prinzipielle Revidierbarkeit der in Frage kommenden Systeme fordern." (ebd., S. 163) Wenn man die Möglichkeit einer solchen Revision einräumen muß, fallen moralische Urteile über Personen, Zustände und Handlungen, wie wir sie so gerne vornehmen, schon deutlich schwerer.

38

Mit der Wissenschaft kann man sich unter historischen, psychologischen, soziologischen und ökonomischen Gesichtspunkten befassen; Metawissenschaft ist also nicht auf die Untersuchung (formaler) sprachlicher Strukturen beschränkt. Übrigens lassen sich auch der Ästhetik Aufgaben zuweisen, die der Metawissenschaft analog sind (Engel 1990). 6 Aufderheide/Dabrowski

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empirischen Wissens und die Anerkennung des Münchhausen-Trilemmas inzwischen als selbstverständlich. In der Ethik (und Wirtschaftsethik) dagegen scheint mir eine entsprechende Einstellung noch keineswegs in gleichem Maße anerkannt zu sein. Aber auch für die (normative) Ethik könnte sich Max Webers Ausspruch bewahrheiten, daß Wertungen lediglich zeigen, das volle Verstehen der relevanten Tatsachen aufgehört hat. 39 (7) Gegen die hier vorgenommene Parallelisierung von Metaethik 40 und Metawissenschaft (und demzufolge von Ethik und Wissenschaft als deskriptive Disziplinen) läßt sich einwenden, daß wir ja auch in der Wissenschaftstheorie nicht ohne Wertungen auskommen. Hier wollen wir wissen, welche Eigenschaften eine gute Theorie auszeichnen: Die Wissenschaftstheorie verhalte sich angesichts konkurrierender Theorien gerade nicht gleichgültig, sondern versuche, rationale Vorzugsregeln zu formulieren, die eine begründete (!) Theoriewahl erlauben. Und sieht ein solches Programm nicht dem analogen Programm einer normativen Ethik zum Verwechseln ähnlich, ein Programm, das ebenfalls zu einer begründeten Wahl zwischen moralischen Handlungs- oder Regelalternativen gelangen will? In der Tat - hier läßt sich leicht etwas verwechseln. Zunächst: Eine naturalistische Erkenntnistheorie stellt Fakten über unser Wissen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen; sie fragt nicht: „Was ist unbezweifelbar wahr und kann eine verläßliche Orientierung für unser Handeln abgeben?" Sie fragt vielmehr: „Welche der verschiedenen angebotenen Theorien der Erkenntnis ist vergleichsweise die beste?" Sie formuliert also Vorzugsrcge\n t die nicht zeigen, warum die eine Theorie wahr und die andere falsch ist, sondern die nur zeigen können, warum die eine Theorie einer anderen im Lichte bestimmter ZielsetVgl. Weber (1922/1988), S. 602. Zu empirischen Belegen für diese These vgl. Ziffer (12)-(17). Daß es gerade bei moralischen Urteilen substantiell um Wertungen geht, hat besonders klar Ulrich Pothast herausgestellt: „Ich halte es für unbezweifelbar, daß diese sozialen Reaktionen, wie man sie faktisch vorfindet, in der Regel nicht bloße Meinungsäußerungen oder bloße Steuerungsmaßnahmen sind, die die Person, auf die sie angewandt werden, als Person nicht treffen sollen. Vielmehr ist ihnen gemeinsam eine Modifikation der Haltung gegenüber dem, der gehandelt hat: Tadeln heißt mehr als nur sagen, daß man der Meinung sei, diese Person hätte anders handeln sollen; es heißt zusätzlich, diese Person in einem negativen Licht sehen und ihr gegenüber das zum Ausdruck bringen." (Pothast 1980, S. 25) Und es heißt außerdem (so würde ich Pothast ergänzen), die Stimmung Dritter gegen diese Person zu mobilisieren. 40

Den Begriff „Metaethik" können wir mit Frankena (1963/1986, S. 12) folgendermaßen abgrenzen: „Während es in der normativen Ethik um die Ermittlung der allgemeinen Prinzipien moralisch richtigen Handelns geht, fragt die Metaethik nach Bedeutung und Verwendung moralischer Begriffe und Urteile." Den pragmatischen Moralskeptiker interessieren vor allem die Verwendung solcher Begriffe und Urteile in konkreten Situationen und die mit dieser Verwendung verbundenen Konsequenzen.

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zungen vorgezogen werden sollte. Ob jedermann diese Zielsetzungen teilen sollte oder ob diese Zielsetzungen unbezweifelbar „gut" sind, wird nicht verlangt. Logisch betrachtet, erfolgt die „Wertung" innerhalb der Metawissenschaft also auf der Basis von hypothetischen Imperativen: Wenn du dich entschlossen hast, bestimmte Ziele anzustreben, dann solltest du darauf achten, daß deine Theorie empirischen Gehalt hat, daß sie externe und interne Konsistenz aufweist oder andere vorzugswürdige wissenschaftstheoretische Eigenschaften besitzt. Über ihre „Wahrheit" im emphatischen Sinne ist damit noch gar nichts ausgesagt. Eine naturalistische Erkenntnistheorie ist außerdem kritisch, nicht affirmativ; sie sagt den Menschen nicht, was sie glauben sollen, sondern eher, was sie lieber nicht glauben sollten. Ganz analog kann eine naturalistisch (oder realistisch) orientierte Moralphilosophie fragen: „Welche der angebotenen Theorien der Moral ist vergleichsweise die beste?" (Nicht: „Was ist unbezweifelbar gut und kann eine verläßliche Orientierung für unser Handeln abgeben?") Eine naturalistische (oder realistische) Moralphilosophie 41 wird also auch kaum eine „praktische Ethik" sein können; 42 sie will ja die Welt nicht verbessern, sondern verstehen, sie ist also deskriptiv, nicht normativ; sie ist gleichzeitig kritisch, nicht affirmativ; und sie beantwortet die Frage „Wozu Moral?" nicht, um den Menschen bestimmte Handlungen nahezulegen, sondern um sie aufzuklären. Eine strenge Parallelisierung von Metaethik und Metawissenschaft zeigt, daß wir auch ethische Vorzugsregeln als hypothetische Imperative auffassen können. Wir haben damit allen Grund, mit Homann und Pies 43 von der doppelten Fallibilität der modernen (Wirtschafts-) Ethik auszugehen: Wir können irren in bezug auf das positive Wissen, das wir von der Realität zu haben glauben; und wir können irren in bezug auf die Moralität von Zielen, die sich plötzlich als völlig unangemessen herausstellen können. Ihr Programm lautet daher folgerichtig auch „Erkenntnisfortschritt durch Kritik" 44 (Hv. von mir). (8) Es ist nun keineswegs überflüssig, an die prinzipielle Unmöglichkeit der Begründung moralischer Normen zu erinnern. Zwar wird gelegentlich mehr oder weniger deutlich eingestanden, daß das „Projekt der Aufklärung [...] an 41

Die Aufgaben einer realistischen Moralphilosophie diskutiert Vollmer (1986) und (1993), S. 106 f. Eine realistische Ethik beschreibt, erklärt, prognostiziert; sie untersucht Stabilität, Lehrbarkeit und Verständlichkeit von Normensystemen - und, so würde ich hinzufügen, sie enthält sich eines Urteils. 4 2 Vgl. dazu etwa Singer (1979/1984). 43

Homann / Pies (1994), S. 9.

44

Homann/Pies

(1994), S. 9.

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der rationalen Rechtfertigung von Moral scheiterte" 45 ; anders formuliert: Wir mußten einsehen, daß es auch in der Ethik eine Asymmetrie zwischen Begründung und Kritik gibt. Aber überraschend viele Autoren sympathisieren immer noch mit einem Programm der Moralbegründung. Als Beleg seien nur einige Kritiken an Homann und Pies (1994) angeführt: -

Brause und Rath 46 bemängeln, daß das von Homann und Pies vertretene Konsensparadigma „[...] der Diskussion zur Normfindung, Normbegründung und Normdurchsetzung nicht gerecht [...]" wird,

-

Kettner 47 unterscheidet faktische Geltung und normative Gültigkeit; eine Norm Ν sei dann gültig (und nicht nur geltend ), „[...] wenn wir allgemeinverbindlich begründen können, daß Ns Anspruch (auf Geltung [...]) berechtigt ist [...]".

-

Kliemt 4 8 vermißt eine Untersuchung, darüber, „[...] ob sich moralische Normen in einer Weise begründen lassen, die die Rede von einer 'ökonomischen Theorie der Moral· auch im normativen Sinne rechtfertigt";

-

Kreß 49 , bemängelt, daß Homann und Pies „die Thematik kultureller, weltanschaulicher und religiöser Begründungen von Handlungsnormen" beiseiteschieben,

-

für Peter Ulrich besteht der „Sinn universalistischer Normenbegründung" gerade darin, das „unbedingte Moment" moralischer Normen gegen ihre „empirischen Durchsetzungsbedingungen" zur Geltung zu bringen 50 ;

-

nach Druwe 51 ist für die Ethik gerade eine moral begründende Reflexion charakteristisch;

-

und Osterloh und Tiemann stellen fest: „Nach Auffassung des ethischen Kognitivismus gibt es kategorisch gerechtfertigte Normen, die sich rational begründen und verteidigen lassen. Zu dieser Richtung zählt zweifellos die Diskursethik, aus deren Position heraus hier argumentiert wird." 5 2

45

Druwe {1994), S. 21.

4 6

Brause /Rath (1994), S. 18.

4 7

Kettner (1994), S. 38.

48

Kliemt (1994), S. 42.

4 9

Kreß (1994), S. 47.

5 0

Ulrich (1994), S. 79.

51

Druwe (1997), S. 273.

52

Osterloh / Tiemann (1994), S. 60. Leider teilen uns die Autorinnen kein Beispiel für eine solche Norm mit, so daß wir ihre Behauptung nicht überprüfen können.

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Es fällt auf, daß die Beiträge eine Konkretion dieser angeblich begründbaren Normen vermeiden: Was genau wir tun sollen, steht nicht fest. „Hilf anderen!" oder „Denke bei deinen Handlungen ans Gemeinwohl!" sind, wie ich weiter unten zeigen werde, jedenfalls keine guten Kandidaten für solche Normen. Aber was in der Logik gilt, gilt nicht auch schon in der Psyche: Das Bedürfnis nach Moralbegründung ist offenbar größer als die objektive Leistungsfähigkeit von Begründungsstrategien. Man kann mit Popper darüber spekulieren, warum dies so ist; man könnte etwa annehmen, daß das Bestreben, Moral zu „begründen", auf der weiterhin andauernden Unfähigkeit beruht, die Last der Zivilisation zu tragen - die Last, die moralischen Grundsätze letztlich selbst wählen und verantworten zu müssen, nach denen man lebt, und die dem einzelnen Menschen weder durch die Stammesgeschichte noch durch die Gesellschaft, weder durch die Tradition noch durch die Religion abgenommen werden kann - und erst recht nicht durch die Vernunft.

Ι Π . Grandzüge pragmatischer Moralskepsis „Ich erbiete mich, [...] den Nachweis zu führen, daß wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, das volle Verstehen der Tatsachen aufhört. " Max Weber 5 3

(9) Was ist nun pragmatische Moralskepsis? Ein pragmatischer Moralskeptiker zu sein bedeutet nicht, daß man aus opportunistischen Gründen der Moral (und ihrer Begründbarkeit) skeptisch gegenübersteht. Der Sinn des Begriffes „pragmatisch" bezieht sich vielmehr auf die Unterscheidung zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik, wie sie Rudolf Carnap (1942) und Charles Morris (1946/1981) vorgenommen haben. Wenn wir eine Sprache in diesem Sinne unter einem pragmatischen Aspekt betrachten, dann beziehen wir auch den Sprecher als konkretes Individuum sowie die jeweiligen Umstände, unter denen der Sprecher agiert, mit in die Betrachtung ein. Hingegen sehen wir von der pragmatischen Ebene ab, wenn wir uns nur noch für die Bedeutung und die Referenz der Sprache, also für ihre Semantik interessieren; und sehen wir auch noch von der Bedeutung der verwendeten Ausdrücke ab,

53

Weber (1922/1988), S. 602.

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dann haben wir es mit der Syntax einer Sprache zu tun. Die obige Analyse des Münchhausen-Trilemmas bewegte sich also auf der Ebene der Syntax: Unabhängig davon, welche Ausdrücke man in eine Begründungskette einfügt, endet ein Begründungsversuch im Münchhausen-Trilemma. Ich werde nun im nächsten Schritt den Begriff der Moral etwas näher erläutern. Wir können seine wesentlichen Elemente wie folgt definieren: a) Moral beansprucht kategorischen Vorrang vor anderen (zum Beispiel ökonomischen oder psychologischen) Überlegungen. b) Moral sanktioniert Handlungen oder Eigenschaften mit dem Mittel moralischer Verurteilung, d. h. sie bewertet Menschen und/oder ihre Handlungen. c) Und Moral tut dies mit dem Anspruch auf universelle Geltung: Jeder Mensch unterliegt ihrem Richtspruch. d) Eine oft für wesentlich gehaltene, aber systematisch nicht erforderliche 54 Komponente der Moral ist außerdem noch der Altruismus , d. h. die Tendenz, eigenes Verhalten an den Interessen anderer und nicht am eigenen Interesse auszurichten. Wenn wir dies (für unsere Zwecke) unter ,»Moral" verstehen, dann lauten einige der kritischen Hypothesen des Moralskeptikers folgendermaßen: 55 a) Der Beitrag von ,»Moral" zum Funktionieren von sozialen Gruppen ist bei weitem nicht so klar, wie oft (und insbesondere von Moralphilosophen) unterstellt wird. Moral sollte daher nicht unbesehen als unabhängige Variable akzeptiert werden, wenn es gilt, die Funktionsfähigkeit und Stabilität einer Gesellschaft oder die Zufriedenheit ihrer Mitglieder zu erklären. b) Für den Moralskeptiker ist die Moral ein Phänomen wie jedes andere in dieser Welt auch: Er untersucht es, um es zu verstehen und zu erklären. Das bedeutet vor allem: Der pragmatische Moralskeptiker sieht Moral als heteronom an: Die Umstände determinieren die jeweils gelebte und/oder vertretene Moral, nicht umgekehrt. c) Wenn man an der behaupteten Funktion und der Autonomie von Moral zweifelt, so hat dies Konsequenzen für die angewandte Moral: Unter diesen Voraussetzungen können moralische Appelle Gruppen oder Gesellschaften

54

Dies zeigt Rippe (1993), S. 77-95.

55

Diese Thesen sind ausführlicher entwickelt in Engel (1997).

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nicht stabilisieren. Entsprechende Appelle sind dann allenfalls ein Symptom, keine Therapie. d) Selbst wenn es den Philosophen gelänge, trotz aller logischen Bedenken „gültige" moralische Prinzipien zu formulieren, und selbst wenn es ihnen außerdem gelänge, nach der Bewältigung verschiedener logischer Probleme aus diesen Prinzipien auch spezifische Normen zu gewinnen, dann folgte daraus nicht, daß die Menschen solche Normen auch annehmen würden. Die theoretische Begründbarkeit einer Norm allein impliziert nicht ihre soziale Geltung. e) Aus der Prämisse in (4.) folgt ebenfalls nicht, daß die Menschen solche „begründeten" Normen auch annehmen sollten: Die Begründbarkeit einer Norm impliziert nicht ihre Legitimität. 56 f) Aus der Prämisse in (4.) folgt auch nicht, daß eine von den jeweiligen Normen oder Prinzipien geleitete Praxis im Sinne dieser Normen und Prinzipien auch erfolgreich sein müßte, also ohne weiteres dazu führt, daß die Welt in ihrem Sinne „besser" würde. g) Moralische Wertungen und Empfehlungen signalisieren, daß man begonnen hat, auf das volle Verstehen der Tatsachen zu verzichten. Natürlich weiß auch der Moralskeptiker, daß Gesellschaften nicht „funktionieren" können, wenn ihre Mitglieder nicht bestimmte Normen einhalten. Aber der Rede von „Normen" (statt von „Moral") fehlt sowohl die wertende Komponente als auch die universelle Verbindlichkeit - zwei Eigenschaften, die wir oben gerade als charakteristisch für ,»Moral" bestimmt haben. Und da der Moralskeptiker ohnehin eher an Tatsachen als an Wertungen interessiert ist, und weil er nicht an die Existenz von Werten glaubt, die für alle Menschen verbindlich sein könnten, ist er mit Norbert Hoerster 57 „... bereit, auf die Verwendung der Ausdrücke 'Moral' oder selbst 'Minimalmoral' zu verzichten ...", wobei er einräumt, daß sich „[...] einige wichtige soziale Normen - man nenne sie im übrigen, wie man wolle - weitestgehend intersubjektiv begründen lassen" 58 , Normen, wie sie für das Funktionieren von (nichtanarchischen) Gesellschaften wichtig sind. Aber auch diese Begründung ist natürlich hypothetisch: Wenn man die Anarchie überwinden will, dann ist es

56 Man kann auch in einer solchen (kontrafaktischen!) Situation immer fragen: Selbst wenn du recht hättest - warum sollte ich mich danach richten? 57

Hoerster (1983), S. 236.

58

Hoerster (1983), S. 236.

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(sozusagen aus technischen Gründen) erforderlich, die Normen χ-ζ zu akzeptieren. (10) Vor allem der letzte Grund ist es, der den pragmatischen Moralskeptiker sehr stark mit der Hobbesschen Anthropologie und Sozialphilosophie sympathisieren läßt. Nach seiner Auffassung hat Hobbes zwei wesentliche Schritte über das aristotelische Weltverständnis hinaus getan: Er hat den Menschen als ein im Sinne der zeitgenössischen Naturwissenschaft determiniertes Lebewesen gesehen, und er hat die gleiche Moral aller (den Fluchtpunkt der aristotelischen Auffassung von Politik) ersetzt durch die gleiche Freiheit aller. 5 9 Hobbes verstörte seine Zeitgenossen mit einer radikalen These: Der Mensch ist eine Maschine. „Die Natur [...] wird durch die Kunst des Menschen wie in vielen anderen Dingen so auch darin nachgeahmt, daß sie ein künstliches Tier herstellen kann. Denn da das Leben nur eine Bewegung der Glieder ist, die innerhalb eines besonders wichtigen Teils beginnt - warum sollten wir dann nicht sagen, alle Automaten (Maschinen, die sich selbst durch Federn und Räder bewegen, wie eine Uhr) hätten ein künstliches Leben? Denn was ist das Herz , wenn nicht eine Feder , was sind die Nerven , wenn nicht viele Stränge , und was die Gelenke , wenn nicht viele Räder , die den ganzen Körper so in Bewegung setzen, wie es vom Künstler beabsichtigt wurde?" 60

Natürlich würden sich heutige Anthropologen, Ökonomen, Soziologen und Psychologen anders und differenzierter ausdrücken - aber die Distanz zum Cartesianismus unseres alltäglichen Selbstverständigungsprozesses („Der Geist steuert den Körper") ist inzwischen noch weiter gewachsen. Viele Wissenschaften, insbesondere die Physik, sind zwar vom Materialismus des 16.19. Jahrhunderts abgerückt; aber das geschah, weil wir die Suche nach Ursachen nicht aufgegeben, sondern verfeinert haben. Unser Bemühen, die Ursachen von Ereignissen zu finden (zu denen, von einem naturalistischen Standpunkt 61 aus gesehen, auch Handlungen gehören!), bleibt dabei unangetastet; ja - dieses Bemühen konstituiert die Wissenschaft. Diese materialistische Auffassung stellt nicht nur eine erhebliche Distanzierungsleistung von alltäglichen Vorstellungen dar; sie hat auch Folgen für die Interpretation der moralischen Sprechweise. Wenn etwa jemand (nennen wir

59

Die Konsequenzen hieraus arbeiten in überzeugender Weise Homann und Pies (1993) heraus. 6 0 Hobbes (1634/1992), S. 5. 100 Jahre später erst veröffentlichte Julien Offray de LaMettrie (1748/1985) ein Buch („Der Mensch als Maschine"), welches das durch Hobbes initiierte Forschungsprogramm programmatisch zusammenfaßte und popularisierte. 61

Über den Naturalismus informiert Vollmer (1995).

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ihn X) sagte: „Dieser Mensch Y handelt moralisch verwerflich", dann müßten wir das mit Hobbes etwa so übersetzen: „Hier gibt es eine Person X, die die Handlungsweise der Person Y nicht billigt." Über die „moralische" Qualität dieses Vorwurfs kann man sich nicht wissenschaftlich seriös äußern. Man kann höchstens zu erklären versuchen, warum dieses Urteil oder die betreffende Handlung zustande kam. In eine deskriptive Sprache übersetzt müßten wir also auf einen entsprechenden „moralischen Vorwurf 4 so reagieren: „Hier gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, wie (andere) Menschen sich verhalten sollten. Beachte die hier deutlich werdende Konfliktursache bei der Konstruktion der Grundsätze, nach denen du deine Gesellschaft zusammenfügen willst!" „Gut" und „böse" sind seit Hobbes daher keine absoluten, sondern relative Qualitäten: Es gibt Menschen, die bestimmte Dinge oder Handlungen mögen oder nicht mögen; sie bezeichnen sie also als „gut" oder „schlecht", weil sie damit neben ihrer Einstellung auch eine Empfehlung ihrer kollektiven Durchsetzung oder Abschaffung zum Ausdruck bringen wollen. Bestimmte Handlungen oder Dinge sind nicht einfach gut oder schlecht, sondern die Einstellung der Menschen zu diesen Handlungen und Objekten ist durch Aversion oder Appetenz, durch Abneigung und Zuneigung gekennzeichnet; es gibt nach Hobbes „[...] keine allgemeine Regel für Gut und Böse, die aus dem Wesen der Objekte selbst entnommen werden kann." 6 2 Was wie eine allgemeingültige Regel aussieht, ist bloß eine Übereinstimmung menschlicher Interessen aus kontingenten Gründen. Da beispielsweise (nahezu) jeder ein Interesse (!) an seiner Selbsterhaltung hat, betrachten viele (nicht alle) Menschen den Tod als eines der höchsten Übel, das sie daher vermeiden wollen. (11) Die für die Erreichung dieses und anderer Ziele geeigneten Regeln zu finden ist nun Aufgabe der Hobbesschen Friedenswissenschaft. Sie kann (und muß!) als Wissenschaft die Determination menschlicher Handlungen damit voraussetzen. Sie ist nicht (wie die Ethik) auf die höchst umstrittene Voraussetzung freien Willens angewiesen. Denn selbst in der gesellschaftlichen Praxis (und auf sie verweist der pragmatische Moralskeptiker natürlich besonders gern) gehen wir davon aus, daß Regeln und (juristische) Gesetze wissenschaftlich erklärbare Ergebnismuster hervorbringen. Wäre dies nicht so, dann wäre eine Diskussion über die gesellschaftliche Etablierung von Regeln pragmatisch sinnlos; wir könnten, wenn wir den Gedanken der Willensfreiheit wirklich ernst nähmen, nicht prognostizieren, wie sich die Menschen nach der

6 2

Kersting (1992), S. 68. Vgl. dazu Hobbes (1634/1992), S. 6 und S. 41.

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Einführung einer Regel oder eines Gesetzes verhalten werden. 63 Und ähnliches gilt auch für unsere persönliche Praxis: 64 Wir erwarten beim persönlichen Umgang mit anderen Menschen, daß sie sich uns gegenüber auf eine voraussagbare (und erklärbare) Weise verhalten. Zwar benutzen auch Deterministen gelegentlich „moralische" Appelle und Argumente; aber sie wissen, daß solche Appelle höchstens ein empirischer Test für die Empfänglichkeit des Adressaten für unsere Wertvorstellungen und für seine Bereitschaft sein können, bestimmten Regeln zu folgen - und diese Bereitschaft wiederum steht einer wissenschaftlichen Erklärung offen. Hobbes' philosophisches Programm beinhaltet also einen doppelten Reduktionismus: einen empirischen Reduktionismus, der die Sprache des Bewußtseins und der mentalen Aktivitäten auf eine Sprache der Körper und der Bewegungen (also auf Natur- bzw. Sozialwissenschaft) zu reduzieren versucht, und einen normativen Reduktionismus, der die Sprache der Moral und der nicht-deskriptiven Ethik auf die Sprache der Interessen, Wünsche und empirischen Gegebenheiten zurückführen will. In hobbesscher Perspektive zieht der Fortschritt der Wissenschaften normativen Betrachtungen also immer engere Grenzen. 65 Wenn man also im Sinne der Hobbesschen Friedenswissenschaft die Wünsche der am sozialen Leben Beteiligten ernst nimmt, dann ist nicht die gleiche Moral aller, sondern die gleiche Freiheit aller der systematische Bezugspunkt einer zeitgemäßen Moralphilosophie. 66 Freiheit ist im Rahmen einer so ver-

63

Die Einführung eines freien Willens würde auch institutionenökonomische Fragestellungen (Pies 1993) entwerten. 64

In gleichem Maße, wie wir wissenschaftliche Erkenntnisse über die Ursachen von Verhalten rezipieren, verändert sich auch unsere Einschätzung des Verhaltens unserer Mitmenschen. 65 Ethik wird bei Hobbes (1655/1967, S. 61) folgerichtig zur Psychologie, bei ihm noch „Ethik" genannt. Er schreibt: „Nach der Physik muß die Ethik behandelt werden, in der wir die Bewegungen des Geistes betrachten, nämlich Begierde, Abneigung, Liebe, Wohlwollen, Hoffnung, Furcht, Zorn, Eifersucht, Neid usf.; welches ihre Ursachen sind, und was sie selbst verursachen. Der Grund, warum diese Seelenregungen nach der Physik untersucht werden müssen, ist der, daß sie ihre Ursachen in den Wahrnehmungen und Vorstellungen haben, die beide Gegenstand physikalischer Untersuchung sind." Hobbes reduziert also Moral auf Physik bzw. (in beutige Sprechweise übersetzt) auf andere geeignete Wissenschaften. Dies ist dann nicht zu kritisieren, wenn die gelieferten Erklärungen gelungene Erklärungen sind, wenn sie also die uns interessierenden Phänomene auf metatheoretisch befriedigende Weise erklären. 6 6 Damit ist eine Moralphilosophie gemeint, die die Tatsachen der Moderne zur Kenntnis nimmt: den Zerfall des traditionalen Wertekonsenses, die Pluralität der (mit John Rawls gesprochen) Lebenspläne und Lebensorientierungen, und die sinkende Bedeutung der Verhaltenskoordination durch Werte sowie die steigende Bedeutung der Verhaltenskoordination durch Regeln. Vgl. dazu Homann / Pies (1994), S. 7 f. Dies vorausgesetzt, ist es nur konsequent, wenn die Autoren in (1993) zur Begründung eines modernen Liberalismus an Hobbes anknüpfen.

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

91

standenen Moralphilosophie natürlich ebenfalls kein letztbegründeter Wert: Sie ist ein strukturelles Mittel, das wir benötigen, um unsere inhaltlichen Wünsche erfüllen zu können. (12) An einigen Beispielen sei hier nun diskutiert, wie sich die vom Moralskeptiker beanstandete Flucht vor den Fakten auswirkt. Wir wollen also vor dem „... Teufel nicht - die Flucht ergreifen [...], wie es heute so gern geschieht ,.." 6 7 , sondern uns fragen, ob man bei offenbar weithin akzeptierten moralischen Geboten nicht auch ebenso gut deren Gegenteil vertreten könnte. Die drei Beispiele sind: (1)

Du sollst Mehrweg- statt Einwegflaschen kaufen.

(2)

Du sollst den Entwicklungsländern Hilfe leisten.

(3)

Du sollst ökologisch motivierten Verzicht üben.

Die vom Moralskeptiker betrachteten abweichenden Imperative sind demnach: ( Γ ) Du darfst, wenn du das willst, natürlich auch Einwegflaschen kaufen. (2') Du bist in keiner Weise verpflichtet, den Entwicklungsländern Hilfe zu leisten. (3') Ökologischer „Verzicht" (was immer das genau heißen mag) ist eine moralisch nicht privilegierte Handlungsweise. Man beachte, daß die Gebote (1) - (3) mit den Geboten ( Γ ) - (3') nur moralisch, nicht instrumentell äquivalent sind. Der Unterschied liegt in folgendem: Insofern sie moralisch äquivalent sind, rechtfertigt ihre Übertretung bzw. Befolgung keine moralische Verurteilung, und sie können auch nicht besser begründet werden als ihr jeweiliges Gegenteil. Insofern sie instrumentell äquivalent wären, könnte man handeln, wie man wollte, und erreichte doch immer das angestrebte Ziel - was natürlich nicht stimmen kann. Aber da die genannten Gebote ohnehin keine zielführenden Formulierungen enthalten (ein für moralische Gebote nicht untypischer Mangel), kann man über ihre instrumentelle Äquivalenz nichts aussagen.

67

Weber (1922/1988), S. 609.

92

Gerhard Engel

Beginnen wir mit dem ersten Beispiel. Nach Hegselmann68 befinden wir uns in einer charakteristischen Gefangenendilemma-Situation (PD-Situation), wenn wir vor der Wahl stehen, Mehrweg- oder Einwegflaschen zu kaufen. Eine PD-Situation ist dies insofern, als die individuellen Anreizstrukturen (bequemerer Gebrauch der Einwegflasche) das kollektiv erwünschte Ergebnis (keine oder kleine Müllberge) nicht Zustandekommen lassen. Moral könnte nach Hegselmann hier ihre seit Kant angestammte Funktion ausüben, nämlich Dilemmasituationen durch Veränderung der Spielzüge in Richtung auf das kollektiv erwünschte Ergebnis entschärfen. Und er erwartet „verheerende Konsequenzen",69 wenn man nicht entsprechend handelt und sich dennoch für Einwegflaschen entscheidet. Schon wegen dieses Werturteils stellt der pragmatische Moralskeptiker die Frage: Ist es wahr, 70 daß sich solche „verheerenden Konsequenzen" einstellen würden? Eine Antwort auf diese Frage verlangte eigentlich, reale Zusammenhänge in den Blick zu nehmen - was in Hegselmanns Analyse nicht geschieht. Ist zum Beispiel die Öko-Bilanz einer Einwegflasche um so viel schlechter als die einer Mehrwegflasche, daß hier mit dem Mittel moralischen Druckes gearbeitet werden dürfte? Wir erfahren es nicht. Können „Müllberge" nicht auch positive Funktionen haben? Sie lassen beispielsweise Arbeitsplätze bei der Müllsortierung entstehen oder regen zu Innovationen der Verpackungsindustrie oder bei der Abfallbeseitigung an. Natürlich erfordert das entsprechende Investitionen, die letztlich vom Verbraucher zu zahlen sind. Aber ich sehe nicht, inwiefern der Kreislauf von Investitionen und Konsum ein besonderes moralisches Problem darstellt: Die Wahl der Methode der Abfallbeseitigung ist eine völlig α-moralische Angelegenheit. Sie folgt zum einen aus dem Kaufverhalten der Menschen und zum anderen aus der Akzeptanz von „Müllbergen", die wiederum eine Funktion von Raumknappheit und kulturellen Gewohnheiten ist.

6 8

Hegselmann (1988), S. 9 f.

69

Vgl. Hegselmann (1988), S. 9. Interessanterweise finden wir für diese Befürchtung keine empirischen Belege, wohl aber eine Vielzahl von spieltheoretischen Modellen. Mit anderen Worten: Hegselmann treibt Mathematik, beschäftigt sich aber nicht mit der Wirklichkeit - ein selbst bei ökonomisch orientierten Autoren leider nicht unübliches Verfahren. Zur Unterscheidung zwischen der Verwendung der Mathematik in beweisenden und empirischen Wissenschaften vgl. Popper (1984), S. 318 f. sowie Schwartz (1962). 7 0

Zu dieser Frage vgl. neuerdings Wildavsky

(1995).

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

93

In der Realität finden wir nun Menschen, die „defektieren", sich also nach den Modellannahmen der Spieltheorie „unmoralisch" verhalten; 71 für sie sind die Opportunitätskosten eines Mehrwegflaschentransports größer als die Entsorgungskosten von Einwegflaschen. Ihr Verhalten schafft und erhöht die Anreize, nach Techniken der Abfallbeseitigung zu suchen. Und es gibt Menschen, für die die Opportunitätskosten eines Einwegflaschen-Kaufes samt der Entsorgung größer sind als die eines Mehrwegflaschentransports. Folgerichtig kursiert Glas in Mehrwegsystemen und in Recycling-Systemen. Ich wüßte nicht, welche Lösung „moralisch" genannt zu werden verdiente und daher die Abwertung von Menschen rechtfertigen könnte, die es wagen, Einwegflaschen zu kaufen. Sollte man es den Menschen nicht selbst überlassen, welche Güter sie bevorzugen? Kurz: Die Abfallbeseitigung ist keine Frage der Moral, sondern der Effizienz angesichts bestehender Präferenzen und bestehender Techniken; moralische Appelle sind überflüssig. Mehr noch: Schon Mandeville erkannte, daß wir gut daran tun, die behaupteten Übel dieser Welt erst einmal daraufhin zu untersuchen, welche tatsächlichen, möglicherweise positiven Funktionen sie in ihr tatsächlich erfüllen. Und dabei ist auch die ecological correctness kein guter Führer. 72 (13) Bedeutsamer ist das zweite Beispiel. Der australische Philosoph Peter Singer (1993/1994) fordert uns dazu auf, den unterentwickelten Ländern der „Dritten Welt" massive und bedingungslose Entwicklungshilfe zu leisten. Singer (und dies ist für den Moralskeptiker ein wichtiger Fortschritt) beschäftigt sich nicht, wie Hegselmann, nur mit Mathematik und reiner Philosophie, sondern schenkt auch der Wirklichkeit eine ihr gebührende Aufmerksamkeit. Nach einem Blick auf bestimmte empirische Tatbestände (Kindersterblichkeit, Lebenserwartung, Zahl der durchschnittlich verfügbaren Kalorien, Analphabetenrate, Proteinversorgung, Bruttosozialprodukt) stellt Singer fest: „Das Problem besteht nicht darin, daß die Welt nicht genug produzieren kann, um die auf ihr lebenden Menschen zu ernähren und zu behausen.[...] Das Problem [ist] im wesentlichen eher eines der Verteilung als der Produktion [...] Die Welt produziert genügend Nahrung." 73

71 Den Übergang von modelltheoretischen Annahmen zu moralischen Werturteilen kritisiere ich ausführlicher in Engel (1997).

72

Wenn man von der oben (S. 3) behaupteten Heteronomie von Moral und ihrer Begründung ausgeht, dann kann die Wahl des Beispiels (Einwegflaschen) im Zeitalter der Umweltsensibilitäten allerdings kaum überraschen. Aber das ökologisch Korrekte ist bei weitem nicht immer auch das ökologisch Vernünftige (Lehr 1992; Engel 1994 und 1995a). 7 3 Singer (1993/1994), S. 280 f.

94

Gerhard Engel

Es gibt also kein Ressourcenproblem, sondern ein moralisches Problem. Es besteht nach Singer darin, daß wir in der Praxis 74 offenbar nicht die moralische Verpflichtung anerkennen wollen zu helfen. Die Entwicklungshilfe der Industrieländer stagniere seit Jahren zwischen 0,1 % und 0,7 % des BSP - mit sinkender Tendenz. 75 Aber wir geben, so Singer, demgegenüber beispielsweise 5 % für Alkohol und die Beseitigung der Folgeschäden aus. Und wir konsumieren lieber Feinschmeckerkäse und bevorzugen Luxuskonsum wie CompactDiscs oder gehen in Streichquartett-Konzerte, statt den Armen dieser Welt ihr Existenzminimum zuzugestehen. Unsere individuellen Konsumentscheidungen schaden den Armen aber nicht nur in dem Sinne, daß mit dem Kauf von Gütern die finanziellen Ressourcen schwinden, die man an die Armen spenden könnte. Zusätzlich gibt es noch strukturelle Gründe, die das Problem für die Armen verschlimmern: Unser Fleischkonsum 76 etwa führt über die Getreidefütterung und die Verwendung von Anbauflächen für die entsprechende Getreideproduktion zu einer (im Weltmaßstab gesehen) Verknappung von Anbauflächen, auf denen die jeweilige Bevölkerung wenigstens ihre eigene Subsistenz sicherstellen könnte. Was sollen wir nun tun? Zunächst steht es für Singer außer Frage, daß sich aus dieser Situation eine „Verpflichtung zu helfen" 77 ergibt. Wenn unsere individuelle Hilfe auch nur eine Familie aus absoluter Armut führt, so ist das (nach Singers utilitaristischen Maßstäben) schon ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber das genügt ihm noch nicht. Er schreibt: „Weil wachsende staatliche Hilfe der sicherste Weg ist, eine bedeutende Steigerung der Gesamtsumme der Hilfeleistungen zu erreichen, plädiere ich dafür, daß die Regierungen der reichen Nationen viel mehr echte, bedingungslose Hilfe leisten sollten als bisher. Weniger als ein Sechstel Prozent vom Bruttosozialprodukt ist eine skandalös niedrige Summe für eine so reichen Nation wie die Vereinigten Staaten. Selbst das offizielle UN-Ziel von 0,7 % liegt offensichtlich unter dem, was die reichen Nationen geben können und sollten - und doch ist es ein Ziel, das erst wenige erreicht haben. [...] Keine Quote sollte als starres Minimum oder Maximum propagiert werden; aber es läßt sich schon vertreten, daß diejenigen, die in Überflußgesellschaften über ein durchschnittliches oder überdurchschnittliches Einkommen verfügen, 74

Sein Buch heißt „Praktische Ethik", es will also ein Führer durch den moralischen Dschungel der Gegenwart sein. 75 Vgl. Singer (1993/1994), S. 283. 7 6

Es sei hier erwähnt, daß Singer auch ein engagierter Tierrechtler ist.

7 7

Singer (1993/1994), S. 292 ff.

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

95

sofern sie nicht eine ungewöhnlich große Zahl von abhängigen Familienangehörigen oder andere spezielle Bedürfnisse haben, ein Zehntel ihres Einkommens abgeben sollten, um die absolute Armut zu verringern. Nach jedem vernünftigen [!] ethischen Maßstab ist dies das mindeste, was wir tun sollten, und wir tun unrecht, wenn wir weniger tun." 7 8 In der Tat: Wer hätte angesichts von massenmedial vermittelten Bildern aus der sogenannten „Dritten Welt" nicht schon einmal einen Impuls verspürt, der uns Singers Beifall gesichert hätte? Aber dennoch muß der Moralskeptiker wieder an seine Maxime erinnern, daß auch das Gegenteil von moralisch geforderten Handlungen auf ihre jeweilige Moralität 79 überprüft werden sollte. (14) Ein Moralskeptiker kann die geforderten Maßnahmen unter zwei Gesichtspunkten prüfen. Zum einen kann er bezweifeln, ob die jeweilige deskriptive Analyse richtig ist. Ist es so, daß es armen Ländern „schlecht geht", weil es reichen Ländern „gut geht"? Ist es so, daß die Gütermenge in der Welt „ungleich verteilt" ist und wir daher für eine gleichmäßigere Verteilung sorgen müssen? Zum zweiten wird der Moralskeptiker symmetrisch argumentieren wollen; er wird fragen, ob eine konsequente Nichthilie nicht vielleicht ebenfalls die von Singer gewünschten Ergebnisse hervorbringen würde. Tun wir wirklich „unrecht", wenn wir ins Konzert gehen und Afrika Afrika sein lassen? Der Moralskeptiker wird sich also fragen, welche Folgen „Hilfe" tatsächlich hat. Ist es so, daß Umverteilung oder „bedingungslose Hilfe" die angedeuteten Probleme tatsächlich lindert? Oder fördert Hilfe nur Verachtung auf der einen, Haß, Lethargie und Abhängigkeit auf der anderen Seite? Ermuntert sie politischen Hazard, da man für die Folgekosten nicht aufkommen muß? Gerade der pragmatische Moralskeptiker muß sich solche Fragen stellen dürfen, da ihn gerade die praktischen Folgen von „moralisch" erscheinenden Handlungen interessieren. Denn ihm gibt zu denken, daß das Land Afrikas, in das pro Kopf am meisten Entwicklungsmilliarden geflossen sind, Liberia heißt. Seit Michael Lipton (1977) und Peter T. Bauer (1981) Pionierstudien vorgelegt haben, sind in der Entwicklungsländer-Forschung alternative Erklärungen

7 8

Singer (1993/1994), S. 307 f., 314.

79

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Der Moralskeptiker kennt keine Moralität „an sich". Daher legt er dem Moralitätstest einer moralischen Forderung natürlich den Moralitätsbegriff der jeweiligen Position zugrunde. Wenn man also der Auffassung ist, daß es anderen Menschen „besser gehen" soll, dann prüft man, ob die moralisch geforderten Maßnahmen in der Realität auch die gewünschte Wirkung entfalten.

96

Gerhard Engel

der ökonomischen Unterentwicklung entworfen und empirisch getestet worden. 80 Danach sind Armut und Unterentwicklung gerade nicht ein Problem der (weltweiten) Verteilung, sondern eines der Produktion. Und auf die Produktion hat die Ausgestaltung der jeweiligen nationalen Eigentumsrechte den entscheidenden Einfluß. Dabei scheint zu gelten: Eine gleichere Verteilung von Rechten erzeugt tendenziell auch eine gleichere Verteilung von Gütern. Damit sind es nicht verstockte Konzertbesucher, sondern die politischen Rahmenbedingungen, die Menschen arm bleiben lassen. „Entwicklungshilfe" dagegen, weit entfernt davon, absolute Armut zu „lindern", kann auch den Effekt haben, lediglich korrupte Eliten zu alimentieren, die überfällige Strukturreformen wegen der bedingungslos (!) „gespendeten" Gelder dann nicht einleiten müssen. 81 Entwicklungshilfe kann ihnen sogar erlauben, sich innenpolitischen Frieden durch Gefälligkeitsgeschenke zu erkaufen, für die sie im Falle konsequenter Nichthilfe gar nicht die finanziellen Mittel gehabt hätten. Das bedeutet: Gerade durch die immer noch zu exzessive „Hilfe" der Industrieländer und durch den entsprechenden Mitteltransfer wurden die notwendigen politischen und mentalen (!) Strukturanpassungen erschwert sowie Korruption und ineffizientes Wirtschaften am Leben erhalten. Paul Alexander kommt daher - aus meiner Sicht völlig zu Recht 82 - zu einem vernichtenden Urteil über die jahrzehntelange Praxis der „Entwicklungshilfe": „Wir vereiteln Lern- und Anpassungsprozesse, die ohne unsere Hilfe längst vollzogen wären, wir haben aber bei weitem nicht die Mittel, den Schaden zu beseitigen, der durch das Ausbleiben solcher Lern- und Anpassungsprozesse entsteht. Anfänglich ging ich bei meiner Arbeit in der Entwicklungshilfe davon aus, daß zahlreiche Länder der Dritten Welt besonders unterstützt werden, weil sie besonders arm sind. Heute neige ich zu der Auffassung, daß sie besonders arm sind, weil wir ihnen besonders „geholfen" haben." 83

Angesichts dieser Umstände ist der Entschluß von Individuen, nicht zu spenden oder „Hilfe" zu verweigern, wohl eher noch viel weniger „unmoralisch" als der gegenteilige Weg - gemessen an Singers eigenem utilitaristischen Kriterium, das die Folgen von Handlungen für die Beurteilung

80

Zur Entwicklungspolitik und zur Soziologie der Entwicklungsländer vgl. Lipton (1977); Bauer (1981); Krauss (1983); Weede (1985); El-Shagi (1991); Alexander (1992); Reichel (1994); Nuscheier (1996). 81 Alexander urteilt mit Recht: „An der Sicherung des politischen Überlebens der lokalen Eliten und ihrer Machtstrukturen waren vor allem die Vertreter westlicher Exportinteressen und [!] die zahlreichen westlichen Hilfsorganisationen beteiligt." (Alexander 1992, S. 39) 82

Es sei hier vorbeugend erwähnt, daß insbesondere auch Entwicklungssoziologen aus Entwicklungsländern die Notwendigkeit marktwirtschaftlicher Strukturanpassungen betonen. Vgl. etwa El-Shagi (1991). 83 Alexander (1992), S. 84.

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

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ihrer Moralität heranzieht. 84 Wirksame Hilfe kann also nicht nur im Mitteltransfer, sondern auch in dessen Verweigerung bestehen. Gerade die Verweigerung von Hilfe setzt jene Kräfte frei, die es ermöglichen, sich selbst zu helfen. Mc/zi-Hilfe zur Selbsthilfe - so könnte man schlagwortartig die Strategie formulieren, die ein Singerscher Konsequentialist einnehmen müßte, der sich auch mit den weniger angenehmen Fakten dieser Welt befaßt. Alexander schreibt: „Nichts macht erfinderischer und mobilisiert besser unternehmerische Kräfte, nichts orientiert die Mächtigen im Lande besser in Richtung Effizienz, als die blanke Not, in der einem niemand hilft." 85

Das bedeutet für unser Problem der Rolle der Empirie in der Ethik: Singers moralische Forderungen können unter Beibehaltung seines Moralkriteriums, aber unter Veränderung seiner deskriptiven Prämissen in ihr Gegenteil umformuliert werden. Das bedeutet auch: Singers moralische Werturteile sind (im Kontext dieses Abschnittes) geradezu ein Indiz dafür, daß sein Verstehen der relevanten Tatsachen aufgehört hat - was zu beweisen war. (15) Ökonomen sagt man nichts Neues, wenn man darauf hinweist, daß etwa die Bekämpfung absoluter Armut durch Nahrungsmittelhilfe kontraproduktiv ist, weil dadurch die Produktionsanreize für die Bauern sinken und (aus der Sicht der Humankapitaltheorie weitaus schlimmer) längerfristig das Know-how und die motivationale Basis für die Nahrungsmittelproduktion verloren gehen. Nun spielt auch für Singer 86 das Wie der „Hilfe" durchaus eine Rolle. Und er konzediert, daß wir keine Verpflichtung haben, „[...] Ländern zu helfen, deren Regierungen eine Politik betreiben, die unsere Hilfe unwirksam werden läßt" 87 . Hier keimt die Hoffnung des Moralskeptikers, der davon ausgeht, daß unser rudimentäres Wissen von der Welt uns nicht dazu berechtigt, die Gewährung oder die Verweigerung von „Hilfe" moralisch zu diskriminieren. Aber die zitierte Konzession ändert nichts an seiner oben zitierten morali-

Nach Singer (1993/1994, S. 30) muß man „[...] den Handlungsverlauf wählen, der per saldo für alle Betroffenen die besten Konsequenzen hat." Man beachte, daß ich hier die Moralität von Singers Ethik nach seinen eigenen Kriterien beurteile. Ein anderes als das von einer normativen Ethik vorausgesetzte Kriterium darf der pragmatische Moralskeptiker natürlich nicht in Anschlag bringen, wenn er konsistent argumentieren will. 85

Alexander (1992), S. 45. Erwähnt sei, daß auch die europäische Zivilisation ohne Entwicklungsmilliarden entstehen konnte - vielleicht sogar nur deshalb? 86 Vgl. Singer (1993/1994), S. 306. 87

Singer (1993/1994), S. 307.

7 Aufderheide/Dabrowski

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sehen Forderung an die Bürger der weitaus meisten Länder, den Zehnten für die Armen zu „geben": 88 „Nicht zu helfen wäre unrecht [...] Helfen ist nicht, wie man üblicherweise denkt, eine wohltätige Handlung, die zu tun lobenswert ist, die zu unterlassen aber nicht unrecht ist; es ist etwas, das jedermann tun soll." 89

Singer übersieht jedoch, daß „Hilfe" Teil des Problems und nicht der Lösung sein kann und daß möglicherweise nicht nur die Politik bestimmter Länder, sondern vielleicht sogar auch die Hilfe selbst es ist, die ihren beabsichtigten Effekten im Wege steht. Aber alles dies ist offenbar für den Philosophen irrelevant - obwohl schon seit Jahrzehnten „[...] nicht das Mittelaufkommen, sondern der Mittelabfluß zu den Hauptproblemen der Entwicklungshilfeorganisationen" gehört. 90 Die deskriptive Behauptung, es gäbe einen Weg zur Überwindung der aufgezählten Schwierigkeiten, der Effizienz und die gängige altruistische Moral auf seiner Seite hat, ist jedenfalls mehr als fragwürdig. Und das gilt offenbar nicht nur für den Theoretiker. Praktiker, die in Lesotho, einem weiteren Vorzeigeland der traditionellen Entwicklungshilfe, gearbeitet haben, sagen es so: „'Die einfache Verteilung von Essen an hungrige Leute ist nicht genug, und wenn dies die einzige Strategie ist, dann verstärkt sie nur die Abhängigkeit und entmutigt die Selbsthilfe.[...] Die Leute hier müssen wieder den Elan bekommen, etwas für sich selbst zu tun.'[...] Und eine betroffene Frau sagt: „'Unser größtes Problem war bisher, daß uns immer gesagt worden ist, was unsere Probleme sind.' Und auf die Frage, warum gerade ihre Projekte eine Antwort auf die Probleme sein sollen, lacht sie: 'Es nicht ist unser Baby, was wir hier machen. Die Leute bezahlen uns dafür, daß wir ihnen helfen.'" 91

Effektive Hilfe kann also auch in der bloßen Etablierung von Märkten liegen - sogar in Märkten für Knowhow und Ressourcen, die Selbsthilfe ermöglichen. Märkte verlangen allerdings nicht, daß man fremde Interessen verfolgt; sie lassen es vielmehr zu, daß man (nur) die eigenen verfolgt - eine im traditionellen Sinne „unmoralische" Handlungsweise. Aber wenn man es als das Ziel ansieht, daß Menschen zu essen haben, dann sollten wir den schon von Adam Smith als effizient erkannten Weg , sich an das Selbstinteresse statt an

88 Diese Empfehlung wird auch in der Neuausgabe seines Buches von 1994 nicht verändert, obwohl man doch von einem Philosophen, der „nach unserem besten Wissen" (Singer 1993/1994, S. 307) seine moralischen Verurteilungen ausspricht, eine um so sorgfältigere Überprüfung seines deskriptiven Wissens erwarten sollte. 89 Singer (1993/1994), S. 293 f. 9 0

Alexander ( 1992), S. 49.

91

Pinzler (1996), S. 30.

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

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den Altruismus des Bäckers zu wenden, nicht im Namen der Moral vorschnell beiseite schieben. (16) Nicht nur die Entwicklungspolitik, sondern auch die sogenannte „ökologische Krise" gehört zu den von Moralphilosophie, Moralökonomik und Wirtschaftsethik bevorzugt behandelten Themen. 92 Seit Beginn der Umweltschutzbewegung um 1970 sind es vor allem vier Bereiche, in deren Diskussion sich die Sorge vieler Menschen um die „natürlichen Lebensgrundlagen" ausdrückt: das „Waldsterben", die „Bedrohung des Klimagleichgewichts", die „Erschöpfung der Rohstoffe" und die „Bedrohung der Arten Vielfalt". Im Zusammenhang mit solchen Diskussionen werden plausibel klingende praktische Empfehlungen ausgesprochen und oft sogar moralisch aufgeladen: Wer sich nicht im Sinne der betreffenden Empfehlung verhält oder bestimmte Maßnahmen befürwortet, begeht ein „Verbrechen an den Lebensgrundlagen aller" und wird daher moralisch sanktioniert; und wer deskriptive Prämissen der Umweltschutzbewegung anzweifelt, wird (ökologisch korrekt) nicht beachtet. Für viele Autoren ist die ökologische Krise offenbar eine Hintergrundbedingung ihrer Welterfahrung, so daß Umweltschutz per se moralisch ist; es kann dann nur noch gefragt werden, welche Mittel die Ökonomik für die effizientesten hält, diesem Ziel nachzugehen. In operationalen Definitionen von Moral kommt daher wie selbstverständlich (neben der oben analysierten „Hilfeleistung") regelmäßig auch der „Umweltschutz" vor. 93 Ulrich Hampicke schreibt: „In diesem Essay soll über Ökologie selbst wenig gesprochen werden. Wie beklagenswert die Zerstörung der Natur und wie notwendig ihr Schutz sind, setzen wir als selbstverständlich voraus." 94

Aber Philosophieren bedeutet, nichts als selbstverständlich vorauszusetzen; denn der Moralskeptiker weiß, daß gerade in solchen Selbstverständlichkeiten unsere Irrtümer versteckt sind; und daher zieht er aus dem in diesem Aufsatz vertretenen Fallibilismus eine radikale Konsequenz: Ihm geht es gerade nicht darum, zu zeigen, „was wir tun sollen". Er kritisiert nicht die Ziele seiner Mitmenschen (der Gestus des Predigers ist ihm fremd), sondern die empirischen Behauptungen, die mit normativen Sätzen und mit der Formulierung von Interessen verbunden sind; er hat damit, wie sich gezeigt hat, mehr als

92 Ich habe das Thema „Ökologie" ausführlicher in Engel (1994) und (1995a) behandelt. Zur ökologischen Ökonomie vgl. etwa Hampicke (1992) und Hampicke (1995). 93

Z. B. in Leschke (1996), S. 84.

94

Hampicke (1995), S. 265.

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genug zu tun. Fragen wir also auch hier wieder: ,3ut is it true?" 95 Rechtfertigt unser Wissen sowohl zentrale praktische Maßnahmen, die ein als „gut" bezeichnetes Ziel erreichen helfen sollen, als auch die moralische Wertung eines entsprechenden Verhaltens? Betrachten wir Tabelle 2. In der ersten Spalte finden sich weithin akzeptierte Beschreibungen und Erklärungen bestimmter Umweltphänomene - vom Waldsterben bis hin zum Artensterben. Die zweite Spalte leitet aus diesen „Befunden" Handlungsempfehlungen ab - unter der stillschweigenden Benutzung der normativen Prämisse „Unsere Umwelt soll geschont/erhalten/bewahrt bleiben". Aber es ist 1. keineswegs erwiesen, daß die Beschreibungen und Erklärungen der ersten Spalte deskriptiv richtig sind; einige zweifelnde Stimmen werden in der dritten Spalte zusammengestellt.96 Es ist 2. keineswegs erwiesen, daß die praktischen Folgerungen der zweiten Spalte zur Verbesserung auch in der Realität zu den gewünschten Veränderungen führen werden; schließlich sollten wir von Hayeks Konstruktivismus-Kritik gelernt haben, daß die Realität meistens unangenehme Überraschungen für den bereithält, der die Wirklichkeit grundlegend umgestalten will. Und es ist 3. keineswegs erwiesen, daß die normative Prämisse „Unsere Umwelt soll geschont/erhalter^ewahrt bleiben" ein vom evolutionären Standpunkt aus sinnvolles Prinzip darstellt; denn Leben evolviert gerade in einer sich verändernden Umwelt. Der Versuch, die Biosphäre so zu erhalten, wie sie sich in der jetzigen Form herausgebildet hat, ist allerdings in doppelter Weise attraktiv: Er befriedigt konstruktivistische Bedürfnisse nach einer „grundlegenden" Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, 97 und er folgt der theologischen Denkfigur, daß die Erde, wie sie von Gott geschaffen wurde, „erhalten" werden muß. 98

95

Vgl. dazu Wildavsky

(1995).

9 6

Eine ausgezeichnete Zusammenfassung abweichender Befunde, Analysen und Meinungen zu nahezu allen ökologischen „Krisenbereichen" liefert Lehr (1992). 97

Ein Beispiel für diese Vorstellung liefert Hampicke (1992, S. 438): „Die grundsätzliche Folgerung ist natürlich trivial: Es muß, vor allem auf weltweiter Ebene, mehr Gerechtigkeit einziehen. Schnelle und grundlegende Veränderungen erscheinen unerreichbar, vor allem, nachdem der bisher machtvollste Versuch hierzu, der Sozialismus, die Armen eher noch ärmer gemacht hat." Die „ökologische Ökonomie" will, wie es scheint, den nächsten Versuch dazu unternehmen. Vgl. dazu Ziffer (17).

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Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis Tabelle 2 Sollen und Sein in der Ökologie Praktische Folgerung

Kritik

Das Waldsterben ist eine Folge ungezügelter Verkehrspolitik und der Belastung der unteren Atmosphäre mit Stick- und Schwefel-Oxiden.

Reduktion des Individualverkehrs durch Steuerbelastung o. ä. und Investitionen in die öffentlichen Verkehrssysteme

Abgesehen von lokalen Ausnahmen gibt es kein Wald-, sondern nur ein Forststerben. Eine grundlegend andere Waldbaupolitik schafft die wichtigsten Voraussetzungen für gesündere Wälder. (Bode / Hohnhorst 1993; Bode 1995).

Das Klima ist bedroht: Der humaninduzierte CO2Ausstoß hat einen unkontrollierten Temperaturanstieg zur Folge, der die Zivilisation (und den Kapitalismus) mit Dürre und Überschwemmungen bestraft.

Steigerung der „Energieeffizienz",

Klimamodelle und Satellitenmessungen unterscheiden sich um den Faktor 5.

zum Klimaschutz.

Im Klima spielen die Wolken eine bisher nicht modellierbare Rolle. Nach Salmon (1993, S. 28) haben Wissenschaftler aber Anreize, Katastrophenprognosen zu liefern.

Die Rohstoffe sind erschöpfbar, die Reserven sind begrenzt.

Im Interesse der intergenerationellen Gerechtigkeit sind Rohstoffe sparsam zu verwenden, am besten durch Einführung von Rohstoffund Energiesteuern.

Rohstoffe sind substituierbar. Erschöpfbar kann man sie nur dann nennen, wenn man den wichtigsten Rohstoff übersieht: die menschliche Kreativität. (Simon 1981)

Unsere Lebensweise ist mit Artenschutz unvereinbar. Wir leben auf Kosten der Schöpfung und auf Kosten künftiger Generationen, die von der Nutzung von Genen ausgeschlossen werden. (Wilson 1988)

Drastische Umorientierung der Weltwirtschaft, Rückkehr zum einfachen Leben. Abkehr von Adam Smith, Rückkehr zu Rousseau (Singer 1996, S. 51).

Das ,.Artensterben" betrifft vor allem Insekten und ist (mit wenigen Ausnahmen) in Wirklichkeit ein hypothetisches Sterben unentdeckter Arten.

Behauptung

Abschaffung der Verbrennungsmotoren, Kohlenstoffsteuern, weltweite Selbstbindung

(Simon 1992; Maxeinerl Miersch 1996, Kap. 6)

98

In Schöriwiese (1992, S. 183 f.) sind beide Denkfiguren sogar miteinander verbunden: „Kaum etwas auf dieser Welt ist wichtiger als Friede [...]. Hier [...] soll zu einem weiteren Frieden aufgerufen werden, dem Frieden mit Klima und Umwelt. [...] Aus religiöser Sicht, um der Schöpfung willen, aber auch ganz allgemein um uns und unserer Kinder willen, müssen wir diesen Frieden schließen. [...] das Wichtigste ist, daß von den vielen Diskussionen, Plänen und Absichtserklärungen endlich zu weltweiten, konkreten und wirksamen Maßnahmen übergegan-

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Gerhard Engel

Denn wäre es nicht eine Sünde, eine von Gott geschaffene Art zu gefährden oder sogar bewußt auszurotten?" Aber selbst wenn wir hier für die Zwecke des Arguments einmal annehmen, daß Gott die Arten geschaffen hat, so sollten wir doch auch erwähnen, daß höchstens 1 % von ihnen noch existieren - und das ganz ohne unser Zutun. Die Berufung auf theologisch begründete Pflichten gegenüber der Natur ist also normativ durchaus ambivalent. (17) Gerade am Beispiel der Rohstoffe und der sogenannten „intergenerationellen Gerechtigkeit" läßt sich zeigen, daß eine falsche (also moralisierende) Konzeptualisierung des Problems „Zweckmäßigkeitsüberlegungen für die Politikgestaltung" blockieren kann. 1 0 0 Für Ulrich Hampicke ist es am Ende seiner über 400 Seiten starken ökonomischen Analyse klar, in welcher Situation wir uns befinden: „Die Reichen haben den Armen erlaubt, die Vorräte und Kapazitäten für morgen zu plündern und den Obstgarten zu verwüsten, um Kaviar und Sekt für sich zu behalten." 1 0 1

Was angesichts eines endlichen Vorrats an Rohstoffen und einer nicht im gleichen Maße endlichen Generationenfolge zu tun ist, scheint für ihn daher „trivial" zu sein: 1 0 2 Einkommensübertragungen von den Reichen zu den Armen, Schonung der Rohstoffe durch (Energie-) Steuern, „[...] wodurch die Ungerechtigkeit zwischen beiden indirekt verringert wird" 1 0 3 , und eine Vorreiterrolle der „wohlhabenden" Länder beim „Verzicht". 1 0 4

gen wird"- und zwar zu einer Reduzierung des CCVAusstoßes um 85 %. Die Frage, ob dies auch unter nicht-physikalischen Gesichtspunkten eine sinnvolle oder die einzig mögliche Reaktion auf eine (hier als nachgewiesen unterstellte) anthropogene Beeinflussung des Klimas ist, stellt unser Klimaforscher nicht - so daß relevante Alternativen kollektiven Handelns gar nicht erst in den Blick kommen. 99

Bei Viren haben wir diese Skrupel nicht: Die Ausrottung des Pockenvirus wird allgemein begrüßt. Aber wäre nicht auch die Ausrottung von biologischen Arten konsensfähig - etwa der Anopheles-Mücke? 100 Homann (1993), S. 59. 101

Hampicke (1992), S. 438.

102

Hampicke (1992), S. 438.

103

Hampicke (1992), S. 438.

104

Wäre ein Verzicht der reichen Länder nicht sogar „gerecht"? Verbrauchen z. B. die Amerikaner nicht weitaus mehr Energie pro Kopf als die Bewohner anderer, sogar entwickelter Länder? Nun gut. Aber was folgt daraus? Warum sagt man nicht gleichzeitig auch, daß die Menschen anderer Länder nicht nur in ganz anderen geographischen Umwelten leben, sondern für den Energieverbrauch der Amerikaner auch etwas bekommen, nämlich Wissenschaft, politische Freiheit, technischen Fortschritt sowie militärische Sicherheit, Produkte, ohne die die meisten Ankläger wahrscheinlich noch nicht einmal leben würden? Der moralisierende Hinweis auf Energieverbrauchsstatistiken verrät jedenfalls nichts als eine Sandkisten-Moral.

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

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Wir können hier absehen von der Frage, ob diese Analyse nicht darauf hinausläuft, der Komplexität der modernen (Welt-) Gesellschaft mit den Reaktionsgewohnheiten eines Hordenführers zu begegnen, der im Spätwinter feststellt, daß die Vorräte bedrohlich dahinschmelzen und der daher seine Sippe auf Schmalkost setzt. 105 Wichtiger scheint mir im Kontext dieses Aufsatzes zu sein, daß auch Hampickes Werturteil signalisiert, daß sein Verstehen der Tatsachen aufgehört hat. Gewiß: Wir wärmen uns zur Zeit mit Öl, das auch unsere Ur-Ur-Enkel noch wärmen könnte. Aber wir hinterlassen ihnen ja nicht nur Kohlendioxid, sondern auch Wissen - beispielsweise über bestimmte Techniken, wie man sich auch ohne Öl wärmen kann. Wissen ist eben die letztlich wichtigste Ressource, auf die es ankommt 106 - und davon gibt es zur Zeit sogar mehr, als sinnvoll verwaltet werden kann. Was Hampicke übersieht, ist also der evolutionäre Charakter der Welt und des Wissens: Die Welt ist kein stationäres System, in dem sich immer das gleiche tut (und in dem wir vielleicht dafür sorgen könnten, daß sich immer das gleich tut), sondern ein evolutionäres System: In ihm entsteht immer Neues. 107 Neue Ideen aber schaffen neue Ressourcen - oder Substitutionsmöglichkeiten für bekannte Ressourcen. Erst wenn man gezeigt hat, daß sogar die Entwicklung des Wissens an ihrem Endpunkt angelangt ist, könnte man beginnen, über die Berechtigung von Verzichtsappellen nachzudenken. Aber ein solcher Nachweis ist bisher, soweit ich sehe, noch von niemandem erbracht worden. Programmatisch bedeutet dies: Auch in der Ökologie verraten Wertungen nur, daß das Verstehen der relevanten Tatsachen aufgehört hat; demnach gilt auch für die ökologische Ethik ein Vorrang der Empirie vor der Ethik. Das Programm, das der Moralskeptiker den normativ aufgeladenen Empfehlungen von Moralphilosophen oder „ökologischen" Ökonomen entgegenstellt, besteht daher in folgenden Punkten:

Um ökologischen Verzichts-Utopien den Boden zu entziehen, genügt der Hinweis auf die Rolle Chinas in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts: China wird in absehbarer Zeit nicht nur die größte Volkswirtschaft der Erde sein, sondern (wie viele andere Länder auch) den Weg der Industrialisierung gehen (Weede 1994). Das sollte dazu führen, anderen Ländern nicht Verzicht zu predigen, sondern seine intellektuellen Anstrengungen darauf zu verwenden, wie die Folgen eines absehbaren Nicht-Verzichts bewältigt werden können. 106

Simon (1981).

107

Zur Rolle der Evolution für ein adäquates Weltverständnis vgl. Vollmer (1986). Man könnte die im Text geäußerte Kritik auch noch anders fassen: Verzichtsappelle basieren auf einer stationären Verständnis von Ökosystemen und predigen Verzicht im Interesse zukünftiger Entwicklung. Aber wenn man einen evolutionären Systembegriff zugrunde liegt, sind gerade die sich verändernden Umwelten der Antrieb zur Entstehung des Neuen.

104

Gerhard Engel

-

in der falsifikationstheoretisch motivierten Suche nach empirischer Gegenevidenz,

-

in der Suche nach alternativen Erklärungsmodellen für ökologische Tatsachen,

-

in der metatheoretischen Analyse ökologischer Aussagenzusammenhänge,

-

in der interdisziplinären Öffnung der Ökologie,

-

und in der ideologiekritischen Analyse ökologischer Behauptungen. 108

(18) Die moralphilosophischen Konsequenzen aus diesen Fallbeispielen scheinen mir im Kontext dieses Aufsatzes die folgenden zu sein. Die Entscheidung der Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus, keine explizite (normative) Ethik zu entwickeln, sondern sich um die Methoden zu kümmern, wie wir unser Wissen über die Welt verbessern und wie wir es besser vermitteln können, scheint mir eine diskussionswürdige mora/philosophische Alternativ-Strategie zu sein. Gerade die Qualität der Singerschen Empfehlungen zur Entwicklungspolitik bestärkt den Moralskeptiker darin, daß nicht die Begründung für die Moralphilosophie eine „gesunde Grundlage" 109 liefert, sondern die Kritik} 10 Die normative Relevanz von Moralphilosophie sinkt mit ihrem steigenden empirischen Gehalt - und es ist (zumindest mir) nicht klar, ob diese Relevanz mit weiter steigenden empirischen Gehalt asymptotisch gegen Null geht. Alles verstehen könnte also bedeuten, daß ein wertendes Urteil nicht mehr möglich

108

Engel (1994), S. 78.

109

Singer (1979/1984), S. 17.

110 In der 1984 erschienenen 1. Auflage seines Buches heißt es noch: „Um die praktische Ethik auf eine gesunde Grundlage zu stellen, muß man zeigen, daß moralische Begründung möglich ist." In der zweiten Auflage von 1994 ist das Wort Begründung durch das Wort Diskussion ersetzt - auf der einen Seite ein Fortschritt, da Singer hier der begründungstheoretischen Skepsis entgegenzukommen scheint, auf der anderen Seite aber ein Rückschritt, da nicht klar ist, wie das Ergebnis solcher Diskussionen begründungstheoretisch zu interpretieren ist. Sollte hier lediglich eine Konzession an den diskurstheoretischen Zeitgeist vorliegen?

Alfred Ayer beurteilte die normativen Ansprüche von Moralphilosophie etwas weniger diplomatisch, als es im obigen Text formuliert werden sollte: Er hielt es für „[...] töricht und eingebildet, wenn ein Philosoph, ganz gleich welcher Richtung, als Meister der Tugend auftritt" {Ayer 1954/1976, S. 64).

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

105

Die Entwicklungsländer benötigen, wie es scheint, nicht unsere Hilfe, sondern unsere Märkte. 1 1 2 Denn das Handeln auf Märkten ermöglicht den Beteiligten, das zu tun, was sie tun wollen; „Helfer" und „Begünstigte" stehen in wirtschaftlichem Austausch, nehmen sich also als Kunden bzw. Lieferanten ernst; und das Angebot auf dem Markt der Hilfeleistungen ist den Kunden etwas wert. 1 1 3 Märkte ermöglichen es aber nicht nur, moralisch hoch bewertete Ziele wie die Besserstellung anderer Menschen auch erreichen zu können. Märkte erzeugen auch Moral - im Sinne einer technischen (hypothetischen) Voraussetzung von Markttransaktionen: Wenn man bestimmte Ziele hat (z. B. seinen Präferenzen folgen zu können), dann ist es sinnvoll, bestimmte Dispositionen zu entwickeln. Damit kann die Moralökonomik als ausschließlich deskriptive Disziplin konzipiert werden: Sie gibt uns eine Anzahl hypothetischer Imperative an die Hand, die wir befolgen sollten, wenn wir am Markt effizient unseren Interessen folgen wollen. 1 1 4 Die Hobbessche „Friedenswissenschaft" sah die Ersetzung der Ethik durch Empirie vor. Dies macht die oft gescholtene Hobbessche Moral- und Politikauffassung für den Moralskeptiker attraktiv. Wir sollten den Weberschen „Teufel" beim Schwanz packen und (schon aus Symmetriegründen) systematisch die Frage untersuchen (dürfen): „Was schadet eine Moral, die uns zu Handlungen bringen will, die wir unter Marktbedingungen nicht freiwillig vollziehen würden?" Ich fasse zusammen. Pragmatische Moralskepsis zieht die Konsequenz aus Poppers These, daß nicht so sehr der mangelnde „gute Wille", sondern viel eher mangelndes Wissen für unsere Probleme verantwortlich ist. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Mangelndes Wissen läßt uns Probleme vermuten, wo tatsächlich keine sind, 115 und mangelndes Wissen kann zu ungeeigneten Maßnahmen führen, mit denen wir wirklich vorhandene Probleme angehen wollen. Wirtschaftsethik knüpft hier an: Sie ist der Versuch, die Mittel zu verbessern,

112 Dies übrigens auch in dem Sinne, daß die (allmählich abnehmende) Abschottung von Märkten gegen die „Dritte Welt" ein starkes Entwicklungshindernis für diese Länder darstellte. 113 Ohne diese Frage hier ernsthaft behandeln zu können, möchte ich hier nur Zweifel anmelden, ob die Forderung, man „müsse" über die Kohlbergsche Moralstufe des bloßen Austausches hinausgehen, einer moralskeptischen Betrachtung standhält. 114

Den Zusammenhang von Markt und Tugenden untersucht Baurmann (1996) - eine tiefschürfende Analyse, die ich jedoch nicht mehr berücksichtigen konnte. 115 Auch dies stellt natürlich ein Problem dar, aber eines, für das eher die Sozialpsychologie zuständig ist.

106

Gerhard Engel

mit denen Probleme formuliert, modelliert und gelöst werden sollen. Dieser Disziplin wenden wir uns daher jetzt zu.

IV· Institutionenethik oder Institutionenökonomik? „Was ist menschliches Verhalten anderes als praktizierte Ideen?" Ernest Gellner 1 1 6

(19) Was kann der Moralskeptiker zur Wirtschaftsethik beitragen? Schaffen wir uns aus heuristischen Gründen zunächst etwas Übersicht. (Vgl. Abb. 1) Wir können wirtschaftsethische Ansätze nach dem Kriterium skalieren, wie sie das Verhältnis von Ethik und Empirie bestimmen. Das linke Ende der Skala müßten wir dann mit Autoren besetzen, die einen moralischen Gehalt (d. h. einen Gehalt an identifizierbaren moralischen Forderungen) der Wirtschaftsethik nicht anerkennen. Das trifft etwa für Niklas Luhmann zu, für den eine Wirtschaftsethik, „nach der man sich richten sollte", „eine spezifische Art von Krankheit darstellt" 117 . Der moralische Gehalt seiner Wirtschaftsethik ist hier also gleich Null zu setzen. Fast ganz am anderen Ende müßten wir vielleicht Peter Singer einordnen. Für ihn ist die moderne Wirtschaft und die sie begleitende Ideologie" der Wirtschaftswissenschaft die spezifische Krankheit unserer Zivilisation. Unter Rückgriff auf die mittelalterliche Wirtschaftsethik plädiert er für eine moralische Verurteilung des Kapitalismus, für einen ökologisch positiven Heilssinn der Armut und bilanziert die achtziger Jahre unseres Jahrhunderts so: „...Die 80er Jahre sollten zu dem Jahrzehnt werden, in dem die Habgier ihren schlechten Geruch verlor und offen als bürgerliche Tugend rehabilitiert wurde, die jeden einzelnen Menschen besser stelle. Aber so kam es nicht. [...] es wurde klar, daß der Reichtum eben doch nur den Reichen zugute gekommen war. [...] andere Ideale, wie die des Aristoteles und der vorreformatorischen Kirche, waren jetzt tief verschüttet unter den Lehren von Jahrhunderten, die das gute Leben so eng mit Reichtum und Bereicherung verknüpft hatten." 118

Der moralische Forderungsgehalt seiner Wirtschaftsethik ist also sehr hoch: Sie bietet (zusammen mit einer sehr schmalen empirischen Basis) eindeutige und „ethisch begründete" Wertmaßstäbe, mit denen man sich in unserer Welt normativ (wenn auch vielleicht nicht kognitiv) zurechtfinden kann.

116

Gellner (1993), S. 43.

117

Luhmann (1993), S. 134.

118

Singer (1996), S. 98 und 99.

107

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

Luhmann

Homann/Pies(?)

Kosloswski

Empirie

Ulrich

Singer

Ethik

Abb. 1 : Einige wirtschaftsethische Ansätze und moralischer Forderungsgehalt

Viele andere wirtschaftsethische Ansätze nehmen in diesem Spektrum eine Zwischenposition ein. Einige von ihnen seien hier kurz kommentiert: Peter Koslowski 779 stellt moralische Forderungen an die Individuen vor allem deshalb, um die in modernen Verkehrsgesellschaften allgegenwärtigen PD-Situationen überwinden zu können. Wenn alle Individuen aus ethischen Gründen im Sinne des „kollektiven Guten" handelten, dann seien Sanktion und Kontrolle bzw. eine institutionenökonomische Justierung überflüssig. Aber die Individuen verhalten sich leider nicht im „moralischen" Sinne, da ihre Bereitschaft, „ethisch zu handeln", 120 unter den empirischen Bedingungen der heutigen Gesellschaft erodiert. Hier kann nun die Religion das Versagen einer säkularisierten Ethik kompensieren, 121 indem sie das für die Überwindung von PD-Situationen notwendige Vertrauen nicht im Diesseits, sondern im Jenseits verankert: „Zusicherung und Vertrauen in den Sinn sittlichen Handelns sind nämlich nicht aus der Ethik allein, sondern nur durch die religiöse Begründung von Sittlichkeit zu gewinnen." 122 . Koslowski bricht also die empirische Analyse zugunsten eines Verweises auf die heilende Kraft der Religion ab. Es bleibt allerdings unklar, wie seine religiösen Werte (welche?) gegenüber Nicht- oder Andersgläubigen zur Wirkung kommen sollen. 123

119

120

Koslowski (19ZZ), S. 32.

Koslowski (1988), S. 35. Es ist charakteristisch, daß wir auch bei Koslowski viel über Spieltheorie lernen, aber nichts über die Realität. Was hier „ethisch handeln" heißen soll, bleibt im Dunklen. Man hat nur das unbezwingbare Gefühl: Hier ist vom Guten Menschen die Rede. Als Beleg können die Bemerkungen über die ökologische Dimension der Wirtschaftsethik dienen (vgl. etwa Koslowski (1988), S. 289-305), wo wir erfahren, daß die Natur Rechte hat, die wir gegenüber unserem „Tauschpartner Natur" (Koslowski (1988), S. 301) in Rechnung stellen müssen. Aber was hier „Natur" bedeutet und was wir konkret tun oder lassen sollten das alles bleibt im Dunklen. 121 Vgl. Koslowski (1988), S. 37. 122

Koslowski (1988), S. 37 f.

123

Zur Kritik an Koslowski vgl. auch Aufderheide

(1995), S. 167; Pies (1993), S. 173 f.

108

Gerhard Engel

Bei Peter Ulrich (1989) ist der Ausstieg aus der Empirie nicht, wie bei Koslowski, religiös, sondern diskursethisch motiviert, das Jenseits ist also durch die ideale Kommunikationsgemeinschaft ersetzt. Dieser Gemeinschaft kommt eine der Religion analoge Begründungsfunktion zu: Sie schlägt die Brücke zwischen der Realität des faktischen Konsenses und den unbedingten moralischen Forderungen im Sinne Kants. 124 Zwar kann eine ideale Gemeinschaft keine Normen begründen, die ja nur im konkreten politischen Prozeß zwischen realen Gemeinschaften ausgehandelt werden können. Aber sie ist wenigstens eine Versicherung dagegen, die kritische Distanz zum Gegebenen zu verlieren; und das kann Ökonomen nach Ulrichs Auffassung leicht passieren, wenn sie „... um das goldene Kalb der Empirie tanzen" 125 . Wir haben also gute Gründe, auch Ulrich eher auf der rechten Seite unseres Schemas zu lokalisieren. (20) Wo lassen sich nun institutionenökonomische Ansätze, insbesondere der Ansatz von Homann und Pies lokalisieren? Eine Position ganz links käme insofern in Frage, als die Autoren an Luhmann gerade seine deskriptive Orientierung positiv hervorheben: „Moral läßt sich nicht gegen die Funktionserfordernisse der modernen Wirtschaft zur Geltung bringen, sondern nur in ihnen und durch sie." - „Mögen moralische Normen so letztbegründet sein, wie sie wollen, und mögen die Bedrohungen ins Unermeßliche wachsen - wer an der Funktionslogik der modernen Gesellschaft und ihrer Subsysteme vorbei mit moralischen Appellen aufwartet, verschärft die Probleme, statt sie zu lösen [...Γ.126

In modernen Gesellschaften kann der Einzelne aus bekannten Gründen das Versagen von Institutionen nicht kompensieren. Die Aufforderung, in PDSituationen „moralisches" Verhalten zu zeigen, stößt an die Grenzen spieltheoretischer Rationalität und führt nicht dazu, daß solche Situationen überwunden werden, sondern höchstens dazu, daß die Moral erodiert. 127 Der systematische Ort „der Moral" in der marktwirtschaftlich verfaßten modernen Gesellschaft kann daher nur die Rahmenordnung sein. 128 Dies ist übrigens kein Mangel. Denn die Menschen in modernen Gesellschaften sind in moralischer Hinsicht in einer ganz ähnlichen Situation, wie sie schon Max Weber in erkenntnistheoretischer Hinsicht diagnostizierte: Wir

124

Vgl. Ulrich ( 1989), S. 87.

125

Ulrich (1989), S. 90.

126

Homann (1993), S. 48; Homann/Pies

127

Vgl. Homann (1993), S. 48; Homann / Pies (1994), S. 6.

128

Homann /Blome-Drees

(1992), S. 35.

(1994), S. 6.

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

109

wissen, so Weber, in der Regel kaum etwas über die Funktionsbedingungen der Geräte und Institutionen, die uns umgeben - von der Straßenbahn bis hin zum Geldschein. 129 Aber wir können, wenn wir das wollen, diese Funktionsbedingungen in Erfahrung bringen: Die Welt ist im Prinzip entzaubert, also der wissenschaftlichen Rationalität zugänglich; und auch wenn wir als Individuen wenig über die Welt wissen und meist kognitiv überfordert sind, so ist es doch eine Grundprämisse unserer individuellen Welterfahrung, daß in der Welt alles mit rechten Dingen zugeht. Ganz ähnlich modellieren Homann und Pies die Situation des Menschen in moralischer Hinsicht. Auch heutzutage ist der Einzelne überfordert, wenn es um die moralische Beurteilung aller nur denkbaren Handlungsoptionen geht. Daher werden diese Handlungen kanalisiert, und jeder kann, wenn er das will, sich über die „Moralität" dieser Kanalisierung informieren. Die ethische Aufklärbarkeit der Handlungsbedingungen und Institutionen wird damit zu einer analogen Prämisse moderner Welterfahrung: Wir wissen, daß (im idealen Modell) auch in moralischer Hinsicht alles mit gerechten Dingen zugeht. Wir leben also im Vertrauen darauf, daß sich die Moralität von Institutionen im Prinzip demonstrieren läßt. 1 3 0 Dies alles können wir nicht zeigen ohne eine gründliche positive Analyse sogar über Luhmann hinaus. 131 Wir wollen wissen, wie die (soziale) Welt funktioniert - und bedienen uns (als Ökonomen) dabei eines konsequent durchgeführten mikroökonomischen Forschungsprogramms. 132 Und wenn wir dann von einem Weberschen Individuum nach der Moralität von Institutionen gefragt werden, können wir aufgrund unseres deskriptiven Wissens über die Funktionsbedingungen von Institutionen und damit auch über deren empirische Ergebnismuster Antworten geben, die einer anschließenden moralischen Beurteilung offenstehen.

129

Weber (1922/1988) S. 593 f.

130

Darin liegt ein wichtiges und nicht zu unterschätzendes Ziel wirtschaftsethischer Aufklärung.

131

Homann/Pies

(1994), S. 6.

132

Eine „konsequente" Durchführung eines solchen Forschungsprogramms besteht etwa darin, auf Anomalien nicht mit der Aufgabe, sondern mit der produktiven Ausweitung des Homo-Oeconomicus-Modells zu reagieren. Vgl. dazu etwa Pies (1993a), S. 205 f. Demgegenüber fordert Kliemt (1994, S. 44), „... endlich die hartnäckigen Anomalien ernst [zu] nehmen ...", die das Modell in seinem Universalitätsanspruch begrenzen.

110

Gerhard Engel

(21) So weit, so gut. Bis hierher hat der Moralskeptiker keine Einwände vorzubringen. Aber die Lage wird etwas unübersichtlicher, wenn wir uns fragen, welche Rolle nun die Moral in diesem Ansatz spielt. Der Moralskeptiker würde verlangen, daß ein institutionenökonomischer Ansatz selbst moralfrei ist und keine Empfehlungen über die Moralität von Institutionen ausspricht, sondern nur Empfehlungen über ihre Funktionalität angesichts gegebener Präferenzen . Wie steht es mit dieser Forderung? In Homann und Pies (1991) argumentieren die Autoren wie folgt: „Die moralischen Wertvorstellungen der Bürger werden [...] als gegeben angenommen. Sie sind nicht Output, sondern Input der Theorie; nicht der eigentliche Gegenstand der Wirtschaftsethik, sondern ihre Voraussetzung. Ein solcher wirtschaftsethischer Ansatz [...] bemüht sich nicht um eine kategorische Begründung der Moral, sondern um hypothetische Aussagen über die Realisierbarkeit moralischer Normen. Demzufolge liegt die Betonung [...] nicht auf den moralischen Werten, sondern vielmehr auf den Bedingungen der modernen Wirtschaft, unter denen sie zur Geltung gebracht werden sollen." 1 3 3

Einverstanden. Hier gibt es keine Begründung" von moralischen Normen, hier gibt es keine Bewertungen, und hier wird auf empirische Bedingungen verwiesen. Wir erfahren, was wir tun müssen, wenn wir etwas tun wollen. Aber das Problem liegt in der ersten und dritten Auslassung. Hier finden wir die Worte „zunächst einmal". Dies kann zweierlei bedeuten. Entweder werden die moralischen Präferenzen der Bürger hingenommen, sofern man ihnen nicht zeigen muß, daß sie aus technischen Gründen nicht realisierbar sind. Dann wird man ihnen andere Präferenzen nahelegen, etwa so, wie ein Arzt von bestimmten Genußmitteln abrät, wenn man bestimmte sportliche Ziele hat. Ein solcher Ansatz würde restlos im ökonomischen Modell darstellbar sein: Es gibt Bedürfnisse, und sie werden erfüllt - ob es sich nun um religiöse Bedürfnisse nach Gesangbüchern, ästhetische Bedürfnisse nach CompactDiscs oder um „moralische" Bedürfnisse nach Ordnungsstrukturen handelt. Wenn diese Variante zutrifft, dann ist der Ausdruck „Ordnungsethik" bzw. „InstitutioneneiA/Ä:" 134 unangemessen und sollte aus dem Sprachgebrauch entfernt werden. Oder aber die wirtschaftsethische Analyse korrigiert die moralischen Wertvorstellungen der Bürger aus anderen als aus technischen Gründen. Dann sollte man das deutlich sagen. Aber dann wäre der Moralskeptiker nicht mehr einverstanden. Denn die oben kritisierten Begründungsprobleme kehrten in

133

Ebd., S. 608.

134

Homann/Pies

(1994), S. 9.

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

111

diesem Falle auf der institutionellen Ebene wieder: Wir müßten dann Begründungen für die Moralität institutioneller Arrangements finden. Aber ich glaube nicht, daß wir das können: Institutionen stimmen, wenn wir Glück haben, mit unseren Interessen überein - aber was rechtfertigt es, sie darüber hinaus auch noch „gut" zu nennen? Wer das für möglich hält, sollte sich an einer Antwort auf die Frage versuchen, ob wir Singer gegen Adam Smith und die gesellschaftliche Moderne recht geben und uns der moralischen Verurteilung der Moderne anschließen sollten - oder nicht. Dem wirtschaftsethisch versierten Europäer, der etwa mit Priddat (1990) und mit Homann und Pies (1994) zu einer positiven Bewertung der theoretischen Leistung Adam Smiths und der moralischen Leistung des Kapitalismus gelangt, wird Singers Position natürlich befremdlich vorkommen. Für Singer ist jedoch Smiths „Entdekkung", daß wir „moralische Ziele" mit einer moralisch kontra-intuitiven Umstellung wichtiger gesellschaftlicher Handlungsbereiche auf Selbstinteresse und Regelsteuerung erreichen können, der zivilisatorische und moralische Sündenfall schlechthin. M i r ist nicht klar, wie man diesen Dissens begründungstheoretisch auflösen könnte - im Sinne einer Ethik, der jedermann, also auch der taiwanesische, der malaysische, der ruandische oder der chilenische Bürger, folgen müßte. Allerdings kann ich mir vorstellen, wie man diesen Dissens präferenztheoretisch auflösen kann: Man fragt die Leute, was sie wollen, und untersucht, wie sie mit ihren Füßen, ihrem Wahlzettel und ihrem Geld abstimmen. Daraus folgt: Wir können zwar versuchen, die in unserer Kultur vorfindlichen moralischen Intuitionen und die ökonomische Realität der Marktwirtschaft miteinander zu vermitteln, indem wir etwa zeigen, warum der eigeninteressierte Bäcker Adam Smiths die effizientere Caritas darstellt. 135 Aber nichts rechtfertigt es, die Moderne insgesamt „moralisch" positiv auszuzeichnen; auch dieses Werturteil würde signalisieren, daß das Verstehen der Tatsachen aufgehört hat. Denn eine effizientere Caritas bedeutet - um nur ein Beispiel zu nehmen - auch eine größere Weltbevölkerung und damit ein rasant wachsendes Konfliktpotential und eine wachsende Zahl der von Konflikten oder Konfliktfolgen Betroffenen. Erst recht läßt uns eine normative moralische Betrachtung im Stich, wenn es um die Klärung von Zukunftsfragen geht. Ob wir - um auf Tabelle 2 zurückzukommen - eine weltweite Selbstbindung im Klimaschutz anstreben sollen oder nicht, kann uns auch eine Ordnungsethik nicht beantworten. Denn

135

Priddat (1990).

Gerhard Engel

112

warum sollte es „moralischer" sein, über eine „drastische" Reduktion von Klimagasen nachzudenken (oder sie gar institutionell durchzusetzen), statt darüber, wie wir mit den angenommenen Folgen des prognostizierten Klimawandels fertig werden können? Der Ausdruck „Ordnungsei/i/fc" suggeriert, daß es bereits feststeht oder zumindest festgestellt werden kann, was das kollektive Gute ist, das mit ordnungstheoretischen Mitteln erreicht werden soll. Dies trifft (jedenfalls für einen ethischen Non-Kognitivisten) nicht zu. Eine Ordnungstheorie dagegen würde (nur) die Frage beantworten (müssen), wie man einen weltweiten Klimaschutz etabliert, wenn man sich entschlossen hat, daß er nötig ist, und wie man Maßnahmen zur Bewältigung der Folgen eines Klimawandels organisiert, wenn er eintreten sollte. 136 (22) Und daher ist für den Moralskeptiker auch ein „Paralleldiskurs" 137 von Moralphilosophie und Ökonomik nicht ohne intellektuelle Risiken. Schon der Begriff ist irreführend: Parallelen schneiden sich nicht - es dürfte also eigentlich keine gegenseitige Beeinflussung beider Disziplinen geben. Nach Auffassung der Autoren gibt es eine solche Beeinflussung jedoch: „Unser Programm ist [...] das Übersetzen in beide Richtungen, ein Paralleldiskurs , in dem Ethik und Ökonomik gegenseitig voneinander lernen können [...]. 4 , 1 3 8 (Hervorhebungen vom Verfasser)

Und an anderer Stelle wird dieser „Paralleldiskurs" so begründet: Einerseits kann die Ethik von der Ökonomik lernen, wie sich moralische Ideale unter den Funktionsbedingungen der modernen Gesellschaft realisieren lassen. Andererseits kann die Ökonomik von der Ethik lernen: „Ethik fungiert als Heuristik der Ökonomik" 1 3 9 - in dem Sinne, daß die Untersuchungsbereiche der Ökonomik durch externe (moralische und ethische) Vorgaben bestimmt werden. Wenn also etwa die Moral fordert, Frauen auf dem Arbeitsmarkt gleichzustellen, dann untersucht die Ökonomik, wie (und inwieweit) ein solches Ziel realisierbar ist. Und wenn die Ökonomik zeigt, daß Wettbewerb solidarischer ist als Teilen, hat das Folgen für die ethische Interpretation eigeninteressierter Handlungen. Das bedeutet jedoch: Ökonomik hat einen internen Einfluß auf die Ethik, die Ethik aber nur einen externen Einfluß auf die Ökonomik. 1 4 0 Diese greift 136 Eine Ordnungsethik sten beider.

verkürzt den Weg zwischen Erkenntnis und Entscheidung - zu La-

137

Homann / Pies (1994a), S. 105.

138

Homann/Pies

139

Homann (1991), S. 24.

(1994a), S. 105.

140

Zur Unterscheidung von internen und externen Fragestellungen vgl. Lakatos (1974).

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

113

zwar in die Begründungsstruktur ethischen Argumentierens ein; aber die Ethik greift nicht in die Argumentationsstruktur der Ökonomik ein - sie beeinflußt lediglich die Auswahl (einiger) ihrer Forschungsbereiche. Der Ausdruck „Paralleldiskurs" ist aber noch aus einem anderen Grunde irreführend. Als Reduktionist glaube ich, daß wir alle Phänomene der Wirklichkeit zu erklären versuchen sollten - und das so sparsam und einfach wie irgend möglich. Wenn es uns nun gelingen sollte, Moral und Ethik auf Ökonomik zu reduzieren, 141 dann wäre das nicht ein wirtschaftsethischer Sündenfall, als den ihn viele Kommentatoren offenbar ansehen, 142 sondern ein erstaunlicher Erfolg und nichts, was man kritisieren müßte. M i r ist daher nicht klar, warum Homann und Pies dem Eindruck widersprechen, daß sie Ethik auf Ökonomik zu reduzieren versucht hätten. 143 Die Aufgabe von Moralökonomik besteht gerade darin, eine positive (moralfreie) Erklärung moralischer Phänomene zu geben. Das tun die Autoren auch gelegentlich, etwa wenn sie den investiven Charakter von Moral hervorheben: Moralische Ideale sind „Aufforderungen zu weitergehenden Investitionen in gesellschaftliche Kooperation" 1 4 4 . Eine Moralökonomik könnte nun erklären, warum manche Menschen solchen Aufforderungen nachkommen und andere nicht, etwa indem sie zeigt, daß solchen Investitionen auch Erträge gegenüberstehen (müssen), die mit den Interessen der Betroffenen kompatibel sein müssen. Aber wenn wir so argumentieren, führen wir gerade keinen „Paralleldiskurs", sondern reduzieren Moral (und Ethik!) auf Ökonomik - was, im Bild gesprochen, zum Verschwinden der zweiten (parallelen) Gerade führen würde. Ein Reduktionist hat daher mit der Behauptung ,J)ie Implementation moralischer Ideen schlägt [...] auf ihre Geltung durch" 145 keine Schwierigkeiten: Die Wirklichkeit ist immer ein gutes Korrektiv für Phantastereien. Aber dieser Lernprozeß ist, wie gezeigt wurde, durchaus einseitig: Wir lernen, warum einige unserer Ziele unerreichbar und warum einige unserer Mittel ungeeignet sind. Aber was lernt die Wirklichkeit von uns? Betrachten wir wieder eine Analogie. Wenn wir ein Flugzeug bauen, implementieren wir unsere physikalischen Ideen in die Wirklichkeit. Hier schlägt in bekannter Weise die Implementation von Naturgesetzen auf ihre Geltung durch: Wenn unser Flugzeug

141 142

Vgl. dazu das zweite Beispiel oben, S. 95 f.

1 4 3 Vgl.

dazu die Diskussion in Ethik und Sozialwissenschaften Homann/Pies (1994a), S. 105 f.

144

Homann (1991), S. 23.

145

Homann/Pies

8 Aufderheide/Dabrowski

(1994), S. 11.

1994.

114

Gerhard Engel

abstürzt, dann sollten wir wenigstens eine unserer physikalischen Theorien aufgeben. Aber der Techniker führt keinen Paralleldiskurs mit der Natur, ob sie vielleicht etwas von unseren Vorstellungen darüber, wie Flugzeuge funktionieren sollten, übernehmen möchte. Das gleiche gilt für den Ökonomen: Warum sollte er von der Ethik etwas darüber lernen müssen, wie die Welt sein sollte ? Daher glaube ich auch im Falle von Ethik und Ökonomik nicht an einen solchen zweiseitigen Dialog. Mehr noch: Für mich sind Moral und Ethik keine Phänomene, vor denen wir das Denken einstellen sollten, sondern die einer sozialwissenschaftlichen Erklärung offenstehen: Sowohl die Verwendung moralischer Forderungen als auch die Verwendung ethischer Argumente kann untersucht werden. Wer als Reduktionist vor Moral und Ethik kapituliert , steigt aus dem ökonomischen Forschungsprogramm aus. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden: Man muß die Wirklichkeit nicht verstehen wollen. Aber ein solcher Schritt ist weder metatheoretisch noch gar moralisch zwingend. Aber dennoch: Trotz der moralischen Restproblematik bei Homann und Pies sind ihr Ansatz sowie die institutionenethischen Ansätze im allgemeinen ein entscheidender Schritt über traditionelle Moralkonzeptionen hinaus. Aber sie sind für mich nicht als mora/philosophische oder ordnungsethische Entwürfe interessant. Sie interessieren mich, weil sie viele lose Enden unserer intellektuellen Überlieferung verbinden können; sie interessieren mich, weil sie uns etwas über die Wirklichkeit mitteilen - und nicht bloß darüber, wie sie aussehen müßte ; sie interessieren mich, weil institutionenethische Entwürfe Identifizierungsangebote für den modernen Menschen im Sinne Webers bereitstellen; und damit sind sie ein Stück Aufklärung. (23) Ich fasse zusammen. Moralskepsis bedeutet, nicht nur am „Segen der Moral" 1 4 6 , sondern auch am Segen einer Ordnungsethik zu zweifeln, die zu wissen glaubt, was moralisch gerechtfertigt ist, und die dann nur noch darüber nachdenkt, wie man „Moral umsetzen" kann. An einigen Beispielen wurde demonstriert, daß Moral gerade in Bereichen, die einer institutionellen Änderung offenstehen, zu völlig falschen Maßnahmen führen kann. Wer akzeptiert, daß in der modernen Gesellschaft der normative Aristotelismus des kollektiven Guten zerbrochen ist und daß die Fallibilität unserer empirischen Wissens Bescheidenheit bei kollektiven „Maßnahmen" erzwingt, wird einer „Umsetzung ordnungsethischer Erkenntnisse" nur mit Besorgnis entgegensehen kön-

146

Hegselmann (1988), S. 16.

Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis

115

nen: Die Welt muß nicht schon wieder auf eine andere Weise verbessert werden.

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Muß die Welt verbessert werden? Von Reinhard Marx

I. Einführende Bemerkungen Die folgenden Anmerkungen können nicht den Anspruch erheben, eine erschöpfende oder auch nur annähernd ausreichende Diskussion der Ethik des kritischen Rationalismus zu sein. Ich bin weder Philosoph noch Ökonom im engeren Sinne und muß deshalb trotz großen Interesses an der Begründung und Weiterentwicklung von Wirtschaftsethik auch im Blick auf die moderne Philosophie zu meinen geistigen „Knappheitsbedingungen" stehen und erst recht zu meinen zeitlichen, die es jedenfalls im Jahre 1996 unmöglich gemacht haben, mich wirklich gründlich mit der wissenschaftlichen Literatur zum Thema vertraut zu machen. Ich lege diese Anmerkungen dennoch vor, weil ich glaube, daß sie die Diskussion zum Thema beleben können. Ich möchte mich zu dem Thema insgesamt aber auch äußern, weil ich mich Karl Homann und seinem Denken sehr verpflichtet fühle und er mich - das ist fast 14 Jahre her - nachhaltig auf „Ökonomik" neugierig gemacht hat und das anhaltend! Ich bin der festen Überzeugung, daß sein wirtschaftsethisches Denken auch für die christliche Soziallehre inspirierend sein kann und die Gesprächspartner in der „sozialethischen Szene" nicht fehlen sollten. Gerne möchte ich zu diesem Gespräch beitragen. Π . Werturteil und Tatsachen „Ich erbiete mich, [...] den Nachweis zu führen, daß, wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, das volle Verstehen der Tatsachen aufhört

Diesen Satz Max Webers stellt Gerhard Engel über sein Kapitel „Grundzüge pragmatischer Moralskepsis", 2 und damit macht er diese Aussage

1

Weber (1919/1973), S. 602.

2

Vgl. Engel (1997), S. 85.

122

Reinhard Marx

zum Programm seiner pragmatischen Moralskepsis. Wenn aber beim Werturteil das Verstehen der Tatsachen aufhört, gibt es dann überhaupt für mich einen Zugang zu den Tatsachen? Kann ich persönlich etwa meine unterschiedlichen Rollen (Bischof, Professor, gesellschaftlicher Akteur, Identifikationsfigur, Privatperson etc.), überhaupt auseinanderhalten? Kann ich mir also einen werturteilsfreien Zugang zu den Dingen selbst eröffnen? Kann ich nicht nur gedanklich, sondern auch wirklich abstrahieren von den unterschiedlichen biographischen Wertungen, Gefühlsausrichtungen, sittlichen Neigungen? Ich weiß es nicht! Ich muß also um Verständnis dafür bitten, wenn die folgenden Fragen und Anmerkungen auch ein wenig vereinfacht erscheinen und durchaus unsicher vorgetragen werden. Ich hoffe aber, daß sie die weitere Diskussion und das Nachdenken anregen können. Ι Π . Ultra posse nemo tenetur! Obwohl es bei unserer Thematik und auch im Text von Gerhard Engel weitgehend um Theorie geht, möchte ich auch, denn was sollte Theorie sonst, auf praktische Relevanzen hinweisen, denn Theorien sollen sich ja bewähren und zeigen, daß man mit ihnen weiterkommt (Popper), nicht nur auf der intellektuellen Ebene, sondern auf dem Feld der Praxis! Es macht keinen Sinn, theoretisch recht zu behalten, aber praktisch zu versagen. Gerade im Feld der Ethik gilt der klassische moraltheologische Grundsatz: Ultra posse nemo tenetur! Denkerisch kann man sich vielleicht ins „ultra" vorwagen, aber normativ können Sätze nur formuliert werden, wenn sie praktikabel sind und nachvollziehbar. I V . Ein Bischof mit Problemen So stand ich etwa mit über 70 anderen Bischöfen vor der Frage: Wie soll sich die Kirche in der aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Situation äußern? Wie kann sie die Erwartungen, die an sie als moralische Institution gerichtet sind, erfüllen? Darf sie das überhaupt? Wie sollen wir sprechen: normativ, appellativ, paränetisch, tröstend? Ich werde da gelegentlich unsicher, stehe aber unter dem Druck, sprechen und auch handeln zu müssen, denn was wäre die Alternative? Schweigen?3 In einer offenen Gesellschaft, die 3

Mittlerweile ist das gemeinsame Wort der Kirchen verabschiedet und erschienen unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit", Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Bonn 1997.

Muß die Welt verbessert werden?

123

über „öffentliche Diskurse" zu Entscheidungen kommt, ist Schweigen für die Kirche nicht möglich. V. Zwischen Moral und Moralisieren Meine beiden Rollen als Bischof und Professor weisen mir dann gelegentlich den Platz zwischen den Stühlen zu, einerseits gegen Moralisten in den eigenen Reihen angehen zu müssen, andererseits konkrete Handlungsoptionen zu präferieren und andere zu verwerfen, somit selbst Moral zu fordern. Innerhalb der Kirche gibt es eben immer noch Positionen, die etwa Marktwirtschaft und Moral für unvereinbar halten, und umgekehrt gibt es philosophische und ökonomische Ansätze, die Moral reduzieren wollen auf subjektives Gefühl ohne jede Relevanz für die Gesellschaft oder sogar Moral für eine Gefährdung rationaler Lösungen halten. V I . Zum Ausgangspunkt der Ethik in der Moderne Für mich stellt sich (durchaus in Übereinstimmung mit Homann und Engel) die Frage: Wie ist richtiges (noch nicht gutes!) Handeln möglich unter den Bedingungen der komplexen Moderne, d. h. unter der Bedingung der prinzipiellen Unüberschaubarkeit meiner und anderer Handlungsfolgen und den Bedingungen der letztlich nicht erschöpfbaren Wissensressourcen im Blick auf die Wirklichkeit. Jedenfalls kann ich mit dem Handeln nicht warten, bis ich alles weiß, und ich kann die Entscheidung nicht aufschieben auf den Tag, an dem ich die Folgen meines Handelns vollständig überschaue. V I I . Empirie und Ethik Dennoch stimme ich der These des (zeitlichen) Vorrangs der Empirie vor der Ethik zu. Dazu gibt es sowohl wissenschaftstheoretisch wie praktisch keine Alternative. Auch den klassischen Satz: ,Agere sequitur esse" kann man (so meine ich) unter Berücksichtigung der Kritik an ihm so reformulieren: Erst die möglichst umfassende Erkenntnis dessen, „was der Fall ist" (Wittgenstein), eröffnet den Raum möglichen Handelns. VIEL „Die kalte Dusche des Rationalismus" Daß wir handeln müssen, steht für mich außer Frage, weil wir genug empirisches Wissen haben, um zu sehen, daß auch Nichthandeln Folgen und (unbe-

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Reinhard Marx

absichtigte) Nebenfolgen hat. So oder so stehen wir vor Entscheidungen, also in einer Situation, zu präferieren oder zu verwerfen, und das ist eine klassische moralische Entscheidungssituation! Da scheint mir der kritische Rationalismus eine erfrischende kalte Dusche zu sein, aber er läßt mich nackt stehen und gibt mir weder die Möglichkeit, noch eine Entscheidungshilfe dazu, wie ich Kleidung bekomme und was ich anziehen soll. Er bindet mir die Entscheidung an Wissensressourcen, die unerschöpflich sind, und nährt die Illusion, man könne für eine Entscheidung tatsächlich alle verfügbaren Wissensbestände auf den Tisch legen. Es ist der Traum der Suspendierung der Moral aus der Wissenschaft. Ich halte das für nicht praktikabel.

I X . Ziele sind notwendig Deshalb plädiere ich weiterhin dafür, Ziele gesellschaftlichen Handelns und ökonomischen Handelns (im Sinne des „Ergebnisses") von komplexen, unüberschaubaren Einzelhandlungen, zu formulieren, die einsichtsfähig sind und (natürlich) erst dann Geltung haben, wenn sie Konsens finden und akzeptiert werden. Die Ziele gesellschaftlichen Handelns dürfen nicht als „Vorgabe" für die Einzelhandlung mißverstanden werden. Es geht hier um eine Differenz von Sozialethik und Individualethik, die nicht übersprungen werden darf. Theologisch gesprochen: Es geht nicht um die Rechtfertigung des Sünders vor Gott, sondern um die Regeln eines sinnvollen und guten Zusammenlebens der Menschen. Natürlich sind solche Ziele, Prinzipien, Leitideen, die einen gesellschaftlichen Konsens voraussetzen und durch diesen Konsens die Rahmenbedingungen für komplexe Handlungszusammenhänge setzen, faktisch moralisch aufgeladen. Sie können aber nur zum Zuge kommen, wenn sie nicht abhängig gemacht werden von der moralischen Qualität der Einzelhandlung. Solche Ziele prägen die Auswahl von Mitteln, institutionellen Arrangements und Spielregeln. Insofern kann (gegen Engel) auch von Institutionenethik gesprochen werden. Es bleibt allerdings die ungelöste Frage, wie wir Mittel wählen sollen, deren Wirkweise wir nur sehr begrenzt erkennen können. Das gilt auch für Teilziele. 4 Aber dennoch kann meiner Meinung nach auf das Ziel Gerechtigkeit nicht verzichtet werden. Auch deshalb übrigens, weil diese Idee in der

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125

Welt ist und konkrete Wirkungen entfaltet, die nicht schlechthin als negativ angesehen werden können. Hier sei auf den berühmten Text von Augustinus verwiesen aus seinem Buch vom Gottesstaat: „Was anders sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche. Auch da ist eine Schar von Menschen, die unter Befehl eines Anführers steht, sich durch Verabredung zu einer Gemeinschaft zusammenschließt und nach fester Übereinkunft die Beute teilt. Wenn dies üble Gebilde durch Zuzug verkommener Menschen so ins große wächst, daß Ortschaften besetzt, Niederlassungen gründet, Städte erobert, Völker unterworfen werden, nimmt es ohne weiteres den Namen Reich an, den ihm offenkundig nicht etwa hingeschwundene Habgier, sondern erlangte Straflosigkeit erwirbt. Treffend und wahrheitsgemäß war darum die Antwort, die einst ein aufgegriffener Seeräuber Alexander dem Großen gab. Denn als der König den Mann fragte, was ihm einfalle, daß er das Meer unsicher mache, erwiderte er mit freimütigem Trotz: „Und was fällt Dir ein, daß Du das Erdreich unsicher machst? Freilich, weil ich's mit einem kleinen Fahrzeug tue, heiße ich Räuber. Du tust's mit einer großen Flotte und heißt Imperator." 5 „Remota iustitia" gibt es keine Kriterien zur ethischen Beurteilung von Institutionen. Eine solche Leitidee kann natürlich auch die „goldene Regel" sein, die zwar sehr allgemein, aber doch keine Leerformel ist. Ebenfalls sind solche moralisch aufgeladenen Bezugspunkte die Menschenrechte. 6

X. Die Welt muß verbessert werden „Die Welt muß nicht schon wieder auf eine andere Weise verbessert werden", so Gerhard Engel. 7 Doch (gegen Engel): Die Welt muß verändert und d. h. verbessert werden (eventuell im Sinne der Paretoeffizienz). 8 Denn der Status quo könnte sie verschlechtern. Ohne regulative Ideen ist eine konsens-

4

Vgl. Entwicklungspolitik bei Engel. Aurelius Augustinus, De civitate dei, I V 4.

Vgl. zum Ganzen die Ausführungen des gemeinsamen Wortes der beiden Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" (1997), S. 39-67. 7

Engel (1997), S. 115.

8

Vgl. Hagel

(1993).

126

Reinhard Marx

orientierte Lösung gesellschaftlicher Probleme nicht denkbar. Diese Ideen sind historisch wirkmächtig und beruhen auf ethischen Voraussetzungen, die sie selbst nicht gewährleisten können.9 Wir können diese notwendigen Ideen nicht nur vom Brauchen her konstruieren, sie müssen auch wahr sein. Ein „Placebo" wirkt hier auf Dauer nicht. Eine funktionale Ethik kann letztlich nicht normativ wirken. 10 Das Homannsche Forschungsprogramm, die Wirtschaftsethik zur normativen Gesellschaftstheorie weiterzuentwickeln, ist zwar sehr ehrgeizig, aber konsequent. Wir dürfen darauf gespannt sein, aber auch hier gilt: Eine nur funktional begründete normative Gesellschaftstheorie, die ausgeht von dem, was Menschen brauchen, und die Metaphysik scheut wie der Teufel das Weihwasser, mag zwar auf den ersten Blick ausreichen, aber wird sie auf Dauer tragfähig sein? Jedenfalls wird auch eine solche Theorie praktikabel sein müssen, aufklärend und akzeptabel und wird deshalb ohne moralische Implikationen nicht auskommen, zumindest im Sinne Kants in seiner berühmten Abhandlung „Zum ewigen Frieden": „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar und lautet so: 'Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegenstreben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten'. Ein solches Problem muß auflöslich sein." 11

Kant geht jedenfalls davon aus, daß es institutionelle Arrangements gibt, die das Ziel Gerechtigkeit gewährleisten können, auch unter Berücksichtigung der individuell schlechten Neigungen der Menschen. 12 Dieses institutionenethische Problem muß also im Sinne von Kant lösbar sein, denn eine Alternative dazu sehe ich nicht! Es geht doch letztlich um die Frage in der Formulierung Homanns: Welches Spiel soll gespielt werden, wer spielt mit nach welchen Regeln, die wir wie zur Geltung bringen? Wie solche Fragen ohne regulative Ideen und damit ohne Moral, beantwortet werden sollen, ist mir unerfindlich.

9

Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität

und Gerechtigkeit

(1997), Ziffer 129.

10

Zur Diskussion um Funktionalismus und Religion vgl. auch bei Reinhard Marx (1990).

11

Kant (1978) „Zum ewigen Frieden", Zweiter Abschnitt, 1. Absatz, 1. Zusatz, S. 224.

12

Im übrigen waren schon für Aristoteles die Institutionen Voraussetzung für das individuelle Glücksstreben, der Einzelhandlung also vorgeordnet.

Muß die Welt verbessert werden?

127

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Pragmatische Moralskepsis und Wirtschaftsethik: Anfragen an ein Programm und seine Durchführung Von Hans G. Nutzinger*

I. Zu Ansatz und Gegenstand von Engels Analyse Der Ausgangshypothese von Gerhard Engel, wonach auch „moralische (und ethische) Sätze ... letztlich nicht begründet, sondern nur kritisiert" werden können,1 stimme ich zu. Die Frage bleibt allerdings, ob der Verzicht auf Letztbegründungen mehr oder minder zwangsläufig zu postmoderner Beliebigkeit führen muß; dieser Anschein drängt sich dem Leser zumindest an einigen Stellen von Engels Beitrag auf, nämlich dann, wenn er es sich mit der Kritik geltender Vorstellungen allzu leicht macht und damit den Eindruck erweckt, er sei nicht an einer wirklich wissenschaftlichen Diskussion möglicherweise strittiger Sachzusammenhänge interessiert, sondern nur daran, Zweifel zu säen. Die „Begründung" ethischer Normen kann in der Tat nur in der Form mehr oder minder überzeugender Plausibilitätserwägungen erfolgen; in diesem Zusammenhang wird eher nach den Funktionen der Ethik gefragt als nach ihren angeblich unverrückbaren Grundlagen. Soweit die Gültigkeit (individual-) ethischer Regeln, wie etwa bestimmter Fairneß- und Wahrheitsgebote, im Sinne ihrer allgemeinen Akzeptanz und Observanz in einer Gesellschaft nicht nur für deren Funktionsweise und Zusammenhalt, sondern auch für den Fortschritt der Wissenschaft selbst wichtig sind, muß sich der „pragmatische Moralskeptiker", als den sich Gerhard Engel präsentiert, natürlich fragen lassen, inwieweit seine Kritik am Geltungsanspruch (individual-) ethischer Regeln nicht als Versuch aufgefaßt werden könnte, eine für ihn bequeme, für Gesellschaft und Wissenschaft jedoch fatale TrittbrettfahrerPosition einzunehmen. Dies wäre zweifellos nicht im Sinne des Kritischen Rationalismus, auf den sich Engel bei seinem Entwurf einer „pragmatischen Moralskepsis" so vehement beruft. Eine derartige Verhaltensweise, wenn sie denn nachgewiesen werden könnte, wäre in der Tat nicht mit den Mitteln der

* Für hilfreiche Anmerkungen und Diskussionen danke ich Dr. Achim Lerch (Kassel). 1

Vgl. Engel ( 1997), S. 78.

9 Aufderheide/Dabrowski

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Moralphilosophie, sondern mit dem Standardwerkzeug der ökonomischen Allokationstheorie zu analysieren. Ich gebe Gerhard Engel indessen den „benefit of the doubt", daß er dies nicht anstrebt, und verzichte daher auf eine naheliegende Rekonstruktion seines Ansatzes aus dieser Perspektive. Unklar bleibt zunächst, was Gerhard Engel eigentlich genau unter Moral versteht: Auf S. 71 (Fn. 2) versteht er darunter „die vorfindlichen Bewertungsgewohnheiten der Menschen, die sich im wesentlichen auf zwischenmenschliches Handeln beziehen. Moral beantwortet die Frage: 'Was sollen wir tun, wenn wir nicht das Mißfallen unserer Mitmenschen erregen wollen?'". Auf S. 86 wird dagegen unter anderem von Moral der „Anspruch auf universelle Geltung" verlangt. Dieses Erfordernis kann durchaus mit den „vorfindlichen normierten Handlungs- und Bewertungsgewohnheiten der Menschen" im Hinblick auf zwischenmenschliches Handeln konfligieren, denn dort finden ob es uns nun paßt oder nicht - Tag für Tag alle möglichen Differenzierungen nach Geschlecht, Rasse, Alter, sozialer Stellung, Nah- und Fernbereich usw. statt. Diesen Umstand betont Engel kritisch an anderer Stelle selbst, aber er muß sich entscheiden, ob er die Universalität des moralischen Anspruchs als Definitionsmerkmai von Moral einführt - dann ist sie im allgemeinen nicht mehr identisch mit den empirisch vorfindlichen Bewertungsgewohnheiten der Menschen; oder aber er verzichtet auf die Universalitätsforderung - dann braucht man eine andere Definition von Moral als die, die Engel in kritischer Absicht vertritt. Die Crux mit den empirisch vorfindlichen Bewertungsgewohnheiten der Menschen besteht vor allem darin, daß in Ansehung konkreter Umstände gerade oftmals auf die Verschiedenheit der Einzelfälle abgehoben wird, so daß anstelle einer „Universalmoral" eine Vielzahl lokaler, leicht miteinander konfligierender „Teilmoralen" entsteht.2 Praktisch gewendet: Dieselbe Hand-

2

Dabei ist das Problem „lokaler", oftmals miteinander konfligierender „Teilmoralen" keineswegs nur auf die Unvernünftigkeit oder pure Unaufgeklärtheit „gewöhnlicher Leute" zurückzuführen. Dahinter steckt auch ein grundsätzlicheres Problem einer jeden - ethischen, juristischen oder sonstwie begründeten - Universalitätsforderung: Das Postulat, daß Gleiches stets gleich zu behandeln sei, impliziert angesichts tatsächlich vorfindbarer Distinktionen zugleich eine nahezu konträre normative Konklusion, nämlich daß Verschiedenes auch verschieden zu behandeln ist. Die lebenspraktische Frage besteht nun darin, in Ansehung des jeweils konkreten Falles „plausibel" zu entscheiden, ob in der jeweiligen Situation die Elemente des Gemeinsamen oder die der Verschiedenheit „überwiegen". Diese Frage wird sich vermutlich nur unter Zugrundelegung bestimmter vernünftiger, wenn auch nicht letztbegründbarer ethischer Maßstäbe entscheiden lassen; ein bekanntes Beispiel für dieses grundsätzliche Problem ist die Frage nach der „Einzelfallgerechtigkeit" in juristischen Verfahren. - Eine pragmatische Moralskepsis sieht sich hier immer der Gefahr ausgesetzt, zynisch oder beliebig zu urteilen oder ganz in zynische Beliebigkeit zu verfallen.

Pragmatische Moralskepsis und Wirtschaftsethik

131

lungsweise unterliegt oftmals einer unterschiedlichen moralischen Bewertung in Abhängigkeit von persönlichen, statusbezogenen, geschlechtsspezifischen usw. Sondermerkmalen. M i r erschiene es an dieser Stelle dem kritischen Anliegen Engels dienlicher, wenn er auf die Differenz zwischen der oftmals abstrakt vertretenen universellen Geltung der Moral und der davon abweichenden moralischen Praxis hinweisen würde. So gewinnt man den Eindruck, daß er diesen offenbar von ihm ungeliebten Begriff einem definitorischempirischen „Overkill" preisgeben will. Betrachtet man manche von Engel vorgebrachten Beispiele, und vergleicht man sie mit eigenen Lebenserfahrungen, so kann man durchaus seiner These zustimmen, daß moralische Wertungen und Empfehlungen - ich füge hinzu: oftmals - signalisieren, daß man begonnen hat, auf das volle Verstehen der Tatsachen zu verzichten; 3 dies gilt allerdings nur als empirisch häufige Beobachtung, nicht als zwingende Konklusion, als die sie Engel hier zu präsentieren scheint.

Π . Die Umsetzung des methodischen Ansatzes bei Engel: Generelle Bemerkungen Wenn es das Anliegen von Gerhard Engel ist, vorschnelle moralische Bewertungen, die oftmals an die Stelle einer durchaus möglichen Analyse von empirischen Fakten und logischen Konklusionen - unabhängig von der jeweils eingenommenen normativen Position - treten, aus dem ethischen Diskurs auszuscheiden, so findet dies meine uneingeschränkte Unterstützung. Seiner immer wieder durchschimmernden Hoffnung, die ethische Betrachtung einer Frage vollständig durch eine Analyse von „Fakten" substituieren zu können, kann ich indes nicht teilen. 4 Die Art und Weise, wie Engel seinen pragmatischen Moralskeptizismus praktiziert, geben indes Anlaß zu der Vermutung, daß er die von ihm vertretene Position nicht wirklich ernst nimmt, denn die Fakten- und Literaturbasis der von ihm diskutierten Fälle erscheint mindestens im vorliegenden Beitrag mitunter recht „dünn". Es wäre im Sinne von Hans Albert, einem der führenden Vertreter des Kritischen Rationalismus im deutschen Sprachraum, ein problematischer „Alternativradikalismus", wenn das Aufwerfen von auch nur

3

4

Vgl. Ens*/(1997), S. 87.

Vgl. dazu etwa die kurze Erörterung des Universalitätsproblems in der vorvorhergehenden Fußnote.

132

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schwach „begründeten", d. h. nicht hinreichend plausibel gemachten Zweifeln schon ausreichen würde, um die ethische Fragestellung durch eine kognitive Ungewißheit zu substituieren. 5 Daß es zu nahezu jeder wissenschaftlichen Position auch mehr oder minder begründete „Gegenmeinungen" gibt, sollte uns zwar sicherlich an die Fallibilität menschlicher Erkenntnis - eine wesentliche Voraussetzung des Kritischen Rationalismus - erinnern, kann indessen weder für einen ethischen Agnostizismus noch für eine praktische Inaktivität in Anspruch genommen werden. Vielmehr erhebt sich hierbei, wie ich am Fall des Klimaschutzes deutlich machen werde, die Frage, wie wir verantwortlich mit einer Situation prinzipieller Ungewißheit umgehen wollen. Dabei hat weder die offenbar von Engel präferierte Handlungsoption „Nichtstun" noch ihr Gegenstück, der mehr oder weniger blinde Aktionismus, eine besondere ethische oder auch nur pragmatische Qualität. Das Aufwerfen von Zweifeln, so wichtig es für den wissenschaftlichen und auch den politischen Diskurs ist, ersetzt weder die solide Analyse einer prinzipiell stets mit Unsicherheit behafteten Situation in der Zukunft, noch ist es ausreichend, einem „business as usual", einer Politik des „Weiter so", eine besondere Reputierlichkeit zu verleihen. Das Unterlassen bestimmter Aktivitäten muß selbst als eine - der Kritik zugängliche und bedürftige - Handlungsform begriffen werden. Auch der von Engel vorgetragene Hinweis auf kontraproduktive Wirkungen bestimmter Maßnahmen, etwa im Rahmen der Entwicklungshilfe, ist noch nicht geeignet, die Vorzüglichkeit von Inaktivität zu begründen; im Sinne von Poppers „Sozialtechnologie der kleinen Schritte" folgt daraus zunächst die Notwendigkeit, nach besseren Handlungsoptionen zu suchen, von denen das Unterlassen nur eine - und keinesfalls immer die beste - darstellt. Gewiß: Oftmals signalisieren moralische Wertungen und Empfehlungen, daß man begonnen hat, auf das volle Verstehen der Tatsachen zu verzichten; im Sinne einer empirisch häufig zutreffenden Beobachtung hat Gerhard Engel

Betrachten wir etwa Hans Alberts (1969), S. 11-15, anschauliche Darstellung des „Münchhausen-Trilemmas" - demzufolge jeder Versuch einer Letztbegründung entweder im unendlichen Rekurs, in der Zirkularität oder im arbiträren Begründungsabbruch an irgendeiner Stelle stecken bleibt, so erscheint Engels pragmatische Moralskepsis, auch wenn er unter Bezugnahme auf den Kritischen Rationalismus die Letztbegründung zurückweist, methodisch sehr stark der dritten Trilemmavariante zu entsprechen, da im hier vorgelegten Text das Aufwerfen irgendwelcher mehr oder minder gut „begründeter" Zweifel an vorherrschenden Überzeugungen schon als ausreichende Basis für einen methodischen Moralskeptizismus präsentiert wird. Dies macht pragmatische Moralskepsis nicht überflüssig, aber begrenzt ihre Leistung darauf, daß sie den - jedenfalls von mir - unbestrittenen Umstand hervorhebt, daß moralische Sympathien (oder auch Antipathien) die kritische Analyse der Sachzusammenhänge nicht ersetzen können. Umgekehrt gilt aber auch, daß die Geltendmachung von empirischen Bedenken auch kein generelles Substitut für unumgängliche ethische Abwägungen sein kann.

Pragmatische Moralskepsis und Wirtschaftsethik

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hier zweifellos recht. Die von ihm vorgebrachten Beispiele praktizierter Moralskepsis zeigen indessen, daß der Verzicht auf moralische Wertungen und Empfehlungen, den er als Moralskeptiker einfordert, ebenfalls mit einem Verzicht auf das volle Verstehen der Tatsachen einhergehen kann und dies in seinem Beitrag mitunter auch tatsächlich tut. Selbstverständlich hat diese, aus der Lektüre seines Textes gewonnene konkrete Einschätzung weder den Charakter einer logischen Zwangsläufigkeit noch einer empirischen Regelmäßigkeit, sie verweist jedoch auf die Notwendigkeit, auch die Methode der pragmatischen Moralskepsis selber einer ebenso skeptischen wie auch pragmatischen Reflexion zu unterziehen. Ich möchte daher i m folgenden - ohne jeden Anspruch auf irgendeine Art „Letztbegründung" - plausibel machen, daß die pragmatische Moralskepsis, jedenfalls in der Art, wie sie hier von Engel praktiziert wird, zwar geeignet ist, die Notwendigkeit eines kritisch-rationalistischen Vorgehens auch bei der Erörterung ethischer Fragen zu illustrieren, daß sie aber - vor allem wegen der Pauschalität der in moralskeptischer Absicht vorgetragenen Argumente

-

keineswegs den Anspruch oder auch nur die Vermutung stützen kann, ethische Abwägungen ließen sich generell

durch eine skeptische Hinterfragung

der behaupteten Funktionszusammenhänge substituieren. Damit soll keinesfalls

bestritten

werden,

daß

ethische

Dispute

oftmals

schon

deswegen

„controverses mal engagées" sind, weil sie den zugrundeliegenden Sachverhalt unzutreffend widerspiegeln und bereits aus diesem Grunde bei dem Versuch einer moralischen Beurteilung scheitern müssen. Darüber hinaus möchte ich einige Argumente dafür anführen, daß auch eine sorgfältigere und damit weniger angreifbare pragmatische Moralskepsis, als ich sie im vorliegenden Text finde, bei dem Versuch, ethische Abwägungen durch pragmatische Moralskepsis zu ersetzen, an ihre methodischen Grenzen stoßen würde. Selbstverständlich kann man das methodische Postulat aufstellen, daß ethische Erwägungen kein Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung sein sollten; aber diese Position selbst wäre wieder Ausdruck einer bestimmten, ihrerseits nicht letztbegründbaren wissenschaftlichen Ethik. Was allerdings aus praktischen Gründen, nämlich zur Herstellung einer gemeinsamen minimalen Diskursbasis, erforderlich erscheint, ist eine Übereinstimmung darüber, daß (1) ethische Urteile als solche kenntlich gemacht werden müssen und daß (2) ethische Urteile keinen Ersatz für die Analyse von Sachzusammenhängen bilden können. Ich unterstelle in diesen beiden Punkten einen (Minimal-) Konsens mit Gerhard Engel und folgere aus dem Postulat (2) auch, daß die unzureichende Analyse von Sachverhalten, etwa durch das Einbringen von Zweifeln, kein Substitut für ethische Urteile sein kann. Selbst wenn man letz-

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tere für überflüssig halten sollte - wozu Engel tendiert - , wird man der Feststellung beipflichten müssen, daß eine sehr lückenhafte Untersuchung von Sachverhalten sicherlich keinen guten Ersatz für eine umfassendere Analyse darstellt.

Ι Π . Die „ökologische Krise" als Fallbeispiel bei Gerhard Engel 1. Bedrohung des Klimagleichgewichts In seinem Beitrag präsentiert Engel zwei zentrale - und in der Tat vielfach diskutierte - Beispiele für die Notwendigkeit einer pragmatischen Moralskepsis, nämlich das Problem der Entwicklungshilfe für die unterentwickelten Länder und einige Aspekte der sogenannten „ökologischen Krise". Die Diskussion beider Problemfelder verbietet sich unter den Restriktionen beschränkter fachlicher Kompetenz und beschränkter Seitenzahlen eines Korreferats. Ich glaube zwar, daß auch eine fundierte Diskussion der Entwicklungshilfeproblematik zu ähnlichen Konklusionen führt wie die im folgenden vorgenommene Erörterung zweier Unterpunkte der „ökologischen Krise", nämlich der ,3edrohung des Klimagleichgewichts" und der „Bedrohung der Arten Vielfalt"; unabhängig von der Richtigkeit dieser umfassenden Vermutung dürften aber die anschließenden Überlegungen zu den beiden genannten ökologischen Fragestellungen zeigen, daß bereits die praktische Durchführung des moralskeptischen Programms - unabhängig von dessen genereller Durchführbarkeit - Anlaß zu erheblichen Einwänden gibt, die ihrerseits geeignet erscheinen, die pragmatische Moralskepsis einer nicht minder pragmatischen Methodenskepsis zu unterziehen. Beginnen wir mit Engels Analyse der Klimaproblematik. Hier hat sich unter den Wissenschaftlern ein sehr weitgehender, wenn auch nicht völlig einhelliger Konsens über den höchstwahrscheinlich anthropogenen Treibhauseffekt gebildet, den das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) in seinem Summary for Policy-Makers vom November 1995 so zusammenfaßt: „Die Abwägung der wissenschaftlichen Erkenntnisse legt einen erkennbaren menschlichen Einfluß auf das globale Klima nahe. Die bisher beobachtete globale Temperaturerhöhung von 0,3 bis 0,6 Grad Celsius in den letzten 100 Jahren ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht völlig auf natürliche Ursachen zurückzuführen." 6

Zit. nach Loske (1996), S . .

Pragmatische Moralskepsis und Wirtschaftsethik

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Die von Engel in kritisch-moralskeptischer Absicht vorgetragenen Unwägbarkeiten - Unterschiede zwischen Klimamodellen und Satellitenmessungen, unzureichende Modellierung von Wolken in Klimamodellen - werden von den Forschern des IPCC selbst immer wieder offen erörtert, und diese haben auch noch auf andere Probleme, wie etwa die Schwierigkeit einer Erfassung von Meeresströmungen und deren mögliche Änderungen als Folge eines Durchschnittstemperaturanstiegs, hingewiesen. I m Zuge dieses Diskussionsprozesses ist es in den letzten Jahren auch zu bedeutenden Verbesserungen und Verfeinerungen der verwendeten Klimamodelle gekommen, wobei insbesondere die zunehmende Konvergenz unterschiedlicher Simulationsrechnungen hervorzuheben ist. Dabei wird dem Kohlendioxidausstoß - anders als von Engel (S. 101) suggeriert - regelmäßig nur etwa die Hälfte des anthropogenen Treibhauseffekts zugerechnet; auch Methan (CH4), Distickstoffoxid ( N 2 0 ) , troposphärisches Ozon (O3) und die Fluorchlorkohlenwasserstoffe FCKW 11 und FCKW 12 spielen hierbei eine bedeutende Rolle. 7 Im Laufe dieses Diskussionsprozesses hat sich - nicht zuletzt unter dem Eindruck der vom IPCC vorgetragenen Argumente und Befunde - die anfänglich hohe Zahl der Kritiker kontinuierlich verringert. Es hat die wissenschaftliche Position der verbleibenden - und im Sinne von Poppers Konzept der „offenen Gesellschaft" auch heute noch nützlichen und wichtigen - Kritiker in der Wissenschaftlergemeinschaft nicht gerade gestärkt, daß einige von ihnen in den letzten Jahren dazu übergegangen sind, die intellektuelle Redlichkeit der „herrschenden Klimameinung" unter Verweis auf Prestige- und Finanzierungsanreize in Frage zu stellen; Salmon8, auf den sich Engel hier beruft, und Hinich 9 sind Vertreter dieser an Verschwörungstheorien grenzenden Argumentationsweise, in der die wissenschaftlich korrekte Frage nach der Angemessenheit der verwendeten Untersuchungsmethoden durch Spekulationen über die Motive der Forscher substituiert wird. Umgekehrt haben die „herrschenden" Klimaforscher meines Wissens niemals die Argumente ihrer Kritiker mit der Begründung abgetan, es handle sich bei diesen um eitle Profilierungssucht und den Versuch, quasi als Gegengutachter „ins Geschäft zu

Vgl. Michaelis (1997), Kap. 2.1. Üblicherweise bleibt der Wasserdampf in der Atmosphäre, der zwei Drittel des natürlichen Treibhauseffekts ausmacht, beim anthropogenen Treibhauseffekt außer Betracht, obwohl er im Sinne einer verstärkenden Rückkopplung auch von Relevanz sein kann, nämlich dann, wenn als Folge des anthropogenen Treibhauseffekts und der damit einhergehenden Temperatursteigerung eine erhöhte Wasserverdampfiing auftritt. 8

Salmon (1993), S. 28.

9

Hinich

(1991).

136

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kommen". Von daher ist die Situation für den Moralskeptiker weniger günstig, als Engel in seiner kurzen Darstellung zu vermuten scheint. Respektabler, aber gerade in moralskeptischer Hinsicht für die ethische Fragestellung keineswegs ergiebiger, sind solche „Klimakritiker", die den Vertretern der „herrschenden Klimameinung" keine bösen Absichten oder Motive unterstellen, aber dafür meist in einer Art „Doppelstrategie" für die Handlungsoption „Unterlassen" votieren, da sie zum einen den Eintritt einer wie auch immer gearteten „Klimakatastrophe" für wenig wahrscheinlich halten - üblicherweise geschieht dies unter Hinweis auf methodische Probleme der Klimaforschung und auf mögliche negative Rückkopplungsprozesse, wie etwa verstärkte Wolkenbildung als „Filter" gegen starke Sonneneinstrahlung 10 - und da sie zum andern von der optimistischen Erwartung ausgehen, eine doch eintretende Erwärmung des globalen Erdklimas ließe sich (kostengünstig) durch entsprechende nachträgliche Anpassungsmaßnahmen bewältigen. 11 So behauptete etwa der bekannte Treibhaus-Skeptiker R. Lindzen in einem Streitgespräch mit dem deutschen Klimaforscher H. Graßl in „Bild der Wissenschaft" (1993): „Auch wenn wir nach dem Motto 'business as usual' weitermachen, ändert sich in zehn Jahren nicht viel. Außerdem sind die Kosten, die entstehen, um die derzeitige Wirtschaftsmaschinerie der Industrieländer zu bändigen, so hoch, daß es für die Menschen besser ist, die Klimaänderung zu tolerieren - und erst danach zu handeln, wenn es notwendig ist." 12

Die hier von Lindzen wie von anderen „Klimakritikern" empfohlene Option „Nichtstun", der auch Engel in seinem Beitrag zuneigt, beruht natürlich auch auf einer impliziten ethischen Bewertung von Handlungsalternativen und kann sich keinesfalls allein auf eine Analyse des (vermuteten) Sachzusammenhangs stützen. Lindzens Beurteilung erscheint sogar ein wenig wider-

Solche Hinweise sind selbstverständlich in der wissenschaftlichen Diskussion notwendig und willkommen; sie reichen aber in der bisher präsentierten Form keineswegs dazu aus, den anthropogenen Treibhauseffekt insgesamt in Frage zu stellen; vgl. Loske (1996) Kap. 1.2. Darüber hinaus verweisen derartige Überlegungen noch auf ein weiteres, regelmäßig von „Klimakritikern" übersehenes Problem: daß es auch positive Rückkopplungsprozesse gibt (vgl. etwa das Problem des Wasserdampfs in der vorangegangen Fußnote), die geeignet sind, die Treibhausproblematik als noch gravierender erscheinen zu lassen, als sie aufgrund der Emissionen von klimarelevanten Gasen allein erscheint. 11

Ersichtlich bedingen sich der Optimismus über den Nichteintritt der globalen Klimaveränderung und der Optimismus über ihre Beherrschbarkeit, falls sie doch eintreten sollte, wechselseitig: Für einen unrealistischen Eventualfall trifft man offenbar ungern ökonomische, aber auch nur mentale Vorbereitungen. Diese Einstellung bedarf dann eines „Grundvertrauens" in die technische Beherrschbarkeit einer jeden möglichen Entwicklung der Zukunft. 12

Zit. nach Loske (1996), S. 50.

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sprüchlich, weil er zum einen anthropogene Klimaveränderungen in Zweifel zieht, aber zum anderen für den Fall ihres Eintretens die Strategie nachträglicher Anpassungsmaßnahmen empfiehlt. 13 Insgesamt läßt sich das Muster der Skeptiker-Argumentation mit Loske anschaulich so charakterisieren: „Zunächst werden allerlei Gründe ins Feld geführt, warum die These vom zusätzlichen Treibhauseffekt nicht zutreffen kann. Dies geschieht fast immer unter Weglassung empirischer Belege. Sodann wird der eigenen Disziplin Einseitigkeit vorgeworfen; und letztlich folgt der Vorschlag, doch besser keine Maßnahmen zum Schutz der Erdatmosphäre zu ergreifen." 14

Indessen zeigt das Beispiel der Klimaproblematik deutlich, daß gerade aus der Analyse von Sachverhalten die Notwendigkeit einer ethisch begründeten Abwägung von Handlungsalternativen folgen kann, einfach deswegen, weil vollkommene Sicherheit bei allen auf die Zukunft gerichteten Sachverhalten zwangsläufig nicht zu erreichen ist, jedenfalls dann, wenn es um spezifische Aussagen geht. Eine vollständige Gewißheit über die Art und den Umfang des menschlichen Einflusses auf das Erdklima kann und wird es nicht geben. Selbst wenn die Klimaforschung größtmögliche Einsicht in die Wirkungsprinzipien der Erdatmosphäre und deren Konsequenzen auf das Erdklima anstrebt (und dabei, wie die letzen zehn Jahre zeigen, durchaus einige Erfolge erzielt), wird über viele Details Ungewißheit bleiben. Genau das generiert die ethische Problematik des „richtigen" Verhaltens unter den Bedingungen von Unsicherheit: Gilt sie als Grund dafür, bestimmte Handlungen zu unterlassen, oder dafür, bestimmte Gegenmaßnahmen zu ergreifen? Die pragmatische Moralskepsis, wie sie hier Engel vertritt, gerät an ihre immanente Schranke.

13 Natürlich löst sich im Bewußtsein von Treibhaus-Skeptikern wie Lindzen dieser anscheinende Widerspruch dadurch auf, daß sie allenfalls geringfügige anthropogene Klimaveränderungen vermuten und dies mit der dann naheliegenden, aber gleichwohl gesondert zu überprüfenden Hypothese kombinieren, die Kosten allfälliger nachträglicher Anpassungsmaßnahmen würden auf jeden Fall geringer sein als die Verzichte aufgrund einer vorsorgenden Klimaschutzpolitik. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, daß die Analyse von Sachzusammenhängen und die (ethische) Bewertung von Handlungsalternativen eng miteinander verbunden sein können, ohne daß sich deswegen die ethische Problematik durch die Erörterung des Sachverhaltes ersetzen läßt. Man gewinnt im konkreten Fall sogar den Eindruck, daß einer oberflächlichen Analyse des Sachverhalts eine besonders leichtfertige Politikempfehlung entspricht. 14

Loske (1996) S. 50.

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2. Ethik und Ökonomik in der Klimaschutzpolitik Um es nochmals festzuhalten: Selbstverständlich gibt es bis zum Eintreten der sogenannten „Klimakatastrophe" keinen endgültigen Beweis für diese. Dann aber kann es für sinnvolle Gegenmaßnahmen zu spät sein, denn der „treibhausskeptische" Optimismus über kostengünstige nachträgliche Anpassungsmechanismen kann sich ebenfalls als trügerisch herausstellen. Daher bedarf es bestimmter ethischer Maßstäbe für die Wahl ,»richtiger" Handlungsoptionen, zu denen natürlich auch das Unterlassen gehört. In dieser Situation ergeben sich für den pragmatischen Moralskeptiker und den Wirtschaftsethiker aus meiner Sicht exakt dieselben - bei Gerhard Engel aber noch nicht einmal angedeuteten - „Hausaufgaben". Diese umfassen vor allem folgende Schritte: 1. Die bisherige Diskussion um den anthropogenen Treibhauseffekt, seine mögliche Vermeidung und die Chancen einer nachträglichen Anpassung muß umfassend aufgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang ist eine begründete, nicht letztbegründete - Abschätzung der Relevanz unterschiedlicher Meinungen zum Treibhauseffekt erforderlich. Hier lassen sich gute Gründe dafür anführen, daß man angesichts der vorliegenden Befunde die prognostizierte „Klimakatastrophe" - und die daraus abgeleitete Notwendigkeit einer Vermeidungsstrategie - als mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartendes Ereignis grundsätzlich unterstellt, falls keine Gegenmaßnahmen getroffen werden. 2. Selbst wenn man der pragmatischen Moralskepsis von G. Engel zustimmt, der den anthropogenen Treibhauseffekt für „nicht bewiesen", aber auch nicht für widerlegt hält, kann man doch die ethische Fragestellung nach der bei dieser Einschätzung ,»richtigen" Handlungs- oder Unterlassungsweise nicht umgehen. Denn auch dann, wenn man aus moralskeptischer Perspektive heraus beide Positionen gleich gewichtet, 15 hat man sich dem Problem zu stellen, daß die Konsequenzen einer unterlassenen Klimaschutzpolitik im Verhältnis zu denjenigen einer (möglicherweise überflüssigen) Klimaschutzpolitik asymmetrisch verteilt sind, wie die folgende Auszahlungsmatrix zeigt:

15

Vgl. dazu die Überlegungen in der vorangegangenen Fußnote.

Pragmatische Moralskepsis und Wirtschaftsethik

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Klimaschutzpolitik (KSP) bei Unsicherheit KSP ^

p

\(un)nötig

KSP unnötig

KSP nötig

ja oder nein KSP nein

hoher Wohlstand

Desaster

KSP j a

mäßiger Wohlstand

erträglicher Wohlstand

Quelle: verändert nach Costanza (1989), S. 4

Wir haben in diesem Falle ein - auch ethisches - Bewertungsproblem: Angesichts der asymmetrischen Konsequenzen der unterschiedlichen Einschätzungen, falls sie handlungsleitend werden, empfiehlt sich entweder die Bildung von Erwartungswerten - ein in diesem Falle höchst problematisches Unterfangen, da sowohl die Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten 16 als auch von „Auszahlungswerten" mit extremen Unsicherheiten behaftet ist - oder aber die Wahl einer Maximin-Strategie, die wiederum zugunsten einer Klimaschutzpolitik sprechen würde, da dann der schlechteste Fall noch tolerabel ist, aber das Desaster vermeidet, während die damit verbundenen Wohlstandsverluste, falls die Klimakritiker recht hätten, zwar beträchtlich, aber nicht unbegrenzt hoch sind. Hier ist der pragmatische Moralskeptiker aufgerufen, seine Entscheidung plausibel zu machen (natürlich ohne den Anspruch auf Letztbegründung), und dabei wird er nicht ohne irgendwelche impliziten ethischen Maßstäbe auskommen.

1 Natürlich könnte man im Falle vollständiger Ungewißheit über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens zweier konträrer Möglichkeiten dafür argumentieren, beiden Alternativen nach dem Prinzip des unzureichenden Grundes eine gleich hohe Eintrittswahrscheinlichkeit zuzumessen (das dürfte auch die Position der pragmatischen Moralskepsis sein), oder man könnte auch Alternativrechnungen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten durchführen, um die „Robustheit" der Wahl im Hinblick auf unterschiedliche Eintrittswahrscheinlichkeiten zu überprüfen. All das hilft aber im vorliegenden Falle nicht weiter, da quantitative Bewertungen der möglichen Ereignisse, vor allem in der Situation des Desasters, extrem willkürlich blieben und darauf gestützte Abwägungen nicht minder arbiträr wären.

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Vom Standpunkt der auch von Gerhard Engel befürworteten Ökonomik setzt eine derartige Auszahlungsmatrix natürlich eine Verständigung darüber voraus, ob das in der Auszahlungsmatrix behauptete „Desaster" tatsächlich stattfindet, genauer gesagt, ob es tatsächlich so „desaströs" ist, wie die Bezeichnung suggeriert. Auf dieser Stufe kommen „Klimakritiker" vom Typ „Ich freue mich auf die Klimakatastrophe", welche die Folgen einer global steigenden Durchschnittstemperatur als insgesamt positiv oder jedenfalls im Verhältnis zu den mit einer Klimaschutzpolitik verbundenen Verzichten als geringer einschätzen, als weitere Akteure in Betracht. Aus ökonomischer Perspektive würde ja vieles für eine „Optimierungsstrategie" anstelle einer „Vermeidungsstrategie" sprechen, wobei im Idealfall jener Punkt zu bestimmen wäre, in dem die „marginalen Vermeidungskosten" einer Klimaschutzstrategie gerade gleich den marginalen Anpassungskosten an eine anthropogene Erhöhung des Erdklimas sind. Damit könnten die gesamten Wohlfahrtsverluste durch einen optimalen Mix von Vermeidung und Anpassung minimiert werden. Ökonomen wie William Nordhaus haben eine derartige Optimierung durchzuführen versucht (z. B. im Dynamic Integrated Climate Emissions-Modell), sind aber bei der empirischen Füllung der Daten gescheitert. 17 Damit tritt an die Stelle der ökonomisch sinnvollen, aber praktisch nicht durchführbaren Optimierungsstrategie eine vom IPCC vorgeschlagene „Vermeidungsstrategie" (Begrenzung des Temperaturzuwachses auf 0,1° Celsius pro Dekade), weil man glaubt, daß die so bewirkten Veränderungen einerseits noch evolutionär durch entsprechende Anpassungen der Ökosysteme verkraftet werden und andererseits notfalls auch noch durch technische Maßnahmen „abgepuffert" werden können. Tatsächlich handelt es sich hierbei schon um eine „gemischte Strategie", die geringfügige Klimaveränderungen und damit implizierte Schäden in engen Grenzen in Kauf nimmt, aber versucht, diese dadurch „beherrschbar" zu halten, daß sie das Tempo des Temperaturzuwachses an einem „natürlichen" Zeittakt orientiert, der auch schon in der vom Menschen noch nicht beeinflußten Evolutionsgeschichte beobachtet werden konnte. Auch bei der Festlegung solcher „Vermeidungsstrategien" (die tatsächlich bereits gemischte Anpassungs-/Vermeidungs-Politiken sind) müssen pragmatische Moralskeptiker und Wirtschaftsethiker schwierige Bewertungsfragen lösen, die angesichts der in diesem wie in vielen anderen ökologischen Fällen auf die Zukunft ausgerichteten Perspektive notwendig mit vielen Unwägbarkeiten behaftet sind. Der Umgang mit diesen Unsicherheiten stellt für beide - Wirtschaftsethiker wie Moralskeptiker - ein grundsätzliches Pro-

17

Vgl. dazu Michaelis (1997), Abschn. 3.2.3.1.

Pragmatische Moralskepsis und Wirtschafitsethik

141

blem dar, das nicht allein auf der Grundlage bekannter naturwissenschaftlicher Zusammenhänge zu lösen ist. Eine Politik des „Nach uns die Sintflut" wird vermutlich auch der pragmatische Moralskeptiker nicht (offen) akzeptieren wollen. Und auch dieser Einstellung, sollte man sie tatsächlich vertreten, läge dann eine bestimmte ethische Beurteilung unserer Verpflichtungen zugrunde, die einer der Marx-Brothers, Groucho Marx, auf die satirische Formel gebracht hat: „Why should I care for posterity? What has posterity ever done forme?" 1 8 Schließlich muß auf der untersten Stufe der Tatsache Rechnung getragen werden, daß eine Vielzahl von Gasen - keineswegs allein nur Kohlendioxid zum Treibhauseffekt beiträgt, so daß eine ökonomische Substitutionsstrategie zwischen verschiedenen klimarelevanten Gasen angezeigt ist, die nach den Berechnungen von Michaelis die voraussichtlichen Kosten der Klimaschutzpolitik halbiert. 19 Da die Kosten der Klimaschutzpolitik nach Michaelis' Berechnungen im Zeitraum von 120 Jahren und einer Wachstumsrate von 1,5 % des Weltsozialprodukts, das im Ausgangsjahr rund 22 Billionen US-Dollar beträgt, von 0,1 % des globalen Sozialprodukts zu Beginn des Planungshorizonts bis auf einen Maximalwert von rund 3 % im Jahr 2100 ansteigen, werden durch eine effiziente Klimapolitik, welche die Reduktion aller Treibhausgase, nicht nur von C 0 2 , optimiert, riesige absolute Kosteneinsparungen ermöglicht, die den vorschnellen Verweis, Klimaschutzpolitik sei nicht finanzierbar und nachträgliche Anpassung sei, falls überhaupt nötig, weitaus kostengünstiger, gerade nicht als Ausdruck pragmatischer Moralskepsis, sondern einer unzureichenden Analyse des Sachverhalts und zugleich einer unzureichenden ethischen Abwägung erscheinen läßt. Die auch von Gerhard Engel bevorzugte „Ökonomik" kommt gerade hier wieder zur Geltung: Das Einbringen ethischer Argumente - wie etwa Risikovermeidung, Verantwortung gegenüber künftigen Generationen - führt also nicht notwendig zur Abdankung der rationalen Analyse, wie dies sein Beitrag suggeriert; umgekehrt führt aber gerade eine gründliche Untersuchung des Sachzusammenhangs, hier der Klimaproblematik, zu dem Ergebnis, daß auch aus ökonomischer Sicht viel für eine Politik der Klimavorsorge spricht. Ökonomik und Ethik stützen sich hier wechselseitig und sind nicht gegeneinander austauschbar, wie dies Engel nahelegt.

18

Zit. nach Vallance (1995), S. 115.

19

Vgl. Michaelis (1997), Kap. 12 und 14.

142

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3. Bedrohung der Artenvielfalt Nach der ausführlichen Diskussion der Probleme, die sich einerseits aus dem Programm der pragmatischen Moralskepsis selbst, andererseits aus der unzureichenden Art ihrer Durchführung am Beispiel der Gefährdung des Erdklimas ergeben, kann die Erörterung des Anwendungsfalls „bedrohte Artenvielfalt" relativ knapp erfolgen, da sich auch hier mutatis mutandis dieselben Grundsatz- und Durchführungsprobleme zeigen: Zunächst einmal sind die praktischen Folgerungen aus dem Artenschutz, die Engel 20 unter Bezugnahme auf Singer 21 angibt - wie drastische Umorientierung der Weltwirtschaft, Rückkehr zum einfachen Leben, Abkehr von Adam Smith, Rückkehr zu Rousseau - , keineswegs zwingende Konklusionen aus der (behaupteten) Analyse des gegenwärtigen Zustandes und der absehbaren Entwicklung. So spricht vieles dafür, daß eine Abkehr von Adam Smith als Abkehr von der Marktwirtschaft und eine Rückkehr zu Rousseau im Sinne einer Hinwendung zu einem mehr oder minder romantischen Naturbegriff gerade nicht geeignet sind, zu einer erforderlichen Lösung ökologischer Probleme beizutragen, die nur auf der Grundlage einer leistungsfähigen, wenn auch in ihre ökologischen Grenzen eingepaßten (Welt-) Wirtschaftsordnung möglich ist. Hierzu hat Smith recht viel, Rousseau hingegen höchst wenig beizutragen. Diese von Engel ungeprüft übernommenen, aber eben durchaus fragwürdigen Konklusionen von Peter Singer sind allerdings für den ökologischen Ökonomen, dem es um das Beziehungsfeld von Wirtschaft und Umwelt geht, keineswegs überraschend, da Singer weder Ökonom noch ausgewiesener Experte für Biodiversität ist; er ist bisher vor allem als Spezialist für Tierschutz hervorgetreten und eignet sich daher eher als willkommenes Zerrbild denn als tatsächlicher Repräsentant der anspruchsvollen internationalen Diskussion über biologische Vielfalt. Engels 22 Behauptung, das Artensterben betreffe vor allem Insekten und sei in Wirklichkeit lediglich „ein hypothetisches Sterben unentdeckter Arten", ist in dieser Form unzutreffend. Zwar ist richtig, daß Wirbellose und Insekten vermutlich weit stärker von der Ausrottung betroffen bzw. bedroht sind als Säugetiere, aber nach den Befunden in der einschlägigen Literatur 23 sind Pflanzen, Vögel, Amphibien und Reptilien ebenso stark gefährdet. Auch für 2 0

Vgl. Engel (1991), S. 101.

21

Vgl. Singer (1996), S. 51.

2 2

Vgl. Engel (1991), S. 101.

23

Vgl. Groombridge

(1992); Wilson (1988) und Swanson (1995).

Pragmatische Moralskepsis und Wirtschaftsethik

143

eine ganze Reihe von Säugetieren sind dramatische Populationsrückgänge dokumentiert. Im übrigen sagt die Tatsache, daß eine Art noch unentdeckt ist (und daher unter den gegenwärtigen Bedingungen oftmals ausgerottet wird, bevor sie entdeckt werden kann), nichts über eine potentielle Nützlichkeit dieser Art und damit über die Höhe des Verlustes aus, die mit ihrer Ausrottung einhergeht. Auch von ökologischer Seite unbestritten ist der Umstand, daß sowohl die Schätzungen über tatsächliche Entwaldungsraten als auch über die damit verbundenen Artenverluste mit quantitativen Unsicherheiten behaftet sind. Daß aber großflächige Deforestationen und damit verbunden Habitatzerstörungen stattfinden, die ihrerseits zwangsläufig zum Aussterben der an diese Habitate gebundenen Arten führen, ist ein unbestreitbares Faktum, das wohl auch Gerhard Engel nicht im Namen einer pragmatischen Moralskepsis in Abrede stellen will. Selbst der von ihm als Kronzeuge angeführte Julian L. Simon (1992) räumt ein, daß Spezies mit kleinen Verbreitungsgebieten sehr wohl von Ausrottungen betroffen sind - dies unterschlägt Engel - , und Simon versucht diese Tatsache lediglich mit der logisch unzulässigen und empirisch nachweislich falschen Behauptung zu relativieren, derartige Spezies mit begrenzten Habitaten seien für den Menschen von untergeordneter Bedeutung. Prominentestes, aber keineswegs einziges Gegenbeispiel ist das Madagaskar-Immergrün Catharantus roseus mit den daraus gewonnenen zytostatischen Alkaloiden Vinchristin und Vinblastin, das nur auf Madagaskar vorkommt, aber eine wichtige Rolle in der Krebstherapie spielt. Vermutlich zutreffend ist Engels 24 Hinweis, daß 99 % aller Arten, die jemals auf der Erde existiert haben, ohnehin ausgestorben sind. Diese Feststellung ist aber dem gegenwärtigen Problem der Artenbedrohung völlig unangemessen, weil es heute nicht nur um das Aussterben der Spezies als solches geht, sondern vor allem auch um seine Geschwindigkeit, die um einige Zehnerpotenzen über dem evolutionären Zeitmaß des Verschwindens und Entstehens von Tier- und Pflanzenarten liegt. Während selbst die erdgeschichtlichen Massenausrottungen - etwa vor 65 Mio. Jahren am Ende der Kreidezeit, denen auch die Dinosaurier zum Opfer fielen - noch Jahrmillionen beanspruchten, erfolgt der anthropogene Eingriff in die Evolution innerhalb weniger Jahrzehnte - und zwar mit nicht absehbarer Folgen, deren Bedeutung auch eine pragmatische Moralskepsis nicht in Abrede stellen kann.

24

Vgl. Engel (1997), S. 102.

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Man kann durchaus auf erhebliche Unsicherheiten über den genauen quantitativen Umfang des Artensterbens hinweisen, nicht zuletzt deswegen, weil ihm, vor allem in den tropischen Regenwäldern, viele Spezies vor ihrer Entdeckung zum Opfer fallen; die Frage ist aber nicht, ob in den nächsten 100 Jahren 40 % aller Arten aussterben werden, wie viele Biologen schätzen,25 oder ob es nur 30 % oder gar 50 % sind. Das Faktum des Artenschwundes als solches kann daher seriöserweise nicht unter Hinweis auf hohe Unsicherheitsfaktoren in der empirischen Messung bestritten werden. 26 Auch hier steht die pragmatische Moralskepsis auf schwachen, ja tönernen Füßen.

I V . Abschließende Bemerkungen Die Diskussion von zwei Aspekten der „ökologischen Krise", nämlich der Gefährdung des Erdklimas und der Bedrohung der Artenvielfalt, hat zunächst gezeigt, daß die von Gerhard Engel praktizierte pragmatische Moralskepsis ihren eigenen, am Kritischen Rationalismus orientierten Maßstäben nicht gerecht werden kann. Das Aufbringen von mehr oder meist minder gut begründeten Zweifeln ist nicht geeignet, die ethische Fragestellung zu eliminieren. Dieses Verfahren entspricht erkennbar einer Variante des Albertschen „Münchhausen-Trilemmas", nämlich dem willkürlichen Abbruch der Begründung an irgendeiner Stelle (im vorliegenden Fall nach der Einbringung bestimmter Gegenargumente 27). Die höchst kursorische Art, in der diese Zweifel präsentiert werden, gibt Anlaß zu der Vermutung, daß Engel seinen eigenen Ansatz nicht wirklich ernst nimmt. Allerdings haben sich an verschiedenen Stellen deutliche Hinweise darauf ergeben, daß auch eine sorgfältigere Durchführung des moralskeptischen Programms, als sie hier geboten wird, an seine Grenzen stoßen würde, an denen die Auseinandersetzung über den

25

Vgl. Barthlott (1995).

2 6

Ein in diesem Zusammenhang häufig vorgebrachtes Scheinargument ist der Hinweis auf die Zunahme von Biodiversität durch Ansiedlung standortfremder Arten (sog. „NeophytenProblem"), die aber rein gar nichts mit dem Problem aussterbender Spezies zu tun hat. 27

Dieses problematische Vorgehen ist um so bemerkenswerter, als Engel (S. 81) selbst ausführlich auf das Münchhausen-Trilemma eingeht. Er glaubt offenbar, mit der Geltendmachung von Gegenargumenten bereits die ethische Fragestellung im Sinne einer Unentscheidbarkeit und der Handlungsoption „Unterlassen" eliminieren zu können, und merkt nicht, daß diese Vorgehensweise dem arbiträren Abbruch der Begründung im Kontext des Münchhausen-Trilemmas gleichkommt. Der Verzicht auf (unmögliche) Letzbegründungen ist eben nicht gleichbedeutend mit einem Freibrief für eine oberflächliche Analyse des jeweiligen Sachverhalts, selbst dann nicht, wenn es nur darum geht, die Unangemessenheit bestimmter ethischer Forderungen deutlich zu machen.

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Sachverhalt die ethische Beurteilung über die Wahl von Handlungs- und Unterlassungsalternativen nicht mehr substituieren kann. Das Verdienst von Engels Beitrag besteht zweifellos darin, erneut darauf hingewiesen zu haben, daß ethische Bewertung die Analyse von Sachzusammenhängen nicht ersetzen kann. Er übersieht indessen, daß dies auch für das umgekehrte Prozedere gilt, das er selber einschlägt. Da Gerhard Engel erkennbar anstrebt, Ethik durch Ökonomik zu ersetzen, erscheint noch ein weiterer Punkt seiner sozialphilosophischen Reflexionen problematisch. Er weist dezidiert darauf hin, daß er die Nicht-Existenz eines freien Willens „zu den vorläufig gelösten Problemen der Philosophie" rechnen muß, „wenigstens in dem Sinne, daß sie zur Zeit nicht mehr ernsthaft diskutiert werden, da man keine guten Argumente mehr für sie mobilisieren kann". 28 Damit gefährdet er - meiner Meinung nach ohne Not - sein eigenes methodisches Programm, das auf eine Substitution der Ethik durch die Ökonomik hinausläuft. Zumindest müßte Engel die von ihm so eindeutig abgelehnte „Willensfreiheit" näher spezifizieren. Gerade die von ihm positiv bewertete Ökonomik, auch die Institutionenökonomik, braucht einige Merkmale von Willensfreiheit, vor allem die Vorstellung, daß Menschen gemäß ihren eigenen Vorstellungen zwischen verschiedenen Alternativen abwägen können und entsprechend ihren Interessen bestimme Alternativen auswählen und die anderen abwählen; ebenso setzt die Ökonomik Vertragsfreiheit - und damit auch Willensfreiheit - der Marktpartner (allgemeiner: aller Transaktionspartner) voraus. Engel müßte also zumindest genauer angeben, in welchem Sinne er sie bestreitet oder jedenfalls für „vorläufig erledigt" hält; andernfalls wird sein Rückgriff auf die ökonomische Methode - gerade als Ersatz für eine ethische Abwägung - selbst widersprüchlich. Um es zusammenzufassen: Gerhard Engels Anliegen, nicht vorschnell ethische Urteile und moralische Bewertungen einzuführen, ist zweifellos begrüßenswert, wenn auch nicht besonders neuartig. Wie die oben kurz skizzierten Beispiele „Klimaschutz" und „Artenvielfalt" deutlich machen, ist aber auch eine Selbstreflexivität der pragmatischen Moralskepsis, also ein Skeptizismus gegenüber dieser Methode selbst, angezeigt. Mit dem Aufwerfen von Zweifeln, Gegengründen und kritischen Argumenten - so wichtig sie für den Fortschritt der Wissenschaft in einer offenen Gesellschaft sind - ist die Arbeit nicht abgeschlossen, sie fängt gerade erst an. Das gilt gleichermaßen für Ethiker, Öko-

2 8

Engel (1997), Fußnote 18.

10 Aufderheide/Dabrowski

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nomen und pragmatische Moralskeptiker. Gerade den letzteren möchte ich also zurufen: An die Arbeit!

Literatur Albert, H. (1969): Traktat über kritische Vernunft, Tübingen, 2. Aufl. Barthlott, W. (1995): Biodiversität - von Reichtum und Armut in der belebten Natur, in: Mayer, J. (Hrsg.): Eine Welt - Eine Natur? Der Zugriff auf die biologische Vielfalt und die Schwierigkeiten, global gerecht mit ihrer Nutzung umzugehen (Loccumer Protokolle 66/94), Rehburg-Loccum. Costanza , R. (1989): „What is Ecological Economics?" in: Ecological Economics, vol. 1, S. 1-7. Engel , G. (1997): Wirtschaftsethik und pragmatische Moralskepsis. Zum Vorrang der Empirie vor der Ethik, im vorliegenden Band. Groombridge , B. (Hrsg.) (1992): Global Biodiversity: Status of the Earth's Living Resources. Compiled by World Conservation Monitoring Centre, London u. a. Hinich , M. J. (1991), in: D.J. Kraan / R.J. Veld (Hrsg.): Environmental Protection: Public or Private Choice, Dordrecht - Boston - London. Loske , R. (1996): Klimapolitik. Im Spannungsfeld von Kurzzeitinteressen und Langzeiterfordernissen, Marburg/Lahn. Michaelis, P. (1997): Effiziente Klimapolitik im Mehrschadstoffall. Eine theoretische und empirische Analyse, Tübingen. Salmon , J. (1993): „Greenhouse Anxiety", in: Commentary 96, No. 1, S. 25-28. Singer, P. (1996): Wie sollen wir leben? Ethik in einer egoistischen Zeit, Erlangen. Swanson, T. (1995): The economics and ecology of biodiversity decline, Cambridge. Vallance , E. (1995): Business Ethics at Work, Cambridge. Wilson , E.O. (Hrsg.) (1988): Biodiversity. Washington D.C.; dt. Ausgabe (1992): Ende der Biologischen Vielfalt? Heidelberg.

Spielregeln gestalten sich nicht von selbst Institutionenethik und Individualethos in Wettbewerbssystemen Von Michael Schramm Früher war die Welt noch in Ordnung. Der Mensch stand im Mittelpunkt der Gesellschaft. Heute steht er - verbannt in die 'Umwelt' des Gesellschaftssystems - draußen, sagen manche. Nun muß dieser Platz im Freien so ungemütlich gar nicht sein1, allein: Beschränkt sich des Menschen Kontakt zur 'Gesellschaft' darauf, tagsüber als marionettenhafter Systemfunktionär durch das Gesellschaftslabyrinth zu irren, sich nach Feierabend wieder in seine menschlich vertraute 'Umwelt' zurückzuziehen und ansonsten die Dinge zu belassen, wie sie sind? Moralisches Veränderungspathos scheint, so heißt es, ohnehin zu einem bloßen Resignationsphänomen zu degenerieren, das zwar den subjektiven Juckreiz der Probleme etwas lindere, objektiv (gesellschaftlich) aber doch nichts heile 2 . Schlechte Karten für die Ethik. Doch zum Glück: Auch mit scheinbar schlechten Karten kann die Ethik, wenn sie gut spielt, Punkte machen.

I. Das Moderne der Moderne. Die funktionale Ausdifferenzierung von dilemmatischen Wettbewerbssystemen Es versteht sich von selbst, daß eine Vorbedingung einer gesellschaftlich halbwegs nützlichen Ethik darin besteht, die Strukturen der modernen Realitäten zu berücksichtigen 3: Das Moderne der Moderne besteht - im Unterschied

1 Es sei überhaupt „nicht einzusehen, weshalb der Platz in der Umwelt des Gesellschaftssystems ein so schlechter Platz sein sollte. Ich jedenfalls würde nicht tauschen wollen" (Luhmann 1994, S. 55).

2

Luhmann (1993b, S. 139) vermutet, es werde „Ethik gerade deshalb als Medizin verschrieben, weil sie zwar nicht heilt, aber den Juckreiz der Probleme verringert". Ansonsten läuft sie Gefahr, daß ihre Anliegen wie bei einem Blitzableiter in den Boden abgeleitet werden, um dort folgenlos zu versickern, oder aber kontraproduktive Auswirkungen zeitigen.

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Michael Schramm

zu vormodernen, noch weitgehend einheitlich integrierten Lebenswelten - in der funktionalen Ausdifferenzierung unterschiedlicher, sich meist durch eine Wettbewerbskoordination auszeichnender Subsysteme (Systemstrukturen) einerseits und der verschiedenen Einzelwissenschaften (Rationalitätsstrukturen) andererseits.

1. Code und Programm. Systemregeln als effiziente

Komplexitätsreduktion

Befragt man den Hauptvertreter der Systemtheorie, Niklas Luhmann, danach, was denn das gemeinsam Systemische von Gesellschaftsbereichen wie Politik, Wirtschaft, Recht oder Wissenschaft sei, dann erhält man teilweise recht kryptisch anmutende Antworten, die nicht gerade um eine pastorale Allgemeinverständlichkeit bemüht sind. Ein Sketch von Otto Waalkes kann hier weiterhelfen: yJSie wollen Ihren Führerschein machen. Ich hätte da noch eine Frage an Sie. O, eine Frage! Fragt nur zu, denn nur wer fragt, dem wird auf dieser Erden ... Also. Sie kommen an eine Kreuzung zweier gleichberechtigter Straßen. Von rechts kommt ein Auto. Wer hat die Vorfahrt? Da kommt ein Auto, sagten Sie? Eins jener Fortbewegungsmittel, die, wie von Geisterhand beflügelt, den Menschen hierhin bald, bald dorthin tragen? Wer hat die Vorfahrt? Wer Vorfahrt hat? Welch wunderliche Frage! Weiß ich doch gar nicht, wer in jenem Auto sitzt. Ist es ein Jüngling auf dem Weg zur Liebsten, den Amors Flammenpfeil zur Eile trieb? Dem ließe ich die Vorfahrt gern" 4 . Otto denkt im Paradigma der individuellen Handlung (handlungstheoretisch), der Fahrlehrer dagegen im Paradigma eines Systems (systemtheoretisch). Das Systemische besteht darin, daß - unter Ausschluß persönlicher Hintergründe - nur nach bestimmten Regeln entschieden wird: Verhalten wird „durch systemeigene Regeln gesteuert" 5. Die Regel des Verkehrssystems 'rechts vor links* - unterscheidet nur zwei Größen: rechts und links. Lebensweltliche Sachverhalte wie etwa Amors Flammenpfeil nimmt sie nicht wahr. Systeme benutzen einen binären Code und ordnen die beiden Größen mittels

4 5

Waalkes ( 1983), S. 28.

Luhmann (1984), S. 247. Auch in dem sozialen „System, das sich kurzlebig bildet, wenn Menschen vor einer Theaterkasse Schlange stehen" (ebd., 272) wird nicht individuell gehandelt, sondern systemisch entschieden: 'Wer zuerst kommt, mahlt zuerst'. Wer sich vordrängt, hat kollektives Murren (ebd., 272) zu gegenwärtigen.

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eines Programms einander zu: rechts vor links. 6 Entscheidend dabei ist: Ein System „kann nur sehen, was es mit dieser Unterscheidung sehen kann" 7 . Die 'Wahrnehmungen' eines Systems sind also hochgradig selektiv.8 Dadurch, daß die Vorfahrtsregel die unglaublich komplexe Vielfalt möglicher Kriterien der Vorfahrtsgestaltung (etwa Amors Flammenpfeil) ausblendet, geschieht eine „Reduktion von Komplexität" 9 . Allgemein: „Funktionssysteme sind für funktionsspezifische Hochleistung ausdifferenziert" 10. Der Vorteil einer systemischen Regelung besteht also in der Effizienz durch Komplexitätsreduktion mittels eines binären Codes. Der Nachteil liegt in den notwendigen Ausblendungen. Die Systemregeln des Verkehrs berücksichtigen subjektive Dringlichkeiten nicht. 11 Nichtcodierte Dimensionen bleiben 'Umwelt'. Was der Systemcode wahrnehmen kann, ist System, ,,[d]ie Umwelt ist einfach 'alles andere'" 1 2 . Auch der Mensch als ganzheitliche Person geht natürlich nicht darin auf, Funktionär von Systemregeln zu sein, 13 und gehört gerade deshalb in seinen subjektiven Bedürfnissen zur Umwelt sozialer Systeme. Nun besteht die moderne Gesellschaft natürlich nicht nur aus so lapidaren Systemen wie Verkehrsregeln oder Warteschlangen; vielmehr hat sie auch große Systeme hervorgebracht, die tragende Funktionen erfüllen: funktional ausdifferenzierte gesellschaftliche Subsysteme. Beispiel: Wirtschaftssystem. Die Wirtschaft reguliert Knappheit mittels des Mediums Geld allein über den Code 'Zahlen oder Nichtzahlen'. Wenn man auf dem Gemüsemarkt ein Kilo Spargel erstehen will, wird die Gemüsefrau vermutlich keine langwierigen kommunikativen Diskurse darüber anzetteln, woher das Geld stammt, ob man den Spargel zuhause kunstgerecht zubereitet. Ausgeblendet bleiben auch die moralischen Qualitäten der Beteiligten: So spielt es keine Rolle, ob der Käufer sein Geld hart verdient oder als 'Amigo' mitgenommen hat; auch mag die

6 „Wenn ein System unter einem binären Code arbeitet, dann braucht es Programme, um zu sagen, ob der positive oder negative Wert gilt" (Luhmann 1989, S. 510). 7

g

Luhmann (1992a), S. 85.

„Ein System kann nur sehen, was es sehen kann. Es kann nicht sehen, daß es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann" (Luhmann 1990, S. 52). 9 Luhmann (1984), S. 262. 10

Luhmann (1990), S. 223.

11

Ein angehender Vater, der seine hochschwangere Frau eiligst in die Klinik fährt, muß gleichwohl der von rechts kommenden Spazierfahrerin die Vorfahrt lassen. 12

Luhmann (1984), S. 249. „Was nicht zum System gehört, gehört deshalb zur Umwelt und umgekehrt" (Luhmann 1993a, S. 267). Der Umweltbegriff besitzt systemrelativen Charakter. 13

„Kein Mensch kann [...] in soziale Systeme eingefügt werden" (Luhmann 1994, S. 54). Es wäre ein Mißverständnis, zu meinen, bei Luhmann gäbe es keine Menschen mehr.

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Gemüsefrau vielleicht ihr Pferd verdreschen, Hunde erschießen und Ratten verspeisen, 14 doch keine dieser anheimelnden Eigenschaften interessiert. Allein der binäre Code Zahlen oder Nichtzahlen zählt: Wer zahlt, bekommt, was er will, wer nicht zahlen kann oder will, muß zuschauen. „Zahlen oder Nichtzahlen - das ist [...] die Seinsfrage der Wirtschaft". 15

2. Wettbewerb als Dilemma Nun bleiben die Systeme bei Luhmann insofern aber noch unzureichend beschrieben, als es sich nicht nur um codierte (und programmierte) Systeme, sondern auch um Wettbewerbssysteme handelt. 16 Diesen Wettbewerbschaiakter erhalten die ausdifferenzierten Systeme durch eine spezifische Dilemmastruktur, welche sich mit Hilfe der modernen Spieltheorie überzeugend illustrieren läßt (prisoner's dilemma). Von mehreren Sozialwissenschaftlern wurde hervorgehoben, daß diese Logik (des Gefangenendilemmas) auch auf (funktionierenden) Wettbewerbsmärkten anzutreffen ist. 17 Beispiel: Politiksystem. Die Anbieter auf dem politischen Markt, die Politikerinnen bzw. Parteien, werden durch die Spielregeln des demokratischen Politiksystems in ein Dilemma versetzt. So wie die beiden Gefangenen institutionell daran gehindert werden, sich zu ihrem eigenen Nutzen abzusprechen, so verhindern (idealtypisch) im Rahmen der demokratischen Öffentlichkeit die Spielregeln periodisch wiederkehrender Wahlen und der institutionalisierten Ermöglichung von Opposition, daß sich die Insassen des Bundestages absprechen und eine kartellierte Machtpolitik zu ihrem eigenen Nutzen auf Kosten der Bürgerinnen betreiben. Unter der Voraussetzung von Wahlen können Oppositionspolitikerinnen ihrem persönlichen Ziel einer Mehrung ihrer Macht 1 8 nur dadurch näher kommen, daß sie - etwa in den Medien - einen inhaltlichen Kontrast zur Regierungspolitik glaubhaft machen können und so aktiv in einen argumentativen Wettbewerb eintreten. Wenn die politischen Anbieter ihr Interesse an möglichst hohen Machtgewinnen nur unter dem

14 15 16

So eine Formulierung bei Buchanan (1984), S. 25. Luhmann (1990), S. 104. So auch Pies (1995a), S. 334 f.; Pies (1995c), S. 164.

17

Etwa von Axelrod (1991), S. 162; Wenger (1987), S. 232, A. 68; Homann / Pies (1991); Homann / Blome-Drees (1992), S. 29 - 34. 18

Vorausgesetzt wird hier methodisch (nicht moralisierend anklagend), daß Politikerinnen nicht unbedingt in jeder Situation allein von jungfräulich reiner Selbstlosigkeit getrieben sind.

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Zwang gegenseitiger Konkurrenz via attraktiver 'Produkte' erreichen können, wird der demokratische Wettbewerb zu einem kreativen 'Entdeckungsverfahren ' möglicher Politikoptionen - zum Nutzen der Bürgerinnen. Allerdings muß angesichts dieses vielleicht etwas schöngefärbten Bildes sofort das vielfache Fehlen geeigneter Spielregeln, das diese gemeinwohldienliche Wettbewerbsdilemmatik untergräbt, hervorgehoben werden. Beispiel: Ämterpatronage 19 im öffentlich-rechtlichen Rundfunksektor. Politische Parteien trachten natürlich danach, den freien Wettbewerb politischer Optionen dadurch in ihrem Sinne zu unterbinden, daß sie die ARD-Rundfunkräte und den ZDFFernsehrat, denen ja die Überwachung der inhaltlichen Programmgestaltung obliegt, mit Freunden und Gönnern bevölkern. 20 Es stellt sich daher die Frage, ob es sinnvoll ist, Vertreter politischer Parteien, deren Aktivitäten von den Medien eigentlich durch die Veröffentlichung alternativer politischer 'Produkte' kritisch begleitet werden sollten, überhaupt in den Rundfunkräten zuzulassen.21 Wo Parteienkonkurrenz systematisch unterlaufen werden kann, sind erwünschte Ergebnisse nicht mehr zu erwarten. Umgekehrt ist zudem zu berücksichtigen, daß es auch einer moralisch gesinnten Politikerin aufgrund situativer Restriktionen als einzelner vielfach nicht möglich ist, alternative, möglicherweise aber konstruktive Politikoptionen ein- bzw. zur Geltung zu bringen. Die Achillesferse unseres Politiksystems ist die Tatsache, daß es keine wirklich unabhängige Legislative gibt, die die grundlegenden Regeln erstellt und eventuelle Regelverletzungen (der Exekutive) unterbindet. Die Legislative (Parlament) wird dominiert von der Exekutive (Regierung), die aufgrund des Wiederwahlinteresses die Tendenz besitzen muß, den Wünschen gut organisierter Interessenorganisationen über entsprechende Wahlgeschenke zu entsprechen. 22 Begünstigt wird diese Konstellation, in der gemeinwohlorientierte Regelungen, die in einem Rawlsschen Urzustand beschlossen werden würden, oftmals nicht zum Tragen kommen können, 23 dadurch, daß der einzelne Posten an Zuwendungen für eine Interes19

Vor seiner Regierungsübernahme 1982 äußerte Kanzler Helmut Kohl: „Ich finde es lächerlich, wenn Politiker bestreiten, daß es dieses Problem [Anm.: Ämterpatronage] gibt" (zit. nach: Arnim 1992, S. 1033). 2 0 Donsbach /Mathes (1994), S. 492. 21

„Der Sündenfall war die Beteiligung der Parteien an den Rundfunkanstalten"(Fn>^nc/ij 1995, S. 9). 2 2

Näher hierzu: Olson (1968).

23

Zu nennen sind jahrzehntelange Erhaltungssubventionen (z. B. im Steinkohlebergbau 1994: über 100.000 D M jährlich pro Arbeitsplatz), der öffentliche Schuldenberg (1995: über 2 Bio. D M ; Zinsen: jährlich ca. 120 Mrd. D M ) oder die schleppende Ökologisierung der Marktwirtschaft.

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senorganisation kaum ins Gewicht fällt, obwohl sich diese Zuwendungen dann insgesamt auf ein beträchtliches Maß summieren ('Salami-Taktik') 24 , daß hier Geschenke auf Kosten von vielen verteilt werden, die nicht sofort identifiziert werden können und daß ζ. Β. die entstehenden Staatsschulden - im Gegensatz zu den konkreten Interessen der Organisationen - eine relativ abstrakte Angelegenheit sind. Da in parlamentarischen Demokratien aufgrund dieses „Defekts in der Konstruktion" 25 unseres Politiksystems die Probleme primär in den institutionellen Handlungsbedingungen zu suchen sind, kann die Therapie nicht (allein) in einer Läuterung der moralisch (möglicherweise) defizitären Charaktere real existierender Politikerinnen bestehen: „Solange die gegenwärtige Form der Demokratie vorhält, kann keine anständige Regierung existieren, selbst wenn die Politiker Engel [...] sind" 26 . Obgleich wirklich überzeugende Vorschläge einer Umgestaltung unseres politischen Institutionensystems - wenn man ehrlich ist - nicht zu sichten sind 27 , sollte man doch nicht kurzschlüssig sein Heil außerhalb des demokratischen Politiksystems suchen, sondern beharrlich an Lösungsvorschlägen basteln, die Moral bzw. moralisch erwünschte Ergebnisse über Regelgestaltungen zur Geltung zu bringen.

Π. und führe uns nicht in Versuchung'. Zum moralischen Polymorphismus von Systemethik und Individualethos Es zeigt sich, daß man unter den Bedingungen der Moderne - unter dilemmatischen Systembedingungen also - Moral nicht mehr nur als individuelle Gesinnungsmoral ansetzen kann. Die Moral ist in der Moderne unter Bedingungen geraten, die eine Beschränkung auf eine Individualethik nicht mehr erlauben. Der Struktur der modernen Gesellschaft, der „funktionalen Diffe-

24

Hierzu: Dixit / Νalebujf (\995),

25

Hayek (1981), S. 53.

26

Hayek (1981), S. 184 f.

S. 23 f.

27

Aus sozialethischer Sicht bedarf es einer Legislative, die die (scheinbar herzlosen) Grundregeln schützt und weiterentwickelt - nicht zuletzt im Interesse der 'Armen', die aufgrund der schwachen Organisierbarkeit ihrer Interessen vom demokratischen 'Schacher' ausgeschlossen bleiben. Der Vorschlag von Hayeks einer unabhängigen Legislative ('Zwei-Kammern-System') - er befürwortet so etwas wie einen legislativen 'Ältestenrat', eine „Versammlung von Männern und Frauen, die in einem relativ reifen Alter für [...] etwa fünfzehn Jahre, gewählt werden" {Hayek 1981, S. 156) - weist zwar durchaus in die richtige Richtung - Vorbild könnten hier unabhängige Institutionen wie die Deutsche Bundesbank oder eine weisungsunabhängige Schuldenkontrolle ('National Debt Board') sein - , doch ist auch er mit nahezu unüberwindlichen Problemen verbunden ('Quis custodiet custodes ipsos?').

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renzierung entspricht eine Art moralischer Polymorphismus" 28 : Es gibt zum einen die überkommene personale Moral, es gibt aber auch zu Recht eine übersetzte (verobjektivierte) Form von Moral, die sich - bei rechter Ausgestaltung - in den gesellschaftlichen Regeln niederschlägt. Beide Formen von Moral müssen gesehen und zur Geltung gebracht werden.

1. Individualethos:

Anerkennung als Person

Individualethisch kann man den Kern der Moral darin sehen, „alle Menschen als Menschen zu behandeln" 29 , d. h. ein jedes menschliche Individuum prinzipiell als Person anzuerkennen. Diese Zielorientierung, allen Menschen als Menschen (Personen) gerecht zu werden ('Solidarität') findet sich als Moralprinzip etwa in der goldenen Regel, in Jesu Forderung der Nächstenliebe, in Kants kategorischem Imperativ oder in der Diskursethik. Sie bildet bleibend die 'Urform' des Moralischen. Natürlich ergeben sich sogleich Anfragen. So wird eine 'ökonomische Theorie der Moral' einwenden, hier werde ein moralischer point of view einfach kategorisch daherpostuliert und jedes weitere Hinterfragen mit dem Anathema belegt; man müsse aber zeigen können, inwiefern es langfristig vorteilhaft sei, eine solche moralische Sicht als kategorisch zu konstatieren. D. h.: Eine ökonomische Theorie der Moral „läßt nur jene Moralia [...] bestehen, die in 'economic terms' übersetzbar sind" 3 0 , da die vermeintlich so letztbegründeten Moralforderungen nur dann wirklich (rational) begründet seien. Ich greife zur Illustration des Problems auf eine klassische Szene der Individualmoral, wie sie in der biblischen Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) vorgestellt wird, zurück. 31 Der Samariter findet am Straßenrand ein ausgeraubtes, blutig verschmiertes, vermutlich stinkendes und übel zugerichtetes menschliches Etwas vor. Ein nicht gerade angenehmer Anblick, angesichts dessen es dem Samariter 'den Magen umdreht' - das normalerwei-

28

Durkheim (1991), S. 18.

2 9

Seel (1991), S. 911.

3 0 So referierend: Priddat (1994), S. 297. Eine solche ökonomische Theorie der Moral wird entwickelt von Homann (1988b); Homann/Pies (1994a); Homann / Pies (1994b).

31

Mir ist bewußt, daß es sich um eine face-to-face-Situation handelt und es ökonomisch (wie auch verantwortungsethisch) nicht sinnvoll ist, die Logik dieser face-to-face-Situation unbesehen auf anonyme Funktionsmechanismen großer Gesellschaften zu übertragen (vgl. Buchanan 1977). Es geht mir hier aber nicht um die Praxis einer Institutionenethik, sondern um die allgemeinere 'ökonomische Theorie der Moral'.

154

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se durch 'Mitleid haben' übersetzte gr. Wort σπλαγχνιζομοα (Lk 10,33) bedeutet wörtlich: 'an die Nieren, an die Eingeweide gehen', 'den Magen umdrehen'. Sich dieses Menschen anzunehmen, war eine äußerst unappetitliche Angelegenheit. Nun wird es mit der Moral dort ernst, wo sie als situativ unausweichliche Pflicht 'angeht'. Der Samariter kommt, in diese ungenehme Situation geraten, nicht mehr 'heil' aus ihr heraus: Er wird - um einen drastischen Ausdruck Lévinas' zu verwenden - moralisch zur 'Geisel' des verletzten 'Anderen'. Er wird sein 'Subjekt' 32 . Ob sich Moral langfristig lohnt, steht im situativen Moment der Szenerie nicht zur Debatte. Hart, archaisch, herausfordernd und unangenehm drängt sich die moralische Verpflichtung auf. 33 Und zwar als genuine face-to-face-Moral: Die moralische Verpflichtung, die mich zu einer 'Geisel' des Anderen werden läßt, ist eine Forderung, die nicht von seiner Sprachfähigkeit, nicht von seinem gesellschaftlichen Status ausgeht, sondern allein von seinem 'Antlitz'. Sicher: Moral kommt in dieser Darstellung in etwas penetranter und heroisierend massiver Wucht daher. Dennoch habe ich diese Aufrüstung vorgenommen, um ein genuines Moment des Moralischen zu betonen: Das Moralische läßt sich nicht - wie es die ökonomische Theorie der Moral methodisch fordert - vollständig in terms of economics verrechnen. Natürlich kann man versuchen, Verhaltensregeln, die dem Handeln des Samariters entsprechen, bis zu einem gewissen Grad als 'social capital' zu rekonstruieren: Das Handeln des Samariters ließe sich dann als langfristig lohnende Investition sehen, die dazu beiträgt, einen gesellschaftlichen Verhaltensstandard zu etablieren, der sich für den Samariter dann auszahlt, wenn er selbst einmal in die mißliche Lage des Überfallenen gerät. Nun handelt es sich aber um einen „Mann aus Samarien, der auf der Reise war" (Lk 10,33). Die Wegstrecke zwischen Jerusalem und Jericho dagegen liegt in Judäa. Das Handeln des Samariters wäre also, da er u. U. nie mehr wieder in diese Gegend kommen wird, zumindest keine Investition in sein normales gesellschaftliches Umfeld. In diesem Fall könnte man sein Handeln als Investition in ein besseres Image der Samariter bei den Judäern zu plausibilisieren versuchen. 34 Insgesamt erscheinen mir diese ökonomischen Rekonstruktionen

32

„In diesem Sinn bin ich verantwortlich für den Anderen, ohne Gegenseitigkeit zu erwarten [...]. Gerade in dem Maße, in dem die Beziehung zwischen dem Anderen und mir nicht gegenseitig ist, bin ich dem Anderen gegenüber unterworfen [je suis sujéton à autrui]; und vor allem in diesem Sinn bin ich 'Subjekt' [sujet]" (Lévinas 1986, S. 75). Daher nimmt die moralische „Subjektivität [...] die Bedingung - oder die Unbedingtheit - des Geisel-Seins auf sich. Die Subjektivität als solche ist ursprünglich Geisel-Sein" (ebd. 77). 33 Das moralische „Gesetz übt Gewalt aus über das Subjekt" (Lyotard 1989, S. 152 f.). 34

Die Samariter wurden von den Juden nicht als vollwertige Glieder des auserwählten Volkes anerkannt, nahezu als 'Heiden' angesehen und entsprechend verachtet.

Spielregeln gestalten sich nicht von selbst

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jedoch in einer individuellen Kosten-Nutzen-Kalkulation gerade nicht durchschlagend: Sie sind viel zu abstrakt, um als vollständige bzw. angemessene Verrechnung des Moralischen in economics terms gelten zu können. Um nicht mißverstanden zu werden: Selbstverständlich ist es theoriestrategisch außerordentlich nützlich, 35 zusätzliches, in der (Opportunitätskosten)Grammatik der Ökonomik operierendes Argumentationspotential zu erarbeiten, das in den meisten Fällen 'realpolitisch ' auch eine größere Überzeugungskraft entwickeln dürfte als rein moralisch agierende Strategien. 36 Und selbstverständlich muß man hier methodisch ganz konsequent bleiben und nicht in eine Argumentationsstrategie der ökonomischen Diskursart unter der Hand dann doch Versatzstücke der ethischen Diskursart einschmuggeln. Dennoch aber muß zwischen der (vollständigen) Übersetzbarkeit und der Erlernbarkeit von Sprachen (Diskursarten) genau unterschieden werden. Richard Rorty hat diesbezüglich zwei Thesen gegenübergestellt: „1. Es gibt keine universelle Sprache, die ein Idiom bereitstellt, in das man jede neue Theorie, jede poetische Sprache und jede Eingeborenenkultur übersetzen könnte. 2. Es gibt Sprachen, die nicht erlernbar sind" 3 7 . Während die zweite These einer Nichterlernbarkeit nach Rorty ganz unhaltbar ist, 38 stimmt er der ersten These zu. Die erste These muß man m. E. aus logischen Gründen akzeptieren: Übersetzungen wären nicht mehr notwendig, wären überflüssig, wenn man alles in einer 'Sprache' (ζ. B. in economic terms) formulieren könnte, wenn man in jeder Diskursart letztlich zum hundertprozentig gleichen Ergebnis käme. 39 (Hegelianisierende) 'Aufhe-

35

Wenn es um die Implementation moralischer Anliegen unter realen Systembedingungen geht, ist ein Rückgriff auf die Rekonstruktionen der Ökonomik sogar vollkommen unverzichtbar. 36 Als methodisches Vorgehen ist der economic approach daher auch aus sozialethischer Perspektive zu verteidigen. Hierzu: Schramm (1996a). Darüber hinaus sollten die moralischen Regeln einer Gesellschaft für die Gesamtheit der Betroffenen per saldo langfristig auch ökonomisch (in Opportunitätskosten gerechnet) nützlich sein, denn „was nützt [...] eine Moral, die nichts nützt?" (Priddat 1994, S. 10). Dennoch aber können in einzelnen Situationen durchaus gravierende Nutzenasymmetrien vorliegen: Während der Überfallene von der Moral des Samariters profitiert, stellt sich die Hilfe für den Samariter schlicht als Pflicht dar. 37

Rorty (1985), S. 573; dt. nach Reese-Schäfer (1989), S. 89.

38

Alle Sprachen sind wenigstens prinzipiell erlernbar, während die These von prinzipiell unübersetzbaren Sprachen haltlos ist. Besucht etwa ein Anthropologe ein Dorf von Eingeborenen, von deren Sprache er kein Wort kennt, so wird er bald Übereinstimmungen finden können: daß man Wasser finden muß, daß es besser ist, sich vor Giftschlangen zu hüten und daß es traurig ist, wenn ein geliebter Mensch stirbt (Rorty 1985, S. 572). Solcherlei praktische Gemeinsamkeiten eröffnen Verstehensmöglichkeiten. Man wird englische Umschreibungen für das finden, was die Eingeborenen vermutlich sagen, ohne aber den betreffenden Satz der Stammessprache ganz exakt in einen englischen Satz übertragen zu können. 39

Nun sagt auch Homann (1996, S. 86 f.), man habe „zwei Diskurse, die man zur wechselseitigen Kontrolle und Bereicherung einsetzen kann. Der ethische Diskurs kann den ökonomi-

156

Michael Schramm

bungen' der Pluralität von (wissenschaftlichen) Rationalitätsformen und Subsystemen schöpfen die gerade mit den modernen Ausdifferenzierungen erreichten 'Gewinne' nicht aus. 40 Wir benutzen Sprachen (Diskursarten) pragmatisch, um uns auszudrücken. Wir haben ökonomische Interessen, aber auch moralische Intuitionen. Wenn sich moralische Intuitionen in der Diskurslogik der Ökonomik zwar nicht in der Form individualethischer Intuitionen, wohl aber als Übersetzungen (und damit den dahinterstehenden moralischen Intentionen entsprechend) rekonstruieren lassen - um so besser\ Dennoch aber muß mit einem moralischen 'Überschuß' gerechnet werden, der möglicherweise nicht vollständig in terms of economics verrechnet werden kann. 41

2. Systemethik.

Übersetzung der Moralsemantik in Programmregeln

Nun geht es für eine moderne Ethik nicht nur darum, mittels theoretischer Rekonstruktionen moralische Gehalte zwecks breiterer Argumentationsbasis in economic terms zu übersetzen. Vielmehr besteht eine entscheidende Herausforderung darin, Moral bzw. moralisch erwünschte Ergebnisse über praktische Gestaltungen der Programme realer, binär codierter (Sub)Systeme zur Geltung zu bringen. Unter Systembedingungen werden diese Programme zum systematischen Ort der Moral. 4 2 Es dürfte mittlerweile hinlänglich bekannt sein, daß unter Systembedingungen der bloße Appell an die individuelle Gesinnungsmoral der einzelnen Beteiligten realiter zu einer Selbstzerstörung der Moral führen würde. 43 In systemisch verknüpften Kontexten schrumpfen die Handlungsspielräume moralisch autonomer Subjekte (systematisch vollstän-

schen bereichern, kritisch hinterfragen, und umgekehrt". Im Hintergrund steht, wenn ich richtig sehe, die (hegelianisierende) Vorstellung, wir seien zwar hier und jetzt - noch - faktischen Nichtidentitäten und der Mühsal des Übersetzenmüssens unterworfen, weswegen die Differenz der beiden Diskursarten auch 'bereichernd' sein könne, doch letztlich (eigentlich) seien die beiden Diskurse doch (übersetzt) identisch. 40

Zur Illustration: Lyrische Texte verschiedener Sprachen sind nicht eins zu eins ohne Verlust etwa ins Deutsche zu übersetzen. Zur Ausschöpfung des lyrischen 'Gewinns' durch je unterschiedliche Klangfarben und Sprachspiele bedarf es einer Pluralität ausdifferenzierter Sprachen. 41 Von einem 'moralischen Überschuß' spricht auch Priddat (1994), S. 302. Nach Wieland (1993), S. 17 können ,,[m]oralische Werte [...] nicht ohne Rest in Ökonomie aufgehen". In diesem Sinn auch Nutzinger (1994, S. 206): ,,[E]s bleibt [...] ein nicht in Ökonomik auflösbares moralisches Residuum". 42

Dem entspricht Homanns These von der Rahmenordnung als systematischem Ort der Moral (etwa Homann 1993a, S. 34 f.). 43

Angesichts der Gefahr von - durch moralisches Handeln induzierten - Wettbewerbsnachteilen wird es wichtig, sich um die Reproduktionsbedingungen von Moral zu kümmern.

Spielregeln gestalten sich nicht von selbst

157

dig) zusammen. M i t Ausnahme von Heiligen und masochistischen Nonkonformisten sehen sich die handelnden Individuen bei Strafe des (z. B. ökonomischen oder politischen) Untergangs 'gezwungen', die Rolle von Systemfunktionären zu spielen. Da unter dilemmatischen Systembedingungen somit das Fehlen eines geeigneten (System)Programms negativ auf den Verpflichtungsgrad einer moralischen Norm für das Individuum durchschlägt ('ultra posse nemo obligatur') 44 , kann der Hebel zur Verwirklichung eines moralischen Ziels (z. B. Schöpfungsbewahrung) nicht mehr auf der Ebene der individuellen Gesinnung, sondern muß auf der Ebene der codierten Spielregeln ausdifferenzierter Subsysteme angesetzt werden. Um die Individuen moralisch nicht zu überfordern, sind die Rahmenbedingungen so auszugestalten, daß der einzelne gar nicht mehr in Versuchung geraten kann. Die Sozialethik muß daher als Systemethik konzipiert werden, 45 als Ethik der Gestaltung systemischer Programmregeln. Eine solche Systemethik läßt sich nur in interdisziplinärem Design realisieren: Moralische Anliegen müssen in die binär codierte Grammatik gesellschaftlicher Subsysteme übersetzt werden, etwa in die monetäre Grammatik des Wirtschaftssystems. Ohne solche übersetzenden Rekonstruktionen würden moralische Anliegen von vornherein wie von einem Blitzableiter an den Zentren der Politik und Wirtschaft abgeleitet werden oder sogar als kontraproduktive Eigentore enden.

44

Im Hintergrund steht hier die umstrittene These, die Implementation schlage auf die Geltung einer Norm durch (Homann / Pies 1994a, S. 11). Die Kritik dieser These hebt auf die Unterscheidung zwischen sozialer Geltung und normativer Gültigkeit ab. Nun muß man diesbezüglich zwei Aspekte hervorheben: Zum einen beschränken Homann / Pies ihre These auf systemisch verknüpfte Situationen: Es schlage „in wettbewerblichen Dilemmasituationen - nur dort - die Implementation auf die Geltung von Normen" (Homann / Pies 1994b, S. 96) durch. Zum anderen betrifft die These nur den Verpflichtungsgrad der in systemischen Kontexten befindlichen Individuen. Angesichts der Tatsache, daß individueller Moralheroismus hier als ruinöse Selbstopferhandlung enden muß, kann man vom einzelnen situativ nicht das (z. B. Filteranlageneinbau) verlangen, was möglicherweise alle doch grundsätzlich als moralisch erwünschtes Ziel ansehen (z. B. Schöpfungsbewahrung). Daraus ergibt sich: Moraltheoretisch kommt der Norm der Schöpfungsbewahrung in diesem Fall durchaus ethische Geltung zu, ihre Einhaltung kann nur vom einzelnen in der Wettbewerbssituation angesichts der Ausbeutbarkeit individueller Moralheorismen nicht abverlangt werden. Die moraltheoretische Geltung der Norm (Schöpfungsbewahrung als eigentlich moralisch verpflichtende Zielgröße) bildet die heuristische Voraussetzung dafür, daß entsprechende Gestaltungen der programmatischen Systemregeln in Angriff genommen werden. Daß eine solche moraltheoretische Geltung von Normativität nicht vom Grad der organisatorischen Implementierbarkeit abhängt, räumt auch Homann selbst implizit ein, wenn er den - das normative Konsensprinzip der Demokratie simulierenden - demokratischen Institutionen ein unvermeidliches „Legitimationsdefizit" (Homann 1988a, S. 192) bescheinigt. 45

Der Begriff Systemethik läßt dabei den methodischen, in der funktionalen Rekonstruktion liegenden Unterschied zu einer individualethischen Argumentation m. E. noch etwas deutlicher hervortreten als der mittlerweile gebräuchliche und ansonsten völlig zutreffende Ausdruck Strukturenethik (etwa bei Hausmanninger 1993). Näher hierzu: Schramm (1996b).

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Michael Schramm

Beispiel: Arbeitsmarkt. Die Effizienz des marktwirtschaftlichen Systems, das als innovatives und diffusi ves 'Entdeckungs verfahren' zum Wohl der Menschen qua Konsumentinnen funktioniert, 46 kann aber nur erreicht werden, wenn für die Produzenten, also die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, ein klares Gesetz gilt: „Was [...] zu teuer ist, wird ausgemustert" 47. Diese wenig anheimelnde Funktionsbedingung unserer Marktwirtschaft gilt auch für den Aibdismarkt. Zwar ist Arbeit keine Ware wie jede andere, aber im Rahmen eines Arbeitsmarkts funktioniert sie wie eine Ware: „In einer Marktwirtschaft gelten für Arbeit dieselben Gesetzmäßigkeiten wie für Waren. Arbeit wird nur gekauft, wenn ihr Wert für den Unternehmer höher ist als ihr Preis" 4 8 Arbeit wird nach Marktgesetzlichkeiten nachgefragt - oder eben nicht nachgefragt. Dies verstärkt bei nicht wenigen Zeitgenossen den Eindruck, der geldgesteuerte 'Kapitalismus' und das Gewinninteresse der Unternehmer führten geradezu notwendig zu Arbeitslosigkeit, während das realsozialistische Riesenexperiment - bei aller Problematik in gesellschaftspolitischer Hinsicht - doch wenigstens jedem einen Arbeitsplatz gesichert habe. Doch der Eindruck trügt: Man kann zwar politisch beschließen, einem jeden einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen, doch ist damit eine längerfristige Tragfähigkeit dieser zentral verwalteten Arbeitsplätze noch nicht gegeben. I m Gegenteil: Eine Planwirtschaft konnte und kann tragfähige (rentable) Arbeitsplätze eben nicht sichern. Es ist daher sinnlos, Arbeit gegen den Marktwettbewerb - um den wir global in keinem Fall herumkommen - schaffen zu wollen. Angesichts der durch zu hohe Lohnstückkosten (mit)verursachten Arbeitsplatzverluste 49 muß eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik marktnahe (und bei niedrigproduktiven Arbeitsplätzen eben auch entsprechend niedrige) Tarife durch

46

Hayek (1969). Von den Ergebnissen her besitzt der „Wettbewerb [...] eine Sozialfunktion von entscheidender Bedeutung" (Messner 1966, S. 1150 f.). 4 7 Mitschke (1995b), S. 30. 4 8

Engels (1986), S. 144.

49

Da die hohen Arbeitskosten in Deutschland (1995 pro Stunde: Westdeutschland 45,52 D M ; Japan 35,48 D M ; Ostdeutschland 29,85 D M ; USA 25,18 D M ; Portugal 9,28 D M ) auch durch eine vergleichsweise hohe Produktivität nicht mehr (voll) aufgefangen werden konnten, lagen die realen Lohnstückkosten ungünstig hoch (Ostdeutschland 138, Großbritannien 104, Westdeutschland 100, USA 93, Schweden 87, Japan 77, Frankreich 77). Dieses Mißverhältnis hat in Ost wie in West viele Arbeitsplätze, auf denen infolge relativ niedriger Produktivität nur relativ niedrige Löhne erwirtschaftet werden könnten, wegfallen bzw. erst gar nicht entstehen lassen. Der auf den ersten Blick tröstliche Verweis auf die faktisch hohe Gesamtproduktivität in Deutschland wird zynisch, wenn man bedenkt, daß diese (auch) durch Arbeitsplatzabbau erreicht wurde. Die tariflich angestrebten Arbeitskosten spiegeln die enorm großen Produktivitätsunterschiede der verschiedenen Arbeitsplätze nicht ausreichend wider.

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159

eine marktkonforme Sozialpolitik ausgleichen (z. B. Bürgergeld 'light'). 5 0 Jedenfalls kann das moralische Anliegen einer Senkung der Arbeitslosigkeit dauerhaft nicht direkt (durch staatliche Bereitstellung künstlicher Arbeitsplätze), sondern nur - übersetzt - durch die Grammatik des Marktsystems zur Geltung gebracht werden.

Ι Π . Der unverzichtbare Mensch. Orte individueller Moral in der modernen Gesellschaft Systemethik und Individualethos hängen zusammen: Systemethische Strategien können nur durch moralisch engagierte Menschen verfolgt werden. 51 Gewinnt in modernen, systemisch ausdifferenzierten Gesellschaften eine Strukturenei/z/£ an Dominanz, so bleibt doch das Individualethos auch im Rahmen eines systemethischen Ansatzes unverzichtbar. Folgende Orte' individueller Moralität (Individua\ethos) sind zu unterscheiden: 1. Für face-to-face-Beziehungen (Familie, Freundeskreis, überschaubare Gemeinschaften) gilt weiterhin das Paradigma individueller Moral. Hier - und nur hier - kann Moralität überhaupt 'erlernt' werden. 52 Das sich entwicklungspsychologisch akkumulierende moralische Humankapital darf dabei nicht 'vergraben', sondern muß lebenslang 'reinvestiert' werden, sind moralische Vermögen doch erstens „Resourcen, deren Vorrat durch Betätigung eher anwachsen als schwinden kann; zweitens bleiben diese Ressourcen nicht intakt, wenn sie unbetätigt bleiben; wie die Fähigkeit, eine fremde Sprache zu sprechen oder das Klavierspielen, neigen diese moralischen Ressourcen dazu, verbraucht zu werden und zu atrophieren, wenn sie nicht betätigt werden" 53 . Der Mensch kommt unter den Bedingungen funktionaler Ausdifferenzierun-

Da das eigentliche Bürgergeldmodell (Mitschke 1985; 1995a; 1995b) vermutlich nicht zu finanzieren ist, muß auf abgespeckte, nur auf Arbeitslose zugeschnittene Modelle im Sinn eines Bürgergeld 'light' zurückgegriffen werden (etwa: Scharpf 1994; Schramm 1995; Spermann 1996). 51 Das Problem einer Pluralität der Moralen werde ich hier nicht eingehender thematisieren. Obgleich in allen Moralen der Moralcode derselbe ist, besteht eine Vielfalt von Moralprogrammen. Konsensfähig sind in einer (post)modernen Gesellschaft nicht die verschiedenen Moralprogramme des 'Guten', wohl aber u.U. das - mit allen nicht-fundamentalistischen Vorstellungen des Guten kompatible - Moralprogramm des 'Gerechten'. Hierzu: Habermas (1983), S. 24 f., 113 f.; Habermas (1991a), S. 7, 22; Rawls (1992), S. 364 - 397.

52

„Die Moral wird überhaupt nicht implementiert; die lernt jeder von uns intuitiv, wenn er nur in halbwegs intakten Verhältnissen aufwächst" (Habermas 1993, S. 3). 53

Hirschman

(1984), S. 93**.

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gen daher nicht umhin, ein multiples Selbst - Systemfunktionär und moralische Person - auszubilden.54 2. Individualethos bleibt für diejenigen Fälle individuellen Handelns unverzichtbar, deren Sanktionierung prohibitiv hohe Kontrollkosten verursachen würde. So ist etwa der individualethische „Appell, in den Bergen keine Abfälle zu hinterlassen, die einzige Möglichkeit, darauf hinzuwirken, daß nicht jeder seinen Abfall überall liegenläßt" 55 . Da andernfalls die Allgemeinheit für das unmoralische Verhalten einzelner aufkommen muß, wird deutlich, daß eine solche individuelle Tugendhaftigkeit den Charakter eines Kapitalguts besitzt. 56 Eine Gesellschaft ohne ein solches Tugendkapital wäre vermutlich nicht überlebensfähig. 57 3. Ein hinreichend sozial verbreitetes Individualethos ist Bedingung der erfolgreichen Abwicklung gesellschaftlicher (etwa: wirtschaftlicher) Transaktionen. Unfaire Insidergeschäfte oder Korruptionsskandale stellen „eine Vernichtung gesellschaftlich wertvollen Kapitals dar" 58 . 4. Die moralische Beurteilung der Ergebnisse systemgesteuerter Prozesse kann nur von Individuen vorgenommen werden. Eine moralisch sensibilisierte Wahrnehmung etwa der menschlichen Problematik grassierender Arbeitslo-

54

Da sich angesichts des Problems, in der Rolle als Managerin knallhart (strategisch) kalkulieren zu müssen und gleichzeitig als Mensch eine liebevolle, die Kinder zu Solidaritäts- und Verantwortungssinn erziehende Mutter sein zu sollen, innere Zerrissenheiten wohl niemals ganz eliminieren lassen, ist die von Habermas (Habermas 1981 II, S. 470 - 488) markierte Gefahr, diesen Konflikt durch 'Kolonialisierungen der Lebenswelt' zu entschärfen, nicht ganz von der Hand zu weisen. Doch einen Weg zurück in paradiesische Harmonien gibt es nicht. Jenseits von Eden kann die Therapie nur im wachen Nicht-Vergessen der jeweils anderen 'Diskursart' bestehen. 55 Kirchgässner (1991), S. 133, A. 61. 5 6

„Tugenden [...] bilden [...] ein sehr bedeutendes öffentliches Gut, das Teil des gesellschaftlichen politischen Kapitals ist" (Rawls 1992, S. 319 f.). Der Begriff 'Kapital' hat in diesem Zusammenhang einen guten Sinn: „Diese Tugenden werden langsam über lange Zeiträume hinweg aufgebaut [...]. Außerdem verlieren sie sozusagen wie Kapital an Wert und müssen dauernd dadurch erneuert werden, daß sie bestätigt und im aktuellen Handeln ausgeübt werden" (ebd., S. 320, A. 27). 57 Eine wirklich umfassende bürokratische Kontrolle der vollständigen Zahlung von Steuern oder der ordnungsgemäßen Sortierung des Hausmülls ist gar nicht möglich. 58 Wiemeyer (1995), S. 21. Fairneß ist ein öffentliches Gut, das wie alle öffentlichen Güter nicht über spontane Marktprozesse produziert wird (Olson 1968, S. 93 - 96; Buchanan 1984, S. 52 - 54). Da eine absinkende Grenzmoral wegen u.U. prohibitiv hoher Sanktionskosten (z. B. über ausufernd detaillierte Vertragstexte) und der Möglichkeit versteckter Fouls nur teilweise durch strafbewehrte Regeln überwunden werden kann, resultiert eine bleibende Unverzichtbarkeit individueller Moralität.

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sigkeit kann so etwas wie ein Frühwarnsystem für das Ausbrechen sozialer Konflikte sein. 5. Solange Lücken in der gesellschaftlichen Rahmenordnung, unzulängliche Sanktionsmechanismen oder gar ihr komplettes Fehlen zu beklagen sind, muß individuelle Moral bei gesamtgesellschaftlich unerwünschten Problemlagen als Lückenbüßerin eintreten. 59 Eine Tit For Tai-Strategie bietet sich an: 6 0 Durch eine begrenzte moralische Vorleistung, mit der man die erste Wange, jedoch nicht mehr die zweite hinhält, 61 kann u. U. die Entwicklung zu einer angemesseneren Ausgestaltung der Rahmenregeln angestoßen werden. 62 6. Die wichtigste Funktion des Individuums ist die initiative Rolle, die ihm hinsichtlich einer moralischen Gestaltung der Programmregeln ausdifferenzierter (Sub)Systeme zukommt. Das gesellschaftliche Schiff muß gewissermaßen während der Fahrt auf hoher See umgebaut werden. Allein Menschen (bzw. Gruppierungen) können die institutionellen Spielregeln so ändern, daß moralisch erwünschte Ergebnisse entsprechend induziert werden. Es geht hier um individuelle „Spielzüge, die auf eine Veränderung der Regeln abzielen" 63 . Dieser theoretisch geradezu banale Umstand wirft allerdings in der realen Praxis gravierende Probleme auf. Denn wie kommt die Moral in die Regeln? Der Weg von Regelgestaltungen muß in jedem (nennenswerten) Fall über die Legislative des Politiksystems führen. Gestaltungsambitionen werden hierbei nur dann nicht im politischen Straßengraben landen, wenn hinreichende Wählerpotentiale mobilisiert werden können. Es ergibt sich die bereits angesprochene Lobby-Problematik, für die niemand eine praktikable Lösung anbieten kann. 7. Schließlich müssen in den Köpfen menschlicher Individuen all die kreativen Ideen geboren werden, die den Anstoß zu moralischen Fortschritten der

59

Man kann nicht davon ausgehen, daß sich die verhaltenskanalisierende Rahmenordnung durch lückenlose Vollständigkeit auszeichnet. Dies ist schon aufgrund der innovativen Dynamik der Moderne kaum jemals der Fall. Die modernen Prozesse funktionaler Ausdifferenzierungen konstituieren immer aufs neue bis dato unbekannte Konstellationen regelungsbedürftiger Probleme, etwa in der Umweltfrage oder der Gentechnik. 6 0 So etwa Homann (1990a), S. 51. 61

Höffe

(1990), S. 292.

6 2

Beispiel für eine solche (begrenzte) Vorleistung wäre auch ein 'individueller' (nationaler), vielleicht auf 2 Jahre begrenzter Vorausgang der Bundesrepublik in Sachen Ökosteuer (Nutzinger 1996, S. 133). 63 Rottländer (1996), S. 167. Da in diesem Sinn die Entstehung geeigneter Ordnungsregeln auf Handlungen beruht, dreht Rottländer Homanns These um: „Der systematische Ort der Moral liegt in den Handlungen der Menschen" (ebd., S. 170).

11 Aufderheide/Dabrowski

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Gesellschaft bilden. Der Weg wird von individuellen moralischen Innovatorinnen meist über Phänomene wie soziale Bewegungen ins Licht der Öffentlichkeit führen, 64 bis die entsprechenden Ideen sukzessive auch in die heiligen Hallen der parlamentarischen Legislative durchsickern.

I V . Theoriestrategie. Das Individualethos im Rahmen der ökonomischen Institutionenethik Die Relevanz des Individualethos besitzt auch Bedeutung für die grundsätzliche Theoriestrategie einer Wirtschaftsethik. Nun gibt es hinsichtlich der grundsätzlichen Theoriestrategie, Wirtschaftsethik - wenn überhaupt - möglichst als Strukturenethik auszubuchstabieren, m. W. keinen Dissens. Dennoch fällt die genaue Einordnung des Individualethos in den Rahmen der Strukturenethik (Institutionenethik, Systemethik) unterschiedlich aus. Grundsätzlich können sechs mögliche Konzepte unterschieden werden:

Abb. 1 : Wirtschaftsethische Konzepte

1. Eine Dominanz der Ethik über die Ökonomik vertreten u. a. Peter Ulrich oder Horst Steinmann und Albert Lohr, 6 5 weswegen im Konfliktfall ein Vor-

64

Zu einer entsprechenden Gesellschaftsethik sozialer Bewegungen: Hengsbach / Emunds / Möhring-Hesse (1993), S. 276 - 291. Nicht nur Habermas (1992, S. 460 f.), sondern auch Luhmann anerkennt - trotz aller Polemik - diese heuristische Funktion sozialer Bewegungen: Zwar ist das „Geheimnis der Alternativen [...]: daß sie gar keine Alternative anzubieten haben" (1996, S. 104), doch haben Protestbewegungen „eine wichtige Funktion im Erzeugen von Aufmerksamkeit für vernachlässigte Probleme" (1992b, S. 98) und somit einen „Frühwarneffekt" (1996, S. 159). 65 Ulrich (1996, S. 158) verteidigt den „Primat der Ethik". Nach Steinmann / Lohr (1994, S. 107) sind „ethische Überlegungen nicht nur auf der Ordnungsebene, sondern auch auf der Unternehmensebene dem Gewinnprinzip systematisch vorgeordnet".

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rang der individuellen Moralität des Unternehmers vor wirtschaftlichen Interessen eingefordert wird. Das Problematische dieses Dominanzmodells ist m. E. darin zu sehen, daß seine konsequente Handhabung unter Wettbewerbsbedingungen realiter zu einer Eliminierung der Moral führen muß. 66 2. Eine Dominanz der Ökonomie über die Ethik findet sich dagegen bei Erich Hoppmann 67 , der die normale Solidaritätsmoral - das individuelle faceto-face-Ethos - aus dem Bereich der modernen Wirtschaft konzeptionell verbannt und so keinen moralischen Poly-Morphismus, sondern eine Spaltung des Moralischen postuliert. 3. Die Annahme vollständiger Heterogenität zeigt sich in der Systemtheorie Luhmanns. 68 Für den Bereich der Ökonomie wird Moral zu einem unsinnigen Unternehmen, da das Wirtschaftssystem weitgehend selbstreferentiell funktioniert. Abgesehen von der grundsätzlichen Verachtung der Moral läuft dieses Modell auf eine unproduktive Zementierung des Status quo hinaus, da (mehr oder weniger) jede Ambition einer Gestaltung des Wirtschaftssystems nur mit gefüllten Kübeln höhnender Häme bedacht wird. 4. Das gegenteilige Konzept einer gegebenen Identität (bzw. Harmonie) von Ethik und Ökonomie kann (weitestgehend) für Adam Smith veranschlagt werden. 69 Individualethos wird für den Wirtschaftsbereich überflüssig. Auch

Wenn aus dieser Überordnung folgt, „daß eine Unternehmung aus ethischen Überlegungen heraus stillgelegt werden muß" (Steinmann /Lohr 1994, S. 107), dann wird man mit dieser unternehmensethischen Forderung nur erreichen, daß in dem betreffenden Produktionsbereich diejenigen Unternehmen übrig bleiben, die sich um moralische Appelle nicht kümmern. Natürlich kann ein halbwegs ethisch denkender Unternehmer nicht alles und jedes (aus Gewinninteresse) mitmachen, Mafiapraktiken beispielsweise. Doch wäre z. B. bezüglich der alltäglichen Umweltverschmutzung der Schaden durch kategorisch 'moralisches' Handeln vielleicht größer (Verlagerung der Arbeitsplätze ins Ausland bei noch weniger ökologieverträglicher Produktion durch Auslandskonkurrenten) als der durch die 'unmoralische' Berücksichtigung der Gewinninteressen. Wie in der Chemie: Alles eine Frage der Menge. 67 ,,[A]m Markt gibt es keine Nächstenliebe. [...] Die Moral der Nächstenliebe und der Solidarität weicht einer anderen Moral, sobald wir an Märkten kaufen oder verkaufen" (Hoppmann 1990, S. 15 f.). Daß das individuelle face-to-face-Ethos aber - in anderer Form - in den Spielregeln inkorporiert sein und insofern auch auf das Verhalten (Spielzüge) durchschlagen kann, kommt bei Hoppmann nicht in den Blick. Insofern wird für den Bereich der Marktwirtschaft eine rein ökonomische Markt-'Moral' dominant gesetzt.

68

Er kann mit Wirtschaftsethik grundsätzlich nichts anfangen: ,,[E]s ist mir nicht gelungen, herauszubekommen, worüber ich eigentlich reden soll" (Luhmann 1993b S. 134). 6 9 'Gegeben' ist die Harmonie von Ethik und Ökonomie hier, weil die Aufgaben einer Sicherung der Wettbewerbsstruktur durch Regulierungen (Kartellverbote etc.) oder der Intemalisierung externer Effekte (z. B. bei dem öffentlichen Gut einer intakten Natur) noch nicht systematisch in den Blick kommen.

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hier muß jedoch eine nicht zukunftsfähige Festschreibung des Status quo kritisiert werden. 5. Eine ursprüngliche, sich jedoch als fortwährende Gestaltungsaufgabe stellende Identität von Ethik und Ökonomik vertritt der wirtschaftsethische Ansatz von Karl Homann. Um jeglichen „Dualismus schon im Ansatz zu vermeiden", konzipiert er „Ökonomik [...] als Ethik mit anderen Mitteln". Dies verlangt, Moral und Ökonomie „aus einer ursprünglichen Einheit Identität - abzuleiten, die dann unter veränderten Bedingungen wieder hergestellt oder - der relevantere Fall - neu entworfen wird" 7 0 ('Paralleldiskurs'). Die Identität ist also eine permanente Übersetzungsaufgabe. Daher kann die herkömmliche Solidaritätsmoral, die sich als face-to-face-Ethos darstellt, zwar keinesfalls unvermittelt als Blaupause einer Gestaltung der modernen, systemisch verknüpften Gesellschaften herangezogen werden, wohl aber läßt sich ihr die Funktion einer kritischen Heuristik für Übersetzungsbemühungen (ökonomische Restriktionsanalysen) zuschreiben. 71 Dieses Modell ist von der methodologischen Grundrichtung her als orientierende Theoriestrategie m. E. momentan konzeptionell konkurrenzlos. Hinsichtlich der entscheidenden sozialethischen Herausforderung, moralisch erwünschte Ergebnisse über praktische Gestaltungen von Systemregeln zur Geltung zu bringen, gibt es gar keine Alternative. Nicht bezüglich dieser konkreten Systemebene, sondern hinsichtlich des theoretischen Identitätsdenkens in Homanns 'ökonomischer Theorie der Moral', die methodisch nur die in economic terms übersetzbaren Moralia gelten läßt, möchte ich dennoch - ohne eine künstliche Theoriekonkurrenz aufzubauen - einen moraltheoretischen Einwand zu bedenken geben: Normalerweise liefert dieses Übersetzungsprogramm zusätzliches Argumentationspotential für eine (nicht-moralisierende) Moral. In einzelnen Fällen kann es jedoch auch dazu führen, daß moralisch sinnvolle Gestaltungen von Rahmenregeln konzeptionell blockiert werden. Inwiefern? Die ökonomische Theorie der Moral tritt an, um - angesichts der unbezweifelbaren Ambivalenz real existierender Moralen - die (nützliche) Moral kritisch von einem (schädlichen) Moralisieren zu unterscheiden. Das Mittel dieser Theoriestrategie ist die ökonomische Abarbeitung, also das Programm, moralische Gehalte in die Grammatik von potential gains (für alle) zu übersetzen - und umgekehrt. Wenn nun der Fall eintritt, daß die (voll und ganz wünschenswerte) Übersetzung moralischer Gehalte in die Grammatik des economic approach

70

Die drei Zitate bei Homann (1994), S. 11 - 13. Ein hegelianisierendes Einheitsdenken, das faktische Differenzen auf ursprüngliche und je neu zu synthetisierende Identitäten auszieht, steht im Hintergrund. 71

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nicht vollständig gelingt - was Homann und Pies hinsichtlich der ökologischen Frage (intergenerationelle Gerechtigkeit) selbst einräumen 72 - , dann muß die Forderung nach intergenerationeller Gerechtigkeit im Rahmen der kritischen Strategie einer ökonomischen Theorie der Moral eigentlich als überbordendes Moralisieren eingestuft werden: Der moralische Gehalt der einer möra/theoretischen Kritik der Moral standhaltenden73 - Forderung nach intergenerationeller Gerechtigkeit wäre amputiert und entsprechende politische Maßnahmen 74 wären konzeptionell blockiert. 6. Es bleibt schließlich das Konzept einer (nur) weitgehenden Übersetzbarkeit von Ethik und Ökonomik als fortwährender Gestaltungsaufgabe. Auch hier ist die Übersetzung normativer Gehalte (Ethik als Heuristik) in eine lupenreine Kosten-Nutzen-Perspektive (Ökonomik als Restriktionsanalyse) die grundsätzliche Z/e/orientierung der Theoriestrategie, doch wird man zugleich -jenseits von Eden - mit einem nicht immer vollständig übersetzbaren MoralÜberschuß 75 bzw. mit Kompromissen rechnen müssen.

V. Anerkennungserzählungen und kontingenzeröffnende Heuristik. Zur Nützlichkeit einer theologischen Sozialethik In der modernen Welt befinden sich die Menschen, wie Karl Rahner einmal sagte, in einer Lage, die sie zwingt, von immer weniger immer mehr und von immer mehr immer weniger zu wissen. Der einzelne wird heutzutage sozusagen immer dümmer. Da sich in modernen Gesellschaften auch die Verarbeitung des Wissens ausdifferenziert und sich die Kompetenzen entsprechend verstreuen, scheint die Luft auch für eine theologische Sozialethik immer dünner zu werden. Die modernen Ausdifferenzierungsprozesse verhindern es, daß eine theologische Sozialethik, die konstruktive Vorschläge der Gesell7 2 So müssen Homann / Pies (1994b, S. 106) bezüglich des Problems der intergenerationellen Gerechtigkeit „zugestehen [...], daß wir hier ebensowenig wie andere nicht-metaphysische Konzepte einen fertigen Lösungsansatz haben". Diesbezüglich hat Suchanek (1996) weiterführende Überlegungen angestellt, dabei die moralische Forderung m. E. jedoch immer noch nicht vollständig in terms of economics rekonstruieren können.

73

Zu verweisen wäre etwa auf eine Rekonstruktion des Problems einer intergenerationellen Gerechtigkeit im Rahmen der Moraltheorie von John Rawls (hierzu: Suchanek 1995, S. 130 — 133). Auch eine moraltheoretische Kritik der Moral kann sinnvolle Moral von schädlichem Moralisieren unterscheiden. 74 Es geht hier (noch) nicht um das dornige Problem der konkreten Umsetzungsformen einer Umweltpolitik (Ökosteuern, Zertifikate etc.), sondern lediglich darum, ob das Anliegen einer intergenerationellen Gerechtigkeit überhaupt gerechtfertigt ist oder nicht. 75

Vgl. Anm. 41.

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schaftsgestaltung erarbeiten will, allein auf ihren 'gesunden Menschenverstand' vertrauen könnte. 76 Rezipiert sie dagegen Methodik und Wissen kompetenter Disziplinen nicht ausreichend, riskiert sie, gefüllte Kübel von Ironie über sich ausgeschüttet zu sehen.77 Nun wäre es unsinnig, wollte die Theologie als Theologie so tun, als sei sie die bessere Ökonomik. Man kommt um die Frage nicht herum: Worin besteht eigentlich die Nützlichkeit einer theologischen Sozialethik für die moderne Gesellschaft? Welches nützliche 'Produkt' hat sie als Fach der Theologie anzubieten? 1. Moral : Es ist (empirisch) festzustellen, daß Öffentlichkeitsprozesse weniger der Grammatik ausdifferenzierter Wissenschaften folgen, sondern primär die Form von Gerechtigkeitsdiskursen besitzen.78 Abgesehen davon, daß es in Talkshows oder an Stammtischen ohnehin kaum möglich sein dürfte, sich sauber in den Bahnen einer spezialisierten wissenschaftlichen Methodik zu bewegen, liegt der Grund für diese Semantik der demokratischen Öffentlichkeit u. a. im Bedürfnis der Individuen nach demokratischer Anerkennung ihrer selbst als bürgerlicher Personen. Genau diese - vom erworbenen gesellschaftlichen Status unabhängige - Anerkennung eines jeden Individuums als Person aber ist der entscheidende Beitrag des 'moral point of view'. 7 9 Es handelt sich um eine gänzlich unspektakuläre Angelegenheit: Es geht darum, die Anerkennung nicht nur auf den zugestandenermaßen vielleicht wirklich bedeutenden Meyer zu beschränken, an dessen Grab eine Vielzahl ebenfalls ehrbarer Honoratioren die schwer oder auch gar nicht zu schließende Lücke beklagt, die der Verstorbene doch gerissen habe. 80 Diese Anerkennung als Person auch dann zu gewähren, wenn der Beitrag des weniger bedeutenden Müller zum Fortschritt der Gesellschaft doch eher bescheiden ausfällt und keine nennenswerten Droh- oder Störpotentiale diese Anerkennung erzwingen - dies macht den Blickwinkel der Moral aus. Genau hier bringt die Moral gegenüber der Ökonomik einen spezifischen Beitrag ein: „Sich als Personen gegenseitig anzuerkennen als Vorteil zu betrachten, beruhigt nicht das morali-

7 6

So auch Nell-Breuning (1987), S. 350.

77

„Der Papst leitet die Enzyklika [Anm.: Sollicitudo rei socialis] damit ein, daß er sich auf den Beistand des Heiligen Geistes beruft. Vielleicht hätte er auch einen ganz ordinären Volkswirt78zu Rate ziehen sollen" (Engels 1995, S. 329). Pies (1995b), S. 2; Habisch (1994), S. 95. Ein typisches Beispiel hierfür sind die ewig währenden Diskussionen über die Diäten von Politikerinnen. Als entscheidend angesehen wird ihr symbolischer Charakter hinsichtlich einer fairen Verteilung der zu tragenden Kosten in einer Zeit der Sparappelle. 7 9 Priddat (1994), S. 253, A. 1. 80

··

Ahnlich ein illustrierendes Beispiel bei Lübbe (1980), S. 81.

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sehe Herz, da es auch Anerkennung will, wenn es noch keinen (oder überhaupt keinen) Vorteil versprechen kann. Dieser Überschuß der Moral über die Ökonomie läßt sich durch die effizientesten Entscheidungen nicht wegarbeiten" 8 1 . Ein solcher (nicht-übersetzbarer) Moralüberschuß ist gegenüber der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik, die unter Abstrahierung von den beteiligten Menschen rein am Optimierungsziel maximaler Allokationseffizienz orientiert ist, evident; es muß mit ihm aber auch gegenüber einer konstitutionellen Interaktionsökonomik gerechnet werden. 82 Die ethisch geforderte (qualifizierte) Beteiligung aller Betroffenen bei der Gestaltung der Regeln moderner Gesellschaften besitzt dabei nicht nur den Charakter einer ökonomischen Investition (Ausschöpfen der potential gains) 83 , sondern darüber hinaus auch den einer moralischen Investition (Stärkung der Anerkennungsverhältnisse) 84 . 2. Religion (Kirche): Moralität in ihrer 'Urform' ist eine existenzielle Angelegenheit. Angesichts dieser Tatsache kann der Religion eine nicht ganz unwichtige Funktion zuwachsen. Inwiefern? Philosophische Ethiken sind zu einer epistemischen (argumentationslogischen) Ausformulierung von 'Gerechtigkeit' im Sinne einer verallgemeinerungsfähigen Rationalisierung moralischer Intuitionen durchaus in der Lage. Was sie jedoch nicht leisten können, ist eine rationale Begründung für ein existenzielles Moralischem. 8 5 Auch eine theologische Ethik befindet sich hier keineswegs in einer komfortableren 81

Priddat (1994), S. 302. Der moralische (weil wechselseitige) Anerkennungsbegehr darf trotz der methodisch völlig berechtigten Ausblendung normativer Implantate im economic approach nicht vergessen werden (Habisch 1994, S. 96). 82 In der (rein) ökonomisch rekonstruierenden Vertragstheorie (etwa: Buchanan 1984) liegt zwar ein alle Beteiligten berücksichtigendes Konsensmodell vor, doch bleibt hier die Anerkennung vom jeweiligen Droh- und Störpotential abhängig. In dieser Vertragstheorie der Demokratie kommt der „Diskurs darüber, wo Macht unakzeptabel wird, [...] systematisch zu kurz. Es wird hier ohne Rückgriff auf regulative Ideen der Tradition wie Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit und Solidarität aller kaum gehen" (Homann 1993b, S. 194). Aus ethischer Perspektive kann ,,[d]ie ökonomisch argumentierende Vertragstheorie [...] ihr oberstes normatives Prinzip, den Konsens aller, letztlich nicht begründen" (Homann 1990b, S. 107). 83

Zum Investitionscharakter von vordergründig einengenden Regeln allgemein: Pies (1993), S. 297 ff. Zur Sozialpolitik als Investition in einen leistungsfähigeren Markt: Homann / Pies (1996). 84 Priddat (1994), S. 192. 85

Bereits Kant (1974, S. 141) hatte seinen kategorischen Imperativ als bereits gegebenes „Faktum der Vernunft" vorausgesetzt. Rawls gibt keine rationale Begründung dafür, wieso Gerechtigkeit überhaupt sein soll. Nach Habermas' eigener Auskunft (1991a, S. 186; 1991b, S. 144) kann die existenzielle Frage: Warum überhaupt moralisch sein? postmetaphysisch nicht beantwortet werden. Apels transzendentalpragmatische Letztbegründung begründet keine existenzielle Verbindlichkeit, da ein unmoralischer Mensch die Letztbegründung gar nicht argumentativ hinterfragt.

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Lage. 86 Nun ist aber für die grundlegende Entscheidung zu einem existenziellen Moralischsein m. E. auch gar nicht eine rational unschlagbare Begründung entscheidend,87 sondern eine erlebnismäßig lebendige Fundierung: Die Erzählung von der Anerkennung eines jeden Menschen - durch ein beispielhaftes Vorleben oder aber durch Geschichten. Moralität kann nicht nur (philosophisch) doziert, sondern muß erzählt werden. Ein Angebot solcher Erzählungen von der Anerkennung eines jeden Individuums als Person stellt die (christliche) Religion bereit. 88 Die von der Personwürde (insbesondere auch der 'Geringsten': Mt 25,40) erzählenden Geschichten der Bibel, die z. B. in Liturgie oder Meditation vergegenwärtigt werden, sensibilisieren eher als transzendentalpragmatische Argumentationsfiguren. Sie können unser Herz rühren. Ich wähle diese - so manchem nüchternen Zeitgenossen vielleicht als allzu tränenreiche Überschwemmung erscheinende - Formulierung, um darauf zu verweisen, daß in solchen (religiösen) Anerkennungserzählungen eine wichtige Quelle lebendiger Moralität sprudelt. In den 'konkurrenzfreien Räumen' der Kirchen kann Religion auf diese Weise zur Konstitution humaner (moralischer) Identität beitragen. 89 Da jede (liberale) Gesellschaftsordnung „auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen"90 ist, die als Gemeinschaften eines 'guten' Lebens die liberalen Grundsätze des gesellschaftlich 'Gerechten' unterstützen, 91 können vermutlich auch religiös nicht gebundene

86 Der Verweis auf Gott als letztes Begründungsfundament wird zwar dem Gläubigen, kaum aber dem 'Heiden' als einsichtige Überfuhrungsstrategie erscheinen.

87

Was nicht heißt, daß die konkreteren Normen nicht rational erarbeitet werden müssen. Mir geht es hier lediglich um die vorgängige Entscheidung, jeden Menschen als Menschen wahrzunehmen, anders formuliert: mich in den Rawlsschen Urzustand hinter den Schleier des Nichtwissens zu versetzen oder dem Habermasschen Diskurs auszusetzen. 88

89

Es gibt natürlich noch andere Erzählungsangebote, etwa in der Literatur.

In den Gemeinschaften der Kirchen können sich Individuen - unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status - als Personen begegnen (Habisch 1995b, S. 391). Dies schließt eine Konkurrenz der konkurrenzfreien Räume keineswegs aus (ebd., 392); sie ist kein Unglück, sondern ein Segen. 90

Habermas (1991a), S. 25. Insofern scheint mir das Ansinnen von Habermas , die Kraft des Religiösen durch eine ins Sprachliche verflüssigte kommunikative Ethik zu ersetzen ( Habermas 1981 I, S. 331; II, S. 118 f.), problematisch. Angesichts der „Anonymisierung des Menschen durch die [...] 'Diskursethik'" (Luhmann 1994, S. 56) fehlt ihr m. E. die existenzielle 'power'. 91

Da das gesellschaftlich 'Gerechte' Formen konkurrenzgesteuerter Kooperation beinhalten wird, ist mit Röpke (1981, S. 448) zu bedenken, „daß auch die nüchterne Welt des reinen Geschäftslebens aus sittlichen Reserven schöpft, mit denen sie steht und fällt [...]. Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage erzeugen diese Reserven nicht, sondern verbrauchen sie und müssen sie von den Bereichen jenseits des Marktes beziehen". Dies muß man nicht verfallstheoretisch auslegen. Es geht schlicht um kompensatorische 'konkurrenzfreie Räume'.

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Menschen der Einsicht zustimmen, daß die Existenz religiöser Kommunikation, die direkt natürlich nur von religiös Interessierten nachgefragt wird, doch auch allgemein der Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften förderlich sein kann. 92 3. Theologische Sozialethik: Die Semantik der Religion muß erst in die Grammatik des Marktsystems übersetzt werden, um nicht als Schuß nach hinten loszugehen.93 Hier bleibt der Sozialethik gar nichts anderes übrig, als sich eine möglichst gediegene ökonomische Kompetenz zuzulegen und - vor allem im Fall von Forschungsdefiziten der Wirtschaftswissenschaften - ökonomisch übersetzte Aufarbeitungsleistungen zu erbringen. Dennoch aber kommt der theologischen Sozialethik eine spezifische Funktion zu: Kontingenzeröffnung zugriffsfähig zu halten. Inwiefern? Die christliche Religion liefert zwar als solche noch keine fertigen Antworten, keine direkten Rezepte für die Gestaltung einer modernen Gesellschaft, 94 aber: Sie fragt nach Wegen. Den Erzählungen der christlichen Religion kommt der Charakter einer kontingenzeröffnenden Heuristik (gr. heuriskein = finden, entdecken) zu: Sie geben Kraft, immer neu nach Wegen zu suchen, um Möglichkeiten einer humaneren Gesellschaftsordnung zu entdecken.95 „Insoweit das Christentum die Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz aufrechterhält, weist es über die Möglichkeiten der Gesellschaft hinaus." 96 Die Funktion der Kontingenzeröffnung beruht also auf dem Code der Religion: 'Immanenz/Transzendenz' . 9 7 Der religiöse Code stattet das Faktische insofern mit Kontingenz aus, als er - mittels einer Heuristik der Transzendenz - eine andere Perspektive auf die Welt

92

Ähnlich Wieland (1996), S. 65.

93

Die christliche Gesellschaftsethik schöpft ihren Beitrag zu einer produktiven Gestaltung sozialer Regeldesigns nur dann aus, wenn sie sich nicht damit begnügt, über den Wassern der realen Herausforderungen nur auf einer Wolke transzendentaltheologischer Letztbegründungsprinzipien der Aufgabe, an konkreten Problemlösungsstrategien mitzuarbeiten, zu entschweben. 94

„Ich meine, daß man aus den Imperativen der Bergpredigt allein [...] keine konkrete Gesellschaftsordnung ableiten kann" (Rahner 1986, S. 65). 95

Als 'eschatologische Heuristik' wird die christliche Ethik bei Habisch (1995a) bestimmt. Kaufmann (1987), S. 84 f. Es geht hierbei nicht um pompöse himmlische Heimsuchungen religiöser Virtuosen, sondern 'nur' darum, die Fraglichkeit des Immanenten gegen das Vergessen wachzuhalten. 96

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Der Begriff der Transzendenz markiert einen Standpunkt, den wir zwar nicht tatsächlich (wie Gott) einnehmen können, der aber als Heuristik dienen kann, um Kontingenz zu eröffnen. Als Mensch zu meinen, man könne wirklich den Standpunkt Gottes einnehmen, würde bedeuten: Transzendenz in Immanenz aufzulösen. Für Gott ist alles 'immanent', liegt gewissermaßen vor Augen. Wir sind aber nicht Gott.

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provoziert. 98 Systemtheoretisch betrachtet ist der Code der Religion der einzige, der als Provokation von Innovation fungieren kann. Religion eröffnet Kontingenz (Nicht-Notwendigkeit) 99 : Jegliche Gesellschaftsordnung kann weiterentwickelt werden. Die innerweltlich unausschöpfbaren Visionen der Bibel eröffnen eine Perspektive, die über das Faktische grundsätzlich hinausdrängt, änderbare Fehlentwicklungen - z. B. in Sachen Arbeitslosigkeit oder in ökologischer Hinsicht - nicht schicksalsergeben schluckt und sich immer aufs neue auf den Weg zu machen sucht, die Spielregeln unserer Gesellschaft zu verbessern. Auf solcherlei kontingenzeröffnende Heuristiken ist gerade die moderne Gesellschaft angewiesen, denn ihre Stabilität beruht auf ihrer Innovationsfähigkeit. Soweit, so gut. Nun zur theologischen Sozialethik : Diese heuristische Leistung der Religion einer Kontingenzeröffnung, die ja zunächst einmal nur religionsmfó /τι (innerkirchlich) zum Tragen kommt, für die demokratische Öffentlichkeit und die Grammatiken ausdifferenzierter Gesellschaften kommunikabel zu machen, ist die Funktion der theologischen Sozialethik. Konkret: Entgegen gesellschaftlichen Tendenzen, sich an Mißstände wie Arbeitslosigkeit langsam zu gewöhnen und als (scheinbaren) 'Preis' eines effizienten Marktsystems hinzunehmen, hat sich die theologische Sozialethik aus der Kraft des Glaubens heraus immer neu auf den Weg zu machen, Problemlösungen zu finden oder gesellschaftlich zu unterstützen. Bloß moralisierende Appelle, die rasch abstumpfen und im seichten Boden des Vergessens versikkern, reichen hier nicht aus. Es bedarf (ökonomisch) konkretisierter Vorschläge. Allerdings: Hinsichtlich dieser Funktion muß sich die theologische Sozialethik immer neu dadurch bewähren, daß sie ihre gesellschaftliche Nützlichkeit je aktuell unter Beweis stellt. Schluß : Von jeder Ethik muß eine Berücksichtigung der realen Strukturen des Gesellschaftssystems verlangt werden. Da eine solche unvoreingenomme Berücksichtigung m. E. die Tatsache zu Tage fördert, daß es zur Ausdifferenzierung funktionaler Subsysteme nicht nur keine realistische Alternative gibt, sondern daß diese Ausdifferenzierung auch moralisch wünschenswert ist, kann sich die Leistung der theologischen Sozialethik, die kontingenzeröffnende Heuristik der Religion zugriffsfähig (kommunikabel) zu halten, nicht als An-

98

In diese Richtung argumentiert auch Wie land (1996). Auch ein eigentlich nichtgläubiger Mensch kann aus einem (quasi fiktiven) Kommunizieren im religiösen Code Nutzen ziehen, obwohl er überzeugt ist, daß es sich um eine Fiktion handelt (ähnlich wie bei einem Film oder einem Buch), so Buchanan (1991, S. 158 f.). 99

Im Gegensatz zu der in den Sozialwissenschaften üblicherweise als Religionsfunktion angeführten Kontingenzbewältigung (etwa: Luhmann 1993a, S. 259 - 357; Lübbe 1996), sehe ich die entscheidende Funktion der Religion in der Kontingenzeröffhung.

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griff auf die Codierung der Subsysteme selbst darstellen. Vielmehr geht es darum, unter Anerkennung der ausdifferenzierten Codes konkrete Vorschläge zu einer zukunftsfähigen Gestaltung der (System)Programme in die Diskurse der demokratischen Öffentlichkeit einzuspeisen.

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Schramm, Michael (1995): Demokratie im Dilemma? Freiheitsgarantie - Arbeitslosigkeit und Sozialleistungen - Ökologische Herausforderung, in: Jahrbuch für Christliche Sozial Wissenschaften 36, S. 44 - 59. - (1996a): Ist Gary S. Beckers 'ökonomischer Ansatz' ein Taschenspielertrick? Sozialethische Überlegungen zum 'ökonomischen Imperialismus', in: Hans G. Nutzinger (Hrsg./1996): Wirtschaftsethische Perspektiven ΠΙ (Schriften des Vereins für Socialpolitik NF 228/III), Berlin, S. 231 - 258. - (1996b): Religion und Moral in der Moderne. Zur Theoriestrategie einer christlichen Sozialethik, in: Adrian Holderegger (Hrsg./1996): Fundamente der Theologischen Ethik. Bilanz und Neuansätze [Studien zur theologischen Ethik 72], Freiburg [Schw.] / Freiburg [Br.] / Wien, S. 385 - 402. Seel, Martin (1991): Ästhetische Argumente in der Ethik der Natur, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39, S. 901 - 913. Spermann, Alexander (1996): Das 'Einstiegsgeld' für Langzeitarbeitslose, in: Wirtschaftsdienst 76, S. 240 - 246. Steinmann, Horst /Lohr, Albert (1994): Grundlagen der Unternehmensethik, 2. Aufl., Stuttgart. Suchanek, Andreas (1996): Läßt sich intergenerationelle Gerechtigkeit ökonomisch begründen? (Diskussionsbeiträge der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Ingolstadt der Katholischen Universität Eichstätt 68), Ingolstadt. - (1995): Politischer Liberalismus und das Problem der intergenerationellen Gerechtigkeit, in: Ingo Pies / Martin Leschke (Hrsg./1994): John Rawls' politischer Liberalismus, Tübingen, S. 129 - 141. Ulrich, Peter (1996): Unternehmensethik und 'Gewinnprinzip'. Versuch der Klärung eines unerledigten wirtschaftsethischen Grundproblems, in: Hans G. Nutzinger (Hrsg./1996): Wirtschaftsethische Perspektiven ΠΙ (Schriften des Vereins für Socialpolitik NF 228/III), Berlin, S. 137 - 171. Waalkes, Otto (1983): Die mündliche Führerscheinprüfung, in: ders., Das kleine Buch Otto (hrsg. v. Eilert, B./Gernhardt, R. /Knorr, Ρ./Rink, Κ), Hamburg, S. 28. Wenger, Ekkehard (1987): Managementanreize und Kapitalallokation, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 6, S. 217 - 240. Wieland, Josef (1993): Die Ethik der Wirtschaft als Problem lokaler und konstitutioneller Gerechtigkeit, in: Josef Wieland (Hrsg./1993): Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft, Frankfurt (M.), S. 7 - 31. - (1996): 'Wucher muß sein, aber wehe den Wucherern'. Einige Überlegungen zu Martin Luthers Konzeption des Ökonomischen, in: Franz Furger/ Andreas Lienkamp / Karl Wilhelm Dahm (Hrsg./1996): Einführung in die Sozialethik (Münsteraner Einführungen. Theologie 3), Münster, S. 115 - 134. Wiemeyer, Joachim (1995): Christliche Sozialethik und Wirtschaftsethik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Β 51 / 95, 15.12.1995, S. 1 5 - 2 1 .

Die Genese von Präferenzen und das ökonomische System Von Horst Hegmann Michael Schramm unterscheidet in seinem Aufsatz die personale Moral der traditionellen Ethik von einer Moral, die bereits in gesellschaftliche Regelwerke gegossen wurde. iyBeide Formen", so schreibt er, „müssen gesehen und zur Geltung gebracht werden" 1. Im folgenden soll die unterschiedliche Wirkungsweise der beiden Formen von Moral voneinander abgegrenzt werden, um im Anschluß die postulierte „Arbeitsteilung" zwischen ihnen kritisch beleuchten zu können.

I. Die Menschen stehen außerhalb des Systems Die Menschen stehen, so Schramms Diagnose, in ihrer Ganzheitlichkeit außerhalb des Wirtschaftssystems. Dreht man die Perspektive um und betrachtet nicht das System aus der Perspektive der Menschen, sondern die Menschen aus dem Blickwinkel des Systems, so geraten sie nur als Nutzenfunktionen in den Blick. Die in den Nutzenfunktionen ausgedrückten individuellen Präferenzbündel spiegeln im Idealfall die ganze historisch gewachsene Identität des Einzelnen, mit all ihren Vorlieben, Werten, Loyalitäten und internalisierten Normen. Die Präferenzen sind aus der Sicht des Systems exogen und werden als Daten zwar ins System eingespeist, ihrerseits aber nicht weiter thematisiert. Was im System selbst geschieht, läßt sich nach wie vor am besten mit Joseph Schumpeter beschreiben. In seiner 1908 erschienenen Schrift Vom Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie bestimmt er den Kern der Gleichgewichtstheorie wie folgt: 2 Ausgehend von einem gegebenen Bestand voneinander abhängiger Quantitäten wie Kapital, Zeit und Arbeitskraft untersucht der Wissenschaftler, welche Anpassungsreaktionen erfolgen, wenn

1

Schramm (1997), S. 153.

2

Schumpeter (1908), S. 118.

12 Aufderheide/Dabrowski

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Horst Hegmann

eine dieser Quantitäten verändert wird. 3 Sind alle Anpassungsreaktionen abgeschlossen, befindet sich das System im Gleichgewicht. Seit Schumpeter hat sich zwar die Zahl der innerhalb des Systems berücksichtigten Quantitäten deutlich erhöht. Die Quantifizierung individueller Informationsverarbeitungskapazitäten im Begriff der bounded rationality sowie die Meßbarmachung menschlicher Fähigkeiten im Begriff des Humankapitals haben beispielsweise Verhaltensbestandteile der ökonomischen Akteure endogenisiert. Auch der institutionelle Rahmen wurde über den Begriff der Transaktionskosten zumindest teilweise aus dem Datenkranz herausgelöst und zum Gegenstand der Analyse gemacht. Nach wie vor gilt aber, daß die Individuen nur die im System definierten Quantitäten verändern können,4 um auf diese Weise, ihrer individuellen Nutzenfunktion entsprechend, das Beste für sich herauszuholen.

Π . Das System als Koordinationsmaschine für individuelle Handlungen Schumpeter ging es in seiner Abhandlung um die bloße Beschreibung. Aus normativer Perspektive betrachtet, zielt das solcherart eingeführte System auf eine möglichst verschwendungsfreie Allokation bei gegebenen Präferenzen aller Teilnehmer. Man kann es auch als Koordinationsmaschine für die Handlungen von Menschen begreifen, deren Ziele selbst nicht mehr problematisiert werden. Gewachsene Institutionen im Sinne des alten Institutionalismus, sowie bewußt geplante, sanktionsbewehrte Regelwerke im Sinne der Neuen Institutionenökonomik sind das Getriebe der Maschine. Sie regeln die Anpassung der Quantitäten innerhalb des Systems. Karl Homann ist in diesem Bild der Ingenieur, der die Maschine stetig fortentwickelt, um sie an sich verändernde Umstände anzupassen und sie möglichst reibungslos funktionieren zu lassen. Er zielt dabei ausschließlich auf die Entdeckung und Realisierung möglicher Pareto-Verbesserungen durch institutionelle Variationen im System. Personale Moral hat in einem solchen Ansatz zwar keinen Platz, sie widerspricht ihm aber auch nicht notwendigerweise. Die Funktionen individueller Moralität, die Schramm in seinem Referat nennt,5 setzen alle auf entsprechende Präferenzen der Menschen und können so über die Nutzenfunktion als

3

4

Schumpeter (1908), S. 28 f.

Daß hierbei Prozesse des Wandels und der ökonomischen Entwicklung aus der Analyse ausgeschlossen bleiben, hat Schumpeter bewußt in Kauf genommen. 5

Schramm (1997), S. 159 ff.

Die Genese von Präferenzen und das ökonomische System

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exogene Daten ins System einfließen. Ob ich „Vater und Mutter ehre" oder aus moralischen Gründen beim Bergwandern meinen Abfall nicht verstreue, hängt so ebensosehr von meinen Präferenzen ab wie die Tatsache, daß ich überhaupt in die Berge fahre und mich nicht statt dessen auf Mallorca an den Strand lege. Auch die Tatsache, daß ich meine Kooperationspartner selbst dann nicht betrüge, wenn ich es ungestraft könnte, ist ausschließlich von meiner Nutzenfunktion und ihrem Verhältnis zu den im System sich einspielenden Preisen abhängig. Da sich weder mein Nutzen noch meine Kosten6 ohne Bezug auf meine Präferenzen ermitteln lassen, ist keine Handlungsoption durch die Logik des Systems von vornherein ausgeschlossen. Deshalb ist es auch unnötig, ein bestimmtes Handeln unter Betonung außerökonomischer Interaktionszusammenhänge besonders fördern zu wollen.

Π Ι . Personale Moral hat ihren Ort jenseits des Systems Schramm geht es denn auch nicht um die Wirkungszusammenhänge innerhalb des Systems. Vielmehr fragt er nach dem Einfluß der Koordinationsmaschine auf diejenigen, die mit ihr umgehen. Menschen bilden ihre Präferenzen in sozialen Interaktionsprozessen. Ist ihr Austausch auf den Kontakt innerhalb des Wirtschaftssystems beschränkt, werden sich ihre Präferenzen im Laufe der Zeit verändern. Da systemintern nur zur Kenntnis genommen wird, was sich in den Kategorien des Systems abbilden läßt,7 können sich die einzelnen nur noch in Form von Beständen der im System definierten Quantitäten wahrnehmen. Nur diese noch versprechen in der Interaktion mit anderen Anerkennung. Sie werden auf diese Weise zunehmend von reinen Mitteln zu Zwecken. Man sieht sich dann zum Beispiel mit Wohlbehagen als $ 1.000.000 Mann, nicht weil man damit ein großes Maß an individuellem Nutzen realisieren könnte, sondern weil des ökonomischen Systems nur diese Eigenschaft noch wahrgenommen wird, so daß sie unmittelbar Anerkennung durch andere verheißt. Wenn die Wirkung der Koordinationsmaschine auf die Präferenzen der Wirtschaftssubjekte nicht durch andere Einflüsse neutralisiert wird, verändern sich die Benutzer im Laufe der Zeit durch den Umgang mit der Maschine. „Altruistische" Präferenzen, also solche, die die Vermögensbestände im System reduzieren und nicht erhöhen, werden dann tendenziell geringer geschätzt, während die Wahrung und Aufstockung solcher Bestände zunehmend 6 7

Buchanan (1987), S. 718-721.

Siehe hierzu auch: Kirsch: „Exkurs: Individuen - Systemfunktionen, nicht aber Menschen" in: ders.: (1993), S. 35-43; vergi, auch: ders. (1990), S. 62 ff.

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zum Selbstzweck wird. 8 Das System kann immer weniger Umwelteinflüsse verarbeiten, es „schließt" sich. Dieses Phänomen führt dann zu der bekannten Klage, daß die Marktwirtschaft von Ressourcen zehre, die sie selbst nicht erneuern könne. Schramm zitiert hier Wilhelm Röpke mit einer entsprechenden Passage.9

I V . Wie läßt sich die Schließung des ökonomischen Systems verhindern? Wenn die Schließung des Systems dann droht, wenn Menschen in zunehmendem Maße nur noch über die Koordinationsmaschine „ökonomisches System" miteinander kommunizieren, läßt sich das Problem möglicherweise lösen, indem man andere Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet. Schramm fordert denn auch „konkurrenzfreie Räume" jenseits des ökonomischen Systems, in denen Menschen auf andere Art miteinander in Beziehung treten als über die bloße Manipulation systemintern definierter Quantitäten. Solche Räume kann auch die Kirche bereitstellen und so „zur Konstitution humaner (moralischer) Identität beitragen" 10 . Die „Erzählungen der christlichen Religion", so schreibt er, „geben Kraft, immer neu nach Wegen zu suchen, um Möglichkeiten einer humaneren Gesellschaftsordnung zu entdecken" 11 . Auf diese Weise hofft er, jenseits des ökonomischen Systems Interaktionszusammenhänge initiieren oder verstärken zu können, die den verderblichen Einfluß des Systems auf die Präferenzen der Wirtschaftssubjekte neutralisieren können. Als eine dieser Alternativen kann theologische Sozialethik dann die Funktion erfüllen, „Kontingenz zu eröffnen", wie er es formuliert. 12

V. Zum Verhältnis von personaler und verobjektivierter Moral Wenn Moraltheologie ein Gegengewicht bereitzustellen vermag, um den Einfluß des ökonomischen Systems auf die Menschen auszugleichen, bedeutet g Guy Kirsch kommt zu einer ganz ähnlichen Problemdiagnose: „Man muss es schon fast tragisch nennen: Die liberale Wirtschaftstheorie der Klassiker baute auf der realitätsfremden Kunstfigur des „Homo oeconomicus" auf; die auf dieser Theorie aufbauende Wirtschaftsordnung scheint die Tendenz zu haben, die lebendigen Menschen auf die Dimensionen dieses Homunculus zu reduzieren." (Kirsch (1990), S. 75). 9 Schramm (1997), S. 168, Fn. 91. ^Schramm

(1997), S. 168.

11

Schramm (1997), S. 169.

12

Vgl. Schramm (1997), S. 169.

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das noch nicht, daß sich notwendig ein harmonisch arbeitsteiliges Verhältnis zwischen personaler und institutionell übersetzter Moral einstellt, wie Schramm dies zu meinen scheint. Das Verhältnis des ökonomischen Systems zu anderen Formen menschlicher Interaktion ist alles andere als eindeutig. Dies gilt insbesondere auch für die Beziehung der Ökonomie zur Moraltheologie. Es gibt keine klare Aufgabenabgrenzung derart, daß sich das Wirtschaftssystem mit Sachzwängen, die moraltheologische Diskussion aber mit der Bewertung von Handlungsalternativen befasse. Die erste Durchbrechung dieser Grenze wurde schon angesprochen: der Umgang mit der Koordinationsmaschine „ökonomisches System" mag durchaus die Präferenzen der Beteiligten verändern. Umgekehrt aber mag auch der religiöse Interaktionszusammenhang die Wahrnehmung der ökonomischen Realität beeinflussen. Wer lange genug am religiösen Interaktionszusammenhang partizipiert, sieht sich vielleicht nicht mehr als Individuum, das vermittels einer geschickt konstruierten Koordinationsmaschine private Bedürfnisse zu befriedigen trachtet, sondern als Teil einer Glaubensgemeinschaft oder einer kosmischen Ordnung, was einen ganz anderen, möglicherweise kollektivistischen Umgang mit dem Knappheitsproblem impliziert. Wenn Schramm also in seinem Schlußwort zu der Einschätzung kommt, daß die kontingenzeröffnende Leistung der theologischen Sozialethik keinen Angriff auf die Codierung des Subsystems impliziere, 13 klingt dies auf dem Hintergrund des Entwickelten doch allzu harmonisch. Wenn er mit dem „Angriff auf die Codierung" nur meint, daß man dem „monetären Code" gemäß nach wie vor feststellen müsse, ob eine bestimmte Ausgabe noch finanzierbar sei oder nicht, hat er noch nicht viel ausgesagt. Wenn er aber meint, daß der theologische Interaktionszusammenhang der Wirkungsweise des ökonomischen Systems nach Homann prinzipiell nicht widerspricht, ist das so sicher falsch. Bezahlt werden muß sicherlich, wer aber wofür zahlt und wofür er legitimerweise zahlen soll, hängt vom konkreten Inhalt des moraltheologischen Interaktionszusammenhangs ab. Homanns Koordinationsmaschine wird tendenziell verzichtbar, wenn das Kollektiv als Ganzes zum Zahler wird oder die Bedürfnisse der Menschen unabhängig von ihren individuellen Präferenzen aus einer kosmischen Ordnung abgeleitet werden. Dann ist das Verhältnis von Individualethos und normativer Institutionenökonomik auf Konflikt programmiert.

13

Vgl. Schramm (1997), S. 170 f.

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Literatur Buchanan, James M . (1987): Opportunity Costs in: J. Eatwell / M. Milgate / P. Newman (Eds./1987): The New Palgrave (Vol. 3), London. Kirsch, Guy (1993): „Exkurs: Individuen - Systemfunktionen, nicht aber Menschen" in: ders.: Neue Politische Ökonomie, Düsseldorf, S. 35-43. - (1990): Das freie Individuum und der dividierte Mensch, Baden-Baden. Schumpeter , Joseph A. (1908): Wesen und Hauptinhalt der Theoretischen Nationalökonomie, Leipzig.

Theologische Sozialethik und ökonomische Theorie der Moral Ein Verständigungsversuch

Von Ingo Pies Ich lese den Beitrag von Michael Schramm (1997) als eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine theologische Sozialethik beschaffen sein müßte, um sich als Wissenschaft in einer säkularen Gesellschaft nützlich machen zu können. Seine Antwort besteht in einem Forschungsprogramm, das sich auf die Bedingungen der Moderne vorbehaltlos einläßt, indem es von Kontingenzbewältigung auf Kontingenzeröffnung umschaltet. Schramm versucht, das Programm einer theologischen Sozialethik zu entwerfen, die zu den Problemen der modernen Gesellschaft - und zur Lösung dieser Probleme - etwas Relevantes auszusagen hat. Ich begrüße diesen Versuch, und ich begrüße das Bemühen um interdisziplinäre Verständigung, das sich mit diesem Versuch verbindet. Aus meiner Sicht handelt es sich schlichtweg um das interessanteste Gesprächsangebot, das der Ökonomik von Seiten der Theologie seit Jahr(zehnt)en unterbreitet worden ist. Ich nehme dieses Angebot gerne an und bemühe mich im folgenden um die interdisziplinäre Geschäftsgrundlage für ein solches Gespräch.1 Meine Ausführungen hierzu sind stark methodologisch geprägt. Ich halte das aus folgendem Grund für angebracht: Michael Schramm präsentiert sein Forschungsprogramm einer theologischen Sozialethik in der Auseinandersetzung mit - genauer: als Kritik an - einer ökonomischen Theorie der Moral. Damit wählt er eine Positionierung, die den Eindruck nahelegt, als stünden die beiden Forschungsprogramme im Verhältnis einer (partiellen) Theorienkonkurrenz zueinander. Ich halte eine solche Positionierung für unzweckmäßig, weil sie unnötige Mißverständnisse hervorruft. Um diese Mißverständnisse zu vermeiden, schlage ich vor, beim Vergleich von Forschungsprogrammen mindestens zwei Ebenen auseinanderzuhalten: die Ebene der Problemstellung und

1 Zum Verhältnis zwischen Theologie und Ökonomik vgl. insbesondere auch Habisch (1995) sowie Homann (1996).

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die Ebene der Problembearbeitung. Eine solche Differenzierung weist zahlreiche Vorteile auf, von denen drei im vorliegenden Kontext besonders wichtig sind. Erstens wird es so möglich, ein Forschungsprogramm darauf hin zu untersuchen, ob die gewählte Vorgehensweise zweckmäßig ist, und zwar zweckmäßig zur Bearbeitung nicht irgendeiner, sondern der dem Forschungsprogramm ausgewiesenermaßen zugrundeliegenden Fragestellung. Zweitens lassen sich auf dieser Grundlage Mißverständnisse ausräumen, die einer interdisziplinären Verständigung im Wege stehen. Und drittens schließlich wird es möglich, die Unterschiedlichkeit von Forschungsprogrammen auf unterschiedliche Problemstellungen zurückzuführen und sie gerade dadurch miteinander ins Gespräch zu bringen.

I. Problemstellung und Problembearbeitung einer ökonomischen Theorie der Moral Das Forschungsprogramm einer ökonomischen Theorie der Moral folgt einer letztlich gesellschaftspolitischen Fragestellung. 2 Es geht aus von dem Befund, daß zahlreiche Menschen sich als moralische Subjekte verstehen und mit diesem Selbstverständnis (vermeintlich) in Widerspruch zu den Funktionsbedingungen der modernen Gesellschaft geraten. So kommt es vielfach zu moralischen Blockaden demokratischer Politikprozesse, mit der Folge, daß die moderne Gesellschaft unter ihren Möglichkeiten bleibt. Die Aufgabe des Forschungsprogramms besteht darin, solche Blockaden überwinden zu helfen, indem es Widersprüche als vermeintliche Widersprüche auflöst. Die Bearbeitung dieser Problemstellung erfolgt in mehreren aufeinander abgestimmten Schritten. In einem ersten Schritt wird Moral als Kooperationsmoral rekonstruiert. Hier lautet die systematische These, daß sich alle Konkretisierungen von Moral — also alle moralischen Normen / Ideen / Prinzipien, von den zehn Geboten oder der Goldenen Regel bis hin zu den inhaltlichen Forderungen moralischer Appelle — auf die Intention zurückführen lassen, im sozialen Raum 'mutual gains from trade' realisieren zu können: Kooperationsmoral zielt auf wechselseitige Kooperationsgewinne. Der zweite Schritt besteht darin, die moderne Gesellschaft als Wettbewerbsgesellschaft zu rekonstruieren, d. h. als eine Gesellschaft, in der sich etwa in den 'Bereichen' Wirtschaft und Politik - zahlreiche soziale Ergebnisse als nicht-intendierte Folge intentionalen Handelns einstellen. Folglich sind 2

Vgl. Homann und Pies (1994a) und (1994b).

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hier nicht die Absichten/Motive/Präferenzen usw. ergebnisbestimmend, sondern die Anreize, mit denen sich die Akteure je nach Situation konfrontiert sehen. Aus einer ökonomischen Perspektive sind die unterschiedlichen Subsysteme der modernen Gesellschaft nicht durch je unterschiedliche Logiken oder Rationalitätsformen oder dergleichen gekennzeichnet, sondern durch ein und dieselbe Interaktionslogik: die Logik einer individuellen Rationalität, die wettbewerblich strukturierten Anreizen folgt und sich je nach Situation unterschiedlich äußert. Mit diesem zweiten Schritt läßt sich das Ausgangsproblem als Wahrnehmungsproblem, als Problem intellektueller Orientierung präzisieren: als — vermeintlicher — Widerspruch zwischen Kooperationsmoral und Wettbewerbsgesellschaft. Dieser Problemaufriß ist nicht im buchstäblichen Sinne 'selbstverständlich'. Jedenfalls verdankt er sich nicht einer bereits vorfindlichen Problemlage. Vielmehr ist er das Ergebnis einer aktiven Problemstellung, die die weitere Problembearbeitung vorbereitet. Der dritte Schritt besteht nun darin, die moderne Gesellschaft als Gesellschaft, d. h. als Kooperationsveranstaltung, zu rekonstruieren. Sinn und Zweck jeder Gesellschaft ist die soziale Zusammenarbeit. Das Moderne der modernen Gesellschaft besteht lediglich darin, die soziale Zusammenarbeit durch den Einsatz von Wettbewerbsprozessen besonders produktiv zu machen: Wettbewerb ist ein Mechanismus, mit dessen Hilfe sich soziale Anreize setzen lassen. Er kann rationale Akteure zwingen, ihre Handlungen — ob bewußt oder unbewußt — in den Dienst anderer Menschen zu stellen: In der Wirtschaft ist es der Wettbewerb, der Unternehmen dazu veranlaßt, Kundenwünsche zu erfüllen, und in der Politik ist es wiederum der Wettbewerb, der Politiker veranlaßt, den Bedürfnissen der Bürger nachzukommen. Die moderne Wettbewerbsgesellschaft ist darauf angelegt, das Potential wechselseitiger Tauschgewinne anreizgestützt auszuschöpfen: Konkurrenz ist ein Instrument der Kooperation. Der vierte Schritt besteht darin, die Politikprobleme der modernen Gesellschaft als Institutionenprobleme zu kennzeichnen. Zu diesem Zweck werden die Schritte 3 und 2 wie folgt reformuliert: Jede Gesellschaft beruht darauf, daß die Bürger aus dem Hobbesschen Dschungel heraustreten. Soziale Ordnung setzt die Überwindung eines sozialen Dilemmas voraus. Die moderne Gesellschaft jedoch zeichnet sich dadurch aus, in diese soziale Ordnung soziale Dilemmata kontrolliert wieder einzuführen. So finden sich in der modernen Gesellschaft die beiden Koordinationsmodi 'Kooperation' und 'Konkurrenz' vielfach ineinander verschachtelt: Die Gesellschaft insgesamt ist eine Koope-

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rationsordnung In diese Ordnung eingelassen ist die Wettbewerbsordnung der Wirtschart und analog die Wettbewerbsordnung der Politik. In diesen Ordnungen finden sich Kooperationseinheiten - etwa Unternehmen und Parteien - , die intern wieder wettbewerblich strukturiert sind, usw. Da auf allen Ebenen jeweils von unvollständigen Verfassungen und unvollständigen Verträgen auszugehen ist, lautet die systematische These, daß das Politikproblem einer modernen Gesellschaft in einem institutionell differenzierten Umgang mit Dilemmasituationen besteht: Es geht um eine institutionelle Ordnung, die auf verschiedenen Ebenen und damit simultan soziale Dilemmata überwindet bzw. etabliert, um so je nach Situation erwünschte Interaktionen zu stabilisieren und unerwünschte Interaktionen zu destabilisieren, also etwa Tauschhandlungen zu fördern und Kartellhandlungen zu unterbinden. 3 Der fünfte Schritt besteht darin, Politik und Moral - genauer: das politisch gestaltbare Institutionensystem und die auf gemeinsame Kooperationsinteressen zurückgeführten moralischen Intentionen — zueinander in Verbindung zu setzen. Nicht immer wird hinreichend beachtet, daß das Forschungsprogramm einer ökonomischen Theorie der Moral bewußt die Konzeptualisierung einer wechselseitig kritischen Beziehung zugrundelegt. Mit dieser Konzeptualisierung verbinden sich daher zwei systematische Thesen. Zum einen läßt sich die Moral nicht nur in die Moderne hinüberretten, sondern sogar als für diese Moderne überaus nützlich erweisen, sofern sie - mit Hilfe theoretischer Rekonstruktionen — nicht ausschließlich auf Handlungsgesinnungen, sondern forciert auf Handlungsbedingungen bezogen wird. Sie kann dann die gesellschaftliche Funktion übernehmen, die Suchprozesse nach institutionellen Reformen anzuleiten. Hier lautet die These, daß unter den Bedingungen der modernen Wettbewerbsgesellschaft das Institutionensystem zum systematischen Ort der Moral wird, und zwar deshalb, weil unter diesen dilemmatischen Bedingungen das moralische Gewissen ein Versagen der Institutionen nicht kompensieren kann, so daß nur das Medium politischer Gestaltung übrig bleibt, sofern man nicht darauf verzichten will — und warum 3

Diese Argumentation gilt allgemein gesellschaftspolitisch. Im besonderen gilt sie wirtschaftspolitisch und unternehmenspolitisch. Von daher wird nicht nur verständlich, aus welchen Anwendungsproblemen das Forschungsprogramm einer ökonomischen Theorie der Moral ursprünglich entstanden ist: daß es zunächst als Wirtschafts- und Unternehmensethik entwickelt wurde. Verständlich wird auch, wo dieses Forschungsprogramm hin will: daß es sich als eine genuine Gesellschaftstheorie mit dezidiert gesellschaftspolitischer Stoßrichtung versteht. Insofern ist es kein Zufall, daß die Grundlagen dieses Forschungsprogramms nicht im engeren Kontext der Ethikdiskussion entwickelt wurden, sondern demokratietheoretischer, institutionenökonomischer und methodologischer Natur sind. Vgl. Homann (1988), Pies (1993) sowie Suchanek (1994). Die Arbeit von Gerecke (1997) setzt diese Tradition fort.

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sollte man? —, moralische Intentionen zur Geltung zu bringen. Richtig verortet, eignet sich Moral — genauer: die Intention der Kooperationsmoral — als Regulativ für die Politik der modernen, d. h. wettbewerblich strukturierten, Kooperationsgesellschaft. Zum anderen läßt sich der Moral die genuin moderne - d. h. letztlich auf die (Ambivalenz von) Dilemmastrukturen zurückzuführende — Eigenschaft der Ambivalenz nachweisen. Moral kann nicht nur nützlich, sie kann auch schädlich sein. Sie kann zu Denkblockaden und schließlich sogar zu politischen Handlungsblockaden führen. Hier lautet die These, daß Moral — entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung - gesellschaftlich dysfunktional sein kann. Mit dieser These kann das Forschungsprogramm einer ökonomischen Theorie der Moral der, um mit Luhmann zu sprechen, vornehmsten Aufgabe jeder Ethik nachkommen, der Aufgabe nämlich, vor Moral zu warnen. Aber mehr noch: Es wird möglich, Moral zu kritisieren und sogar konstruktiv zu kritisieren. Die in weit verbreiteten Appellen moralisierend geforderte Läuterung der Handlungsmotive wird nicht denunziert, sondern aufgeklärt durch eine ErLäuterung der Handlungsanreize, die Akteure so handeln lassen, wie sie es tatsächlich tun. Damit wird Moral lernfähig, so daß sie den Funktionsbedingungen der modernen Gesellschaft besser Rechnung tragen kann. 4 Politik — genauer: die Idee des politischen Liberalismus — ist ein Korrektiv der Moral. Diese hat ein solches Korrektiv durchaus nötig: Nicht Nachsicht, sondern Vorsicht ist die angemessene Reaktion, wenn in der modernen Gesellschaft mit Moral hantiert wird, ohne die Funktionsbedingungen dieser Gesellschaft hinreichend zu bedenken oder auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Moral kann aber nicht nur der Gesellschaft, sie kann auch sich selbst schaden: Moral kann durch Moralisieren erodieren. Das Forschungsprogramm zielt mithin auf eine konstruktive Kritik der Politik von seiten der Moral und - strikt analog - auf eine konstruktive Kritik der Moral von seiten der Politik. In beiden Fällen nimmt diese Kritik dieselbe Argumentationsfigur an, und gerade hierin liegt eine wichtige Pointe des gesamten Ansatzes: Sowohl Moral als auch Politik lassen sich strikt analog kritisieren, nämlich als mehr oder weniger zweckmäßig zur Steigerung der gesellschaftlichen Kooperationserträge. Mit dieser Argumentationsfigur wird die

4

Nichts anderes beabsichtigt John Rawls, wenn er dem Rechten einen Vorrang vor dem Guten einräumt. Mißverständlich hingegen ist, wenn er seine Gerechtigkeitstheorie nicht länger als Moralphilosophie, sondern als politische Philosophie verstanden wissen will. Präziser müßte es heißen, daß seine Gerechtigkeitstheorie als politische Philosophie einen Beitrag zur Moralphilosophie leistet. Vgl. Pies (1996), mit weiterer Literatur.

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positive Analyse der Funktionalität alternativer institutioneller Arrangements konstitutiv für die Beurteilung von Politik und Moral. Von daher bezieht die streng ökonomische Analyse ihren herausgehobenen Stellenwert. Eine weitere, nicht minder wichtige Pointe des Ansatzes besteht nun darin, ökonomische Zweckmäßigkeitsargumente wieder zwrwcfczuübersetzen in die Sprachen von Politik und Moral. Mit Hilfe ökonomischer Analyse läßt sich Politik an ihrem demokratischen Anspruch messen, die gemeinsamen Interessen der Bürger durch produktive Regeln zur Geltung zu bringen: Demokratische Politik kann im Namen politischer Demokratie kritisiert werden. 5 Analog ist es möglich, mit Hilfe ökonomischer Theorie die Moral an den ihr zugrundeliegenden Intentionen zu messen, und das bedeutet: Moral kann im Namen der Moral kritisiert werden! Läßt man die Funktionalitätsbetrachtungen weg, auf die sich solche Argumente stützen, so kann man formelhaft zugespitzt formulieren, daß Wettbewerb solidarischer ist als Teilen (K. Homann) oder daß bestimmte, nämlich gesellschaftlich dysfunktionale, Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit ungerecht sind (F. A. von Hayek) oder daß die Marktwirtschaft die effizientere Form der Caritas darstellt (so Adam Smith in der Interpretation von B. Priddat, 1990). Wenn von Hayek davor warnt, daß im Namen der Freiheit Maßnahmen gefordert werden, die die Freiheit untergraben, oder daß im Namen der Gleichheit Maßnahmen gefordert werden, die auf Ungleichbehandlung hinauslaufen, oder daß im Namen sozialer Sicherheit Maßnahmen gefordert werden, die verstärkte Unsicherheit nach sich ziehen, so handelt es sich stets um in die jeweilige Diskurssprache (zurück)übersetzte Zweckmäßigkeitsargumente. In diesem Sinn gibt es eine Traditionslinie, von den ökonomischen Klassikern bis heute, die mit dem Forschungsprogramm einer ökonomischen Theorie der Moral lediglich fortgeschrieben wird, wenn dieses erklärtermaßen Ökonomik als Ethik mit anderen Mitteln auffaßt. Die Theoriestrategie einer ökonomischen Theorie der Moral zielt auf Diskursivität: Das Forschungsprogramm versteht sich als Argumentationsgrammatik politischer und moralischer Diskurse, die es von Zieldiskussionen auf Mitteldiskussionen umstellen will, um sie für wissenschaftlich traktable Zweckmäßigkeitsargumente und damit letztlich für Erkenntnisfortschritt durch konstruktive Kritik zu öffnen. Auf diesen Fluchtpunkt hin sind Problemstellung und Problembearbeitung konzipiert, und nur von diesem Fluchtpunkt her wird verständlich, inwiefern die einzelnen Elemente des Forschungsprogramms in zweckmäßiger Weise aufeinander abgestimmt sind. 5 Zur gesellschaftspolitischen Programmatik vgl. Homann und Pies (1993). Für ein ausführliches Anwendungsbeispiel vgl. etwa Hartwig und Pies (1995).

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Π . Zurückweisung der Kritik Michael Schramm gründet seine Kritik am Forschungsprogramm einer ökonomischen Theorie der Moral im wesentlichen auf drei Punkte. Zum einen erhebt er den Vorwurf, das Programm einer Übersetzung von Moral 'in terms of economics' hebe die Pluralität wissenschaftlicher Rationalitätsformen auf, es nehme einen bereits erreichten Grad an Ausdifferenzierung zurück und lasse dadurch mögliche Spezialisierungsgewinne ungenutzt verstreichen. 6 Ich lese das als eine Kritik der imperialistischen Theoriestrategie, die dem Forschungsprogramm — offen ausgewiesen — zugrundeliegt. Während der erste Vorwurf das Programm für zu ehrgeizig hält, hält der zweite Vorwurf es für nicht erfolgreich genug: Falls die ökonomische Übersetzung moralischer Gehalte nicht vollständig gelinge, werde die Politik konzeptionell blockiert. 7 Beide Vorwürfe kulminieren jeweils in der Mahnung, daß mit einem moralischen Überschuß gerechnet werden müsse.8 Diese Mahnung interpretiere ich als einen eigenständigen dritten Kritikpunkt. Ich lasse die Frage beiseite, ob es konsistent möglich ist, die beiden Vorwürfe gleichzeitig zu erheben, und beschränke mich darauf, sie getrennt voneinander zurückzuweisen. Der erste Vorwurf läßt sich relativ schnell ausräumen, denn er beruht offenbar auf einem doppelten Mißverständnis. Erstens folgt das Forschungsprogramm einer ökonomischen Theorie der Moral der methodischen Anweisung, den moralischen Diskurs nicht zu er-setzen, sondern zu über-setzen — der insinuierte Alleinvertretungsanspruch wird also gar nicht erhoben - , und zweitens folgt es der methodischen Anweisung, wechselseitig zu übersetzen. Es geht also darum, einerseits moralische Intentionen in die Kategorie gemeinsamer Kooperationsinteressen zu überführen und andererseits die Funktionalität institutioneller Arrangements in moralischen Kategorien auszudrükken. Gerade weil der moralische Diskurs in der modernen Gesellschaft unverzichtbar ist, bemüht sich das Forschungsprogramm darum, Politik und Moral aneinander anschlußfähig zu machen. Ich verstehe dies als Versuch, Ausdifferenzierung nicht zurückzunehmen, sondern ganz im Gegenteil Ausdifferenzierung voranzutreiben und dann durch Integration fruchtbar zu machen.

6

Vgl. Schramm (1997), S. 155 f.

7

Vgl. Schramm (1997), S. 164 f.

8

Vgl. Schramm (1997), S. 155 f., 167, 168.

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Ingo Pies

Damit komme ich zu dem zweiten Vorwurf, den Michael Schramm erhebt. Trifft es zu, daß eine ökonomische Theorie der Moral umweltpolitische Reformen blockiert? Ich glaube nein, mit folgender Begründung: Systematisch betrachtet, liegt moralischen Appellen der Versuch zugrunde, individuelle Handlungskalküle in zeitlicher und/oder in sozialer Hinsicht zu 4 verlängern'. Oft geschieht dies dadurch, daß zuvor klar bestimmte Begriffe durch ein entsprechendes Beiwort ergänzt werden. 'Verantwortung' wird dann zur 'sozialen Verantwortung', 'Gerechtigkeit' zur 'sozialen Gerechtigkeit'. Mit der Kategorie einer 'intergenerationellen Gerechtigkeit' verhält es sich ähnlich. Der Unterschied ist nur, daß hier die zeitliche Dimension im Vordergrund steht. Für eine ökonomische Rekonstruktion dieser Kategorie entsteht nun das Problem, Argumente zu generieren, die die gemeinsamen Interessen der betrachteten Akteure herausstellen. Unter Knappheitsbedingungen, d. h. generell konfligierenden Interessen, lassen sich gemeinsame Interessen aber nur im Hinblick auf Interaktionen identifizieren, denn nur Interaktionen führen zu Kooperationsgewinnen, deren Aneignung ein gemeinsames Interesse konstituiert. Sucht man nach wechselseitigen Tauschgewinnen zwischen Generationen, so hat man keine Probleme, solange man sich auf zwei oder drei Generationen beschränkt. Ich halte es für diskussionswürdig, ob dies noch für fünf oder sechs Generationen gelingt. Aber bitte, jeder ist eingeladen, es zu versuchen. M i r ist jedoch kein Argument bekannt, das die nötigen Verbindungen ernsthaft über fünfzig oder sechzig Generationen herstellen kann. Die Kategorie 'intergenerationeller Gerechtigkeit' hat also nur eine begrenzte Reichweite, und dies wird sich auf absehbare Zeit kaum ändern. Diese Erkenntnis bedeutet nun allerdings keineswegs eine Blockade nötiger und möglicher Reformen, und zwar deshalb nicht, weil das Umweltproblem in erster Linie kein inter-generationelles, sondern ein intra-generationelles Problem darstellt. Die wirklich gravierenden Umweltprobleme liegen nicht in der fernen Zukunft, sondern in der nahen Zukunft und unmittelbaren Gegenwart. Ihre kritische Dimension ist der soziale, d. h. weltweite, Maßstab. Als These formuliert: Umweltprobleme lassen sich entweder mit einem Zeithorizont von wenigen Jahrzehnten lösen, wofür die üblichen Kategorien ausreichen, oder aber sie lassen sich gar nicht lösen. Denn welchen politischen Nutzen hätte eine moralische Kategorie - so sie denn als moralische Kategorie überhaupt denkbar wäre —, deren Zeithorizont die Reichweite des positiven Wissens um die relevanten Wirkungszusammenhänge übertrifft? Oder genauer gefragt: Welche Reform würde die Kategorie einer 'intergenerationellen Gerechtigkeit' denn nahelegen, wenn man einen trade-off berücksichtigt zwischen dem Be-

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stand an natürlichen Ressourcen einerseits und dem Bestand an (Sozial-) Vermögen — inklusive Wissen - andererseits, der nur dann aufgebaut und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden kann, wenn man heute Umweltverbrauch in Kauf nimmt? Ich komme damit zu folgendem Schluß: An Appellen, die verstärkt Opferbereitschaft einfordern, herrscht kein Mangel. Deshalb ist es auch nicht nötig, solche Appelle zu elaborieren. Wir brauchen also keine in die — ohnehin zumeist mißbräuchlich benutzte — Gerechtigkeitsmetapher eingekleidete Verzichtsmetaphysik. Was wir brauchen, sind vielmehr Argumente, die den heute tätigen Akteuren ihre eigene ökologische Interessenlage klar vor Augen führen und ihnen zeigen, wie Umweltmoral — verstanden als ökologisches Kooperationsinteresse — nicht gegen, sondern durch die Wettbewerbslogik der modernen Gesellschaft zur Geltung gebracht werden kann. Der dritte Kritikpunkt von Michael Schramm ist eingekleidet in die Mahnung, daß mit einem moralischen Überschuß gerechnet werden müsse. Ich möchte nun drei Versionen dieses Begriffs unterscheiden, je nachdem, ob sich Moral auf eine Intention, einen Appell oder ein Motiv bezieht. In keiner dieser drei Versionen läßt das Forschungsprogramm einer ökonomischen Theorie der Moral das Phänomen eines moralischen Überschusses unbeachtet. Zur ersten Version: Aus ökonomischer Sicht sind moralische Intentionen letztlich auf gemeinsame Kooperationsinteressen im sozialen Raum zurückzuführen. Nun ist sicherlich mehr Kooperation denkbar, als in der Welt bereits realisiert ist. Ich sehe hierin jedoch nicht ein Übersetzungs-, sondern Implementationsproblem, und ich würde diesbezüglich lieber nicht von einem moralischen, sondern statt dessen von einem heuristischen Überschuß sprechen. Normativität fungiert als Heuristik: Das Forschungsprogramm einer ökonomischen Theorie der Moral versucht, das heuristische Potential moralischer Intentionen für Politikprozesse fruchtbar zu machen. Zur zweiten Version: Aus ökonomischer Sicht sind moralische Appelle oft nicht auf gemeinsame Interessen zurückführbar. Hier gibt es in der Tat einen moralischen Überschuß, allerdings fehlt ihm ethische Dignität. Deshalb spreche ich lieber von überschießender Moral. Ihr Kennzeichen sind personalisierte Schuldzuweisungen in systemischen Zusammenhängen. Aufgrund ihrer Dysfunktionalität ist überschießende Moral nicht die Lösung, für die manche Moralisten sie halten, sondern Teil des Problems. Und es ist die erklärte Absicht des Forschungsprogramms einer ökonomischen Theorie der Moral, den

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appellativ ausgedrückten Moralismus — sowohl im Zeichen gesellschaftlicher Funktionalität als auch im Namen der Moral — konstruktiv zu kritisieren. Zur dritten Version: Aus ökonomischer Sicht handelt es sich bei moralischen Motiven, verstanden als internalisierte Dispositionen zu sozialer Kooperation, um kontextabhängige Klugheitskalkulationen, die bis hin zu intuitiven Daumenregeln oder sogar Gefühlen kondensiert sind und als akkumuliertes Humankapital über ihren ursprünglichen Kontext — ein Stück weit — hinausreichen können. Ein wichtiges Indiz für die Triftigkeit einer solchen Konzeptualisierung ist der Befund, daß alle Gesellschaften massiv in die Ausbildung solcher Dispositionen investieren: Die Internalisierung von Normen folgt Anreizen, und Anreize werden gesetzt. Ich verweise zu diesem Komplex auf die neuere ökonomische Literatur, die sich mit der Analyse altruistischer und sogar religiöser Präferenzen beschäftigt. 9 Sicherlich wird man die Erklärungserfolge dieser Literatur unterschiedlich einschätzen können, zumal sie noch ganz am Anfang steht. Aber daß hier mit einem moralischen Überschuß — buchstäblich! — 'gerechnet' wird, scheint mir unabweisbar. Nicht unabweisbar hingegen scheinen mir die Erfolgsaussichten des - in Schramms Ausführungen zum Samariter mindestens insinuierten - Unterfangens, etwaige Anomalien des Rational-choice-Ansatzes zum systematischen Ort des Individualethos erklären zu wollen. Es könnte sein, daß eine Ethik, die ihr proprium durch einen in einer ökonomischen Bilanzierung — vorläufig — nicht verrechenbaren 'Rest' konstituiert sieht, allzuschnell selbst zur Residualgröße wird.

I I I . Anfragen an das Forschungsprogramm einer theologischen Sozialethik Bisher habe ich mich um eine Klarstellung der Argumente bemüht, aufgrund deren ich die Theoriestrategie einer ökonomischen Theorie der Moral für zweckmäßig und Schramms Kritik hieran für verfehlt halte. Ich möchte hier nicht mißverstanden werden: Meine These lautet, daß die gewählte Vorgehensweise geeignet ist, die ausgewiesene Problemstellung zu bearbeiten. Mit dieser These ist es durchaus vereinbar, daß eine theologische Sozialethik eine andere Vorgehensweise wählen kann, wenn sie andere Probleme zu lösen hat. Inwiefern dies tatsächlich der Fall ist, kann nur geklärt werden, indem man das Programm einer theologischen Sozialethik darauf hin untersucht, inwie-

9

Vgl. einführend Becker (1996a) und (1996b).

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fern in ihm Problemstellung und Problembearbeitung zweckmäßig aufeinander abgestimmt sind. Vor diesem Hintergrund stellen sich mir primär zwei Gruppen von Fragen. Der erste Fragenkomplex betrifft die Problemstellung. Michael Schramm erklärt es zur Aufgabe einer theologischen Sozialethik, das heuristische Potential religiöser Anerkennungserzählungen für die politische Kommunikation der modernen Gesellschaft zugriffsfähig zu halten. Es geht um Religion als Regulativ für Politik. Hierbei handelt es sich gewissermaßen um die kirchliche Außenwirkung seines Forschungsprogramms. Wie aber ist es um dessen kirchliche Binnenwirkung bestellt? Kann dieses Forschungsprogramm den Gedanken denken, daß umgekehrt Religion durch Politik korrigiert wird? Kann es, in Rawlsscher Manier, den Vorrang des Rechten vor dem Guten anerkennen, und kann es vielleicht sogar selbst dazu beitragen, diesem Vorrang Geltung zu verschaffen? Kann das theologische Programm die Ambivalenz von Religion denken, so wie das ökonomische Programm die Ambivalenz von Moral denken kann? Ich stelle diese Fragen deshalb, weil ich vermute, daß das Bemühen um Außenwirkung auf die Schwierigkeit stoßen dürfte, daß die skizzierte theologische Sozialethik nicht die einzige Stimme ist, die sich im Namen der Kirche an die demokratische Öffentlichkeit wendet. Insofern dürfte es notwendig werden, zu politischen Forderungen differenziert Stellung zu nehmen. Dies veranlaßt mich zu einem zweiten Komplex von Fragen, der die Problembearbeitung betrifft: Wie reagiert eine theologische Sozialethik, wenn aus kirchlichen Kreisen unter Berufung auf die Bibel ein 'Recht auf Arbeit' gefordert wird, das die eigenen Vorstellungen von einem 'Bürgergeld light' lediglich an Radikalität, nicht aber an analytischem Tiefgang überbietet? Wie geht sie mit religiösem Überschuß um? Kann sie eine theologische Kritik überschießender Religiosität formulieren, analog zu einer ökonomischen Kritik überschießender Moral? Muß eine theologische Sozialethik nicht in einen Wettbewerb um die bessere Bibelauslegung eintreten, wenn sie im Streit konkurrierender Forderungen innerkirchlich aufklären will? Und muß sie, damit ein solcher Wettbewerb überhaupt möglich wird, als Theologie nicht genau jene wechselseitige Übersetzbarkeit von Politik und Religion voraussetzen, die die Ökonomik für Politik und Moral in Anspruch nimmt? Muß sie nicht darauf zielen, im Rekurs auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse Religiosität im Namen der Religion kritisieren zu können? Anders gefragt: Muß eine theologische Sozialethik nicht zweckmäßigerweise dieselbe diskursive Überbietungsstrategie wählen, die Michael Schramm als 13 Aufderheide/Dabrowski

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hegelianisierendes Einheitsdenken kritisieren zu müssen glaubt? Oder will sie beispielsweise wirklich auf die theoriestrategische Pointe verzichten, daß eine Programmatik der Kontingenzeröffnung die christliche Botschaft der Inkarnation ernster nimmt als eine bloß (ver-)tröstende Kontingenzbewältigung? Anstatt weitere Fragen aufzuzählen, die sich mir aufdrängen, wenn ich die beiden Forschungsprogramme vergleiche, und die sich als eine geeignete Ausgangsbasis für eine inter-disziplinäre Zusammenarbeit anbieten, möchte ich eine Abschlußthese formulieren: Aus meiner Sicht handelt es sich bei einer theologischen Sozialethik und einer ökonomischen Theorie der Moral um genuin unterschiedliche Forschungsprogramme. Sie stellen unterschiedliche Fragen, und sie geben unterschiedliche Antworten, die sie mit einer je eigenen Vorgehensweise generieren. Beide Forschungsprogramme haben es jedoch mit ein und derselben modernen Gesellschaft zu tun, zu der sie als Einzelwissenschaften Stellung nehmen. Daraus resultiert eine systematische Strukturähnlichkeit der Probleme. Aufgrund dieser Strukturähnlichkeit steht zu erwarten, daß nicht die konkrete Problembearbeitung, wohl aber die Methode der Problembearbeitung ähnlicher ausfallen dürfte, als es die Unterschiedlichkeit der Forschungsprogramme zunächst nahezulegen scheint. Die konkrete Problembearbeitung erfordert im einen Fall eher Bibelexegese, im anderen Fall eher Anreizanalysen. Aber letztlich zielen beide Vorgehensweisen auf umfangreiche Übersetzungsleistungen. Es ist diese Gemeinsamkeit, über die die beiden Forschungsprogramme wohl am ehesten in ein fruchtbares Gespräch miteinander kommen können, d. h. in ein Gespräch, das wechselseitige Lernprozesse ermöglicht.

Literatur Becker, Gary S. (1996a): Familie, Gesellschaft und Politik - die ökonomische Perspektive, übersetzt von Monika Streissler, hrsg. von Ingo Pies, Tübingen. - (1996b): Accounting for Tastes, Cambridge, Mass. Gerecke, Uwe (1997): Soziale Ordnung in der modernen Gesellschaft. Zum Diskurs von Ökonomik, Systemtheorie und Ethik, Dissertation, Ingolstadt. Habisch, André (1995): Christliche Wirtschaftsethik — eine Jeremiade der Moderne? Theologische Grundlegung und interdisziplinäre Methodologie, in: Marianne Helmbach-Steins / Andreas Lienbach / Joachim Wiemeyer (Hrsg.): Brennpunkt Sozialethik: Theorien, Aufgaben, Methoden, Freiburg i. Br. u. a. O., S. 189-211.

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Hartwig, Karl-Hans / Pies , Ingo (1995): Rationale Drogenpolitik in der Demokratie. Wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftsethische Perspektiven einer Heroinvergabe, Tübingen. Homann, Karl (1988): Rationalität und Demokratie, Tübingen. - (1996): Herausforderung durch systemische Sozial- und Denkstrukturen, in: Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis 42, Heft 4/96, S. 181-186. Homann, Karl / Pies, Ingo (1993): Liberalismus: Kollektive Entwicklung individueller Freiheit - Zu Programm und Methode einer liberalen Gesellschaftstheorie, in: Homo oeconomicus (3/4), S. 297-347. - (1994a): Wirtschaftsethik in der Moderne: Zur ökonomischen Theorie der Moral, in: Ethik und Sozialwissenschaften (EUS) 5, Heft 1, S. 3-12. - (1994b): Wie ist Wirtschaftsethik als Wissenschaft möglich? Zur Theoriestrategie einer modernen Wirtschaftsethik, in: Ethik und Sozialwissenschaften (EUS) 5, Heft 1,S. 94-108. Pies , Ingo (1993): Normative Institutionenökonomik. Zur Rationalisierung des politischen Liberalismus, Tübingen. - (1996): Der Primat des Sozialen im politischen Liberalismus — von Mises, von Hayek, Rawls und Buchanan im Vergleich, Diskussionsbeiträge der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Ingolstadt der Katholischen Universität Eichstätt Nr. 74. Priddat, Birger (1990): Arm und reich: Zur Transformation der vorklassischen in die klassische Ökonomie. Zum 200. Todesjahr Adam Smiths, Beiträge des IWE 39, St. Gallen. Schramm, Michael (1997): Spielregeln gestalten sich nicht von selbst. Institutionenethik und Individualethos in Wettbewerbssystemen, in diesem Band. Suchanek, Andreas (1994): Ökonomischer Ansatz und theoretische Integration, Tübingen.

Sustainability und ökonomische Ordnungsethik Von Andreas Suchanek

I. Einleitung Seit nunmehr 10 Jahren ist der Begriff „Sustainability" zu einem der einflußreichsten Schlagworte in der öffentlichen Diskussion geworden 1. Auf unterschiedlichsten Diskussionsebenen wird thematisiert, welche Probleme damit angesprochen sind und wie sie in den jeweiligen Kontexten gelöst werden können. Einige willkürlich herausgegriffene Beispiele zeigen die Vielfältigkeit der Ebenen. So hat sich eine eigene „science of sustainability", die ökologische Ökonomie, etabliert 2. Auf internationaler Ebene wurde die UN-Kommission zur Nachhaltigen Entwicklung (CSD) eingesetzt, die sich mit der Frage der Umsetzung der Agenda 21 3 befaßt. Zahlreiche nationale Regierungen haben Strategien und Programme entworfen, mit denen Sustainability angestrebt wird; ähnliches geschieht in vielen Kommunen 4 . Unternehmen werben damit, daß sie sich dieses Themas angenommen haben und bemüht sind, ihre Produkte und Produktionsprozesse unter diesem Gesichtspunkt zu gestalten. Zahlreiche Studien wurden und werden erstellt, Tagungen und Bildungsveranstaltungen durchgeführt. Die Literatur zum Thema ist praktisch nicht mehr überschaubar5.

1

Zum Verlauf der Diskussion s. Harborth (1991/1993).

2

Costanza (1991), Jansson et al. (1994).

3

Bei der Agenda 21 handelt es sich um ein Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert, das auf der UNCED-Konferenz 1992 in Rio de Janeiro von mehr als 170 Staaten verabschiedet wurde. 4 Vgl. etwa SRU (1996), Tz. 26 ff. 5

Allerdings sei auch angemerkt, daß in einer 1996 durchgeführten Umfrage lediglich 1 1 % bzw. 7 % der west- bzw. ostdeutschen Bevölkerung mit dem Begriff „sustainable development" oder der Übersetzung „nachhaltige Entwicklung" etwas anzufangen wußten (BMU, Hrsg., 1996, S. 86).

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Insofern gilt zweifellos, daß das Konzept Sustainability bereits enorme Fruchtbarkeit entfaltet hat, und dies vor allem als normative Heuristik, d. h. als Hinweis auf problematische gegenwärtige Entwicklungstendenzen, als Anstoß wichtiger, bislang noch nicht genügend beachteter Fragen und als Verweis auf langfristig zu berücksichtigende Folgen menschlichen Handelns. Sustainability ist hier durchaus zu vergleichen mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit, zumal es oft verstanden wird als Ausdruck intergenerationeller Gerechtigkeit 6 ; die Lebensbedingungen künftiger Generationen sollen auf einem wie auch immer bestimmten Niveau gewährleistet werden, indem weder die Ressourcengrundlagen noch die Tragfähigkeit des Ökosystems überbeansprucht werden. Mit beiden Konzepten wird eine Wahrnehmung gesellschaftlicher Probleme formuliert, die eine Diskussion und Klärung dieser Probleme ermöglichen soll. Die heuristische Funktion des Begriffs Sustainability wurde in jüngster Zeit von K. Homann 7 herausgestellt. Anhand der Unterscheidung dieser heuristischen Funktion von einem Verständnis von Sustainability als konkreter Politikempfehlung zeigte er die Unangemessenheit der Versuche auf, die aus dem Begriff solche Politikempfehlungen deduzieren wollen. Ein Begriff wie Sustainability ist noch keine Theorie. Sehr wohl aber kann er, wie die einleitenden Hinweise belegen, auf den verschiedensten Ebenen in Theorie und Praxis zu neuen Fragen und zur Berücksichtigung bisher vernachlässigter Zusammenhänge motivieren. Als regulative Idee fokussiert Sustainability die Überlegungen auf ein zentrales Problem, ist aber nicht schon die Lösung dieses Problems. Die Konkretisierung dessen, was Sustainability im jeweiligen Kontext bedeutet, erfolgt recht unterschiedlich. Nicht zuletzt liegt genau hierin die Fruchtlosigkeit der Bemühungen, diesen Begriff in einer Weise definitorisch zu bestimmen, daß damit auch die Implikationen für die Operationalisierung auf den verschiedenen Ebenen festgelegt sind. 8 Wie das Beispiel des Sozialismus als Versuch der Realisierung sozialer Gerechtigkeit zeigt, kann die gesellschaftstheoretisch ungenügend oder falsch informierte Umsetzung hehrer Ideale zu verheerenden Folgen führen.

6

Vgl. z. B. Pearce, Markandya, Barbier (1989), S. 2 f.; Pezzey (1992), S. 10.

7

g Homann (1996).

Dieser heuristische Charakter des „Leitbilds" Sustainability ist heute weitgehend anerkannt. So wird in einer Diskussionsgrundlage des B M U formuliert: „Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung gibt in seiner Abstraktheit keinen Hinweis darauf, welcher Umweltzustand konkret anzustreben ist. Ebensowenig sind daraus Handlungsanweisungen abzuleiten, was konkret in Richtung auf diese Zielvorstellungen zu tun ist." (BMU 1996a, S. 7)

Sustainability und ökonomische Ordnungsethik

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Die Gefahr eines 'normativistischen Kurzschlusses' liegt gerade bei dem Begriff Sustainability bzw. der verbreitetsten deutschen Übersetzung „Nachhaltigkeit" nahe, da sich damit das einprägsame Bild verbindet, nicht mehr Holz zu schlagen als nachwächst9. Richtig an diesem Bild ist, daß wir heute mehr als je zuvor darauf angewiesen sind, unseren Umgang mit der Natur zu organisieren 10, d.h. es bedarf einer verbesserten Eingriffskompetenz 11 . Es geht also keineswegs darum, Interventionen in die Natur zu minimieren 12 und die Natur generell mehr sich selbst zu überlassen, sondern, wenn überhaupt, dies kontrolliert zu tun. Dabei stellt sich das Problem, daß Vorstellungen, nach denen ein Pater (oder eine Mater) familias, der (die) nach sorgfältig formulierten Zielen daran gehen könnte, 'verantwortlich' die Verwaltung der Erde durchzuführen, in einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft gänzlich inadäquat sind 13 . Auch gesellschaftstheoretisch informiertere Argumentationen, die angesichts der mit Sustainability verbundenen Herausforderungen den Primat der Politik einfordern 14 , sehen sich mit dem Problem konfrontiert, daß die Politik selbst Bedingungen unterliegt, die ihre Handlungsspielräume beschränken, und diese Bedingungen werden ihrerseits - teilweise - von anderen Akteuren gestaltet. Angesichts der Komplexität der institutionellen Bedingungen der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft steigen die Anforderungen an normative Theoriebildung erheblich. Ihre Aufgabe kann nicht darin bestehen, nach der Art eines synoptischen Ansatzes zunächst die Ziele zu bestimmen und dann die konkreten Umsetzungsvorschläge abzuleiten; Versuche dazu entsprechen dem, was Hayek „Anmaßung des Wissens" genannt hat 15 .

9

Zur Begriffsgeschichte von Nachhaltigkeit und den Schwierigkeiten der Verallgemeinerung des Begriffs s. Nutzinger (1995). 10 Organisieren in dem weiten Sinne, in dem auch Märkte als Organisationen zu verstehen sind; vgl. Richter /Furubotn (1996), S. 310. 11 „In dem Maße, als technische Eingriffe die Natur verändern und daraus Folgeprobleme für die Gesellschaft resultieren, wird man nicht weniger, sondern mehr Eingriffskompetenz entwickeln müssen, sie aber unter Kriterien praktizieren müssen, die die eigene Riickbetroffenheit einschließen." (Luhmann (1986/1990), S. 39). 12

So die Forderung von G. Maier-Rigaud (1990), S. 38.

13

Solche Vorstellungen lassen sich immer wieder finden; eines der populärsten Beispiele ist H. Jonas ( 1979). 14 Vgl. etwa Ewers /Hassel (1996), S. 12. 15

Hayek (1975).

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Vor diesem Hintergrund läßt sich die ökonomische Ordnungsethik als „Argumentationsgrammatik" 16 verstehen, mit deren Hilfe systematisch untersucht werden kann, wie normative Vorgaben unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zur Geltung gebracht werden können. Insofern handelt es sich bei der ökonomischen Ordnungsethik um die methodische Reaktion normativer Theoriebildung auf die gestiegene Komplexität gesellschaftlicher Bedingungen, die es bei der Implementation normativer Ideale zu berücksichtigen gilt.

Π . Der Zusammenhang von normativer und positiver Analyse Die Unterscheidung von Heuristik und konkreten Implementationsvorschlägen läßt sich erläutern anhand des folgenden Schemas17: (1)

normative Vorgaben

(2)

empirische Bedingungen

(3)

Empfehlungen

Das Ziel normativer Diskussionen und Überlegungen ist (3), die Herleitung von Empfehlungen - oder Beurteilungen - von Maßnahmen, die der Verwirklichung von (1), den normativen Idealen, dienen. Diese Empfehlungen können je nach Kontext relativ konkret sein - z. B. ein Dreistufenplan zur Minderung der europäischen Abgasgrenzwerte für Kraftfahrzeuge - oder in allgemeiner Form eher die Richtung präzisieren, in der weitere Überlegungen anzustellen sind - z. B. als Empfehlung, die Aktivitäten von Interessengruppen nicht verschwörungstheoretisch zu interpretieren, sondern genau wie individuelle Handlungen als legitime und bei geeigneten institutionellen Rahmenbedingungen auch produktive Bemühung um potentielle Tauschgewinne zu verstehen. Methodisch grundlegend ist bei diesem Schema der Umstand, daß sich die Empfehlungen weder nur aus (1), den normativen Vorgaben, noch nur aus (2), der Rekonstruktion der empirischen Bedingungen herleiten lassen. Theorien, die zu Empfehlungen gelangen wollen, bedürfen deshalb der systematischen Vermittlung positiver und normativer Überlegungen; salopp formuliert: Eine erfolgreiche Therapie bedarf einer guten Diagnose. Zu beachten ist dabei, daß die Diagnose ihrerseits der normativen Orientierung bedarf, auf welches Pro-

16

Pies (1993), S. V I I I u. pass.

17

Vgl. Gerecke (1997); Suchanek (1997).

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blem hin sie auszurichten ist. Genau darin liegt der Wert solcher Heuristiken wie Sustainability. Im Unterschied zu weitverbreiteten Auffassungen ist demnach das Hauptproblem normativer Theorie nicht in der - im negativen Sinne abstrakten, d. h. von den empirischen Realisierungsbedingungen losgelösten - Formulierung von (Umwelt-) Zielen zu sehen, sondern in eben diesem methodischen Vermittlungsproblem, d. h. der Interdependenz von Zielen und Mitteln 1*. 19 Im Rahmen des Schemas wird es möglich, die oben genannte Differenz von Heuristik und Implementationsempfehlung zu präzisieren. Verfehlte oder erfolglose Implementationsvorschläge müssen keineswegs verknüpft werden mit einer Ablehnung der ihnen zugrundeliegenden normativen Ideale, sondern können auch auf die unzureichende Berücksichtigung von (2), den empirischen Bedingungen zurückgeführt werden. Die Bedeutung einer solchen Differenzierungsmöglichkeit zeigte sich etwa in den Zeiten des kalten Krieges, in denen sozialistische Ideologien 20 die Schwächen ihrer Institutionensysteme z. T. durchaus erfolgreich überspielen konnten durch die - vermeintliche Überlegenheit ihrer normativen Ideale. Umgekehrt lassen sich Beispiele finden, in denen Implementationsvorschläge auf Ablehnung stoßen, weil sie wie eine korrupte Form der eigentlichen normativen Idee erscheinen. Ein typisches Beispiel hierfür war die Diskussion um „Verschmutzungslizenzen", deren Begriff bereits zeigt, daß sie gerade nicht die von vielen geforderte Stigmatisierung von umweltverschmutzenden Aktivitäten bedeuten21. Auch verstießen sie gegen verbreitete Gerechtigkeitsvorstellungen nach dem Motto: Reiche dürfen weiter verschmutzen, Arme müssen jedoch ihr Verhalten anpassen22. Auch hier zeigt sich wieder die fehlende Fähigkeit, zwischen normativen Idealen

18 19

Grundlegend dazu Homann (1980).

Präzisierend ist hinzuzufügen, daß damit nicht gesagt wird, die Festlegung von Umweltzielen, wie dies in unterschiedlicher Form z. B. als Staatsziel (Art. 20a GG) oder als „Umweltqualitätszier (vgl. etwa BMU (1996a), S. 7 u. pass.) geschieht, sei generell wenig fruchtbar. Derartige Konkretisierungen von Politikvorgaben sind unverzichtbar, sie sind jedoch als Schritt (3) im Schema zu verstehen, die dann in einem nächsten Konkretisierungsschritt ihrerseits zum Punkt (1) werden. So war z. B. die Festlegung des Umweltschutzes als Staatsziel selbst Resultat einer Abwägung der verschiedenen realisierbaren Alternativen wie der Formulierung als individuell einklagbares Grundrecht, der Formulierung mit bloßem Symbolcharakter oder dem Verzicht auf die Aufnahme ins Grundgesetz. Im folgenden sind beim Bezug auf Punkt (1) des Schemas jedoch stets solch allgemeine normative Vorgaben wie Sustainability gemeint. 20

Der Begriff „Ideologie" wird hier wertneutral gebraucht im Sinne von D.C. North (1981/1988). 21 Vgl. Kelman (1981); Goodin (1994). 22

Kelman 1981), S. 84 ff.

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und den relativen Vorzügen alternativer Realisierungsmöglichkeiten zu unterscheiden. Schließlich könnte auch darauf hingewiesen werden, daß die Reputation der Marktwirtschaft bis heute unter diesem Problem zu leiden hat 23 . Diese Beispiele zeigen, daß die analytische Differenzierung von (1) und (3) es ermöglicht, bei der Verwirklichung normativer Ideale Abstriche machen zu können - gerade um der Verwirklichung willen - , ohne die Ideale selbst aufzugeben. Allerdings kann es sich als nötig erweisen, sie zu reformulieren; beispielsweise sind die Arbeiten von J. Rawls (1971/1979; 1993) der Versuch, das normative Ideal der Gerechtigkeit in der modernen, pluralistischen Gesellschaft neu zu bestimmen. Die Wichtigkeit der Differenzierung zeigt sich umso mehr, je komplexer der Sachverhalt ist, um den es geht. Dies gilt vor allem deshalb, weil Vorstellungen hinsichtlich normativer Ideale oft verknüpft sind sowohl mit intuitiven Urteilen darüber, welche Zustände bzw. Entwicklungen diesen Idealen genügen und welche nicht, als auch darüber, wie etwaige Unterschiede zwischen erwünschten und wahrgenommenen Zuständen bzw. Entwicklungen zu verringern sind. Normative Konzeptionen haben hierbei die Funktion, diese Vorstellungen und Urteile zu rationalisieren. Bevor auf diese Funktion näher eingegangen wird, ist zunächst kurz einiges zu den gesellschaftlichen Bedingungen zu sagen, die für die Funktionsbestimmung folgenreich sind.

Ι Π . Das „Faktum der funktionalen Differenzierung" Die Differenz von (1) und (3) gewinnt ihre Bedeutung vor allem angesichts des „Faktums der funktionalen Differenzierung" 24 . Die moderne (Welt-) Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, daß (korporative) Akteure spezifische, gesellschaftlich erwünschte Aufgaben übernehmen. Dies wird oft unter dem Begriff „Arbeitsteilung" subsumiert, was jedoch leicht zu einer verengten Wahrnehmung des Phänomens führt 25 ; man denkt dann oft an den Produkti-

23

In einer Veranstaltung im Jahr 1992 kommentierte ein Teilnehmer aus den neuen Bundesländern seine Erfahrung mit der Marktwirtschaft folgendermaßen: „Die Marktwirtschaft ist äußerst effizient, aber asozial." 24 Luhmann (1988), S. 325. Beim Bezug auf Luhmann ist zu beachten, daß sein theoretischer Zugang zur funktionalen Differenzierung ein anderer ist als der hier gewählte; vgl. zum Verhältnis beider Ansätze Gerecke (1997). 25 Vgl. ausführlich dazu ebd.

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onsbereich - exemplarisch etwa an das Stecknadelbeispiel von A. Smith - und vernachlässigt dabei, daß sich das Phänomen der funktionalen Differenzierung auch und vor allem im Hinblick auf die Definition, Änderung und Durchsetzung von Institutionen findet. Das meint, daß einzelne Akteure einzelne Spielregeln für andere Akteure festlegen, jedoch nicht in willkürlicher Weise, sondern im Rahmen von (anderen) Spielregeln, die wiederum für sie selbst festgelegt wurden. Beispielsweise legt die Politik (einige der) Regeln fest, die Unternehmen bei ihren Aktivitäten als Restriktion hinzunehmen haben. Jedoch unterliegt die Politik selbst Spielregeln, die die Art und Weise der Regelfestlegung für Unternehmen beeinflussen. Zum Teil sind diese politischen Spielregeln formaler Natur, z. B. die Verfassung oder das Wahlrecht, z.T. informeller Natur, etwa die Einschränkungen, die sich durch die Öffentlichkeitswirksamkeit politischen Handelns ergeben oder durch den Einfluß von Interessengruppen 26 . Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß sich jeweils 'nur' die Spielregeln festlegen lassen, eine direkte Steuerung der Spielzüge von außerhalb des jeweiligen Funktionssystems ist praktisch nicht mehr möglich. Eben dies ist mit funktionaler Differenzierung gemeint; die Spezialisierung einzelner - ggf. korporativer - Akteure („Organisationen") auf spezifische Funktionen im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die dann von anderen Akteuren nicht bzw. nur zu sehr hohen Kosten übernommen werden können. Insbesondere zwei Präzisierungen sind zu berücksichtigen, um ein besseres Verständnis der strukturellen Komplexität zu gewinnen. Zum einen war und ist eine der Erfolgsbedingungen, die Produktivität der Leistungen der Akteure zu gewährleisten, die Akteure unter Wettbewerbsdruck zu setzen. Dies gilt keineswegs nur für Unternehmen am Markt, sondern auch für den politischen Bereich 27 . So läßt sich Demokratie als jene Organisationsform definieren, in der politischer Wettbewerb herrscht im Unterschied etwa zur Autokratie, die dann als Monopol zu charakterisieren ist 2 8 . Auch die Idee des Föderalismus ist interpretierbar nicht nur als Realisierung des Subsidiaritätsgedankens, sondern auch als Möglichkeit, Wettbewerb zwischen politischen Akteuren zu ermöglichen.

Es sei in diesem Zusammenhang angemerkt, daß die Möglichkeit der Beeinflussung der Politik durch wirtschaftliche Interessengruppen keineswegs so negativ zu sehen ist, wie dies oft seitens vieler Ökonomen geschieht. Nicht nur der Wettbewerb (F. Böhm), sondern auch funktionale Differenzierung läßt sich als geniales Entmachtungsinstrument verstehen, wobei sie zudem den Vorteil hat, daß sie durch die Erzeugung wechselseitiger Abhängigkeiten die Reoperations- und Kompromißbereitschaft systematisch fördert. 27

Bretoni 1996).

28

Pi«(1996).

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Nun ist Wettbewerb generell ambivalent ; die hervorgebrachten Innovationen können für Dritte nützlich oder schädlich sein, ebenso kann er zur Verbesserung erwünschter Leistungen, aber auch zur Kostenexternalisierung führen. Um erwünschten Wettbewerb zu forcieren und unerwünschten zu vermeiden, bedarf es deshalb kanalisierender Spielregeln. Die zweite Präzisierung betrifft eben diese Spielregeln. Gerade im Kontext normativer Analyse ist zu bedenken, daß die Spielregeln stets historisch gewachsen sind und dabei auch Eigendynamiken zum Zuge kommen, was in der Ökonomik zunehmend unter dem Stichwort „Pfadabhängigkeiten" wahrgenommen wird 2 9 . Dabei kommt es zu einer zunehmenden Differenzierung der jeweiligen Regeln, durch die versucht wird, dem Anpassungsbedarf in jeweils neu auftretenden Einzelfällen gerecht zu werden; durch Konditionierung, d. h. Spezifizierung der Geltung der Regeln, wird versucht, die Vorteile der Regeln anzueignen und die Nachteile zu vermeiden. Das kann durchaus zur „institutionellen Sklerose" 30 führen, ist jedoch zunächst als Anpassungsreaktion auf unterschiedliche neue Situationen zu verstehen 31. Gerade für normative Theorie ist die Wahrnehmung der den existierenden Regeln inhärenten praktischen Vernunft wichtig. Was bereits für vergleichsweise einfache technische Geräte wie einen Computer oder den Motor eines PKW gilt, und was sich auch aus der Ökologie lernen läßt - Eingriffe in komplexe Ökosysteme ohne deren hinreichende Kenntnis haben zumeist fatale Folgen - , gilt nicht weniger für die moderne Gesellschaft: Versuche der Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen setzen, wenn sie erfolgreich sein wollen, eine weitreichende Kenntnis der Funktionsbedingungen von Marktwirtschaft und Demokratie voraus. Daß diese trivial klingende Behauptung keineswegs selbstverständlich ist, sei an einigen Beispielen verdeutlicht, wie sie in der Diskussion um Sustainability zu finden sind.

I V . Das Problem normativistischer Kurzschlüsse In der derzeit vieldiskutierten Studie des Wuppertal-Instituts „Zukunftsfähiges Deutschland" heißt es unter dem Titel „Umweltziele": „... daß die Formu-

29

Vgl. etwa Arthur (1994), North (1990/1992), Leipold (1996).

30

Olson (1982/1985).

31

Suchanek (1997b).

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lierung der Ziele sich auf naturwissenschaftliche Kenntnisse stützt, aber immer auch Wertentscheidungen nötig macht". 32 Der fehlende Hinweis auf sozialwissenschaftliche Kompetenz bei der Bestimmung der Ziele ist nicht zufällig. Es gibt mehrere Belege dafür, wie in der Studie normative Vorstellungen zum Teil direkt in Forderungen umgesetzt werden, die genau jenem Vorgehen entsprechen, das hier kritisiert wird, dem normativistischen Kurzschluß von (1) auf (3) unter Vernachlässigung empirischer, hier: gesellschaftlicher Bedingungen. So wird im Ausgang von dem Postulat intergenerationeller Gerechtigkeit folgender „Grundsatz" vorgeschlagen: „Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf eine intakte Umwelt; dies gilt für künftige Generationen gleichermaßen. Im Umkehrschluß hat jeder Mensch im Prinzip das gleiche Recht, für die Verwirklichung seiner Lebenschancen global zugängliche Ressourcen in Anspruch zu nehmen, solange die Umwelt nicht übernutzt wird." 3 3 Die höchst komplexe Problematik der Definition je geeigneter Eigentumsrechte, die Kosten ihrer Durchsetzbarkeit, das Problem des Bestandsschutzes bestehender Rechte usw., d. h. all jene institutionellen (empirischen) Bedingungen, die es als Einschränkungen bei einer solchen Realisierung intergenerationeller Gerechtigkeit zu beachten gilt, werden mit keinem Wort erwähnt. Das zweite der Studie entnommene Beispiel zeigt die gleiche Tendenz: Im Kapitel „Übergänge" werden verschiedene Szenarien künftiger Entwicklungspfade des Verbrauchs deutscher Primärenergie und der damit verbundenen C0 2 -Emissionen vorgestellt, darunter eines mit dem Titel „Zukunftsfähiges Deutschland", das auf die Erreichung der in der Studie genannten Reduktionsziele - z. B. Senkung des C02-Ausstoßes bis zum Jahr 2050 um 80 bis 90 Prozent - abzielt. Neben spezifischen Annahmen zum Einsatz alternativer Energien wird in diesem Szenario u. a. von der Einführung der „neuen Bahn" mit einer Halbierung des motorisierten Individualverkehrs, einer verstärkten Ökologisierung der Landwirtschaft und einem Wandel der Lebensstile34 ausgegangen. Sofern diese Annahmen erfüllt sind, lassen sich nach diesem Szenario die formulierten Ziele realisieren.

32

BUND /Misereor

(1996), S. 79.

33

Ebd. S. 33; vgl. a. S. 28. Es sei darauf hingewiesen, daß T. Hobbes in seinem „Leviathan" den Zustand, in dem jeder ein Recht auf alles besitzt, als Krieg aller gegen alle charakterisiert (Hobbes (1651/1989), S. 99). 34 „'Ohne Auto leben' und 'Gesunde Ernährung' sind im Szenario 'Zukunftsfähiges Deutschland' im Jahr 2010 mehrheitsfähige Trends." (BUND /Misereor 1996, S. 341)

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Nun ist gegen die Aufstellung von Szenarien nichts einzuwenden; gerade der Ökonom weiß, wie wichtig auf Modellen beruhende Abschätzungen einzelner Entwicklungen sind. Problematisch ist indes, wenn am Ende geschlossen wird: „Fazit: Die vorgestellten quantitativen Umweltziele sind erreichbar." 35 Die Botschaft lautet dann: Technisch ist der Übergang in das zukunftsfähige Deutschland machbar, wir müssen nur wollen.' 26 Eine solche Argumentation ist insofern konsequent, da sie sich vorwiegend auf naturwissenschaftliche (einschl. technische) Kenntnisse einerseits und Wertentscheidungen andererseits stützt, ohne die strukturellen Interdependenzen der sozialen Welt zu berücksichtigen. Tatsächlich jedoch ist es weit weniger eine Frage des guten Willens als vielmehr der Restriktionen, denen sich die Akteure ausgesetzt sehen. Eine strukturell ähnliche Argumentation, die von normativen Prinzipien und ökologischen Randbedingungen politische Vorgaben erschließt, findet sich z. T. bei Vertretern der Ökologischen Ökonomie. Beispielsweise benennt einer ihrer Hauptprotagonisten, Herman Daly (1992), drei politische Hauptaufgaben, die nacheinander zu lösen sind: Im ersten Schritt sei das Skalierungsproblem zu lösen, d. h. die Vorgabe desjenigen Ressourcen Verbrauchs, der einen nachhaltigen Naturkapitalstock intakt läßt; zweitens ist eine gerechte Verteilung der so bestimmten Ressourcen vorzunehmen, um sich dann drittens die Frage nach der Allokation dieser Ressourcen zu widmen. Es sei nicht einmal bestritten, daß man im Einzelfall, bei der konkreten Definition neuer Verfügungsrechte, z. B. internationaler C0 2 -EmissionsLizenzen, in dieser Reihenfolge vorgeht - das ist auch Dalys paradigmatisches Beispiel - , wiewohl auch hier anzunehmen ist, daß „die Implementation auf die Geltung durchschlägt" 37 ; allein schon um der politischen Durchsetzbarkeit willen wird man damit rechnen müssen, daß Skalierungs- ebenso wie Verteilungsfragen wesentlich mitbestimmt werden von der Frage der Allokation, d. h. der Generierung jener Kooperationsgewinne, die überhaupt erst die Voraussetzung dafür bilden, eine solche politische Lösung anzugehen. Die von Daly ebenso wie von vielen neoklassisch argumentierenden Ökonomen vorgenommene Separierung insbesondere von Allokation und Distribution erweist sich hier wie auch in vielen anderen Fragen als eher irre- denn weiterführend.

35

Ebd., S. 345.

36

Nicht zufällig wird im Kapitel „Umweltziele" gefragt: „Welche Umwelt will der Mensch?" (ebd., S. 25; hervorgehoben von mir) Die Frage ist natürlich legitim, das Problem liegt nur im naheliegenden normativistischen Fehlschluß. 37

Homann (1997).

Sustainability und ökonomische Ordnungsethik

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Erst recht ist ein solcher Dreischritt wirklichkeitsfremd, wenn es darum geht, komplexen Wirkungsketten ökologischer und sozialer Art Rechnung zu tragen. Die Tatsache, daß bei den meisten Umweltproblemen eine große Vielzahl unterschiedlicher Akteure mit - legitimerweise - heterogenen Interessen und - siehe oben Abschnitt III. - unterschiedlichen Funktionsaufgaben involviert sind, läßt erwarten, daß eine von reinen Umweltgesichtspunkten bestimmte Vorgabe nur dort Chancen einer politischen Umsetzung hat, wo es um unmittelbare Gefahren für die Gesundheit geht, z. B. beim Verzicht auf Asbest, oder wo relativ kostengünstige Substitutionsmöglichkeiten für die beteiligten Akteure bestehen wie etwa bei den FCKW. Jedoch gerade dann, wenn die Rationalisierungs- und Strukturierungsfunktion von Konzeptionen wichtig wird, bei komplexen Problemen, sind solch simple, nicht weiter differenzierungsfähige Vorstellungen eher schädlich als nützlich. Anders gesagt bedarf es einer genauen, theoretisch angeleiteten und insofern methodisch kontrollierten Situationsanalyse, sowohl hinsichtlich ökologischer wie auch sozialer Interdependenzen, bevor man zu Empfehlungen kommen kann. Eine Bestätigung hierfür findet man in der - offen eingestandenen - Erfolglosigkeit umweltökonomischer Politikberatung, die darauf zurückgeführt wird, daß die Theorie die tatsächlichen Implementationsbedingungen nicht berücksichtigt hat. 38 Versuche, von allgemeinen normativen Überlegungen wie der Forderung nach einer Konstanz des Naturkapitalstocks zu konkreten Gestaltungsempfehlungen zu gelangen, sind deshalb zum Scheitern verurteilt. Sie sind jedoch deshalb nicht unbedingt irrelevant. Vielmehr können solche Argumentationen, wie F. A. v. Hayek zu Recht mit Bezug auf soziale Gerechtigkeit argumentiert 39 , Erwartungsdruck erzeugen und so unter Umständen einer Politik Vorschub leisten, die im Namen der normativen Ziele Maßnahmen durchsetzt, die zwar dem Bedürfnis nach Popularität, nicht aber der Sache dienen. Relativierend ist indes hinzuzufügen, daß im Umweltbereich vermutlich weniger mit der Realisierung populärer, weil mit den moralischen Intuitionen übereinstimmender Maßnahmen zu rechnen ist als im wahrnehmungssensibleren Bereich der Sozialpolitik.

38

Vgl. z. B. Hahn (1989). Hahn resümiert: „In short, existing theories could benefit from more careful analysis of the regulatory status quo, underlying beliefs about property rights, and how political choices are actually made in different countries." (ebd., S. I l l ) 39 Hayek (1976/1981), Kap. IX.

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Andreas Suchanek

V. Sustainability als regulative Idee Hayek hatte aus diesem Grund die Begriffsbildung „soziale Gerechtigkeit" abgelehnt. Er macht Gerechtigkeit ebenso wie Gemeinwohl an den Regeln fest, die individuelle Handlungen koordinieren, nicht aber an einer Übereinstimmung oder Aufsummierung individueller Interessen und der entsprechenden Unterstellung der Bewertbarkeit sozialer Zustände. Sein Argument lautet, daß weder die individuellen Interessen noch die Bedingungen, die zu ihrer Erfüllung beitragen, irgendjemandem bekannt sein können, daß deshalb auch kein entsprechender Maßstab aufstellbar ist, und daß Begriffe, die das suggerieren, abzulehnen sind. 40 Nun ist indes soziale Gerechtigkeit bis heute ein zentraler Begriff der öffentlichen Diskussion, und ähnliches gilt für Sustainability. Die Persistenz dieser Begriffe deutet darauf hin, daß sie eine Funktion erfüllen, die es zu berücksichtigen gilt. Diese Funktion war einleitend bereits genannt worden: Soziale Gerechtigkeit ebenso wie Sustainability sind regulative Ideen, mit denen konsensfähige normative Ideale auf den Begriff gebracht werden und die dazu dienen, den jeweils historisch neuen Herausforderungen Rechnung zu tragen, sei es der sozialen Frage oder der Umweltproblematik. So hält das Konzept Sustainability nicht nur dazu an, Fragen neu zu formulieren und Zusammenhänge neu zu überdenken, es stellt auch „zwischen den unterschiedlichsten Akteuren eine gemeinsame Gesprächsebene in Umweltfragen" dar 41 , wobei der Umweltrat auch betont, daß dieses Konzept gerade nicht nur die ökologische Problematik anspricht, sondern diese in den Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung generell stellt 42 . Besonders deutlich wird das in jenem Text, der den Begriff Sustainability populär gemacht hat, dem sogenannten Brundtland-Bericht 43 . Mit „sustainable development" wird eine Formel gefunden, die bei aller Unterschiedlichkeit der vertretenen Interessengruppen die Richtung markiert, die konsensfähig ist und auf die man sich bei den weiteren Überlegungen und Verhandlungen beziehen kann. Auch ohne daß diese Formel präzise definiert ist, stellt sie eine Orientierung hinsichtlich der gemeinsamen Interessen dar. Insofern kann man hier von einer inhaltlichen Heuristik sprechen.

4 0

Ebd., S. 15, 112 ff.

41

SRU( 1996), Tz. 2.

4 2

Ebd., Tz. 4.

43

Hauff (Hrsg., 1987).

Sustainability und ökonomische Ordnungsethik

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Eine solche Heuristik gibt indessen nicht vor, welche Folgerungen sich in unterschiedlichen empirischen Bedingungskonstellationen ergeben; sie erbringt nicht die Vermittlungsleistung, von der in Abschnitt II. die Rede war. Eine solche Vermittlungsleistung erfordert vielmehr eine Theorie, die methodisch auf die Integration positiver und normativer Analyse hin angelegt ist. Bei der ökonomischen Ordnungsethik handelt es sich genau darum.

V I . Ökonomische Ordnungsethik als methodische Heuristik normativer Analyse Die grundlegende Problemstellung der ökonomischen Ordnungsethik 44 war bereits oben benannt worden. Sie thematisiert die Realisierung normativer Ideale als Problem der institutionellen Strukturierung von Interaktionen mit dem Ziel der Aneignung paretosuperiorer Kooperationsgewinne. Insofern läßt sie sich als methodisches Komplement zu einer regulativen Idee wie Sustainability verstehen, indem sie das Ziel verfolgt, „den normativen Gehalt dieser Idee an konkreten Problemen in Anreize zu transformieren" 45. Ausgangspunkt ist das Schema*6 der Dilemmastruktur, das in der einfachsten Form als Gefangenendilemma dargestellt werden kann. Die Interpretation des Gefangenendilemmas als Schema ist von dem in der Spieltheorie üblichen Verständnis zu unterscheiden. Als Schema fordert es vom (wissenschaftlichen) Beobachter, gegebenenfalls auch entgegen dem ersten Augenschein die untersuchte Situation so zu rekonstruieren und nach entsprechenden Situationsmerkmalen zu suchen, daß die grundlegenden Bedingungen erfüllt sind. Man kann das vergleichen mit der Anweisung, auch im aufsteigenden Luftballon einen Körper zu sehen, der gemäß dem Fallgesetz - gewissermaßen konzeptionell - fällt, dessen prinzipielle Tendenz zum Fall jedoch unter den spezifischen Situationsbedingungen überkompensiert wird, so daß er aufsteigt. Deutlich soll an dieser Analogie werden, daß die Funktion eines Schemas bzw. einer Konzeption, in das es eingebettet ist, darin liegt, ein methodisches Gerüst zu bieten, in das die jeweils spezifischen Situationsbedingungen theoretisch integriert werden können, wobei zu beachten ist, daß dies immer im

44

Zum Programm dessen, was hier ökonomische Ordnungsethik heißt, vgl. etwa Buchanan (1975/1984), Brennan / Buchanan (1985/1993), Homann (1994), Homann / Kirchner (1995), Pies (1993), mit weiterer Literatur. 45 Homann (1996), S. 39. 46

Zum Begriff des Schemas vgl. Homann / Suchanek (1989). 14 Aufderheide/Dabrowski

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Andreas Suchanek

Hinblick auf eine spezifische Problemstellung geschieht47. Die Leistungsfähigkeit einer Konzeption wird vor allem davon bestimmt, ob sie auch sehr unterschiedliche Situationen zu strukturieren vermag. Für den methodisch wenig geschulten Verstand wirkt es dann ungewöhnlich - und wenn es gar um die Rekonstruktion menschlichen Handelns geht, womöglich zynisch - , wenn phänomenologisch sehr unterschiedliche Situationen mit dem gleichen Schema rekonstruiert werden, doch liegt genau darin das Potential für den Gewinn neuer, interessanter Erkenntnisse. Insbesondere bei Fragen der Verwirklichung normativer Ideale kann nur durch eine solche, methodisch stringente Vorgehensweise systematisch jenes Differenzierungsvermögen erreicht werden, mit dem den z. T. sehr unterschiedlichen Situationen Rechnung getragen werden kann. Das Schema der Dilemmastrukturen als Grundlage der ökonomischen Ordnungsethik dient nun dazu, Interaktionsprobleme so zu analysieren, daß im Ausgang vom Status quo Ansatzpunkte für paretosuperiore Lösungen deutlich werden 48 . Der Grund für die besondere Stellung der Dilemmastrukturen liegt darin, daß die Bedingungen, Normativität zur Geltung bringen zu können, in der Struktur angelegt sind: Es gibt Kooperationsgewinne, worin immer diese bestehen mögen; es bedarf keiner normativen Setzungen, die jenseits der Bewertungen der Individuen liegen würde 49 . Zugleich wird deutlich, daß die Formulierung und Anerkennung gemeinsamer Interessen, eben der Kooperationsgewinne, allein nicht ausreicht, diese auch zu realisieren; denn neben den gemeinsamen Interessen bestehen auch Interessenkonflikte, die auf die situativen Restriktionen zurückgeführt werden können. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, daß sich häufig eine andere Zurechnung der Gründe für die Interessenkonflikte findet. Danach sind es die individuellen Dispositionen, nicht die situativen Bedingungen, die hinter den zu wählenden Strategien stehen, typischerweise etwa eine altruistische bzw. 'moralische' Einstellung bei der kooperativen und eine egoistische bei der defektiven Strategie. Diese Interpretation ist jedoch, wie generell bei dem Konzept des rationalen, eigeninteressierten Akteurs, wenig fruchtbar 50 . Nicht 4 7

Vgl. Suchanek (1994).

48 49

Zur Bedeutung des Status quo vgl. Buchanan (1975/1984), S. 111 f.

Vgl. Homann (1997). Gerade in der Diskussion um Sustainability lassen sich immer wieder Versuche beobachten, die Kriterien für eine Setzung ökologischer Rahmenbedingungen extern, sozusagen in der Natur, zu finden; kritisch dazu Gerken / Renner (1996). 5 0 Vgl. Suchanek ( 1997a).

Sustainability und ökonomische Ordnungsethik

211

nur, daß sie leicht zu Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien führt, sie verhindert auch und vor allem, mehr über die Struktur der Situation, d. h. über den Punkt (2) im oben skizzierten Schema, zu lernen. Genau dies aber ist nach dem bisher Gesagten das Hauptproblem, wenn es um die Implementationsproblematik geht. Durch die systematische Suche nach jenen situativen Anreizen, die die Interessenkonflikte bedingen und somit die Realisierung der Kooperationsgewinne verhindern, wird zugleich der Ansatzpunkt für Reformen, die Veränderung der Anreizbedingungen, bestimmt. Gefragt wird nach realisierbaren institutionellen Alternativen, ihren vermutlichen Folgewirkungen und - nicht zuletzt - ihren Kosten 51 . Man mag an dieser Stelle einwenden, daß sich das alles so einfach anhöre, in Wirklichkeit jedoch oft äußerst schwierig sei. Das wird auch gar nicht bestritten; die konkreten Bemühungen um Verbesserungen sind praktisch immer mühsam. Entscheidend ist, daß es sich hier um konzeptionelle Überlegungen handelt, also um jene Hintergrundvorstellungen, die die konkretisierenden Überlegungen strukturieren. Ob es sich um Manager im Diskurs mit Anspruchsgruppen, Politiker in internationalen Verhandlungen oder auch wissenschaftliche Politikberater bei der Ausarbeitung von Expertisen handelt, in diesen und weiteren Fällen soll die ökonomische Ordnungsethik als methodische Heuristik dazu verhelfen, die Probleme so zu strukturieren, daß (a) die Potentiale für Kooperationsgewinne, (b) die Hindernisse für ihre Realisierung und (c) die (institutionellen) Möglichkeiten der Überwindung der Hindernisse systematisch in den Blick kommen. Dieser Charakter als methodische Heuristik bringt es mit sich, daß dieser Ansatz sich häufig dem Einwand ausgesetzt sieht, die 'eigentliche' ethische Qualität ginge verloren. Es gelte, bestimmte inhaltliche Werte und Prinzipien festzulegen, bevor eine ökonomische Vorteilskalkulation beginne. Dabei kann es sich um die Menschenrechte handeln, die aus Gerechtigkeitsüberlegungen abgeleiteten Ansprüche künftiger Generationen oder Eigenwerte der Natur, die als nicht zur Disposition stehend - und sich damit dem ökonomischen Kalkül entziehend - proklamiert werden.

Diese Kosten ergeben sich zunächst bei der Definition und Durchsetzung der jeweiligen Regeln, sind dann jedoch, wie in der Ökonomik üblich, als Opportunitätskosten zu betrachten, d. h. im Hinblick auf die Vor- und Nachteile der institutionellen Alternativen im Vergleich zum (ggf. künftigen) Status quo.

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Andreas Suchanek

Es braucht hier nicht näher auf die ethische Problematik, ob es Begründungsbedarf bzw. -möglichkeiten jenseits des ökonomischen Kalküls gibt, eingegangen zu werden, da dies bereits an anderer Stelle geschieht52. Hingewiesen sei vielmehr auf den methodischen Vorteil, der sich aus dieser Vorgehensweise ergibt. Die zunächst nur formale Bestimmung der paretosuperioren Kooperationsgewinne, also der gemeinsamen Interessen, ermöglicht die Anwendung des Schemas auf den unterschiedlichsten Ebenen und damit auch den unterschiedlichsten Vorgaben dessen, was als gemeinsame Interessen angesehen werden kann. Der Widerstand, die gemeinsamen Interessen nur formal bestimmt zu sehen, rührt vermutlich vor allem von der Unterstellung her, es gäbe immer einzelne Akteure, die ihr ihnen vom Ansatz her eingeräumtes Vetorecht dazu benutzten, als notwendig erachtete Reformen zu blockieren. Dieser Einwand ist jedoch nicht weniger (im negativen Sinne) abstrakt als die Vorstellung, die Formulierung gemeinsamer Interessen würde für ihre Realisierung genügen. Übersehen wird, daß in der funktional differenzierten Gesellschaft insbesondere politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger in vielfältige wechselseitige Abhängigkeiten eingebunden sind mit der Folge, daß ihre Kooperationsrenten auf dem Spiel stehen, wenn sie sich der Kooperation verweigern 53 . Es gibt zahlreiche Beispiele für Tauschhandlungen, in denen die von der einen Seite gewünschten Verbesserungen der Umweltbedingungen Teil der Leistung sind, z. B. debt-for-nature-swaps, joint implementations, freiwillige Branchenabkommen, die Zustimmung einer Kommune zum Bau einer Entsorgungsanlage, sofern zugleich andere Infrastrukturmaßnahmen genehmigt bzw. finanziell unterstützt werden usw. Auch ist darauf hinzuweisen, daß die Akteure in zahlreiche institutionelle Bedingungen eingebunden sind, die ihnen im konkreten Einzelfall gerade kein Vetorecht zubilligen, auch wenn sie die Kosten einer Entscheidung mit zu tragen haben, und daß dies durchaus in Übereinstimmung mit der konzeptionellen Idee des Konsenses sein kann, wenn nämlich die Regel, unter denen diese Entscheidung fiel, als legitim anzusehen ist.

V I I . Schlußbemerkung Die Produktivität der funktionalen Differenzierung beruht auf der Steigerung des Verhältnisses von individueller Freiheit und wechselseitigen Abhän-

5 2

Homann (1997).

53

Vgl. Suchanek ( 1997b).

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gigkeiten. Diese Steigerung wird ermöglicht durch ein zunehmend differenzierter werdendes System von Regeln. Damit wächst indes zugleich die Komplexität der institutionellen Bedingungen der handelnden Akteure, was unter anderem zur Folge hat, daß einfache normative Urteile immer seltener angemessen sind. Die Forderung nach Entschleunigung wird zum Problem, wenn sie auf als dringend erachtete umweltpolitische Reformen bezogen wird. Die Forderung nach Partizipation rechnet möglicherweise nicht damit, daß gerade jene partizipieren, die die erwünschten Entscheidungen verhindern. Generell stellt sich das Problem, daß es angesichts der funktionalen Ausdifferenzierung weder Akteure gibt, die gesellschaftliche Entwicklungen kontrolliert beeinflussen könnten, noch allgemeine und zugleich inhaltlich konkretisierte Normen, die quer zu den Funktionssystemen Geltung beanspruchen könnten. Was die regulative Idee von Sustainability in solch unterschiedlichen Kontexten wie politischen Gipfeltreffen, der Materialwirtschaft eines Unternehmens für Maschinenbau oder Verbraucherberatung bedeutet, läßt sich in allgemeiner und zugleich spezifizierter Form nicht sinnvoll präzisieren. Das bedeutet aber eben nicht, daß auf diese Idee deshalb verzichtet werden könnte. Nötig ist allerdings ein methodisch kontrollierter Umgang mit diesem Begriff, wenn man die historisch weitreichenden Irrtümer, die sich aus manchen Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit ergaben, nicht wiederholen will. Der steigenden Differenzierung der Bedingungen der modernen Gesellschaft ist deshalb durch ein höheres, methodisch kontrolliertes Differenzierungsvermögen der normativen Theoriebildung Rechnung zu tragen.

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Politik, Politikberatung und gesellschaftliche Moral Von Martin Leschke Die Kernaussagen, die Andreas Suchanek (1997) in seinem Beitrag liefert, erscheinen aus ökonomischer Perspektive plausibel: (a) Sustainability ist nicht mehr als ein Leitgedanke, mit dessen Hilfe konsensfähige normative Ideale im Umweltbereich formuliert werden, (b) Aus normativen Idealen können nicht unmittelbar Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, vielmehr sind die Opportunitätskosten alternativer (politischer) Maßnahmen zu berücksichtigen, (c) Um die Opportunitätskosten abschätzen zu können, ist es notwendig, die teilweise komplexen - durch Regeln kanalisierten Tauschprozesse arbeitsteiliger, moderner Gesellschaften zu verstehen, (c) Handlungempfehlungen, die die letztgenannten Zusammenhänge unberücksichtigt lassen, scheitern entweder bereits an der Umsetzung oder ziehen nicht-intendierte negative Folgewirkungen nach sich. Neben diesen vier Leitgedanken empfiehlt Andreas Suchanek,1 von moralischen Einstellungen abzusehen, denn nur ein stringentes Abstellen auf die (institutionelle) Anreizstruktur eröffne die Möglichkeit, stabile, pareto-superiore Lösungsmöglichkeiten zu finden. Die Einbeziehung von Moral führe hingegen zu Schuldzuweisungen und wenig produktiven Verschwörungstheorien. Weil mir die erstgenannten vier Punkte schlüssig erscheinen, möchte ich mich im folgenden auf die Diskussion der Rolle der Moral beschränken. Meine These ist, daß die individuelle Moral, eine nicht zu unterschätzende Größe in funktionierenden Demokratien ist. Sie ist grundlegender Bestandteil der von Andreas Suchanek angeführten „empirischen Bedingungen".

I. Ausgangspunkt Betrachtet seien folgende Akteure: (1) Politiker als Anbieter öffentlicher Leistungen, die sich gegenüber ihren politischen Kontrahenten mit populären Maßnahmen abheben möchten und sich folglich an der Meinung der Mehrheit

1

Vgl. Suchanek (1997), S. 210.

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Martin Leschke

orientieren. (2) Unternehmer, die unter Wettbewerbsdruck im Markt agieren. (3) Organisierte und unorganisierte Nachfrager privat und öffentlich bereitgestellter Leistungen, von denen ein Großteil gleichzeitig einer Beschäftigung nachgeht oder nachgehen möchte, um ein Einkommen zu erzielen. (4) Vom politischen Tagesgeschehen unabhängige Organisationen wie die Presse, die Wissenschaft, Sachverständigenräte, die Bundesbank, Rechnungshöfe, Wettbewerbsbehörden etc., deren Mitglieder nicht derselben Wiederwahlrestriktion unterliegen wie Politiker. Welche Prozesse würde ein neu entdecktes kollektives Übel - z. B. ein neu erkanntes Umweltproblem - auslösen, dessen schädliche Wirkung erst zukünftig zu erwarten ist und dessen Beseitigung heute nicht kostenlos möglich ist, wenn wir (1) von vollständig unmoralisch agierenden Gesellschaftsmitgliedern ausgehen und (2) die Existenz gesellschaftlicher Moral annehmen?

Π . Gesellschaftliche Entscheidungen bei unmoralischen Individuen Existiert keine gesellschaftliche Moral, handeln die Individuen in einer Gesellschaft mithin nur aufgrund selektiver - vorwiegend materieller - Anreize und niemals um der „guten Handlung selbst willen", so wird kaum eine Reaktion auf kollektive Übel (hier: neu entdeckte Emissionen) zu erwarten sein. Auch von der Seite organisierter Verbände ist kein „Druck" zu erwarten. Denn ähnlich wie Olsons Logik kollektiven Handelns (1968) es beschreibt, werden vorwiegend solche organisierten Gruppen existieren, die um materielle Renten kämpfen. Dazu gehören Umweltverbände nicht, solange nicht einzelne durch Emissionen unmittelbar in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt werden. Nichtorganisierte Individuen werden auch nichts unternehmen, da jeder einzelne im sozialen Dilemma gefangen ist. Zwar besteht ein Interesse an der Reduzierung der Emission, jedoch ist keiner bereit, Kosten auf sich zu nehmen, um politischen Druck auszuüben, damit die unerwünschte Situation beseitigt wird. „Sauber(re) Umwelt" stellt ein öffentliches Gut dar, Trittbrettfahrerei ist die Nash-gleichgewichtige Strategie. Daraus folgt unmittelbar, daß demokratische Gesellschaften nicht in der Lage zu sein scheinen, öffentlichen Übeln wie Umweltproblemen mit konzeptionellen Lösungen zu begegnen. Erst wenn „das Kind (fast) im Brunnen ist", also für viele Individuen die Umweltbelastungen persönlich spürbar werden, kommt es zu einer politischen Reaktion aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit.

Politik, Politikberatung und gesellschaftliche Moral

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Ich halte dieses Bild der vollkommenen „Schacherdemokratie" 2, die permanent kollektive Selbstschädigungen vollzieht, für eine extreme Position und versuche nunmehr ein Gegenbild zu liefern.

Π Ι . Gesellschaftliche Entscheidungen bei moralischen Individuen Kann davon ausgegangen werden, daß Individuen moralisch handeln, d. h. Kleinkostendilemmata überwinden, wenn sie bestimmte Dinge für (gesellschaftlich) wichtig erachten, so existiert eine kritische, politisch aktive Öffentlichkeit. 3 Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, daß sich Individuen zur Lösung kollektiver Probleme in Verbänden zusammenschließen, selbst wenn sie dadurch keine unmittelbar spürbaren Vorteile erlangen. In einem solchen Umfeld ist es plausibel anzunehmen, daß neu erkannte Umweltprobleme mit der Unterstützung der Medien öffentlich diskutiert werden, auch wenn einzelne Individuen nicht direkt in ihrer Gesundheit gefährdet sind. A n einer solchen Diskussion werden vorwiegend Vertreter solcher Gruppen teilnehmen, die von der Implementation denkbarer Lösungskonzepte unmittelbar betroffen sind, also z. B. Vertreter von Umweltverbänden, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden, Politiker. Sie tauschen Argumente aus, um die Öffentlichkeit von der Richtigkeit ihrer Position zu überzeugen. Warum tun sie das? Einzelne Interessenvertreter wissen genau, daß Politiker nur diejenigen Gesetzesvorschläge implementieren werden, die die Mehrheit befürwortet. Daher werden Interessenpositionen begründet; der gesellschaftliche Nutzen von Maßnahmen wird hervorgehoben. In einer Schacherdemokratie, in der weite Teile der Bevölkerung in rationaler Ignoranz 4 verharren, ist solch ein Austausch von Theorien oder Szenarien nicht nötig, es reicht der Austausch von Interessenund Machtpositionen, um einen Kompromiß zu finden. In einer „wachen Demokratie" mit moralischen Individuen bedarf es hingegen einer Überzeugung der Mehrheit von der gesellschaftlichen Nützlichkeit von Gesetzesvorhaben. Um sich von vorgeschlagenen Lösungskonzepten eine fundiertere Meinung bilden zu können, existieren in vielen funktionierenden Demokratien auch solche Organisationen, die außerhalb vom politischen Tagesgeschäft stehen

2 Der Begriff geht auf F.A. v. Hayek (1981; S. 138) zurück, eine ähnliche Meinung vertritt auch 3 Olson (1985). Vgl. zu der These, daß Moral eine grundlegende Voraussetzung für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften ist, Leschke (1995), (1996) und Kirchgässner (1996). 4 Vgl. Downs (1968), S. 239 ff.

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und somit aus einer objektiveren Perspektive meinungsbildend wirken. 5 Abbildung 1 zeigt den Informationsprozeß.

Abbildung 1

Als Ergebnis der Diskussion ist daher eine Lösung zu dem eingangs erwähnten Umweltproblem in der Form denkbar, daß mittels marktkonformer Instrumente die Emissionen verteuert werden. Um die Beschäftigung insgesamt nicht absinken zu lassen, werden zur Erhöhung der Produktivität des Unternehmenssektors Infrastrukturverbesserungen oder andere staatliche Leistungen vorgenommen. Da diese Maßnahmen steuerfinanziert sind, tragen damit alle, die an der sauberen Umwelt partizipieren, die Kosten.

I V . Schlußfolgerungen Aus den beiden Szenarien lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen: Verbandsvertreter verbreiten Argumente, die natürlicherweise interessengefärbt sind. Nicht selten „moralisieren" sie, um die Emotionen der Mehrheit für sich zu gewinnen. Nicht selten wird auch auf eine Abwägung von OpportuniNatürlich sind auch hier verzerrte Darstellungen nicht zu vermeiden, insbesondere wenn sich solche Institutionen vorwiegend auf bestimmte partielle Problemstellungen konzentrieren oder zu „einseitig" besetzt sind.

Politik, Politikberatung und gesellschaftliche Moral

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tätskosten verzichtet. Bestimmte Gruppen leiten aus ihren Idealen unmittelbar Maximalforderungen ab. Die Opportunitätskosten eines jeden Vorschlags werden jedoch sofort in die Diskussion eingespeist, wenn bestimmte Gruppen befürchten, einseitig mit Kosten belastet zu werden. Der Zugang vieler verschiedener Interessengruppen zum „politischen Markt" ist daher wünschenswert, um ein breites Meinungsspektrum zu erhalten; unterschiedliche Opportunitätskosten werden auf diese Weise transparent, wenn auch ihre Höhe verzerrt dargestellt wird. Der Wissenschaft - und hier insbesondere der Ökonomik - kommt in solchen öffentlichen Diskussionen die Aufgabe zu, (1) die relevanten Opportunitätskosten eines Problems herauszuarbeiten, (2) die Folgewirkungen alternativer Lösungskonzepte transparent zu machen und (3) Reformvorschläge zu unterbreiten, so daß die legitimen Interessen aller langfristig soweit wie möglich erfüllt werden. Reformvorschläge aus der Wissenschaft werden jedoch nur dann die Chance haben, erfolgreich umgesetzt zu werden, wenn sie so konzipiert sind, daß sie die Moral der Individuen in ihren verschiedenen Arbeitsbereichen nicht überfordern. Wissenschaftliche Analyse muß verschwörungstheoretisches Moralisieren ersetzen durch eine „saubere" Analyse relevanter - d. h. problembezogener - Restriktionen. 6 Zugleich muß die wissenschaftliche Position von der Bevölkerung akzeptiert werden. Politiker sind L d R nicht gewillt, Maßnahmen einzuleiten, die gegen die Gerechtgkeitsvorstellung der Mehrheit der Bürger verstößt. Daraus folgt, daß bei der Erarbeitung wissenschaftlicher Reformvorschläge von moralischen Bürgern ausgegangen werden muß, die sich in einem gewissen Umfang an gesellschaftlichen Diskussionen beteiligen, ihre Meinung äußern, sei es gegenüber den Medien oder durch Stimmabgabe bei Wahlen, und die darüber hinaus Regeln, die sie akzeptieren, zumeist freiwillig befolgen; während gegenüber Regeln, die absurd erscheinen, dieser Wille fehlt. Wenn Moral aber tatsächlich eine derart wichtige Rolle spielt, so hängt die Funktions- bzw. Lernfähigkeit der Demokratie von der Qualität gesellschaftlicher Moral ab. Und diese hängt wiederum davon ab, wie sich Theorien verbreiten; denn letztere bilden den Scheinwerfer, mit dem reale Zusammenhänge „ausgeleuchtet" und bewertet werden. 7 Zu dem, was Andreas Suchanek8 als Vgl. Suchanek (1997), S. 207. So kann man von einem Unternehmer, der unter Wettbewerbsdruck steht, nicht verlangen, daß er zuungunsten des Ziels der langfristigen Gewinnmaximierung moralisch agiert; analog wird ein Politiker nicht moralisch handeln, wenn dies gegen sein Ziel der langfristigen Stimmenmaximierung verstößt. Die Opportunitätskosten moralischen Verhaltens sind in solchen Fällen einfach zu hoch. 7

Dieses Bild geht auf Popper (1973, S. 369 ff.) zurück.

8

Vgl. Suchanek (1997), S. 200.

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Martin Leschke

„empirische Bedingungen" bezeichnet, gehören mithin nicht nur Interessenund Machtkonstellationen eines Status quo, sondern auch die (Qualität der) Bürgermoral, die u. a. durch Theorien aus dem Wissenschaftsbereich beeinflußt und verändert wird. Nur wenn (ein Großteil der) Bürger als moralische Personen gesehen werden, kann wissenschaftliche Aufklärung der Bevölkerung 9 sinnvoll sein. Nur dann darf man hoffen, daß neue Erkenntnisse über gesellschaftliche Zusammenhänge langsam zu vernünftigerer Politik führen. Akzeptiert man diese Anschauung, so kommt der wissenschaftlichen Analyse nicht nur die Aufgabe zu, Vorschläge zur Lösung aktueller Probleme zu liefern, sondern darüber hinaus einen Denkstil zu vermitteln, den ich in Anlehnung an Andreas Suchanek 10 als „Denken in relevanten Restriktionen der modernen Gesellschaft" bezeichnen möchte.

Literatur Downs , Anthony (1968): Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen. Hayek , Friedrich A. von (1981): Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, Landsberg am Lech. Kirchgässner , Gebhard (1996): Bemerkungen zur Minimalmoral, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 116, S. 223-251. Leschke , Martin (1995): Zur ökonomischen Analyse moralkonformen Handelns, in: Analyse und Kritik, 17. Jg., S. 209-231. - (1996): Die Funktion der Moral in der liberalen Gesellschaft. Die Perspektive der konstitutionellen Ökonomik, in: Ingo Pies und Martin Leschke (Hrsg.), James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Konzepte der Gesellschaftstheorie 2, Tübingen. Olson, Mancur (1968): Die Logik kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen. - (1985): Aufstieg und Niedergang von Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und politische Starrheit, Tübingen. Pies , Ingo (1993): Normative Institutionenökonomik. Zur Rationalisierung des politischen Liberalismus, Tübingen.

9

Hierzu grundlegend Pies (1993).

10

Vgl. Suchanek (1997), S. 201.

Politik, Politikberatung und gesellschaftliche Moral

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Popper, Karl R. (1973): Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg. Suchanek, Andreas (1997): Sustainability und ökonomische Ordnungsethik, in diesem Band.

Sustainability zwischen Politik und Ökonomie Von Peter Nitschke Der Beitrag von A. Suchanek versucht so etwas wie den magischen Zirkel einer tragischen Verheißung, die sich mit dem Anspruch auf Sustainable Development ergibt, 1 zu sprengen. Doch letztendlich bleibt er hierbei nur ein Gefangener dieses (tragischen) Dilemmas, d. h., er kommt nicht über den entscheidenden Punkt hinaus, an dem er sein Versuchsszenario einer ökonomischen Heuristik substantiell von außen betrachten könnte. Das mag zum einen an der ökonomistischen Richtung liegen, die Suchanek hier vertritt, zum anderen sicherlich aber am Gegenstand selbst. Und nur diesem gelten die folgenden Betrachtungen. Für Suchanek ist Sustainability so etwas wie eine normative Heuristik, die für gegenwärtige Entwicklungstendenzen quasi als Korrektiv hermeneutisch eingesetzt werden kann. D. h., der Begriff bezieht sich hier im wesentlichen auf funktionale Defizite und den daraus resultierenden Folgewirkungen ökonomischen Handelns. Suchanek versteht diese beiden Prinzipien korrelativ als Ausdruck der klassischen Frage von sozialer Gerechtigkeit, vor allem unter dem spezifischen Aspekt einer Gerechtigkeit zwischen den einzelnen Generationen. In dieser Hinsicht ist ihm Sustainability nicht mehr - aber auch nicht weniger - als eine regulative Idee. Damit sei noch keine spezifische Theorie im Sinne einer systematischen Erklärung von Welt gegeben.2 Das ist alles gut und schön - und richtig! - Problematisch wird es allerdings, wenn Suchanek im Kontext von Sustainability das Anforderungsprofil der Ökologiebewegung zurückweist - ausgerechnet mit dem Argument, daß es nicht darum gehe, „Interventionen in die Natur zu minimieren und die Natur generell mehr sich selbst zu überlassen, sondern, wenn überhaupt, dies kontrolliert zu tun". 3

1

Vgl. Diefenbacher (1995), S. 129.

2

Vgl. auch Suchanek (1997a), S. 198.

3

Suchanek (1997a), S. 199.

15 Aufderheide/Dabrowski

226

Peter Nitschke

Da muß man sich doch fragen: Kontrolle nach welchen Richtlinien, welchen Standards - und vor allem - wer setzt diese Standards? - Man muß nicht Meyer-Abich heißen, um hier eine sehr anthropozentrische Argumentation quasi als tautologischen Zirkel verorten zu können.4 Nun kann man sagen, ohne den Menschen wird es nicht gehen - und das ist sicherlich richtig. Genauso gut aber wird man heuristisch in Rechnung stellen müssen, daß es eben der Mensch und seine Ökonomie sind, die das gegenwärtige Dilemma nicht nur in regionaler, sondern globaler Perspektive ausgelöst haben - weswegen wir jetzt mit dem Indikator von Sustainable Development kommen. Bedeutet dieser Indikator nicht - ernstgenommen - tatsächlich gerade die Abkehr vom Primat des Ökonomischen, den Suchanek trotz seines schönen Anspruchs auf eine regulative Idee gegenüber der Politik aufrechterhält? Hierzu ein paar skizzenhafte Überlegungen:

I. Das eschatologisch-existentielle Argument Wenn wir nun erstmals in der Geschichte der Menschheit an die Schwelle herangetreten sind, an der sich der Mensch als Gattung vollständig liquidieren kann, dann ist dies zweifellos ein hermeneutischer Ansatzpunkt für eine Strategie von Sustainable Development. Es würde nämlich den ernstzunehmenden Versuch beinhalten, jene Potentialität des Exodus der eigenen Gattung wenn nicht aufzuheben, so doch zumindest aufzuhalten. Denn in dem Maße, wie ökonomisch „das Ende aller Kalkulierbarkeit" gekommen ist, 5 so müßte man unter der Schirmherrschaft von Sustainable Development eine Reintegration rationaler Standards einführen und durchzusetzen suchen. Allerdings: so lange hierbei erneut das ökonomistische Denken in Form von materieller Entwicklung (sprich: Progression) den Ausschlag gibt, so lange würde dies nur eine Nebeninszenierung unter anderen Vorzeichen auf ein und dem gleichen traditionellen Schlachtfeld bedeuten.

4

Wie damit in politischer Hinsicht umgegangen wird, kann man sich sehr schön an der Diskussionsfiihrung in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag zum Thema Umweltschutz ansehen. Vgl. dazu Batt (1996), S. 120 ff. 5 So Hennis bereits (1977), S. 15.

Sustainability zwischen Politik und Ökonomie

227

Π . Das traditional-organologische Argument Wenn es richtig ist, daß dem demokratischen Denken in Form seiner vertragstechnischen Apriorisetzung eine „gewisse Tendenz zur Geschichtslosigkeit" zu eigen ist, dann hat dies weitreichende Folgen für die politische wie ökonomische Verfaßtheit demokratischer Gesellschaften. 6 Das gilt ganz besonders im Hinblick auf die Zukunftssetzung und die damit verbundene Verantwortung: sie wird vom jeweiligen Demos mit seiner spezifischen volontà générale fast dogmatisch zugunsten der je aktuellen Markteffizienz negiert. Eben deshalb wäre Sustainable Development für das Demokratieprinzip ein substantieller Austarierungsindikator: er würde jenseits des rein ökologischen Aspekts auch die Frage der individuellen wie kollektiven Verantwortungskompetenz an die demokratische Ordnung mit Nachdruck stellen. Diesen ernst genommen, würde die rein funktionale Momentorientierung des Demos wenn nicht schon konterkariert, so doch abschwächend aufgefangen werden können. Daher auch der Begriff der Mitwelt für Sustainable Development: man käme hierdurch zu einer Vermittlung der beiden Antipoden Anthropozentrik und Natur - allerdings natürlich immer noch mit dem Gewicht auf ersterem, weil es faktisch der Mensch ist, der definiert und danach entscheidet, was denn alles Mitwelt oder Umwelt ist. Doch das ließe sich vielleicht sogar auf einer tragfähigen Grundlage ökonomisch wie ordnungspolitisch generieren. Warum könnte man nicht z. B. zu einem Bewußtseins-Zustand gelangen, der, ähnlich wie im Mittelalter, natürliche Ressourcen als eine zeitgebundene Lehensmöglichkeit betrachtet, in welcher der „Zwang zur Rechenschaftslegung [...] zugleich auch die Garantie für die Erhaltung des Nutzwertes" darstellt. 7 Ein solches Prinzip ernstgenommen, würde natürlich bedeuten, daß wir die Grundlage der modernen Vertragstheorien wiederum verlassen. Denn gerade ihre aprioristischen Setzungen sind es, die den Sinn und Bedeutungszusammenhang von Traditionsgemeinschaften - und damit ein Generationenbewußtsein - quasi progressiv nihilieren. Auf solche, die Politikperspektive favorisierende und herausfordernde Perspektiven geht Suchanek gar nicht ein, was nicht zuletzt auch in der Brüchigkeit seines Anspruchs an eine korrekte Heuristik begründet liegt. Dies dokumentiert sich nicht zuletzt in dem ökonomistischen Verständnis der drei Stufen, in denen hier heuristische und implementative Standards zu fassen ver-

6

Mayer-Tasch (1991), S. 94.

7

Mayer-Tasch (1991), S. 147.

228

Peter Nitschke

sucht werden. Gerade die Fixierung auf die Bedeutung empirischer Bedingungen ist nun selbst nicht unproblematisch. Was sind, für sich genommen, empirische Bedingungen? - Ohne hermeneutische Interpretationsmodelle lassen sich keine empirical facts erschließen. Das Problem liegt also nicht bei den empirischen Bedingungen, sondern bei den normativen Vorgaben. Und genau hieran mangelt es bei Suchaneks Darlegung. Denn Sustainability ist zunächst nichts anderes als lediglich ein Begriff, der vielleicht als Paradigma tragfähig wäre, aber beinhaltet er wirklich schon eine spezifische Heuristik? - Wenn ja, worin soll diese bestehen? - Und wo liegen die Schwerpunkte: mehr auf Seiten von Development oder mehr bei dem Gedanken von Sustainability? - Darüber erfährt man bei Suchanek nichts. Es wird auch zu keinem Zeitpunkt hinterfragt, ob nicht das ganze Paradigma per se, aufgrund der Fliehkräfte seiner beiden Hauptvariablen, überhaupt hermeneutisch opportun erscheint? Auch hierzu eine kurze Bemerkung: Wenn die Technikeuphorie und Ideale in der Politik (zu Recht) mittlerweile an Glanz verloren haben, so ist der Anspruch auf Sustainable Development zweifellos auch unter diesen Vorzeichen zu sehen: hier könnte man neue (oder alte) hermeneutische Ressourcen wieder-gewinnen. Allerdings entbehrt dies auf dem funktionalen Weg nicht einer gewissen Problematik. Soll z. B. für den Bereich der materiellen Gegebenheiten - und das ist in erster Linie eine Frage für die Ökonomie - der bisherige Status Quo als verbindlicher Ausgangspunkt gelten? - Das würde bedeuten, daß mit einem solchen Paradigma lediglich die materielle Dominanz des Westens - und damit die Rolle des Knechts für die Dritte Welt - global weiterhin festgeschrieben wird. Schließlich würde nachhaltige Entwicklung die ökonomische Optimierung von vielen Ländern der Dritten Welt im Hinblick auf eine Angleichung an die Erste Welt verhindern. Es sei denn, die Vertreter der Ersten Welt würden das Konzept von Sustainability so rigoros gegenüber ihren eigenen Volkswirtschaften auslegen, daß Development auf ihrem hohen materiellen Niveau nur minimal ins Spiel gebracht werden könnte - bei gleichzeitiger wachstumsoffener Kapazitätsfreigabe für die Entwicklungsländer! - Das dürfte kaum der Fall sein, weil dies politisch nicht durchsetzungsfähig wäre. Insofern erscheint das Konzept von Sustainable Development nur als eine andere Variation der alten Wachstumsperspektive zugunsten der hochentwickelten westlichen Hemisphäre, demgegenüber sich der Rest der Welt erst recht einzuschränken hätte auf seinen recht bescheidenen Standard. 8

Sustainability zwischen Politik und Ökonomie

229

Angesichts eines solchen strukturellen Differenzpunktes zwischen normativer Bedeutung und faktischer Auswirkung hier lediglich zu proklamieren, den „normativen Gehalt dieser Idee an konkreten Problemen in Anreize zu transformieren", 9 erscheint insofern relativ banal, weil so die Konstituierung - oder besser: Rekonstruktion - einer Idee klassischerweise im Praxisbezug ausschaut. Überhaupt scheint hier ein grundsätzliches Mißverständnis zwischen normativen und empirischen Bezug zu bestehen, welches - in Anlehnung an Kant - ein geradezu klassisches Problem der Moderne geworden ist. An anderer Stelle führt Suchanek z. B. aus, 10 daß ihm im Kontext der Paretooptionen die Frage der sozialen Gerechtigkeit nur ein normativer Begriff sei; bei einer solchen Position wird völlig verkannt, daß sämtliche antike Autoren bis hin zu Cicero menschliche Solidarität auch als funktionales Prinzip, welches konkret handlungsstiftend ist, verstanden haben. Insofern ist die hier als Zieloption bekundete Synthese von normativer und positiver Analyse nichts Neues. Denn die funktionale Trennung zwischen dem bios theoretikos und dem bios praktikos ist (nur) modern - sonst nichts. Und genau aus dieser funktionalen Trennung ergibt sich dann auch ein weiteres Problem: nämlich das der Übereinstimmung hinsichtlich der Regeln, mit denen man die gemeinsamen Interessen (das bonum commune) verfolgt. Völlig unbestritten ist hierbei, daß die hermeneutische Zielrichtung richtig ist, derzufolge es so etwas wie ein bonum commune auch und gerade in der pluralistischen, relativ stark arbeitsteilig ausdifferenzierten Gesellschaft und ihrer Ökonomie geben muß. Die Frage ist nur: was ist der maßgebliche Indikator, der Katalysator hierfür? - Reicht es schon aus, auf pure funktionale Marktmechanismen zu vertrauen und damit - bei entsprechend sinnvoller Rahmengestaltung der Spielmöglichkeiten von Politik im Kontext eines Sustainable Development - ein gemeinsames Interesse quasi durch die funktionale Hintertür normativ voran zu treiben? - Oder müßte man hier nicht besser auf die Implementierung von Institutionen zugunsten dieser Doktrin dringen, zumal

g Wenn bereits in den Diskussionen der 60er und 70er Jahre nur noch vom qualitativen Fortschritt gesprochen worden ist, erscheint daher auch das Credo von Sustainable Development nicht unproblematisch bzw. wenig effektiv: denn es ist und bleibt in seiner zweiten attributiven Festlegung immer noch ein substantieller Reflex auf die Fortschrittseuphorie der Moderne, letztendlich dann doch nur qualitativer Fortschritt! 9 Mit dem Zitat von Homann (1996), hier (bei Suchanek 1997a) S. 209. 10

Vgl. hier Suchanek (1997b).

230

Peter Nitschke

angesichts der zeitlichen Notwendigkeit, die wenig Spielraum für langfristige Projektprogramme hinsichtlich einer empirisch signifikant meßbaren KostenNutzen-Relation läßt? Das Dilemma, auf das Suchanek gar nicht eingeht, weil er ökologistische Ansätze hier von vornherein diskreditiert, erscheint somit unter der Fragestellung, mit welchem Gutsein der Mensch am Ausgang dieses Millenniums seine ökonomischen Handlungen zugunsten oder zulasten der Natur besetzen will? Suchanek spricht hier (bei seiner abwertenden Darstellung in bezug auf den ökologischen Ansatz) bezeichnenderweise von den Versuchen, die Kriterien für eine solche Dezision aus den ökologischen Rahmenbedingungen, quasi extern, aus der Natur zu formulieren. 11 Doch was soll hier extern heißen: der Mensch ist schließlich Natur! - Das kann man anthropozentrisch begründen oder naturalistisch, quasi kosmologisch - das Ergebnis bleibt das Gleiche: der Mensch ist für die Folgen seiner Handlungen voll verantwortlich. Insofern ergibt sich über die Chiffre von Sustainability die Erinnerung und Ermahnung zum selbstverantwortlichen Tun und Lassen im Kontext von Generationen. Das bedeutet in der Dechiffrierung von sozialer Gerechtigkeit die Reformulierung der klassischen Parole Jedem das Seine\ nur dieses Seine ist on the long run mit Maßen zu betrachten. Dieses Prinzip ernstgenommen, würde für alle endlichen Ausschöpfungsprozesse an Ressourcen bedeuten: Begrenzung, wenn nicht gar Abkehr von der optimalen Effizienzausbeute im Hier und Jetzt. Hinwendung zu Gestaltungsoptionen, die mehr auf langzeitige Kommensurabilität setzen, denn auf zweckrationale Profitfunktion. Daß diese Auslegung von Sustainability auch ihren ordnungspraktischen Bezug hat, läßt sich an zwei Beispielen belegen, die im Prinzip genau der Gegenseite von Suchaneks Argumentation, nämlich der Ökologiebewegung Rechnung tragen. 1. Wenn man das Plädoyer ernst nimmt, in einer langfristigen Zieloption erneuerbare Ressourcen nur noch im Rahmen ihrer Regenerationsfähigkeit zu verwenden - und nicht erneuerbare Ressourcen nur noch im Hinblick auf ihre Substituierung hin zu benutzen, dann kann man z. B. für die Europäische Union konstatieren, daß sie dem mittlerweile Rechnung trägt: unter dem Logo des fünften Um weit-Aktionsprogramms von Februar 1993 setzt sie gezielt die Agenda für Kapazitäten im Bereich von Sustainable Development. 12 Daß dies nicht nur eine rhetorische Angelegenheit ist, zeigt u. a. die Ausbeute der bis

11

Vgl. Suchanek (1997a), S. 210, Anm. 49.

12

Vgl. Diefenbacher, S. 133 ff.

Sustainability zwischen Politik und Ökonomie

231

1990 erlassenen Umweltprogramme. Insofern kann sich von hierher das Plädoyer zugunsten eines institutionellen Ansatzes - mit Primat des Politischen bestätigt sehen.13 Hieraus wird aber noch etwas anderes ersichtlich, was eigentlich eine zentrale Denkkategorie für einen ökonomistischen Ansatz sein müßte - nämlich die Frage: wie halten wir es mit der Energie? - Insofern ist zu unterstreichen, was auch das General Advisory Forum (GAF) im Januar 1995 in seiner 12Prinzipien-Festlegung an den Präsidenten der Kommission in Brüssel aufgelistet hat: Die ökonomische und soziale Entwicklung muß die physischen Grenzen respektieren, die für die Nutzung von Ressourcen und für die Regeneration der natürlichen Systeme vorhanden sind. 14 2. Man kann den Sachverhalt aber auch noch in anderer Hinsicht problematisieren. Und dies betrifft den bereits hervorgehobenen globalen Aspekt. Dieser läßt sich vielleicht in der globalen Verantwortungsperspektive nirgendwo deutlicher machen als anhand der Erklärung, die von der U N anläßlich des 50. Jahrestags ihrer Gründung am 24. Oktober 1995 herausgegeben worden ist. Hier heißt es so schön, daß im Hinblick auf die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten in globaler Perspektive Kern des UN-Konsenses die Erkenntnis sei, „daß der Mensch das zentrale Subjekt der Entwicklung ist, und daß im Mittelpunkt unserer Maßnahmen und unserer Bestrebungen für eine Entwicklung der Mensch stehen muß". 1 5 Hierzu wird unter Punkt 8 des Themenkatalogs summiert: „Zur Förderung nachhaltigen Wirtschaftswachstums, der sozialen Entwicklung, des Umweltschutzes und der sozialen Gerechtigkeit und in Erfüllung der von uns in bezug auf die internationale Entwicklungszusammenarbeit eingegangenen Verpflichtungen werden wir [...] die soziale Entwicklung durch entschlossene nationale und internationale Maßnahmen fördern, die auf die Beseitigung der Armut ausgerichtet sind - als ethischer, sozialer, politischer und wirtschaftlicher Imperativ der Menschheit - und die Förderung der Vollbeschäftigung und der sozialen Integration zum Ziel haben". 16 Hierfür wird u. a. verlangt, Produktionsweisen und Konsumgewohnheiten abzubauen und gänzlich zu beseitigen, die im Prinzip kontraproduktiv sind (das Manifest spricht hier von nicht aufrechterhaltbaren Konsumgewohnheiten). Wie aber ist zu definieren, was nicht aufrechterhaltbar ist? -

13

Vgl. ebd., S. 134.

14

Vgl. ebd., S. 137.

15

Vereinte

16

Ebd., S. 128.

Nationen (1996), S. 127.

232

Peter Nitschke

Gibt es dafür eine größere Sachlogik als für andere Dinge? - Klassische Autoren der Politischen Theorie von Machiavelli bis Hegel hätten hierfür mit dem Prinzip der Notwendigkeit argumentiert. Dergleichen kommt auch heute vor. Nur muß man sich bewußt machen, daß jegliche Bemühung eines solchen Standpunktes bis zu einem gewissen Grade sich reflexiv in einem wissenschaftlichen Sinn nicht vollständig aufschlüsseln läßt. Die Glaubens- oder Hoffnungserwartung von Individuen, die mehr oder weniger nur durch Marktmechanismen zusammengehalten werden, sind in einem szientistischen Pro- und Kontraverfahren nicht zu gewinnen. Und insofern stößt Suchanek hier an die Grenzen der Leistungsfähigkeit seines Vorhabens. Weil es stets die Dezisionsseite der Politik lediglich als eine spieltheoretische Prämisse observiert und nicht von einer Handlungslogik des Politischen ausgeht, bei der mehr als nur funktionale Statussicherung die Prioritätenliste bestimmt. Mit anderen Worten: sind selbst im funktionalen Maßstab betrachtet hier Variablen im Spiel, die in der Weberschen Terminologie als irrational einzustufen wären, dann kommt Suchaneks Unterfangen über einen elaboriert vorgetragenen Projektentwurf nicht hinaus. Ein abschließender Ausblick: in einer Besprechung, die Horst Ahfeldt unlängst unter dem Titel Vom Ungenügen des ökonomischen Denkens gemacht hat, wird ein Wirtschafts-Nobelpreisträger mit den Worten zitiert: 17 „Die Globalisierung der Wirtschaft ist sicherlich für einige privilegierte Gruppen profitabel. Aber die Interessen dieser Gruppen sollten nicht mit den Interessen der ganzen Menschheit gleichgestellt werden. Eine überstürzte und ungeordnete Globalisierung kann überall nur Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit und Instabilität bewirken." Genau hiergegen richtet sich das Paradigma von Sustainable Development. Es beinhaltet im Prinzip eine Abkehr vom klassischen liberalistischen Credo, demzufolge die Ökonomie letztendlich die Handlungschancen von Politik bestimmt. Sustainability ist im Prinzip das Plädoyer für eine Gleichbeachtung von politischen und ökonomischen Interessen, wenn nicht gar zugunsten des Demos eine Superiorität der Politik über die Ökonomie. So wie in der Medizin nicht alles sozial wünschenswert ist, was rein medizinisch machbar wäre, so ergibt sich auch auf dem Feld des Politischen - noch dazu in demokratischen Ordnungsgemeinschaften, die vom Prinzip der bürgerlichen Mitte ausgehen müssen - eine katalysatorische Verträglichkeitsfunktion für ökonomische Zielsetzungen. Die Frage ist nur, ob sich die Ökonomie - und hier insbesonde-

17

Ahfeldt (1996), S. 11.

Sustainability zwischen Politik und Ökonomie

233

re ihre Theorie - diesen Sinnzusammenhang in der gegenwärtigen Konstellation deutlich bewußt macht? Wenn die klassische Losung der Moderne, die fordistische Maxime, demzufolge Arbeit = Lohn = Konsum sei, für die demokratischen Systeme der westlichen Hemisphäre am Ausgang dieses Jahrhunderts nicht mehr aufrechterhalten werden kann (und für den Rest der Welt hat sie ohnehin nie gegolten), dann ist es insofern an der Zeit, den Arbeits-Begriff so umzustrukturieren, daß z. B. die Inanspruchnahme von Naturressourcen teurer wird als die des Faktors Arbeit im Sinne eines öffentlich- wie privat-rechtlichen Gutes. 18 Hier wäre insofern Sustainable Development als ein Globalkontrakt vonnöten. Denn so lange dieser nicht vorhanden ist und funktioniert, ist die Ausnutzung der sozialen Produktionsdifferenzen im weltweiten Angebotssetting die kategorische Aufforderung zur Bereicherung auf Kosten der Mitwelt - wobei Mitwelt hier auch als Generationenvertrag begriffen werden kann. Vielleicht trägt gerade die Globalisierung zu solchen positiven Rückkoppelungseffekten bei. Wenn es z. B. richtig ist, „daß die sich abzeichnende Konvergenz der nationalen governance-Modelle auf regionaler Ebene eine größere Variationsbreite regionaler Wohlfahrtsmodelle ermöglicht", 19 dann könnte dies auch bedeuten, daß es zu einer besseren Rückkoppelung an die territorialen Bedürfnisse der Individuen vor Ort käme - mithin eine Perspektive für eine funktionale Implementierung von Sustainable Development im Sinne eines dauerhaften Kontrakts zwischen der Zeitgeneration und den zukünftigen Erben ermöglicht würde. Denn die Einsicht in die Vernünftigkeit einer Kontraktualisierung sub specie aeternitatis ist am besten im begrenzten Wohlfahrtsraum möglich, der eben nicht als Abstraktionsding im Universum transzendent umher fliegt, sondern sich den Verpflichtungskontexten vor Ort radikal stellt.

Literatur Ahfeldt, Horst (1996): Vom Ungenügen des ökonomischen Denkens, in: Süddeutsche Zeitung (25. November) Nr.272, S. 11.

18

Vgl. hier z. B. Scherborn (1996), S. 16.

19

So Heinze u. a. (1997), S. 335.

234

Peter Nitschke

Bait, Helge-Lothar (1996): Die Grundgesetzreform nach der deutschen Einheit. Akteure, politischer Prozeß und Ergebnisse, Opladen. Diefenbacher, Hans (1995): „Nachhaltige" Entwicklung und europäische Politik - der lange Weg einer Theorie in die Praxis, in: Reinhard Mutz (Hrsg. u. a.): Friedensgutachten 1995, Münster, S. 129-143. Heinze, Rolf G. u. a. (1997): Die Schwelle zur globalen Welt - Silhouetten einer regionalen Modernisierungspolitik, in: Bullmann, Udo u. Heinze, Rolf G. (Hrsg.): Regionale Modernisierungspolitik. Nationale und internationale Perspektiven, Opladen, S. 317-346. Hennis, Wilhelm (1977): Zur Begründung der Fragestellung, in: Ders. u. a. (Hrsg.): Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Stuttgart, S. 9-21. Mayer-Tasch, Peter Cornelius (1991): Politische Theorie des Verfassungsstaates. Eine Einführung, München. Scherhorn, Gerhard (1996): Wird der fordistische Gesellschaftsvertrag aufgekündigt?, in: Das Magazin / Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen 7 (1996) Ausg. 3, S. 16-17. Suchanek, Andreas (1997a): Sustainability und ökonomische Ordnungsethik, in diesem Band. - (1997b): Erfolgreiche Therapie ohne gute Diagnose? Zum Zusammenhang von positiver und normativer Ökonomik, in: Martin Held (Hrsg.): Normative Grundfragen der Ökonomik. Folgen für die Theoriebildung, Frankfurt a. M./New York. Vereinte Nationen (1996): Erklärung anläßlich des 50. Jahrestags der Gründung der Vereinten Nationen, verabschiedet von der Vollversammlung in New York am 24. Oktober 1995. Betrifft - Charta der UN - Herausforderungen des Friedens - Entwicklung - Gleichheit - Gerechtigkeit - Organisation der UN, in: Internationale Politik 51, Nr. 1, S. 125-130.

Identifikation als institutionelle Bedingung individueller Kooperation: Theorie und Experimente Von Iris Bohnet*

I. Einleitung Menschen tragen in vielen Situationen freiwillig zur Bereitstellung öffentlicher Güter bei: Sie spenden für gute Zwecke, nehmen an Wahlen und Abstimmungen teil, ohne dass ihre Stimme von entscheidender Bedeutung für den Ausgang des Urnengangs wäre, und sie kaufen Fahrscheine, selbst wenn die Entdeckungswahrscheinlichkeit vernachlässigbar gering ist. In Experimenten zu öffentlichen Gütern sind Kooperationsquoten von über 90 Prozent auch dann anzutreffen, wenn keine monetären Anreize zur Kooperation existieren. 1 Individuelles Verhalten muss daher nicht, wie von der ökonomischen Wohlfahrtstheorie angenommen,2 zu einer Unterversorgung mit öffentlichen Gütern führen. Vielmehr kann Pareto-Optimalität auch durch freiwillige Beiträge erreicht werden. Experimentelle Untersuchungen und Umfragen deuten darauf hin, dass die individuelle Zahlungsbereitschaft für öffentliche Güter zu einem grossen Teil darauf zurückzuführen ist, dass Menschen Gutes tun wollen. 3 Sie erfahren eine Befriedigung, wenn sie für wohltätige Zwecke oder öffentliche Güter spenden können. In dieser Arbeit wird argumentiert, dass der Nutzen aus Spenden oder allgemeiner aus dem 'Tun von Gutem' vom Ausmass abhängt, in dem der Empfänger der Wohltätigkeit identifiziert ist. Menschen bewerten spezifische

Ich danke Reiner Eichenberger, Lorenz Götte, Felix Oberholzer-Gee und den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Tagung für Wirtschaftsethik und Moralökonomik in Münster für ihre hilfreichen Anmerkungen. Speziell danke ich den beiden Korreferenten Mathias Erlei und Christoph Lütge. Für die finanzielle Unterstützung bin ich der Stiftung für wissenschaftliche Forschung an der Universität Zürich und COST A7 dankbar. 1

Vgl. die Übersicht bei Ledyard (1995).

2

Siehe z. B. Laffont

3

(1990), S. 36 ff.

Für Experimente, vgl. Ledyard (1995) und für Umfragen, Diamond / Hausmann (1993).

236

Iris Bohnet

Güter und das Wohl identifizierter Individuen höher als nicht klar definierte Objekte oder anonyme Personen. Die Analyse basiert auf einer positiven Betrachtung; normative Aussagen über die 'Wünschbarkeit' des Identifikationseffekts werden nicht gemacht.4 Identifikation stellt eine bis anhin nicht untersuchte institutionelle Bedingung dar, welche die individuelle Bereitschaft, zur Erstellung öffentlicher Güter beizutragen, erhöht. Gesellschaftliche Zahlungsbereitschaften für Schutzvorkehrungen etwa hängen davon ab, wie klar die potentiellen Opfer erfasst sind. Ist eine spezifische Gruppe von einem möglichen Schaden, z. B. einer Krankheit wie Aids, betroffen, werden mehr Ressourcen zu deren Schutz aufgewendet, als bei Individuen, die Risiken ausgesetzt sind, die zufällig über die Gesellschaft verteilt anfallen, wie z. B. Diabetes.5 Auch eine intertemporale Anomalie ist auf Identifikation zurückzuführen: Die grossen Anstrengungen zur Rettung von Erdbebenopfern stehen in keinem Verhältnis zu den Vorsorgemassnahmen. Zu einem Zeitpunkt, in dem menschliche Leben 'nur' durch statistische Wahrscheinlichkeiten bedroht sind, scheint einem individuellen Leben weniger Wert zugemessen zu werden als in einer Situation, in der die Opfer identifiziert sind.6 Zahlungsbereitschaften für öffentliche Güter werden häufig durch Umfragen zu erfassen versucht 7. Gegen Umfragen wird jedoch immer wieder angeführt, dass sie Verhalten in sogenannten 'Kleinkostensituationen' 8 abfragen: Für die Befragten ist es billig, hohe Wertschätzungen für öffentliche Güter anzugeben, da sie die Kosten ihres Handelns nicht tragen müssen. Um den Einfluss der Identifikation auf individuelle Zahlungsbereitschaften zu untersuchen, wurden daher im Labor vergleichsweise 'teurere' Rahmenbedingungen, in denen über die Allokation von tatsächlichem Geld entschieden wurde, konstruiert. Individuen konnten ihre Zahlungsbereitschaften nicht nur hypothetisch äussern, sondern mussten die deklarierten Beträge tatsächlich bezahlen. Ganz direkt kann das Abwägen zwischen dem Nutzen aus eigenem Einkommen und der Befriedigung aus der Weitergabe an Dritte durch das Dikta4

Vgl. dazu die Abhandlung in Lütge (1997), S. 270 ff., der richtigerweise darauf hinweist, dass für eine normative Betrachtung zunächst zu klären wäre, was denn allenfalls für wen, wann und wie wünschbar wäre. 5 Vgl. Pratt / Zeckhauser (1996) S. 756 f. 6

Siehe die grundlegende Arbeit von Schelling (1968).

Vgl. zur 'Contingent Valuation-Methode' bzw. zu 'Willingness-to-pay-Studien' die Übersicht von Hanemann (1994). 8

Vgl. z. B. Kirchgässner

(1992).

Identifikation als institutionelle Bedingung individueller Kooperation

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tor-Spiel erfasst werden. Es wird in dieser Arbeit verwendet. Das DiktatorSpiel stellt einen konservativen Test für Identifikation dar. Wenn Identifikation Verhalten selbst in der vergleichsweise teuren Experimentssituation beeinflusst, sollte diese institutionelle Rahmenbedingung an Bedeutung gewinnen, wenn monetäre Anreize in Zahlungsbereitschaftsumfragen an Kraft verlieren. In Abschnitt I I wird der theoretische Rahmen entwickelt. Kooperation in öffentlichen Guts-Situationen wird als Altruismus interpretiert, so dass eine direkte Beziehung zum Diktator-Spiel hergestellt werden kann. Identifikation wirkt auf Altruismus: Genauere Spezifizierung des öffentlichen Guts führt zu höheren Zahlungsbereitschaften. Inwieweit Altruismus in Umfragen die Zahlungsbereitschaften für öffentliche Güter beeinflusst, wird in Abschnitt I I I diskutiert. Welche Bedeutung Altruismus und Identifikation in kontrollierten Laborexperimenten zukommt, wird in Abschnitt IV besprochen. Es zeigt sich, dass sich Menschen in Experimenten identifizierten Versuchsteilnehmern gegenüber anders verhalten als gegenüber anonymen Individuen. Experimente können dazu dienen, theoretische und empirische Puzzles auf kontrollierbare institutionelle Verhaltensdeterminanten zurückzuführen. Deren Relevanz für die 'Realität ausserhalb des Labors' muss jedoch in einem weiteren Schritt nachgewiesen werden. In Abschnitt V werden erste Versuche in diese Richtung unternommen, indem auf einige illustrative Beispiele eingegangen wird. Auch reale Zahlungsbereitschaften sind für identifizierte Individuen viel höher als für anonyme Leben. Als gesellschaftspolitische Folge ergibt sich, dass Ressourcen nicht dort eingesetzt werden, wo ihr Grenznutzen am grössten ist, sondern in Bereichen, in denen identifizierte Leben verbessert werden können. Die Arbeit schliesst mit einer Zusammenfassung in Abschnitt VI.

I I . Der Identifikationseffekt In der typischen öffentlichen Guts-Situation bestehen keine (pekuniären) Anreize, zum Zustandekommen des öffentlichen Guts beizutragen. Rationale, einkommensmaximierende Individuen sollten gemäss der ökonomischen Theorie nicht freiwillig auf die Benützung des Autos verzichten, nur um einen Beitrag zur Verbesserung der Luftqualität zu leisten. Tragen Individuen trotzdem zu öffentlichen Gütern bei, kann dies als Altruismus interpretiert werden. Menschen ziehen sowohl aus der Existenz des öffentlichen Guts, z. B. sauberer Luft, als auch daraus, dass sie zur Erstellung dieses Guts beigetragen bzw. auf das Auto verzichtet haben, einen individuellen Nutzen.

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Iris Bohnet

Ein Individuum maximiert eine Nutzenfunktion, die neben privaten Gütern und dem Nutzen aus dem öffentlichen Gut auch eine konsumptive Komponente des Beitragens enthält. 9 Ist χ der Wert der privaten Güter, G das öffentliche Gut, ζ der Beitrag, den ein Individuum leistet, und Ζ die Beiträge aller anderen zusammen, ergibt sich (1)

Max: U (x, G(Z + z), z), U x > 0, U G > 0, U z > 0

unter der Nebenbedingung χ + ζ = y,

χ,ζ > 0, wobei y das individuell verfügbare Einkommen ist. Der individuelle Beitrag ζ hängt nicht von der Art des öffentlichen Guts ab, vielmehr kann das Objekt des Wohlwollens auch ein anderer Mensch sein. Die öffentliche Guts-Situation lässt sich in ein Diktator-Spiel transformieren: Ein Individuum i wägt den Nutzen aus privaten Gütern Xj direkt gegen den Nutzen aus Altruismus, bestehend aus U a (z i a ), der investiven Komponente, bei der das Individuum i den Nutzen der anderen a erhöht, und z i a , der konsumptiven Komponente, bei der das Individuum i einen Nutzen aus dem Akt des Gebens an a erfährt, ab (2)

Ui = Ui(x if UtiZä), ζ»),

wobei die ersten Ableitungen wieder alle nicht-negativ sind und die Budgetrestriktion y wie oben gilt. Ist ein Individuum nur an der konsumptiven Komponente von Altruismus interessiert, fällt der Nutzen unabhängig davon an, ob und wie die andere(n) Person(en) bzw. das öffentliche Gut vom individuellen Beitrag betroffen sind, d.h. (3)

Ui = Ui(Xi,Zia).

Das Beitragen zu öffentlichen Gütern bzw. das Abgeben von Geld an andere Menschen wäre dann ein rein egoistischer Akt: Menschen fühlen sich gut, wenn sie freiwillig auf Einkommen verzichten.

9 Vgl. Andreoni (1990) und für eine kritische Zusammenfassung der traditionellen Altruismusmodelle, Nutzinger (1993).

Identifikation als institutionelle Bedingung individueller Kooperation

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In dieser Arbeit wird argumentiert, dass der Nutzen aus der konsumptiven Komponente z, der aus dem Akt des Beitragens resultiert, um so grösser ist, je besser des öffentliche Gut identifiziert ist, also (4)

Uzi > 0.

Der Beitrag ζ hängt damit davon ab, inwieweit das öffentliche Gut identifiziert ist: dz/dl > 0. Entsprechend würde gelten, dass Individuen aus Helfen oder Spenden einen um so grösseren Nutzen ziehen, je besser sie die Empfänger identifizieren können. Erste Hinweise, dass erklärte Zahlungsbereitschaften für öffentliche Güter den Nutzen aus konsumptivem Altruismus widerspiegeln und auf das Ausmass an Identifikation reagieren, geben die Umfragen im nächsten Abschnitt.

Π Ι . Die Zahlungsbereitschaft für öffentliche Güter In Studien zur kontingenten Bewertung von öffentlichen Gütern wurde festgestellt, dass sich durchschnittliche Zahlungsbereitschaften für unterschiedlichste Arten von öffentlichen Gütern in einem Rahmen von $ 30 bis $ 60 bewegen.10 Menschen beurteilen öffentliche Güter nicht nur nach deren spezifischen Nutzen, sondern sie lassen auch Komponenten, die nicht an das Gut, wohl aber an die freiwillige Aufgabe von Einkommen gekoppelt sind, in ihre Bewertung einfliessen. Der Akt des Gebens erfüllt Menschen mit einem guten Gefühl. 11

1. Befriedigung

aus 'Geben'

'Contingent Valuation'-Studien sind Umfragen. Bereits die Frage nach der Zahlungsbereitschaft für ein öffentliches Gut impliziert, dass eine positive Zahlungsbereitschaft die moralisch richtige Anwort ist. Kahneman und Knetsch folgern aus Telefonumfragen, 12 dass geäusserte Zahlungsbereitschaf-

10

Siehe Harrison

(1992), S. 249, Kahneman / Knetsch

(1992), Diamond/

Hausman

(1993). 11

Dies wird in der Literatur nach Andreoni (1990) als 'warm glow' bezeichnet.

12

Vgl. Kahneman / Knetsch (1992). Telephonumfragen entsprechen jedoch nicht dem Ideal, an dem Vertreter der 'Contingent Valuation'- Methode ihre Untersuchungen orientieren. Ideal, aber teuer wären persönliche Interviews, in denen die Befragten ihre Meinung im Laufe des Interviews auch revidieren bzw. bei Unklarheiten nachfragen können. Siehe Hanemann (1994).

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Iris Bohnet

ten nicht davon abhängen, welchen Nutzen ein Individuum aus einem öffentlichen Gut zieht, Ui=Ui[Xi, G(Z+Zi)], sondern hauptsächlich durch das Ausmass an 'warm glow', U ì = U ì [ x ì , Z ì ] , bestimmt sind. Eine Stichprobe von 240 Versuchspersonen wurde in vier Gruppen eingeteilt. Zwei Gruppen (1 und 2) wurden gefragt, wieviel sie bereit seien, für 14 verschiedene öffentliche Güter, z. B. die Verringerung der Hungersnot oder den Ausbau der Krebsforschung, zu bezahlen. Jedes öffentliche Gut wurde auf zwei Arten abgefragt: Im ersten Fall wurde das öffentliche Gut nur für eine Teilmenge des zweiten Falls erstellt, z. B. eine bestimmte Verringerung der Hungersnot nur in Äthiopien im Vergleich zu einer äquivalenten Verringerung der Hungersnot in ganz Afrika. Steigt der individuelle Grenznutzen aus Altruismus, je mehr vom öffentlichen Gut erstellt werden kann, U G >0, sollten Individuen eine grössere Zahlungsbereitschaft für Afrika als für Äthiopien aufweisen. Die beiden Gruppen 1 und 2 wurden nach ihrer Zahlungsbereitschaft für je 14 zufällig ausgewählte Teilmengen- und Gesamtmengen-Güter gefragt. Die Individuen der anderen beiden Gruppen 3 und 4 wurden gebeten, einen 'Befriedigungsindex' zu erstellen, indem sie den einzelnen öffentlichen Gütern das Ausmass an Befriedigung (auf einer Skala von 0 bis 10) zuordnen, das sie empfinden würden, wenn sie z. B. für Äthiopien, für Afrika oder für die Krebsforschung gespendet hätten. Werden die Mediane der Zahlungsbereitschaften der beiden ersten Gruppen 1 und 2 mit den beiden Rangfolgen, die aus der Einschätzung der erwarteten Befriedigung durch die beiden anderen Gruppen 3 und 4 resultierten, verglichen, ergeben sich Rangkorrelationskoeffizienten von 0.78 (pcO.Ol) bzw. 0.62 (p