Wege zur Strafvollzugsreform [1 ed.] 9783428427192, 9783428027194

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Wege zur Strafvollzugsreform [1 ed.]
 9783428427192, 9783428027194

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Wege zur Strafvollzugsreform

Von

Heinz Müller-Dietz

Duncker & Humblot . Berlin

HEINZ MÜLLER DIETZ

Wege zur Strafvollzugereform

Wege zur Strafvollzugsreform Von

Prof. Dr. Heinz Müller-Dietz

DUNCKER & H

UMBLOT/BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1972 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1972 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 02719 1

Vorwort Die nachfolgenden Beiträge stellen eine Auswahl aus bisher unveröffentlichten Referaten und Vorträgen dar, die der Verfasser i n der Zeit zwischen Oktober 1969 und Oktober 1971 aus den verschiedensten Anlässen und vor verschiedenen Foren gehalten hat. Der Verfasser hätte sich zu ihrer Veröffentlichung nicht entschlossen, wenn ihn nicht bestimmte Trends i n der wissenschaftlichen Erörterung und i n der öffentlichen Meinungsbildung dazu veranlaßt hätten, die i n ihnen ausgesprochenen Gedanken zur Reform des Strafvollzuges und zu deren Zusammenhang m i t Problemen der Kriminalität und Gesellschaft zur Diskussion zu stellen. Dem kundigen Beobachter kann nicht entgehen, daß seit einiger Zeit eine rückläufige Tendenz hinsichtlich der Reformbereitschaft und -bestrebungen eingesetzt hat, deren Auswirkungen auf die Weiterentwicklung des Strafvollzuges und auf die gesamte K r i minalpolitik noch nicht abzusehen sind. Zwar gehen die Arbeiten am Bundesstrafvollzugsgesetz zügig voran. Seit Februar 1971 liegt der Gesetzentwurf der Strafvollzugskommission auf dem Tisch. I h m ist bereits i m März ein vorläufiger Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums gefolgt. Anfang 1972 ist m i t einer Kabinettsvorlage zu rechnen. Auch zeichnen sich manche Veränderungen i n der Vollzugspraxis ab. Gleichwohl machen sich — trotz publizistischer Bemühungen — nicht nur K r i t i k (die nur erwünscht sein kann), sondern vor allem Skepsis und Ablehnung hinsichtlich der Reformbestrebungen geltend. Sie sind grundsätzlicher Natur, w e i l sie der eingeschlagenen Richtung gelten. Soweit es sich dabei u m wissenschaftliche Vorbehalte handelt, die sich auf den Mangel an empirischer Erprobung und Überprüfung neuer Vollzugsmethoden stützen, w i r d man die K r i t i k nur begrüßen können. Sie erscheint auch erwünscht, soweit sie einem ungerechtfertigten Behandlungsoptimismus entgegenzuwirken und einer wirklichkeitsgerechten Betrachtung vorzuarbeiten vermag. Indessen geht es nicht u m wissenschaftlich begründete oder begründbare K r i t i k , sondern u m kriminalpolitische Fehlvorstellungen, die i n der Öffentlichkeit v i r u lent und teils auf mangelnde Information, teils auf die fatale Tendenz zurückzuführen sind, vor unbequemen Sachverhalten die Augen zu verschließen. Dem entgegenzutreten sollte sich jeder für verpflichtet halten, der Strafvollzugsreform überhaupt als sinnvoll und notwendig ansieht und diese Zielsetzung nicht als verbales A l i b i für gesellschaftliche Untätigkeit mißbraucht wissen möchte.

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Vorwort

Die Beiträge sind hier — von stilistischen Verbesserungen und geringfügigen Kürzungen abgesehen — durchweg unverändert abgedruckt. Ihrer Vortragsfassung entspricht es, daß auf einen Anmerkungsapparat verzichtet wurde. Saarbrücken, i m November 1971 Heinz Müller-Dietz

Inhalt 1. Reform des Strafvollzugs Referat anläßlich der 1. Tagung saarländischer Juristen am 10.10. 1969 in Saarbrücken

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2. Ziel und Methoden des modernen Strafvollzugs Referat vor Lehrern der nordrhein-westfälischen anstalten am 28.4.1970 in Bad Driburg

Justizvollzugs24

3. Grundgedanken und Ziele der Strafvollzugsreform Referat anläßlich eines Fortbildungsseminars für hessische Richter und Staatsanwälte am 30.11.1970 in Königstein/Ts

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4. Die Arbeit der Gefangenen Referat im Kriminologischen Seminar von Professor Dr. Dr. Heinz Leferenz am 18.12. 1970 in Heidelberg

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5. Probleme des modernen Strafvollzugs Vortrag im Rahmen der 13. Hochschulwoche der Universität des Saarlandes am 12. 2.1971 in Saarbrücken (Kurzfassung des Vortrage in: Hochschule des Saarlandes. Aus Forschung und Lehre. 1. Juni 1971, S. 18—19)

71

6. Aufgaben und Ziele des künftigen Strafvollzugs Referat im Rahmen der Vortragsreihe land e. V. am 15. 2.1971 in Heilbronn

der

Jugendhilfe

Unter84

7. Die Leistungsgesellschaft und ihre Außenseiter Referat im Rahmen der Veranstaltungen des ökumenischen Arbeitskreises Trier am 25.3.1971 in Trier

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8. Probleme deutscher Strafvollzugsgesetzgebung Referat im Strafvollzugsseminar von Professor Dr. Diethelm Kienapfel am 14.6.1971 in Linz (Österreich) 110 9. Zur Eröffnung einer Ausstellung mit Arbeiten Gefangener in der Sparkasse der Stadt Saarbrücken am 22.10.1971 in Saarbrücken Auszugsweise gesendet von der Europawelle Saar des Saarländischen Rundfunks am 26.10.1971 (Abdruck mit Genehmigung des Saarländischen Rundfunks) Veröffentlicht in: Der Weg. Vollzugsgruppenzeitschrift der Justizvollzugsanstalt Hannover, 4. Jg. (1971), Nr. 3, S. 10—12 131

8

Inhalt

10. Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität Referat anläßlich eines Wochenendseminars 23.10.1971 in Saarbrücken

für

Studenten

11. Entscheidungsrecht und Mitverantwortung im kommenden vollzugsgesetz

am 136

Straf-

Referat anläßlich einer Fortbildungstagung für Strafvollzugsbedienstete der Evangelischen Akademie Bad Boll am 27. 10. 1971 in Eßlingen 157

Abkürzungsverzeichnis AE

Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches

a. F.

alte Fassung

Art.

Artikel

BGH

Bundesgerichtshof

BSHG

Bundessozialhilfegesetz

DVollzO

Dienst- und Vollzugsordnung

EGGVG

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz

E StGB 1962

Entwurf eines Strafgesetzbuches 1962

E StVG 1927

Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes 1927

GG

Grundgesetz

GmbH

Gesellschaft mit beschränkter Haftung

IKV

Internationale Kriminalistische Vereinigung

JVerwKO

Justizverwaltungskostenordnung

OLG

Oberlandesgericht

RAO

Reichsabgabenordnung

RStGB

Reichsstrafgesetzbuch

RVO

Reichsversicherungsordnung

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozeßordnung

StRG

Strafrechtsreformgesetz

ZPO

Zivilprozeßordnung

Reform des Strafvollzugs Es gehört zum Selbstverständnis einer Strafrechtsreform, daß sie die Reform des Sanktionensystems und damit auch des Strafvollzugs einschließt. Dies kommt i n der Begründung eines Strafgesetzentwurfs zum Ausdruck, der weniger durch sein Alter als auf Grund seines Inhalts bereits Gegenstand der Rechtsgeschichte geworden ist. Wenn es i n der Begründung zum E StGB 1962 sinngemäß heißt, daß die Reform des Strafrechts erst m i t dem Erlaß eines Strafvollzugsgesetzes und der Reform des Strafvollzugs abgeschlossen ist, so w i r d damit nicht mehr und nicht weniger als das Selbstverständliche ausgesagt, daß der jeweilige Inhalt eines Strafgesetzbuchs auch die Ausgestaltung des Strafvollzugsrechts bestimmt. Das gilt u m so mehr i n einem Zeitalter, das i n zunehmendem Maße die Akzente von der Strafrechtsdogmatik h i n zur K r i m i nalpolitik — i n einem mehrfachen Sinne verstanden — verschiebt. I m Bereich der Kriminalpolitik aber verzeichnen w i r zwei Schwerpunkte: das System „ambulanter Sanktionen", zu denen ich i m weiteren Sinne auch die Geldstrafe rechnen möchte, und das System freiheitsentziehender Tatfolgen. Von deren Vollzug ist hier zu handeln. Die Reform des Strafvollzugs, die wegen des Sachzusammenhangs notwendig auch den Maßregelvollzug erfaßt, weist wiederum zwei Aspekte auf: Der eine betrifft die normative Seite des Vollzugs, d. h. dessen rechtliche Regelung. Daneben geht es — nicht minder bedeutsam — u m eine Reform der Vollzugspraxis, also eine Reform der Institution, ihrer Organisation und Struktur. Beides ist untrennbar m i t einander verbunden. So wenig etwa ein neues StGB per se einen neuen Vollzug schaffen kann, so wenig kann ein Vollzugsgesetz allein Änderung der Vollzugspraxis bewirken. Das scheinen Selbstverständlichkeiten zu sein. Indes besteht Anlaß, sich ihrer zu erinnern. Das bei uns immer noch stark verbreitete legalistische Denken neigt leicht dazu, Reformen vornehmlich für eine Sache neuer gesetzlicher Regelungen zu halten. Daraus resultiert die Gefahr, daß der reformerische Elan gerade dann versandet, wenn es gälte, aus der Norm Wirklichkeit werden zu lassen. Dies ist doppelt gefährlich auf einem Gebiet, das wie kaum ein anderes von der Rechtswirklichkeit und nicht von der Wirklichkeit des Rechts geprägt ist. Dafür gibt es plastische Belege. Das System freiheitsentziehender Maßregeln, wie es dem StGB a. F. zugrundelag, hat hinsichtlich der Vollstreckung eine weitgehend papierene Existenz ge-

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Reform des Strafvollzugs

führt. Ja, gelegentlich konnte die Vollzugspraxis noch nicht einmal m i t den Differenzierungen des Strafensystems mithalten. I n der Schweiz war, trotz einer Vorgabe von 20 Jahren, eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen. U n d für das englische Kriminalrecht stellte ein kundiger Beobachter kürzlich fest, daß seiner Reform stets die Änderung der Vollzugspraxis vorausgegangen, die Reform des Rechts also gewissermaßen ihrer Verwirklichung nachgehinkt sei. Rückwirkungen auf die normative Seite des Problems sind angesichts eines solchen Tatbestandes unausbleiblich. Von der Vollzugsreform als einer normativen Frage sprechen, heißt daher nur die eine Seite der Medaille betrachten oder, i n soziologischer Terminologie, gesellschaftliche Interdependenzen ignorieren, die gerade für das Gesamtbild typisch sind. Wenn ich mich dennoch — gleichsam unzulässigerweise — nur auf die Diskussion normativer Reformprobleme einlasse, so deshalb, w e i l die andere Seite der Medaille i n einem anschließenden Referat vorgekehrt werden soll. Freilich — ganz ohne Blick auf die Realitäten, ob anzuerkennen oder nicht, komme ich auch so nicht aus. Strafvollzugsreform, verstanden als normatives Problem, ist zuallererst ein Auftrag an den Gesetzgeber. Sie wissen, daß verschiedene A n läufe, ein Bundes- oder Reichsgesetz über den Strafvollzug zu erlassen, gescheitert sind. Weniger bekannt ist dagegen die Tatsache, daß es vor dem Inkrafttreten des RStGB i n verschiedenen deutschen, insbesondere süddeutschen Staaten Vollzugsgesetze gegeben hat. Wenn ich auf das Beispiel des badischen Gesetzes über den Männerstrafvollzug i m Zuchthaus Bruchsal von 1845 verweise, so nicht aus Gründen landsmannschaftlicher Verbundenheit, sondern w e i l es exemplarisch geworden ist für andere Vollzugsgesetze und w e i l es auf Grund der zeitlichen Distanz i n drastischer Weise demonstriert, wieweit der Gesetzgeber des sozialen Rechtsstaates formaliter hinter dem Gesetzgeber des formellrechtsstaatlichen Verfassungsstaates zurückgeblieben ist. Zu beheben wäre also zunächst das rechtsstaatliche Manko, das i m Fehlen eines Gesetzes überhaupt liegt. Mag uns insoweit das Formprinzip des 19. Jahrhunderts Vorbild sein, so hoffe ich doch, daß w i r uns hinsichtlich des Inhalts eines Vollzugsgesetzes weniger beim 19. Jahrhundert als beim 21. Rats erholen. Es mag müßig scheinen, nach den Gründen für das bisherige Scheitern der Vollzugsgesetzgebung zu fragen, nachdem heute niemand mehr ernstlich die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes bezweifelt. Indes offenbaren sie auf typische Weise die Eigenart der Materie und die Schwierigkeiten, die m i t ihrer Regelung einhergehen. Man t r i f f t den wunden Punkt genau, wenn man Strafrechts- und Strafvollzugsreform miteinander vergleicht. E i n neues StGB zu schaffen, kostet nichts als einen Stab von Experten zu finanzieren und — was allerdings nicht

Reform des Strafvollzugs

unterschätzt werden soll — ein halbwegs reformfreudiges Parlament zu wählen. Gewiß soll m i t einem neuen StGB auch Ernst gemacht werden. Aber es geht erst dann — ökonomisch — an die Haut, wenn ein Vollzugsgesetz die Umsetzung jener Normen i n Praxis verlangt. Da beim Geld bekanntlich die Gemütlichkeit aufhört, endete hier auch folgerichtig immer wieder das Reformbestreben. Der zweite Grund ist — dank der beiden Strafrechtsreformgesetze von 1969 — Geschichte geworden. Bis 1969 scheiterten Gesetzentwürfe auf dem Gebiet des Strafvollzugs auch an dem ebenso ehernen wie ehrwürdigen Prinzip, daß erst der Abschluß der Strafrechtsreform die Reform des Strafvollzugs gestatte, was, konsequent zu Ende gedacht, bedeutet, daß die Nichterledigung kriminalpolitischer Reformen auch von der Pflicht zur Strafvollzugsgesetzgebung befreit. Der dritte, heute noch gewichtige Grund liegt i n der föderalistischen Struktur unseres Staates. Die Auseinandersetzungen u m Kompetenzen von Bund und Ländern und die Eigenständigkeit der Länder sind von jeher das Ausfallstor gewesen, durch das Entwürfe von Bundesgesetzen zu entweichen drohten. Hoffen w i r , daß ein solcher Ausbruch — auf dem Gebiet des Strafvollzugs gerade verpönt — mißlingt. Qualität und Inhalt der Strafvollzugsgesetzgebung werden i n entscheidendem Maße von der Strafrechtsreform mitbestimmt, an die sie anzuknüpfen hat. Ein Vollzugsgesetz kann stets nur den durch das StGB vorgezeichneten kriminalpolitischen Rahmen inhaltlich ausfüllen, gelegentlich Korrekturen anbringen, i h n jedoch keinesfalls verändern. Die Würfel des Strafvollzugs fallen also schon i m Strafrecht. Auch diese Selbstverständlichkeit verdient erwähnt zu werden, w e i l eine Fehleinschätzung der Leistungsfähigkeit des Vollzugs und damit dessen Uberforderung verhängnisvolle Rückwirkungen auf die gesamte K r i m i n a l politik haben können. So sehr die Vollzugspraxis gehalten ist, m i t den vom Strafgesetzgeber getroffenen kriminalpolitischen Grundentscheidungen Ernst zu machen, so sehr muß sich jener darum bemühen, die Möglichkeiten des Vollzugs zu respektieren. Damit sind einige wesentliche Vorfragen des Vollzugsgesetzes berührt. Sie hier i m einzelnen zu diskutieren, würde zu weit führen. Es kann sich nur darum handeln, einige Stichworte zu geben. Innerhalb des Strafensystems geht es u m die weitere Restriktion der Freiheitsstrafe und die Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe. Letztere bedarf dank der Strafrechtsreform keiner weiteren Erörterung mehr. Die Einschränkung des Anwendungsbereichs der Freiheitsstrafe hingegen ist — leider muß man sagen — Diskussionsgegenstand geblieben. Denn die Schaffung der ultima-ratioKlausel ist nur ein begrenzter Ersatz für die Beseitigung der kurzen Freiheitsstrafe schlechthin. A u f deren Abschaffung muß jedoch beste-

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Reform des Strafvollzugs

hen, wer eine nachhaltige Entlastung des Vollzugs herbeiführen w i l l . Eine fühlbare Herabsetzung der Gefangenenzahlen ist ihrerseits eine wesentliche Voraussetzung für eine durchgreifende Vollzugsreform. Die Ansicht, eine solche Reform ließe sich i n absehbarer Zeit m i t leicht reduzierten Gefangenenzahlen — statt der 50 000 etwa 45 000 — durchführen, verkennt die Realitäten. Auch bei vermehrtem Einsatz öffentlicher M i t t e l für den Strafvollzug w i r d es künftig nicht möglich sein, die erforderlichen personellen und baulichen Voraussetzungen für eine derartige Anzahl von Gefangenen zu schaffen. Überdies sind der Erweiterung des Haushalts Einnahme- und Prioritätsgrenzen gesetzt. Die Strafvollzugsreform steht und fällt also — wenigstens teilweise — m i t einer befriedigenden Lösung des Massenproblems. Auch hierfür gibt es Belege. Die Modernisierung des schwedischen Strafvollzugs ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, daß das Land m i t relativ kleinen Gefangenenzahlen operieren kann. Aufwendige Experimente i n Holland sind u. a. möglich, w e i l auf eine Einwohnerzahl von ca. 13 Millionen lediglich 1500 Gefangene kommen. Ein Vergleich m i t der Bundesrepublik, der freilich wegen andersartiger gesellschaftlicher Bedingungen problematisch wäre, dürfte schon gar nicht erst zu Ende gedacht werden: Er ergäbe für uns eine Sollzahl von 7500 Gefangenen. Aber unabhängig davon ist die Forderung aufrechtzuerhalten, daß eine fühlbare Entlastung des Vollzugs i m unteren B-ereich herbeigeführt werden muß. Neben der Einschränkung (oder Abschaffung) der kurzen Freiheitsstrafe stellt die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung zur Bewährung ein geeignetes M i t t e l dar. Korrekturen durch Abkürzung mittel- und langfristiger Strafen sind jedoch nur begrenzt möglich. Das lehrt ζ. B. die Entwicklung i n England. Dort hat man die Gefangenenzahlen durch Einführung der vorzeitigen Entlassung schon nach Verbüßung eines Drittels der Strafe — mindestens 12 Monate — drastisch zu reduzieren geglaubt. Aber die Erwartung, die Neuregelung durch den Criminal Justice Act von 1967 würde insoweit eine entscheidende Wende heraufführen, hat getrogen. Tatsächlich beläuft sich die Zahl der Gefangenen immer noch auf 35 000. Die Verminderung der Gefangenenzahlen ist, wie die Diskussion der letzten Jahre gezeigt hat, nicht nur als Lösung des vollzugsimmanenten Massenproblems zu verstehen. I n ihr spiegelt sich auch die grundsätzliche Skepsis gegenüber der kriminalprophylaktischen W i r k u n g des Freiheitsentzugs überhaupt. A n dieser Problematik ist aber nach den vorliegenden psychologischen und insbesondere soziologischen Gefängnisuntersuchungen nicht mehr vorbeizukommen. Da wirksame Palliative gegen die rezidivierenden Wirkungen der Freiheitsstrafe noch nicht gefunden sind, bietet sich auch insoweit — wenigstens als Ver-

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besserung des gegenwärtigen Zustandes — die Einschränkung des A n wendungsbereichs dieser Straf art an. Ein weiterer, von Theorie und Praxis noch nicht zureichend gelöster Problemkreis stellt der diffuse Grenzbereich zwischen Strafe und Maßregel dar. Dahinter verbirgt sich natürlich die grundsätzlichere Fragestellung hinsichtlich des Verhältnisses beider Sanktionsarten zueinander überhaupt. Sie kann hier aus Zeitgründen nur angedeutet werden. Vom Vollzug aus erscheint das System des Vikariierens allein richtig. Denn für den Vollzug kann die Frage immer nur lauten, i n welcher A n stalt welcher Täter m i t größtmöglichem Erfolg behandelt werden kann. Hält man z.B. dafür, daß eine therapeutische Maßregel indiziert ist, sollte sie vollstreckt und auf die Strafe angerechnet werden. Es mag sein, daß i n Einzelfällen eine anschließende Strafvollstreckung noch Sinn hat; grundsätzlich w i r d man dies jedoch verneinen müssen. Kein verantwortlicher Vollzugsgesetzgeber w i r d es gutheißen können, wenn aus dogmatischen Erwägungen Abstriche am Prinzip vernünftiger Menschenbehandlung gemacht werden müssen. Damit scheint m i r auch die A n t w o r t auf die Frage vorgezeichnet, was mit dem vielberufenen gefährlichen Täter geschehen soll. Das bisherige Festhalten am Institut der Sicherungsverwahrung (oder Sicherungsanstalt) ist problematisch. Daß es i n jedem Fall Anstalten m i t „maximum security" geben muß, steht wohl außer Zweifel. Aber unbeschadet notwendiger Sicherheitsvorkehrungen kann doch Sinn des Vollzugs auch i n solchen Anstalten nur sein, die zugegebenermaßen schmale Chance einer Resozialisierung zu nutzen. Der zusätzliche Sinn von Sicherungsanstalten könnte dann aber nur i n der Präventivwirkung zeitlich unbefristeten Freiheitsentzugs liegen. Diese Wirkung läßt sich jedoch unschwer m i t der Einführung der (relativ) unbestimmten Strafe erzielen. Dadurch könnte das ohnedies komplizierte und kostspielige Maßregelsystem etwas vereinfacht und das seit jeher problematische Verhältnis von Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung entschärft werden. Ohnedies geht, wenn insoweit überhaupt Prognosen möglich sind, der Trend i n Richtung auf Annäherung von Strafe und Maßregel. Ich darf daran erinnern, daß man vielfach schon i n dem durch § 65 neu eingeführten Institut der sozialtherapeutischen Anstalt den Vorläufer einer allgemeinen Entwicklung i m Strafvollzug erblickt. Hierzu scheint noch ein Wort am Platze. Die Diskussion über die sozialtherapeutische Anstalt ist, wie auch die Tagung der Kriminologischen Gesellschaft (1969) ergab, durch Vorbehalte verschiedenster A r t vorbelastet. Sie gelten einmal der Finanzierung, dann den Erfolgschancen einer solchen Einrichtung. Die Frage nach den Kosten ist derzeit w o h l kaum zu beantworten; denn es nützt wenig zu wissen, was ein Insasse kostet, wenn man nicht abschätzen kann, wie sich die Regelung

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der Einweisungsvoraussetzungen i n § 65 zahlenmäßig auswirken wird. Hinsichtlich der Erfolgschancen sind gleichfalls verläßliche Voraussagen unmöglich. Den Erfolg oder Mißerfolg einer Behandlung kann man nur — wenn überhaupt — messen, wenn sie tatsächlich praktiziert wird. Dies ist bisher bei uns kaum geschehen. Von Herstedvester liegen uns günstige Zahlen vor; von Horsens und Utrecht w i r d Unterschiedliches berichtet. Aber selbst wenn die dänischen und holländischen Daten repräsentativ wären für den dortigen Vollzug, bliebe die Frage nach ihrer Ubertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse und auch danach, ob hier die gleiche Therapie auf ähnlich strukturierte Insassen angewendet würde. U m es etwas hart zu formulieren: Sicher ist da gar nichts. Dennoch hege ich nicht den mindesten Zweifel daran, daß dieses Experiment einmal unternommen werden muß. Es könnte — bei positivem Verlauf — zum Einfallstor für neue, effektivere Behandlungsmethoden i m Strafvollzug überhaupt werden. Das Risiko ist wohl abschätzbar: Ungünstigstenfalls würde das Experiment lediglich zur Verbesserung des Klimas i n der Anstalt beitragen, aber nichts Entscheidendes an der Rückfallstatistik ändern. Daß diese aber einen negativen Verlauf nehmen würde, haben selbst die K r i t i k e r der sozialtherapeutischen Anstalt bisher nicht behauptet. Daß ich relativ viel Zeit auf die Erörterung von Vorfragen des Vollzugs verwendet habe, hat seinen guten Grund. Schon eingangs habe ich erwähnt, daß man i m Vollzug auf Schritt und T r i t t den Grenzen begegnet, die i h m das StGB zieht, oder auf die Möglichkeiten stößt, die i h m das StGB eröffnet. I n einem ähnlichen Verhältnis stehen der Vollzug bzw. das Strafvollzugsgesetz zur Verfassung. Hier haben w i r es — noch stärker als i m Bereich der Kriminalpolitik — m i t normativen Entscheidungen zu tun, die dem Vollzugsrecht vorausliegen und von i h m nicht korrigiert werden können. Ich möchte mich insoweit gleichfalls auf wenige Stichworte beschränken. Das GG steckt den Rahmen eines Bundesstrafvollzugsgesetzes bekanntlich wie folgt ab: Formell dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zugehörig (Art. 74 Ziff. 1), kann das Vollzugsgesetz die Materie unbeschadet der Zuständigkeit der Länder zur Ausführung regeln. Inhaltlich w i r d das Bundesvollzugsgesetz sich an drei maßgebenden Verfassungsprinzipien orientieren müssen: dem Rechtsstaats-, dem Sozialstaats- und dem Bundesstaatsprinzip. Dabei stellt es schon einen Vorgriff auf das Verfassungsverständnis dar, ob man Rechts- und Sozialstaatsprinzip voneinander unterscheidet. Wie immer man das Verhältnis dieser beiden Prinzipien zueinander bestimmen mag, sie lassen sich, auf den Strafvollzug bezogen, deutlich akzentuieren. Die rechtsstaatliche Komponente markiert die Grenzen, die das GG dem Staat, also der Vollzugsbehörde, gegenüber dem Gefangenen zieht.

Reform des Strafvollzugs

Sie soll typische Gefährdungen des verfassungsrechtlich geschützten Personbereichs abwehren. I n traditionellem Verständnis heißt dies Begrenzung der Befugnisse, die der Strafvollzug qua Eingriffsverwaltung gegenüber dem Gefangenen hat. Ihr entspricht i n solcher Sicht die fürsorgende Tätigkeit der Vollzugsbehörde qua Leistungsverwaltung. Das Sozialstaatsprinzip, vor allem als Auftrag an den Gesetzgeber verstanden, verpflichtet den Staat zu sozialer Hilfe insbesondere gegenüber den sozial Schwachen, worunter als zu den Randgruppen, Außenseitern und „Unterprivilegierten" zählend auch und gerade die Gefangenen gerechnet werden müssen. Die Verbindung beider Verfassungsprinzipien spiegelt sich i n dem komplexen Gefüge der Rechtsstellung des Gefangenen, die — i n Abkehr von der liberal-rechtsstaatlichen Sicht — nicht nur vom negativen Abwehrstatus konstituiert wird, sondern auch vom positiven Sozialstatus, i n den Pflichten und Rechte des Staates wie des Gefangenen gleichermaßen eingehen. Die Konsequenzen dieses Verfassungsverständnisses lassen sich besonders auf straf theoretischer Ebene demonstrieren: E i n Strafvollzugsgesetz, das auf dem Vergeltungsprinzip fußt, kann und muß sich auf die Normierung der staatlichen Eingriffsbefugnisse beschränken; was der i m übrigen sich selbst überlassene Gefangene aus seiner Strafe macht, ist seine Sache. Ein Vollzugsgesetz hingegen, das gerade die soziale Integration des Gefangenen aus dem durchaus gesellschaftsegoistischen Motiv der Rückfallprophylaxe anstrebt, kann bei einer solchen Grenzziehung nicht stehenbleiben. Ebenso wie es vom Staat sozialstabilisierende Maßnahmen verlangen muß, w i r d es vom Gefangenen selbst einen Beitrag zu seiner Sozialisierung erwarten dürfen. Freilich soll die darin liegende Problematik nicht unterschlagen werden: Die aus dem GG abgeleitete Formel der sozialen Integration kann das reale Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Zwang i m Strafvollzug nicht aufheben. Die Grenzen jener Formel werden sichtbar, wenn die notwendige Mitarbeit des Gefangenen — aus welchen Gründen auch immer — ausbleibt. Daß Resozialisierung nicht erzwungen werden kann, ist eine Binsenweisheit. Das Positivum der Formel besteht aber darin, daß — ihre Konkretisierung vorausgesetzt — jene Möglichkeiten sozialer Hilfe und Förderung geschaffen werden, die heute i m Vollzug vielfach noch fehlen und immer noch seinen Stand dem eines Entwicklungslandes vergleichbar erscheinen lassen. Demgegenüber t r i t t das dritte Verfassungsprinzip i n seiner Bedeutung zurück. Man mag bedauern, daß dem Bund keine Zuständigkeit auf dem Gebiet der Strafvollzugsverwaltung eingeräumt ist. Daß sich die Länderkompetenzen i m Bereich der Differenzierung der Anstalten und Klassifizierung der Gefangenen besonders verhängnisvoll auswirken, bedarf keiner Erörterung. Kleinere Länder sind eben faktisch 2 Müller-Dietz

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Reform des Strafvollzugs

nicht i n der Lage, einen Verfassung und Strafgesetzbuch genügenden Strafvollzug zu schaffen. Hier kann außer einer Verfassungsänderung — über deren Chance ich nicht urteilen möchte — nur der Zusammenschluß zu Vollzugsgemeinschaften helfen. Das Vollzugsgesetz braucht dies noch nicht einmal zwingend vorzuschreiben; es genügt durchaus, wenn entsprechender Zwang von der richterlichen Kontrolle des Vollzugs ausgeht. Daß die Rechtsprechung einen gewichtigen Beitrag zur Herstellung gesetzlicher Verhältnisse i m Strafvollzug leisten kann, hat sich wiederholt gezeigt. Ich darf nur an die Entscheidungen des OLG Saarbrücken zum Problem der Glaubensfreiheit, des OLG Bremen zur Frage der Informationsfreiheit und des OLG Hamm zur Menschenwürde i m Vollzug erinnern. Sie sind freilich nur einige wenige Lichtblicke i n der Düsternis institutions- und anstaltsrechtlichen Denkens, das mittels der Leerformel vom besonderen Gewaltverhältnis den Status quo faktisch zum Endziel der Strafvollzugsreform erhebt. Darüber ein Wort zu sagen, scheint m i r u m so nötiger, als immer wieder die Uberzeugung anzutreffen ist, daß sich die §§ 23 ff. EG GVG i n der Praxis bewährt haben. N u n kann sicher kein Zweifel daran bestehen, daß diese Vorschriften zur Beruhigung des formellrechtsstaatlichen Gewissens beigetragen haben. Daß jede Vollzugsmaßnahme gerichtlich überprüfbar ist, entspricht dem Verfassungsgebot des A r t . 19 Abs. 4 GG. Aber die Frage ist doch, wie sich das Vollzugsrecht i n der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte darstellt, was diese aus den fragmentarischen Vollzugsnormen des StGB, den Vorschriften der DVollzO gemacht hat, und vor allem, von welchem Verfassungsverständnis sie ausgeht. Hiernach legitimieren sich alle staatlichen Eingriffe am Zweck und Sinn des besonderen Gewaltverhältnisses. Dieses fungiert gleichsam als Begründungs- und Begrenzungsnorm. Alles hängt dann davon ab, was die vielzitierte Zauberformel vom besonderen Gewaltverhältnis hergibt. Befragt man die Rechtsprechung hierüber, so erfährt man relativ wenig. I m Grunde setzt sich hier der straftheoretische Eklektizismus fort, der aus der Strafrechtsdoktrin sattsam bekannt ist. Wie ein Strafvollzug beschaffen sein soll, der gleichzeitig die Zwecke der Vergeltung, Sühne, Abschreckung (in ihren verschiedenen Spielarten), Besserung, Erziehung, Wiedergutmachung und Resozialisierung zu verfolgen hat, ist schwer zu ergründen. Die Behauptung fällt leicht, daß es einen solchen Strafvollzug überhaupt nicht gibt. Etliche Entscheidungen registrieren i h n indes gerade als institutionelle Grundlage für das, was der Vollzugsbehörde erlaubt oder dem Gefangenen verboten sein soll. Eine Rechnung auf der Basis eines derartigen additiven Verfahrens kann nicht aufgehen; und dementsprechend leistet der Begriff des besonderen Gewaltverhältnisses auch nicht mehr als das, was man

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ohnehin schon weiß: daß die Rechtsstellung des Gefangenen i n manchem von der des freien Staatsbürgers differiert. Worin und i n welchem Maße sie sich von der des freien Bürgers unterscheidet — das gerade ist die Frage, die man gerne beantwortet wissen möchte. Die A n t w o r t darauf können aber nur die Verfassung und das Strafvollzugsgesetz selbst geben, das i m Einklang m i t dem GG die Differenzen markieren muß. Die These, daß der Strafvollzug i m GG institutionalisiert sei, ergibt nichts für die Beantwortung der Frage, wie er inhaltlich auszusehen hat. Aus dem GG ist allenfalls abzuleiten, daß er i m Freiheitsentzug besteht. Ob und inwieweit es sonstige Schranken der Grundrechte i m Vollzug gibt, kann nur ein Vollzugsgesetz auf der Grundlage verfassungsrechtlicher Gesetzesvorbehalte sagen. Daß dabei die Wesensgehaltssperre des A r t . 19 Abs. 2 GG zu beachten ist, versteht sich von selbst. Auf die Problematik, die sich hinsichtlich der Einschränkung solcher Grundrechte ergibt, die nicht mit einem Gesetzesvorbehalt versehen sind, soll lediglich hingewiesen werden. Sieht man von diesen verfassungsrechtlichen Fragen ab, so w i r d das Vollzugsgesetz i n entscheidendem Maße von dem Bilde bestimmt werden, das sich der Vollzugsgesetzgeber vom künftigen Strafvollzug macht. Er kann sich am Status quo orientieren, wie er i n gewisser Weise i n der DVollzO zum Ausdruck kommt. Er kann sich aber auch von dem Bestreben leiten lassen, die gesetzliche Regelung auf einen andersartig strukturierten Vollzug, der sukzessive zu schaffen wäre, abzustellen. Dies mag an einem Beispiel deutlich werden. Die DVollzO und das österreichische Strafvollzugsgesetz von 1969 fußen grundsätzlich auf den Gedanken der A b - und Einschließung des Gefangenen. Darauf lassen sich zahlreiche Einzelregelungen unmittelbar zurückführen. Dementsprechend stellen Lockerungen des Vollzugs oder gar offener V o l l zug Ausnahmen dar. Vorstellbar wäre aber auch ein Vollzug, bei dem dieses Regel-Ausnahmeverhältnis umgekehrt ist. Daß sich dann die Schwerpunkte der rechtlichen Normierung verschieben, ist offensichtlich. Zweifellos handelt sich es sich hierbei u m eine radikale Alternative. Daß Zwischenlösungen denkbar sind, zeigen die Beratungen der Strafvollzugskommission. Ihre Vorstellung vom Vollzug deckt sich augenscheinlich nicht m i t der Konzeption der DVollzO. Wenn von einer Konzeption der Kommission selbst die Rede sein kann, dann allenfalls i n dem Sinne, daß sie „behandlungsfreudigere" und „freiere" Regelungen anstrebt, die auf dem Grundgedanken der Eingliederung des Gefangenen (Sozialisaüon) basieren. E i n geschlossenes, bis i n alle Einzelheiten durchdachtes Konzept zur Grundlage eines Strafvollzugsgesetzes zu machen, begegnet mehreren Schwierigkeiten. Zunächst einmal befindet sich der Strafvollzug „ i m Ubergang" (Schüler-Springorum); er ist i n einer Entwicklungsphase be2*

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griffen, die die Umrisse seiner künftigen Struktur nur vage erkennen läßt. Schlagwortartig formuliert, sind Tendenzen i n Richtung auf die Herausbildung freierer, insbesondere offener Vollzugsformen und die Entstehung einer „therapeutischen Gemeinschaft" zu konstatieren. Aber während der offene Vollzug auf alle Anstaltstypen ausgedehnt werden soll, bleibt die „therapeutische Gemeinschaft" vorerst der sozialtherapeutischen Anstalt reserviert. Daß w i r uns hier noch auf einem Gebiet voller Unsicherheiten, Vorbehalte, ja gelegentlich Ressentiments bewegen, kommt nicht von ungefähr. Darin spiegelt sich der gegenwärtige Stand der Institutionen- und Behandlungsforschung selbst, die sich erst mühsam vortasten muß, u m Boden unter die Füße zu bekommen. Gerade die Diskussion über die sozialtherapeutische Anstalt hat ergeben, wie weit w i r noch von konkreten Vorstellungen über Behandlungsmethoden und -möglichkeiten entfernt sind. Daß sich dieser Sachverhalt bei der Gesetzgebung niederschlägt, ist zwangsläufig. Das Vollzugsgesetz muß deshalb Raum geben für weitere Entwicklungen, darf sie nicht blockieren. Spannungen zwischen dem rechtsstaatlichen Gebot der Klarheit und Eindeutigkeit und dem pönologischen Zwang zur „Offenheit" des Gesetzes können daher nicht ausbleiben. Einen weiteren Aspekt bildet die gewandelte Auffassung vom Gesetz selbst. Die Zeit der großen Kodifikationen ist vorüber, der Gedanke abschließender Regelung eines Rechtsgebiets gehört der Rechtsgeschichte an. Man hat sich m i t der Vorstellung befreunden können, daß Gesetze „fragmentarisch" sind, daß Gesetzeslücken nicht notwendig ein Mangel, sondern unter Umständen auch ein Vorzug sein können. Das gilt i n besonderem Maße für Gesetze, die nicht den Status quo stabilisieren helfen, sondern praktische Reformen vorbereiten, ja gerade initiieren sollen. Ein „Gesetz der Reform", u m das es i m Vollzug allein gehen kann, muß Wege weisen, Ziele abstecken, gleichsam normativ ein Stück Zukunft i n die empirische Gegenwart hereinholen wollen. Das kann sogar bedeuten, daß es dem gegenwärtigen Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit voraus ist, u m das Recht auf die Stufe anzuheben, die allein dem Stande des gesellschaftlichen Fortschritts angemessen erscheint. Gesetze, die lediglich die aktuelle rechtspolitische Situation reflektieren — und dafür ist der E StGB 1962 ein eindrucksvolles Beispiel —, haben kaum Chancen über den Tag hinaus; sie werden schneller von der wissenschaftlichen und sozialen Entwicklung überholt, als für eine Reform überhaupt gut sein kann. Das bedeutet freilich nicht, daß ein „Gesetz der Reform" von Revisionen verschont bliebe: Jus semper reformandum. Hinter dem beschriebenen Reformcharakter eines Vollzugsgesetzes verbirgt sich die „List der Vernunft", die darin besteht, die Autorität der Norm zu nutzen zugunsten von Entwicklungen, die ohne Rechts-

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zwang schwerer oder überhaupt nicht herbeizuführen wären. A n sätze i n dieser Richtung enthält auch das neue Strafrecht. Wenn § 65 auf die Behandlungsmöglichkeiten der sozialtherapeutischen Anstalt verweist, so heißt das nicht, daß die Therapierbarkeit eines Verurteilten nur am gegenwärtigen therapeutischen Wissen zu messen ist, sondern daß dieses ständig erweitert werden muß, u m auch die Behandlungsmöglichkeiten zu verändern. Allzulange war i m Strafvollzug die Vorstellung vorherrschend, die Erziehbarkeit oder Resozialisierbarkeit eines Gefangenen hänge allein von dessen Persönlichkeit ab. Daß die Anstalt selbst, ihre Struktur und ihre Behandlungsformen wesentliche Momente i n dem komplexen System wirksamer Faktoren bilden, steht heute außer Diskussion. Ob und inwieweit Sozialisation i m Strafvollzug gelingen kann, ist nicht nur eine Frage der Persönlichkeit des Gefangenen, ihrer besonderen charakterologischen Merkmale, Attitüden und ihres spezifischen kriminellen Syndroms, sondern nicht zuletzt der Behandlungsmöglichkeiten und therapeutischen Eignung der Vollzugsanstalt selbst. Aus diesen verschiedenartigen Überlegungen resultiert, daß das Vollzugsgesetz lediglich das rechts- und sozialstaatliche M i n i m u m an Regelung und Planung enthalten sollte. Man sollte sich vor dem problematischen Bestreben der DVollzO und etwa der französischen Vollzugsordnung hüten, alles und jedes reglementieren zu wollen. Der Anschein an Rechtsstaatlichkeit, den solche Regelungen hervorrufen, trügt. Denn bei Licht besehen, lösen sich zahlreiche dieser Vorschriften i n Ermessens· und Kannbestimmungen auf, deren Substanz i n der Selbstverständlichkeit besteht, daß eben vom Ermessen pflichtgemäßer Gebrauch zu machen ist. Da gegenteilige Ermessensausübung kein Gesetz vorschreiben könnte, bleibt die Frage nach dem Nutzen solcher Vorschriften. Das Vollzugsgesetz sollte sich daher auf Rahmenregelungen beschränken, die etwa durch eine Rechtsverordnung und vor allem durch Verwaltungsvorschriften auszufüllen wären. Aber auch auf rangniederer Ebene ist Ökonomie erstes Gebot der Weisheit. So verständlich der Wunsch des Vollzugsbeamten sein mag, stets „durch Vorschriften gedeckt zu sein", so verhängnisvoll w i r k t es sich i n der Praxis aus, wenn solchen Bestrebungen entsprochen wird. Die Kehrseite detaillierter Regelung ist der Dienst nach Vorschrift. Geschieht nur das, was zwingend vorgeschrieben ist, ist der Resozialisierungsvollzug am Ende. Nichts ist tödlicher für sozialpädagogische Intention als ein bürokratisierter Betrieb. Wenn irgendwo, dann muß i m Strafvollzug Parkinsons Gesetz außer K r a f t gesetzt werden. Denn hier entscheidet nicht die Qualität der Aktenführung, sondern der sinnvolle Umgang mit Menschen. Der Beamte muß deshalb ermutigt werden, Neues zu erproben, sich etwas einfallen zu lassen. Der Spielraum, der i h m dafür gewährt

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werden muß, ist der rechtsstaatliche Preis, ohne den Sozialpädagogik nicht zu haben ist. Schon vor knapp 40 Jahren hat Grünhut von der „pädagogischen Grenze der Grundrechte" gesprochen. Damit sind w i r bei den eigentlichen vollzugspolitischen Prinzipien, die i n eine künftige gesetzliche Regelung eingehen müssen. Ich habe dafür vor kurzem die Stichworte Humanisierung, Sozialisierung und Rationalisierung genannt. U m m i t dem letzteren, obgleich untergeordneter Natur, zu beginnen: Rationalisierung meint nicht nur, was selbstverständlich ist, ökonomischen Gebrauch der Freiheitsstrafe (im k r i m i nalpolitischen Bereich), sondern für die Ausgestaltung des Vollzugs selbst ein Höchstmaß an Konzentration auf die i h m eigentlich gestellte Aufgabe der Sozialisation des Täters und damit — negativ — Abbau der leidigen Verwaltungsarbeit, durch die gerade das Behandlungspersonal so enorm belastet wird, auf das unerläßliche Maß. Der Leerlauf des Berichtswesens ist kein hinreichendes Äquivalent für mangelnde Behandlung der Gefangenen. Damit ist der zweite, weitaus wesentlichere Aspekt der Sozialisation angesprochen. Wenn der Strafvollzug überhaupt eine Legitimation vorweisen kann, dann die, die Voraussetzungen für die soziale Eingliederung des Gefangenen zu schaffen. Der Vollzug kann und muß — unbeschadet der rechtsphilosophisch, weltanschaulich und ideologisch vorbelasteten Diskussion über die Strafzwecke — seine Zielsetzung eigenständig bestimmen. Die erfreuliche Übereinstimmung des A E und der Strafvollzugskommission zeugt von einem Bewußtseinswandel, der wenigstens normativ einen Markstein i n der Entwicklung des Vollzugs setzen kann. Rechtverstandenes Minimalziel muß es sein, den Gefangenen zur Führung eines gesetzmäßigen Lebens zu befähigen. Der Vollzug hat seinen Zweck erfüllt, wenn der Täter nicht mehr rückfällig wird. Geschieht dies aus innerer Überzeugung, so ist das gewiß begrüßenswert; notwendig ist es nicht. Denn auch beim freien Bürger fahndet das S traf recht nicht nach den Motiven seines gesetzmäßigen Verhaltens. Legalitätsbewährung mag eine brauchbare Vokabel für diesen Vorgang sein. Hingegen könnte ich mich mit der i n nordischen Ländern vielfach gebräuchlichen Wendung von der „Anpassung an das soziale Leben" nicht befreunden, weil ihr — zumindest i n soziologischer Sicht — ein problematisches Verständnis anhaftet. Denn der Begriff der Anpassung müßte sich daraufhin befragen lassen, ob er denn die Istwerte oder die Sollwerte einer wie immer zu definierenden Gesellschaft meint. Dies berührt den dritten Aspekt, u m den es i m Vollzug gehen muß. Humanisierung ist uns ein sowohl kulturgeschichtlich als auch kriminalpolitisch vertrauter Begriff, auf den der künftige Vollzug zu bringen wäre. Wie alle Termini, die wissenschaftlich nicht eindeutig fixiert sind,

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führt er freilich ideologische Fracht m i t sich. I n einem trivialen Sinn mag durchaus zutreffen, daß w i r einen weitgehend humanen Vollzug haben. Aber die Vor- und Fürsorge für die physische Existenz des Gefangenen und die Abschaffung der Körperstrafen repräsentieren allenfalls ein unkritisches Verständnis von Humanität. Wenn Sozialisation nur unter den allgemeinmenschlicher Lebensweise eigenen sozialen und anthropologischen Bedingungen gelingen kann, wenn auch die „Ersatzsozialisation" (Schüler-Springorum) sich an ihrem Vorbild orientieren muß, müssen diese Bedingungen so weit wie möglich geschaffen werden. M i t anderen Worten: der Freiheitsentzug muß i n einer Weise praktiziert werden, die den Lebensformen der freien Gesellschaft angenähert ist. Völlige Angleichung ist, das versteht sich von selbst, ohnedies nicht möglich. E i n zweites Mißverständnis kann seine Herkunft aus der „ l i n gua tertii imperii" nicht verleugnen und bezieht aus dieser einen Inhalt, der wissenschaftlich nur m i t ideologiekritischen Kategorien zu fassen ist. Die Rede von der „Knochenerweichung des Strafrechts" oder V o l l zugs assoziiert nicht umsonst den Spruch von den „morschen Knochen", die man zittern machen w i l l ; und dabei handelt es sich, wie man inzwischen weiß, nicht nur u m Kriminelle. Man sollte solche Vokabeln streichen, u m sich nicht dem Verdacht auszusetzen, daß man Spekulation auf atavistische Instinkte m i t Kriminalpolitik verwechselt. Ein humaner Strafvollzug basiert gerade auf dem Appell an die Verantwortung und Mitarbeit des Gefangenen, w e i l jegliches gesellschaftliches Zusammenleben auf Mitmenschlichkeit und Solidiarität angewiesen ist.

Ziel und Methoden des modernen Strafvollzugs „Strafvollzug: Institution i m Wandel" lautet der Titel eines neuen Buches. Er umschreibt kürzer und prägnanter die heutige Lage des Strafvollzugs, als lange Abhandlungen dies zu t u n vermöchten. Freilich scheint eine solche Kurzformel sachlich kaum Neues zu bieten. Denn allenthalben bahnen sich i n der Gesellschaft Veränderungen an und bringen „Theorien des sozialen Wandels" hervor. Institutionen, Normen und Wertsysteme werden diskutiert, kritisch befragt, gelegentlich durch neue ersetzt. Dabei variieren Beschreibung und Deutung der Phänomene zugleich. A l l e i n die Vielzahl von verschiedenartigen Formeln, auf die man jeweils die heutige Gesellschaftsverfassung zu bringen sucht, kennzeichnet den Pluralismus der Hypothesen und Perspektiven. I n Wahrheit stehen Begriffe wie „Leistungsgesellschaft", „Konsumgesellschaft" , „Freizeitgesellschaft", „Bildungsgesellschaft" für je besondere Charakteristika der Gegenwartsgesellschaft, bezeichnen bestimmte Trends i n polyphoner Instrumentierung, lassen sich also nicht i m Sinne einer Totalbeschreibung und -deutung gebrauchen. Anders mag es u m den Antagonismus von „fortgeschrittener Industriegesellschaft" und „spätkapitalistischer Gesellschaft" bestellt sein, der aus gegensätzlichen sozialphilosophischen und sozioökonomischen Betrachtungsweisen die wesentlichen Merkmale unserer heutigen Gesellschaft einzufangen beansprucht. Wie dem i m einzelnen auch immer sein mag — die Vorstellung, daß w i r i n einer Gesellschaft rapiden Wandels leben, gehört zum unangefochtenen Selbstverständnis der Gegenwart. Von daher ist der Schritt bis zu der Schlußfolgerung nicht weit, daß auch der Strafvollzug als eine Institution dieser unserer Gesellschaft an den Veränderungen der Moderne partizipiert. Indes klingt dies selbstverständlicher, als es tatsächlich ist. Wer die baulichen Verhältnisse mancher Strafanstalten, die Innenausstattung mancher Zellen und die Struktur mancher Arbeitsbetriebe aufmerksam registriert, w i r d sich bei unbefangener Betrachtung an das 19. Jahrhundert erinnert fühlen. Gelegentlich scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Dies gilt trotz mannigfacher Veränderungen, die sich i m Strafvollzug der letzten Jahre ereignet und das soeben skizzierte B i l d korrigiert haben. Jene Beschreibung t r i f f t vor allem auf die aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Anstalten zu, die nach der Strahlenbauweise des pennsylvanischen Systems, also nach einer längst Geschichte gewor-

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denen Vollzugskonzeption errichtet worden sind und heute immer noch Verwendung finden müssen. I n ihnen hat jene Vorstellung architektonisch Gestalt gewonnen, die durch hermetische Abschließung, Isolierung des Gefangenen von der Um- und Außenwelt auf i h n bessernd einwirken zu können glaubte. Sicherheit und Ordnung haben auf dieser Grundlage, wenn nicht als theoretische Axiome, so doch jedenfalls faktisch bestimmende Bedeutung erlangt und damit das B i l d des Vollzugs weitgehend geprägt. Vielfach hat sich der Ordnungsfaktor zu einer selbständigen Entscheidungs- und Handlungsmaxime verdichtet, an der sich das Strafvollzugspersonal orientierte. Zweifellos wurde diese Entwicklung nicht nur von der Uberzeugung getragen, daß der Erziehung des Gefangenen zu geordnetem Verhalten überragendes Gewicht i m Hinblick auf seine Besserung zukomme; vielmehr wurde sie wesentlich durch die Entstehung großer Anstalten und die Überbelegung vieler Anstalten begünstigt, die die Einhaltung der Ordnung zwangsläufig zum obersten Behandlungsgrundsatz erheben mußten. Inzwischen sind w i r eines Besseren belehrt worden. Sie kennen das vielzitierte Wort vom „steingewordenen Riesenirrtum" (Eb. Schmidt). Es hat uns den Abschied von einer verfehlten Vollzugskonzeption erleichtert, aber damit noch nicht den Weg i n die Zukunft geebnet. Denn w i r sind, um ein bekanntes Wort von Klaus Mann zu variieren, alle „Kinder unserer Zeit", haben darum Anteil an deren Leistungen und Irrtümern, Erkenntnissen und Fehlvorstellungen. So ist auch die jeweilige Auffassung von dem, was Strafvollzug leisten kann und soll, eingebettet i n aktuelle kriminalpolitische und — mehr noch — allgemeine zeitgebundene Anschauungen und Strömungen. Deshalb ist es durchaus nützlich, ja notwendig, von Zeit zu Zeit an Hand solcher Vorstellungen eine „Ortsbestimmung des Strafvollzugs" zu versuchen, um seines gegenwärtigen Standorts und seiner heutigen Zielsetzung inne zu werden. I n diesen Rahmen gehört gerade eine kritische Überprüfung der überlieferten Vollzugspraxis und ihrer theoretischen Grundlegung. Insofern geht es bei solchen Gegenüberstellungen nie u m bloße historische Reminiszenzen, sondern zugleich u m die Frage nach dem Selbstverständnis des gegenwärtigen und künftigen Vollzugs. Daß w i r nach einer neuen Antwort suchen müssen, lehren die Erfahrungen m i t dem bisherigen Vollzug, die Ergebnisse humanwissenschaftlicher Forschung und die gesellschaftlichen Veränderungen, die w i r erleben. Sie geben dem Zweifel daran, daß was alt ist, darum schon bewährt sei, ebenso Raum wie der kritischen Erkenntnis, daß was neu ist, nicht schon deshalb Anerkennung verdiene. Die Einsicht ist i m Wachsen begriffen, daß w i r alle an einem lebenslangen sozialen Lernprozeß teilhaben, der uns zu einer ständigen Auseinandersetzung m i t unserer Umwelt und ihrem Wandel zwingt. So dürfen w i r uns nicht allein auf ein-

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mal gewonnene Erfahrungen und tradierte Dogmen verlassen, wenn w i r das Leben verantwortlich und d. h. zugleich kritisch bestehen wollen. Das ist kein Aufruf zu Bilderstürmerei, keine Empfehlung der Bindungslosigkeit, sondern nur die schlichte Mahnung, die biedermeierlichen Götter der Gewohnheit und Bequemlichkeit, denen zu opfern i n der heutigen Gesellschaft ein gefährlicher Luxus ist, vom Throne zu stoßen. Selbstzufriedenheit ist allzu leicht das Empfinden derer, die allen Anlaß hätten, m i t sich unzufrieden zu sein. Daß w i r solchen Anlaß auf dem Gebiet des Strafvollzugs — freilich auch i n anderen gesellschaftlichen Bereichen — haben, scheut man sich heute fast auszusprechen. Es ist zur bloßen Banalität her abgesunken. Die Rede von der Strafvollzugsreform geht uns allzuleicht von den Lippen, ebenso wie uns der häufige Gebrauch der Vokabel „Resozialisierung" allmählich i n die Gefahr bringt, als Vollzugswirklichkeit anzusehen, was erst noch werden soll. Wer m i t pseudologistischen Betrügern zu t u n hat, ist m i t der erstaunlichen Erfahrung vertraut, daß man sich bestimmte Dinge — vor allem positiver Natur — nur lange genug einreden muß, u m sie für bare Münze zu halten. Ich w i l l damit keineswegs behaupten, daß w i r uns auf derartigem Boden befänden, wenngleich die — zugegebenermaßen überspitzte — Pointe sehr naheliegt, die Menschen i n solche einzuteilen, die andere betrügen, i n solche, die sich betrügen, und schließlich i n solche, die sich und andere betrügen. Jeder müßte dann selbst zusehen, wie er sich einzuordnen hätte. Unzufriedenheit, K r i t i k beziehen sich allemal auf die bestehenden Verhältnisse, den je aktuellen Zustand und verlangen darum nach A b hilfe, Reform. Diese Überlegung, wie banal sie immer erscheint, verdient festgehalten zu werden, weil aus ihr notwendig die Frage folgt, wohin denn die Reise gehen soll. Einen bestehenden Zustand ändern setzt allemal Klarheit über das Ziel voraus, das künftig angestrebt werden soll, und über die Mittel, die zu j-enem Zweck eingesetzt werden sollen. Wer die Studentenunruhen der letzten Jahre verfolgt hat, kennt das Irritierende einer K r i t i k , die gerade i m Zeichen einer besseren Zukunft die Abschaffung des Bestehenden absolut setzen w i l l ; und er spürt vielleicht auch die Faszination, die von einer teils eschatologischen, teils irrationalen Totalkritik ausgeht, die noch die Ablehnung des Bestehenden als dessen Bestätigung verwirft. Die Empfehlung, das K i n d m i t dem Bade auszuschütten, zum Glück leichter ausgesprochen als befolgt, ist verführerisch, nichtsdestotrotz töricht und alles andere als rational. Auf den Strafvollzug angewandt, heißt dies, daß w i r erst einmal einen point de vue, einen grundsätzlichen Standpunkt beziehen müssen, wenn K r i t i k und Reformbestrebungen nicht zur völligen Richtungsund damit Wirkungslosigkeit verurteilt sein sollen. Darauf hinzuwei-

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sen besteht um so mehr Anlaß, als eine Zeit verstärkter Reformbemühungen die buntesten Blüten und Spekulationen hervortreibt und den verschiedenartigsten Vollzugskonzeptionen Tür und Tor öffnet. Die Produktion gesellschaftlicher Utopien — ein uraltes und beliebtes Geschäft der Menschheit — hat neuerdings auch hier ihre Heimstätte gefunden; so gerät der Blick i n die Zukunft leicht zur Entschädigung für die Unvollkommenheit der Gegenwart. Doch heißt es differenzieren. Manche Vorstellungen wollen bedacht sein. Zu ihnen rechnet nicht zuletzt die Forderung nach gänzlicher Abschaffung des Strafvollzugs. Sie ist keineswegs so radikal, wie sie scheint, behält man nur i m Auge, daß nicht die Eliminierung des Freiheitsentzugs schlechthin, sondern nur einer bestimmten Form des Freiheitsentzugs intendiert wird. W i r konstatieren einen zunehmenden Abbau des Strafgedankens zugunsten des Behandlungsgedankens i m Strafvollzug. Es ist für uns vorstellbar geworden, daß Therapie zum Angel- und Ausgangspunkt für den strafgerichtlich angeordneten Freiheitsentzug werden könnte. Erste Ansätze i n dieser Richtung zeichnen sich i n den sozialtherapeutischen Modellanstalten ab, die heute i m Mittelpunkt der kriminalpolitischen Diskussion stehen und die ab 1.10.1973 unmittelbare rechtliche Bedeutung erlangen werden. Die Frage nach dem künftigen Weg des Strafvollzugs, seiner Zielsetzung, kann, darf und muß nicht ins Blaue hinein beantwortet werden. So schwierig sie zweifellos ist — es gibt Entscheidungshilfen. Sie w u r den bereits stichwortartig gekennzeichnet. W i r verfügen einmal über die schon apostrophierte geschichtliche Erfahrung, die uns der bisherige Strafvollzug vermittelt hat. Einen weiteren, ja vielleicht sogar den bedeutsamsten Beitrag liefern die Human- und Sozialwissenschaften, deren Blüte auf sozialpsychologischem und -pädagogischem Gebiet augenscheinlich ist. Last not least gibt uns die Verfassung i n Gestalt der Grundrechte sowie des Rechts- und Sozialstaatsprinzips A n t w o r t — wenn auch nicht auf alle Fragen, wie es i n einem modernen Kirchenlied Martin Gotthard Schneiders m i t Bezug auf die Bibel heißt. Gerade eine modernem Verfassungsverständnis entsprechende Interpretation des Sozialstaatsprinzips w i r d uns weiterführende Einsichten vermitteln können. Sie könnte uns lehren, daß der Staat sich nicht auf bloße Vor- und Fürsorge hinsichtlich des Lebensunterhalts beschränken darf, wenn er die Freiheit entzieht, sondern i n umfassenderer Weise soziale Hilfe leisten muß, u m seiner sozialstaatlichen Verpflichtung zu genügen. Zielt doch das Sozialstaatsprinzip, wenn nicht allein, so doch sicher i n erster Linie darauf ab, sozial Schwächeren, gesellschaftlich Benachteiligten zu einer gerechteren Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern und damit mittelbar zur Selbstverwirklichung zu verhelfen. Eine normative Konkretisierung dieser A r t finden w i r etwa i m BSHG

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vor. Nach dem Sozialstaatsprinzip wäre ein reiner Verwahrungsvollzug schon verfassungsrechtlich problematisch. Umgekehrt w i r d man aus den Gestaltungsprinzipien des Rechts- und Sozialstaatsgedankens ableiten müssen, daß zwischen Staat und Gefangenen ein wechselseitiges Rechteund Pflichtenverhältnis besteht, das auch den Gefangenen verpflichtet. Eine andere, nicht zuletzt pädagogisch-psychologische Frage ist es freilich, ob und inwieweit konkrete Pflichten des Gefangenen durch Sanktionen abgesichert werden können und sollen. Jedenfalls geben liberalrechtsstaatliche Vorstellungen, die den Staat weitgehend auf Alimentierung des Gefangenen beschränkten, keine geeignete Grundlage für die Bestimmung jenes Rechtsverhältnisses mehr ab. Denn sie leisteten gerade der Tendenz Vorschub, den Gefangenen zur Duldung eines Vergeltungsübels zu verpflichten, ohne i h m andererseits die Erfüllung sozialer Pflichten i m Sinne der Rückfallprophylaxe abverlangen zu können. Versteht man Rechtsstaatlichkeit i m Strafvollzug als bloße Ausgrenzung von Staatstätigkeit und enumerative Umschreibung der Eingriffsbefugnisse der Vollzugsbehörden, dann gelangt man leicht zu einer normativen Stabilisierung des Status quo, der doch gerade zu ändern wäre. Aus heutiger Sicht w i r d dagegen der Gedanke der „Hilfe zur Selbsthilfe" als sozialstaatliches Pendant zum rechtsstaatlichen Abwehrstatus des Gefangenen fruchtbar zu machen sein. A u f i h n hat schon Moritz Liepmann — freilich unter dem Vorzeichen des Erziehungsstrafvollzugs — i n der Weimarer Zeit aufmerksam gemacht. Die bisher genannten Stichworte sind von Theorie und Praxis des Vollzugs bereits aufgenommen, wenn auch keineswegs allseitig verarbeitet worden. So ist der Begriff „Resozialisierung" — was immer der Einzelne darunter verstehen mag — zur gängigen Vokabel selbst i n der Öffentlichkeit geworden. Wer seine Berechtigung anzweifelte, würde sich einem Scherbengericht aussetzen. Doch sollte auch hier in einem Zeitalter, das sich auf Vernunft beruft, vor dem Bekenntnis die Erkenntnis stehen. Die Frage, was Resozialisierung oder besser: Sozialisation des Gefangenen meint, muß gestellt und beantwortet werden. Ins Positive gewendet könnte man sagen, daß dem Gefangenen Fähigkeit und Wollen zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden sollen. Er soll es lernen, sich unter den Bedingungen einer freien, pluralistischen Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten und ihre Schwierigkeiten zu bestehen. Man könnte auch von einer Hinführung zur „Sozialtauglichkeit" sprechen. Das meint freilich keine „gesellschaftliche Anpassung", wie vielfach — vor allem i n nordischen Strafvollzugsregelungen — das Vollzugsziel definiert wird. Denn es geht nicht um die Erziehung zum gesellschaftsangepaßten oder staatshörigen Untertanen, sondern u m die Entwicklung zu innerer und äußerer Selbständigkeit, die es erst ermöglicht, positiven Gebrauch von den eigenen

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Fähigkeiten und gesellschaftlichen Gütern zu machen. Verantwortliche, aktive Teilhabe am sozialen Leben soll gefördert werden. I n diesem Sinne ist die Formulierung des Vollzugsziels zu verstehen, die ich i n meinem Gutachten für den diesjährigen Juristentag zur Diskussion stellen w i l l : „Ziel des Vollzugs der Freiheitsstrafe ist es, den Verurteilten zu befähigen, straffrei zu leben, und, soweit erforderlich, zu seiner Sozialisation beizutragen. Schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs ist nach Möglichkeit entgegenzuwirken." Darin stecken mehrere Aussagen. Einmal w i r d das Minimalziel der Rückfallverhütung unterschieden vom Maximalziel der Sozialisation. Letzteres kommt nur i n Betracht, wenn es von der Persönlichkeit des Gefangenen, dem Grad seiner Dissozialisation her gefordert ist, freilich auch dann, wenn umfassendere Sozialisationsbemühungen i m Einzelfall scheitern sollten. Dann zielt die Definition auf strafgesetzmäßige Lebensführung ab. Es kann nicht Aufgabe des Vollzugs sein, normkonforme Lebensweise i n allen Bereichen des Rechts zu gewährleisten. Auch das Strafrecht begnügt sich m i t der Einhaltung der Strafnormen. Schließlich soll sich das Strafübel i m Freiheitsentzug erschöpfen. Was über diesen hinausgeht, ist von Übel. Es kann nur Vergeltungscharakter haben. Das bedeutet, daß auch negativen Auswirkungen des Freiheitsentzugs i m Rahmen aller nur erdenklichen Möglichkeiten vorgebeugt werden muß. Für die Ausgestaltung des Vollzugs selbst ist das, wie w i r noch sehen werden, eine außerordentlich wichtige Maxime. Ebenso hat die i m Herbst 1967 vom Bundesjustizminister eingesetzte Strafvollzugskommission Grundsätze und Ziele des Strafvollzugs verabschiedet, die eine deutliche Kehrtwendung gegenüber bisherigen Vorstellungen vom Vergeltungs- und Ubelcharakter der Freiheitsstrafe erkennen lassen und damit auch einer heute noch praktizierten Rechtsprechung eine entschiedene Absage erteilen. Es heißt da: „Der Vollzug soll den Verurteilten zu einem gesetzmäßigen Leben i n der Rechtsgemeinschaft befähigen. Durch seine Gestaltung muß er dem Verurteilten helfen, zu sozialer Verantwortung zu finden. Schädlichen Wirkungen des FreiheitsVerlustes ist, soweit irgend möglich, entgegenzuwirken." Der Unterschied zu früheren Definitionen des Vollzugsziels, auch der der Nr. 57 DVollzO, springt ins Auge. Hier ist nicht mehr vom Schutzzweck des Freiheitsentzugs, vom Einstehenmüssen für Unrecht und Schuld die Rede. Das mag Zweifel hervorrufen. Muß es nicht -erste A u f gabe des Vollzugs sein, die Gesellschaft vor dem Verurteilten zu schützen? Muß man nicht den Verurteilten durch A r t und Ausgestaltung des Vollzugs erfahren lassen, „was seine Taten wert sind" (Kant)? Indes ist die Sicherungsfunktion des Strafvollzugs durch den Freiheitsentzug gleichsam m i t - und vorgegeben. Sie besonders hervorzuheben besteht um so weniger Anlaß, als sie sich leicht zu einem Haupt-

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zweck des Vollzugs zu verselbständigen droht und damit das ganze Vollzugshandeln durchdringt. Das Gebot des „safety first" ist eine notwendige Maxime für den Straßenverkehr; konsequent auf den Strafvollzug angewandt, muß es letztlich zu einem Verwahrungsvollzug führen, an dem sozialpädagogische Intentionen zuschanden werden. Leichter geht uns die Absage an den Vergeltungsvollzug von den L i p pen. Denn nicht zuletzt das ist m i t der Neuformulierung des Vollzugsziels gemeint. Sie muß freilich vor dem naheliegenden Mißverständnis bewahrt werden, als ob künftig darauf verzichtet werden soll, Verantwortlichkeiten sichtbar zu machen. Nichts weniger als das! Gerade ein Vollzug, der auf das Leben i n Freiheit vorbereiten soll, ist darauf angewiesen, an die soziale Verantwortung des Gefangenen zu appellieren, i h n darauf anzusprechen. Das scheint ebenso einsichtig wie die Notwendigkeit, dem Gefangenen Lebensbedingungen i m Vollzug zu gewähren, die eben jene Möglichkeit erst eröffnen. Dennoch ist es m i t der Umsetzung solcher Grundsätze i n Praxis nicht einfach bestellt. Man spürt die innere Auflehnung innerhalb und außerhalb der Anstalt gegen Vollzugslockerungen und -erleichterungen, die man für durchaus unverdient hält, ja der man nicht selten jene ebenso zynische wie törichte Formel von der „Verweichlichung der Strafrechtspflege" entgegenhält. Dabei steht nicht die verfehlte und antiquierte Alternative strenger oder milder Behandlung des Gefangenen zur Diskussion, sondern allein die Frage nach einer sinnvollen und zweckmäßigen, mit der uns bereits Gustav Radbruch vor 40 Jahren m i t aller Deutlichkeit konfrontiert hat. Gesellschaft und Staat können nur dann das Recht für sich i n Anspruch nehmen, durch Freiheitsentzug auf den Täter einzuwirken, wenn sie den Boden von Irrationalität und Inhumanität verlassen, auf dem gerade das Verbrechen gedeiht und der dieses vielfach prägt. Die sittliche Überlegenheit des strafenden Staates, von der Radbruch seinerzeit sprach, dokumentiert sich, wenn überhaupt, nicht i n der Wiederholung des Übels, das der Täter dem Opfer antut, sondern i n der Bereitstellung aller Mittel, die erforderlich sind, u m dem Täter eine verantwortliche Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen. I n diesem Sinne hat der Vollzug den Blick auf die Zukunft des Gefangenen und nicht dessen Vergangenheit zu richten. Denn die Gesellschaft nimmt an seinem Geschick ebenso teil wie der Verurteilte umgekehrt unentrinnbar m i t dem Schicksal der Gesellschaft verflochten ist. Jeder Rückfall ist nicht nur Ausdruck individueller Verantwortungslosigkeit, sondern auch, wenn nicht manchmal mehr, Ausdruck des Versagens der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Umgekehrt ist Rückfall Verhütung der beste Schutz der Gesellschaft; und es sollte deshalb — weltanschaulicher und sittlicher Positionen ungeachtet — nicht schwerfallen, sich auf die Formel zu einigen, daß der

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Vollzug i n solchem Sinne auf den Gefangenen einwirken muß. Gelingt es dem Vollzug, Fähigkeit und Willen des Gefangenen zu strafgesetzmäßiger Lebensführung zu wecken (oder zu erhalten), so leistet er damit einen gesellschaftspolitischen Beitrag ersten Ranges, dessen Bedeutung allerdings vielfach unterschätzt wird. Er erfüllt dann die vornehmste Aufgabe des Strafrechts, die i m Rechtsgüterschutz besteht. Wer die menschliche Not und die volkswirtschaftlichen Schäden ermißt, die durch Straftaten verursacht werden, w i r d demgegenüber vermehrte finanzielle und persönliche Anstrengungen entschieden als das kleinere Übel ansehen müssen. Freilich kann i m Ernst nicht erwartet werden, daß solchen Bemühungen i n allen Fällen Erfolg beschieden ist. Auch hierin sind w i r „gebrannte Kinder", haben allen Anlaß, nüchtern zu denken und zu handeln. „Resozialisierungseuphorie" ist nichts, was uns weiterhelfen könnte; allemal folgt auf den Rausch die Ernüchterung. Die Schwierigkeiten, die sich insbesondere bei der gesellschaftlichen Eingliederung von Hang- und Gewohnheitstätern auftun, sind allzu bekannt, als daß sie hier noch besonders ausgebreitet werden müßten. Dennoch sollten die Vorbehalte, die vor allem aus Kreisen der Praxis kommen und nicht selten einem kriminaltherapeutischen Pessimismus Vorschub leisten, i n zweifacher Hinsicht überprüft werden: Einmal fußen die schlechten Erfahrungen, die bisher m i t der rückfallprophylaktischen Wirkung des Vollzugs gesammelt wurden, auf der Anwendung konventioneller Behandlungsmethoden und unausgetragener Zielkonflikte i m Strafvollzug. Exemplarisch hierfür sind die bereits apostrophierte Tendenz der Praxis, den Leitgedanken der Sicherheit und Ordnung weitgehenden Vorrang einzuräumen, und eine Rechtsprechung, die dem Vollzug nichts weniger als die gleichzeitige Verfolgung von Vergeltungs-, Sühne-, Abschreckungs-, Sicherungs- und Resozialisierungszweck abverlangte. Die Verhaltensunsicherheit, die w i r heute immer wieder beim Vollzugspersonal beobachten, ist nicht allein Folge gelegentlich übereilter Reformmaßnahmen, sondern mehr noch Ausdruck der Widersprüche und Unklarheiten hinsichtlich der Zielsetzung des Vollzugs, wie sie sich auch i n der Kompromißformel der Nr. 57 DVollzO manifestieren. W i l l man dem Vollzug einen klaren Auftrag erteilen und sinnvolle Aufgaben stellen, dann kann dies nur i n einer Weise geschehen, die Prioritäten setzt und die Behandlung des Gefangenen nicht m i t verschiedenen Funktionen überfrachtet, die sich spätestens i n der Praxis gegenseitig aufheben. I n diesem Sinne erheischt die A n t w o r t auf die Frage: Was heißt und zu welchem Zweck betreiben w i r Behandlung des Gefangenen? den Verzicht etwa auf die i n der Strafrechtswissenschaft beliebte Vereinigungstheorie m i t ihrem Pluralismus verschiedenartiger Strafzwecke.

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Ein zweiter Vorbehalt gegenüber kriminaltherapeutischen Reformen resultiert aus gesamtgesellschaftlichen Erfahrungen. Der Strafvollzug genießt, wie w i r aus verschiedenen Untersuchungen und aus leidvoller praktischer Erfahrung wissen, i n der Öffentlichkeit ein schlechtes Image. Er stellt sich dar als die Negativkopie idealer, guter menschlicher Verhältnisse und Institutionen. Das gilt i n mehrfachem Sinne. Eine progressive veröffentlichte Meinung kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß Verhalten und Einstellung des Durchschnittsbürgers gegenüber dem Gefangenen und Entlassenen skeptisch, wenn nicht gar ablehnend sind. I m Grunde haben w i r es „nur" m i t einer Extremvariante des Verhaltens zu tun, wie es allgemein gegenüber „Außenseitern" und „Randgruppen" der Gesellschaft zu beobachten ist. Das schließt heterogene Personengruppen, wie Geisteskranke, sog. Problemfamilien und — natürlich — Delinquenten ein. Diese gesellschaftliche Distanzierung und Abweisung überträgt sich auch auf den Personenkreis, der sich der geächteten, verfemten oder wenigstens gemiedenen Menschen annimmt, i n unserem Falle also den Strafvollzugsdienst. Vielleicht lohnte es sich einmal, der kulturgeschichtlichen Frage nachzugehen, ob die ursprüngliche gesellschaftliche Ächtung des Henkers nunmehr jenem Berufszweig gilt, der heute noch Strafen zu vollstrecken hat. Auf jeden Fall w i r d man aus jenem Phänomen einen Mangel an gesellschaftlicher Verantwortung sowie eine soziale Minderbewertung herausspüren können, die heute allgemein i m Verhältnis zu sozialpflegerischen Berufen festzustellen und dementsprechend zu einem Nachwuchsproblem ersten Ranges geworden sind. I n diesem Sinne sind besoldungspolitische Forderungen i m Strafvollzug nicht nur Ausdruck bloßen Interessedenkens. Freilich ist einer am unmittelbaren ökonomischen Nutzen interessierten Leistungsgesellschaft schwer einsichtig zu machen, daß sich ein solcher Aufwand für die „trouble-makers" i n unserer Mitte überhaupt lohnt, zumal es an negativen Prognosen nicht zu fehlen pflegt. Bemerkenswerterweise befinden sich die Sozialarbeiter „draußen" i n einer ähnlichen Situation gesellschaftlicher Isolierung. Von einem solchen Befund aus ist der Weg nicht weit bis zu der Schlußfolgerung, intensivere Bemühungen u m den Gefangenen seien schon wegen des Verhaltens der Öffentlichkeit zum Scheitern verurteilt. Es genügt, einige wesentliche Aspekte hervorzuheben. Die Chancen, finanziell aufwendige Reformen parlamentarisch durchzusetzen, sinken i n dem Maße, i n dem der Widerstand der Allgemeinheit dagegen wächst. Die Vermittlung von Arbeit und Unterkunft für einen Gefangenen w i r d i n dem Maße zum Problem, i n dem die Öffentlichkeit m i t solchen Personen nichts zu t u n haben w i l l . Freilich mag die freie W i r t schaft durch das Beispiel, das Staat und Kommunen hier geben, nicht gerade ermutigt werden. Über der Tatsache, daß die Vermittlung von

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Arbeit i n einer Zeit des Arbeitskräftemangels leichter als sonst erscheint, darf folgendes nicht übersehen werden: Die Insassen unserer Anstalten rekrutieren sich i n psychischer und physischer Hinsicht vielfach nicht aus Arbeitskräften, die i n einer leistungsorientierten und mobilen Gesellschaft gut „ankommen". Oft genug sind sie deren Anforderungen nicht gewachsen. Dennoch soll und darf man der naheliegenden (und bequemen) Versuchung zum Pessimismus nicht nachgeben. Die Haltung der Öffentlichkeit ist häufig nicht durch Mangel an gutem W i l len veranlaßt — sicher gibt es den auch —, sondern mehr noch durch eine frappierende Unkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge einschließlich der Verhältnisse i m Strafvollzug selbst. Hier t u t verantwortliche Aufklärung not. A l l z u oft erfährt die Öffentlichkeit nur von spektakulären Ereignissen i m Strafvollzug, mögen sie positiver oder negativer Natur sein; allzu oft nimmt sie auch nur von solchen Geschehnissen Notiz. N u n neigen w i r alle zu Klischeevorstellungen und Vorurteilen i n Angelegenheiten, die uns fremd sind; aber w i r sollten uns bewußt machen, daß jene i n praxi auf Gegenaufklärung hinauslaufen, der Sache schaden, die gefördert werden soll. Differenziertes und d. h. kritisches Denken und Handeln w i l l erlernt und immer wieder geübt sein. Verhaltensbeeinflussend könnte zweierlei wirken: Die Öffentlichkeit sollte durch eine Informationspolitik i n jedem Sinne des Wortes ins B i l d gesetzt werden über das, was hinter den Mauern geschieht. Transparenz ist das Schlagwort. Das schließt auch die Sichtbarmachung der Schattenseiten und Konflikte ein. Waschmittelreklame einerseits, Dissozialität und Rückfallziffern andererseits vertragen sich nicht. Strafanstalten sind keine Weißmacher; sind sie doch selbst i n jenes Grau getaucht, das allen Betroffenen, Beamten wie Gefangenen, das Leben so schwer macht. Zum zweiten muß das tätige Engagement des Bürgers am Vollzugsgeschehen provoziert werden. Anstaltsbeiräte und V o l l zugshelfer bilden ein Beispiel dafür. Andere Möglichkeiten werden sichtbar: Die Studenten- und Bürgerkreise, die i m Gruppengespräch m i t Gefangenen gegenseitiges Verstehen erlernen und üben, mögen ein Experiment sein; aber wer nichts wagt, gewinnt auch nichts. W i r haben ohnehin einen Nachholbedarf an praktischer Erprobung neuer Behandlungsmethoden, sind ohnedies, wenn w i r weiter kommen wollen, darauf angewiesen, neue Erfahrungen zu sammeln, den Spielraum abzutasten, den uns ein künftiger Sozialisationsvollzug gewährt. Ebenso scheinen die Möglichkeiten, tätiges Engagement einer weithin ablehnend eingestellten oder desinteressierten Öffentlichkeit zu fördern, noch keineswegs ausgeschöpft. Damit ist zugleich das Problem der Behandlungsmethoden angesprochen. Denn Behandlung des Gefangenen schließt nicht nur einen ge3 Müller-Dietz

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meinsamen sozialen Lernprozeß aller Insassen und Mitarbeiter der A n stalt ein, sondern i m weiteren Sinne auch die Frage an die Gesellschaft, wie sie sich dem Gefangenen gegenüber verantwortlich verhält. I n der Behandlungsproblematik stecken die eigentlichen Schwierigkeiten. Was w i r praktisch t u n können, u m die gesellschaftliche Eingliederung des Gefangenen zu ermöglichen oder wenigstens zu erleichtern, u m seine „Sozialtauglichkeit" zu erreichen oder zu erhalten, ist keineswegs leicht zu entscheiden. W i r stehen insoweit — nicht zuletzt wegen mancher Versäumnisse der Forschung — i n den ersten Anfängen. Die Konturen des künftigen Vollzugs sind nur i n Umrissen, schemenhaft zu erkennen. Immerhin lassen sich einige Orientierungsdaten nennen. Behandlungsziel und Behandlungsmethoden sind eng aufeinander bezogen. Man braucht nur die verschiedenen Möglichkeiten des Sicherungs-, Verwahrungs-, Vergeltungs- und Resozialisierungsvollzugs theoretisch durchzuspielen, u m die jeweiligen Konsequenzen für die Behandlung des Gefangenen zu sehen. So läßt sich die Frage, was mit dem Gefangenen geschehen soll und kann, nie gänzlich von der Zielsetzung des Vollzugs lösen. Umgekehrt liegt i n der Art, wie man dem Gefangenen begegnet und m i t i h m umgeht, allemal auch eine Vorentscheidung über das Vollzugsziel. Es entspricht allgemeiner wissenschaftlicher Erfahrung, daß die Methode auf Grund ihrer Eigenart, Zielrichtung, ihres Ansatzes Vorbestimmungen über den zu erreichenden Zweck trifft. So gesehen, läßt sich das Vollzugsziel — i n Grenzen — auch für die A r t der Behandlung des Gefangenen fruchtbar machen. Dabei gehen w i r freilich von einer Prämisse aus, die uns die neuere sozialwissenschaftliche Forschung vermittelt hat, die aber noch keineswegs gesichert erscheint. Wenn Kriminalität zugleich Mangel an Sozialisation (Dissozialität) bezeichnet und damit — natürlich i n jeweils verschiedenem Umfang — ein Bedürfnis nach gesellschaftlicher Integration anzeigt, dann muß die Behandlung auf den Erwerb von Willen und Fähigkeit zu gesellschaftlich verantwortlicher Lebensführung ausgerichtet sein. Das schließt nicht aus, daß i n Einzelfällen gesellschaftlich eingegliederte Täter i n den Vollzug gelangen, bei denen es nur darum gehen kann, während des Freiheitsentzugs die intakt gebliebenen sozialen Bindungen zu erhalten. Aber die Tendenz i n der Praxis geht mehr und mehr dahin, daß solche Fälle statistisch gegenüber den rückfälligen und vorbestraften Tätern zurücktreten. Dafür sprechen einige objektivierbare Daten. So waren etwa von den insgesamt 48 031 Strafgefangenen und Verwahrten, die am 31. 3.1967 i n justizeigenen Strafund Verwahranstalten einsaßen, nur 8901 nicht vorbestraft; von den Vorbestraften wiederum hatten nur 2570 zuvor ausschließlich Geldstrafe erhalten, alle übrigen Freiheitsentzug ohne oder m i t Geldstrafe. Abgesehen von der Hoch- und Schwerkriminalität müssen regelmäßig

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nur solche Täter Freiheitsentzug verbüßen, die wiederholt vor Gericht gestanden haben. Die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe auf Grund des 1. Strafrechtsreformgesetzes, die Anhebung der Obergrenze für Strafaussetzung zur Bewährung, insgesamt: die Verschärfung der Voraussetzungen für die Verhängung und Vollstreckung von Freiheitsentzug führen dazu, daß sich der Vollzug künftig weitgehend auf dissoziale und persönlichkeitsgestörte Gefangene beschränken wird. Das bedeutet, daß w i r es i n zunehmendem Maße m i t Gefangenen zu t u n haben werden, für die wiederholte, wenn nicht gar ständige Straffälligkeit typisch ist. Daraus resultieren ein erhöhtes Maß an Behandlungsbedürftigkeit und die Notwendigkeit, ein „therapeutisches" oder „pädagogisches K l i m a " innerhalb der Anstalt zu schaffen. Dies gilt unabhängig davon, welche Faktoren — persönlicher oder gesellschaftlicher A r t — man für das Entstehen von Kriminalität verantwortlich macht. W i r konstatieren Formen mangelnder sozialer Anpassung, gesellschaftlicher Entfremdung (Soziopathie), die, wenn überhaupt, jedenfalls nicht mehr m i t den üblichen Hausmitteln bloßer Gewöhnung an Ordnung und A r beit zu kurieren sind. Hier muß — gerade i m Hinblick auf den eminent sozialen Bezug jenes Fehlverhaltens — eine erste Überlegung ansetzen. Die Behandlung i m Vollzug muß als Vorbereitung auf das Leben i n der freien Gesellschaft eine weitgehende Angleichung an deren Lebensbedingungen anstreben. Das disziplinierende Moment muß zugunsten freierer Lebensgestaltung auf das unbedingt erforderliche Maß reduziert werden. Diese Forderung wurde bezeichnenderweise bereits vor zehn Jahren hinsichtlich des Jugendstrafvollzugs erhoben (z.B. Busch), obwohl man doch annehmen sollte, daß gerade hier das erzieherische Moment i m Vordergrund zu stehen hat. Der Vollzug kann seine Aufgabe, als soziales Übungsfeld zur Einübung gesellschaftlich verantwortlichen Verhaltens zu dienen, nur erfüllen, wenn der Abstand zum normalen Leben nicht zu groß ist. Freilich wäre es mehr als naiv, i n der Anstalt das freie Leben kopieren zu wollen. Was herauskäme, wäre nur dessen Karikatur. Gemeint ist vielmehr: Stufenweise, allmähliche Heranführung an die Chancen, aber auch Risiken selbständiger Lebensführung, die ja auch uns aufgetragen ist. Damit sind w i r bereits bei einem zweiten Gesichtspunkt angelangt, der gleichsam die erste Überlegung korrigiert. Wenn es richtig ist, daß das Maß der Dissozialität und damit die Schwierigkeiten bei der Behandlung zunehmen, w i r d man die Gewährung von Freizügigkeit sowie Mitgestaltungs- und Mitverwaltungsmöglichkeiten des Gefangenen entsprechend dosieren müssen. Man w i r d i h m jeweils nur — aber auch — soviel Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit einräumen können und müssen, als seiner Fähigkeit und seinem Willen zu solcher Lebens3·

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führung gerecht wird. Niemand käme auf den Gedanken, einen Nichtschwimmer dadurch das Schwimmen zu lehren, daß man ihn sofort ins Wasser w i r f t . Andererseits kann man sich nicht ewig m i t Trockenkursen begnügen, auf die sich der heutige Vollzug vielfach noch beschränkt. U m ein Beispiel zu bringen: Die Zellenhaft traditionellen Stils kennt nur bescheidene Entfaltungsmöglichkeiten und erlaubt daher nur begrenzte Bewährungsproben, die kaum Aufschlüsse über das spätere Verhalten des Täters i n Freiheit geben können. Anders ist es i n einem System des gelockerten oder gar offenen Vollzugs bestellt, der i n stärkerem Maße der Testsituation des freien Lebens angenähert ist. Allgemein spricht die Erfahrung dafür, die Gewährung freien Spielraums an der psychischen und sonstigen Belastbarkeit des einzelnen Gefangenen zu orientieren, steht doch die Behandlung ohnehin unter dem Gebot weitestmöglicher Individualisierung. Je ausgeprägter die soziale Fehlentwicklung i m Einzelfall ist, desto intensivere Behandlungsmaßnahmen sind angezeigt; die medizinische Parallele ist augenscheinlich. Damit ist aber notwendig eine Einengung freier Lebensgestaltung verbunden. Umgekehrt kann (und soll) einem (noch oder wieder) gesellschaftlich weitgehend eingegliederten Gefangenen Eigenverantwortung i n einem Maß übertragen werden, das seine Lebensbedingungen denen der freien Gesellschaft annähert. Vollzugsformen dieser A r t bilden der offene und der Freigängervollzug. Ihnen dürfte — der apostrophierten Insassenstruktur unserer Anstalten zum Trotz — die Zukunft gehören. Denn allenthalben wächst die Überzeugung, daß eine weitaus größere Zahl von Gefangenen, als derzeit unter solchen Bedingungen lebt, Vollzugslockerungen verträgt. Dänemark und Holland liefern dafür eindrucksvolle Beispiele. Daß es i n Dänemark möglich ist, praktisch die Hälfte aller Gefangenen i n offenen Anstalten unterzubringen, ohne daß die Kriminalitätsentwicklung negativ beeinflußt wird, sollte uns zu denken geben. Unser Augenmerk w i r d dabei vor allem den Auswahlkriterien sowie der Entwicklung zuverlässiger Prognosemethoden gelten müssen, die bei derartigen Behandlungsmöglichkeiten eine entscheidende Rolle spielen. Das erfordert einmal der richtig verstandene Gedanke der Sozialisation, der darauf abhebt, inwieweit der einzelne Gefangene m i t den Lebensbedingungen der freien Gesellschaft fertig zu werden vermag. Das verlangt aber auch eine verantwortliche Kriminalpolitik, die das Risiko individuellen Versagens nicht zuletzt u m des Schutzes der Gesellschaft w i l l e n i n Grenzen halten muß. I n diesem Sinne erscheint die Progression als ein geeignetes Mittel, m i t der Entwicklung des Gefangenen zugleich die Sicherheit der Allgemeinheit zu fördern. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich bei der Beantwortung der Frage nach den Behandlungsmethoden. Die anhaltende Diskussion über

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Praxis und Organisation der Sozialtherapie belegt dies zur Genüge. Der heutige Stand der Behandlungsforschung erlaubt zwar Aussagen darüber, welche Methoden allgemein praktiziert und erprobt werden sollten. Darüber jedoch, welche A r t von Behandlung welchen Gefangenenoder Täterkategorien angemessen ist, fehlen zuverlässige Daten. Die bisherige kriminologische Forschung hat die Straftäter nach den verschiedensten — kriminalätiologischen, -phänomenologischen, »psychologischen und -soziologischen Gesichtspunkten zusammenzufassen und den einzelnen Gefangenen je nach seinen individuellen Merkmalen unter jene Gruppen zu rubrizieren gesucht. Was dabei u. a. herauskam, ist jene ebenso problematische wie populäre Unterscheidung zwischen resozialisierungsfähigen und -unfähigen Tätern, die sich allzu leicht als bequemes A l i b i erweist, unbequeme und schwierige Gefangene als „hoffnungslose Fälle" „abzuschreiben". Vorliegen von oder Mangel an Sozialisationschancen werden nicht nur durch die Persönlichkeitsstruktur und Vorgeschichte des einzelnen Gefangenen bestimmt; sie werden ebenso, wenn nicht sogar mehr, von der sozialen Umwelt, dem Charakter der Anstalt und der A r t der Behandlung beeinflußt. Niemand hat das Recht, einen Gefangenen als bloßen Verwahrungsfall abzustempeln, solange nicht alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Stürup konnte sich daher m i t einigem Recht i m Titel seines bekannten Buches über Herstedvester („Treating the ,Untreatable"') durch Anführungszeichen vom Begriff der „Unbehandelbarkeit" distanzieren. Was immer man von einem Vergleich zwischen Patienten und Straftätern halten mag — darin besteht Übereinstimmung: Wer aufgibt, hat bereits verloren, wer weitermacht, zwar noch nicht gewonnen, aber wenigstens mögliche Chancen genutzt. Der für uns maßgebliche Ansatz hätte daher i n der Entwicklung k r i minaltherapeutisch relevanter Merkmale zu liegen, weil es allein darauf ankommen kann, welche Behandlungsmethoden bei den verschiedenen Tätergruppen am erfolgversprechendsten erscheinen. Solange uns insoweit nichts Brauchbares angeboten werden kann, sollten w i r von jenen unsäglichen Schematisierungen und Klassifizierungen absehen, die i m mer wieder vor der Einmaligkeit der menschlichen Persönlichkeit versagen, weil diese — zum Glück! — kein Produkt einer Serienfertigung ist. So könnte uns eines Tages die Behandlungsforschung darüber eines Besseren belehren, daß nicht die Häufigkeit und A r t der Vorstrafen sowie die Natur der Delikte prognostisch und therapeutisch etwas hergeben, sondern Eigenart und Intensität unverarbeiteter innerer Konflikte, unbewältigter Entwicklungs- und Reifestörungen, gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, denen Kriminalität letztlich entspringen mag. Diese Frage soll und kann hier nicht entschieden werden; aber auf sie muß

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aufmerksam gemacht werden u m der schwerwiegenden Konsequenzen willen, die sich damit für den künftigen Vollzug verbinden. I m Mittelpunkt der verschiedenen Behandlungsmethoden werden Gruppenarbeit und -therapie stehen müssen. Viel spricht dafür, daß die Schaffung von kleinen, überschaubaren Behandlungsgruppen zur Bildung jenes therapeutischen Klimas beitragen kann, das das System der Zellenhaft zwangsläufig vermissen ließ. Einübung i n gesellschaftlich verantwortliches Verhalten geschieht am besten, wenn auch gewiß nicht allein, i n der Gruppe, wo Toleranz, Rücksichtnahme auf den anderen, gegenseitiges Verstehen erlernt und praktiziert werden können. Daß Leben i n der Gemeinschaft Möglichkeiten individueller Entfaltung ebenso sehr Raum gibt, wie es die Respektierung sozialer Pflichten abverlangt, gehört zu den Grunderfahrungen solcher Gruppenprozesse. Daß sie von Rückschlägen und Enttäuschungen begleitet werden, ja gelegentlich sogar i m Rahmen eines andersartig strukturierten Vollzugs wie ein Fremdkörper w i r k e n müssen, soll nicht verschwiegen werden. Doch w i r d i n ihnen sichtbar, daß Sozialisation ein dynamisches Geschehen ist, das Gefangene wie Beamte einbezieht, und i n dem jeder von jedem lernen kann. Hier gewinnt das alte Wort, daß w i r alle zugleich Lehrer und Lernende sind, seine eigentliche Dimension. Das Spektrum möglicher Gruppenbehandlungen, wie w i r sie vor allem aus den modernen therapeutischen Ansätzen der Sozialpsychologie und Sozialpsychiatrie kennen, recht weit. Es schließt, um nur einige markante Beispiele zu nennen, die analytische und nichtanalytische Gruppentherapie, das autogene Training, das Psychodrama, das „groupcounseling" ein. Zu denken ist auch hier an die „schlichte" Arbeit i n Freizeitgruppen, wie sie schon seit langem — allerdings nicht selten i n unreflektierter Weise — i n unseren Anstalten betrieben wird. Das erfordert nicht nur Sachkenntnis der damit befaßten Beamten, sondern auch die Fähigkeit und den Willen, sich mit den Schwierigkeiten und Konflikten solcher Gruppenprozesse, die ein hohes Maß an Selbstüberwindung und Frustrationstoleranz abverlangen, auseinanderzusetzen. Freilich bedarf es i m jetzigen Stadium auch hier eines allmählichen Ubergangs und praktischer Erprobung. Töricht wäre es, für den Vollzug insgesamt zu verwerfen, was für den einzelnen Gefangenen empfohlen wurde: Den übernächsten Schritt nicht vor dem nächsten zu tun, die Maßnahmen vernünftig zu dosieren. Die Eintagsfliegen überhasteter Neuerungen sterben bekanntlich nicht nur rasch, sondern richten auch oft genug Schaden i m weiteren Umkreis an. Verkrustete Strukturen — von Menschen wie von Institutionen — lassen sich, wenn man schon deren Zerschlagung für ein inhumanes und untaugliches Rezept ansieht, nicht von heute auf morgen aufbrechen. Der Aufbruch vom Heute i n das Morgen fordert Zeit; aber sie muß genutzt werden. U m nur ein Bei-

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spiel für wohldosierte und verantwortliche Ubergangsplanung zu geben: Die Einführung von Vollzugslockerungen für Gefangene sollte begleitet werden von bestimmten baulichen und personellen Maßnahmen. So wäre neben der ohnehin erforderlichen pönologischen Schulung und Fortbildung des Vollzugsdienstes dessen ebenso gründliche wie k r i t i sche Unterrichtung über Sinn und Zweck neuer Behandlungsmethoden und Zielsetzungen notwendig. Dann müßte durch Schaffung kleinerer Abteilungen i n den Anstalten die Bildung einzelner Gefangenengruppen ermöglicht werden, u m auf diese Weise bessere Übersichtlichkeit und Einwirkung auf die Gefangenen zu gewährleisten. Beschränkt man sich lediglich darauf, den Gefangenen mehr Freizügigkeit zu gewähren, ohne i m übrigen an der baulichen und personellen Struktur der Anstalten etwas zu ändern, so erschwert man nur die ohnehin nicht leichte Aufgabe des Personals und stellt dieses vor die Alternative purer Resignation oder Obstruktion. Das kann aber nicht i m Sinne einer Reform des Strafvollzugs liegen. Hätten w i r Zeit, die w i r nicht mehr haben, weil schon zuviel versäumt wurde, wären Versuchsanstalten auf begrenzter Grundlage das Ideale. So werden w i r auf ganzer Breite, wenn auch schrittweise, Reformen ansteuern müssen. Die Änderung von Zielsetzung und Methoden des Vollzugs ist daher, so meine ich, keine leichtere Aufgabe als etwa die, Rückfällige zu (re-) sozialisieren. Soll sie gelingen, bedarf es außerordentlicher Anstrengung. Stete Lernbereitschaft, M u t zum Risiko und soziale Verantwortung sind die Tugenden, die von uns gefordert sind. Die Einübung i n sie ist erste Voraussetzung für die Reform, diese wiederum Vorbedingung für die Sozialisation des Gefangenen. Wer das für Utopie hält, sollte sich an das Wort des Literaturkritikers Günter Blöcker erinnern lassen: „Das Verlangen nach dem Unerreichbaren ist der Geburtshelfer des Möglichen."

Grundgedanken und Ziele der Strafvollzugsreform „Strafvollzug i m Übergang", „Strafvollzug: Institution i m Wandel": so lauten neuere Kurzformeln, m i t denen man die gegenwärtige Situation des Strafvollzugs zu umschreiben versucht. I n der Tat erfassen sie ein typisches Merkmal des heutigen Vollzugs: Er befindet sich i n einer Phase einschneidenden Wandels, dessen Ausmaß i m einzelnen noch gar nicht zu übersehen ist. Insofern hat er teil an der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, deren Veränderungen sich m i t den Vokabeln „fortgeschrittene Industriegesellschaft" und „spätkapitalistische Gesellschaft", „offene, pluralistische Gesellschaft" nur unzureichend und nicht ohne ideologische Zugeständnisse kennzeichnen lassen. Für die Strafvollzugsdoktrin indes sind Wandlungen nichts Neues. Die vergangenen 100 Jahre sind reich an verschiedenartigen Vollzugskonzeptionen. Der Bogen spannt sich vom Isoliersystem pennsylvanischer Observanz über den Stufenstrafvollzug der Weimarer Zeit bis h i n zum Behandlungsvollzug der Gegenwart. Die Stichworte Besserung, Erziehung und Resozialisierung stehen für jene Epochen und charakterisieren die dahinterstehenden Zielsetzungen, wenn auch verkürzend, so doch einprägsam. Was sie voneinander trennt, ist nicht so sehr die grundsätzliche Tendenz, die letztlich auf eine wie immer zu interpretierende Rückfallverhütung hinausläuft, sondern vielmehr die verschiedenen Methoden, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll, sowie die unterschiedlichen Vorstellungen von der Persönlichkeit des Straftäters. Jedoch sind solche tiefgreifenden Wandlungen typisch nur für die Vollzugstheorie, nicht dagegen für die Vollzugspraxis. Diese blieb lange Zeit geprägt vom System der Isolier- und Zellenhaft, das sich selbst zwar als Besserungsvollzug verstand, nicht selten aber zu einem Vergeltungs- und SicherungsVollzug denaturierte. Die vielfach als bloße „Sekundärtugenden" verstandenen Prinzipien der Sicherheit und Ordnung bestimmten weithin das Vollzugsgeschehen und wurden damit zum dominierenden Faktor der Vollzugspraxis. I m Grunde überdauerten sie auch die verheißungsvollen Ansätze der Weimarer Zeit, die zerschlagen wurden, noch ehe sie sich voll hatten entfalten können. Organisatorische und architektonische Elemente belegen noch heute jene Herkunft aus dem System der Zellenhaft; nur allmählich werden sie i m Zuge neuer struktureller und baulicher Maßnahmen verdrängt. Diese Resistenz gegenüber Innovationstendenzen kommt nicht von ungefähr. Der Strafvollzug blieb lange Zeit das Stiefkind von Verfas-

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sungsdoktrin, Strafrechtswissenschaft, praktischer Strafrechtspflege und Kriminologie. Für die Verfassungs- und Verwaltungsrechtslehre befand sich der Gefangene i n einem besonderen Unterwerfungsverhältnis, dem sog. „besonderen Gewaltverhältnis", das gesetzlicher Regelung weder bedürftig noch fähig schien. Die Strafrechtswissenschaft verschmähte, vom philosophischen Höhenflug der Dogmatik i m posthegelianischen Zeitalter beflügelt, die „Niederungen" der Kriminalpolitik. Noch über die Jahrhundertwende hinaus zog sich das Verdikt, Anhänger der soziologischen Schule zu sein, zu, wer sich u m den Strafvollzug kümmerte. Schon zuvor hatten Strafrechtler wie K . J. A. Mittermaier und K . D. A. Roeder insoweit als Außenseiter gegolten; der Kampf Franz von Liszts und der I K V für ein rationales System der Verbrechensbekämpfung mutete trotz internationaler Anerkennung gelegentlich wie Donquichotterie an. Für die Strafrechtspflege endete das Interesse am Täter m i t dem Urteil; was danach kam, war bloße Vollstrekkung, alles Entscheidende schon vorher geschehen. Die frappierende Unkenntnis des Richters und Staatsanwalts von dem, was hinter den Mauern sich abspielte, korrespondierte m i t der Ignoranz einer Öffentlichkeit, für die das Kapitel Straftat m i t der Verurteilung abgeschlossen war. Davon ist uns der durchaus falsche Sprachgebrauch der Massenmedien erhalten geblieben, wonach das Gericht die Tat durch die und die Strafe gesühnt hat; eine Redeweise, die so verbreitet wie unsinnig ist, weil, wenn jemand zu sühnen hätte, dafür nur der Täter i n Betracht käme, und weil Sühne dann allemal erst durch die Strafverbüßung und nicht schon durch die bloße Hinnahme des Urteils geleistet werden könnte. Dabei sehe ich hier von der inhaltlichen Problematik des Begriffs Sühne einmal ganz ab. Schließlich kümmerte die Kriminologie i n ihren ersten Anfängen der Straftäter als Gefangener gleichfalls nur wenig; ihr Interesse galt vornehmlich den berühmtberüchtigten Ursachen der Kriminalität, deren Erscheinungsformen sowie der Person des Kriminellen. Was Haft, Freiheitsentzug realiter bedeutet, ließ uns bekanntlich erst Gustav Radbruch ahnen. Nunmehr beginnt man sein Vermächtnis — auf freilich neuartige Weise — zu erfüllen. Aus dieser Entwicklung resultiert auch das legislatorische Manko, das den neueren Strafvollzug über weite Strecken hin kennzeichnet. K r i t i k daran wurde längst vor Inkrafttreten des RStGB geübt, Bestrebungen, den „gesetzlosen Zustand" zu beenden, reichen bis weit i n die Zeit des Deutschen Bundes zurück. I n der Tat haben wir, beginnend mit dem „Gesetz, den Strafvollzug i m neuen Männerzuchthause zu Bruchsal betreffend" von 1845, i n einer Reihe süddeutscher Staaten, wie Baden, Württemberg und Bayern, strafvollzugsgesetzliche Regelungen vor der Entstehung des RStGB zu verzeichnen. Sie entsprachen, wenn auch nicht i m Detail, so doch i m Grundsatz Forderungen, die eben jene

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wissenschaftlichen „Außenseiter" immer wieder angemeldet hatten. Bereits 1860 trat K . J. A. Mittermaier dafür ein, „die Vollstreckung der Freiheitsstrafen und die Einrichtung der Strafanstalten" gesetzlich zu normieren: „ W i r sind überzeugt, daß i n den Kreis der Gesetzgebung die Feststellung gehört, welches System, i n welchem Umfang und m i t welchen Einrichtungen es durchgeführt werden soll, welche Aufgabe den bei der Gefängnißverwaltung thätigen Personen vorschweben muß." Und F. ν . Holtzendorff äußerte sich 1861 i n gleichem Sinne, „ w e i l der richterliche Schutz, welcher gegen polizeiliche W i l l k ü r vor der Verurteilung zugänglich ist, auch gegen das Gutdünken der Gefängnißbehörden nach der Verurtheilung nicht vollkommen abgeschnitten werden darf". Mittermaier war es denn auch, der die entscheidenden Argumente für eine gesetzliche Regelung des Strafvollzugs lieferte: die unzureichende inhaltliche Festlegung der Freiheitsstrafen i n den damals geltenden Strafgesetzbüchern, der für den konstitutionellen Staat maßgebliche verfassungsrechtliche Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, die Garantie der Rechtsgleichheit für den Verurteilten, die Unterrichtung der Rechtspflegeorgane, der Öffentlichkeit und des (potentiellen) Straftäters über das, was Freiheitsentzug de jure und de facto eigentlich bedeutet. Dementsprechend griff bereits der 6. Deutsche Juristentag die Gesichtspunkte der Rechtsgleichheit und der Rechtsgarantien auf. Sein Gutachter Ekert verwies wiederum auf die dürftige Regelung des Freiheitsentzugs i m StGB; seine K r i t i k gipfelte i n der Feststellung: „Alles Uebrige pflegt der Uebung, der Verordnung überlassen zu werden. Es möchte nun oft ungleich wichtiger sein, für die mitunter viel jähr ige Dauer der Gefangenschaft einen Rechtsanspruch auf eine richtige, allen Verhältnissen entsprechende Behandlung zu haben, als den Rechtsanspruch auf einige Monate Strafe weniger." Der 9. Deutsche Juristentag setzte diese Diskussion fort; sein Gutachter Adolf Merkel sprach sich gleichfalls für eine gesetzliche Regelung des Strafvollzugs aus. Zwischen jenen beiden Juristentagen und dem 48. des Jahres 1970, für den die Frage nach dem Tätigwerden des Gesetzgebers nur mehr eine rhetorische war, liegen über 100 Jahre vergeblichen Bemühens u m den Erlaß eines Strafvollzugsgesetzes. Stationen dieses Weges bildeten der Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes von 1879, der am Widerstand des Bundesrates — insbesondere aus finanziellen Erwägungen — scheiterte, und der Entwurf von 1927, der das Schicksal der damaligen Strafrechtsreform teilte. Der dritte legislatorische Anlauf, den w i r heute unternehmen, steht unter günstigeren Auspizien; die Erwartung scheint gerechtfertigt, daß das Vorhaben diesmal gelingen wird. Zu dieser Hoffnung gibt der allmähliche Vorstellungswandel i n Wissenschaft, Gesetzgebung, Strafrechtspflege und Öffentlichkeit Anlaß. Empirische Kriminologie, Sozialforschung, Strafrechtsdogmatik, Ver-

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fassungs- und Verwaltungsdoktrin nehmen sich i n wachsendem Maße des Strafvollzugs an. Dessen wissenschaftlicher Stellenwert hat eine Aufwertung erfahren, hinter der jegliches Bemühen u m eine Herstellung der Währungsparität weit zurückbleibt. Der Strafvollzug beginnt nunmehr auch wissenschaftlich jenen exotischen Charakter zu verlieren, der i h m i n der Öffentlichkeit noch vielfach anhaftet. Ziel ist vor allem die Erforschung der Auswirkungen des Freiheitsentzugs auf den davon Betroffenen sowie des sozialen Systems Strafanstalt. Man begreift dieses als ein besonderes Interaktionsfeld, dessen Realverfassung i n verschiedener Hinsicht bewußtseins- und verhaltensprägende Bedeutung für alle darin Lebenden, die Gefangenen wie die Vollzugsbeamten, hat. Komplementär zum individualpsychologischen Ansatz der Persönlichkeitspsychologie verlaufen die organisationssoziologisch inspirierten Untersuchungen zu den sozialpsychologischen Faktoren der Vollzugsanstalt. Dabei finden i n erster Linie bereits anderwärts praktisch erprobte Methoden der empirischen Sozialforschung, wie die Fragebogenmethode, das Interview, die teilnehmende Beobachtung und Testverfahren, Anwendung. Alle diese Bemühungen münden letztlich i n die Fragen nach der Leistungsfähigkeit des derzeitigen Strafvollzugs i m System der Verbrechensbekämpfung sowie nach der optimalen Ausgestaltung des künftigen Vollzugs. Hier überwiegen freilich i n manchem noch Mutmaßungen und Spekulationen das Ausmaß an empirisch gesicherter Erkenntnis. Der empfindliche Mangel an Behandlungsforschung hat sich vor allem i n der Debatte u m Voraussetzungen und praktische Handhabung der Sozialtherapie niedergeschlagen. Welcher Gefangene durch welche Behandlung am besten vor dem Rückfall bewahrt werden kann, ist die Gretchenfrage, deren Beantwortung geradezu faustischer Erkenntnis bedürfte. Wissenschaftliche Redlichkeit gebietet hier gerade deshalb Zurückhaltung, w e i l jene sozialwissenschaftliche Forschungsmethode, die am ehesten Erfolg zu versprechen scheint, das kontrollierte Experiment, i m Strafvollzug bisher nur spärlich praktiziert worden ist. Die derzeit verfügbaren empirischen Daten reichen also keineswegs aus, u m den Vollzug i n jeder Hinsicht auf kriminologisch gesicherte Grundlagen zu stellen. Sie zeigen aber immerhin die Problematik des gegenwärtigen Vollzugssystems auf und signalisieren damit gleichzeitig notwendige Veränderungen. Für die Verfassungs- und Verwaltungsrechtslehre ist der Strafvollzug naturgemäß vor allem unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstellung und des Rechtsschutzes des Gefangenen relevant. Erst jetzt zeichnet sich allmählich eine dogmatische Durchdringung dieses Rechtsgebietes ab. Vor Freudenthal war man sich der öffentlich-rechtlichen Natur der Beziehungen zwischen Staat und Gefangenem kaum bewußt. Auch danach blieb uns die Verfassungsdoktrin noch vieles schuldig. Der Begriff des

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„besonderen Gewaltverhältnisses" wurde zu jener Zauberformel emporstilisiert, m i t deren Hilfe sich ein kohärentes System von Rechten und Pflichten des Gefangenen entwickeln lassen sollte. Die Zwecke des Freiheitsentzugs, die Aufgaben der Institution Strafanstalt, nach dem Muster der allgemeinen Diskussion über die Strafzwecke zudem möglichst komplex, eklektisch gedacht, sollten das Grundsatzprogramm liefern, dessen Konkretisierung auf dem Wege überlieferter Rechtsauslegung und -anwendung Sache der Praxis war. Indes hat die Formel nicht gehalten, was sie versprach; das dogmatische Gebäude war auf Sand gebaut. Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte hat bei dem Versuch, m i t dem Unbegriff des „besonderen Gewaltverhältnisses" fertig zu werden, verschiedentlich Schiffbruch erlitten. Denn Einzelentscheidungen der Vollzugsbehörden lassen sich nun einmal nicht von einem — überdies nichtkodifizierten — System heterogener, ja widersprüchlicher Vollzugszwecke her begründen oder widerlegen. Anfechtbar ist die dogmatische Ausgangsbasis, nämlich das, was die Gerichte als Vollzugsaufgaben — mittelbar — dem StGB entnehmen. Anfechtbar sind aber auch die Ableitungen, die von der Beschränkung der Informationsmöglichkeiten und des Kontakts des Gefangenen zur Außenwelt bis h i n zur Vornahme von Zwangs- und Disziplinarmaßnahmen reichen. I m Grunde läuft ein solches Verfahren auf eine Bestätigung administrativer A n ordnungen hinaus — wie denn die Rechtsprechung der seit 1962 geltenden DVollzO ja auch regelmäßig Verfassungsmäßigkeit attestiert hat. Die Dürftigkeit dieses Begründungszusammenhangs, der noch hinter den Ansichten eines Mittermaier zum Vorbehalt des Gesetzes zurückbleibt, ist offenkundig, verblüffend dagegen die Beständigkeit der A r gumentation, die — gelegentlich nicht unerwünscht — das Fehlen eines Strafvollzugsgesetzes dogmatisch absichert. Heute verharrt man nicht mehr auf dieser unhaltbar gewordenen Position. Die Einsicht gewinnt an Boden, daß der Grundrechtskatalog i m Prinzip auch für den Gefangenen gilt, daß die Vokabel „Strafvollzug" nicht per se Rechtsbeschränkungen mitliefert, die über den bloßen Entzug der körperlichen Bewegungsfreiheit hinausgehen. Hiernach bedürfen diese gesetzlicher Regelung, die sich ihrerseits an den Grundgedanken des sozialen Rechtsstaates sowie am Grundrechtskatalog zu orientieren hat: Grundrechte des Gefangenen sind nur insoweit einschränkbar, als das GG dies ausdrücklich vorsieht, Einschränkungen lediglich insofern statthaft, als sie m i t dem verfassungskonformen Ziel der Rückfallverhütung konvergieren. Entsprechendes gilt für besondere Gewährleistungen zugunsten des Gefangenen, die vor allem aus der sozialstaatlichen Verpflichtung der Vollzugsbehörden folgen. Von dieser Grundüberlegung aus ist schon der Stab über den gegenwärtigen normativen Zustand auf dem Gebiet des Staffvollzugs gebrochen. Unab-

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hängig davon, ob man die Regelungen der DVollzO als Rechtsnormen oder als Verwaltungs Vorschriften begreift, werden sie jedenfalls nicht dem Vorbehalt des Gesetzes gerecht, der auch für den „Sonderstatus" des Gefangenen (Hesse) gilt. Die sonstigen spärlichen Vorschriften über die Arbeit und Unterbringung des Gefangenen ( § 2 1 StGB), die Strafvollstreckung (§§ 449 ff. StPO) und den Rechtsschutz des Gefangenen (§§ 23 ff. EG GVG) regeln allenfalls Ausschnitte aus dem Rechtsverhältnis zwischen Staat und Gefangenem, aber keineswegs sämtliche einschlägigen Materien. Lassen die A r t . 2 Abs. 2 und 104 GG i n Verbindung m i t StGB und StPO zwar den Freiheitsentzug als solchen zu, so sagen sie doch nichts über dessen Ausgestaltung i m einzelnen aus. Räumt A r t . 12 Abs. 3 GG dem Staat die Möglichkeit ein, den Gefangenen zwangsweise zu beschäftigen, so versagt diese Norm schon bei Beantwortung der Frage, wie es denn m i t der Entlohnung des Gefangenen stehe. Auf weite Strecken h i n haben w i r es noch heute i m Bereich des Vollzugs m i t selbstgeschaffenem Recht der Verwaltung zu tun, dessen Qualifizierung als Gewohnheitsrecht ebenso problematisch wie gegenüber der Verfassung letztlich unzureichend wäre. Einer zeitgemäßen Bestimmung der Vollzugsziele hat inzwischen auch der Strafgesetzgeber vorgearbeitet. Das kommt nicht nur i n einer Reihe von Detailregelungen des 1. und 2. StRG zum Ausdruck, sondern auch i n der grundsätzlichen Haltung, die hinter der Strafrechtsreform steht. I n diesem Sinne bezeichnete der „Sonderausschuß für die Strafrechtsreform" als wesentlichen Leitgedanken der Reform „die moderne Ausgestaltung des Sanktionensystems als wirksames Instrument der K r i m i nalpolitik m i t dem Ziel einer Verhütung künftiger Straftaten, vor allem durch Resozialisierung des Straftäters" ; und so ist auch die Anweisung an den Richter zu verstehen, bei der Strafzumessung „die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben i n der Gesellschaft zu erwarten sind", „zu berücksichtigen". Einzelregelungen, die die V e r w i r k l i chung des Resozialisierungsziels fördern sollen, sind vor allem i m Strafensystem, aber auch i m Maßregelrecht angesiedelt. Hierher gehören insbesondere die Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe, die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen unter sechs Monaten, die Anhebung der Obergrenze der Strafaussetzung zur Bewährung, die Abschaffung des Arbeitshauses und die Einführung der sozialtherapeutischen Anstalt. Alle diese Neuregelungen sind, wie immer man ihren kriminalpolitischen Wert i m einzelnen einschätzen mag, nur aus dem Kontext eines stärker als bisher individualpräventiv gedachten Strafrechts und Strafvollzugs heraus verständlich. Gelegentlich w i r d sogar, über den gegenwärtigen Stand wohl hinausgreifend, von einem „Resozialisierungsstrafrecht" (Maihofer) gesprochen. Gewiß haben das 1. und 2. StRG den Fundus an neuen kriminalpolitischen Möglichkeiten und Notwen-

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digkeiten keineswegs erschöpft; aber sie haben unleugbar die kriminalpolitische Entwicklung und damit die Reform des Strafvollzugs gefördert. Dieser selbst ist, das war die Ausgangsthese, i n Bewegung geraten. Das gilt für Gesetzgebungs- und Vollzugspraxis gleichermaßen. Die vom damaligen Bundesjustizminister Heinemann i m Herbst 1967 berufene Strafvollzugskommission hat i m Januar 1970 den ersten Teil ihrer Arbeit abgeschlossen. Er gipfelt i n Empfehlungen zum Strafen- und Maßregelsystem des StGB und — dem eigentlichen Auftrag entsprechend — i n Grundsätzen zur künftigen gesetzlichen Regelung des Strafvollzugs. Die Kommission befindet sich derzeit bereits i n der zweiten, wohl letzten Phase ihrer Tätigkeit. I h r liegt nunmehr ein vorläufiger Arbeitsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes des Bundesjustizministeriums zur Stellungnahme vor. Die Beratungen sollen so rechtzeitig beendet werden, daß der — gegebenenfalls überarbeitete — Entwurf noch i n der laufenden Legislaturperiode vom Kabinett verabschiedet, dem Bundesrat zugeleitet und dem Bundestag zur Beschlußfassung vorgelegt werden kann. Gelingt dieser Zeitplan, so würde erstmals i n der deutschen Rechtsgeschichte ein Bundesstrafvollzugsgesetz i n Kraft treten; einem Verfassungsauftrag würde entsprochen und die Reform des Strafvollzugs auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Gewiß wird, wer die Diskrepanz kennt, die für Theorie und Praxis des Vollzugs bisher so typisch war, daran keine allzu übertriebenen Erwartungen knüpfen dürfen: Ein Vollzugsgesetz ist noch nicht gleichbedeutend m i t Vollzugsreform; erst die Praxis entscheidet darüber, was aus dem Gesetz wird. Doch bleibt zweierlei zu bedenken: E i n Gesetz beseitigt das rechtsstaatliche Manko, das derzeit noch gegenüber der Verfassung besteht. Es nimmt den Vollzug auch normativ so ernst, wie es seiner kriminalpolitischen Bedeutung entspricht. Und es kann, sofern es nicht bloße Bestandsaufnahme und Festschreibung gegenwärtiger Zustände ist, neuen Zielvorstellungen zum Durchbruch verhelfen. „Reformierende Gesetzgebung" (Adolf Arndt) i n diesem Sinne schafft damit, wenn auch nicht die, so doch wenigstens eine wesentliche Voraussetzung für einen neuen Strafvollzug. Die Strafvollzugskommission hat m i t ihren Grundsätzen zur Ausgestaltung des künftigen Vollzugs eine Reihe von Empfehlungen über Sofortmaßnahmen verbunden. Ihnen sind die Länder — zumindest teilweise — durch Änderungen der DVollzO m i t Wirkung vom 1. 7.1969 gefolgt. So wurde das bisherige System der Vergünstigungen durch „Maßnahmen zur Förderung und Betreuung" ersetzt, insbesondere der Zeitungsbezug allgemein zugelassen und der Verkehr m i t der Außenwelt erleichtert. Zahlreiche weitere Reformmaßnahmen wurden auf dem Verwaltungswege getroffen oder befinden sich zumindest i m Sta-

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dium der Planung. Hierzu rechnen insbesondere: die Gewährung von Urlaub an geeignete Strafgefangene, die Einführung von Vollzugslokkerungen i n Gestalt des offenen und des Freigängervollzugs, das Bemühen u m eine stärkere Differenzierung der Gefangenen sowie u m eine wissenschaftlich fundierte Persönlichkeitserforschung, die Erprobung von Sozialtherapie i n Sonderabteilungen, eine verbesserte kriminologische und kriminalpädagogische Ausbildung des Strafvollzugspersonals sowie der Aus- und Umbau bestehender Anstalten, vor allem durch Verbesserung der Unterbringungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Freilich ist dieser Katalog einerseits unvollständig; andererseits umfaßt er auch Planungen, deren praktische Bewährung noch aussteht. So sehr die Länder sich dabei an Reform Vorstellungen orientieren, würde man jene Maßnahmen gewiß mißverstehen, wollte man sie durchweg als praktische Antizipationen des kommenden Vollzugsgesetzes interpretieren. Manches davon ist einfach durch den Nachholbedarf veranlaßt, der i n den vergangenen Jahrzehnten unabhängig von einer besonderen Vollzugskonzeption entstanden ist; erinnert sei nur an die Beseitigung des Mangels an Haftraum, die Abschaffung des Kübelsystems i n den Zellen und die Einrichtung von Werkhöfen. Daß demgegenüber der Nebau von Anstalten bisher zurücktrat, mochte nicht nur finanzielle Ursachen gehabt haben. Das läßt sich an der Tatsache ablesen, daß die Errichtung neuer Untersuchungshaft- und Jugendstrafanstalten eindeutig dominierte, Anstalten also, deren ausgeprägte Zweckbindung vielleicht i n stärkerem Maße als bei Strafanstalten für Erwachsene pragmatische architektonische Lösungen zuließ. Wie sehr die bauliche Gestaltung einer Anstalt von der Gesamtkonzeption des Vollzugs abhängt, bedarf heute wohl keiner Erläuterung mehr. Immerhin zeigt dieser Uberblick über den Stand der Reformmaßnahmen, welche Anstrengungen die Länder gegenwärtig auf sich nehmen, u m die Leistungsfähigkeit des Strafvollzugs zu erhöhen und der vollzugspraktischen, wissenschaftlichen — und gelegentlich auch gesellschaftsideologischen — K r i t i k am heutigen Strafvollzug das Wasser abzugraben. Freilich werden solche Maßnahmen nur bei einer Koordinierung auf der Grundlage einer sinnvollen Gesamtplanung Früchte tragen; ohne sorgfältige Abstimmung aufeinander dürften sie sich individualpräventiv kaum positiv auswirken und allenfalls zur Verunsicherung des Vollzugspersonals beitragen. So erscheint etwa die bloße Einführung von Vollzugserleichterungen für Gefangene ohne parallele personelle und organisatorische Maßnahmen kaum geeignet, die bestehenden Schwierigkeiten zu überwinden. Damit stellt sich die Frage nach den Leitprinzipien des künftigen Strafvollzugs und des Strafvollzugsgesetzes. Sie ist andeutungsweise bereits durch die Überlegungen zur bisherigen verfassungsrechtlichen,

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kriminal- und gesetzespolitischen sowie kriminologischen Diskussion vorgezeichnet. I m Vordergrund steht dabei die Zielsetzung des Strafvollzugs. Sie hat von den Grundgedanken des sozialen Rechtsstaates sowie einer zugleich wirksamen und humanen Kriminalpolitik auszugehen, die sich der Aufgabe der Rückfallverhütung verschrieben hat. Danach muß es zunächst und vor allem Ziel des Vollzugs sein, ein erneutes Abgleiten des Gefangenen i n Kriminalität oder ein etwaiges Verharren i n krimineller Lebensführung zu verhindern. I n diesem Sinne sprach etwa § 64 des E StVG 1927 von der Einwirkung auf den Gefangenen zur Vermeidung des Rückfalls. Wesentliche Voraussetzung dafür ist die Integration des Täters i n die Rechtsgemeinschaft. Denn ohne eine solche Eingliederung ist sozial verantwortliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wenn nicht unmöglich, so doch zumindest gefährdet. Sozialisation oder genauer gesagt: „Ersatz-Sozialisation" des Gefangenen heißt das Schlüsselwort. Dieser Gesichtspunkt gewinnt angesichts der heutigen und künftigen Insassenstruktur unserer Strafanstalten immer mehr an Gewicht. W i r d das B i l d des Strafvollzugs wesentlich vom Vorbestraften und Rückfälligen geprägt, dessen Rückkehr i n die Gesellschaft aus den verschiedensten Gründen erschwert ist, so muß schon aus verbrechensprophylaktischen Gründen gerade hier der Hebel angesetzt werden. Persönlichkeitsstörungen und Mangel an Sozialisation lassen sich gewiß nicht durch bloßen Freiheitsentzug beheben. Sie erfordern ein wohlabgewogenes Instrumentarium an Behandlungsmaßnahmen, die dem Gefangenen die selbständige Führung eines gesetzmäßigen Lebens ermöglichen. Das heißt nicht, i h n zum Objekt irgendwelcher Therapie stempeln oder i h m gar die Sorge für die Zukunft abnehmen; vielmehr bedeutet dies Bereitstellung aller solcher Hilfen durch den Vollzug, deren der Gefangene bedarf, u m sich i m freien Leben verantwortlich zurechtzufinden. Die Pflicht des Staates, „Hilfe zur Selbsthife" des Gefangenen zu leisten, folgt aus der „Staatszielbestimmung" des sozialen Rechtsstaates, die den Staat vor allem dort zu sozialen Leistungen anhält, wo die vom GG anvisierte freie Entfaltung der Persönlichkeit auf Grund persönlicher Schwäche, Unfähigkeit oder Unmöglichkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung beeinträchtigt oder gar aufgehoben ist. Ebenso wie der Staat Gesetzestreue von seinen Bürgern erwarten darf, müssen diese auf Unterstützung durch den Staat rechnen können, wenn sie aus eigener K r a f t m i t ihrer Notlage nicht fertig zu werden vermögen. Dies ist der gemeinsame und richtige Kern aller Vorstellungen, die sich an den verschiedenen Vokabeln der „Resozialisierung", „Sozialisation", „sozialen Integration" und „(Wieder-)Eingliederung des Verurteilten i n die Rechtsgemeinschaft" orientieren. Der Gefangene soll es lernen, sich unter den Bedingungen einer freien, pluralistischen, demokratisch verfaßten Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu

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behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken zu bestehen. I h m müssen daher, soweit erforderlich, Fähigkeit und Willen zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Diese Bestimmung des Vollzugsziels schließt verschiedene andere theoretisch denkbare Zwecksetzungen aus. Zunächst einmal w i r d der i n der Weimarer Zeit gebräuchlichen Vokabel vom Erziehungsvollzug — zumindest für den Bereich des Erwachsenenstrafvollzugs — eine A b sage erteilt; denn hier geht es i m Grundsatz u m eine modifizierte Form der Erwachsenenbildung, nicht u m ein patronales Verhältnis zwischen Mündigen und Unmündigen. Z u m zweiten w i r d damit die i n nordischen Vollzugsregelungen vielfach übliche Formulierung „Anpassung an die Gesellschaft" vermieden; ich halte sie wegen ihres assoziativen Gehalts zumindest für mißdeutbar: Nicht gesellschaftskonformes Verhalten kann erstrebenswertes Vollzugsziel sein, sondern vielmehr allein rechtstreue Handlungsweise; das ist, nach soziologischer Einsicht und jüngsten gesellschaftlichen Erfahrungen, ein gewichtiger Unterschied. Auch dem Strafrecht selbst kommt es entscheidend auf die Legalitätshaltung des Bürgers an. Noch i n dritter Hinsicht enthält die skizzierte Zielsetzung des Vollzugs eine entschiedene Absage. Sie gilt dem Sicherungszweck, der dem Strafvollzug gleichsam immanent ist. So gewiß zwangsweiser Freiheitsentzug die Öffentlichkeit für die Dauer der Haft vor dem Straftäter schützt, so klar sollte jedenfalls sein, daß die Sicherungsaufgabe keine Primärfunktion des Vollzugs sein kann. Denn sonst verbliebe er i n jenem heillosen „Zielkonflikt" von Sicherheit und Ordnung auf der einen und Resozialisierung auf der anderen Seite, der den heutigen Vollzug noch so sehr belastet. Schutz vor dem gefährlichen Täter ist vonnöten, aber eben nur vor dem gefährlichen! Alles andere ist ebenso ineffektive wie inhumane Kriminalpolitik. Deshalb ist auch die Sicherungsverwahrung als vornehmlich sicherungsorientierte Maßregel ein so problematisches Instrument; solange sie uns den Nachweis schuldig bleibt, daß sie es hauptsächlich oder gar allein mit gefährlichen Tätern zu t u n hat, w i r d sie sich gleichfalls vom Resozialisierungsgedanken leiten lassen müssen, wenn sie nicht zur bloßen Verwahrung denaturieren w i l l . Die bloße Verwahrung von Menschen kann aber sub specie constitutionis ernsthaft nur da erwogen werden, wo jeder mögliche Versuch einer Eingliederung zum Scheitern verurteilt ist; eine solche Feststellung läßt sich aber angesichts des heutigen Standes der Behandlungsforschung, wenn überhaupt, nur i n einer statistisch kleinen Zahl von Einzelfällen, schwerlich jedoch hinsichtlich ganzer Tätergruppen treffen. Schließlich stellt die Bestimmung des Vollzugsziels klar, daß künftig für den traditionellen Strafzweck der Vergeltung kein Raum mehr sein kann. Unter allen M i t t e l n zur Rückfallverhütung ist die Reproduzierung des Tatübels i n Gestalt des Strafübels das untauglichste. 4 Müller-Dietz

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Denn sie erhöht nur das Potential an Haß, Brutalität, Lebensuntüchtigkeit und Verantwortungslosigkeit, das uns aus den Straftaten entgegenschlägt, statt es abzubauen. Der Freiheitsentzug — und dieser Satz enth ü l l t i n der mündlichen Aussprache seine eigene doppelbödige Essenz — ist Übel genug. Zusätzliche Strafschärfungen zu praktizieren, wäre m i t den Grundgedanken einer rationalen Kriminalpolitik unvereinbar. Zudem w i r d der einzelne Gefangene i n einem Sozialisationsvollzug ohnehin manche Maßnahme als Strafübel empfinden, die gerade seiner Eingliederung dienen soll; denn w i r haben es — auch das muß, u m möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, gesagt werden — m i t einem Vollzug zu tun, der nicht nur der Anstalt und ihrem Personal, sondern auch den Gefangenen Leistungen abverlangt. Vielmehr muß der Vollzug negativen Auswirkungen des Freiheitsentzugs nach Kräften entgegenarbeiten, u m ein möglichst günstiges K l i m a für positive Veränderungen zu schaffen. Es scheint kein Zufall, daß die „Subkultur des Gefängnisses" vor allem i m Vergeltungs-, Sicherungs- und Verwahrungsvollzug alter Provenienz gedieh. Rechtsstellung und Behandlung des Gefangenen sind die beiden Pole, u m die Vollzugsgesetzgebung und -praxis kreisen. Dabei ist zu beachten, daß sie sich nur theoretisch voneinander trennen lassen, i n praxi vielfach unmittelbar zusammenhängen. Das w i r d am Gegensatz von Freiheit und Zwang einsichtig, u m dessen Lösung auch der künftige Vollzug nicht herumkommt. Jede Behandlungsmaßnahme w i r f t die Frage auf, ob und i n welchem Umfange der Gefangene zur M i t w i r k u n g verpflichtet werden kann und soll. Auch insoweit liefern uns die Grundgedanken der Verfassung, kriminalpolitische Einsichten und k r i minologische Erkenntnisse wesentliche, wenn auch allgemeine Ansatzpunkte. Wenn das Ziel des GG der mündige, freie Bürger ist, dann müssen auch und gerade die Behandlungsmethoden i m Strafvollzug dem angemessen sein. Das heißt, der Gefangene darf niemals Objekt der Behandlung sein; vielmehr muß er an ihr — nach Maßgabe seiner persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten — verantwortlich beteiligt werden. Das schließt die Mitgestaltung des Vollzugsplans und die M i t verwaltung i n der Anstalt ein. Hierbei steht nicht so sehr die Einräumung einklagbarer Mitwirkungsbefugnisse als gerade der Gesichtspunkt des sozialen Lernprozesses i m Vordergrund: Nur wer überhaupt Gelegenheit zur Selbstentfaltung, zur Einübung i n die Gruppe und i n größere Gemeinschaften hat, w i r d die Bewährungsprobe, die gesetzmäßige Lebensführung heißt, bestehen lernen. Die Strafanstalt muß daher ein „Ubungsfeld für soziales Verhalten" werden. Dies setzt die Annäherung ihrer Lebensbedingungen an die der freien Gesellschaft voraus. Wer i n der künstlichen Atmosphäre weitgehender Restriktionen und totaler staatlicher Bevormundung leben muß, w i r d m i t voraussagbarer

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Wahrscheinlichkeit wieder scheitern. Wer dagegen, freilich sorgsam abgestuft und dosiert, m i t den Chancen und Risiken freier Lebensgestaltung konfrontiert wird, sieht sich Startbedingungen gegenüber, die einen Vergleich m i t der Lebenswirklichkeit aushalten. Diese kriminaltherapeutischen Überlegungen stimmen i n ihren praktischen Konsequenzen weitgehend m i t verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten überein. Danach bleiben auch dem Gefangenen neben der Menschenwürde als dem obersten Verfassungsgrundsatz eine Reihe von Grundrechten prinzipiell ungeschmälert erhalten. Dies gilt insbesondere für die Gleichbehandlung, die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, das Recht auf Ehe und Familie, das Eigentumsrecht und das Petitionsrecht. Andere Grundrechte, die wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht der freien Meinungsäußerung, die Informationsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis einem Gesetzesvorbehalt unterliegen, dürfen jedoch, wie A r t . 19 Abs. 2 GG ausweist, i n ihrer Substanz nicht angetastet werden. Staatliche Eingriffe sind überdies allemal an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und an das Übermaßverbot gebunden. Das heißt i n letzter Konsequenz Beschränkung grundrechtlicher Restriktionen auf das für die Zwecksetzung des Vollzugs unerläßliche Maß: Nur sofern und soweit das Vollzugsziel dies erfordert, sind Grundrechtseinschränkungen statthaft. Dabei kann nach den bisherigen Überlegungen weder den Gesichtspunkten der Sicherheit und Ordnung noch sonstigen abgeleiteten, „sekundären" Vollzugsmaximen entscheidende Bedeutung zukommen. Vielmehr muß das Sozialisationsziel des Vollzugs inhaltsbestimmende und interpretatorische Leitlinie für die Festlegung der Grundrechtsschranken bilden. Diese Leitlinie selbst darf sich indes keineswegs bloß am überkommenen liberal-rechtsstaatlichen Gedanken der Ausgrenzung behördlicher Eingriffsbefugnisse orientieren. Wenn das Gebot sozialstaatlichen Handelns nicht lediglich unverbindlicher Programmsatz sein, sondern ernstgenommen werden soll, muß es auch auf die Grundrechtsinterpretation und die Rechtsstellung des Gefangenen ausstrahlen. Deshalb steht nach modernem Verfassungsverständnis nicht so sehr der Gedanke des Ausschlusses staatlicher Machtausübung aus bestimmten persönlichen Lebensbereichen des Gefangenen, sondern vielmehr der Gesichtspunkt staatlicher Hilfeleistung für den hilfsbedürftigen und sozial schwachen Menschen i m Vordergrund. Der k r i m i nalpolitischen Maxime, u m der Prävention w i l l e n an die Stelle von Repression Sozialisation zu setzen, korrespondiert hiernach die verfassungsrechtliche, Vollzugsmaßnahmen nicht mehr unter dem Blickwinkel von Eingriffen i n Rechte des Gefangenen zu sehen und zu treffen, sondern als integrativen Bestandteil eines umfassenden sozialpolitischen Programms zu begreifen und zu handhaben. Darin kommt das so4·

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ziale Verständnis des Rechts zum Ausdruck, das uns Radbruch gelehrt hat: der Gedanke nämlich, daß Recht zur solidarischen Hilfe verpflichtet, wo der einzelne ihrer bedarf. I n diesem Sinne fungieren Rechtsnormen nicht mehr nur als Begrenzung staatlichen und individuellen Handelns, sondern eröffnen gleichzeitig Chancen persönlicher und gesellschaftlicher Entfaltung. Wenn es das Ziel des liberalen Rechtsstaates war, den notwendigen Freiheitsraum für individuelle und gesellschaftliche Betätigung durch selbstauferlegte Schranken zu schaffen, so ist es gerade die Aufgabe des sozialen Rechtsstaates, steuernd und helfend einzugreifen, um die Selbstverwirklichung des einzelnen i m Kontext der Gesellschaft zu ermöglichen. Denn Freiheit von staatlicher Bevormundung ist sinnlos, soweit der einzelne sie gesellschaftlicher Abhängigkeiten und persönlicher Not wegen nicht zu realisieren vermag. Daraus resultiert ein gegenseitiges Rechte- und Pflichtenverhältnis zwischen Staat und Gefangenem. Der Pflicht des Staates, soziale Hilfe i m weitesten Sinne zu leisten, entspricht die Pflicht des Gefangenen, auf seine gesetzmäßige Lebensführung hinzuwirken, zu seiner Sozialisation beizutragen. Dem Recht des Gefangenen auf staatliche Unterstützung bei diesem Bemühen korrespondiert der Anspruch von Staat und Gesellschaft auf aktive Mitarbeit des Gefangenen. Freilich lassen sich diese Rechte und Pflichten nicht durchweg normativ präzisieren, etwa i n einklagbare Leistungsansprüche des Gefangenen und i n zwangsweise durchsetzbare Erwartungen des Staates an den Gefangenen verwandeln. So wenig sich ζ. B. das Recht des Gefangenen auf soziale Hilfe i n allen Einzelheiten gesetzlich konkretisieren läßt, so unsinnig wäre es, dessen Teilnahme an therapeutischen und Rehabilitationsmaßnahmen, wie etwa einer Berufsausbildung, unter der Androhung von Sanktionen erzwingen zu wollen. Das schließt indessen nicht aus, bestimmte Rechte und Pflichten normativ festzulegen, mag auch ihre praktische Durchsetzung nicht immer möglich sein oder ihre Konkretisierung der pflichtmäßigen und gerichtlich kontrollierbaren Entscheidung der Vollzugsbehörden überlassen werden müssen. I n diesem Sinne sind eine ganze Reihe von Rechten des Gefangenen anzuerkennen und gesetzlich zu regeln. Hierher gehören das Recht auf grundsätzlich freien Zugang zu allgemeinen Informationen, auf Kontakt m i t der Außenwelt, insbesondere m i t Angehörigen, auf soziale H i l fe des Staates, auf sinnvolle Beschäftigung, auf Arbeitslohn, auf Gesundheitsfürsorge, auf notwendige therapeutische Maßnahmen u. ä. m. Alle diese Rechte sind ohne einen gewissen Ermessensspielraum der Vollzugsbehörden nicht zu realisieren, denn welche Maßnahme i n concreto sachlich richtig geboten ist, läßt sich i m Zeichen des Individualisierungsprinzips praktisch nur von der Person des einzelnen Gefangenen her entscheiden; dabei muß entschieden davor gewarnt werden, den

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vielfach mißverstandenen Gleichbehandlungsgrundsatz überzustrapazieren. Dennoch sollte man — bei aller Problematik, die der Auslegung und Anwendung des Ermessensbegriffs i m Verwaltungsrecht nun einmal anhaftet — nicht übersehen, daß unter der Vielzahl theoretisch denkbarer Maßnahmen immer nur einige wenige als i m Einklang m i t den normativen Anforderungen stehend i n Betracht kommen können. So schließt z.B. das Recht auf Arbeit i n der Regel die Beschäftigung des Gefangenen m i t Flick-, Füll- und Verlegenheitsarbeiten aus, wäre eine Beschneidung des Arbeitslohns aus fiskalischen Gründen unstatthaft, wäre die Einschränkung von Kontakten m i t der Außenwelt i m Hinblick auf organisatorisch-technische Schwierigkeiten der Anstalt unzulässig, wäre der Mangel an ausreichender ärztlicher Versorgung m i t dem Fehlen entsprechender Einrichtungen niemals zu begründen. Der Beschluß des OLG Hamm zur Unterbringung von drei Gefangenen i n einer Einmannzelle hat gezeigt, daß sich hier sehr wohl rechtlich praktikable Maßstäbe entwickeln lassen, die eine Unterscheidung zwischen dem, was erlaubt oder geboten, und dem, was m i t der Rechtsstellung des Gefangenen unvereinbar ist, ermöglichen. Möglichst weitgehende Anpassung der Lebensbedingungen i n der Anstalt an die der Freiheit zeitigt verschiedene rechtliche Konsequenzen. Der Freiheitsraum des Gefangenen erweitert sich — nicht nur i m bildlichen Sinne; das Zwangsmoment reduziert sich auf das unerläßliche Maß. Das System der „totalen Institution" m i t seiner vielfachen Reglementierung jeglicher Lebensäußerungen t r i t t zurück zugunsten eines aufgelockerten Vollzugs, der Möglichkeiten der Bewährung und Selbstentfaltung schafft. Das Stichwort heißt: „Öffnung des Vollzugs". Spielt der Sicherheitsgedanke nur noch bei der relativ kleinen Zahl gefährlicher Täter eine entscheidende Rolle, so w i r d m i t der Vollzugsreform ein Abbau des Zwangsmoments einhergehen müssen. Denn freiere Lebensformen können den Prozessen der Dissozialisation, Infantilisierung und Hospitalisierung entgegenwirken, dem Gefangenen die Rückkehr i n das normale bürgerliche Leben erleichtern. Daher müssen gelockerter, offener und Freigängervollzug die Regel, geschlossener Vollzug die Ausnahme werden. Für die Einweisung des Gefangenen i n die jeweilige Anstalt sollten nicht so sehr formale Kriterien, wie etwa die Strafdauer, maßgebend sein, sondern i n erster Linie materielle Gesichtspunkte, wie etwa die Eignung des Gefangenen für die entsprechende Vollzugsart sowie besondere therapeutische Erfordernisse. Hierfür wäre ein möglichst flexibles und durchlässiges Vollzugssystem Voraussetzung. Der Wechsel von einer Anstalt zur anderen sollte wiederum i m Interesse einer optimalen Behandlung des einzelnen Gefangenen unbürokratisch gehandhabt und erleichtert, das Scheitern eines Gefangenen i n einer offenen Vollzugsform weniger unter moralischen Vorzei-

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chen gesehen und m i t disziplinarischen Konsequenzen versehen, als vielmehr unter dem Aspekt der individuellen Belastbarkeit und Persönlichkeitsentwicklung verstanden werden. Unabhängig von der jeweiligen Vollzugsform ist jedem Gefangenen eine „Minimalposition" einzuräumen, die sich auf sämtliche Lebensbereiche erstrecken muß. Dazu gehören insbesondere eine menschenwürdige, den Schäden des Freiheitsentzugs entgegenwirkende Behandlung und Unterbringung des Gefangenen sowie die für eine Sozialisation notwendigen Kommunikationsmöglichkeiten nach innen und außen. Daraus resultiert einmal eine stärkere Liberalisierung des Kontakts des Gefangenen zur Außenwelt. Einschränkungen lassen sich nur mehr aus Gründen des Vollzugsziels sowie der Sicherheit rechtfertigen. Demnach sind zeitliche Grenzen und Überwachung hinsichtlich des Briefverkehrs grundsätzlich entbehrlich. Zahl und Dauer der Besuche sollten möglichst großzügig festgesetzt, die Besuchskontrolle auf Einzelfälle beschränkt werden. Regelmäßige Beurlaubung aller dafür geeignet erscheinenden Gefangenen ist vorzusehen; außer der persönlichen Qualifikation sollten lediglich der Nachweis einer Unterkunft, nicht dagegen familiäre Bindungen vorausgesetzt werden. Verantwortliche Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung erfordert heute mehr denn je Informationsmöglichkeiten. Darum ist dem Gefangenen möglichst weitgehender Zugang zu den Massenmedien zu eröffnen. Freier Bezug von Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten sowie ungehinderte Beschaffung von Büchern gehören hierher. Grundsätzlich sollte auch die Benutzung eigener Rundfunk- und Fernsehgeräte nicht wie bisher ausgeschlossen werden. Grenzen ergeben sich insoweit lediglich unter räumlichen Gesichtspunkten, die natürlich einer unbeschränkten Anschaffung und Aufbewahrung eigener Gegenstände entgegenstehen. I m übrigen sollten die Anstalten, soweit es nicht ohneh i n schon geschehen ist, Gelegenheit zu regelmäßiger Unterrichtung und Unterhaltung i m Wege des Rundfunks, des Fernsehens und des Films schaffen. Denn auch bei Einführung einer Arbeitsentlohnung w i r d es immer wieder Gefangene geben, die aus finanziellen Gründen auf anstaltseigene Informationsmöglichkeiten angewiesen sind. Zudem spielt hier der allgemeine Gesichtspunkt eine wesentliche Rolle, daß die gemeinsame Benutzung von Massenmedien zur Entstehung von Diskussions- und Freizeitgruppen und damit zu einer kritischen Auseinandersetzung m i t der Umwelt beitragen kann. I n jedem Falle sollte von einer Zensur abgesehen werden, zumal sich dafür ohnehin schwerlich vernünftige Abgrenzungskriterien finden ließen. Hinsichtlich Behandlung und Unterbringung des Gefangenen i m einzelnen sind folgende Gesichtspunkte von Bedeutung: Da Sozialisation allemal Integration des einzelnen — i n welche Gruppe auch immer —

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voraussetzt, w i r d der Schwerpunkt des künftigen Vollzugs i n der Gruppenarbeit liegen müssen. Das gilt nicht nur für die beiden Bereiche der Arbeit und der Freizeit, die ohnehin heute schon weitgehend von gemeinschaftlicher Tätigkeit bestimmt sind. Vielmehr ist jene Lebensform für gezielte therapeutische Maßnahmen, wie etwa Gruppenpsychotherapie und group-counseling, geradezu konstitutiv. Daß diese, je nach Sachlage, durch eine Individualtherapie psychologischer, psychiatrischer oder medizinischer A r t unterstützt und ergänzt werden muß, versteht sich von selbst. Immerhin legt die grundsätzliche Orientierung der Lebensgestaltung i n der Anstalt an der Gruppe es nahe, ein zugleich personelles, organisatorisches und bauliches Modell der Anstalt zu entwikkeln, das auf dem Zusammenleben der Gefangenen i n kleinen Gruppen basiert. Neu wäre das nicht; man könnte an Radbruch anknüpfen, der früh schon das Pavillonsystem empfohlen hat; ausländische Vorbilder existieren bereits. Freilich dürfte und könnte eine solche Konzeption keineswegs an dem Grundsatz der Einzelunterbringung bei Nacht rütteln, der international allgemein anerkannt ist. Denn nicht zuletzt von seiner Verwirklichung hängt es ab, ob den Schäden des heutigen Vollzugs wirksam begegnet werden kann. Zu den bedeutendsten Lebensbereichen i n der Anstalt zählt, wie allgemein i m gesellschaftlichen Leben, die Arbeit. Sie wurde einst als konstituierendes Element des Strafübels Freiheitsstrafe begriffen. Bis i n die jüngste Zeit hinein hat die Rechtsprechung die Ausgestaltung der Gefangenenarbeit i n diesem Sinne interpretiert. Heute hat sich die Sicht entscheidend gewandelt. Die Arbeit des Gefangenen figuriert nicht mehr als Strafübel, sondern als wesentliches Element der Sozialisation. W i r brauchen weiterhin die Arbeitspflicht, aber nicht weil die naive Auffassung recht gehabt hat, daß die Erziehung zu Fleiß und Ordnung die entscheidende Vorbedingung für die Resozialisierung des Gefangenen setzt, sondern w e i l die Vorbereitung auf ein Leben i n der Leistungsgesellschaft, für die Arbeit und Beruf zu einem wesentlichen Gradmesser sozialer Zu- und Einordnung geworden sind, nun einmal ein entsprechendes Lebenstraining voraussetzt. W i r können und sollen dem Gefangenen, natürlich immer i m Rahmen seiner persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten, nicht die Anforderungen ersparen, die an den freien Bürger gestellt werden. Das bedeutet aber umgekehrt, daß w i r i h m auch keineswegs die Chancen der Weiterentwicklung, des sozialen Aufstiegs, die „draußen" existieren, vorenthalten dürfen. Hieraus sind mehrere gewichtige Konsequenzen zu ziehen. Die Anstalt muß nicht nur eine geeignete, sondern vor allem eine sinnvolle und produktive Beschäftigung des Gefangenen ermöglichen und i h m dadurch das Bewußtsein vermitteln, sozial nützliche Arbeit zu leisten. Dementsprechend müssen A r t und Ausgestaltung der Arbeitsbetriebe mehr als bis-

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her auf die Bedingungen der modernen Industriegesellschaft und technischen Welt zugeschnitten sein. Soweit erforderlich ist dem einzelnen Gefangenen eine marktorientierte Berufsausbildung zu vermitteln, die i h m nach der Entlassung auch eine echte Startchance gibt. Das Berufsbildungs- und das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 eröffnen neue Möglichkeiten für die Berufsausbildung Gefangener. Sie sollten — i m Benehmen m i t der Bundesanstalt für Arbeit und der freien Wirtschaft — genutzt werden. Die Angleichung der Arbeitsbedingungen i n der A n stalt an die der freien Gesellschaft hat ferner notwendig die Zahlung eines Arbeitsentgelts zur Folge, das dem Leistungsprinzip Rechnung trägt. Das bisherige System der — noch nicht einmal einklagbaren — Arbeitsbelohnung ist m i t dem Grundgedanken des sozialen Rechtsstaates unvereinbar. Der Gefangene muß auf diesem Gebiet grundsätzlich wie ein freier Arbeitnehmer behandelt werden. Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert — auch die des Gefangenen. Erhält er ein Arbeitsentgelt, dann lassen sich — zumindest teilweise — die Schwierigkeiten bereinigen, die sich bis zum heutigen Tage immer wieder aus der Anhäufung und Stornierung von Unterhalts- und sonstigen Schulden, insbesondere Schadensersatzverpflichtungen, bis zur Entlassung ergeben. Dem Gefangenen ist ζ. B. kaum einsichtig zu machen, w a r u m er während der Haft praktisch unentgeltlich arbeiten, aber gleichwohl nach seiner Entlassung noch finanziell für die Straftatfolgen aufkommen soll. Nicht zuletzt gehört zur Gleichstellung des Gefangenen m i t dem freien Arbeitnehmer seine grundsätzliche Einbeziehung i n das System der Sozialund Arbeitslosenversicherung. Folgerichtig w i r d der Gefangene künftig auch Steuern zahlen und eine Haftkostenpauschale für Unterkunft, Verpflegung und Bekleidung entrichten müssen. I n den Komplex der sozialen Hilfe, die der Staat dem Gefangenen zu leisten hat, gehört nicht nur die übliche fürsorgerische Unterstützung bei der Beschaffung von Papieren, Arbeit und Unterkunft für die Zeit nach der Entlassung sowie die Zusammenarbeit der Anstalt m i t den Sozialbehörden i m Interesse der Angehörigen. Vielmehr rechnen hierher entsprechend dem Bedeutungswandel, den die frühere Fürsorge durch das und nach dem BSHG erfahren hat, sozialpädagogische und Rehabilitierungsmaßnahmen, die neben der Beseitigung äußerer materieller Schwierigkeiten die Stärkung oder Weckung des Willens und der Fähigkeit des Gefangenen zum Ziel haben, sich und seinen Angehörigen selbst zu helfen. Dementsprechend müssen Vollzugsanstalt, Bewährungshilfe, soziale Gerichtshilfe sowie die Organisationen und Verbände der staatlichen und der freien Sozialhilfe vom ersten Tag der Haft an bis zur völligen Eingliederung des Entlassenen i n die Gesellschaft kontinuierlich und unbürokratisch zusammenarbeiten, um dem Verurteilten jederzeit die notwendige Unterstützung geben zu können.

Grundgedanken und Ziele der Strafvollzugsreform

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Aus dem Katalog bedeutsamer Lebensbereiche des Gefangenen und Vollzugsaufgaben seien noch Erwachsenenbildung und Freizeitgestaltung herausgegriffen. Hier sind vor allem die Erfahrungen zu nutzen, die bisher allgemein i m Rahmen der sog. Erwachsenenbildung gesammelt worden sind. Dabei geht es außer der berufsbezogenen Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten vor allem u m die Heranbildung gesellschaftlich verantwortlicher, Urteils- und kritikfähiger Persönlichkeiten. Der Gefangene soll es lernen, m i t und i m Dialog zu leben, Solidarität zu üben und die demokratischen Spielregeln zu praktizieren. Dieses — gewiß hochgesteckte — Ziel läßt sich, wenn überhaupt, keinesfalls zwangsweise und rasch durchsetzen; auch hier bedarf es, wie auf so vielen Gebieten des Vollzugs, der mühseligen Auseinandersetzung m i t der Person und ausdauernden Werbung für die Sache. Der künftige Vollzug fordert eben viel Kritikfähigkeit, Lernbereitschaft und Frustrationstoleranz — vom Vollzugspersonal wie allmählich auch von dem Gefangenen. Damit bin ich am Ende meines zwangsläufig fragmentarischen und kursorischen Uberblicks über die Zielvorstellungen hinsichtlich der künftigen Ausgestaltung des Strafvollzugs angelangt. Etliche Fragen und Themen sind ausgespart geblieben; sie reichen von der Anrede des Gefangenen bis zum Schußwaffengebrauch innerhalb und außerhalb der Vollzugsanstalt. Sie alle erschöpfend zu behandeln ist i m Rahmen eines Grundsatzreferats nicht möglich. Dennoch dürfte auch so deutlich geworden sein, welche Konzeption der Vollzugsreform zugrundeliegt. Sie ist — bei allem lebensnotwendigen Optimismus — nüchtern, pragmatisch und realistisch. Darin steckt zugleich die Einsicht i n die Begrenztheit unserer gegenwärtigen kriminologischen Erkenntnis wie eine gewisse, erfahrungsmäßig gewonnene anthropologische Skepsis, die vor dem Glauben warnt, es gäbe irgendein Palliativ zur restlosen Heilung von der gesellschaftlichen „Krankheit" Kriminalität. Doch enthält die skizzierte Vollzugskonzeption auch eine entschiedene Absage an eine Kriminalpolitik, die i n der Perpetuierung menschlicher Not ein wirksames Mittel zur Bekämpfung des Rückfalls erblickt. Menschliche Solidarität ist unteilbar; sie gilt den Opfern wie den Tätern von Verbrechen. Nur die A r t der Hilfe, die w i r ihnen jeweils schulden, ist verschieden. Die sittliche Grundforderung, u m die es geht, heißt Herstellung einer bewohnbaren Welt, bewohnbar für die, die m i t den Tätern und für die, die als Täter i n der künftigen Gesellschaft leben müssen. Darum bemüht sich die Konzeption, die der Strafvollzugsreform zugrundeliegt, u m Einsicht i n das, was zugleich notwendig und möglich ist. Es ist der Versuch, wenn Sie so wollen, die Wirklichkeit nach dem Bilde einer Utopie zu formen, die ihrerseits Realitätsgehalt hat, einer „konkreten Utopie" also.

Die Arbeit der Gefangenen Zu den wichtigsten Aufgaben einer Reform des Strafvollzugs gehört fraglos die Neuordnung des Gefangenenarbeitswesens. Sie steht i m Kontext der Gesamtreform des Vollzugs und muß von daher auch gesehen werden. Dabei ergeben sich eine Reihe praktischer und rechtlicher Fragen. Sie lassen sich m i t folgenden Stichworten kennzeichnen: Aufgabe der Gefangenenarbeit, Arbeitspflicht, (eventuelles) Recht des Gefangenen auf Arbeit, Arbeitsbedingungen, Arbeitsentlohnung, Verwendung des Arbeitsentgelts, berufliche Förderung des Gefangenen, versicherungsrechtliche Stellung des Gefangenen, Vollstreckungskosten, Organisation des Arbeitsbetriebswesens. Alle diese Fragen hier i m einzelnen zu behandeln ist schon aus zeitlichen Gründen nicht möglich. Beschränkung auf die wichtigsten Fragen ist daher geboten. Während die ursprüngliche Regelung des Gefangenenarbeitswesens i n den Nrn. 80 bis 97 DVollzO unverändert geblieben ist, zeichnen sich auf diesem Gebiet i n der Strafvollzugspraxis zunehmend Änderungen ab. Sie sind gleichfalls i n gewisser Weise typisch für die Situation des Umbruchs, i n der sich allgemein der heutige Strafvollzug befindet. Traditionelle Vollzugsstrukturen, wie etwa die der Zellenhaft und des Sicherungsvollzugs, werden allmählich von offeneren Formen des Vollzugs zurückgedrängt. Allgemeine soziale und wirtschaftliche Entwicklungen hinterlassen ihre Spuren i m Arbeitsbetriebswesen der Anstalten. Ein Großteil unserer Anstalten stammt bekanntlich aus der Zeit der Zellenhaft. Dementsprechend arbeiteten die Gefangenen früher durchweg auf der Zelle. Soweit überhaupt Arbeit außerhalb der Zelle verrichtet wurde, handelte es sich vorwiegend u m Arbeiten i m Moor, i n landwirtschaftlichen und Gärtnereibetrieben. A r t der Arbeit und Arbeitsbedingungen waren auf die damaligen Vollzugsaufgaben zugeschnitten. Ebensowenig hielt die Arbeitsorganisation einschließlich des Abrechnungswesens einen Vergleich m i t den Verhältnissen i n der freien Wirtschaft aus. Die Arbeit der Gefangenen wurde, wenn auch nicht i n ihrer praktischen Ausgestaltung, so doch zumindest theoretisch als integrierender Bestandteil des Strafübels begriffen. Dies erklärt auch die bis i n die jüngste Zeit hinein vertretene Ansicht, der Strafgefangene habe weder Anspruch auf Arbeitsentgelt noch auf Einbeziehung i n die Sozial- und Arbeitslosenversicherung. Ein Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung der Oberlandesgerichte i n den Verfahren nach §§ 23 ff.

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EG GVG sowie des Bundessozialgerichts mag hier genügen. Selbst ein Rechtsanspruch auf die Arbeitsbelohnung wurde verneint. Hinzu kam noch, daß die Möglichkeiten der beruflichen Aus- und Fortbildung den Arbeitsmöglichkeiten i m Vollzug entsprechend sehr begrenzt waren. Die Konsequenzen kann man sich leicht vergegenwärtigen, wenn man bedenkt, daß heute noch ca. ein Drittel der Strafgefangenen und Verwahrten praktisch keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, also „ungelernte Hilfskräfte" sind. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Ausgestaltung des Gefangenenarbeitswesens weder m i t der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung noch m i t den gewandelten Anschauungen vom Strafvollzug auf die Dauer zu vereinbaren war. Die Vollzugsbehörden haben daher i n der letzten Zeit erhebliche Anstrengungen auf sich genommen, u m diesen Anpassungsprozeß zu fördern. Durchweg wurden neben sog. Hausbetrieben und den anstaltseigenen Handwerksbetrieben Arbeitsbetriebe m i t industrieller Fertigung eingerichtet. Da i n den Anstalten vielfach die baulichen Voraussetzungen für die Einrichtung moderner Arbeitsbetriebe fehlten und heute noch fehlen, hat man sog. Werkhöfe errichtet, i n denen, von der Anstalt räumlich getrennt, die wichtigsten A r beitsbetriebe untergebracht sind. I n diesem Zusammenhang braucht nur auf die Strafanstalten Bruchsal und Mannheim hingewiesen zu werden. M i t dem räumlichen Ausbau ging auch allmählich eine Umstrukturierung der Arbeitsbetriebe einher. Heute finden sich i n manchen Anstalten Betriebe, die nach A r t der Arbeit, Arbeitsbedingungen und Ausstattung weitgehend den Verhältnissen i n der freien Wirtschaft entsprechen. Freilich sind die handwerklichen, landwirtschaftlichen und Gärtnereibetriebe nach wie vor überrepräsentiert. Gleichwohl hat sich, insgesamt gesehen, die Situation gebessert. Dies gilt auch für die Möglichkeiten beruflicher Aus- und Fortbildung. Sieht man von der Teilnahme an Fernkursen ab, über deren Wert man durchaus geteilter Auffassung sein kann, so ist jedenfalls das Angebot an anstaltseigenen K u r sen, Lehrgängen u. ä. deutlich angestiegen. Allmählich t r i t t die Ausbildung i n Handwerksberufen, die allgemein an Bedeutung verloren haben, gegenüber der Ausbildung i n wirtschaftlich gefragteren Berufen zurück. Allerdings liegt der Akzent eindeutig auf praktischen Berufen. Das ist angesichts der beruflichen und sozialen Herkunft, der Schichtzugehörigkeit der meisten Gefangenen sicher gerechtfertigt. Doch bleibt dadurch die Minderzahl derjenigen Gefangenen weitgehend unberücksichtigt, die geistige Berufe ausüben könnten und wollen. Immerhin gibt es schon Anstalten, die Gefangene ζ. B. zu Programmierern ausbilden. Auch das Arbeitsbelohnungswesen ist i n Bewegung geraten. Einige Länder sind dabei, die Belohnungssätze anzuheben, oder haben es bereits getan. Das bisherige System der kameralistischen Ein- und

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Ausgabenrechnung w i r d allmählich von dem der sog. Betriebskostenrechnungen nach dem Vorbild Niedersachsens abgelöst; das ermöglicht es, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der einzelnen Betriebe auf betriebswirtschaftlich einwandfreier Grundlage zu ermitteln. Schließlich ist noch zu erwähnen, daß i n zunehmendem Maße Gefangene außerhalb der Anstalt i n Betrieben der freien Wirtschaft unter annähernd normalen Bedingungen beschäftigt werden. Ein Beispiel dafür bildet das Gustav-Radbruch-Haus i n Frankfurt. Diese Entwicklung w i r d i n nächster Zeit noch zunehmen, wenn das i m Jugendstrafvollzug beheimatete Institut der Freigänger auch i m Erwachsenenstrafvollzug eingeführt wird. Die Veränderungen auf dem Gebiet der Gefangenenarbeit fallen i n eine Zeit verstärkter Reformbestrebungen i n allen Bereichen des Vollzugs. Auch wissenschaftlich hat man sich dieses Themas angenommen. Freilich bleibt kritisch anzumerken, daß die meisten Veröffentlichungen sich damit nur theoretisch oder vom Standpunkt des Vollzugspraktikers aus befassen. Empirische Untersuchungen, etwa sozialpsychologischer, betriebs- und organisationssoziologischer oder wirtschaftswissenschaftlicher A r t , liegen kaum vor. Bezeichnend für diese Situation ist auch, daß die Bundesstrafvollzugsstatistik keinerlei Daten über die A r t der Anstaltsbetriebe, die Höhe der durchschnittlich gezahlten A r beitsbelohnung sowie die Beschäftigung und berufliche Ausbildung der Gefangenen enthält. Lediglich die Hamburger Kommission zur Untersuchung des Gefangenenarbeitswesens hat Material, wenngleich nicht auf wissenschaftlicher Grundlage, für den Bereich eines Landes zusammengetragen. I h r Bericht weist Daten über A r t und Größe der Arbeitsbetriebe, Anzahl der jeweils i m Durchschnitt beschäftigten Gefangenen sowie über Lehr- und Ausbildungsmöglichkeiten i m hamburgischen Strafvollzug aus. Dieser Bericht entwickelt auf der Basis der ermittelten Daten ein realitätsnahes Konzept für die künftige Ausgestaltung des Gefangenenarbeitswesens. Er hat denn auch wesentlich zu den Beschlüssen der Strafvollzugskommission und der Regelung der Gefangenenarbeit i m Kommissionsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes beigetragen. Die Strafvollzugskommission hat sich auf ihrer I X . und X I . Tagung m i t dem Gefangenenarbeitswesen befaßt. Ihre — relativ umfangreichen — Grundsätze zur Ausgestaltung der Gefangenenarbeit haben sich i m wesentlichen i m 5. Titel des 2. Abschnitts, den §§ 39—49, sowie i n den §§ 140 und 147 c des Kommissionsentwurfs niedergeschlagen. Freilich fällt bei einem Vergleich der Grundsätze m i t den Entwurfsregelungen auf, daß diese manches aussparen, was ursprünglich i n der Sache von der Kommission beschlossen worden ist. Zum näheren Ver-

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ständnis muß gesagt werden, daß sich die Kommission bei der Paraphierung ihrer Grundsätze von folgenden Erwägungen hat leiten lassen: 1. Das Gesetz soll auf Regelungen m i t normativem Gehalt beschränkt bleiben. Aussagen m i t Programmcharakter sollen nach Möglichkeit vermieden werden, damit der Anspruch auf unmittelbare Verbindlichkeit auch glaubwürdig erscheint. Dies erklärt es, daß der Entwurf wesentlich weniger Vorschriften enthält als etwa die DVollzO. 2. Es gibt Materien, die sich für eine Regelung i m Gesetz nicht eignen. Das gilt etwa für Einzelheiten der Arbeitszuweisung, der innerbetrieblichen Organisation, des Rechnungswesens und der jeweiligen A r beitszeit der Gefangenen. Dafür kommen neben einer Rechtsverordnung vor allem Verwaltungsvorschriften und Hausordnungen i n Betracht. 3. Das Fehlen bestimmter Regelungen i m Entwurf ist darauf zurückzuführen, daß sie i n andere Gesetze gehören bzw. daß sie dort bereits anzutreffen sind. Wichtigste Beispiele dafür bilden etwa das Berufsbildungsgesetz vom 14. 8.1969 und die Reichs Versicherungsordnung. So können auch Gefangene unter bestimmten Voraussetzungen i n die Maßnahmen beruflicher Förderung einbezogen werden, die von der Bundesanstalt für Arbeit durchgeführt werden. Die Ausdehnung des Systems der sozialen Sicherheit auf die Gefangenen setzt eine Änderung der RVO voraus. So muß durch besondere sozialgesetzliche Regelung sichergestellt werden, daß die Verpflichtung der Gefangenen zur Arbeit ihrer Einbeziehung i n die Sozial- und Arbeitslosenversicherung nicht entgegensteht, w e i l nach der jetzigen Fassung der RVO Zwangsarbeit — abgesehen vom Komplex des Arbeitsunfalls — keinen Tatbestand darstellt, der die Versicherungspflicht auslöst. 4. Manche Fragen des Gefangenenarbeitswesens sind auch heute noch nicht hinreichend geklärt, so daß schon deshalb insoweit gesetzgeberische Zurückhaltung geboten ist. Das gilt insbesondere für die A r t der Betriebsorganisation. So kann aus den verschiedensten Gründen nicht gesagt werden, welche Organisationsform — Eigen- und Unternehmerbetriebe, GmbH, Stiftung oder Genossenschaft — optimal -erscheint. I n soweit müssen erst noch weitere praktische Erfahrungen gesammelt werden. 5. Nicht zuletzt erklärt sich das Fehlen bestimmter Regelungen aus Sachentscheidungen der Kommission selbst. Beispielhaft dafür sind zwei Fragenkreise: Der Entwurf enthält weder ein Recht des Gefangenen auf Arbeit noch die berühmt-berüchtigte Konkurrenzklausel der Nr. 83 DVollzO, die den Vollzugsanstalten bei der Auswahl und Beschaffung der Arbeit Rücksichtnahme auf die freie Wirtschaft vorschreibt. Die Kommission hat es aus noch darzulegenden Gründen für

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richtig gehalten, von der Aufnahme entsprechender abzusehen.

Bestimmungen

Nach diesen Vorüberlegungen ist nunmehr der Weg frei zur Erörterung der wichtigsten Sachentscheidungen der Kommission zum Gefangenenarbeitswesen. Bei einer Aufgliederung nach den eingangs erwähnten Gesichtspunkten ergibt sich folgendes: 1. Zweck der Gefangenenarbeit Die Arbeit des Gefangenen steht i m Kontext seiner Behandlung überhaupt. Sie dient daher dem allgemeinen Behandlungsziel des § 3 (§ 39 Abs. 1), wonach der Gefangene fähig werden soll, „künftig i n sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen". Unter Abstimmung m i t den übrigen Behandlungsmaßnahmen, die bei Gefangenen m i t Freiheitsentzug von mindestens 6 Monaten an i n den Vollzugsplan aufzunehmen sind (§ 8), soll die Arbeit vor allem die Fähigkeit des Gefangenen „fördern oder erhalten, sich nach der Entlassung durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu sichern". Die Funktion der Arbeit besteht also i n erster Linie darin, den Gefangenen für das Arbeitsund Berufsleben der freien Gesellschaft vorzubereiten. I n diesem Zusammenhang braucht nur an die Bedeutung der Arbeit als Faktor sozialen Aufstieges und Prestiges innerhalb einer Leistungsgesellschaft erinnert zu werden. Der Gesichtspunkt, daß Arbeit ein Strafübel sei, hat damit i m heutigen Vollzug keinen Platz mehr. 2. Arbeitszuweisung

und Arbeitspflicht

I n engem Zusammenhang m i t der Aufgabe der Gefangenenarbeit steht die weitere Frage nach der Arbeitspflicht des Gefangenen. Die Kommission ist ursprünglich von einer grundsätzlichen Arbeitspflicht — vorbehaltlich der Arbeitsfähigkeit natürlich — ausgegangen. Motiv dafür war die Erwägung, daß der Gefangene schwerlich sinnvoll auf das Leben i n der freien Gesellschaft vorbereitet werden kann, wenn er nicht zur Arbeit verpflichtet ist. Die Entwurfsfassung (§ 40 Abs. 1) spricht nunmehr von der Pflicht des Gefangenen „zur Leistung der i h m zugewiesenen Arbeit". Diese Regelung lehnt sich i n etwa an den § 21 Abs. 1 StGB i n der jetzt noch geltenden Fassung an. Damit sollte dem Gesichtspunkt der Sozialisationsfunktion der Arbeit keine Absage erteilt, sondern lediglich der Vollzugsbehörde die Möglichkeit eröffnet werden, i n bestimmten Fällen, i n denen es sinnvoll erscheint, von der Arbeitszuweisung abzusehen. Das kann nicht nur i m Fall einer Rezession, sondern auch i n den Fällen der Selbstbeschäftigung (§ 41 Abs. 2) praktisch werden, die ausdrücklich zugelassen ist.

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Die Arbeitszuweisung ihrerseits soll sich vor allem nach folgenden Gesichtspunkten richten: nach den Fähigkeiten, Fertigkeiten und — beruflichen — Neigungen des Gefangenen sowie nach seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber Unterhaltsberechtigten und Straftatgeschädigten (§ 39 Abs. 2). Damit werden zugegebenermaßen heterogene Zwecke zusammengefaßt. Die erste Gruppe von Gesichtspunkten bedarf nach den bisherigen Überlegungen keiner weiteren Erläuterung mehr; sie versteht sich auf Grund des Zwecks der Gefangenenarbeit von selbst. Die zweite Gruppe hingegen ist nur aus der Tatsache heraus zu erklären, daß der Gefangene künftig ein leistungsgerechtes Arbeitsentgelt erhält, das i h n — anders als bisher — i n die Lage versetzen wird, seinen finanziellen Verpflichtungen — zumindest teilweise — bereits i m Vollzug nachzukommen. Daß eine solche Regelung der Vollzugsbehörde einen weiten Ermessensspielraum für die Arbeitszuweisung eröffnet, liegt auf der Hand. Für die Fälle, i n denen Gefangenen qualifizierte Arbeit i m beschriebenen Sinne nicht zugewiesen werden kann, sieht der Entwurf gewisse Ersatzlösungen vor. Das spielt vor allem dann eine Rolle, wenn die A n stalt zur Beschaffung geeigneter Arbeit nicht i n der Lage ist oder wenn der Gefangene aus gesundheitlichen oder aus Altersgründen solche Arbeit nicht verrichten kann. Dann t r i t t an die Stelle der Zuweisung von Arbeit die Zuteilung einer „angemessenen Beschäftigung" bzw. Arbeitstherapie (§ 40 a). Auch diese Regelung soll eine möglichst sinnvolle Beschäftigung sicherstellen, die den Bedürfnissen individueller Behandlung Rechnung trägt. Es wurde bereits erwähnt, daß der Entwurf kein Recht des Gefangenen auf Zuweisung von Arbeit vorsieht. Ursprünglich hat die Kommission für die Aufnahme einer solchen Regelung ins Gesetz plädiert. Sie ist aber letztlich wieder davon abgekommen, weil die Anstalt sonst i n Krisensituationen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt würde. I n der Tat könnte allenfalls die Einführung eines eingeschränkten A n spruchs auf Arbeit erwogen werden. Größerer rechtlicher und praktischer Nutzen wäre damit jedoch nicht verbunden. Richtig ist freilich, daß der Schluß vom Fehlen eines solchen „sozialen Grundrechts" auf die Unzulässigkeit seiner Aufnahme ins Gesetz keineswegs stichhaltig wäre; denn vergleichbare Sachverhalte liegen nicht vor. 3. Berufliche Förderung und freies Arbeitsverhältnis Daß berufliche Aus- und Fortbildung sowie Umschulung i m künftigen Vollzug einen höheren Stellenwert als bisher erhalten müssen, liegt angesichts der Insassenstruktur unserer Anstalten auf der Hand. Der Entwurf ist bemüht, dem Rechnung zu tragen. So sieht er eine

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Beschäftigung zur Berufsausbildung, beruflichen Fortbildung oder Umschulung vor, die allerdings der Zustimmung des Gefangenen bedarf (§ 41 Abs. 1). Solche Gesichtspunkte können auch die Verlegung eines Gefangenen i n eine andere, geeignetere Anstalt rechtfertigen (§ 9 Nr. 2). Dementsprechend sind künftig „Anstalten m i t besonderen Einrichtungen zur allgemeinen und beruflichen Bildung" zu schaffen (§ 134 Abs. 1 Nr. 3). Über die Voraussetzungen beruflicher Förderung sagt der Entw u r f freilich nichts aus. Es hat sich praktisch als unmöglich erwiesen, einen vollständigen und klar abgrenzbaren Katalog solcher Fälle aufzustellen. § 61 Abs. 2 bestimmt lediglich, daß Gefangenen, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben oder die beruflich umgeschult werden, entsprechender Unterricht erteilt werden soll. Während die berufliche Förderung gleichsam von den persönlichen Verhältnissen des einzelnen Gefangenen abhängig gemacht werden muß, also nicht allgemein beurteilt werden kann, strebt der Entwurf i n besonderem Maße die freiwillige und selbständige Begründung eines Arbeitsverhältnisses durch den Gefangenen außerhalb des Strafvollzugs sowie die Selbstbeschäftigung an. Das kommt sogar i n einer Sollvorschrift zum Ausdruck (§ 41 Abs. 2). Sinn dieser Regelung ist es, vor allem den i n offenen Anstalten untergebrachten Gefangenen aus Gründen der Resozialisierung eine Beschäftigung i n der freien Wirtschaft zu ermöglichen. Der Gefangene kann u . U . auf solchem Wege auch Arbeiten verrichten, die i n der Anstalt nicht angeboten werden können. 4. Arbeitsentgelt,

Ausfallentschädigung

und Taschengeld

Einen Schwerpunkt der Reform bildet die Einführung der Arbeitsentlohnung. Der Gefangene, der die i h m zugewiesene Arbeit verrichtet, hat Anspruch auf ein „leistungsangemessenes Arbeitsentgelt" (§ 42 Abs. 1). Der Entwurf geht dabei von einem sog. Mindestentgelt aus, das drei Viertel des Durchschnitts des nach §§ 149 bis 152 RVO festgesetzten Ortslohnes beträgt. Er übernimmt damit i m Grundsatz das Hamburger Modell, das einen Durchschnittslohn von ca. 500,— D M brutto i m Monat anstrebt. Da der Ortslohn jedes Jahr neu festgesetzt wird, bleibt auf diese Weise der Anschluß an die allgemeine Lohn- und Preisentwicklung gewahrt. Dem System der Arbeitsentlohnung liegen folgende Erwägungen zugrunde: Der Entwurf geht von einer weitestgehenden Angleichung der Arbeitsbedingungen i m Vollzug an die Verhältnisse der freien Wirtschaft aus. Dazu gehört konsequenterweise die Zahlung eines leistungsgerechten Arbeitsentgelts. Wenn jede Arbeit ihres Lohnes wert ist, so audi die des Gefangenen. Daß der Gefangene zur Arbeit verpflichtet ist, steht dem nicht entgegen. Aus der Zahlung von Arbeitsentgelt ergeben sich gewichtige praktische Konsequenzen

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für die Resozialisierung des Gefangenen. Sie schafft eine wesentliche Voraussetzung für die Einbeziehung des Gefangenen i n das System der sozialen Sicherheit, w e i l das Entgelt nunmehr i m Regelfall den M i n destbetrag erreicht, der die Versicherungspflicht begründet. Des weiteren kann der Gefangene dann — zumindest teilweise — seiner Unterhaltspflicht genügen und Schadensersatz leisten. Er w i r d m i t einer geringeren Schuldenlast, i n manchen Fällen sogar schuldenfrei die A n stalt verlassen können. Daß dies seine Eingliederung erleichtert, versteht sich von selbst. Man w i r d sich fragen, warum der Entwurf den von § 39 Abs. 2 Satz 1 AE vollzogenen Schritt zum Tariflohn nicht getan hat. Der Grund dafür liegt einfach darin, daß er sich die ziemlich realistischen Kostenberechnungen des Hamburger Berichts zu eigen gemacht hat. Andererseits sieht der Entwurf eine Obergrenze für das Arbeitsentgelt nicht vor, so daß schon nach der jetzigen Regelung die Zahlung von Tariflohn i n entsprechenden Fällen durchaus möglich ist. Immerhin bleibt zu berücksichtigen, daß auch bei einer Angleichung der Betriebsstrukturen an die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse vollzugsbedingte Unterschiede gegenüber den Arbeitsleistungen i n der freien Gesellschaft bestehen werden. So gibt es i n der Anstalt immer wieder Störungen oder Unterbrechungen i m Arbeitsablauf, m i t denen sonst normalerweise nicht gerechnet werden muß. Auch kommt es durchaus vor, daß Gefangene — etwa aus mangelndem inneren Antrieb — nur unzureichende Arbeitsleistungen erbringen. I n diesen Fällen kann nach dem Entwurf sogar das sog. Mindestentgelt unterschritten werden (§ 42 Abs. 2). Sonderprobleme entstehen bei denjenigen Gefangenen, die sich i n Berufsausbildung befinden, denen keine geeignete Arbeit zugewiesen werden kann oder die aus gesundheitlichen oder Altersgründen solche Arbeit nicht verrichten können. Hier entspricht es der Billigkeit, daß sie nicht völlig leer ausgehen. W i r d ein Gefangener zu Zwecken beruflicher Förderung beschäftigt, erhält er eine „angemessene Ausbildungsbeihilfe" (§ 42 Abs. 3); dadurch w i r d gleichzeitig sein berufliches Interesse honoriert. Arbeitsfähige Gefangene, denen ohne ihr Verschulden keine qualifizierte Arbeit zugewiesen werden kann, erhalten eine „angemessene Ausfallentschädigung" (§ 43 Abs. 1). Bedürftige Gefangene, die aus gesundheitlichen oder Altersgründen keine Arbeit verrichten können, werden m i t einem „angemessenen Taschengeld" abgefunden (§ 43 Abs. 2). Diese Regelungen orientieren sich an allgemeinen rechtlichen Gesichtspunkten, wie sie i m Berufsbildungs- und Berufsförderungsgesetz, i m Recht der Arbeitslosenversicherung sowie i m BSHG Ausdruck gefunden haben. Man hätte durchaus den Anwendungsbereich der einschlägigen Vorschriften auf die Gefangenen ausdehnen 5 Müller-Dietz

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können, soweit dies nicht schon ohnehin der Fall ist. Die Kommission ist jedoch der Ansicht gewesen, daß eine vollzugsinterne Lösung vorzuziehen ist, w e i l sie eine übersichtliche und leichtere Handhabung ermöglicht. 5. Verwendung

des Arbeitsentgelts

Eine abschließende Regelung der Verwendung des Arbeitsentgelts i m Strafvollzugsgesetz begegnet gewissen rechtlichen Schwierigkeiten. Sie ergeben sich einmal daraus, daß der Gefangene i n seiner zivilrechtlichen Verpflichtungs- und Verfügungsfreiheit durch den Freiheitsentzug grundsätzlich nicht eingeschränkt ist. Andererseits liegt auf der Hand, daß die Dispositionsfreiheit dem Resozialisierungsgedanken nicht zuwiderlaufen soll. So kann man dem Gefangenen weder das Recht einräumen, über das Arbeitsentgelt uneingeschränkt zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse i n der Anstalt zu verfügen, noch kann auf die Bildung einer A r t Rücklage für die erste Zeit nach der Entlassung verzichtet werden. Diese Gesichtspunkte müssen wiederum m i t der Pflicht des Gefangenen zur Zahlung eines Haftkostenbeitrags i n Einklang gebracht werden, die notwendig aus der Angleichung der Lebensbedingungen i n der Anstalt an die allgemeinen Lebensverhältnisse folgt. Ferner ist zu beachten, daß das Strafvollzugsgesetz die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche und die Zwangsvollstreckung nicht regeln kann. So ist es schlechterdings nicht möglich, Vorschriften über den Vorrang solcher Forderungen und über einen etwaigen Pfändungsschutz ins Gesetz aufzunehmen. Daraus erklärt sich die merkliche Zurückhaltung des Entwurfs hinsichtlich der Regelung jener Fragen. Schließlich sieht der Entwurf davon ab, sich über die Pflicht des Gefangenen zur Zahlung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen — e t w a nach dem Vorbild des § 39 Abs. 2 Satz 2 A E — zu äußern. Das ist i n der Eigenart dieser Regelungsmaterien begründet. Wann und unter welchen Voraussetzungen Steuern entrichtet werden müssen, kann nur das Steuerrecht selbst (z.B. die RAO) bestimmen. Entsprechendes gilt für die Festlegung der Tatbestände, die die Sozialversicherungspflicht auslösen. Ein Strafvollzugsgesetz kann dazu naturgemäß nichts sagen. Der Entwurf geht von einer gewissen Rangfolge i n der Aufteilung und Verwendung des Arbeitsentgelts aus. Er regelt das Hausgeld, Unterhaltsgeld, den Haftkostenbeitrag, das Überbrückungsgeld und das Eigengeld. Uber einen Teil des Arbeitsentgelts, das sog. Hausgeld, darf der Gefangene frei verfügen (§ 44 Abs. 1). So kann er damit wie bisher seinen sog. Zusatzeinkauf finanzieren (§ 24 Abs. 1). Das Hausgeld beträgt mindestens D M 30,—; höhere Beträge können vorgesehen werden

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(§ 44 Abs. 2). Der Entwurf ist darum bemüht, die Höhe des Hausgeldes i n Beziehung zur Arbeitsleistung des Gefangenen und Höhe der Rücklage zu setzen. Von dem verbleibenden Arbeitsentgelt kann der Gefangene freiwillig gesetzliche Unterhaltspflichten erfüllen. A u f seinen Antrag muß die Anstalt den entsprechenden Betrag, das sog. Unterhaltsgeld, an den Berechtigten abführen (§ 45 Abs. 1). Damit versucht der Entwurf wenigstens für diejenigen Fälle aus der Not fehlender Möglichkeit, einen gesetzlichen Vorrang zugunsten des Unterhaltsberechtigten zu statuieren, eine Tugend zu machen, i n denen der Gefangene zur Zahlung bereit ist. Freilich ändert sich das sofort, wenn die Einkünfte des Gefangenen zur Bildung von Haus- und Unterhaltsgeld sowie zur Begleichung des sog. Haftkostenbeitrags nicht ausreichen. I n diesem Fall w i r d die unpfändbare Summe (§ 850 c ZPO) qua Haftkostenbeitrag an die Anstalt abgeführt; lediglich der Betrag, der darüber hinaus nach Abzug des Hausgeldes zur Verfügung steht, kann dann als Unterhaltsgeld gezahlt werden (§ 45 Abs. 2). Diese kompliziert erscheinende Regelung ist darauf zurückzuführen, daß ja der pfändungsfreie Betrag nach der ZPO dazu dienen soll, den notwendigen Unterhalt des Schuldners sicherzustellen. Da die Anstalt aber i n jedem Fall für den Unterhalt des Gefangenen sorgt, kann sie auch i n einem solchen finanziellen Engpaß den pfändungsfreien Betrag für sich i n Anspruch nehmen. Die Pflicht des Gefangenen zur Zahlung des Haftkostenbeitrags selbst folgt, wie schon erwähnt, aus der Angleichung der Lebensbedingungen i n der Anstalt an die allgemeinen Lebensverhältnisse. Da man auch sonst bei Heimaufenthalten regelmäßig für Verpflegung, Bekleidung und Unterbringung (vgl. §§ 18—23 des Entwurfs) aufkommen muß, gilt das gleiche für den Gefangenen. Dementsprechend darf die Anstalt einen Haftkostenbeitrag bis zu dem i n § 160 RVO festgesetzten Betrag einbehalten (§ 46 Abs. 1). Das würde derzeit bei einem Satz von D M 6,50 pro Tag auf ca. D M 200,— monatlich hinauslaufen. Freilich handelt es sich bei dieser — zugegebenermaßen fiktiven — Summe u m einen Höchstbetrag; die Vollzugsbehörde kann i h n unterschreiten. Die bisherige Regelung der Haftkosten i m § 10 der Justizverwaltungskostenordnung ist durch die Einführung des Haftkostenbeitrags überholt; sie muß entsprechend geändert werden. K ü n f t i g w i r d nur mehr der Haftkostenbeitrag als Kosten für die Vollstreckung von Freiheitsentzug erhoben. Wer die i h m zugewiesene Arbeit schuldhaft nicht verrichtet, muß dafür m i t seinen sämtlichen Einkünften aufkommen. Wer unverschuldetermaßen nicht arbeitet oder nicht genügend verdient, haftet m i t seinen laufenden Einkünften für die Vollstreckungskosten. Dabei genießen Hausgeld, Überbrückungsgeld und gesetzliche Unterhaltsansprüche Vorrang (§10 JVerwKO n. F.). ι·

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A n vierter Stelle der Rangliste von Hausgeld, Unterhaltsgeld und Haftkostenbeitrag steht das sog. Überbrückungsgeld (§ 47). Es stimmt insofern m i t der bisherigen Rücklage überein, als es gleichfalls dazu dienen soll, die Eingliederung des Entlassenen i n die Gesellschaft zu erleichtern. Von der Rücklage unterscheidet es sich jedoch insofern, als keineswegs der nach Abzug jener Gelder verbleibende Restbetrag des Arbeitsentgelts i n vollem Umfang Überbrückungsgeld wird. Vielmehr ist das Überbrückungsgeld der Höhe nach begrenzt. Es soll so bemessen sein, daß es „den Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten sechs Wochen nach seiner Entlassung sichert" (§ 47 Abs. 1). Was nicht Überbrückungsgeld wird, w i r d dem Gefangenen als sog. Eigengeld gutgeschrieben (§ 48), über das grundsätzlich frei verfügt werden kann. Der Sinn dieser Regelung liegt ersichtlich darin, einerseits einen gewissen, als ausreichend und erforderlich erachteten Betrag für die Übergangszeit nach der Entlassung zurückzustellen, andererseits aber nicht das ganze restliche Arbeitsentgelt des Gefangenen seiner Dispositionsfreiheit zu entziehen. Denn das Überbrückungsgeld ist nicht nur unpfändbar (§ 47 Abs. 4), sondern auch für den Gefangenen bis zur Entlassung grundsätzlich nicht verfügbar (§ 47 Abs. 2). Nur ausnahmsweise kann es der Gefangene m i t Genehmigung des Anstaltsleiters für Ausgaben verwenden, die der Eingliederung dienen (§ 47 Abs. 3). Der Komplex der Verwendung des Arbeitsentgelts bedarf noch zweier prinzipieller Bemerkungen. Man darf sich der Tatsache nicht verschließen, daß auch die Einführung eines leistungsangemessenen Arbeitsentgelts keineswegs alle finanziellen Schwierigkeiten beseitigt, die bisher die Resozialisierung des Gefangenen so ungemein belastet haben. Auch künftig w i r d es — aus den verschiedensten Gründen — zu Fällen m i t niedrigem Einkommen oder gar Taschengeld kommen; das ist gerade bei dem Personenkreis, der i n die Vollzugsanstalten eingewiesen wird, relativ häufig der Fall. Ferner ergeben sich selbst bei Zahlung eines Arbeitsentgelts noch ungelöste Fragen. Geht man von einem durchschnittlichen Bruttolohn von D M 500,— aus, so verbleiben dem Gefangenen nach Abzug von Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen, Hausgeld, Haftkostenbeitrag und Überbrückungsgeld allenfalls D M 180,— bis D M 200,—; möglicherweise ist sogar das noch zu hoch gegriffen. Was hiernach für Unterhaltsleistungen und Schadenswiedergutmachung übrigbleibt, w i r d i n vielen Fällen nicht ausreichen. Insbesondere größere Straftatschäden werden auch künftig m i t solchen Beträgen nicht wiedergutgemacht werden können. Deshalb erwägt man hier, den Staat nach englischem Vorbild i n Gestalt eines besonderen Fonds i n Vorhand treten zu lassen, u m auf diese Weise zumindest bei sozialer Bedürftigkeit des Straftatopfers versicherungsrechtlich nicht

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abgedeckte Schäden abzugleichen. Der Staat könnte dann i n vertretbarem Umfang beim Täter Rückgriff nehmen. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Mehraufwendungen des Staates, die aus der Zahlung von Arbeitsentgelt resultieren. Verläßliche Daten liegen hierüber deshalb nicht vor, w e i l noch nicht abzusehen ist, wie eine rationelle, betriebswirtschaftlich sinnvolle Ausgestaltung des Arbeitsbetriebswesens i m Kostensektor zu Buche schlagen wird. Zweifellos w i r d die Schaffung von konkurrenzfähigen Arbeitsbetrieben die Kostenstruktur günstig beeinflussen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß dies eine Steigerung der laufenden Investitionen voraussetzt und daß aus vollzugsinternen Gründen eine völlige Angleichung an die Ertragslage der Betriebe i n der freien Wirtschaft nicht möglich erscheint. Damit werden Mehraufwendungen für den Vollzug nötig, die letztlich zu Lasten des Staatshaushalts, sprich: Steuerzahlers gehen. 6. Arbeitsurlaub Der Grundsatz der Angleichung der Gefangenenarbeit an die Arbeit i n der freien Wirtschaft zeitigt nicht nur bestimmte entlohnungsmäßige, sozialversicherungsrechtliche und steuerrechtliche Konsequenzen. Er muß auch dazu führen, daß dem arbeitenden Gefangenen wie dem freien Arbeitnehmer bezahlter Urlaub gewährt wird. Dementsprechend kann der Gefangene i m Jahr 14 Tage Arbeitsurlaub beanspruchen (§ 49 Abs. 1). Das Entgelt richtet sich nach dem durchschnittlichen Jahresverdienst. Zeiten freiwilliger Arbeit i n der Untersuchungshaft oder unverschuldeten Arbeitsausfalls werden dabei berücksichtigt (§ 49 Abs. 2). Der Entwurf geht grundsätzlich davon aus, daß der Urlaub außerhalb der Anstalt verbracht wird. Erhält der Gefangene sog. Regel- oder Resozialisierungsurlaub (§ 13) oder w i r d er aus wichtigem Anlaß beurlaubt (§ 37 Abs. 1), dann w i r d diese Zeit auf seinen Arbeitsurlaub angerechnet. Unterbleibt eine Beurlaubung aus der Anstalt — etwa aus Sicherheitsgründen —, dann muß der Gefangene seinen A r beitsurlaub i n der Anstalt verbringen. Für diese Fälle w i r d ein verstärktes Freizeit- und Bildungsangebot vorzusehen sein. 7. Organisation und Beaufsichtigung

der Arbeitsbetriebe

Besondere Zurückhaltung zeigt der Entwurf aus den bereits erwähnten Gründen hinsichtlich der Regelung von Organisation und Form der Arbeitsbetriebe. Immerhin enthält er eine Reihe von Vorschriften auf diesem Gebiet, die eine Beschäftigung der Gefangenen entsprechend dem allgemeinen Behandlungsziel und den besonderen Aufgaben der

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Gefangenenarbeit sicherstellen sollen. So hängt etwa die Belegungsfähigkeit einer Anstalt auch davon ab, daß eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen für die vorgesehene qualifizierte Beschäftigung zur Verfügung steht. Die für die gekennzeichnete Beschäftigung, Ausbildung und Umschulung der Gefangenen erforderlichen Betriebe müssen eingerichtet werden (§ 140 Abs. 1). Die Anstaltsbetriebe sind wie entsprechende Betriebe außerhalb der Anstalt einzurichten. Daß sie den Unfallverhütungsvorschriften und den Anforderungen der Arbeitshygiene entsprechen müssen, versteht sich praktisch von selbst (§ 140 Abs. 2). Die Arbeitsbetriebe der Anstalt werden von Beamten des Werkdienstes geleitet; die Zuziehung von Werksangehörigen i n Unternehmerbetrieben ist wie bisher zulässig (§ 147 c Abs. 1). Der Entwurf schreibt ausdrücklich vor, daß die Betriebe nach allgemeinen betriebswirtschaftlichen und fachlichen Gesichtspunkten zu leiten sind (§ 147 c Abs. 2). Der Werkdienst besteht grundsätzlich aus hauptamtlichen Fachkräften; ausnahmsweise können nebenamtliche oder vertraglich verpflichtete Fachkräfte herangezogen werden (§ 147 c Abs. 3). Die Aufsicht über das Arbeitswesen i n den Anstalten w i r d durch Fachkräfte der Aufsichtsbehörde ausgeübt (§ 143 Abs. 1). Insgesamt lassen diese Regelungen die Tendenz erkennen, den Grundsatz weitestmöglicher Angleichung der Gefangenenarbeit an die Arbeit i n der freien W i r t schaft auch von der Organisation, Leitung und Beaufsichtigung der Arbeitsbetriebe her durchzusetzen.

Probleme des modernen Strafvollzugs Strafvollzug — das meint Freiheitsentzug, der vom Strafrichter als Rechtsfolge auf eine oder mehrere Straftaten angeordnet worden ist. Es gab früher einmal -einen weiteren Begriff des Strafvollzugs, der alle Arten von strafweisen Sanktionen, von der Geldstrafe bis zur Todesstrafe, einschloß. I m Laufe der Zeit haben sich die vielfältigen Reaktionen auf kriminelles Unrecht i m wesentlichen auf zwei Grundtypen reduziert: die Geldstrafe und die Freiheitsstrafe. Gestraft w i r d heute „ n u r " noch am Einkommen oder Vermögen und an der Freiheit. Das Schwergewicht liegt eindeutig bei der Geldstrafe, die praktisch zwei D r i t t e l aller jährlichen Verurteilungen i m Bundesgebiet ausmacht. Demgegenüber t r i t t der Strafvollzug, rein zahlenmäßig genommen, an Gewicht zurück. Dementsprechend beläuft sich die Zahl der Strafgefangenen und Verwahrten, die sich an einem beliebigen Stichtag i m Bundesgebiet „hinter Mauern" befinden, auf 47 000 bis 50 000, wobei freilich zu berücksichtigen ist, daß dieses B i l d durch eine starke F l u k tuation infolge häufiger Zu- und Abgänge — i m Jahre 1968 i n der Größenordnung von jeweils über 400 000 Verurteilten — erheblich verzerrt wird. Dennoch lassen diese Zahlen die wahren Probleme des Strafvollzugs kaum ahnen, geschweige denn erkennen. Denn u m überhaupt etwas aussagen zu können, müßten solche Zahlen einerseits zu dem Bevölkerungswachstum, der Kriminalitätsbewegung, andererseits zu der Größe und Verfassung der Anstalten, ihrer personellen und sachlichen Ausstattung i n Beziehung gesetzt werden. Aber auch dann ergäbe sich nur ein unvollkommenes Bild, w e i l selbst derartige Statistiken schwerlich die sozialen und menschlichen Probleme des Freiheitsentzugs fixieren und benennen könnten. Würden Zahlen über die Bedeutung von Problemen entscheiden, wären der Vollzug der Sicherungsverwahrung, der Frauenstrafvollzug und der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe vergleichsweise belanglos, könnten praktisch ignoriert werden. „Indes gibt es i m Vollzug keine Korrelation zwischen der Zahl der Gefangenen und dem Gewicht der m i t der Inhaftierung verbundenen Fragen: Die menschlichen Schwierigkeiten sprechen für sich selbst" (Müller-Dietz). I n der Tat sieht hierin eine breite Öffentlichkeit die eigentlichen Probleme des Strafvollzugs. Spätestens seit den Vorfällen i m Kölner „Klingelpütz" und i n der Hamburger „Glocke" hat sich ihrer ein wach-

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sendes Interesse angenommen, gefördert durch öffentliche Reformdebatten, die Tätigkeit parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und nicht zuletzt durch eine starke Öffentlichkeitsarbeit der Justizverwaltung selbst. Mögen auch die publizistischen Begleittöne manchmal schrill gewesen sein, die Perspektiven verzerrt, so w i r d man dennoch sagen dürfen, daß die Massenmedien an jener Entwicklung nicht unbeteiligt gewesen sind. Man ist heute darum bemüht, ein differenzierteres B i l d zu erarbeiten, nachdem sich sehr bald gezeigt hat, daß weder jene Skandale typisch sind für unseren Strafvollzug noch dieser so wirksam scheint, wie man sich von i h m erhofft. Freilich ist es immer leichter, den Strafvollzug unter dem Vorzeichen seiner Verurteilung als zu hart oder zu milde zu brandmarken und i n jene billige Schwarzweißmalerei zu verfallen, wie sie für gängige und beliebte Meinungen auf dem Markt charakteristisch ist. Fehlwertungen und Mißverständnisse dieser A r t werden lebendig, wenn etwa bekannte Tageszeitungen das Ergebnis der Beratungen des 48. Deutschen Juristentages, der sich u. a. mit der Reform des Strafvollzugs beschäftigte, i n der Uberschrift zusammenfassen: „Das Gefängnis soll wie ein Krankenhaus sein." Solche Feststellungen provozieren innere Widerstände bei dem, der den Vergleich des Straftäters m i t dem Kranken als unangemessen, weil sachw i d r i g oder kränkend, empfindet und Ablehnung bei dem, der darin eine unangebrachte Privilegierung dessen erblickt, der fremde Rechtsgüter mißachtet hat. I n der Tat liefern Alternativen wie „Kerker oder Sanatorium" effektvolle, publikumswirksame Schlagzeilen; daß sie aber die Wirklichkeit des heutigen Vollzugs und die maßgeblichen Reformbestrebungen treffen, muß entschieden bezweifelt werden. Der Strafvollzug ist nicht nur ins Kreuzfeuer einer durchaus heterogenen öffentlichen K r i t i k geraten. Auch die Wissenschaft, vor allem die Kriminologie, bemüht sich seit einiger Zeit darum, Aufschluß zu gewinnen über die Wirksamkeit des Freiheitsentzugs, die Auswirkungen auf die davon Betroffenen und die daran Beteiligten aus dem vitalen Interesse heraus, Daten für die künftige Ausgestaltung des Vollzugs zu ermitteln. Das setzt freilich schon eine gewisse Vorstellung über die Aufgaben des Strafvollzugs voraus. Man geht davon aus, daß der Strafvollzug am Zweck aller Strafrechtspflege, der Verbrechensbekämpfung, durch Einwirkung auf das Bewußtsein der Allgemeinheit und des Straftäters partizipiert. Dem Vollzug fällt dabei insbesondere die Aufgabe zu, weitere Straftaten des Verurteilten zu verhüten. Diese Zwecksetzung — so selbstverständlich sie uns unter dem Vorzeichen einer rationalen Kriminalpolitik auch scheinen mag — war keineswegs immer vorherrschend; es gab Zeiten, i n denen sich die Funktion des strafweisen Freiheitsentzugs i n der Vergeltung der Tat oder i n der bloßen Verwahrung erschöpfte.

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Und noch eine zweite Prämisse liegt den heutigen wissenschaftlichen Bemühungen u m den Strafvollzug zugrunde: die Erkenntnis nämlich, daß es u m i h n nicht so bestellt ist, wie es i m Interesse einer optimalen Verbrechensbekämpfung sein sollte. Ein kürzlich erschienenes Buch drückt diesen Sachverhalt m i t der Uberschrift aus: „Was stimmt nicht mit dem Strafvollzug?" (Schüler-Springorum). W i r werden sehen, daß die Wissenschaft auf diese zweifellos berechtigte Frage zwar manche Antworten bereithält, die sich aber ihrerseits wieder Fragen ausgesetzt sehen. Wenn eine gewisse Vereinfachung erlaubt ist: W i r können heute einigermaßen angeben, wo die Mängel des bisherigen Strafvollzugs liegen, wie jedoch ein leistungsfähiger Vollzug i m einzelnen auszusehen hätte, läßt sich nur m i t Vorbehalt sagen. So harrt ζ. B. die zentrale Frage nach der richtigen Behandlung des einzelnen Straftäters zum Zwecke der Rückfallverhütung nach wie vor einer verbindlichen Antwort. Auch hier müssen w i r zwischen der Scylla kriminalpolitischer Resignation, die weitere Anstrengungen für nutzlos hält, und der Charybdis kriminaltherapeutischer Euphorie, der alles machbar erscheint, noch hindurch. Reformbemühungen sind nicht nur i n Öffentlichkeit und Wissenschaft spürbar; sie kennzeichnen auch die organisatorischen, personellen und baulichen Maßnahmen der Länder und die Gesetzgebungsarbeiten i m Bund. Die Länder haben i n den letzten Jahren erhebliche finanzielle Anstrengungen auf sich genommen, u m gewisse Minimalvoraussetzungen eines besseren Strafvollzugs zu schaffen. Neue Anstalten wurden errichtet, bestehende aus- und umgebaut, insbesondere modernen Vorstellungen angepaßt. Das gilt vor allem für die Ausstattung der Zellen und Arbeitsbetriebe, die ζ. T. überaltert waren und heutigen Anforderungen nicht mehr entsprachen. Das i n verschiedenen A n stalten noch bestehende Kübelsystem wurde durch einwandfreie sanitäre Einrichtungen abgelöst, die vielfach i n Keller- und Speicherräumen untergebrachten Arbeitsbetriebe i n sog. Werkhöfen zusammengefaßt, die auch die Übernahme moderner Produktionsmethoden i n den Vollzug erlauben, der Grundsatz der Einzelunterbringung der Gefangenen bei Nacht weitgehend verwirklicht. Vergleichbare Bemühungen der Länder gelten der Verbesserung der Personalstruktur i n den Anstalten. Dabei zeichnen sich vor allem drei Schwerpunkte ab: Einmal geht es u m eine schlichte Vermehrung der Planstellen, u m günstigere Relationen zwischen Anstaltspersonal und Zahl der Insassen zu schaffen; dadurch sollen die Behandlungsmöglichkeiten erweitert und die Sicherheit der Anstalten verstärkt werden. Dies hat sich insbesondere zugunsten des m i t der Überwachung der Gefangenen betrauten polizeilichen Dienstes, des sog. Aufsichtsdienstes, und der i n den Arbeitsbetrieben tätigen Beamten, des sog. Werk-

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dienstes, ausgewirkt. Zum zweiten zielen die personellen Maßnahmen auf eine Verbesserung der Aus- und Fortbildung auf sozialpädagogischem und kriminologischem Gebiet, u m dem Vollzugsbeamten das nötige Rüstzeug für einen sinnvollen und zweckentsprechenden Umgang m i t den Gefangenen an die Hand zu geben. Erinnert sei nur an die Bestrebungen der Länder, eine zentrale Ausbildungsstätte für das Vollzugspersonal auf Bundesebene zu schaffen. E i n dritter wesentlicher Punkt betrifft die stärkere Heranziehung von Fachkräften i n den A n stalten. Damit sind i n erster Linie Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen, Psychotherapeuten, Psychiater gemeint, die bisher — nicht nur zahlenmäßig — i m Strafvollzug unterrepräsentiert waren. Freilich ergeben sich damit neue Probleme, nicht nur i m Verhältnis zum übrigen Personal, sondern auch was die Besetzung der neugeschaffenen Stellen anlangt. Die Schwierigkeiten, qualifizierte und geeignete Fachkräfte zu erhalten, resultieren nicht allein aus der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage — sie sind nicht zuletzt i n der derzeitigen Situation des Strafvollzugs begründet. Auch der Bund selbst ist tatkräftig u m eine Reform des Strafvollzugs bemüht. Zwar ist der Vollzug verwaltungsmäßig Sache der Länder; doch steht dem Bund das Recht der Gesetzgebung auf diesem Gebiet zu. So hat denn auch der Bundesjustizminister i m Herbst 1967 eine Strafvollzugskommission m i t der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs beauftragt, der den Strafvollzug i m Bundesgebiet vereinheitlichen und auf eine neue Grundlage stellen soll. Die Kommission, die aus Strafvollzugspraktikern und Wissenschaftlern zusammengesetzt ist, hat seither auf 13 Arbeitstagungen Vorstellungen zur künftigen gesetzlichen Regelung des Vollzugs entwickelt und sie nunmehr i n einem Entwurf zusammengefaßt, der i n der vergangenen Woche dem Bundesjustizminister überreicht worden ist. Freilich muß hierzu, u m Mißverständnisse zu vermeiden, gesagt werden, daß dieser Entwurf nur die Auffassungen der Kommission widerspiegelt, also lediglich Vorschläge enthält, die allenfalls durch ihr fachliches Gewicht wirken, aber keinesfalls den Gesetzgeber binden können. Unabhängig davon ist es jedenfalls das Ziel des Bundesjustizministeriums, ein Bundesstrafvollzugsgesetz zusammen m i t bereits beschlossenen strafrechtlichen Reformregelungen, nämlich dem 2. Strafrechtsreformgesetz, am 1.10.1973 i n K r a f t treten zu lassen. Gelingt dieses Vorhaben, w i r d der Strafvollzug erstmals i n der Geschichte der Bundesrepublik und des Deutschen Reiches auf eine überlandeseinheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Diese hier nur i n groben Umrissen skizzierten aktuellen Reformtendenzen geben freilich ebenfalls noch nicht hinreichend Aufschluß darüber, weshalb ein solcher Aufwand betrieben w i r d oder werden soll und wo die eigentlichen Schwierigkeiten des heutigen Vollzugs zu

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lokalisieren sind. Vielleicht w i r d der eine oder andere kritische Betrachter der innenpolitischen Szene versucht sein, diese Bemühungen i n den Kontext einer allgemeinen Reformeuphorie einzuordnen, die alle Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens ergriffen zu haben scheint. Nichts wäre, jedenfalls was den Strafvollzug anlangt, falscher als eine solche Beurteilung. Wer die Entwicklung des deutschen Strafvollzugs aufmerksam verfolgt, weiß, daß die Reformbestrebungen älter sind als die Bundesrepublik, ja älter sogar als die Weimarer Republik. Sie wurden immer schon — freilich unter verschiedenen kriminalpolitischen und gesellschaftlichen Vorzeichen — betrieben, seit man die Möglichkeit oder Notwendigkeit erkannt hat, auf den Straftäter vorbeugend, rückfallprophylaktisch einzuwirken. Dabei standen i m geschichtlichen Ablauf jeweils verschiedene Aspekte i m Vordergrund. Ließen sich Vollzugstheorie und teilweise auch -praxis des 19. Jahrhunderts wesentlich von der Idee der Besserung des Gefangenen leiten, so war etwa die Weimarer Zeit vom Erziehungsgedanken erfüllt. Der Neuaufbau des Strafvollzugs nach 1945 stand unter dem Vorzeichen der Resozialisierungsidee. Wer w i l l , mag i m Gedanken der Sozialisation des Täters den Angel- und Schwerpunkt der heutigen Reformbemühungen sehen. Diese verschiedenen Vokabeln bezeichnen bei aller sachlichen Übereinstimmung i n einem irgendwie gearteten Ziel der Verbrechensvorbeugung doch unterschiedliche Akzente hinsichtlich der Behandlung des Gefangenen, der Ausgestaltung und A u f gabe des Vollzugs. Sie spiegeln i n gewisser Weise den Wandel der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bedingungen, dem der Strafvollzug sich ebenso wie jede andere staatliche Einrichtung ausgesetzt sieht. Daß der Strafvollzug diesen Wandel nicht hinreichend mitvollzogen hat, nicht „auf der Höhe der Zeit" ist, bestreiten auch die K r i t i k e r der gegenwärtigen Reformbemühungen nicht. Die Frage ist, wohin die Reise gehen soll. Das hängt aber wiederum davon ab, w o r i n die Schwierigkeiten des heutigen Strafvollzugs zu sehen sind. Sie sind sicherlich komplexer Natur und m i t einem Satz nicht zu fassen. Teils hängen sie m i t der nachgerade traditionellen Vernachlässigung des Vollzugs i m Verhältnis zu den übrigen Zweigen der Staatsverwaltung, ja selbst der Strafrechtspflege, zusammen, teils m i t kriminalpolitischen Versäumnissen auf dem Gebiet des Strafrechts, teils m i t der Kriminalitätsentwicklung, teils mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Felde der Sozialwissenschaften, teils m i t der Einstellung der Öffentlichkeit zum Straftäter und Strafvollzug. Sicherlich ist dieser Katalog noch erweiterungsfähig; doch kann es hier nicht darum gehen, eine möglichst vollständige Aufzählung aller Gründe zu liefern, sondern vielmehr nur darum, die maßgeblichen Faktoren herauszustellen.

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Bei einer solchen Analyse fällt zunächst auf, daß der Strafvollzug bis i n die jüngste Zeit hinein i m Schatten anderer Staatsverwaltungen gestanden hat; das hat sich bis i n die Haushaltsgebarung und i n die personelle und sachliche Ausstattung der Strafanstalten hinein ausgewirkt. Davon waren vor allem Arbeits- und Wirtschaftsverwaltungen der A n stalten sowie die Anstaltsfürsorge betroffen. Ein ausgeprägt fiskalisches Denken — sicher nicht zuletzt getragen von der Erwägung, es handle sich dabei ohnehin u m Fehlinvestitionen — hat lange Zeit die Stellenpläne, den Ausbau und Neubau von Anstalten, die Tagessätze für die Gefangenen, die Höhe der Arbeitsbelohnung, den Umfang der Fürsorgemittel und vieles andere mehr ungünstig beeinflußt. Die Folgen solcher Haushaltspolitik schlagen sich nunmehr i n einem erheblichen Nachholbedarf der Anstalten nieder. Diese Entwicklung ist indes lediglich Symptom für tieferliegende Ursachen. Von allen Zweigen der — ohnedies benachteiligten — Strafrechtspflege war der Strafvollzug lange Zeit am meisten vernachlässigt; nicht zufällig hat man i h n als „Stiefkind" der Strafjustiz bezeichnet. Das drückte sich i n einer Rechts- und Personalpolitik aus, die eindeutig das Schwergewicht auf den Richter und Staatsanwalt legte, den Strafvollzug als bloßen verwaltungsmäßigen Annex der staatsanwaltschaftlichen Strafvollstreckung behandelte. Spuren davon sind noch heute i n der Organisationsstruktur mancher Länder sichtbar, i n denen der Strafvollzug der Aufsicht staatsanwaltschaftlicher Behörden unterstellt ist, obwohl diese von Amts wegen ganz andere Aufgaben, nämlich die Ermittlung und Verfolgung von Straftaten, wahrzunehmen haben. Dies erklärt es auch, daß zeitweilig pädagogische Gesichtspunkte ganz hinter der Verwaltung und Verwahrung der Gefangenen zurücktreten mußten. Darin spiegelt sich zugleich etwas von der populären Meinung, für die das Kapitel Kriminalitätsbekämpfung m i t der Aufklärung der Straftat und der Aburteilung des Täters abgeschlossen ist. Denn noch heute finden w i r i n Prozeßberichten mancher Tageszeitungen die stereotype Wendung, das Gericht habe die Straftat m i t der und der Strafe gesühnt — ein Sprachgebrauch, der ebenso verbreitet wie unsinnig ist, weil die Sühne allenfalls i n der Strafverbüßung selbst liegen könnte, und weil, wenn jemand zu sühnen hätte, es nur der Täter, nicht aber das Gericht t u n könnte. Gleichzeitig deutet sich darin die Problematik an, die sich m i t der kriminalpolitischen Funktion des Strafvollzugs verbindet. Bis zum heutigen Tage ist die Diskussion darüber, welche Zwecke man denn m i t der Strafe i m allgemeinen, m i t der Freiheitsstrafe i m besonderen verfolgen soll, nicht abgerissen. Der Strafvollzug ist damit zu seinem eigenen Nachteil i n den Sog von Erörterungen geraten, die eine rationale und wissenschaftlich haltbare Bestimmung seiner Aufgaben erschwert ha-

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ben. Das zeigt sich etwa i n der Rechtsprechung zum Rechtsschutz des Gefangenen, die bis i n die jüngste Zeit hinein immer wieder die verschiedensten Strafzwecke von der Vergeltung und Sühne bis über den Schutz der Allgemeinheit h i n zur Resozialisierung des Verurteilten als mehr oder weniger gleichberechtigte Vollzugsziele deklariert hat. Es liegt auf der Hand, daß man den Vollzug durch eine Vielzahl verschiedener, zudem nicht selten einander widersprechender Aufgaben überfordern mußte. Allemal kommt doch ein Punkt, wo i h m eine klare Entscheidung zugunsten des einen oder anderen Zwecks abgenötigt wird, wo es u m die Setzung von Prioritäten geht. Das belegt etwa die Alternative von Sicherungs- und Resozialisierungsvollzug. Faktisch hat diese richterliche Praxis zur Stabilisierung des bisherigen Vollzugsregimes und damit zum Vorrang der Faktoren Sicherheit und Ordnung beigetragen. Freilich sind Rechtsprechung und Vollzugspraxis bis zum heutigen Tage vom Gesetzgeber i m Stich gelassen worden. Daß es überhaupt zu erheblicher Unsicherheit hinsichtlich der Vollzugsziele, der Rechtsstellung und Behandlung des Gefangenen hat kommen können, lag nicht zuletzt am Fehlen eines Strafvollzugsgesetzes, das allein verbindliche Maßstäbe hätte setzen können. Es muß als grotesk bezeichnet werden, daß nach der rechtlichen Durchnormierung fast aller Bereiche der Staatstätigkeit und aller Zweige der öffentlichen Verwaltung ein so wichtiges Teilgebiet wie der Strafvollzug über 100 Jahre lang für den Gesetzgeber gleichsam „terra incognita", ein unbekanntes Land, geblieben ist. Auch hier haben w i r es also — wenn auch hoffentlich nur noch für eine kurze Frist — mit einem ungelösten Problem des Strafvollzugs zu tun. Indessen ist die Einsicht, daß dieser Zustand nicht andauern kann, allgemein. Ebenso zeichnet sich heute zunehmend eine Entscheidung zugunsten der Resozialisierungsaufgabe des Vollzugs i n Rechtsprechung und Praxis ab, die nicht nur als bloßes Lippenbekenntnis zu verstehen, sondern um praktische Verwirklichung bemüht ist. Der Boden dafür ist durch die Strafrechtsreform aufbereitet, die — zumindest teilweise — klassische Vorstellungen von der Vergeltungsfunktion der Strafe verabschiedet hat. Jahrzehntelang sind Bestrebungen u m eine gesetzliche Regelung und Reform des Strafvollzugs daran gescheitert, daß sich die ebenso notwendige Reform des Strafrechts nicht hat verwirklichen lassen. Für den Strafvollzug hängt viel davon ab, welche Täter und wieviele zu Freiheitsentzug verurteilt werden; das ist aber nicht zuletzt eine Frage der Ausgestaltung des Sanktionensystems i m Strafrecht. Daß das Strafgesetzbuch seinerseits reformbedürftig ist, hat man aber schon bald nach seinem Inkrafttreten erkannt. Nach einigen — sicher nicht unerheblichen — Teilreformen i n den Jahren 1923, 1933 und 1953

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ist es erstmals 1969 gelungen, kriminalpolitische Reformen größeren Umfangs i n Gang zu setzen, die auch für den Vollzug von Bedeutung sind. Zu nennen sind vor allem die Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe, also die Abschaffung des Zuchthauses, die Einschränkung des Anwendungsbereichs der kurzen Freiheitsstrafe unter sechs Monaten, die Anhebung der zeitlichen Obergrenze für die Strafaussetzung zur Bewährung auf ein Jahr, die obligatorische Aussetzung des Strafrestes nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe bei positiver Sozialprognose, die Abschaffung des Arbeitshauses und die — künftige — Einrichtung der sozialtherapeutischen Anstalt. Wichtig ist i n diesem Zusammenhang auch, daß der Richter nunmehr gehalten ist, bei der Strafzumessung „die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters i n der Gesellschaft zu erwarten sind", zu berücksichtigen (§ 13 Abs. 1 Satz 2 StGB). Damit sind gleichzeitig die Weichen für einen stärker als bisher auf die (Wieder-)Eingliederung des Täters i n die Gesellschaft ausgerichteten Strafvollzug gestellt. Denn nunmehr muß i m Vollzug nicht mehr nach verschiedenen Arten von Freiheitsstrafe unterschieden werden. Vielmehr kann er die Behandlung an der individuellen Täterpersönlichkeit orientieren. Jetzt ist der Vollzug auch mehr als bisher von der zahlenmäßig so erheblichen Vollstreckung kurzer Freiheitsstrafen entlastet. Was das praktisch heißt, mögen einige Zahlen veranschaulichen: So verbüßten am 31. 3.1968, also noch vor der Strafrechtsreform, nahezu ein D r i t t e l aller Strafgefangenen und Verwahrten (nämlich 13 533) Freiheitsentzug bis zu sechs Monaten; rechnet man die Zahl der Gefangenen zusammen, die an diesem Stichtag Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr verbüßten, so macht das beinahe die Hälfte aller Inhaftierten (nämlich 22 262 von insgesamt 48 501) aus. Bei einem Großteil der übrigen Gefangenen handelte es sich u m Freiheitsentzug von einem bis zu fünf Jahren (nämlich 19 878). Damit w i r d zugleich deutlich, daß die Zahl der Gefangenen m i t langen Strafen, gemessen an der Gesamtzahl der Inhaftierten, verschwindend gering ist, so daß ein durchgreifender Entlastungseffekt i n der Tat nur i m Bereich kurzer und kürzerer Freiheitsstrafen zu erreichen ist. Welche Möglichkeiten sinnvoller Behandlung des Gefangenen dem Vollzug zur Verfügung stehen, hängt aber nicht zuletzt von der Gesamtzahl der jeweils Inhaftierten ab; darüber sind w i r nachdrücklich i n den Zeiten der Uberbelegung vieler Anstalten, nämlich i n den 60er Jahren, belehrt worden. Nicht verschwiegen sei allerdings, daß die Strafrechtsreform nicht nur gewisse Schwierigkeiten des Vollzugs bereinigt, sondern diesen auch vor neue Aufgaben gestellt hat. Das wohl gewichtigste Beispiel bildet die neue Maßregel der Unterbringung persönlichkeitsgestörter Täter i n einer sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65 2. StRG). Wie die Bezeichnung schon sagt, sollen i n einer solchen ärztlich geleiteten A n -

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stalt besondere Behandlungsmethoden, wie Arbeitstherapie, Milieutherapie, Psychotherapie, Verhaltenstherapie, zum Zwecke der Rückfallverhütung und Resozialisierung angewandt werden. Man geht davon aus, daß bei einem bestimmten Personenkreis die allgemeinen Behandlungsmöglichkeiten des sog. Normalvollzugs nicht ausreichen, u m den drohenden Rückfall zu verhindern. Die Schwierigkeiten bestehen nun nicht allein darin, herauszufinden, wer einer solchen Sozialtherapie bedürftig und für sie geeignet ist, sondern auch i n der Schaffung der dafür erforderlichen Einrichtungen. Die sozialtherapeutische Anstalt ist nicht nur eine finanziell und personell aufwendige Institution, die i n weit stärkerem Maße als der übrige Vollzug auf die Mitarbeit von Fachkräften angewiesen ist; sie setzt ferner, soll sie auch praktisch funktionieren, voraus, daß Klarheit über die anzuwendenden Behandlungsmethoden besteht. Hier liegen indes die eigentlichen Schwierigkeiten. Bisher ist Sozialtherapie i m deutschen Strafvollzug praktisch kaum erprobt worden; die ersten Versuche etwa auf dem Hohenasperg bei Stuttgart lassen noch keine Schlußfolgerungen zu. I n der Hauptsache kann man sich auf — allerdings ermutigende — ausländische Erfahrungen stützen, die sich jedoch nicht ohne weiteres auf die deutschen Verhältnisse übertragen lassen. Sollte sich aber die Sozialtherapie praktisch bewähren, könnte sie zum Vorbild des ganzen Strafvollzugs werden; nur meine ich, daß sich jetzt irgendwelche Prognosen noch nicht stellen lassen. Nicht nur die Ausgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems — auch die Kriminalitätsentwicklung selbst stellt Fragen. Läßt sich am Strafgesetzbuch i n Verbindung m i t einer gefestigten Strafpraxis i n etwa ablesen, welcher Täter unter welchen Voraussetzungen i n den Strafvollzug gelangt, so ist damit noch nichts über A r t und Ausmaß der wirklichen Kriminalität gesagt, m i t der w i r es zu t u n haben. Daß auch diese i n den letzten Jahrzehnten sich erheblich gewandelt hat, ist eine Binsenweisheit. Der Einfluß der sog. Wohlstandskriminalität, vor allem die Zunahme der Vermögensdelikte und der Verkehrskriminalität schlägt sich i n den Kriminalstatistiken und Verurteilungsstatistiken nieder. Zwar gelangt nur ein Teil dieser Täter i n den Strafvollzug. Doch machen beide Gruppen zusammengenommen praktisch zwei Drittel aller Insassen unserer Anstalten aus; so waren am 31. 3.1968 allein mehr als die Hälfte der Strafgefangenen wegen Diebstahls, Unterschlagung, Betrug und Untreue (nämlich 26 207) und weitere 5453 wegen Straßenverkehrsdelikten verurteilt. Für die Insassenstruktur unserer Anstalten ist ferner bedeutsam, daß mehr als vier Fünftel der Gefangenen vorbestraft sind (am 31. 3.1968 waren lediglich 9509 nicht vorbestraft). Freilich hängt das nicht zuletzt m i t dem Selektionsmechanismus unseres Strafrechts zusammen, das dem Freiheitsentzug — gerade bei

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leichteren Delikten — Geldstrafen und Strafaussetzung zur Bewährung „vorschaltet", so daß, wer i n den Strafvollzug kommt, i n aller Regel vorbestraft ist. Die Dinge komplizieren sich noch dadurch, daß ein erheblicher Teil der Gefangenen aus der sozialen Unterschicht stammt. Schon von den persönlichen Voraussetzungen her, die viele Gefangenen hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft, beruflichen Aus- und Vorbildung mitbringen, sind die „Startchancen" schlechter als für den Durchschnitt der Bevölkerung. Bezeichnenderweise belief sich der Anteil der „ungelernten Hilfskräfte" 1966 i m Strafvollzug auf ein Drittel aller männlichen Gefangenen, während er i n der Bevölkerung nur 4,7 °/o betrug. Damit ergeben sich aber schwerwiegende Konsequenzen für die Behandlung der Gefangenen. Man hat es überwiegend m i t Vorbestraften und i n starkem Maße m i t Rückfälligen zu tun, bei denen andere Sanktionen und Institutionen schon versagt haben; zugleich aber auch m i t einem Personenkreis, dessen Beziehungen zur sozialen Umwelt vielfach schon i n früher Jugend gestört waren, und der damit bereits eine längere Fehlentwicklung durchlaufen hat. Deutlich w i r d das besonders i n den Fällen, i n denen Freiheitsentzug — i n welcher Form auch immer — (Fürsorgeerziehung, Jugendstrafe, Freiheitsstrafe) der jetzigen Strafverbüßung ohne Erfolg vorausgegangen ist. W i r wissen heute, daß m i t jeder Strafverbüßung die Rückfallwahrscheinlichkeit größer wird, so daß der Strafvollzug das mitzubewirken scheint, was er gerade verhindern w i l l . Daß das die Aufgabe des Vollzugs ungemein erschwert, bedarf wohl keiner Hervorhebung. Andererseits ergeben sich daraus auch Fragen an den Vollzug. Gewiß würde man es sich zu einfach machen, wollte man einen Rückfall nach vorheriger Strafverbüßung ausschließlich dem Strafvollzug anlasten; entsteht doch ein Rückfall erst aus dem Zusammenwirken verschiedener, wohl auch tieferliegender Faktoren. Zumindest wäre jener Nachweis empirisch nur schwer zu führen. Jedoch läßt sich kaum bestreiten, daß der Vollzug — je nach seiner A r t und Augestaltung — zum Rückfall beitragen kann, daß also — umgekehrt gesehen — die Resozialisierungsmaßnahmen über den Erfolg mitentscheiden können. Damit sind w i r an einem wesentlichen Punkt heutiger human- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnis angelangt. Schon immer haben sich Vollzugspraxis und Wissenschaft u m die Erforschung der Gründe bemüht, die für das Versagen des Strafvollzugs oder — vorsichtiger ausgedrückt — für seinen mangelnden Erfolg verantwortlich zu machen sind. Man hat sie teils i n Mängeln bestimmter Haftsysteme, der A n staltsorganisation und A r t der Gefangenenbehandlung finden zu müssen geglaubt. Daß sich grundlegende Bedenken aus der Tatsache des Freiheitsentzugs als solchem sowie aus der besonderen Insassenstruktur

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unserer Anstalten ergeben, wurde erst durch neuere kriminologische Untersuchungen stärker ins Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit gerückt. Heute kennt man die volle Fragwürdigkeit, die dem Freiheitsentzug als M i t t e l der Resozialisierung anhaftet. Man weiß erst recht, wie wenig die bloße sichere Verwahrung des Gefangenen, seine Gewöhnung an Ordnung und Arbeit zur Rückfallprophylaxe beizutragen vermögen. M i t solchen Methoden brachte man den Typus des anstaltsgewohnten, hafterfahrenen Gefangenen hervor, für den der Rückfall allenfalls das Risiko der Rückkehr i n die alte, vertraute Umgebung barg. Daß jene traditionellen Behandlungsmethoden gegenüber der Kategorie des Rückfalltäters versagen mußten, ist erst relativ spät erkannt worden. Gerade diese Gruppe rekrutiert sich vor allem aus Straffälligen, deren Fehlentwicklung schon i n früher Jugend eingesetzt hat und das Leben des Täters i n einem mehr oder weniger gleichförmigen Prozeß durchzieht. Hier setzt der Vollzug i n einem Zeitpunkt ein, i n dem es — wenn nicht zu spät — zumindest sehr schwer ist, den abgerissenen Faden der Sozialisation, der Aneignung kultureller Normen und Werte, wieder anzuknüpfen. Beim erwachsenen Gefangenen aber haben w i r es i n der Regel m i t einer festgeprägten Persönlichkeit zu tun, die anders als der Jugendliche Erziehungsbemühungen i m strengen Sinne des Wortes nicht mehr zugänglich ist. Was hier angestrebt werden kann und muß, ist darum zu Recht als „Ersatz-Sozialisation" ( Schüler-Springorum), als der Versuch bezeichnet worden, ausgebliebene oder fehlgeschlagene Sozialisationsverläufe nachzuholen oder zu korrigieren, soweit das überhaupt noch möglich ist. Hier scheint m i r der K e r n der ganzen Behandlungsproblematik zu liegen, die sich der Wissenschaft und Vollzugspraxis stellt. Leider läßt sich nicht bestreiten, daß uns i n der Vergangenheit auch wissenschaftliche Fehlentwicklungen unterlaufen sind, die uns Fragestellungen etwa der A r t aufgedrängt haben, ob der Täter auf Grund seiner Anlage oder seiner Umwelt zu der Tat gekommen ist. Heute würde man eine solch einlinige Betrachtungsweise, die unter kausalem Vorzeichen i n die Vergangenheit zurückweist, nicht mehr wählen können, sondern — ausgehend vom Grundsatz möglichst sinnvoller Behandlung — fragen müssen, welches Vorgehen dem einzelnen Täter angesichts seiner Lebensgeschichte, seiner persönlichen Ausstattung, die er von Kindesbeinen an mitgebracht hat, und seiner sozialen Umwelt angemessen erscheint. Heute würde man, darüber hinaus, i n der Behandlung i m Strafvollzug einen gemeinsamen Lernprozeß sehen, an dem Vollzugspersonal wie Insassen gleichermaßen beteiligt sind. Auch das verdeutlicht die Schwierigkeiten des modernen Vollzugs: Die Sozialwissenschaften haben seine Aufgabe nicht unbedingt erleichtert; um so mehr bedarf er unser aller Unterstützung. 6 Müller-Dietz

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Damit ist ein letzter, aber keineswegs nachrangiger Gesichtspunkt angesprochen: das Verhältnis der Öffentlichkeit zum Strafvollzug. Es ist i n der letzten Zeit zum bevorzugten Thema nicht nur der Wissenschaft, sondern mehr noch der Massenmedien geworden. Was der Vollzug leisten kann — so hat man gesagt — hängt nicht zuletzt von der Einstellung der Allgemeinheit ihm gegenüber ab. Das mag banal klingen, ist aber gleichwohl richtig. Überall dort, wo der Vollzug ans Licht und ins Bewußtsein der Öffentlichkeit tritt, haben w i r die Probe aufs Exempel, wie es denn um die Möglichkeiten der (Wieder-)Eingliederung von Straftätern i n die Gesellschaft tatsächlich bestellt ist. Leider fehlen uns zuverlässige Daten auf Grund von Repräsentativerhebungen, die klaren Aufschluß über die Einstellung der Bevölkerung zum Strafvollzug geben könnten. W i r sind insoweit auf Mutmaßungen angewiesen, die sich freilich auf immer wiederkehrende praktische Erfahrungen i m Umgang mit dem Publikum stützen können. So besteht immerhin begründeter Anlaß zu der Annahme, daß die Allgemeinheit dem Straftäter gegenüber, wenn nicht ablehnend, so doch zumindest gleichgültig eingestellt ist. Das zeigt sich etwa bei dem Bemühen u m Arbeitsplatz und Wohnung für die Zeit nach der Entlassung. Noch immer ereignen sich Fälle, die sich nicht allein aus dem psychologisch gewiß verständlichen Mißtrauen erklären lassen, das das Rückfallrisiko einkalkuliert. Arbeitskollegen und Nachbarn distanzieren sich sofort, sobald sie erfahren, daß sie es m i t einem Entlassenen zu t u n haben. Das kann sogar soweit gehen, daß der Betriebsrat die Entlassung eines Arbeitskollegen verlangt, weil dieser vom Gefängnis kam. Diese Ablehnung hängt, wie man heute sozialwissenschaftlich erkannt hat, vielfach mit der Einstellung gegenüber abweichendem Verhalten zusammen. Insofern gibt es auffällige Gemeinsamkeiten i n bezug auf die Einstellung gegenüber allen solchen Gruppen und Menschen, die aus dem vorgeprägten Schema normalen Verhaltens herausfallen. I n gewisser Weise — freilich nicht i n vollem Umfange — teilen daher etwa psychisch Kranke, Hippies, Problemfamilien, Gastarbeiter das Schicksal von Straftätern. Werbung für Randgruppen und Außenseiter der Gesellschaft ist damit allemal eine unpopuläre Angelegenheit. I m Hinblick auf den Straffälligen ist die Einstellung überdies noch emotional durch das Empfinden aufgeladen, daß w i r es mit einem, wenn nicht verachtenswerten, so doch wenigstens schädlichen Glied der Gesellschaft zu t u n haben, das i m Grunde keine Daseinsberechtigung hat. Vor allem Prozesse, die m i t Triebtätern zu t u n haben, pflegen immer wieder jenen trüben Bodensatz an Emotionen und Affekten hervorzuspülen, der einer rationalen, vernünftigen Einstellung zum Straftäter so sehr entgegensteht. Das belastet naturgemäß auch das Verhältnis der Öffentlichkeit zum Strafvollzug als Institution und zu deren Personal.

Probleme des modernen Strafvollzugs

Insofern gleicht die Situation des Strafvollzugsbeamten der des Sozialarbeiters i n der freien Gesellschaft, der sich oft nur gegen erhebliche Widerstände der Allgemeinheit für seine Klienten einsetzen kann. So erklärt es sich, daß der Strafvollzug gesellschaftlich meist ein schlechtes Image genießt und wenig Unterstützung findet. Ausgaben für und Bemühen u m ihn sind unpopulär; darüber kann auch das lebhafte Interesse der Massenmedien nicht hinwegtäuschen. Darin hat auch die Zurückhaltung i m Parlament ihren Grund: Jeder Abgeordnete, der sich um seine Wähler bemühen muß, weiß, wie wenig Anklang das Eintreten für den Strafvollzug i n der Öffentlichkeit findet. Hinzu kommt, daß i n einer Zeit angespannter Finanzlage und allenthalben wachsender Bedürfnisse Prioritäten gesetzt werden müssen, die keineswegs zugunsten des Strafvollzugs ausfallen. Dennoch scheint m i r kein Anlaß zur Resignation gegeben. Die Einsicht i n die Notwendigkeit, den Strafvollzug wirksam zu unterstützen und dem Straffälligen Hilfestellung zu geben, ist i m Wachsen begriffen. Man beginnt einsehen zu lernen, daß das nicht „nur" eine Frage der humanitären Einstellung gegenüber den sozial Schwachen und Schwierigen unserer Gesellschaft ist, sondern daß das ein integrierender Bestandteil einer auf Verbrechensvorbeugung und Rückfallverhütung gerichteten Kriminalpolitik ist. Straftaten sind gewiß nicht allein Ausdruck einer persönlichen Verantwortungslosigkeit des einzelnen Straftäters; sie sind zugleich auch Ausdruck eines gestörten Verhältnisses zur sozialen Umwelt, an dem diese gleichfalls beteiligt ist. Der Staat kann aus eigener Machtvollkommenheit Straftaten aufklären und bestrafen; verhindern kann er sie aber nur durch Mithilfe der Gesellschaft. Dazu gehört eine sinnvolle Ausgestaltung und wirksame Unterstützung des Strafvollzugs als eines Mittels der Rückfallverhütung.

Aufgaben und Ziele des künftigen Strafvollzugs I n der vorletzten Woche hat der Vorsitzende der Strafvollzugskommission, Prof. Sieverts, dem Bundesjustizminister den von der Kommission erarbeiteten Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes überreicht. Auf 13 Arbeitstagungen vom Herbst 1967 bis Januar 1971 hat die Kommission Vorstellungen zur rechtlichen Regelung und Neugestaltung des Strafvollzugs zu entwickeln versucht, die über eine bloße Festschreibung gegenwärtiger Zustände hinausgehen und den Vollzug auf eine neue Grundlage stellen sollen. Werden die Vorschläge der Kommission Gesetz, so w i r d damit ein neues Kapitel i n der Leidensgeschichte der deutschen Strafvollzugsreform aufgeschlagen. Zum erstenmal w i r d dann der Strafvollzug i n der Geschichte der Bundsrepublik und des Deutschen Reiches überlandeseinheitlich gesetzlich geregelt sein. Freilich muß der Klarheit und Vollständigkeit halber darauf hingewiesen werden, daß die DDR bereits seit 1968 eine gesetzliche Regelung des Strafvollzugs besitzt, nämlich das sog. Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz, und daß unser Nachbarland Österreich seit 1969 i n der gleichen Lage ist. Dennoch sind auch diese Gesetze keineswegs die neuesten i m In- und Ausland. So haben bereits i n den frühen 60er Jahren eine Reihe von Staaten, wie etwa Jugoslawien, Schweden, die Tschechoslowakei und die Türkei, Strafvollzugsgesetze erlassen. Dieser Trend scheint sich gegenwärtig noch fortzusetzen. Auch auf deutschem Boden verfügen w i r über Vorläufer, die sogar bis i n die Zeit des Deutschen Bundes zurückreichen. I n den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden i n verschiedenen deutschen Staaten einzelne Arten strafweisen Freiheitsentzugs gesetzlich geregelt. Führend waren dabei vor allem die süddeutschen Staaten; zu nennen ist i n erster Linie das badische Gesetz über den Vollzug der Zuchthausstrafe i m Männerzuchthaus zu Bruchsal von 1845. Das Bedürfnis nach einer gesetzlichen Regelung des Strafvollzugs wurde bereits i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannt. Theoretiker wie Karl Joseph Anton Mittermaier und Franz von Holtzendorff setzten sich m i t Entschiedenheit dafür ein. Sie beriefen sich auf die unzureichende rechtliche Normierung des Freiheitsentzugs i n den Strafgesetzbüchern; der Richter, das Strafvollzugspersonal, der Verurteilte und die Öffentlichkeit müßten erfahren, was Freiheitsstrafe eigentlich bedeute, wie sie durchgeführt werde; die Ausgestaltung des Freiheitsentzugs zu regeln, sei Sache des Gesetzgebers und

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nicht der Vollzugsverwaltung. Hier gingen also rechtsstaatliche, k r i minalpolitische und kriminalpädagogische Gesichtspunkte eine enge Symbiose ein. M i t dem Erlaß des Reichsstrafgesetzbuches von 1870/71 erhielt die Reformbewegung neue Akzente. Hinzu kamen nunmehr die Gedanken der Strafrechtseinheit und Rechtsgleichheit hinsichtlich der Gefangenenbehandlung, die man, insbesondere Vollzugspraktiker wie Krohne und Kriminalpolitiker wie Franz von Liszt , durch die verschiedenartige Vollstreckung der Freiheitsstrafen i n den einzelnen Staaten des Deutschen Reiches gefährdet sah. Das führte — neben einer Reihe privater Vorschläge — zu dem Regierungsentwurf eines Gesetzes über die „Vollstreckung von Freiheitsstrafen" von 1879. Der Entwurf scheiterte bekanntlich an finanziellen Bedenken der Einzelstaaten. Weitere Stationen des Weges zu einer gesetzlichen Regelung des Strafvollzugs bildeten die Versuche, wenigstens die wichtigsten Vollzugsgrundsätze ins Strafgesetzbuch zu übernehmen, wie es 1966 der Alternati v-Entwurf m i t seinen §§ 37—39 getan hat. So enthielten Vorentwurf, Gegenentw u r f und Entwurf zu einem Strafgesetzbuch von 1909, 1911 und 1913 detaillierte Regelungen über die Ausgestaltung des Strafvollzugs. So wenig diese Strafgesetzentwürfe Gesetz wurden, so wenig gelang es auch, den Vollzug gesetzlich zu normieren. Dem Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes von 1927 war das gleiche Schicksal beschieden wie seinem Vorgänger aus dem Jahre 1879. Nur hatte das Mißlingen diesmal andere Ursachen: Da man das Schicksal der Strafvollzugsreform an das der Strafrechtsreform kettete, war m i t deren Scheitern auch der Stab über den Entwurf eines Vollzugsgesetzes gebrochen. Ein Bericht über die späteren Bemühungen nach 1933, ein Strafvollstreckungsgesetz zu verabschieden, das zugleich den Vollzug regeln sollte, lohnt i m Grunde nicht; auch sie blieben letztlich ohne Erfolg. Das Fazit dieses kurzen Rückblicks ergibt die Situation, wie w i r sie noch heut haben: Es fehlt nach wie vor an einer gesetzlichen Regelung des Strafvollzugs. Dem entspricht es, daß der Vollzug seit 1871 immer nur durch Vollzugsordnungen und Verwaltungsvorschriften geregelt war. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es verschiedentlich zu reichs- oder bundeseinheitlichen Vereinbarungen kam, die wenigstens die gleichmäßige Vollstreckung der Freiheitsstrafen und Behandlung der Gefangenen sicherstellen sollten: so etwa die Bundesratsgrundsätze von 1897, die Reichsratsgrundsätze von 1923 und die Dienst- und Vollzugsordnung von 1961. Dieses Ergebnis erscheint u m so bemerkenswerter, als die Forderung nach gesetzlicher Regelung des Strafvollzugs, seit 1850 nicht mehr von der Tagesordnung abgesetzt, immer wieder m i t großem Nachdruck erhoben worden ist. Das läßt sich nicht nur an Hand einer reichen

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Literatur zurückverfolgen, sondern ist auch an der Geschichte der bekanntesten deutschen Juristenvereinigung, dem Deutschen Juristentag, zu belegen. So ist etwa seit dem 6. Juristentag von 1867 wiederholt die gesetzliche Regelung des Strafvollzugs gefordert worden. 1970 ist es erstmals gelungen, die Strafrechtliche Abteilung jenes ehrwürdigen Gremiums nicht nur ausschließlich mit diesem Thema zu befassen, sondern auch entsprechende Entschließungen zu verabschieden. Verhandlungen und Beschlüsse der Abteilung lassen erkennen, daß es hier nur noch um den Inhalt, die A r t und Weise der Regelung, nicht mehr aber um ihr Ob ging. Wissenschaft und Praxis sind sich heute darin so gut wie einig. Nun w i r d sich der kritische Betrachter dieser Entwicklung, mag er Jurist sein oder nicht, dem Strafvollzug näher oder ferner stehen, mit dem Hinweis auf die allgemeine Ansicht schwerlich zufrieden geben können. Wer die Mängel des heutigen Vollzugs kennt, w i r d sich fragen, ob w i r denn gegenwärtig nichts Besseres zu t u n haben, als unsere A n strengungen auf den Erlaß eines Gesetzes zu konzentrieren. Ich muß gestehen, daß ich diese Meinung, obwohl von Hause aus Jurist, durchaus sympathisch finde, ja, daß ich sie sogar für richtig hielte, stünden ihr nicht einige elementare Bedenken entgegen, auf die i m Zusammenhang m i t dem Vollzugsziel noch näher einzugehen ist. Gewiß ließen sich eine Reihe praktischer Reformen i m Vollzug auch ohne gesetzliche Regelung unter der Weitergeltung der DVollzO durchführen. Belege lassen sich dafür mühelos beibringen, wobei noch nicht einmal die leidige Frage ausdiskutiert zu werden braucht, ob man denn bisher überhaupt die von der DVollzO gebotenen Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Zu erinnern ist i n diesem Zusammenhang an verschiedene Reformmaßnahmen, die einzelne Länder i n den letzten Jahren getroffen haben oder zumindest anstreben. So sind beispielsweise die Einführung von Urlaub für Strafgefangene, die Errichtung offener Anstalten oder Abteilungen, die Modernisierung der Arbeitsbetriebe, die Erhöhung der Arbeitsbelohnung, die Schaffung von sozialtherapeutischen Abteilungen, die Verbesserung der Aus- und Fortbildung des Strafvollzugsdienstes, die Einrichtung von Planstellen für diagnostisch und therapeutisch geschultes Personal, der Aus- und Umbau bestehender älterer Anstalten sicher keine Frage gesetzlicher Regelung. Das alles kann geschehen, ohne daß auch nur eine einzige gesetzliche Vorschrift geändert oder neugeschaffen wird. Zudem haben die Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe, die Einschränkung des Anwendungsbereichs kurzer Freiheitsstrafen, die Anhebung der Obergrenze für die Strafaussetzung zur Bewährung und die Abschaffung des Arbeitshauses durch das 1. Strafrechtsreformgesetz noch gewisse Schwierigkeiten des Vollzugs ausgeräumt, vor allem zum Rückgang der Gefangenenzahlen beigetra-

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gen. Das alles weist i m Grunde darauf hin, daß es — wenigstens gegenwärtig — eines Vollzugsgesetzes gar nicht bedarf, daß der Vollzug ganz andere Hilfen nötig hat. Ja, man könnte i n polemischer Zuspitzung sogar sagen: Kein Land hat dadurch mehr Geld, mehr Personal und bessere Anstalten, daß sich der Gesetzgeber seines Strafvollzugs annimmt. Jedenfalls könnte zu einer solchen Feststellung die stereotype Wendung verleiten, die sich immer wieder i n der Begründung zu Strafgesetzentwürfen findet, daß jedenfalls dem Bund durch eine solche Reform keine finanziellen Mehrbelastungen entstünden. Nun sind diese Überlegungen gewiß kein zwingender Einwand gegen eine gesetzliche Regelung des Strafvollzugs; sie könnten sie nur i m gegenwärtigen Zeitpunkt als überflüssig erscheinen lassen. Gewichtiger ist ein anderes Bedenken. Wer die Diskussion um die Reform des Strafvollzugs aufmerksam verfolgt hat, w i r d festgestellt haben, daß sich hier gewisse Schwerpunkte gebildet haben, u m die immer wieder die Erörterungen kreisen. Das ist — außer der leidigen Geld- und Personalfrage — das weitaus schwerwiegendere Problem der Behandlung. Die Zahl der Modelle, die hierzu i m In- und Ausland entwickelt worden sind, ist bekanntlich Legion. Dennoch — oder deswegen — besteht ein latentes Unbehagen. Die Problematik ist i n unserem mangelnden, zumindest aber begrenzten Erfahrungsschatz hinsichtlich der Behandlungsmethoden begründet. Das gilt insbesondere i m Hinblick auf die besondere Insassenstruktur der Justizvollzugsanstalten (Straf- und Maßregelanstalten). Mehr als vier Fünftel der Gefangenen sind vorbestraft und haben teilweise schon i n einem beachtlichen Ausmaß den staatlichen Sanktionsapparat durchlaufen; so ist etwa für das Gros der Rückfalltäter der Weg über Fürsorgeerziehung, Jugendstrafe bis hin zum Erwachsenenstrafvollzug typisch. Aber auch wer nicht seit seiner Jugend durch kriminelles Verhalten auffällt, w i r d — jedenfalls bei leichteren und mittleren Straftaten — vielfach zunächst nur m i t Geldstrafen und Strafaussetzung zur Bewährung konfrontiert, kommt also i n aller Regel erst als Vorbestrafter i n den Vollzug. Der Selektionsmechanismus des Strafrechts und der Strafpraxis trägt also entscheidend zu der besonderen Insassenstruktur unserer Anstalten bei. Diese weist noch i n anderer Hinsicht bemerkenswerte Züge auf. So stammt ein erheblicher Teil der Gefangenen aus der sozialen Unterschicht; insofern entspricht die Zusammensetzung der Anstaltsinsassen keineswegs dem Durchschnitt der Bevölkerung. Von Herkunft, Elternhaus, sozialem Milieu, Bildungsstand und beruflicher Vorbildung her ergeben sich deutliche Unterschiede zum allgemeinen Standard; signifikant sind dafür beispielsweise die Sprachbarrieren, die zwischen Insassen von Jugendstrafanstalten und Angehörigen des Behandlungsund Erziehungspersonals bestehen. Aus dieser Insassenstruktur der

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Anstalten resultieren erhebliche Schwierigkeiten, denen sich vor allem der Erwachsenenvollzug ausgesetzt sieht. Denn er hat es nicht nur mit sozial Unangepaßten, sondern — mehr noch — m i t Personen zu tun, deren Fehlentwicklung vielfach bereits manifest geworden ist. Sozialisationsmängel, entstanden aus vielerlei Ursachen, Gewöhnung an sozial abweichendes Verhalten, das zur zweiten Natur geworden zu sein scheint, verstricken gerade den Rückfalltäter i n einen schier unausweichlichen Kreislauf von gesellschaftlicher Entfremdung und K r i m i nalität. Sie nageln i h n gleichsam auf die Außenseiterrolle fest, die er spielen soll, u m allgemeinen gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden: Die ungünstige Prognose antizipiert den Rückfall. Nur wer sich diesen Sachverhalt vergegenwärtigt, bekommt ein Gespür für das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Strafvollzug ausgesetzt ist. Fehlprägungen, die auf mißlungene oder gar ausgebliebene Sozialisationsverläufe i n Kindheit und Jugend zurückzuführen sind, lassen sich nun einmal beim Erwachsenen schwer korrigieren. Was der einzelne an persönlicher Ausstattung, sozialem Habitus oder an psychischen und seelischen Deformationen mitbringt, bestimmt entscheidend sein späteres Verhalten, das wiederum — i m Sinne eines Rückkoppelungsprozesses — als Verstärker für die soziale Fehlentwicklung w i r k t . Diese Entwicklung kann der Vollzug nicht einfach rückgängig machen; er kann auch nicht einfach nachholen, was etwa versäumt worden ist. Dem steht schon der Zeitablauf entgegen. Man hat darum nicht zu Unrecht den Begriff der „Ersatz-Sozialisation" (Schüler-Springorum) in die Behandlungsdiskussion eingeführt. N u n ist eine zutreffende Diagnose allemal eine notwendige Bedingung für eine richtige Therapie. Sie ist jedoch keine hinreichende Bedingung. Wenn w i r wissen, m i t wem w i r es i m Strafvollzug zu t u n haben, so besagt das noch nicht, daß w i r damit über geeignete und erfolgreiche Behandlungsmethoden i m Bilde wären. Zwar gibt es sowohl eine Reihe von Grundprinzipien, über die ein gewisser Konsens besteht, als auch von praktischen Versuchen vor allem i m Ausland, die uns manche Anhaltspunkte für die Behandlung liefern können. So ist es sicherlich notwendig, die Anstaltsstruktur i n einer Weise auszugestalten, die eine optimale Vorbereitung des Gefangenen auf ein verantwortungsvolles Leben i n Freiheit ermöglicht. Dazu gehört vor allem eine weitgehende Angleichung der Lebensbedingungen im Vollzug an die der freien Gesellschaft. Wer nicht annähernd m i t deren Chancen und Risiken konfrontiert wird, gerät i n Gefahr, der Wirklichkeit entfremdet zu werden. Hermetische Abschließung von der Außenwelt, ständige Gängelung der Lebensäußerungen lassen keinen Test auf die Fähigkeit und den Willen zu sozialer Anpassung zu. Erst die Bewährungssituation, wie sie gerade für den Vollzug i n gelockerten Formen

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oder den offenen Vollzug typisch ist, gestattet gewisse Rückschlüsse auf das spätere Verhalten i n Freiheit. Freilich sind solche Vollzugsformen keineswegs für alle Gefangenen geeignet; zumindest können sie nicht durchweg am Anfang des Freiheitsentzugs stehen. Dafür bietet sich der Leitgedanke des progressiven Vollzugs an. Er erlaubt eine allmähliche Heranführung der Gefangenen an das Leben i n Freiheit, gestattet gewissermaßen, die Behandlung je nach der Täterpersönlichkeit zu differenzieren und zu dosieren. Eine sorgfältige Abstufung der Behandlung i n diesem Sinne überfordert den Gefangenen nicht, w e i l sie gerade sozialen Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen Rechnung trägt, und hält das Risiko eines Versagens i n den der Öffentlichkeit zumutbaren Grenzen. I m Modell sähe das etwa so aus, daß der Vollzug i n einer geschlossenen Anstalt beginnen, sich i n einer Anstalt m i t gelockertem und dann i m offenen Vollzug fortsetzen würde, u m dann schließlich über den Freigängervollzug, die bedingte Strafaussetzung unter Bewährungsauflagen bis h i n zur völligen Rehabilitierung zu führen. Es versteht sich, daß die Ausgestaltung des Vollzugs innerhalb der verschiedenen Vollzugsformen von der Arbeit über die berufliche Förderung bis hin zur Erwachsenenbildung und Freizeitgestaltung am Behandlungsziel orientiert sein müßte. Freilich wäre es gerade unter dem Vorzeichen der Individualisierung unzulässig, dieses Modell zu verallgemeinern, wie ja überhaupt i m Vollzug jeder Schematismus von Übel ist. Aber es erscheint vorstellbar, daß von einem solchen Vollzug gerade jene Gefangenen profitieren könnten, deren Verhältnis zur sozialen Umwelt i n besonderem Maße gestört ist. Ebenso wie man m i t derartigen Modellen i m Ausland gewisse Erfahrungen gesammelt hat, ist dies auch auf dem Felde der eigentlichen Behandlungsmethoden geschehen. Ich möchte hier nicht weiter auf die vielfältigen Versuche m i t Gruppen- und Einzelpsychotherapie, sonstiger Gruppenarbeit, Milieu-, Kontakt- und Verhaltenstherapie eingehen, die man zumindest i n einem sehr allgemeinen Sinne unter dem Oberbegriff der Sozialtherapie zusammenfassen kann. Es mag genügen, an so verschiedenartige Anstalten wie die van der Hoeven-Klinik i n Utrecht, an die Anstalt i n Herstedvester, das Henderson-Hospital i n England und die Psychopathenanstalt Mittersteig/Wien zu erinnern. Schon vor der Verabschiedung des 2. Strafrechtsreformgesetzes, das u. a. die Maßregel der Unterbringung i n der sozialtherapeutischen Anstalt vorsieht, hat man sich i n einzelnen deutschen Anstalten, ζ. B. auf dem Hohenasperg, um eine solche „Intensivbehandlung" bemüht. Inzwischen sind weitere Versuche dieser A r t , etwa i n Berlin, Hamburg und Ludwigshafen, angelaufen oder wenigstens i n der Planung. Freilich ist hier höchste Eile geboten. Denn wenn am 1.10.1973 funktionsfähige therapeutische Anstalten zur Verfügung stehen sollen, dann hätte eigentlich

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mit dem Ausbau bereits begonnen werden müssen. Das gilt gerade für das Sammeln praktischer Erfahrungen und für die Erprobung solcher Behandlungsmethoden, die man bisher nur i m Ausland oder i m K l i nikbereich außerhalb des Strafvollzugs angewandt hat. I m Grunde reicht die Zeit nicht mehr aus, u m sich genügend Klarheit darüber zu verschaffen, welche Behandlungsmethoden auf welche Täterpersönlichkeiten am meisten ansprechen. Davon hängt nämlich wiederum ab, welche Größe, personelle und sachliche Ausstattung und welche Organisationsstruktur sozialtherapeutische Anstalten haben müssen, um ihrem schwierigen Auftrag gerecht werden zu können. So bleibt eigentlich nur die Möglichkeit, die Gewinnung praktischer Erfahrungen m i t dem A n laufen der Institutionen und der Anordnung der Maßregel durch die Gerichte zu verbinden, also gleichsam i n einem allseitigen Lernprozeß Material für die weitere Entwicklung des Strafvollzugs zu sammeln. Das hat gewiß nicht nur Nachteile, bedenkt man, daß dadurch dogmatische Festlegungen der Behandlungspraxis erschwert werden. Doch ändert das nichts an dem entscheidenden Bedenken, daß w i r m i t der praktischen Erprobung der Sozialtherapie i n den ersten Anfängen stehen, i m Grunde daher keine verläßliche Prognose hinsichtlich der Erfolgschancen stellen können. Die Konsequenzen werden etwa darin sichtbar, daß die vieldiskutierte Frage, ob sozialtherapeutische Behandlungsmethoden i n den „Normalvollzug" übernommen werden sollen und können, ein nach wie vor ungelöstes Problem bildet. Was soeben beispielshalber am Modell der sozialtherapeutischen A n stalten aufgezeigt wurde, läßt sich — m i t einigen Abstrichen natürlich — auch auf den übrigen Vollzug übertragen. Denn hier sind gleichfalls zahlreiche traditionelle Behandlungsmaximen — u m nicht zu sagen: -dogmen — i n Bewegung geraten. So sind gewisse stereotype Behauptungen wie etwa die, Fahrlässigkeitstäter müßten i n offenen A n stalten untergebracht werden, oder die Einweisung i n die zuständige Anstalt müsse von der Strafdauer abhängig gemacht werden, oder die A r t der Behandlung müsse sich nach der A r t der Delinquenz des jeweiligen Täters richten, keineswegs mehr so unerschüttert wie ehedem. Auch ist man inzwischen von der Vorstellung abgekommen, Persönlichkeitserforschung müsse unter laborähnlichen Bedingungen i n einer strikten Gegenüberstellung von Subjekt (des Diagnostikers) und Objekt (des Täters) stattfinden; man hat erkannt, daß Persönlichkeitsforschung und -behandlung unmittelbar ineinandergreifen, daß sie i n einem prozeßhaften Geschehen unter intersubjektiver Vermittlung auf der Grundlage wechselseitiger Kommunikation ablaufen. Freilich ist für die jetzige Situation keineswegs nur das Fehlen praktischer Initiativen verantwortlich. Zu einem Gutteil ist sie auch durch die bisherige Ausrichtung der empirisch-kriminologischen Forschung

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veranlaßt. Lange Zeit haben ätiologische und phänomenologische Untersuchungen i m Vordergrund gestanden; so gibt es etwa Bibliotheken zur Tätertypologie. Die Entwicklung von Behandlungstypen, die doch gerade i m Blickwinkel des Strafvollzugs und damit der Rückfallprophylaxe interessieren sollte, ist stattdessen vernachlässigt worden; das gilt übrigens nicht nur für den deutschen Bereich, sondern w i r d vor allem auch i m Europarat diskutiert. Fassen w i r diese Überlegungen zusammen, so zeigt sich ein deutliches Manko an behandlungswissenschaftlicher Forschung und Praxis. Soll der Strafvollzug vorankommen, bedarf es weiterer empirischer Untersuchungen, vor allem aber praktischer Erprobung neuer Behandlungsmethoden i n größerem Umfang. I n diesem Sinne hat man sich etwa für langfristige geplante Vollzugsversuche ausgesprochen, die i n Modellanstalten anzustellen wären (Calliess). Das alles spricht indessen gerade gegen eine gesetzliche Fixierung gegenwärtiger behandlungswissenschaftlicher Erkenntnisse und für eine Freigabe von — freilich kontrollierten — Experimenten. W i r stehen also vor dem paradoxen Ergebnis, daß alle Welt ein Strafvollzugsgesetz fordert, während es doch an den elementaren empirischen Grundlagen für ein solches Gesetz zu fehlen scheint. Daß jemand eine derartige Feststellung trifft, der seit Jahren für eine gesetzliche Regelung des Strafvollzugs eingetreten ist, mag überraschen. Und noch überraschender w i r d es für Sie sein zu hören, daß ich gleichwohl an dieser Ansicht festhalte. Das bedarf natürlich einer Begründung, die allerdings dem Nichtjuristen nicht so ohne weiteres einsichtig ist. Gewiß ist die Feststellung, daß seit über 100 Jahren ein Strafvollzugsgesetz gefordert wird, kein hinreichendes Argument — zumal w i r die ganze Zeit über schlecht und recht — freilich mehr schlecht als recht — ohne gesetzliche Regelung ausgekommen sind. Auch die um die Jahrhundertwende vielfach debattierten Gesichtspunkte der Rechtseinheit und Rechtsgleichheit können — wie wichtig sie juristisch immer sein mögen — hier vernachlässigt werden, wissen w i r doch längst, daß jede Anstalt ihr individuelles Gepräge hat und unter Bedingungen lebt, die nicht ohne weiteres vom Gesetzgeber festgesetzt werden können. Wesentlicher sind dagegen verfassungsrechtliche und kriminalpolitische Argumente, die unter der Geltung des Grundgesetzes verstärkte, ja sogar neue Bedeutung gewonnen haben. Sie beziehen sich vor allem auf die Aufgaben des Strafvollzugs und die Rechtsstellung des Gefangenen. Wer die Vollzugspraxis kennt, weiß, welches Gewicht die Formel von der „Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung i n der Anstalt" allmählich erlangt hat. M i t dieser juristischen Leerformel — mehr ist

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sie nicht, denn sie läßt sich bei ihrer Konkretisierung i m Einzelfall m i t jedem beliebigen Inhalt füllen — kann man jede Initiative, jede Erprobung neuer Maßnahmen von vornherein inhibieren. Sie ist für die einseitige Orientierung des Aufsichtsdienstes, für die er nicht verantwortlich gemacht werden kann, und für das nicht selten gespannte Verhältnis zwischen Pädagogen und Sozialarbeitern einerseits und dem Aufsichtsdienst andererseits verantwortlich. Jene Formel geht aber ihrerseits auf die alte juristische Vorstellung zurück, daß alle Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung und dem Funktionieren einer Institution wie dem Strafvollzug dienen würden, erlaubt, ja vielleicht sogar geboten seien. Nun ist es sicher richtig, daß es möglich sein muß, Maßnahmen zu treffen, die die Existenz einer solchen Institution gewährleisten. Aber darum geht es ja auch nicht. Vielmehr kommt es darauf an, was unter der „Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung" zu verstehen ist, wie weit diese Formel reicht. Das hängt indessen entscheidend von der Zweckbestimmung der Institution, des Strafvollzugs, ab. Hier beginnt denn auch i n der Tat das Dilemma. Was Sinn und Zweck des Strafvollzugs ist, ist seit dem 19. Jahrhundert umstritten. I m vorigen Jahrhundert hat es sich die Strafrechtsdogmatik relativ leicht gemacht, indem sie die Aufgaben des Strafvollzugs überwiegend von den allgemeinen Strafzwecken der Vergeltung, Sühne und Generalprävention abgeleitet hat. Nur eine kleine Phalanx von Theoretikern, meist aber von Vollzugspraktikern, hat sich dezidiert für den Besserungszweck der Freiheitsstrafe ausgesprochen. E i n erster Durchbruch zugunsten der Speziai- oder Individualprävention gelang i n der Weimarer Zeit. Bekanntlich stand sie unter dem Vorzeichen des Erziehungsgedankens — wobei freilich der Begriff „Erziehung" keineswegs eindeutig bestimmt war. Daß das Rad dieser Entwicklung nach 1933 i n jeder Hinsicht wieder zurückgedreht wurde, ist bekannt. Nach 1945 setzte — vor allem i m Zuge der Strafrechtsreform — eine erneute Diskussion über die Strafzwecke ein, i n deren Sog denn auch nach historischem Muster der Strafvollzug geraten ist. Was dabei für diesen herauskam, läßt sich an der Kompromißformel der Nr. 57 DVollzO und der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zum Rechtsschutz der Gefangenen ablesen. W i r haben es i m Grunde m i t einer Einigung auf der Basis des größten gemeinsamen Nenners zu tun. Da man sich nicht zugunsten des Vorrangs eines bestimmten Strafzwecks einigen konnte, hat man — so vor allem die Rechtsprechung — alle erdenklichen Strafzwecke mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinandergestellt und sie zu Aufgaben des Strafvollzugs deklariert. M i t der Übertragung einer solchen Vereinigungstheorie auf den Strafvollzug hat man aber diesem praktisch den „Schwarzen Peter" zugeschoben. Denn wenn der Strafvollzug zugleich vergelten, sühnen, abschrecken, sichern und re-

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sozialisieren soll, dann w i r d es Sache der Anstalt, sich i m Einzelfall für den Vorrang des einen oder anderen Zwecks zu entscheiden; rückblickend betrachtet kann sich diese Entscheidung, u m die die Anstalt nun einmal nicht herumkommt, aber immer als Fehlentscheidung erweisen. I n der Tat zeigt eine kritische Analyse der Rechtsprechung, daß sie — vom gewünschten Ergebnis her argumentierend — jeweils den einen oder anderen Strafzweck bevorzugt. Das steht zwar sachgerechten Entscheidungen i m Einzelfall durchaus nicht entgegen, beschwört jedoch für den Strafvollzug jene vielgenannten „Zielkonflikte" herauf, m i t denen heute noch die Institution i m allgemeinen und das Verhältnis der verschiedenen Sparten des Anstaltspersonals zueinander belastet ist. Der Gerechtigkeit halber muß allerdings gesagt werden, daß sich i n der Rechtsprechung zunehmend der Resozialisierungsgedanke als vorrangiges Prinzip des Strafvollzugs durchzusetzen beginnt. Es wäre verfehlt, diese Unsicherheit hinsichtlich der Vollzugsaufgaben der Rechtsprechung und der Vollzugspraxis anzulasten. Sie ist zweifelsohne durch das Fehlen einer gesetzlichen Regelung veranlaßt. Hätte der Gesetzgeber dem Strafvollzug einen klaren Auftrag erteilt, dann wäre die ganze Diskussion m i t ihren wenig erfreulichen praktischen Konsequenzen vermieden worden. Dann hätte sich der Vollzug an einem bestimmten Ziel orientieren, auf eine eindeutige Grundlage gestellt werden können, die sich zweifelsohne auf die Organisationsstruktur sowie die personelle und sachliche Ausstattung der Anstalten ausgewirkt hätte. Auch die Rechtsstellung und die Behandlung des Gefangenen verändern sich je nach den Aufgaben, die man dem Vollzug zuweist. Es liegt auf der Hand, daß ein vorwiegend am Sicherungsgedanken ausgerichteter Vollzug anders aussieht und andere Beschränkungen m i t sich bringt als ein Resozialisierungsvollzug, der i n erster Linie auf eine sinnvolle Behandlung abstellt. Es ist daher kein Zufall, daß neuerdings Stimmen laut werden, die die mangelnde gesetzliche Regelung der Vollzugsaufgaben für verfassungswidrig erachten, weil es nicht dem Belieben von Rechtsprechung und Verwaltung überlassen bleiben könne, die Zwecke des Vollzugs aus eigener Machtvollkommenheit zu bestimmen. Damit sind w i r bei einem weiteren wesentlichen Gesichtspunkt, der i n engem Zusammenhang m i t den bisherigen Überlegungen steht. Bis vor kurzem haben juristische Theorie und Praxis die Rechtsstellung des Gefangenen m i t dem Begriff des sog. „besonderen Gewaltverhältnisses" zu umschreiben versucht. Aus ihnen hat man die Beschränkungen, denen der Gefangene i n der Anstalt unterworfen sein soll, und die entsprechenden Eingriffsbefugnisse abgeleitet, die der Anstalt zustehen sollen. Umfang der Rechtseinschränkungen einerseits und damit der Eingriffsrechte andererseits sind dieser Theorie zufolge von Wesen

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und Zweck der Institution her zu bestimmen. Der Begriff des „besonderen Gewaltverhältnisses" soll also danach die Grundlage für alle Maßnahmen i m Strafvollzug abgeben, sein Inhalt sich nach den Aufgaben des Vollzugs richten. W i r sind damit wieder, wie man sieht, bei der Diskussion über die Vollzugszwecke angelangt. Zu welchem Ergebnis diese aber geführt hat, habe ich näher aufzuzeigen versucht. Auch von daher sind w i r also genötigt, eine gesetzgeberische Entscheidung herbeizuführen. Sie ist nicht nur erforderlich, weil der Unbegriff des „besonderen Gewaltverhältnisses" für die praktische Ausgestaltung des Strafvollzugs nichts hergibt, weil er nichts über die Rechtsstellung des Gefangenen i m einzelnen auszusagen vermag, sondern weil dieser Begriff schlicht m i t dem Grundgesetz unvereinbar ist. Die Verfassung kennt ihn nicht; sie schreibt vielmehr vor, daß Eingriffe i n die Rechte des einzelnen — wer immer es auch sei — gesetzlicher Grundlage bedürfen. Gesetzliche Eingriffsermächtigungen ihrerseits sind aber an die Schranken gebunden, die die Verfassung aufrichtet. Rechtsstaatliche Gesichtspunkte gebieten es also, Umfang und Inhalt der Pflichten und Rechte des Gefangenen durch Gesetz festzulegen; der Strafvollzug ist i n diesem Sinne kein „rechtsfreier Raum". Schon längst hat man für andere Bereiche besonderer persönlicher Inpflichtnahme den Begriff des „besonderen Gewaltverhältnisses" verabschiedet; so sind etwa die Rechtsverhältnisse des Beamten und des Soldaten gesetzlich geregelt. Ich habe keinen Zweifel daran, daß das Bundesverfassungsgericht den bisherigen „gesetzlosen Zustand" auf dem Gebiet des Strafvollzugs nicht mehr lange tolerieren wird. So sehr man es i m Hinblick auf das Übergangsstadium, i n dem sich jetzt der Strafvollzug befindet, und auf die Notwendigkeit praktischer Erprobung von Behandlungsmaßnahmen auch bedauern mag — w i r können heute schon aus verfassungsrechtlichen Gründen an einer gesetzlichen Regelung des Strafvollzugs nicht vorbei. Das war und ist auch die Legitimation für die Tätigkeit der Strafvollzugskommission. Es versteht sich von selbst, daß man aus der Not, den Strafvollzug gesetzlich normieren zu müssen, eine Tugend zu machen versucht, indem man sich u m eine neue Vollzugskonzeption bemüht. Man w i r d dann sinnvollerweise wenigstens die gegenwärtigen kriminologischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse i n das Gesetz einbringen. Die Kommission ist von der Überlegung ausgegangen, daß Rückfallverhütung erstes und vornehmstes Ziel des Strafvollzugs sein muß. Es entspricht den Grundgedanken einer rationalen, sinnvollen K r i m i n a l politik, die Begehung von Straftaten zu verhindern. Dem sucht das sog. Behandlungsziel des Entwurfs Rechnung zu tragen, das wie folgt lautet: „ I m Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig i n sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen."

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Darin kommt zweierlei zum Ausdruck: Es geht um stra/gesetzmäßige, nicht u m gesetzmäßige Lebensführung schlechthin; denn es kann insoweit nicht Aufgabe des Strafvollzugs sein, mehr erreichen zu wollen als das Strafrecht insgesamt. Dennoch gibt es einen darüber hinausweisenden Auftrag des Vollzugs, der aus den besonderen Bedingungen des Freiheitsentzugs und der Persönlichkeitsstruktur vieler Gefangenen erwächst. I m Gefangenen soll die Einsicht i n seine Verantwortung gegenüber der Umwelt, der Gesellschaft geweckt werden; zumindest soll er i n dieser Einsicht bestärkt werden. Das geschieht auch i n seinem ureigensten Interesse: Die Behandlung soll zugleich seine soziale Integration anstreben. Das Behandlungsziel muß notwendig die Ausgestaltung des Vollzugs bestimmen. Dementsprechend knüpfen die Vollzugsgrundsätze an allgemeine Erkenntnisse der Sozialisation an. Ist oberste Maxime die sinnvolle Vorbereitung des Gefangenen auf das Leben i n Freiheit, dann muß die Strafanstalt ein „Ubungsfeld für soziales Verhalten" sein. U m der praktischen Erprobung w i l l e n muß der Vollzug sich an der Lebenswirklichkeit orientieren, muß er vergleichbare Lebensbedingungen bieten, die einer Bewährung Raum geben. Er muß ferner darum bemüht sein, negative Auswirkungen des Freiheitsentzugs abzubauen, ja nach Möglichkeit überhaupt zu vermeiden. Diese Gesichtspunkte suchen die Vollzugsgrundsätze auszudrücken, die alle Bereiche des Vollzugs durchdringen sollen: „Der Vollzug ist so zu gestalten, daß er dem Gefangenen hilft, sich i n das Leben i n Freiheit wieder einzugliedern. Das Leben i m Vollzug ist den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich anzugleichen. Schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs ist entgegenzuwirken." Neue Wege geht der Entwurf, wenn er nicht nur den Gefangenen an der Behandlung beteiligt wissen w i l l , sondern auch eine Pflicht des Gefangenen zur Mitarbeit statuiert. Beides steht i m Kontext einer Vollzugsgestaltung, die statt eines passiven „Absitzens" der Strafe eine Zusammenarbeit von Vollzugspersonal und Gefangenen i m Interesse der Sozialisation anstrebt. Das ist gewiß nicht i m Sinne einer harmonistischen, die Vollzugswirklichkeit ganz und gar verfehlenden Gemeinschaftsideologie gedacht, sondern i n der Zielsetzung des Vollzugs selbst begründet. Soziale Integration kann ohne M i t w i r k u n g des Betroffenen, gegen dessen Willen nicht geleistet werden. Sozialpädagogische und sozialtherapeutische Behandlung ist ebensosehr Sache dessen, der sie betreibt, wie Sache dessen, dem sie zuteil wird. Gewiß fehlt es i n etlichen Fällen an der Bereitschaft, gelegentlich sogar an der Fähigkeit zu solcher Mitarbeit. Dann muß sie geweckt, darauf hingewirkt werden; auch hier bedarf es — wie auf so vielen Gebieten des Vollzugs — der mühseligen Auseinandersetzung mit der Person und andauernden Wer-

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bung für die Sache. Das macht den Vollzug keineswegs leichter — weder für den Beamten noch für den Gefangenen. Aber es sollte einmal ausgesprochen werden, daß das i m Wesen eines Vollzugs liegt, der dem Sicherungs- und Verwahrungsvollzug alter Prägung eine entschiedene Absage erteilen w i l l . Wer die Rückkehr zu diesem System nicht w i l l , w i r d die Konsequenzen ziehen müssen, daß der Vollzug auf ein stärkeres Engagement aller daran Beteiligten und davon Betroffenen hinarbeiten muß. Freilich kann die M i t w i r k u n g des Gefangenen letztlich nicht erzwungen werden. Man kann zwar auf der zwangsweisen Durchsetzung gewisser Minimalanforderungen, wie der Arbeitspflicht, der Pflicht zum Befolgen des Gesundheitsschutzes und der Hygiene, bestehen; es hätte jedoch keinen Sinn, die Pflicht zur Mitarbeit durch Sanktionen abzusichern. Dennoch ist die für traditionelle Vorstellungen völl i g neuartige Aussage, daß der Gefangene „daran mitzuwirken" hat, „das Behandlungsziel zu erreichen", kein leerlaufender Programmsatz; sie macht deutlich, worauf es dieser Vollzugskonzeption entscheidend ankommt. Der Entwurf sucht die eben erwähnten Grundsatzbestimmungen für alle Bereiche des Vollzugs zu konkretisieren. Das ist, wie die Erörterungen zur Behandlungsproblematik haben erkennen lassen, keineswegs einfach. Daraus erklärt sich etwa das Schweigen hinsichtlich besonderer Behandlungsmethoden und die geradezu spartanische Sparsamkeit der Vorschriften über die Sozialtherapie. Hier hat sich die Kommission i n aller Nüchternheit auf den Standpunkt gestellt, daß nur das geregelt werden kann und muß, was beim heutigen Stand der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis i n ein Gesetz aufzunehmen verantwortet werden kann. I m übrigen soll und muß der Praxis freier Spielraum gewährt werden, damit neue Methoden erprobt und getestet werden können; i n gewisser Weise handelt es sich um das Wechselspiel von „error and trial", von I r r t u m und Bewährung, wie es heute i n den empirischen Sozialwissenschaften üblich ist. Denn niemand kann gegenwärtig verbindlich angeben, wie ein optimales Behandlungsprogramm, bezogen auf die Gesamtheit der Inhaftierten, aussehen müßte. Es kann insofern also nur darum gehen — wie ich es einmal formuliert habe —, „das rechts-, sozialstaatliche und kriminalpolitische M i n i m u m i m Gesetz zu regeln, i m übrigen aber der Weiterentwicklung der Praxis und der Erprobung neuer Modelle Raum zu geben". Darum äußert sich die Konzeption des Entwurfs mehr i n der A r t der Normierung bestimmter Sachbereiche, wie etwa des Aufnahme- und Entlassungsvollzugs, der verschiedenen Vollzugsformen, des Urlaubs, der Unterbringung des Gefangenen, des Kontakts m i t der Außenwelt, der Arbeit und Entlohnung, der Religionsausübung, der Gesundheitsfürsorge, der Erwachsenenbildung und Freizeitgestaltung, der sozialen Hilfe sowie der Siehe-

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rungs-, Zwangs- und Disziplinarmaßnahmen, als i n der Regelung spezifischer Behandlungsmethoden. Diese finden sich allenfalls andeutungsweise i n besonderen Zusammenhängen. Hinweise solcher A r t gelten etwa den personellen Voraussetzungen der Persönlichkeitserforschung i m Aufnahmevollzug und später (§§ 7 Abs. 3, 8 Abs. 3), dem Inhalt des Vollzugsplans (§ 8 Abs. 2), der Verlegung eines Gefangenen aus Behandlungsgründen i n eine andere Anstalt (§ 9 Nr. 2), insbesondere i n eine sozialtherapeutische Anstalt (§ 10) oder i n den geschlossenen Vollzug (§§ 11 Abs. 3, 76), der Entlassungsvorbereitung (§ 16), der Förderung der Beziehungen m i t der Außenwelt (§ 25), der Überwachung des Besuchsverkehrs aus Behandlungsgründen (§ 28 Abs. 1), der Zielsetzung der Gefangenenarbeit (§ 39 Abs. 1), der Begründung eines Arbeitsverhältnisses außerhalb des Strafvollzugs und der Selbstbeschäftigung (§ 41 Abs. 2), der ärztlichen Behandlung zur Wiedereingliederung (§ 56), der Erteilung von Unterricht (§ 61), der sozialen Hilfe zur Entlassung (§ a), der Aufnahme des Gefangenen i n die Vollzugsanstalt auf freiwilliger Grundlage (§ 68 a), der Weckung des Verantwortungsbewußtseins des Gefangenen für ein geordnetes Zusammenleben i n der A n stalt (§ 72 Abs. 1), der Schaffung von Auswahlanstalten oder -abteilungen, von Anstalten „ m i t besonderen Einrichtungen zur allgemeinen und beruflichen Bildung" sowie von „Anstalten m i t Einrichtungen für die Behandlung persönlichkeitsgestörter Täter" (§ 134 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4), der Bestimmung der Größe und Struktur einer Anstalt entsprechend den Behandlungserfordernissen (§ 136 Abs. 1), der Ausgestaltung der Arbeitsbetriebe entsprechend den Verhältnissen der freien Wirtschaft (§§ 140 Abs. 2, 147 c Abs. 2), der Aus- und Fortbildung der Vollzugsbediensteten (§ 146 Abs. 2), der Beteiligung dieser Gruppe an der Behandlung der Gefangenen (§ 147 b), der Einrichtung eines psychologischen Dienstes (§ 150) sowie eines sozialen Dienstes (§ 152) und der Zusammenarbeit aller i m Vollzug Tätigen i m Interesse des Behandlungsziels (§ 155 Abs. 1). Dieser Katalog von Einzelregelungen des Entwurfs, die mehr oder weniger deutlich auf die Behandlung des Gefangenen Bezug nehmen, ist freilich ergänzungsbedürftig. Aber es kann sich hier nicht darum handeln, eine möglichst vollständige Aufzählung zu liefern, sondern den Zusammenhang sichtbar zu machen, i n dem die vorgesehenen Einzelmaßnahmen stehen sollen. Dabei verdienen zwei Vorschriften besondere Erwähnung. § 65 stellt der Regelung der bisherigen Anstaltsfürsorge und künftigen sozialen Hilfe den Grundsatz voran: „Der Gefangene kann die Hilfe des sozialen Dienstes i n Anspruch nehmen, 1. u m seine persönlichen Schwierigkeiten zu verarbeiten und zu lösen, 2. u m seine Angelegenheiten zu ordnen und zu regeln. Die Hilfe soll darauf gerichtet sein, den Gefangenen i n die Lage zu versetzen, dies selbst zu tun." 7 Müller-Dietz

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Darin kommt i n exemplarischer Weise zum Ausdruck, daß die dem Gefangenen zu leistende „Hilfe zur Selbsthilfe" eben nicht nur i n der Bereinigung äußerer materieller Schwierigkeiten, sondern auch und gerade i n dem Bemühen bestehen soll, psychische und seelische Probleme zu lösen, innere Hemmungen zu überwinden. Das gilt natürlich i n noch stärkerem Maße für Behandlungsmethoden und -ziel i n der sozialtherapeutischen Anstalt. § 118 spricht insofern freilich nur von den „besonderen therapeutischen M i t t e l n und sozialen Hilfe" dieser Anstalt und übernimmt i m übrigen die allgemeine Definition des Behandlungsziels (§ 3). Diese Zurückhaltung ist i n der bereits erörterten Problematik der Sozialtherapie begründet. Weitergehende Aussagen über die Behandlung sind hingegen überall dort möglich, wo eine gewisse Breite praktischer Erfahrungen und theoretischer Durchdringung vorliegt. Das t r i f f t vor allem auf die psychiatrische Krankenanstalt (§ 127) und die Entziehungsanstalt (§ 130) zu. Diesen Hinweisen auf die Intentionen der Strafvollzugskommission und ihres Entwurfs wäre noch viel hinzuzufügen. Dennoch mag es dabei — nicht nur aus zeitlichen Gründen — sein Bewenden haben. Auch so dürften die Grundgedanken deutlich geworden sein, von denen sich die Kommission hat leiten lassen. Sie sind auf einen einfachen Nenner zu bringen: Wenn schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ein Gesetz notwendig ist, dann darf es nicht i n einer Festschreibung gegenwärtiger Zustände bestehen, dann kann und muß es ein Reformgesetz sein. Von diesem Ansatz her w i l l auch die Bestimmung der „Aufgaben und Ziele des künftigen Strafvollzugs" verstanden und kritisiert werden.

Die Leistungsgesellschaft und ihre Außenseiter Das Wort Umweltschutz ist i n aller Munde. Die Verschmutzung der L u f t und des Wassers gilt als eines der ersten gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit. Maßnahmen zur Abhilfe werden gefordert, Gesetzgebungsvorhaben sind i m Gange. K e i n Zweifel, daß w i r es hier m i t einem Problem zu t u n haben, das uns i n steigendem Maße beschäftigen wird. Der M ü l l liegt sichtbar vor unser aller Augen, er bedrängt uns förmlich. Der Tribut, den w i r der Industrialisierung, wachsendem Komfort und Wohlstand opfern, wächst. Aber w i r möchten nicht weiter zahlen, nicht länger die Versteppung der Landschaft und Bedrohung unserer Gesundheit als unvermeidliche Begleiterscheinungen unserer Industrie- und Leistungsgesellschaft hinnehmen, zweifelsohne m i t Recht. Indessen existieren noch andere „Abfallprodukte" i n unserer Gesellschaft, die uns weniger kümmern, weil sie nicht so sichtbar vor aller Augen stehen, uns nicht so unmittelbar bedrängen. Es sind die Außenseiter und Randgruppen der Gesellschaft, die ein mehr oder weniger kümmerliches Leben außerhalb der Gesellschaft oder an ihrem Rand fristen. Je nach Herkunft, sozialem Status und Lebensweise vom Durchschnittsbürger nur geduldet, verachtet, abgelehnt oder gar gefürchtet, sind solche Menschen vom gesellschaftlichen Fortschritt ausgeschlossen, leben zumindest i n großer Distanz von den allgemeinen Chancen persönlicher, beruflicher und sozialer Entfaltung. Der Bogen solcher marginalen Gruppen spannt sich recht weit. Er umfaßt — freilich aus den verschiedensten Gründen — recht verschiedenartige Personen und Sozialbereiche. Wer den „Spiegel"-Report über sozial benachteiligte Gruppen gelesen hat bzw. liest, weiß, was damit alles gemeint ist: Gastarbeiter, behinderte Kinder, Geisteskranke, sog. Problemfamilien, Straffällige und manche andere. Vermutlich ist dieser Katalog noch erweiterungsfähig. Gemeinsam ist allen jenen Gruppen ein gewisses Maß an sozialer Zurücksetzung, an Isolierung und Entfremdung vom berühmten Jedermann auf der Straße, von der großen Masse der normalen Staatsbürger, die sich ganz einfach m i t der Feststellung charakterisieren lassen, daß sie so sind, wie man es erwartet, daß sie allgemeinen Verhaltenserwartungen entsprechen, daß sie die Gesetze achten — zumindest dem äußeren Anschein nach. Freilich werden auch viele von uns sozial Unauffälligen dem Normalmaß, an dem w i r unsere Mitbürger messen, nicht ganz gerecht. Erving Goffman hat darauf hingewie7*

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sen, daß die menschlichen Ideale und sozialen Standards über durchschnittliche Anforderungen weit hinausgehen können. Ich zitiere: „ Z u m Beispiel gibt es i n einem gewichtigen Sinn nur ein vollständig ungeniertes und akzeptables männliches Wesen i n Amerika: ein junger, verheirateter, weißer, städtischer, nordstaatlicher, heterosexueller, protestantischer Vater m i t Collegebildung, voll beschäftigt, von gutem Aussehen, normal i n Gewicht und Größe und m i t Erfolgen i m Sport." Diesem B i l d entsprechen natürlich viele Amerikaner nicht. Sicher gibt es auch bei uns Vorstellungen vom sozial besten, tüchtigsten, anerkanntesten Erwachsenen. Aber das ist nicht entscheidend. Denn Abweichungen von diesem Idealbild werden von der Gesellschaft i n gewissen Grenzen allemal toleriert. Sozial bedeutsam werden sie jedoch, wenn die Toleranzgrenze überschritten wird. Denn dann stellen sich fast automatisch die eingangs gekennzeichneten Folgen der Abstoßung, Distanzierung ein, die i m Sinne eines Rückkoppelungsprozesses wiederum Auswirkungen auf Einstellung und Verhalten der davon Betroffenen haben. Niemand kann sich solchen Sozialprozessen ganz entziehen, weil niemand wie Robinson auf einer Insel lebt. Soziologie und Sozialpsychologie haben i n letzter Zeit verschiedentlich jene psychosozialen Vorgänge zu analysieren versucht. Jeder von uns lebt i n bestimmten sozialen Zusammenhängen und Gruppen, i n denen er entweder aufgewachsen oder i n die er zumindest hineingewachsen ist. I n jedem von uns lebt ein Bedürfnis nach Identifikation m i t der Gruppe, der man zugehört. Soziale Bindungen schaffen Vertrauen, Geborgenheit und Orientierungsmöglichkeiten. Man weiß, wo man hingehört. Das w i r d allenthalben, insbesondere i n Familie und Beruf, sichtbar. So notwendig dies auch ist und so positiv es klingt, so steht doch demgegenüber — gewissermaßen als Kehrseite der Medaille — die Distanzierung von fremden Gruppen, deren soziale Merkmale erheblich von der eigenen abweichen. Positive Eigenschaften werden auf die eigene Gruppe, negative auf die Fremdgruppe projiziert. Es t r i t t das ein, was man neuerdings vielfach m i t sozialer Stigmatisierung gekennzeichnet hat. Dabei spielt das Maß der Abweichung eine große Rolle. Es entscheidet auch darüber, ob und inwieweit eine soziale Integration jener Fremdgruppen i n die Allgemeingesellschaft gelingt. Eine schlichte Überlegung zeigt das Grundmuster jenes Prozesses. Fremden und Fremdartigem t r i t t man zurückhaltend gegenüber. Das gilt vor allem dann, wenn man nicht so recht weiß, was man davon zu gewärtigen hat. So prägt sich ein mehr oder weniger deutliches Mißtrauen gegenüber Gastarbeitern aus. Die innere Abwehrhaltung, die sich notgedrungen auch auf das äußere Verhalten auswirkt, verstärkt sich, sobald noch das Gefühl der Gefährdung und Bedrohung hinzukommt. Dies ist i n gewissem Umfang bei Geisteskranken, erst recht

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aber i m Verhältnis zu Straffälligen der Fall. Glaubt man doch gerade bei diesen Anlaß zu besonderer Vorsicht und Zurückhaltung zu haben. Die Einstellung gegenüber Straffälligen w i r d freilich noch durch ganz andere Faktoren bestimmt. Man erwartet vielfach die Bestrafung des Rechtsbrechers, sei es aus Gründen der Sühne für die begangene Tat, sei es, u m i h n und andere von der Begehung von Straftaten abzuschrecken. So kann es nicht überraschen, daß noch 1968 69 Prozent der Bundesbürger die Todesstrafe befürworteten und daß sich ein erheblicher Prozentsatz von strengeren Gesetzen und Strafen eine wirksamere Bekämpfung der Kriminalität erhofft. Das kann und darf man nicht einfach m i t einer Handbewegung abtun. Angesichts schwerer Verbrechen, angesichts der Leiden mancher Opfer, der durch Straftaten angerichteten Schäden und der beharrlichen Rückfallneigung vieler Täter sind Empörung und Entrüstung verständlich. Man braucht nur an die Reaktion der Öffentlichkeit i m Zusammenhang m i t dem Lebachund dem Bartsch-Prozeß zu erinnern. Beides sind typische Fälle, die das Verständnis des Durchschnittsbürgers übersteigen (ja sogar zu überfordern scheinen), Straftaten, die nach A r t und Ausmaß ungeheuerlich erscheinen. I n die gleiche Kategorie gehört etwa, was der amerikanische Schriftsteller Truman Capote i n seinem atemberaubenden Bericht über die Ermordung einer ganzen Familie i n Kansas (1959) uns mitgeteilt hat oder was uns tagtäglich aus Pressemeldungen über den Manson- Prozeß entgegenschlägt. Ebenso wäre an den Auschwitz-Prozeß zu erinnern, den Versuch, einem ungeheuerlichen Geschehen gerecht zu werden, an dem selbst die literarischen Fähigkeiten eines Peter Weiss zuschanden werden mochten. Was i n diesen Fällen geschehen ist, scheint uns unbegreiflich, hier noch auf Verständnis für die Täter oder gar M i t leid m i t den Tätern zu hoffen, ein vergebliches, ja geradezu selbstmörderisches Unterfangen. Solche Verbrechen verdienen nach dem Urteil der Allgemeinheit nichts als schärfste Ahndung. Hier paaren sich Vergeltungsbedürfnis und die populäre Uberzeugung, daß Härte und Strenge sich abschreckend auswirken, mit bestimmten Gerechtigkeitserwartungen. Demnach scheint es nur natürlich, daß man dem Straftäter m i t Mißtrauen, Ablehnung, ja gelegentlich sogar purem Haß entgegentritt. Man w i r d dabei der Tatsache nicht gewahr, daß die aus einer solchen Einstellung resultierenden Reaktionen nicht selten auf die Gesellschaft zurückschlagen. Denn die soziale Diffamierung und Stigmatisierung des Straffälligen, die zunächst einem wohlbegründeten Abwehr- und Selbstbehauptungswillen des einzelnen wie der Allgemeinheit entspringen, beeinflussen i n einer A r t Rückkoppelungsprozeß auch das weitere Verhalten des Straftäters mit. Je härter und je schärfer die Reaktion der Gesellschaft auf Straftaten ist, je mehr der Gesichtspunkt

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der bloßen Abschreckung die Behandlung des Straffälligen bestimmt, desto wahrscheinlicher w i r d der Rückfall. Die unter dem Druck der sozialen Umwelt aufgestauten Aggressionen und Frustrationen entladen sich allemal irgendwo und irgendwann wieder. Möglicherweise äußern sie sich i n neuen Straftaten, i n der A r t also, wie gerade der Rückfalltäter m i t seiner sozialen Außenseiterrolle fertig zu werden sucht. Kriminologische Untersuchungen haben ergeben, daß sich das Gros unserer Rückfalltäter, der Kernkriminalität, aus sozial bereits früh Entgleisten rekrutiert. Die Biographien ähneln sich i n erschreckender Weise. Meist ist die soziale und personale Defektsituation bereits von Anbeginn, von früher Jugend an, vorhanden. Es fehlt an elterlicher Zuwendung, w e i l schon das familiäre Milieu gestört ist. A m deutlichsten ist diese Misere bei solchen Heimkindern, die von Jugend auf durch die staatlichen und gesellschaftlichen Kontrollinstanzen geschleust wurden. Der Prozeß der Ichfindung, der Identifikation m i t Bezugspersonen, also der Sozialisation, bricht dann vielfach ab und läßt sozial gestörte, gescheiterte Persönlichkeiten zurück. Daß sich dieses Scheitern i n Kriminalität äußert, kann nicht mehr überraschen, eher schon die Tatsache, daß die Sozialisationsmängel i n weniger auffälligen Formen sozialer Abweichung ihren Ausdruck finden. Wie nun gerade auf solche Persönlichkeiten bloße Vergeltung und Abschreckung wirken müssen, ist unschwer auszumachen. Die Fixierung auf die negative Außenseiterrolle w i r d verstärkt, m i t der Entlassung aus der Haft, die keine Versöhnung bewirkt, setzt sie sich fort. Der Abbruch sozialer Kommunikation, ohne die nun einmal niemand von uns leben kann, drängt den Straftäter i n den Untergrund ab. Der Rückfall ist dann nur noch eine Bestätigung unserer Erwartungen und Voraussagen. Wenn das K i n d auch nicht beim Namen genannt zu werden pflegt: Irgendwo spürt man eine heimliche Befriedigung darüber, daß man m i t seiner Einschätzung der Kriminellen recht gehabt hat, daß m i t ihnen nichts los ist, ja mehr noch: daß sie ja gar nicht willens sind, sich i n die Ordnung zu fügen. So schließt sich der Kreislauf: Die Gesellschaft fühlt sich i n ihren sozialen Erwartungen bestätigt und damit zugleich gerechtfertigt, aber auch der Straftäter glaubt, daß das Bemühen um Integration i n die Gesellschaft nutzlos ist, weil es keinen Anklang findet; auch er bewegt sich also i m Bereich bekannter Erfahrungen, die auf die Subkultur oder den Untergrund als scheinbar einzige Heimat und Bezugsgruppe des Außenseiters verweisen. Ein Schreiben eines anonymen Strafgefangenen, das anläßlich einer Literatur-Lesung i n München 1967 zitiert wurde, charakterisiert diese Situation bei aller subjektiven Perhorreszierung der Probleme und aller inzwischen stattgehabten Veränderungen i m Vollzug i n unüberbietbarer Weise. Es heißt u. a. darin: „Es ist absurd und dumm, aus Haft

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eine Strafe zu machen. Ein hartes unbequemes Bett ist doch keine Strafe, sondern einfach die Ursache, daß ich am anderen Morgen mangelhaft ausgeruht und vermindert leistungsfähig bin. U n d wenn ich dann zum Frühstück trockenes Brot zu schwarzer Brühe fresse, dann ist das ebenfalls keine Strafe, sondern eine unzureichende Ernährung und wiederum eine Leistungsminderung. . . . Haft ist nur das: eine Verletzung körperlicher oder geistiger Gesundheit. Wenn ein Mann jahrelang seinen natürlichen Funktionen entzogen w i r d ; wenn er jahrelang auf ein M i n i m u m an Ernährung gesetzt w i r d ; wenn er unter Bedingungen zu arbeiten gezwungen ist, die seinen Körper schädigen . . . wenn er psychisch verkümmert und i n seinen Affektkräften unterdrückt w i r d ; wenn man i h n unter dem Vorwand, i h n für das Leben präparieren, resozialisieren zu wollen, von diesem Leben so isoliert, daß i h m nicht einmal über seine kleinsten Belange und Bedürfnisse eine Entscheidungsfreiheit bleibt — dann ist das alles keine Strafe, sondern eine physische und psychische Verletzung seiner Persönlichkeit, irreparabel für sein ganzes weiteres Leben und bereits die Basis erneuten Versagens. Er ist krank und lebensuntauglich bei seiner Entlassung — und findet sich damit i n die gleiche Wirklichkeit gestellt, die i h n schon einmal versagen ließ, und die er jetzt bewältigen s o l l ! . . . Daß das jetzige System nichts hilft, beweist es doch inzwischen jahrhundertelang. Laßt Euch doch endlich etwas anderes einfallen, wenn Ihr helfen w o l l t — oder redet nicht mehr von Hilfe." Der Brief zeigt deutlich: Die Situation des Außenseitertums, der Aussichts- und Hoffnungslosigkeit w i r d schon während des Strafvollzugs vorbereitet durch weitgehenden Entzug sozialer Kontakte. Die Notwendigkeit, hier anzusetzen, ist denn auch allgemeine Einsicht der Vollzugsreformer. Wer die Beziehungen zur Umwelt oder Bezugsgruppe abschneidet, gefährdet damit die Bindungsfähigkeit und -möglichkeit des einzelnen, also die Binnenstruktur der Persönlichkeit. Darüber liegen aufschlußreiche soziologische Untersuchungen und sozialpsychologische Erfahrungen vor. Die künstlich erzwungene Isolierung und Einsamkeit kann zwar i m Einzelfall durchaus fruchtbar sein, so etwa, wenn jemand über ein intaktes Ich verfügt, innerlich gefestigt und damit äußeren Belastungssituationen gewachsen ist. Das t r i f f t aber gerade auf den m i t sozialen Normen i n K o n f l i k t lebenden Straftäter vielfach nicht zu. Er ist sozial desorientiert, wenig belastbar und reagiert dementsprechend auf Extremsituationen gleichfalls i n problematischer Weise. Typisch dafür sind die Verhaltensrituale i n der Strafanstalt, die Anpassung an die Subkultur der Insassen, das Ausweichen vor der Strafe, die Flucht i n die Scheinwelt des Tagtraums und der Geschäftigkeit. So entwickeln die Gefangenen häufig Problemlösungstechniken, die gerade die erwünschte soziale Integration gefährden, sie

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bestenfalls zu sozial an das System der Anstalt Angepaßten machen, ohne ihnen normale Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Natürlich sind diese sozialen Mechanismen nicht geplant. Vielmehr sind vor allem die i m Strafvollzug Tätigen von jeher daran interessiert, sie abzubauen, u m überhaupt Resozialisierung zu ermöglichen; gerade der Strafvollzug ist seit langem — bezeichnenderweise i n Frontstellung zur Gesellschaft — für Erziehung und Resozialisierung des Straftäters eingetreten und den Maximen der Vergeltung und Abschreckung entgegengetreten. Daß das weitgehend Programm geblieben ist, lag wohl an zwei Umständen: der Tatsache, daß man erst allmählich die sozialpsychologischen Auswirkungen des Strafvollzugs erforscht und durchschaut hat; und dem weiteren Phänomen, daß die Gesellschaft so stark auf ihrer überkommenen Einstellung gegenüber dem Straftäter beharrt. Das macht etwa den Prozeß von der Verwahrung des Gefangenen zu seiner Behandlung so ungemein schwer und läßt auch kurzfristig kaum umwälzende Erfolge erhoffen. Diese Einstellung hat, wie w i r aus der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse wissen, noch andere, damit allerdings verwandte Ursachen. Daß es Kriminelle als gleichsam negatives A b b i l d des redlichen und ehrlichen Bürgers gibt, bewirkt psychische Entlastung. Der Vorgang des Strafens charakterisiert sich danach als kollektive Triebabfuhr. I n der extremen psychoanalytischen Theorie stellt er sich als das Abreagieren kollektiver Aggressionen und Frustrationen dar: Strafe gleichsam als legalisierte Form der Triebbefriedigung, ähnlich wie sich i m Krieg unter dem Deckmantel ethischer Notwendigkeiten Haß- und Racheinstinkte äußern und soziale Versagungen kompensiert werden können. Der normale Bürger, der sich schlecht und recht i n seinem mühseligen Leben abrackert, mehr Leid als Freude, mehr Enttäuschungen als Hoffnungen erfährt, rächt sich für die Misere seines Daseins. Die blutige Gewalttätigkeit unserer Tage, wie sie sich fast ohne Unterlaß entlädt, w i r d so zum A b b i l d einer von Haß und Empörung erfüllten Welt, die ihre ethische Ohnmacht i n A k t e n der Brutalität enthüllt. Wer — vom Leben, von der Umwelt, von wem auch immer — geschlagen wird, schlägt zurück. I n Robert Musils berühmtem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften" findet sich eine bemerkenswerte Stelle, die von Schärfe des sozialen Blicks zeugt: „ A m Rückweg glaubte sie zu bemerken, daß alles i n der Welt heimlich auf Schlagen eingerichtet sei. Es fuhr ihr nur so durch den Kopf. Die Eltern das Kind. Der Staat die Sträflinge. Das Militär die Soldaten. Der Reiche die Armen. Der K u t scher die Pferde. Die Leute gingen m i t großen Hunden an der Leine spazieren. Jeder schüchtert den anderen lieber ein, als sich m i t ihm zu verständigen." I n dieser Sicht erscheinen Täter wie Opfer als Geschlagene, Getretene. A m Täter, der sich für sein gescheitertes, mißlungenes

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Leben am Opfer rächt, rächt sich wiederum die Gesellschaft. Er w i r d zum Sündenbock gestempelt für das, was i n der Gesellschaft mißglückt, gescheitert ist. Und er ist keineswegs der einzige Sündenbock. Es gibt deren viele; und es w i r d keineswegs immer danach gefragt, ob derjenige, der dafür verantwortlich gemacht wird, auch wirklich der Schuldige ist; und — was i m Grunde noch mehr überraschen sollte — man bemüht sich keineswegs immer um die Beseitigung des Mißstandes, der Ursache des Unmuts war. Nicht selten beruhigt sich die Öffentlichkeit damit, daß ein Sündenbock gefunden wurde; geschieht ihm, was man für richtig hält, ist man zufrieden — mag sich auch nichts geändert haben. Man hat jedenfalls sein Ventil, sein Objekt, auf das man alles Böse, alles Verfehlte, das existiert, projizieren kann. Darum wohl fragt die Gesellschaft auch weniger nach der Beseitigung der Ursachen von Verbrechen als nach der Befriedigung ihres Gerechtigkeitsempfindens oder was sie darunter so versteht. Man braucht sich keineswegs i n allen Punkten m i t diesen psychoanalytischen Theorien zu identifizieren, um zu erkennen, daß daran manches richtig ist. Wer getreten wird, schlägt zurück. Das w i r d nirgends deutlicher als an dem verpfuschten Leben des Rückfalltäters, der den konsequenten Weg vom Kinderheim über das Fürsorgeerziehungsheim und die Jugendstrafanstalt bis i n die Erwachsenenstrafanstalt gegangen ist. Was hier an sozialen Defekten zutage t r i t t , scheint kaum noch korrigierbar. Fehlprägungen und Entwicklungsstörungen dieses Ausmaßes lassen sich jedenfalls m i t den bewährten alten Hausmitteln der Gewöhnung an Ordnung und Arbeit nicht kurieren. Es entspricht einer alten, nunmehr auch wissenschaftlich analysierten Erfahrung, daß damit nur Anpassung an das soziale System der Anstalt für die Dauer des Freiheitsentzugs, nicht aber die Fähigkeit zur Führung eines verantwortlichen Lebens vermittelt wird. Worauf es also entscheidend ankommt, ist, die Lebensbedingungen für den Straffälligen so zu ändern, daß er m i t den Problemen des Daseins i n vernünftiger Weise fertig zu werden lernt, daß i n i h m die Bereitschaft zur sozialen Integration geweckt werden kann. Das schließt den Appell an die soziale Verantwortung des einzelnen, also auch des Straftäters, keineswegs aus, sondern vielmehr gerade ein. Denn Voraussetzung dafür, daß jemand den Mitmenschen respektiert, ist die Identifizierung m i t den Normen dieser Gesellschaft. Das kann sicher nicht durch ständige Berufung auf die Schuld des Straffälligen erreicht werden. Einmal wäre das eine durchaus unangemessene Form der Behandlung solcher Defektzustände. Zum zweiten träfe das die Problematik auch nur zum Teil. Denn die Frage ist und bleibt, wieviel gerade i n Fällen dauernden Versagens, latenter Kriminalität von Jugend auf an persönlicher Verantwortlichkeit i m einzelnen steckt und wieviel auf das Konto einer Umwelt zu setzen ist,

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die i n mancher Hinsicht selbst versagt hat. I n zunehmendem Maße ist die Forschung damit beschäftigt, die mangelnde Verarbeitung von Entwicklungsstörungen, das ungünstige soziale und familiäre Milieu, schlechthin abnorme Lebensbedingungen i n der Kindheit als kriminogene Faktoren i n die Betrachtung einzubeziehen. Das hat nichts m i t der billigen Schwarz-Weiß-Malerei zu tun, der w i r immer wieder i n der Öffentlichkeit begegnen. Dieses Klischee hat einmal Franz Werfel eindrucksvoll i n dem Romantitel: „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig" zusammengefaßt. Typisch für eine solche weitverbreitete Mentalität ist auch die Gegenüberstellung von Schuld der Gesellschaft und Schuld des Straftäters, wie sie sich i n dem „Spiegel"-Artikel über den Strafvollzug (1971) findet. K e i n Zweifel, daß das werbewirksam und einprägsam ist. Aber noch wissen w i r nicht exakt, wie Kriminalität zustandekommt. Noch können w i r nicht genau angeben, wie dieser Prozeß sich i m einzelnen abspielt. Und erst recht sind uns klare Aussagen darüber unmöglich, wie sich individuelle und gesellschaftliche Schuld dabei zueinander verhalten. Die Wissenschaft kann auch das populäre Spiel, die Schuld des einen gegen die des anderen aufzurechnen, nicht mitspielen, weil es i m Grunde nur Entlastung von Verantwortung bedeutet, aber nicht weiterhilft. Es hat i n der neueren Geschichte der K r i m i n o logie, die sich m i t den Ursachen des Verbrechens befaßt, vielerlei Versuche gegeben, dieses Phänomen zu erklären. Vererbung und Umwelt waren die beiden Pole, u m die sich seit jeher die Diskussion gedreht hat. Je nach philosophischen, weltanschaulichen und politischen Strömungen hat der Zeitgeist dem einen oder dem anderen Faktor größeres Gewicht beigelegt. Immerhin gibt es Anzeichen dafür, daß sich nunmehr differenziertere Vorstellungen durchzusetzen beginnen. Obwohl man vor einseitigen Erklärungsversuchen entschieden warnen muß, spricht doch viel dafür, Kriminalität als Ausdruck mißlungener Sozialisation des einzelnen zu begreifen. Jeder wächst unter bestimmten familiären und Umweltbedingungen i n seine Welt hinein, erfährt sein Ich i m Gegenüber des anderen, des Mitmenschen. Aus sozialer Kommunikation entwickelt, bildet sich der Mensch. Schon die ersten sprachlichen Gehversuche des Kindes bedeuten Erfahren der Umwelt, Auseinandersetzung m i t ihr. Die Eindrücke, die dem K i n d und Jugendlichen zuteil werden, bestimmen maßgeblich seinen weiteren Entwicklungsgang mit. Hier werden die entscheidenden Weichen für die Zukunft gestellt. Man hat darum diesen Vorgang als „zweite sozio-kulturelle Geburt des Menschen" (Ciaessens), als seine Sozialisation bezeichnet. Es liegt auf der Hand, daß Störungen i n diesem Abschnitt des Lebens schwere Auswirkungen auf die weitere Zukunft zumindest haben können. Wer es nicht gelernt hat, sich m i t den Anforderungen

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der Umwelt sinnvoll auseinanderzusetzen, gewissermaßen i n der unfertigen, unreifen Phase der Kindheit steckengeblieben ist, w i r d immer wieder dazu neigen, falsch zu reagieren, einen Platz außerhalb normaler Verhaltensweisen und damit der Gesellschaft zu suchen. Das müssen nicht unbedingt kriminelle Reaktionsweisen sein; das kann sich auch i n weniger gefährlichen und störenden Formen abweichenden Verhaltens abspielen. Wenn man diesen Prozeß bildlich erfassen wollte, könnte man an die Türe denken, die sich langsam, aber sicher schließt. Da ist einer, der schon von seinem Aussehen oder von seiner persönlichen Ausstattung her auffällt. Er selbst merkt die wachsende Distanzierung der Umwelt und zieht sich allmählich selbst zurück. Er entfremdet sich von der Umwelt. Beide, der draußen und die drinnen, werden einander fremd, lernen einander fürchten oder gar hassen. Dann geht die Türe zu. Er ist „draußen vor der Tür" (Borchert). I n der Wirklichkeit dürfte dieser Prozeß des wechselseitigen Sich-auf-Schaukelns sehr viel differenzierter vor sich gehen. Da ist vielleicht manchmal auf beiden Seiten mehr guter Wille vorhanden, als man vermuten sollte. Man bemüht sich u m den „verwahrlosten" Jugendlichen, den sozial entgleisten und deklassierten Erwachsenen. Aber der gutgemeinte Zuspruch, der mehr humanitären Impulsen als wahrer Sachkenntnis entspringen mag, versagt vor der Fülle aufgestauter Probleme, der unbewältigten Vergangenheit und damit Zukunft. Wenn die zweite Geburt des Menschen, die Sozialisation, mißlingt, bleiben Schäden zurück. Darum steht auch der Strafvollzug vor so unendlichen Schwierigkeiten, wenn er resozialisieren soll. Der Prozeß der Ichfindung und -entwicklung i n der Jugend ist i m Grunde unwiederholbar. Dennoch muß er beim erwachsenen Straftäter unternommen werden, weil er jedenfalls nach heutiger Erkenntnis der einzige Weg zu sozialer Integration zu sein scheint. Was als Möglichkeit und Aufgabe bleibt, ist also die „Ersatz-Sozialisation" (Schüler-Springorum); man kann Ersatz anbieten, den Versuch einer Reproduktion unternehmen, aber die originäre Chance ist dahin. Ein eingeschliffenes Verhalten zu korrigieren ist daher ein mühsames Geschäft, weil es auf die Verkrustungen und Verhärtungen des So-Gewordenseins stößt. Jeder von uns weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig es i m Grunde ist, sich von gewohnten Verhaltens- und Betrachtungsweisen zu lösen. Der tägliche Kampf des Rauchers, der Nichtraucher werden w i l l , ist ein Beispiel dafür. Wer i n den Slums der Großstädte, i n Obdachlosensiedlungen oder i n anderen sozial defekten Milieus groß und heimisch geworden ist und die dort üblichen Verhaltensweisen regelrecht gelernt hat, w i r d sich unter anderen Lebensbedingungen und Anforderungen nur schwer zurechtfinden. Er wird, wenn nicht alles von vornherein glatt läuft — und wann ist das schon der Fall — sehr leicht i n das alte Verhalten

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zurückfallen, kriminell bleiben. Den Zumutungen der neuen Umgebung ist er nicht gewachsen. Hier i n Prozenten Schuld errechnen, m i t der Elle messen wollen, wieviel Verantwortung den einzelnen und die Gesellschaft trifft, ist weder möglich noch angängig. Denn sicher ist nur, daß beide daran beteiligt sind. Es liegt i m Wesen eines Rückkoppelungsprozesses, daß er sehr viel differenzierter verläuft und uns mehr Einsicht i n solche sozialpsychologischen Mechanismen abfordert, als dies i m starren Schema des Entweder-Oder der Fall ist. Allemal ist es leichter, Kriminalität tiefenpsychologisch oder ökonomisch aus der Struktur der Gesellschaft heraus zu erklären und damit diese zum eigentlich Verantwortlichen zu stempeln; allemal ist es auch leichter, Kriminalität auf Invarianten oder Konstanten der Persönlichkeit, seien es Erbfaktoren oder ein böser Wille, zurückzuführen. Hier müssen w i r uns bewußt werden, daß der Mensch nicht als fertiges Wesen zur Welt kommt, sondern allmählich wird, und daß die A r t und Weise, wie w i r auf dieses Werden Einfluß nehmen, diese Entwicklung prägen, zugleich das Ergebnis mitbestimmt. I n der A r t und Weise, wie w i r dem Straftäter begegnen, liegen zugleich Chancen und Risiken seiner Zukunft. Zu wenig w i r d erkannt, daß der Prozeß der sozialen Abstempelung zugleich den K e i m zum Rückfall birgt, weil er ja dem Straffälligen die Rückkehr i n die Gesellschaft erschwert. Noch sind die Prozeduren unseres Gerichtsverfahrens, der Verurteilung des Täters, seiner Behandlung i m Strafvollzug und nach der Entlassung durch die Gesellschaft mehr von den Gesichtspunkten der A b - und Aussonderung sowie der Stigmatisierung gekennzeichnet als von dem der Hilfe. Man mag darin ein Zugeständnis an die Allgemeinheit erblicken, der mehr an Bestrafung als an sozialer Integration des Täters liegt. Dabei w i r d meist übersehen, daß es noch ganz andere als menschliche Gründe gibt, Resozialisierung zu betreiben. Von den ca. 48 000 Gefangenen, die ζ. B. 1968 einsaßen, waren lediglich etwa 1000 zu lebenslanger Freiheitsstrafe und nur ca. 800 zu Sicherungsverwahrung verurteilt. N i m m t man noch die i n Heil- und Pflegeanstalten eingewiesenen Täter hinzu, so sind es wohl kaum mehr als 5 — 6 % Gefangene, die dauernd oder zumindest unbestimmte Zeit lang i n Anstalten untergebracht sind. Diese Zahl reduziert sich noch erheblich, berücksichtigt man, daß Sicherungsverwahrte i n aller Regel nach drei Jahren entlassen, daß die Dauer der Unterbringung i n Heil- und Pflegeanstalten sowie Entziehungsanstalten teilweise noch darunter liegt und daß gelegentlich auch Lebenslängliche begnadigt werden. I n Wahrheit dürfte daher der Prozentsatz der Täter, die nie mehr i n die Freiheit zurückkehren, noch m i t 2 °/o zu hoch bemessen sein. Das bedeutet praktisch, daß bis auf eine verschwindend kleine Gruppe jeder Gefangene irgendwann einmal die Freiheit wiedersieht. Dann kann es aber nur sinnvoll

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sein, i h n darauf vorzubereiten, i h n entsprechend zu trainieren. Je lebensuntauglicher ein Gefangener ist, desto gefährlicher oder zumindest lästiger ist er für seine spätere Umwelt. Bloßes Einsperren oder Verwahren hieße den Rückfall vorbereiten helfen. Das kann jedoch nicht Sinn einer vernünftigen Kriminalpolitik sein. Darum bestimmt auch § 3 des neuen Entwurfs eines Strafvollzugsgesetzes: „ I m Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig i n sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Behandlungsziel)." Darin steckt die Aussage, daß Rückfall Verhütung die erste und vornehmste Aufgabe eines Strafvollzugs sein muß, der nicht nur den Straftäter, sondern auch die Gesellschaft vor weiterem Schaden bewahren w i l l . Daß man vergessen hat, daß „Böses fortzeugend Böses gebären" muß, war die Unvernunft vergangener Tage. Doch geht es — u m ein beliebtes Mißverständnis auszuräumen — nicht darum, dem Gefangenen Wohltaten zu erweisen, sondern i h m „Hilfe zur Selbsthilfe" zu leisten, ihn wieder sozial tauglich zu machen. Keiner von uns ist ein Münchhausen, der sich am eigenen Schöpfe aus dem Sumpf ziehen kann — am allerwenigsten ein Straffälliger. Es bedarf schon eines, der i h m die Hand hinreicht und — das ist jetzt eine gesellschaftspolitische Perspektive — einiger, die den Sumpf trocken legen.

Probleme deutscher Strafvollzugsgesetzgebung A. Einleitung: Die deutsche Strafvollzugsgesetzgebung im Rahmen der internationalen Entwicklung des Strafrechts und Strafvollzuges Zu den großen rechtspolitischen Vorhaben auf dem Gebiet des K r i m i nalrechts zählt i n der Bundesrepublik Deutschland der Erlaß eines Bundesstrafvollzugsgesetzes. Es gehört i n den Kontext der Gesamtreform des Strafvollzuges, die seit der Strafrechtsreform i n verstärktem Maße anvisiert wird. Die Verabschiedung eines Strafvollzugsgesetzes steht insofern i n unmittelbarem Zusammenhang mit dem 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz von 1969. Beide Gesetze haben eine Reihe von kriminalpolitischen Neuerungen gebracht, die sich direkt auf den Strafvollzug auswirken. Das zweite Strafrechtsreformgesetz w i r d allerdings erst am 1.10.1973 i n K r a f t treten. Faßt man die wesentlichen Gesichtspunkte dieser Gesetze zusammen, so zeigt sich folgendes Bild: Durch die Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe (Abschaffung des Zuchthauses) wurde der Weg für eine differenzierte Behandlung der verschiedenen Straftäter geebnet. Der Strafvollzug braucht sich jetzt nicht mehr nach verschiedenen Arten von Freiheitsstrafen zu richten, wie dies i n Österreich nach wie vor der Fall ist. Die Anhebung der Obergrenze der Strafaussetzung zur Bewährung sowie die Einführung der Ultima-ratio-Klausel für die kurzen Freiheitsstrafen unter 6 Monaten haben dazu geführt, daß bei geringfügigen Straftaten und Delikten mittlerer Schwere i n der Mehrzahl der Fälle Freiheitsentzug nicht mehr stattfindet. Dieser Selektionsmechanismus unseres neuen Strafrechts bewirkt also, daß das Gros der Straftäter bereits als Vorbestrafte in den Strafvollzug gelangt. Auf dem Gebiet der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung haben sich gleichfalls wesentliche Änderungen vollzogen. Inzwischen ist das Arbeitshaus als Maßregel für arbeitsscheue Leichtkriminelle abgeschafft. Ab 1.10.1973 kann die Unterbringung i n einer sozialtherapeutischen Anstalt als Maßregel für erheblich persönlichkeitsgestörte Täter angeordnet werden. Sie ist i n etwa nach dem Vorbild der entsprechenden Anstalten i n Utrecht und Herstedvester

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konzipiert. Gerade letztere Maßregel gilt als ein verheißungsvoller Ansatz für eine durchgreifende Reform des Strafvollzuges i m Sinne eines Behandlungsvollzuges. Diese kriminalpolitische Entwicklung steht i n engem Zusammenhang m i t der internationalen Entwicklung auf dem Gebiete des Straf rechts. Allenthalben werden neue Formen von Sanktionen diskutiert und erprobt. Dies gilt vor allem i m Hinblick auf freiheitsentziehende Sanktionen. Besonderen Auftrieb haben diese Bemühungen durch den 2. UN-Kongreß über Verbrechensbekämpfung von 1960 erfahren, auf dem eine erhebliche Einschränkung des Anwendungsbereichs kurzer Freiheitsstrafen gefordert wurde. Wenn ich die Entwicklung recht deute, dann sind es vor allem zwei Schwerpunkte, die die kriminalpolitische Diskussion bestimmen. Einmal geht es darum, den Freiheitsentzug soweit als möglich zu reduzieren, weil man inzwischen die Fragwürdigkeit dieses Mittels zur Einwirkung auf den Rechtsbrecher erkannt hat. Konsequenzen zeigen sich vor allem i m unteren und oberen Bereich, d. h. bei den kurzen und den langen Freiheitsstrafen. Zum zweiten strebt man eine grundsätzliche Umgestaltung des Strafvollzuges i m Hinblick auf eine wirksamere und zugleich menschenwürdigere Behandlung des Straftäters an. Von den Schlußfolgerungen hieraus w i r d i m einzelnen noch zu sprechen sein. Damit verbindet sich ein weiterer Aspekt, der vor allem für unser Thema von eminenter Bedeutung ist. Auch insoweit läßt sich ein gewisser internationaler Trend feststellen. Er geht i n Richtung auf eine gesetzliche Regelung des Strafvollzuges i m Sinne neuer Vollzugskonzeptionen. Die Gründe hierfür sind freilich i n den einzelnen Ländern verschieden und können deshalb nicht i n aller Ausführlichkeit erörtert werden. Teilweise versucht man durch eine gesetzliche Regelung rechtsstaatlichen Anforderungen Rechnung zu tragen; teilweise strebt man damit eine Rechtsvereinheitlichung an; teilweise w i l l man einer neuen Vollzugskonzeption eine hinreichende normative Grundlage verschaffen. Was immer jeweils die Motive für den Erlaß eines Strafvollzugsgesetzes sein mögen — festzuhalten bleibt jedenfalls, daß i n den letzten Jahren etliche neue Strafvollzugsgesetze erlassen worden oder i n Vorbereitung befindlich sind. Ich möchte dies kurz mit einigen Daten belegen: 1961/64 Jugoslawien, 1964 Schweden, 1965 CSSR, 1965 Türkei, 1968 DDR, 1969 Österreich und UdSSR. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Tatsache, daß diese Rechtsentwicklung nicht nur auf westliche Staaten beschränkt ist. Daß unser Nachbarland Österreich uns auf diesem Gebiet wie auf dem des Kriminalrechts überhaupt vorangegangen ist, erfüllt uns m i t einigem Respekt. Daß die DDR 1968 i m Zuge einer Gesamtreform des Kriminalrechts ein Strafvollzugs» und Wiedereingliederungsgesetz verabschieden konnte, dokumen-

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tiert gleichfalls den rechtspolitischen Rückstand, den es für die Bundesrepublik aufzuholen gilt. Freilich darf nicht übersehen werden, daß die geradezu langwierige Entwicklung i n der Bundesrepublik, die dem Außenstehenden befremdlich erscheinen mag, ihre gewichtigen Gründe i m Gang der Strafrechtsreform selbst hat. Wie Sie wissen, ist es erst 1969 möglich geworden, erste Teile der Strafrechtsreform zu verwirklichen, obwohl die Vorarbeiten bis i n die 50er Jahre zurückreichen und obwohl bereits 1962 ein amtlicher Entwurf eines Strafgesetzbuches vorlag. Dieser Entwurf, der vor allem i n kriminalpolitischer Hinsicht schon damals von der Entwicklung überholt war, konnte sich gegen den erheblichen Widerstand der Wissenschaft nicht durchsetzen. Aus vielerlei Gründen hat es sich auch als unmöglich erwiesen, die Strafrechtsreform i n einem einzigen parlamentarischen A k t zum Abschluß zu bringen. Man hat nunmehr den mühsameren Weg der Teilreformen eingeschlagen, der aber — wie die Entwicklung zeigt — i n der Tat einigen Erfolg verspricht. Verantwortlich für diese langwierige Prozedur ist nicht zuletzt die vielgerühmte und vielgelästerte deutsche Gründlichkeit. Vor Jahren sagte m i r einmal ein Schweizer Strafrechtslehrer in diesem Zusammenhang: „Sie machen alles sehr gründlich, und w i r profitieren davon." Er meinte damit, daß die anderen Länder die Ergebnisse deutscher Vorarbeiten für ihre eigenen Reformvorhaben auswerteten, noch ehe der deutsche Gesetzgeber zum Zuge kam. B. Die bisherige deutsche Rechtsentwicklung I. Die Entwicklung des Strafvollzugsrechts bis heute

Die bisherigen Bemerkungen zeigten auf, i n welchem internationalen und kriminalpolitischen Rahmen nunmehr Strafvollzugsgesetzgebung betrieben wird. Sie konnten jedoch noch nicht hinreichend deutlich machen, weshalb bis zum heutigen Tage ein Strafvollzugsgesetz i n der Bundesrepublik fehlt und welches die entscheidenden Gründe sind, die für den Erlaß eines solchen Gesetzes sprechen. Ein kurzer Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung dürfte die zum Verständnis nötigen Daten liefern. Wie i n vielen Ländern war auch i n Deutschland der Strafvollzug zunächst als ein kriminalpädagogisches Problem begriffen worden, das mit dem Recht verhältnismäßig wenig zu t u n habe. Zu erinnern ist an die große Reformbewegung u m die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die nicht zuletzt durch die berühmte Untersuchung John Howards eingeleitet worden ist. Sie stand unter dem Vorzeichen der Besserung des Rechtsbrechers, der erzieherischen Einwirkung zum Zwecke der

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Rückfallverhütung. Gleichzeitig steckten i n ihr wesentliche humanitäre Impulse, die vor allem auf die Beseitigung menschenunwürdiger Zustände i n den damaligen Gefängnissen und Zuchthäusern abzielten. Erst allmählich und zunächst auch nur vereinzelt wurde man darauf aufmerksam, daß der Strafvollzug auch rechtliche und gesetzliche Fragen aufwirft. Erste Anstöße dazu gab der politische Liberalismus m i t seinen Forderungen nach Einführung von Grundrechten und nach gesetzlichem Schutz vor Willkürmaßnahmen des Staates. Eingriffe i n Rechte des Bürgers sollten künftig nur noch auf der Grundlage eines Gesetzes zulässig sein (Vorbehalt des Gesetzes). Der Erlaß verschiedener Landesverfassungen sowie die zunehmende Verrechtlichung des Verhältnisses von Staat und Bürger führten schließlich i n der Mitte des 19. Jahrhunderts dazu, auch für den Gefangenen stärkere rechtliche Garantien zu fordern. Freilich war mehr noch als der rechtsstaatliche Gesichtspunkt das Bestreben maßgebend, die unzulängliche Regelung des Freiheitsentzuges i n den Strafgesetzbüchern durch gesetzliche Vorschriften zu ergänzen. Die Lücke, die hinsichtlich der Normierung des Vollzuges der Freiheitsstrafen i n den Strafgesetzen bestand, sollte durch Sondergesetze geschlossen werden. I n der Tat erließen verschiedene deutsche Staaten i n den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts besondere Strafvollzugsgesetze, die allerdings meist nur den Vollzug einzelner Strafarten oder i n bestimmten Strafanstalten regelten. Immerhin wurde dadurch wenigstens i n Ansätzen den Forderungen Mittermaiers und Holtzendorffs Rechnung getragen, sowohl aus rechtsstaatlichen als auch aus kriminalrechtlichen Gründen den Inhalt der Freiheitsstrafen gesetzlich näher festzulegen. Der Erlaß des deutschen Reichsstrafgesetzbuches von 1871 verlieh diesen Bestrebungen weiteren Auftrieb. Denn nunmehr traten auch die Gesichtspunkte der Rechtseinheit und Rechtsgleichheit auf den Plan. Da das Strafgesetzbuch den Strafvollzug gleichfalls nur unzulänglich regelte, die Vollstreckung i n den einzelnen Ländern aber durchaus verschieden war, schien die Notwendigkeit, hier durch Gesetz Remedur zu schaffen, unabweisbar. Einen ersten Erfolg zeitigten diese Bemühungen, als die Reichsregierung 1879 den Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes vorlegte. Der Entwurf 1879 scheiterte jedoch wie fast alle weiteren an dem Widerstand der Länder, die die erforderlichen Geldmittel nicht aufbringen zu können glaubten. Der Entwurf sah nämlich die Einführung des Einzelhaftsystems vor, so daß zusätzlich 23 000 Einzelzellen hätten geschaffen werden müssen. Auch i n der Folgezeit bemühte man sich u m eine gesetzliche Regelung des Strafvollzugs. Teils sollte dieses Ziel durch Ergänzung der einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuches, teils durch Erlaß eines besonderen Strafvollzugsgesetzes erreicht werden. Da aber die 8 Müller-Dietz

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Strafrechtsreform nicht zum Abschluß kam, die verschiedenen Entwürfe eines Strafgesetzbuches nicht verabschiedet werden konnten, blieb auch die gesetzliche Regelung des Strafvollzuges auf der Strecke. Die Verknüpfung der Reform des Strafvollzuges m i t der des Strafrechts sollte sich übrigens als ein verhängnisvolles Dogma erweisen, das auf Jahrzehnte hinaus eine durchgreifende Reform des Strafvollzuges blockierte. I n der Weimarer Zeit gab es wiederum verheißungsvolle Ansätze zur Regelung des Strafvollzuges. Sie standen bekanntlich unter dem Vorzeichen des Erziehungsstrafvollzuges, der der Sache nach eine A b kehr vom überkommenen Verwahrungs- und Vergeltungsstrafvollzug bedeutete. I m Vorgriff auf das erwartete Strafvollzugsgesetz vereinbarten die Länder 1923 die sogenannten Reichsratsgrundsätze, die eine Vereinheitlichung des Strafvollzuges herbeiführen sollten. Der 1927 vorgelegte Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes teilte jedoch wiederum das Schicksal der Strafrechtsreform, die aus parlamentarischen Gründen scheiterte. Auch hier zeigte sich deutlich, i n welchem Maße die Koppelung von Strafrechts- und Strafvollzugsreform die Weiterentwicklung des Strafvollzuges belastete. Es lohnt i m Grunde nicht, auf die Entwicklung i m „Dritten Reich" einzugehen, die darauf hinauslief, das Rad der Zeit wieder zurückzudrehen. Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß Bemühungen, den Strafvollzug i m Wege eines Strafvollstreckungsgesetzes gesetzlich zu regeln, gleichfalls erfolglos blieben. Nach 1945 galten die ersten Bestrebungen der Wiederherstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse und der Schaffung genügenden Haftraums. Wiederum suchten die Länder nach dem Vorbild der Weimarer Zeit den Strafvollzug durch Vollzugsordnungen (der Landesjustizverwaltungen) und Verwaltungsanordnungen zu regeln. 1961 vereinbarten sie die Dienst- und Vollzugsordnung (DVollzO), die i n modifizierter Fassung heute noch die wesentliche rechtliche Grundlage des Strafvollzuges i n der Bundesrepublik darstellt. Die DVollzO regelt ihrer Bezeichnung entsprechend nicht nur die Organisation des Strafvollzuges sowie die Behandlung und Rechtsstellung des Gefangenen, sondern auch die besonderen Pflichten des Strafvollzugspersonals. Sie sollte allerdings keineswegs ein Strafvollzugsgesetz ersetzen, sondern bezweckte lediglich, zur Vereinheitlichung des Strafvollzuges i n den Ländern beizutragen. Das erklärt teilweise das an sich befremdliche Phänomen, daß ihre Vereinbarkeit m i t dem Grundgesetz nicht näher untersucht worden ist und daß sie deshalb verschiedentlich der Verfassung widerspricht. Gleichwohl w i r d die DVollzO sowohl i n der Praxis des Vollzuges als auch der Gerichte, die Vollzugsmaßnahmen auf ihre rechtliche Zulässigkeit zu prüfen haben, i n gesetzesähnlicher Weise angewendet. Bezeichnenderweise stellen nämlich die Gerichte vielfach

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lediglich fest, ob die Vollzugsbehörden jeweils i m Rahmen ihrer Befugnisse nach der DVollzO gehandelt haben, ohne darüber hinaus zu prüfen, ob die einschlägigen Bestimmungen m i t höherrangigen Normen zu vereinbaren sind. Grundlage für diese Rechtsprechung und Praxis war von jeher die Lehre vom sogenannten „besonderen Gewaltverhältnis". Danach befindet sich der Gefangene i n einem Status besonderer Gewaltunterworfenheit gegenüber dem Staat. Die rechtlichen Einschränkungen, die er hinzunehmen hat, richten sich dieser Lehre zufolge nach dem Zweck der Institution, also den Aufgaben des Strafvollzuges. Dem Strafvollzug obliegen jedoch nach Ansicht der Rechtsprechung die gleichen Aufgaben, die Strafrecht und richterliches Strafurteil i m weitesten Sinne zu erfüllen haben. Damit werden praktisch die allgemeinen Strafzwecke als Funktionen des Freiheitsentzuges i n den Strafvollzug eingebracht. Von daher verstehen sich auch die zahlreichen Restriktionen, denen der Gefangene der Rechtsprechung zufolge unterworfen werden kann. Die Argumentationskette der Rechtsprechung läuft darauf hinaus, daß eine gesetzliche Regelung des Strafvollzuges zwar zweckmäßig erscheinen mag, jedoch keineswegs notwendig ist. Dem rechtsstaatlichen Grundsatz, daß Eingriffe i n die Freiheitsrechte des Bürgers nur auf der Grundlage eines Gesetzes zulässig sind, soll nach der Rechtsprechung durch die Regelung der Strafbarkeitsvoraussetzungen i m StGB und der gerichtlichen Prozedur i n der StPO hinreichend entsprochen sein. Da das StGB den Freiheitsentzug als solchen vorsieht, und da die StPO das Verfahren regelt, i n dem Freiheitsentzug angeordnet werden darf, sei auch die gesetzliche Grundlage für die Freiheitsbeschränkungen i m Strafvollzug gegeben. Diese Auffassung verkennt jedoch, daß das StGB derzeit lediglich eine Vorschrift enthält (§ 21), die — zudem noch i n äußerst fragmentarischer Weise — den Strafvollzug regelt. § 21 StGB w i r d ohnehin am 1.10.1973 außer K r a f t treten. Die StPO selbst kennt keinerlei Vorschriften über den Strafvollzug. Die gegenwärtige Rechtslage entspricht also i n keiner Weise rechtsstaatlichen Grundsätzen. Zwar ist der Strafvollzug als solcher qua Freiheitsentzug verfassungsrechtlich hinreichend abgesichert (vgl. A r t . 2 Abs. 2 Satz 2, 104 GG), jedoch sind die Einschränkungen der Grundrechte nirgendwo gesetzlich näher fixiert. Man könnte sogar die Auffassung vertreten, daß der Gefangene — abgesehen vom Entzug der körperlichen Bewegungsfreiheit — jedenfalls solange die gleiche Rechtsstellung wie der freie Staatsbürger genießt, als es an einem grundrechtsbeschränkenden Gesetz fehlt. Damit ist zugleich ein wesentlicher Grund für den Erlaß eines Strafvollzugsgesetzes genannt. Freilich muß ich einschränkend erwähnen, daß die vorgetragene Ansicht noch keineswegs überall Anklang gefunden hat. 8*

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Sie hat sich zwar i m Rahmen der amtlichen Reformbestrebungen sowie i n einem Teil der Wissenschaft durchsetzen können. Die Rechtsprechung hat jedoch bis zum heutigen Tage an der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis festgehalten, die i m Ergebnis dazu führt, daß der Strafvollzug ein weitgehend rechtsfreier Raum bleibt. I I . Die neueren Reformbestrebungen

Die Vorarbeiten zu einem Strafvollzugsgesetz reichen bis i n die 50er Jahre zurück. Schon bei den Beratungen der Großen Strafrechtskommission war man sich darin einig, daß die Reform des Strafrechts erst m i t dem Erlaß eines Strafvollzugsgesetzes abgeschlossen sei. Manche Vorschläge liefen sogar darauf hinaus, zuerst m i t der Reform des Strafvollzuges zu beginnen, weil hier die Not am größten sei. Freilich ist die Entwicklung einen anderen Weg gegangen. Er war durch die alte These vorgezeichnet, daß zuerst die Strafrechtsreform abgeschlossen werden müsse, ehe an die Strafvollzugsreform gedacht werden könne, weil sonst nicht feststehe, von welchem Strafen- und Maßregelsystem diese auszugehen haben. I m Rahmen der rechtsvergleichenden Untersuchungen zur Reform des Strafrechts wurden 1959/60 auch A r beiten zum Strafvollzugsrecht verschiedener ausländischer Staaten vorgelegt. Der amtliche Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1962 sagt i n seiner Begründung ausdrücklich, daß die Reform des Strafrechts erst m i t dem Erlaß eines Strafvollzugsgesetzes abgeschlossen sei. Auch i n der Folgezeit war i m Rahmen der parlamentarischen Beratungen, vor allem des Sonderausschusses des deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, stets unzweifelhaft, daß auf die Verabschiedung eines neuen Strafgesetzbuches ein Strafvollzugsgesetz folgen müsse. Die Vorarbeiten zu einem Strafvollzugsgesetz traten jedoch erst 1967 i n ihre konkrete Phase. Nunmehr wurde eine Strafvollzugskommission vom Bundesjustizminister einberufen, die Vorschläge zu einem Strafvollzugsgesetz unterbreiten sollte. Denn jetzt stand erstmals ein gewisser Abschluß der Beratungen des Sonderausschusses zum neuen Strafenund Maßregelsystem bevor, so daß die Auswirkungen auf den Strafvollzug abzusehen waren. Die Strafvollzugskommission ist ihrem A u f trag inzwischen nachgekommen. Sie hat auf 13 Arbeitstagungen von 1967 bis 1971 die Leitlinien eines neuen Strafvollzugsgesetzes erarbeitet und nunmehr eine ausformulierte Fassung vorgelegt. Auf den Entwurf w i r d i m einzelnen noch einzugehen sein. Er soll die Grundlage für den Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums und die parlamentarischen Beratungen bilden, die so zeitig abgeschlossen werden sollen, daß das Gesetz zum 1.10.1973 i n K r a f t treten kann. Die wissenschaftlichen Bestrebungen, Grundgedanken zu einem Strafvollzugsgesetz zu entwickeln, setzten längst vor den amtlichen Reform-

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arbeiten ein. Maßgebend dafür waren vor allem das Prinzip des sozialen Rechtsstaates sowie die neuen kriminalpolitischen Impulse, die i n der Nachfolge Franz von Liszts vom Alternativ-Entwurf (1966) ausgegangen sind. Freilich waren führende deutsche Strafrechtler wie Rudolf Sieverts, Eberhard Schmidt und Thomas Würtenberger schon früher m i t entsprechenden Forderungen und Vorschlägen hervorgetreten, hatten jedoch zunächst i n einer vorwiegend i n strafrechtsdogmatischen Kategorien befangenen Strafrechtswissenschaft kein Gehör gefunden. Der A E selbst setzte jene kriminalpolitische Linie durch sein Bekenntnis zum Resozialisierungsziel des Strafvollzuges und durch sein Plädoyer für einen auf Selbstverantwortung des Gefangenen angelegten sowie differenzierten und aufgelockerten Vollzug, der eine Gleichstellung des Gefangenen mit dem freien Arbeitnehmer beinhalten sollte, fort (§§ 37—39). 1970 hat sich erstmals i n ihrer Geschichte die Strafrechtliche Abteilung des Deutschen Juristentages m i t den Leitlinien eines Strafvollzugsgesetzes befaßt und konkrete Vorschläge der Öffentlichkeit unterbreitet. Bemerkenswerterweise stimmen die bisherigen Vorschläge der genannten Gremien weitgehend überein. Sie liegen — wenn man jetzt schon ein Urteil fällen kann — auf der Linie einer gemäßigt progressiven Kriminalpolitik, wie sie i m Ausland schon seit längerem vertreten wird. C. Die Grundkonzeption des Entwurfs 1971 I . Vorbemerkungen

Obwohl an dem Entwurf der Strafvollzugskommission von 1971 m i t beteiligt, möchte ich gleichwohl einige wesentliche Grundsätze und Regelungen dieses Entwurfs vorstellen, w e i l auf diese Weise die Hauptprobleme heutiger Strafvollzugsgesetzgebung am besten verdeutlicht werden können. Das bedeutet freilich nicht, daß ich hier u m eine Apologie des Entwurfs bemüht sein werde. I n einer anschließenden K r i t i k sollen die neuralgischen Punkte näher analysiert werden. I I . Behandlungsziel, Vollzugsgrundsätze und Stellung des Gefangenen

Man versteht die Grundkonzeption des Entwurfs am ehesten, wenn man die einleitenden §§ 3 bis 4 vorweg ins Auge faßt. Sie enthalten gleichsam die Summe der Vorstellungen, die dem Entwurf zugrunde liegen. I m einzelnen geht es dabei u m drei Gesichtspunkte: Zunächst legt der Entwurf i m § 3 das sog. Behandlungsziel fest. I m § 3 a äußert er sich über die Grundsätze, die die Ausgestaltung des Vollzuges bestimmen sollen. § 4 befaßt sich m i t der Stellung des Gefangenen, wobei nicht nur die Rechtsstellung gemeint ist. I n Übereinstimmung m i t dem StGB verzichtet der Entwurf jedoch auf allgemeine Aussagen über

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Sinn und Zweck des Strafvollzuges. Das kommt i n der Bezeichnung Behandlungsziel deutlich zum Ausdruck. Hätte der Entwurf damit sämtliche Aufgaben des Strafvollzuges umreißen wollen, dann hätte er mit dem AE, dem Deutschen Juristentag und übrigens auch § 20 des österreichischen Strafvollzugsgesetzes vom Vollzugsziel oder von den Zwecken des Strafvollzuges sprechen müssen. § 3 des Entwurfs liegt also offensichtlich die Überzeugung zugrunde, daß die Freiheitsstrafe je nach der Person des Verurteilten verschiedenartige Aufgaben zu erfüllen hat, daß es aber andererseits nicht sinnvoll, ja vielleicht gar nicht möglich ist, diese Aufgaben gesetzlich näher zu definieren, solange der Streit über die allgemeinen Strafzwecke andauert. Ziel der Behandlung des Gefangenen ist es nach § 3, ihn zu befähigen, „künftig i n sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen". Darin kommt schon das allgemeine Ziel des Straf rechts zum Ausdruck, präventiv zu wirken. Das Ziel der Rückfallverhütung w i r d damit auch zum Ziel der Behandlung i m Strafvollzug. Zweck dieser Regelung ist es, den Zusammenhang m i t der allgemeinen Aufgabe des Strafrechts herzustellen und gleichzeitig der Behandlung des Gefangenen i m Vollzug ein sinnvolles Ziel zu setzen. Unter Behandlung ist dabei alles zu verstehen, was m i t und am Gefangenen geschieht. Damit sind also nicht nur spezifisch therapeutische Maßnahmen, sondern auch allgemeine Behandlungsmaßnahmen gemeint, wie sie etwa i m Rahmen der Arbeit, der Ausbildung und der sozialen Hilfe getroffen werden. Der Begriff der Behandlung ist bewußt weitgefaßt, u m den Vollzugsbehörden den nötigen Handlungsspielraum zu lassen, der für einen differenzierten und individualisierenden Vollzug erforderlich ist. Bezeichnenderweise stellt der Entwurf auf die soziale Verantwortung des Gefangenen ab, u m deutlich zu machen, daß der Gefangene nicht Objekt der Behandlung sein soll, sondern es gerade auf der Basis von Mitarbeit und Mitverantwortung lernen soll, sich selbstverantwortlich zu verhalten. Die Grundsätze über die Ausgestaltung des Vollzuges (§ 3 a) geben gleichzeitig die M i t t e l an, die nach der Vorstellung des Entwurfs zur Resozialisierung beitragen. Der Gefangene soll so auf das Leben i n Freiheit vorbereitet werden, daß er die Chancen und Risiken des Lebens i n der freien Gesellschaft bestehen kann, ohne erneut m i t den Strafnormen i n K o n f l i k t zu geraten. Das setzt Lebensbedingungen i m Vollzug voraus, die von denen i n Freiheit nicht allzusehr abweichen. Der Entfremdung und Isolierung des Gefangenen sowie der Gefahr des Persönlichkeitszerfalls, die auf Grund der Abschließung von der Außenwelt und des Verlustes sozialer Bindungen droht, soll entgegengewirkt werden. Die Vollzugsgrundsätze wollen also spezifischen Gefährdungen der Persönlichkeit, die i n der Natur des Freiheitsentzuges liegen, vor-

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beugen und gleichzeitig dem Gefangenen durch eine zweckentsprechende Ausgestaltung des Vollzuges eine wirksame Starthilfe geben. Die Angleichung der Lebensbedingungen an die der Freiheit bezieht sich vor allem auf die Arbeit und berufliche Förderung des Gefangenen einschließlich der Erwachsenenbildung sowie auf Lockerungen des Vollzuges, die einen allmählichen Ubergang i n die Freiheit erleichtern sollen. Die Behandlung des Gefangenen soll sich also i n erster Linie am Resozialisierungsziel orientieren. Dies schließt es freilich nicht aus, daß i n Einzelfällen Resozialisierungsmaßnahmen überflüssig oder unmöglich sind, entweder weil der Gefangene ihrer nicht bedarf oder von seiner Persönlichkeit her dafür nicht geeignet ist. I n diesen Fällen beschränkt sich der Vollzug auf eine menschenwürdige Behandlung, die zugleich nach Kräften der Lebensuntüchtigkeit entgegenwirken soll. Die Stellung des Gefangenen, die i n § 4 geregelt ist, bezieht sich zunächst i m Einklang m i t dem Behandlungsziel und den Vollzugsgrundsätzen auf die A r t und Weise der Behandlung. Aus verfassungsrechtlichen wie auch aus Behandlungsgründen selbst darf Behandlung grundsätzlich nicht gegen den Gefangenen oder über seinen Kopf hinweg betrieben werden. Dementsprechend ist er nach § 4 Abs. 1 an der Planung seiner Behandlung zu beteiligen. Dieser Pflicht der Anstalt korrespondiert andererseits die Verpflichtung des Gefangenen daran mitzuwirken, das Behandlungsziel zu erreichen. Darin kommt zweierlei zum Ausdruck: Eine erfolgversprechende Behandlung ist nur denkbar, wenn der Gefangene selbst an ihr m i t w i r k t . Bisherige Bemühungen, i m Wege bloß erzwungener Anpassung an die Lebensbedingungen der Anstalt resozialisieren zu wollen, sind fehlgeschlagen. Es hat sich immer wieder gezeigt, daß der Gefangene dann zwar i n das System der A n stalt integriert, aber nicht i n der Lage war, i n Freiheit ein verantwortliches Leben zu führen. Äußere Anpassung durch Anwendung von Zwang widerspräche also dem Wesen einer rechtverstandenen Behandlung. Diese Feststellung konvergiert zugleich mit dem rechtsstaatlichen Gesichtspunkt, daß der Verurteilte auch als Gefangener Bürger m i t Grundrechten bleibt und keineswegs bloßes Objekt von Vollzugsmaßnahmen sein darf. Die Erfüllung der Mitwirkungspflicht ist freilich weder rechtlich noch praktisch erzwingbar. Insofern hat § 4 Abs. 1 Programmcharakter, erscheint aber gleichwohl nicht bedeutungslos, weil er das wechselseitige Rechte- und Pflichtenverhältnis, i n dem der Gefangene kraft des Rechts- und Sozialstaatsprinzips steht, verdeutlicht. Nach dem Entwurf soll der Gefangene nur den i m Gesetz vorgesehenen Beschränkungen seiner Freiheit unterliegen. I h m bleiben daher seine Rechte ungeschmälert erhalten, soweit das Gesetz nicht aus-

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drücklich etwas anderes sagt. Einschränkungen der Rechte soll es künftig nur noch unter zwei Gesichtspunkten geben: Einmal handelt es sich u m Einschränkungen, die sich notwendig aus dem Freiheitsentzug selbst ergeben. Z u m zweiten geht es u m Einschränkungen, die aus dem Behandlungsziel folgen. Zusätzliche Einschränkungen, wie sie früher immer wieder unter dem Vorzeichen des Strafübels gerechtfertigt und praktiziert worden sind, sollen entfallen. Der Verlust der Freiheit erscheint Strafübel genug. Darin kommt zugleich zum Ausdruck, daß auch der Gefangene Staatsbürger und Mitglied der Gemeinschaft bleibt. Die staatsbürgerliche, bürgerliche und soziale Rechtstellung w i r d ohnehin durch das Strafvollzugsgesetz nicht berührt. Aus dem Behandlungsziel und den Vollzugsgrundsätzen werden allerdings Konsequenzen i n anderen Rechtsbereichen gezogen werden müssen, soweit nämlich aus der Tatsache der Verurteilung und der Vollstrekkung dem Gefangenen Rechtsnachteile erwachsen, für die keine k r i m i nalpolitische Notwendigkeit besteht (ζ. B. i m Straf registerrecht). I I I . Die Regelung wichtiger Teilbereiche

1. Off euer Vollzug Der bisherigen Praxis folgend sieht der Entwurf vor, daß die Gefangenen nach Maßgabe des Vollstreckungsplans i n die zuständige Anstalt eingewiesen werden (§§ 5, 144). Der Vollstreckungsplan muß von allgemeinen Merkmalen ausgehen, Auswahlanstalten, die einer i m Sinne der Behandlung optimalen Verteilung der Gefangenen auf die Anstalten des einzelnen Landes dienen, sind daneben vorgesehen. Sie haben bereits praktische Bedeutung erlangt (ζ. B. die Einweisungskommission i n Baden-Württemberg). Dadurch soll zugleich die Möglichkeit einer jederzeitigen Verlegung des Gefangenen i n eine andere, für i h n geeignete Anstalt geschaffen werden (§§ 9, 134). Dies spielt vor allem bei besonderen Maßnahmen der Berufsausbildung und Therapie eine Rolle. Sind nach dem Zustand des Gefangenen „die besonderen therapeutischen M i t t e l und sozialen Hilfen" einer sozialtherapeutischen Anstalt zu seiner Resozialisierung angezeigt, so kann er i n eine solche Anstalt verlegt werden (§ 10). Diese Maßnahme ist dem bisherigen deutschen Strafrecht fremd. Damit ist die Unterbringung i n einer sozialtherapeutischen Anstalt nicht mehr von einer Anordnung des Strafrichters abhängig, sondern lediglich von dem Ergebnis einer entsprechenden Begutachtung i m Strafvollzug. Dadurch ist die systemwidrige Trennung von Strafe und Maßregel teilweise aufgehoben. Ohnehin hat § 67 a 2. StRG durchgängig den Wechsel zwischen den verschiedenen freiheitsentziehenden Maßregeln für zulässig erklärt (sog. Überweisung i n den Vollzug einer anderen Maßregel) und damit einer flexiblen Handhabung des Maßregelsystems vorgearbeitet.

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Noch gewichtiger erscheint m i r der Grundsatz des Vorrangs des offenen Vollzugs vor dem geschlossenen. § 11 geht davon aus, daß der Gefangene nur dann i n einer geschlossenen Anstalt untergebracht werden soll, wenn er fluchtgefährlich oder kriminell gefährlich erscheint. Damit vollzieht der Entwurf den Anschluß an die allgemeine internationale Entwicklung, die auf weitgehende Lockerung des bisherigen Sicherungsvollzuges hinausläuft und dem offenen Vollzug größere Erfolgschancen i m Hinblick auf die Resozialisierung einräumt. Der Entwurf erwähnt als Lockerungen des Vollzuges ausdrücklich Außenarbeit, Freigang, Ausführung und Ausgang (§12). 2. Kontakt zur Außenwelt Der bisherige Vollzug hat offensichtlich unter der Überbetonung von Sicherheit und Ordnung gelitten. Der Entwurf ist auch hier um weitgehende Änderungen bemüht. Es hat sich gezeigt, daß die Reduzierung und Beschränkung der Beziehungen zur Außenwelt wesentlich zur Lebensuntüchtigkeit und zum Persönlichkeitsabbau des Gefangenen beigetragen haben. Dem soll nunmehr durch die Verpflichtung der Vollzugsbehörde entgegengewirkt werden, die Beziehungen des Gefangenen m i t Personen außerhalb der Anstalt zu fördern (§ 25). Insofern schlägt der Entwurf einen anderen Weg ein, als es etwa die §§ 20 Abs. 2 und 21 des österreichischen Strafvollzugsgesetzes tun. Freilich nimmt der Entwurf jene gewichtige Aussage zum Teil wieder dadurch zurück, daß das Recht des Gefangenen auf Kontakt mit der Außenwelt aus Gründen der Sicherheit und der Ordnung soll eingeschränkt werden können. Dahinter steht die Erwägung, daß sonst ein geordneter Vollzug nicht mehr gewährleistet sei. Immerhin werden grundsätzlich das Recht des Gefangenen auf Besuchsverkehr m i t Angehörigen (§ 26) und ein generelles Recht des Gefangenen auf Briefverkehr m i t außenstehenden Personen garantiert (§ 29). Die Überwachung des Besuchs- und des Briefverkehrs stellt einen erheblichen Eingriff i n die Intimsphäre des Gefangenen dar. Deshalb soll sie auf Fälle beschränkt bleiben, i n denen dies aus Gründen der Sicherheit und der Ordnung oder i m Hinblick auf die Behandlung des Gefangenen notwendig erscheint (§§ 28, 30). Durchmustert man diese Vorschriften kritisch, so muß man sich freilich fragen, inwieweit sie tatsächlich Verbesserungen gegenüber dem bisherigen Rechtszustand bringen, ob sie also nicht gerade resozialisierungswidrige und die freie Entfaltung der Persönlichkeit hemmende Restriktionen festschreiben. 3. Arbeit und Entlohnung Einen wesentlichen Schwerpunkt der Neuregelung bilden die Vorschriften über die Arbeit des Gefangenen (§§ 39—49). Hier ist der

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Bruch m i t der überkommenen Vollzugskonzeption vielleicht am deutlichsten. Abweichend vom bisherigen Recht und auch von der österreichischen Regelung legt der Entwurf das Prinzip zugrunde, daß der Gefangene soweit als möglich wie ein freier Arbeitnehmer zu behandeln ist. Er übernimmt damit die Feststellung des ersten UN-Kongresses zur Verbrechensbekämpfung und Behandlung Straffälliger von 1955, wonach der Gefangene grundsätzlich ein seiner Freiheit beraubter Arbeiter ist. Daraus erklärt sich, daß die Arbeitsbedingungen denen i n der freien Wirtschaft angeglichen werden sollen und daß dem Gefangenen Anspruch auf ein Arbeitsentgelt zustehen soll. Während der erste Grundsatz der Sache nach bereits i n der DVollzO enthalten war, ist das Recht auf Arbeitsentlohnung ein völliges novum. Allerdings hat der Entwurf die Forderung des § 39 A E nach Einführung des Tariflohns nicht übernommen. Er w i l l stattdessen dem Gefangenen ein darunter liegendes Mindestentgelt garantieren. Der Entwurf glaubt weiterhin von einem Minderwert der Gefangenenarbeit ausgehen zu müssen. Immerhin soll das Arbeitsentgelt den Gefangene soweit wie möglich wie ein freier Arbeitnehmer zu behanseiner Familie beizutragen und einen etwaigen Schaden wieder gut zu machen. Dem Grundsatz weitgehender Angleichung der Arbeitsbedingungen an die der freien Wirtschaft entspricht es ferner, daß dem Gefangenen künftig Anspruch auf einen zweiwöchigen Arbeitsurlaub zustehen soll. Der Gefangene soll andererseits für Unterbringung, Verpflegung und Bekleidung einen Haftkostenbeitrag zahlen. Auch darin dokumentiert sich das Bestreben, die Unterschiede zum freien Leben möglichst einzuebnen. Schließlich soll der Gefangene i n die allgemeine Sozial- und Arbeitslosenversicherung einbezogen werden, was allerdings nicht durch strafvollzugsgesetzliche, sondern nur durch sozialversicherungsrechtliche Regelung geschehen kann. Eine völlige Angleichung an die Verhältnisse der freien Wirtschaft hält der Entwurf indessen für ausgeschlossen. Die Zahl der ungelernten Arbeiter ist i m Vollzug überrepräsentiert, Maßnahmen der beruflichen Förderung sind hier i n stärkerem Maße als anderswo erforderlich. Deshalb legt der Entwurf diesem Gesichtspunkt besondere Bedeutung bei (§ 41). Ebenso geht er auch für die Zukunft von der Arbeitspflicht des Gefangenen aus, u m auf diese Weise ein wichtiges Resozialisierungsmittel i n der Hand zu behalten (§ 40). Die Arbeitspflicht hat jedoch gegenüber früher nicht mehr die Bedeutung eines Strafübels, sondern w i r d nurmehr als Mittel der Behandlung verstanden. 4. Erwachsenenbildung Der Entwurf sieht i n einer sinnvollen Freizeitgestaltung sowie i n der Erwachsenenbildung Schwerpunkte des künftigen Behandlungs-

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Vollzuges. Der Gefangene soll deshalb allgemein Gelegenheit erhalten, sich i n seiner Freizeit sinnvoll zu beschäftigen und weiterzubilden. Freilich deutet der Entwurf diese Möglichkeiten mehr an, als daß er sie i m einzelnen näher umschreibt. Die Rede ist vom Unterricht, vom grundsätzlichen, unbeschränkten Zugang zu Informationsträgern und vom Besitz von Gegenständen für die Freizeitbeschäftigung (§§ 61—64). Für diese Aufgaben soll ein Dienst für Erwachsenenbildung geschaffen werden, der m i t entsprechenden Einrichtungen der Erwachsenenbildung außerhalb der Anstalt zusammenzuarbeiten hat (§ 151). A r t und Organisation dieses Dienstes werden nicht näher geregelt; der Entwurf überläßt dies ebenso wie die Ausgestaltung der Erwachsenenbildung selbst der Vollzugspraxis, zumal es sich dabei weitgehend um pädagogische Gesichtspunkte handelt, deren gesetzliche Regelung auf praktische Schwierigkeiten stößt. Gleichwohl w i r d auch hier zu fragen sein, ob der Entwurf gut beraten war, als er diese Zurückhaltung an den Tag legte. Denn i n immer stärkerem Maße w i r d deutlich, welche Rolle die Erwachsenenbildung für den Strafvollzug spielt. Schon heute gibt es Stimmen, die den Strafvollzug als Sonderform einer freilich neu zu interpretierenden Erwachsenenbildung begreifen. 5. Soziale Hilfe Die bisherige Gefangenenfürsorge war trotz einiger Ansätze weitgehend auf Hilfsmaßnahmen hinsichtlich der Arbeitsvermittlung, der Beschaffung von Ausweispapieren und der Unterbringung entlassener Gefangener beschränkt. Der Entwurf w i l l auch hier i m Einklang m i t der modernen Sozialgesetzgebung grundlegende Änderungen herbeiführen. Das Verständnis der Sozialarbeit i n der freien Gesellschaft hat sich entscheidend gewandelt. Sie hat nicht nur für die Beseitigung äußerer materieller Notlagen zu sorgen, sondern dem Hilfebedürftigen auch Unterstützung i n psychischer und seelischer Hinsicht zu geben. Sie hat ihren karitativen, wohlfahrtspflegerischen Charakter verloren. Äußere und innere Not des Hilfebedürftigen sollen i n gemeinsamer Arbeit und Anstrengung bewältigt werden. Genauso wie der Hilfebedürftige i n der freien Gesellschaft nach § 1 des deutschen Bundessozialhilfegesetzes Anspruch auf Unterstützung durch die Sozialämter hat, soll der Gefangene nach § 65 des Entwurfs ein Recht auf soziale Hilfe erhalten. Diese Hilfe umfaßt sowohl die Lösung persönlicher Probleme als auch die Regelung von Angelegenheiten des Gefangenen. Der Zielsetzung moderner Sozialarbeit entsprechend sollen die Maßnahmen der sozialen Hilfe erst dann an die Stelle von Selbsthilfe treten, wenn der Gefangene aus eigener Kraft zur Lösung der Schwierigkeiten nicht i n der Lage ist. I n erster Linie strebt der Entwurf an, den Willen und die Fähigkeit des Gefangenen zu eigenverantwortlichem

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Handeln zu fördern. Er w i l l also praktisch die Pflicht der Anstalt begründen, „Hilfe zur Selbsthilfe" zu leisten. Insoweit knüpft der Entw u r f an frühere Vorstellungen an, wie sie insbesondere i n der Weimarer Zeit von Moritz Liepmann vertreten worden sind. Die soziale Hilfe soll vor allem von dem neu einzurichtenden sozialen Dienst geleistet werden, der m i t allen anderen amtlichen und privaten Stellen der Straffälligenhilfe zusammenzuarbeiten hat (§152). 6. Zwangs- und

Disziplinarmaßnahmen

Ziel des Entwurfs ist es, den Vorrang freiwilliger Mitarbeit des Gefangenen vor Zwang und Befehl i n der Praxis zu erreichen. Das entspricht nicht nur den heutigen Erkenntnissen auf sozialwissenschaftlichem Gebiet, sondern auch dem verfassungsrechtlichen Befund. Deshalb sollen Maßnahmen, die zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt dienen, auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt werden. Das geordnete Zusammenleben i n der Anstalt soll i n erster Linie auf freiwilliger Grundlage durch Weckung und Förderung des Verantwortungsbewußtseins der Gefangenen, nicht aber durch Anwendung von Zwang und Befehl erreicht werden (§ 72 Abs. 1). I n diesem Zusammenhang spielt natürlich die Organisationsstruktur und die personelle Ausstattung der Anstalt eine wesentliche Rolle. Die Verwirklichung jenes Grundsatzes hängt entscheidend davon ab, daß die Anstalten m i t hinreichend ausgewähltem und ausgebildetem Personal versehen sind. Die sozialpädagogische Schulung des Personals ist gleichsam Voraussetzung für die Beschränkung der Zwangs- und Disziplinarmaßnahmen auf das kriminalpädagogisch erwünschte und verfassungsrechtlich gebotene Minimum. Begrenzungen der Rechte des Gefangenen unterliegen genauso wie i n der Freiheit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit sowie der Angemessenheit und Notwendigkeit der Mittel. Der Entwurf weist darauf bei der Regelung der Zwangsmaßnahmen ausdrücklich hin. A n besonders strenge Voraussetzungen w i l l er die Anwendung unmittelbaren Zwangs binden. Nur wenn der damit verfolgte Zweck auf keine andere Weise erreicht werden kann, soll durch körperliche Gewalt oder m i t Waffengewalt gegen Personen oder Sachen vorgegangen werden dürfen (§ 86). Der Schußwaffengebrauch w i r d mehr als bisher eingeschränkt. Er ist nicht nur ultima ratio (§ 89 Abs. 1), sondern soll auch m i t Sicherungsaufgaben betrauten Vollzugsbediensteten vorbehalten bleiben (§ 89 Abs. 2). Schußwaffengebrauch gegen Gefangene soll nur i n Fällen der Bewaffnung, der Meuterei und der Flucht zulässig sein (§ 90 Abs. 1). I m offenen Vollzug sowie beim Arbeitseinsatz außerhalb der Anstalt soll künftig kein Schußwaffengebrauch mehr stattfinden

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dürfen. A n ärztliche Zwangsmaßnahmen sollen vergleichbar strenge Maßstäbe angelegt werden. Sie sollen nur bei Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen selbst oder anderer Personen zulässig sein (§ 92 Abs. 1). Alle schwerwiegenderen Eingriffe, die m i t Folgen für die Gesundheit des Gefangenen verbunden sein können, setzen dessen Einwilligung voraus oder dürfen zumindest nicht gegen dessen Willen vorgenommen werden (§ 92 Abs. 2 und 3). Hinsichtlich der Disziplinarmaßnahmen hält der Entwurf dagegen i m wesentlichen an den bisherigen Grundsätzen fest. Er sucht lediglich den Entzug von Rechten an zeitlich strengere Voraussetzungen zu binden. Deshalb erübrigen sich hier längere Ausführungen. Kritisch angemerkt sei jedoch, daß der Entwurf den verschärften Arrest (also Arrestvollzug m i t Kostschmälerung und hartem Lager) weiterhin zuläßt, obwohl wiederholt verfassungsrechtliche Bedenken dagegen geäußert worden sind. Er glaubt ohne diese Maßnahmen jedenfalls solange nicht auskommen zu können, als die Anstalten nicht hinreichend m i t pädagogisch geschultem Personal ausgestattet sind. Freilich darf nicht übersehen werden, daß die Disziplinierung nach der Grundkonzeption des Entwurfs ebenfalls ein letztes äußerstes M i t t e l zur Aufrechterhaltung der Ordnung darstellt. Insoweit w i r d alles wiederum von der Gesamtstruktur des Vollzuges abhängen. Je mehr sie vom Behandlungsgedanken bestimmt wird, desto eher werden auch repressive und Disziplinarmaßnahmen entbehrlich werden. D. Die Aporien heutiger Strafvollzugsgesetzgebung I. Die Inkongruenz von materiellem Strafrecht und Vollzugsziel

Auch das reformierte StGB kennt, wie erwähnt, keine Definition der Strafzwecke. Man hat dieses Thema weiterhin ausgespart, weil eine Einigung über die verschiedenartigen Strafzwecke nicht möglich schien. Immerhin sieht § 13 Abs. 1 Satz 2 StGB die Berücksichtigung spezialpräventiver Gesichtspunkte bei der Strafzumessung vor. Da das Strafrecht weiterhin am Schuldgedanken festhält, w i r d man die Gesichtspunkte des Schuldausgleichs und der Rechtsbewährung als allgemeine Funktionen des Strafrechts auch künftig berücksichtigen müssen. Das w i r k t auf die Vollzugsgestaltung zurück. Das Fehlen eines allgemeinen Vollzugsziels i m Entwurf ist der deutlichste Beleg für die Zugeständnisse, die man u m der Einheit des Strafrechts w i l l e n an die Lehre von den allgemeinen S traf zwecken machen zu müssen glaubte. Das hat dann aber zur Konsequenz, daß die allgemeinen Strafzwecke wiederum i n den Strafvollzug Eingang finden. Die Folgen zeigen sich vor allem i n den unheilvollen Widersprüchen zwischen Resozialisierungs-, Sicherungs-, Vergeltungs- und Sühnevollzug. Der Vollzug w i r d

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damit weiterhin m i t jenen Zielkonflikten belastet, die schon bisher eine sinnvolle Behandlung des Gefangenen erschwert haben. Durch die Formulierung eines besonderen Behandlungsziels trägt der Entwurf allerdings zur Entschärfung jenes Problems bei. Weitere Konsequenzen des Schuldgedankens ergeben sich aus der Regelung der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln i m StGB. Zunächst ist vom Behandlungsgedanken her kaum einsichtig zu machen, weshalb die Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel beibehalten werden muß. Besonders verhängnisvoll zeigt sich dies i m Verhältnis von Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung. Der Verurteilte muß hier gleichsam doppelten Freiheitsentzug hinnehmen, obwohl vom Gesichtspunkt der Gefährlichkeit aus eine unbestimmte Strafe das einzig Richtige wäre. Psychologisch läßt sich diese Praxis dem Verurteilten kaum verständlich machen. Nicht anders ist es um das Verhältnis der übrigen Maßregeln zur Freiheitsstrafe bestellt. Auch hier läßt sich die Kumulierung von Freiheitsentzug schwerlich begründen. Ist aus therapeutischen Gründen die Unterbringung i n einer Maßregelanstalt erforderlich, dann ist nicht einzusehen, welcher Zweck m i t dem zusätzlichen Freiheitsstrafvollzug verfolgt werden soll. Freilich sind diese Ungereimtheiten nunmehr durch das 2. StRG weitgehend beseitigt. Nach § 67 Abs. 1 werden therapeutische Maßregeln i n aller Regel vor der Strafe vollzogen. Geschieht dies, w i r d die Zeit des Vollzuges der Maßregel auf die Strafe angerechnet (§ 67 Abs. 4). Von der Austauschbarkeit der Maßregeln während des Vollzuges war bereits die Rede, ebenso von der Möglichkeit, einen zu Freiheitsstrafe Verurteilten i n einer sozialtherapeutischen Anstalt unterzubringen, wenn und soweit dies aus Gründen der Behandlung notwendig erscheint. Soweit jedoch solche Täter nur auf dem Wege einer Vollzugsmaßnahme i n die sozialtherapeutische Anstalt gelangen, ist die Unterbringung zeitlich durch die Strafdauer befristet. Die Frage ist dann, ob die zur Verfügung stehende Zeit ausreicht, u m entsprechende Behandlungsmaßnahmen durchführen zu können, und ob gegebenenfalls eine bedingte Entlassung so rechtzeitig erfolgen kann, daß ein optimaler Erfolg der Behandlung gewährleistet ist. Auch hier ergeben sich möglicherweise Widersprüche zwischen der Behandlungskonzeption und dem Schuldprinzip des StGB. Das gilt erst recht für das Verhältnis von Strafzumessung und Resozialisierungsziel. Wenn auch nunmehr spezialpräventive Erwägungen i n die Strafzumessung einfließen sollen, so ist doch an der Tatsache nicht vorbeizukommen, daß sich die jeweils schuldangemessene Strafe ihrer Dauer nach keineswegs immer m i t dem erforderlichen Behandlungszeitraum deckt. Ist die Strafzeit zu kurz, dann kann nur auf dem Wege einer ambulanten Weiterbehandlung (etwa i m Rahmen einer Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung)

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versucht werden, das Ziel zu erreichen. Ubersteigt die Strafzeit den Behandlungszeitraum, bleibt lediglich der Ausweg einer Aussetzung des Strafrestes nach § 26 StGB übrig, sofern dessen formelle Voraussetzungen vorliegen. Allemal muß jedoch m i t solchen Schwierigkeiten gerechnet werden, die i n der jetzigen kriminalpolitischen Ubergangsphase aus der Inkongruenz von materiellem Strafrecht und neuer Vollzugskonzeption erwachsen können. Vergleichbare Probleme sind durch das erste Strafrechtsreformgesetz hinsichtlich der kurzen Freiheitsstrafen etwas entschärft worden. Unter Behandlungsgesichtspunkten läßt sich eine kurze Freiheitsstrafe unter sechs Monaten schwerlich rechtfertigen, w e i l ein solcher Zeitraum i n aller Regel nicht ausreicht, u m auf einen Gefangenen sinnvoll einwirken zu können. Daß das frühere Konzept der sog. Denkzettel- oder Besinnungsstrafe, das dem E StGB 1962 zugrundelag, nicht gehalten hat, was es zu versprechen schien, ist inzwischen klar zu Tage getreten. Die Einschränkung des Anwendungsbereichs kurzer Freiheitsstrafen führt jetzt wenigstens dazu, daß die Zahl solcher Verurteilter i m Vollzug erheblich zurückgeht. Gleichwohl muß der Strafvollzug auch weiterhin m i t solchen Gefangenen rechnen, zumal die neueste Rechtsprechung des B G H zu einer extensiven Interpretation der Ausnahmeregelung des § 14 StGB tendiert und zumal die Ersatzfreiheitsstrafe unter sechs Monaten i n gleichem Umfange wie bisher beibehalten worden ist. Wie der Strafvollzug m i t diesen Schwierigkeiten fertig wird, hängt also wiederum entscheidend davon ab, ob i h m die erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt zeigt die bisherige Entwicklung des Kriminalrechts, daß es an einer hinreichenden Abstimmung der kriminalpolitischen Konzeption mit den neuen Reformvorstellungen des Strafvollzuges immer noch fehlt. I I . Die Problematik finanzieller und personeller Ressourcen

Die Verwirklichung des Behandlungskonzepts steht und fällt — wie i m Laufe der bisherigen Ausführungen deutlich geworden ist — m i t der Bereitstellung der erforderlichen finanziellen und personellen M i t tel. Das ist kein neues Problem, wie die bisherige Geschichte der Vollzugsreformen zeigt. I n den meisten Fällen sind die Reformbemühungen an solchen Schwierigkeiten gescheitert. Das läßt sich sowohl für den Entwurf 1879 wie auch für die Weimarer Zeit nachweisen. Ähnliche Zweifel stellen sich auch heute ein, nachdem der Strafvollzug bisher i m Rahmen der Staatsausgaben stiefmütterlich behandelt worden ist. Zwar haben die Länder der Bundesrepublik i n den letzten Jahren starke finanzielle Anstrengungen auf sich genommen, u m die Situation zu verbessern. Gleichwohl w i r d man Bedenken haben müssen, wenn

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man sich das neue Vollzugskonzept i n seinen praktischen Auswirkungen vor Augen führt. Die Arbeit i n kleinen Gruppen unter Leitung pädagogisch geschulter Vollzugsbediensteter setzt bestimmte organisatorische und bauliche Maßnahmen voraus, an denen es gegenwärtig noch weitgehend fehlt. I m Grunde müßte ein Großteil der heute noch verwendeten Anstalten durch Neubauten ersetzt werden, die nach dem Pavillonsystem organisiert sind. Dies w i r d i n absehbarer Zeit auch bei vermehrten finanziellen Anstrengungen kaum möglich sein. Der Vorschlag, den Bund nach Schweizer Vorbild an den Kosten des Strafvollzuges zu beteiligen, hat zwar den Beifall des Deutschen Juristentages gefunden, dürfte aber aus verfassungsrechtlichen und -politischen Gründen schwerlich verwirklicht werden. So bleibt für die Länder nur der Weg, den auch der Entwurf weist, Vollzugsgemeinschaften zu bilden, u m die Kostenlast eines differenzierten Vollzuges gleichmäßiger zu verteilen. Die Schwierigkeiten i m personellen Sektor sind keineswegs geringer. Gegenwärtig ist man darum bemüht, qualifiziertes Vollzugspersonal durch eine Verbesserung der Ausbildung und der Arbeitsbedingungen zu gewinnen. Der Behandlungsvollzug moderner Prägung setzt aber vor allem Fachleute, wie Ärzte, Psychiater, Psychologen, Psychoanalytiker und Sozialarbeiter, voraus. Noch immer ist offen, ob die erforderliche Anzahl von Planstellen geschaffen werden kann und wie solches Personal gewonnen werden soll. Derzeit sind etliche Planstellen i m Vollzug offen und scheinen auch i n absehbarer Zeit nicht besetzt werden zu können. Freilich liegt das nicht zuletzt an dem schlechten Image, das der Vollzug i n der öffentlichen Meinung genießt. Es handelt sich hier u m ein Teilproblem des Verhältnisses von Gesellschaft und Strafvollzug überhaupt. I I I . Der gegenwärtige Stand der Behandlungsforschung

Die bisher skizzierten Bedenken sind gleichsam systemimmanenter Natur. Sie gehen von der gegenwärtigen Vollzugskonzeption aus, ohne diese selbst zu problematisieren. I n den kriminologischen und Sozialwissenschaften werden jedoch immer mehr Bedenken gegen die heutigen Vollzugsauffassungen laut. Sie setzen hauptsächlich an der Tatsache mangelnder empirischer Erforschung des Strafvollzuges an. Zwar sind i n den letzten Jahren eine Reihe von psychologischen, sozialpsychologischen und organisationssoziologischen Untersuchungen zum Strafvollzug erschienen. Sie haben jedoch das differenzierte Interaktionsgefüge der Anstalt und die psychosozialen Auswirkungen des Freiheitsentzuges noch keineswegs i n voller Breite sichtbar machen können. Viele Fragen sind noch ungeklärt. Besonders deutlich ist dieser

Probleme deutscher Strafvollzugsgesetzgebung

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Ansätze nach wie vor an praktischer Anwendung neuer Behandlungs Mangel im Bereich der Behandlungsforschung. So fehlt es trotz einiger methoden , insbesondere der Sozialtherapie . Wir bewegen uns hier noch Vorfeld von Mutmaßungen . Wie eine optimale An weitgehend im staltsorganisation beschaffen sein müßte , wie die einzelnen Behand lungsmaßnahmen in ein sinnvolles Behandlungssystem integriert wer den können , ist bisher weitgehend offen geblieben . Zwar bestehen bereits gewisse Vorstellungen , auch liegen ausländische Erfahrungen vor , doch läßt sich keineswegs absehen , ob und inwieweit sie hier realisiert werden können . Nicht zuletzt stellt sich die Frage , ob das Behandlungskonzept tatsächlich dem Personenkreis gerecht wird, der überwiegend unsere Anstalten bevölkert . Bisher weiß man lediglich , daß ein erheblicher Prozentsatz aus der sozialen Unterschicht stammt und die normalen Bedingungen persönlicher, familiärer und beruflicher Entwicklung vermissen mußte . Unsere Behandlungsvorstellungen sind jedoch weitgehend Produkt von Mittelklassevorstellungen , die auch die Kriminellen und deren Resozialisierung am Normalmaß des Durch schnittsbürgers messen . Deshalb ist nicht auszuschließen , daß die heu tige Vollzugskonzeption von der Wirklichkeit dementiert wird und deshalb revidiert werden muß . Eine gesetzliche Festlegung des Strafvollzuges nach welchem Konzept auch immer kann zudem gerade für die Entwicklung neuer Vollzugs modelle Grenzen setzen . Im Hinblick darauf, daß neue Konzepte und Methoden aber erst erprobt werden müssen , erschiene es untragbar , die weitere Entwicklung durch Gesetz zu blockieren . Der Entwurf 1971 hat sich allerdings insoweit um Zurückhaltung bemüht, um alle Mög lichkeiten offen zu lassen . Ganz kann das freilich nicht gelingen , weil das Gesetz allemal gewisse Mindestaussagen über die Vollzugsgestal tung treffen muß. Die ideale Situation wäre, nicht zuletzt aus wissen schaftlicher Sicht, die , daß erst einmal über längere Zeiträume hinweg neue Behandlungsmethoden in sog. Modellanstalten erprobt würden , um daraus Rückschlüsse auf die optimale Ausgestaltung des Strafvoll zuges insgesamt ziehen

zu können . Diese Möglichkeit besteht jedoch

nicht. Einmal wäre zweifelhaft, ob eine langfristige Forschung nicht wieder durch die gesellschaftliche und die Kriminalitätsentwicklung überholt würde. Die Erfahrungen zeigen , daß man nicht unbegrenzt lange experimentieren kann, wenn die Untersuchungsergebnisse nicht auf völlig veränderte Verhältnisse stoßen sollen . Gewichtiger jedoch ist der zweite Gesichtspunkt, der sich aus der verfassungsrechtlichen Lage ergibt. Wie erörtert, ist nach dem Grundgesetz eine gesetzliche Regelung des Strafvollzuges unerläßlich . An diesem rechtsstaatlichen Erfordernis ist nicht vorbeizukommen . Wie groß immer die Mängel des gegenwärtigen 9 Müller -Dietz

Vollzuges und die Schwierigkeiten ihrer Überwindung

130 im

Probleme deutscher Strafvollzugsgesetzgebung einzelnen sein mögen

die Verfassung verlangt nun einmal, daß

die Einschränkungen der Grundrechte gesetzlich fixiert werden . Aus diesem Grunde bleibt tatsächlich nur der Ausweg, das Vollzugsgesetz so zu formulieren , daß es den gegenwärtigen verfassungsrechtlichen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisstand in optimaler Weise re flektiert, zugleich aber auch Raum läßt für kontrollierte Experimente und die Weiterentwicklung des Strafvollzuges.

Zur Eröffnung einer Ausstellung von Arbeiten Gefangener Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie ? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen

die Gründung einer Bank ?“ Diese Sätze läßt Bert Brecht

in seinem berühmten Dreigroschenroman den Verbrecherkönig Ma cheath sprechen . Ihre gesellschaftskritische Tendenz, mit der ein libe rales Bürgertum lange kokettierte, ehe es anfing zu begreifen , ist unüberhörbar . Was aber haben sie mit Kriminalität und Strafvollzug , mit einer Ausstellung von Arbeiten Gefangener in einer Bank zu schaffen ? Sind sie der Schlüssel zu einem vitalen gesellschaftlichen Problem - wie der Dietrich Zugang zu einem begehrten Objekt eröff nen mag ? Soll sich um deutlich zu werden der Einbrecher, der Bankräuber als Opfer eines gesellschaftlichen Systems fühlen dürfen , ja fühlen müssen , weil etwa die Aktie wichtiger als der Mensch , der Reichtum einzelner notwendiger als das Glück aller scheint? Heißt dies , daß der arme Mann auf das Strafrecht mit allen Folgen , versteht sich angewiesen ist, während der reiche sich des Aktienrechts bedie nen kann ? Muß - mit anderen Worten der kleine Mann Banküber fälle begehen , weil er keine Bank hat, weil allenfalls die Bank ihn hat ? Muß sich als Krimineller schimpfen und behandeln lassen , wem der große Coup mißlingt, während der Coup der Großen immer gelingt? Muß, wer auch einmal einen Schnitt machen möchte, sich selber schnei den lassen , muß er hinnehmen , künftig geschnitten zu werden ? Muß es dabei bleiben , daß , wer unten ist, auch unten bleibt, und daß er , wenn er nach oben kommen will, stattdessen allenfalls verkommt und nicht das bekommt, worauf er Anspruch zu haben glaubt? Dürfen wir im Ernst solche Fragen überhaupt zulassen ? Stellen sie nicht in Frage, was wir sicher zu wissen meinen , was uns sicher macht? Sind die zitierten Sätze Brechts nicht eine Blasphemie an die sem Ort zu dieser Stunde? Erscheinen sie nicht wie eine Karikatur, wie ein Zerrbild der Wirklichkeit angesichts der so sichtbaren Bemühungen einer Bank , öffentlich die Resozialisierung Gefangener zu unterstüt zen ? Muß sich eine Bank in solcher Weise schelten lassen , daß sie sich für etwas einsetzt, wofür keineswegs jeder von uns eintreten würde und was keineswegs populär ist ? Soll - um wiederum konkret zu werden eine Bank sich für die Resozialisierung von Kriminellen hergeben zu einer Zeit, in der das Gespenst des Banküberfalls durch die Lande geistert, zu einer Zeit, da die Massenmedien nicht aufhören über Gewalt zu

g*

berichten ? Der Kriminalstatistik

zufolge haben

im

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Zur Eröffnung einer Ausstellung von Arbeiten Gefangener

Jahre 1970 Mord und Totschlag um 18,5 % , gefährliche und schwere Körperverletzungen um 8,4 % , Notzucht um 1,8 % , Raub, räuberische Erpressung und Autostraßenraub um 15 % , vorsätzliche Brandstiftung um 12,5 % und schwere Diebstähle in Banken , Sparkassen und anderen Geldinstituten um 11,2 % gegenüber 1969 zugenommen . Schon 1969 hatten Mord und Totschlag, Raub und räuberische Erpressung eine Aufwärtstendenz zu verzeichnen und die Zivilisation damit eine Abwärtstendenz. Soll man angesichts solcher Tatsachen das Wort „ Resozialisierung“ noch groß schreiben ? Kann man einer Bank ansinnen , an der gesell schaftlichen Wiedereingliederung eines Bankräubers mitzuwirken ? Muß man eine Bank , die solches tut, nicht für töricht halten , nicht für un fähig , simpelste soziale Zusammenhänge zu durchschauen ? Muß man nicht eine Gesellschaft abschreiben , die sich zum Dank dafür, daß sie sich bestehlen und berauben läßt, ihrer Räuber und Diebe auch noch annimmt? Was muß das für ein Staat sein , der dem Steuerzahler den mühsam

verdienten Groschen aus der Tasche zieht, um neue Gefäng

nisse zu bauen , alte zu modernisieren , um bessere Arbeitsbetriebe in den Anstalten einzurichten , um Ausbildungsmöglichkeiten für Gefan alles offenbar , gene zu schaffen , um mehr Personal zu beschäftigen um dem Kriminellen das Leben noch angenehmer, noch bequemer zu gestalten ? Haben wir keine besseren Gelegenheiten , unser Geld auszu geben ? Was ist das für eine Wissenschaft , die uns die Resozialisierung indes des Kriminellen als Heilmittel gegen Kriminalität empfiehlt eben im Zeichen der Resozialisierung das Verbrechen sich auszubreiten scheint? Wie muß es in den Köpfen von Vollzugstheoretikern aussehen , die Rückfallziffern von 50 bis 70 % bei jugendlichen Strafgefangenen hinnehmen , ohne anscheinend ihr Konzept zu revidieren ? Sehen wir denn nicht, daß es nichts nützt, sich dem Kriminellen nützlich zu er weisen ? Was muß das für eine Art Erfolgsbegriff sein , der das Ergebnis nicht an der Rückfallstatistik , an den volkswirtschaftlichen Verbre chensschäden , sondern daran mißt, wodurch und wievielen Kriminellen geholfen wird ? Hat denn die Volksmeinung nicht recht, die sagt, man müsse heute schon Straftaten begehen , um Wohltaten zu erfahren während die Opfer sich selbst überlassen bleiben ? Danken wir es nicht unserer Nachsicht und Laschheit gegenüber Kriminellen , was wir die sen zu verdanken haben ? Was muß denn noch geschehen , damit wir aufwachen ? Unterstützen wir denn nicht die so sichtbar vor unser aller Augen anwachsende Kriminalität, die Zunahme von Gewalt und Ver um rohung, wenn wir den Kriminellen unterstützen ? Leisten wir im Bilde zu bleiben nicht dadurch Beihilfe zum Rückfall, daß wir den Gefangenen hernach um

die

Anfertigung

eines Schlüssels

lehren , damit

so leichter den Dietrich benutzen lernt? Schädigt sich

er

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Zur Eröffnung einer Ausstellung von Arbeiten Gefangener

um das Maß der Fragen voll zu machen die Bank nicht selbst, über fällt sie sich nicht selber , bricht sie nicht bei sich selber ein , wenn sie sich öffentlich auf die Seite ihrer Schädiger stellt ? Muß das Opfer den Täter auch noch unterstützen ? Fragen über Fragen , auf die wir allzu rasch Antworten parat haben . Wir glauben zu wissen , was richtig ist . Handeln wir denn nicht recht, wenn wir auf der Ordnung bestehen , die das Recht uns garantieren soll ? Sollten nicht die , die an sie nicht glauben , dranglauben müssen ? Müssen wir den , der unsere Gebote nicht einhält, auch noch aushalten ? Sollen wir nicht gegen denjenigen , der für unser Vermögen, welches zu sammeln , kein Verständnis aufbringt, die Polizei verständigen dür fen ? Müssen wir es hinnehmen , daß Räuber auf Geld bestehen , und mit guten Worten nichts zu machen ist, daß angesichts der Alternative „ Geld oder Leben !“ nur der Griff in die Kasse vor dem Eingriff ins Leben bewahrt ? Heißt es hier nicht mit äußerster Härte zuschlagen die Türe zuschlagen, damit uns bleibt, was wir haben , und den andern , die es nicht haben, eben das ? Hat es denn überhaupt jemand nötig , gewaltsam zu Geld zu kommen , wo wir es doch so nötig haben ? Ver dient man denn hier nicht, was man verdient? Kommtman denn hier zulande nur auf der schiefen Ebene rascher voran ? Muß man es sich einfallen lassen , Banken zu überfallen , woman sie doch gründen kann ? Kann man denn nicht das große Los gewinnen und dann das Los der Großen teilen ? Dreht sich denn die Glücksspirale nicht für jeden ? Ist denn etwa unsere Ordnung nicht so gut,wie wir es sind ? Hand aufs Herz: Wer identifizierte zumindest unbewußt

mit dem

sich

nicht insgeheim

Bankräuber oder Erpresser im

lichen Fernsehkrimi? Wer fieberte nicht mit dem

oder abend

Einbrecher im

Kri

minalfilm um die Wette , ob denn der Zeitplan gelingt, der minutiös geplante Ablauf auch stattfindet ? Wer weiß sich denn innerlich vor und gelegent diesem Gedankenspiel gefeit, dessen Verwirklichung ihm dann aus lich blutige Realität, wie das Münchner Drama zeigte Tagespresse und Fernsehapparat entgegenschlägt ? So gibt es für den ehrbaren und redlichen Bürger, der das Spektakel mit einem Gemisch von Abscheu , Grausen und Befriedigung genießt, Möglichkeiten , seine geheimen Ängste und Aggressionen loszuwerden . Doch was ist mit dem Labilen , Verführbaren , vielleicht Verführten in einer Gesellschaft, die Geld und Konsum , Sozialprestige und Publizität groß schreibt für manchen so groß, daß nichts anderes mehr zählt ? Er kann – wie bleiben , wo der Pfeffer wächst (wiewohl auch die Redensart sagt dort inzwischen Entwicklungshilfe geleistet, also etwas getan wird ). Dort wünscht man ihn auch prompt hin , wenn er der Verführung er legen ist und das „ Millionenspiel“ mögen es auch „ nur“ Hundert tausende gewesen sein auf seine Weise mitzuspielen versucht hat.

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Zur Eröffnung einer Ausstellung von Arbeiten Gefangener

Er mag zusehen , wo er bleibt. Und so behandelt man ihn auch . Wer Gewalt sät, erntet Gewalt. Wer die Spielregeln der Gesellschaft miß achtet, wird selbst mißachtet. Wer mit dem ernst macht, womit man nur spielt, erfährt, wie ernst man es gemeint hat. Wer schlägt, muß sich nicht wundern , daß zurückgeschlagen wird . Das ist in Geltung, wird praktiziert. Aber nehmen wir es, nehmen wir uns, nehmen wir den Räuber , Einbrecher wirklich ernst? Sind die Sätze von Gewalt und Gegengewalt, Schlag und Gegenschlag voll in Geltung, sind sie ganz anerkannt ? Würde dann nicht auch Gegengewalt neue Gewalt hervorbringen , hätte nicht der Gegenschlag gleiche Replik zu gewärtigen ? Wäre es dann richtig , auf Gewalt gewaltsam zu ant worten , auf Schläge zurückzuschlagen , blindlings, gemessen oder wie immer ? Ist kanalisierte , ritualisierte, in Regeln gefaßte Gewalt etwa keine Gewalt? Die erste These von Friedrich Hackers neuestem Buch lautet: „ Gewalt ist das Problem , als dessen Lösung sie sich ausgibt.“ Unser Verhalten ist immer ein Versuch , Probleme, die wir mit und in uns, die wir mit der Umwelt und in ihr haben , zu lösen . Krimina lität heißt der Lösungsversuch einiger weniger in der Gesellschaft, Bestrafung der Versuch der Gesellschaft, jenes Problem zu lösen . Wenn Gewalt die Probleme nicht löst, vermag es auch Gegengewalt nicht. Wenn ein Bankeinbruch Probleme nicht löst - - sondern vielmehr neue schafft

, vermag es auch der Einbruch in ein Leben nicht. Wenn wir

auf Brutalität und Gleichgültigkeit gegenüber dem Mitmenschen keine andere Antwort parat haben , worüber wundern wir uns? Woher wissen wir denn eigentlich , daß andere Wege falsch sind ? Schreibt nicht eine Gesellschaft, die den Straftäter abschreibt, nur das ab , was dieser gelernt hat ? Sollen uns die , die uns bestohlen haben , auch ge stohlen bleiben ? Heißt das, daß wir mit denen fertig sind , die mit dem Leben nicht fertig werden ? Aber legitimieren nicht unsere Gleich gültigkeit, unser Versagen den Rückfall? Führt nicht unser Vorurteil noch ehe das Urteil gesprochen ist? Wir tun gut zur Verurteilung daran , uns vor Kriminellen zu schützen aber tun wir damit schon Gutes ? Was gibt uns denn die Gewißheit, daß ernsthafte Bemühungen um den Kriminellen verfehlt sind ? Haben wir denn damit richtig ange nicht fangen , haben wir denn überhaupt begriffen , worum es geht, um Almosen , nicht um Wohltaten , die es einem moralisch oder sozial „ Zurückgebliebenen “ zu erweisen gilt, sondern um Probleme, die Men schen in und mit unserer Gesellschaft haben – , haben wir uns schon gefragt, ob wir uns nicht im Grunde selbst helfen , wenn wir anderen helfen ? Wiederum

Fragen über Fragen . Niemand von uns, so

er ehrlich ist

gegenüber sich selbst, kann verbindlich sagen , was im einzelnen gegen Kriminalität hilft. Es gibt keine Patentrezepte . Auch die Wissenschaft

Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

I

„ Ein Philosoph produziert Ideen , ein Poet Gedichte , ein Pastor Pre digten , ein Professor Kompendien usw. Ein Verbrecher produziert Verbrechen . Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letzteren Produktionszweiges mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen . Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen , sodern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor , der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zu dem das unvermeidliche Kompendium , worin dieser selbe Professor seine Vorträge als ,Ähre auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein , ganz abgesehen von dem Pri vatgenuß, den ... das Manuskript des Kompendiums seinem Urheber selbst gewährt. Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz , Schergen , Richter, Henker , Geschworene usw., und alle diese verschiedenen Gewerbszweige, die ebensoviel Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden , entwickeln verschie dene Fähigkeiten des menschlichen Geistes , schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinn reichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produk tion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt. ... Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde . Er gibt so den produk tiven Kräften einen Sporn . Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die gewissen Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem verhindert, Punkte den Fall des Arbeitslohnes unter das Minimum absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen anderen Teil der selben Bevölkerung. Der Verbrecher tritt so als eine jener natürlichen , Ausgleichungen ' ein , die ein richtiges Niveau herstellen und eine ganze Perspektive nützlicher Beschäftigungszweige auftun . Bis ins Detail können die Endwirkungen des Verbrechens auf die Entwicklung der Produktivkraft nachgewiesen werden . Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehen , wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung

Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

137

gediehen , gäbe es keine Falschmünzer ? Hätte das Mikroskop seinen Weg in gewöhnliche kommerzielle Sphären gefunden ... ohne Betrug im Handel ? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben , sie aufzudecken , als dem ehrlichen Produktionseifer ? Das Verbrechen , durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum , ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie Streiks auf Erfindung von Maschinen .“ Am Sprachduktus ist zu erkennen , daß diese satirische Kriminalitäts betrachtung älteren Datums sein muß . Sie entstammt den berühmten „ Theorien über den Mehrwert “ von Karl Marx . Gewiß würde sie niemand ernst nehmen . Doch noch als Perhorreszierung kriminolo gischer Theorie schlechthin deutet sie die extremsten Möglichkeiten des Verständnisses von Kriminalität an . Und damit sind wir beim Thema, der Frage nach

den Ursachen des Verbrechens. Gefragt ist

hier nach den gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität. Diese Fas sung des Themas impliziert, daß es überhaupt gesellschaftliche Ur sachen der Kriminalität gibt. Eine zweite mögliche Feststellung, daß nur solche Ursachen

existieren , wird indessen damit nicht getroffen .

Die spezielle Fragestellung ist in den Kontext der allgemeinen krimi nalätiologischen Problematik der Ursachen des Verbrechens schlechthin eingebettet. Dieser Gesamtzusammenhang läßt sich ohne Not nicht auflösen . Deswegen wird man — der engeren Fassung des Themas zum Trotz - an der allgemeinen Fragestellung nicht vorübergehen können .

II Die Frage nach „ den “ Ursachen der Kriminalität kann mit der Suche nach dem berühmten Stein der Weisen verglichen werden . Viele sind auf dem Wege zu ihm , manche glauben ihn zu besitzen , keiner hat ihn . Seit es so etwas wie kriminologische Wissenschaft gibt, hat man sich vorrangig mit jener Frage auseinandergesetzt fast immer im Be wußtsein , nunmehr den

Ansatz zur Aufdeckung der Verbrechensur

sachen gefunden zu haben . Oft wurde darüber die simple Tatsache ver gessen , daß Kriminalität und ihre Erscheinungsformen so vielfältig wie das menschliche Leben überhaupt sind , daß sie viele Gesichter tragen , nicht selten sogar Zeiterscheinungen sind , die sich mit dem Wandel der jeweiligen Epoche ändern . Wäre dies nicht eine jener zahl reichen unüberprüften Hypothesen , wäre man versucht zu sagen : Häu fig genug wechselt Kriminalität bei aller Beständigkeit gewisser Grundphänomene wie eine Mode – und häufig genug gleicht ihr die Kriminologie darin durch ihr Bestreben , mit ihren Erklärungsversu chen auf den Spuren der jeweiligen Entwicklung zu bleiben sowie die jeweils letzte Zeiterscheinung zur Hypothesen- und Theorienbildung

138

Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

zu benutzen . Dabei ist von jeher der Vorsprung spekulativen Denkens gegenüber empirisch gesichertem Wissen so groß gewesen , daß er im Grunde nie eingeholt werden konnte. Das gilt selbst für jene natur wissenschaftlich inspirierten Forschungsmethoden , die etwa auf krimi nalanthropologischer , kriminalbiologischer , kriminalpsychiatrischer und kriminalsoziologischer Grundlage arbeiteten . Charakteristisch für die grundsätzliche Fragestellung war dabei schon immer der Dualismus von individuellen und sozialen Verbre chensursachen. Er war Stimulans einer Diskussion , die durchweg von der Konkurrenz der jenen Faktoren korrespondierenden Kriminali tätstheorien geprägt war. In welcher Weise man dem latenten Kausal bedürfnis des Menschen jeweils Rechnung zu tragen suchte , hing nicht zuletzt von grundlegenden Vorstellungen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie über die optimale Organisation menschlicher Sozietäten ab . Bis zu einem gewissen Grade spiegelten sich daher in den kriminologischen Auseinandersetzungen um die Ver brechensgenese politische, moralische und religiöse Überzeugungen ab , die je nach Couleur — die grundsätzliche Fehlbarkeit des Menschen , seine mangelhafte Ausstattung (Gehlen ) oder die Desorganisation der Gesellschaft, ihre Machtstrukturen und systembedingten Lebensver hältnisse zum Ausgangspunkt der Betrachtung nahmen . Dem entspricht es, daß gesellschaftskritisch akzentuierte Kriminalätiologien allemal eher zu einer sozialen , ökonomischen oder politischen Betrachtung der Kriminalität neigten . Das läßt sich an zahlreichen Beispielsfällen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zurückverfolgen . So hat etwa der belgische Kriminalstatistiker Quetelet 1832 verlau ten lassen , „ daß es die Gesellschaft ist, die das Verbrechen vorbereitet und daß der Schuldige nur das Werkzeug ist, das es ausführt. Daraus ergibt sich , daß der Unglückliche , der seinen Kopf auf den Block legt oder sich anschickt, sein Leben in den Gefängnissen zu beschließen , in gewisser Weise ein Sühneopfer für die Gesellschaft bringt. Sein Verbrechen ist die Frucht der äußeren Umstände, die er vorfindet“ . Quetelets These, „ daß es die Gesellschaft selbst ist, die das Verbrechen hervorbringt“ , ist später mehrfach, u . a . auch von dem Nationalökono men Wagner (1864) übernommen worden . Nicht selten figurierte „Kri minalität als soziale Krankheit“ , hervorgerufen durch „ Eigentümlich keiten und Schwächen der Gesellschaftsordnung und des wirtschaft lichen Systems“ (Mechler). Besonderen Auftrieb erfuhren solche Kri minalitätstheorien im Zeitalter der Industrialisierung und der Ver städterung. Die großen Gesellschaftskritiker der englischen Literatur von Dickens bis Shaw haben sich dieses Themas angenommen . Shaws Bemerkungen über „ competition in evil between prison and slum “ erinnert nachdrücklich daran . Oscar Wilde meinte, „ Entbehrung, nicht

Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

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Sünde“ sei „ die Mutter des Verbrechens unserer Zeit“ ; im „ Reiche des Sozialismus" werde es verschwinden . In der sozialökonomischen und -philosophischen Literatur des 19. Jahrhunderts erlangte jene Proble matik

sogar systemkritische und revolutionäre Relevanz. Engels gab

ihr etwa in seinem bekannten Werk über „ Die Lage der arbeitenden Klasse in England “ (1844) Ausdruck . Hier erscheinen nicht mehr nega tive Begleiterscheinungen des industriellen Zeitalters als kriminogene Faktoren und damit als Zielscheibe der Kritik , sondern das kapita listische System , die Klassengesellschaft als das „ ganze Unwahre “ (Adorno). So wurde der wissenschaftliche Sozialismus zur Grundlage jener Kriminalitätstheorien , die nicht an einzelnen , wenn auch noch so bedeutsamen sozialen Defektzuständen und Fehlentwicklungen , son dern an der Gesellschaftsordnung im

ganzen ansetzten und damit deren

Umwandlung im Sinne einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft als allein humane und effiziente Kriminalpolitik verstanden . Protago nist dieser Richtung wurde vor allem der niederländische Kriminologe Bonger, der in seinem Hauptwerk über „Kriminalität und ökonomische Verhältnisse “ (1905 ) eine dezidiert marxistische Position vertrat. Sein Angriff auf das kapitalistische System als der Verbrechensursache schlechthin wurde zum Grundmuster aller jener sozialutopischen Kri minalätiologien , für die sich mit der Entstehung der neuen sozialisti schen Gesellschaft das allmähliche Aussterben der Kriminalität ver band. Dabei gibt zu denken , daß man angesichts des Fortbestehens , ja der Zunahme der Delinquenz in sozialistischen Ländern sich selbst in der gegenwärtigen

sozialistischen Kriminologie zu fragen beginnt, ob

denn eine grundlegende Veränderung der Lebens- und Produktionsbe dingungen tatsächlich die Kriminalität zum Verschwinden bringen könne (Lekschas ). Gleichwohl hat sich jene Vorstellung, wenn auch in erheblich modifizierter Form und verschiedenen Varianten bis zum heu tigen Tag erhalten . Wir begegnen ihr etwa in

Blochs Forderung nach

Unschädlichmachung der Gesellschaft“ als „ wirklich radikaler Straf theorie “ , die allein Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse als praktisch wirksame Kriminalpolitik begreift. Wir begegnen ihr in ab gewandelter Weise ferner in der Feststellung Frantz Fanons, daß „ die Kriminalität des Algeriers “ „ das direkte Produkt der Kolonialsitua tion “ , also wiederum Ausdruck bestehender (oder früherer) gesellschaft licher Verhältnisse sei. Und wir begegnen ihr in Eldridge Cleavers Auf zeichnungen im Gefängnis, das als Ausdruck eines umfassenden Sy stems rassischer und sozialer Unterdrückung verstanden wird. Von da aus ist es dann nur ein kleiner Schritt bis zu der Charakterisierung der Kriminellen als „ Opfer“ kapitalistischer oder kolonialistischer Herr schaft, deren Abschaffung als Akt gesellschaftlicher Emanzipation und Befreiung von Kriminalität zugleich erscheint.

140

Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

Freilich stellen sich solche Theorien in kriminologischer Sicht als Ex tremvarianten sozialpsychologischer und -ökonomischer Verbrechensbe trachtung dar , die empirisch keineswegs belegt sind. Auch wäre das Ge samtbild stark

verzeichnet, würde man ignorieren , daß die sozialkri

tische Tendenz derartiger Kriminalätiologien über den engeren Bereich sozialökonomischen Verbrechensverständnisses weit hinausreicht. So treten verwandte Züge in der „ analytischen Sozialpsychologie “ von Erich Fromm u . a . deutlich in Erscheinung , wenn etwa das Strafrecht als „ Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse“ gekennzeich net wird, dessen „ unausgesprochene Funktion der unbewußten Triebabfuhr

gerade aus den

gesellschaftlichen

Verhältnissen “

er

wachse. Das findet eine gewisse Entsprechung in der Annahme system stabilisierender Bedeutung der Kriminalitätsbekämpfung durch „ Ver innerlichung sozialer Zwänge“ , mag sie sich auch wie immer , in Repres sion oder Therapie , ausdrücken . Eine solche sozialpsychologische Ana ähnlich wie es unter lyse von Devianz und Kriminalität muß daher sozio -ökonomischem Vorzeichen geschehen ist die Anpassung des Kriminellen an die herrschenden Normen als Behandlungskonzept ab lehnen und die „ Therapie “ , die eigentlich von der Existenz der Krimi nalität ihren Ausgang genommen hat, an die Gesellschaft adressieren (Dorothee und Helge Peters). Das hat den naheliegenden Einwand pro voziert, derartige Pauschalerklärungen für Kriminalität und Global strategien für ihre Bekämpfung träfen in ihrer unbestimmten Allge meinheit wohl auf einzelne Züge des Phänomens zu, könnten es jedoch als Ganzes nicht erfassen (Hohmeier/Quensel). Der Vorwurf unkriti scher , ja „ herrschaftsblinder “ Übernahme tradierter Vorstellungen , welcher der heutigen Kriminologie gemacht wird, kehrt sich damit um in die Kritik an undifferenzierten Verallgemeinerungen empirisch un überprüfter Hypothesen .

III Dieser Theorienstreit

alles andere als rein akademischer Natur

läßt deutlich erkennen , daß die Kriminalätiologie die Eierschalen ihrer ersten Entwicklung immer noch nicht abgestreift hat. Ein anspruchsvol les, hochtönendes Vokabular scheint im Grunde nur zu verdecken , daß es die alten Fragestellungen und Probleme sind , die sie auch heute noch bewegen . Gleichwohl wäre ein solches Urteil allenfalls bedingt gerecht fertigt. Immerhin hat sich die Kriminalätiologie in verschiedener Hin methodisch und inhaltlich – von ihren Anfängen emanzipiert. sicht auch bei zurückhaltender Beurteilung Inzwischen können wir ei nen Prozeß der Ausdifferenzierung und Verfeinerung der Thesen und Hypothesen konstatieren , der bis zum heutigen Tage nicht abgeschlos sen ist, vielmehr mit der Ausweitung kriminologischer Forschung noch an Bedeutung gewonnen hat. In stark vereinfachter Betrachtungsweise

Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

141

kann man den Weg, den die Kriminalätiologie inzwischen zurückgelegt hat, mit der Entwicklung aus naivem Laienverstande zu hoch- oder zu mindest höherdifferenzierter Wissenschaft charakterisieren . Nicht zu fällig hat man diesen Prozeß insgesamt den „Weg der Kriminologie zur selbständigen Wissenschaft“ (Hering ) genannt. Kennzeichnend dafür ist einmal der

Trend von der monokausalen

Betrachtungsweise zur multifaktoriellen Analyse . Neigte man etwa im Zeitalter der „ heiligen Drei der Kriminologie “ (Schafer), nämlich der Italiener Lombroso , Ferri und Garofalo , noch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dazu , bestimmte einzelne Umstände als Verbrechens ursachen schlechthin anzusehen , so hat schon um die Jahrhundertwende die Überzeugung an Boden gewonnen , daß Kriminalität auf das Zusam menwirken mehrerer Faktoren zurückzuführen sei. Einer der promi nentesten Vertreter dieser Anlage-Umwelt- Theorie war der bedeutende Kriminalpolitiker Franz von Liszt. Die Dichotomie von Anlage und Umwelt als Verbrechensursachen hat übrigens in mehr oder weniger unreflektierter Weise noch bis vor kurzem die kriminologische Diskus sion geprägt. Inzwischen wurde dieses Spektrum um psychologisch psychoanalytische, entwicklungspsychologische und kybernetische An sätze erweitert, die von sozialen Reifungs-, Sozialisations-, In teraktions- und Rückkoppelungsprozessen ausgehen und dem bis dato beliebten starren Schematismus der statischen Betrachtungsweise eine entschiedene Absage erteilen . Hat man ursprünglich ausschließlich oder doch weitgehend physische oder psychische Anomalien , die Vererbung bestimmter Eigenschaften , also anthropologische, konstitutionsbiologi sche und erbbiologische Faktoren auf der einen Seite , soziale Umstände und ökonomische Faktoren wie Armut, Slums, Alkoholismus, Prostitu tion und Klassenunterschiede auf der anderen Seite für die Entstehung von Kriminalität verantwortlich gemacht, so ist die Verbindung beider Theoreme allmählich einem stärker entwicklungs- und lerntheoretisch fundierten Modell, welches das sozialpsychologische Phänomen der Wechselwirkungen ins Kalkül einstellt, gewichen . Damit ging eine strukturelle Veränderung der Forschungssituation einher. Hat lange Zeit jeder Kriminologe in mehr oder minder starkem Maße je nach seiner Fachkenntnis und fachspezifischen Orientierung den einen oder anderen Ansatz, etwa kriminalanthropologischer, -bio logischer, -psychiatrischer , -psychologischer Provenienz bevorzugt, so daß erst Kumulierung der verschiedenen Forschungsergebnisse so et was wie Kriminalätiologie zustandebringen konnte , so hat man nun mehr den Weg interdisziplinärer Forschung eingeschlagen , der die Er mittlung der Verbrechensursachen von einem integrierenden Gesamt konzept aus anstrebt (Göppinger). In dieser Sicht befindet sich das „ klassische“ Verfahren bloßer Addition von Methoden und Ergebnissen

142

Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

gleichsam im Stande vorwissenschaftlicher Unschuld , der nun einmal nach dem Fortschreiten der Natur- und Sozialwissenschaften un wiederbringlich verloren erscheint. Daß mit „ disziplintranszendieren der “ interdisziplinärer Forschung freilich neue Probleme, etwa wissen schaftstheoretischer Art, entstanden sind, sei dabei nur am merkt.

Rande ver

Noch in dritter Hinsicht hat sich das Bild entscheidend gegenüber den Anfängen der kriminologischen Wissenschaft gewandelt. Ist man ur sprünglich von der Person des Straftäters, also des Verurteilten aus gegangen , hat man durch Analysen der Persönlichkeit des Strafgefan genen die Kriminalitätsgenese zu ermitteln gesucht, so wurde inzwi schen der Weg der Vergleichsuntersuchungen eingeschlagen . Die Er kenntnis, daß die Insassen unserer Strafanstalten nur einen Bruchteil der straffälligen Bevölkerung ausmachen , hatte die Einbeziehung nicht verurteilter , ja sogar nichtkrimineller Personen in den Untersuchungs bereich zur Folge . Signifikante Unterschiede zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen lassen sich hiernach wenn überhaupt nur im Wege des Vergleichs von Persönlichkeitsmerkmalen und sozialen Fak toren beider Gruppen herausarbeiten . Dementsprechend hat etwa der amerikanische Soziologe David Matza die grundsätzliche Strategie kriminologischer Forschung u . a. dahinge hend charakterisiert, daß sie zwei zentrale Annahmen zugrundelege, nämlich die vollständiger Determiniertheit menschlichen Verhaltens und die grundlegender Unterschiede zwischen Delinquenten und ge setzestreuen Mitgliedern der Gesellschaft. Damit aber gründen sich die Versuche zur Erklärung von Kriminalität nicht nur — was Matza und andere kritisiert haben auf empirisch ungesicherte Behauptungen , sondern gerät jedwede kriminalätiologische Bemühung in Gefahr, das Blickfeld im Sinne der klassischen Kriminologie auf den Täter zu ver engen und gleichsam in dessen Person hineinzuprojizieren , das Ergeb nis eines langwierigen und komplizierten Interaktionsprozesses im Rah men sozialer Bindungen und Verflechtungen sein mag. Sind aber nichtmehr Täter und Tat einzige oder gar eigentliche For schungsobjekte der Kriminologie, dann verschiebt sich die ursprüng liche Fragestellung auch noch in anderer Hinsicht. Zunächst figurierte das Verbrechen als „ social- pathologische Erscheinung“ (von Liszt), als gesellschaftliches Phänomen also , das von vornherein mit einem nega tiven Wertakzent versehen war. Folgerichtig korrespondierte dieser Vorstellung das Bild des „ pathologischen Verbrechers“ , dem eine mehr oder minder große Zahl „ böser “ Eigenschaften , seien sie angeboren oder erworben, zugeschrieben wurde. Mit der These von der „ Normalität“ der Kriminalität hat etwa der französische Soziologe Durkheim eine kopernikanische Wende in der Kriminologie herbeigeführt. Danach

Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

143

würde erst übermäßiges Auftreten von Delinquenz, also ein anomischer Zustand der Gesellschaft, als pathologisch gelten können . Bei norma lem Vorkommen hingegen bilde das Verbrechen „ einen integrierenden Bestandteil einer jeden gesunden Gesellschaft “ (Durkheim ). Freilich hat Durkheim noch sehr wohl zwischen dem Verbrechen als sozialer Er scheinung und der Persönlichkeit des einzelnen Verbrechers differen ziert: Was im

gesellschaftlichen Bereich normal sei, müsse es im

indivi

duellen nicht sein . Doch auch diese Perspektive hat sich inzwischen ge rade unter soziologischen Vorzeichen verändert. So haben wir heute Grund zu der Annahme, daß zumindest einige Gruppen delinquent ge wordener Personen sich in

Einstellung und Verhalten nicht grundle

gend von gesetzestreuen Bürgern unterscheiden . skandinavische Untersuchungen herausgefunden , typen von Gesetzesübertretern gibt“ (Sveri). Die rekrutiert sich danach vor allem aus der ganzen

Beispielsweise haben „ daß es zwei Haupt eine, größere Gruppe männlichen Bevölke

rung im Jugendlichenalter , die andere, kleinere Gruppe besteht aus rückfälligen Delinquenten , wie sie sich vornehmlich in Strafanstalten finden . Während sich die letzteren in signifikanter Weise von der Nor malbevölkerung abheben , stimmt die erstere Gruppe mit dieser , weil zumindest teilweise mit ihr identisch , praktisch überein . Neuere Ver gleichsuntersuchungen (z. B. von Göppinger ) haben dieses Bild freilich nicht in allen Zügen bestätigt, deuten aber doch darauf hin , daß bei einer Reihe von Merkmalsfaktoren zumindest in Fällen leichterer und mittlerer Delinquenz auffallende Ähnlichkeiten mit der Durchschnitts bevölkerung vorliegen . Es kann daher nicht überraschen , daß manche Soziologen heute dahin tendieren , prinzipielle Unterschiede zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen zu leugnen und damit die ursprüng liche Annahme vom Verbrecher als „ pathologischer Erscheinung “ buch stäblich umzukehren . Auch das muß zur grundlegenden Überprüfung bisheriger Positionen führen .

IV Damit sind wir freilich bei dem Problem angelangt, welchen Stellen wert, ja welchen Sinn überhaupt die berühmt-berüchtigte Frage nach den Verbrechensursachen hat, ob sie uns nicht auf den Holzweg führt, weil ihr eine unzulässige Verkürzung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zugrundeliegt. In der Tat wendet man sich in zuneh mendem Maße „ gegen die Reduktion des wissenschaftlichen Interesses in der Kriminologie auf die reine Frage nach dem Warum des delin quenten Verhaltens“ (Sack ). So meint der Soziologe Sack etwa, diese Frage verleugne „ die Tatsache, daß die Gesellschaft einen beträchtli chen Rechtsapparat in finanzieller , personeller und institutioneller Hin sicht aufwendet, der erst die Frage zu entscheiden hat, welches konkrete

144

Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

Verhalten als delinquent oder kriminell zu gelten hat“ . „ Die Frage nach den Gründen des kriminellen Verhaltens“ läßt danach letztlich offen , wie es überhaupt zur Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen kommt. In eben diesem Sinne hat der norwegische Rechtssoziologe Aubert angemerkt: „ Irgendwie scheint es natürlich zu sein , die Frage, warum die Abweichler zu Abweichlern werden , zu stellen , und nicht auch die , warum die konformistische Majorität sich konform verhält und spezielle Verhaltensmuster und Attitüden als Abweichungen defi niert und sie als solche verfolgt.“ Damit richtet sich der Blick vom Täter mehr auf den Prozeß der Festlegung bestimmter Verhaltens weisen als kriminell sowie allmählicher Abstempelung von Personen als Kriminelle , von den kriminogenen Faktoren auf einen rollentheore tischen Ansatz , der die Entstehung von Kriminalität nicht zuletzt als Rol lenzuschreibung begreift ( labeling approach). Die Frage lautet dann : Warum erhält der eine das Etikett „ Krimineller “ , der andere nicht? Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen dann nicht mehr die Kriminali tätsursachen im tradierten Verständnis, sondern der Sanktionsapparat, der Sanktionierungsprozeß, kurz : das „Gesamtsystem der sozialen Kon trolle “ (Kaiser), wie es sich in den gesellschaftlichen Institutionen von der Familie über die Schule bis hin zur Polizei darstellt. Aber auch soweit man diesen Schritt zur soziologischen und sozial psychologischen Verbrechensbetrachtung im Kontext gesamtgesell schaftlicher Verhältnisse und Entwicklungen nicht mitvollzieht, wird die überlieferte Fragestellung kritisiert und problematisiert. So hat etwa Göppinger es als heutige Aufgabe der Kriminologie bezeichnet, „ statt nach Ursachen “ des Verbrechens „nach Zusammenhängen “ zu suchen , und der kausalen Analyse eine Situationsbeschreibung vorgezo gen . Die Kritik am traditionellen kriminalätiologischen Konzept ist freilich nicht nur in der konkreten Forschungssituation begründet, die manchen an der Möglichkeit, überhaupt zur Erkenntnis von Kriminali tätsursachen vorzudringen , zweifeln läßt. Sie setzt vielmehr noch tiefer bei der wissenschaftstheoretischen Frage nach der Tauglichkeit des Kausalmodells ein , die schon seit längerem und humanwissenschaftlichen Bereich

nicht nur im

sozial

in Zweifel gezogen wird . Der

italienische Soziologe Pareto hat etwa darauf hingewiesen , „ daß es sich im sozialen Geschehen öfter um Interdependenz -Verhältnisse han delt als um einseitige Ursache-Wirkung-Zusammenhänge “ ; Hofstätter hat darum den Begriff der „Gegenseitigkeits -Relation “ in die sozial psychologische Diskussion eingeführt. Bei Robert Musil, jener unver geßlich österreichischen Mischung von Dichtung und Wissenschaft, fin det sich die Wendung: „ Längst hat man die Ursachenforschung in der Wissenschaft aufgegeben oder wenigstens stark zurückgedrängt und durch eine funktionale Betrachtungsweise der Zusammenhänge ersetzt.

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Die Suche nach der Ursache gehört dem Hausgebrauch an, wie die Verliebtheit der Köchin die Ursache davon ist, daß die Suppe versalzen wurde." Inzwischen ist man vom Hausgebrauch zur wissenschaftlichen Methode übergegangen. I n seinem jüngsten Beitrag spricht der finnische Kriminologe Törnudd ganz i n jenem Sinne von der „Unzulänglichkeit", ja „Sinnlosigkeit der Suche nach den Verbrechensursachen". Er fordert stattdessen eine Untersuchungsstrategie, die bei den Fluktuationen i m Gesamtbild der Kriminalität und beim Prozeß ansetzt, der die Auswahl der Delikte und Delinquenten bestimmt. Kriminalität w i r d hier also nicht mehr als isoliertes, zu isolierendes soziales Phänomen verstanden, das auch als Forschungsobjekt aus seinem gesellschaftlichen Kontext herauszulösen wäre, sondern vielmehr gerade i n einer gesellschaftlichen Vermittlung gesehen, die eine Reduktion des Untersuchungsgegenstandes auf bereits vorgegebene und als Delinquenz definierte Verhaltensweisen ausschließt. Das heißt nicht, wie es manche Äußerungen nahelegen könnten, daß die Umstände der Verbrechensentstehung schlechthin aus dem Blickfeld gerieten; das bedeutet vielmehr Kriminalitätsgenese auch als einen Prozeß gesellschaftlicher Selektionierung und sozialer Rollenzuweisung zu begreifen suchen. V Dieser Ansatz w i r d verständlich, wenn man sich einige signifikante Daten vor Augen führt, die i n mehr oder minder ausgeprägter Weise das B i l d der Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung bestimmen. Dabei darf man sich, soweit es u m soziologische Gesichtspunkte geht, nicht durch die scheinbare Banalität mancher Feststellungen irritieren lassen. Andererseits muß man sich vor allzu weitgehenden Interpretationen hüten, w i l l man sich nicht i m Spekulativen verlieren. W i r können zunächst an die schlichte Tatsache anknüpfen, daß das Verbrechen, verstanden als Normbruch, Normverstoß, eben eine Rechtsnorm voraussetzt, die verletzt, gebrochen wird. Die Norm beschreibt, definiert rechtlich verbotenes Verhalten. Das Verbot ist indes nicht vorgegeben, gleichsam vom Himmel gefallen. Es erwächst vielmehr aus zeit- und kulturgebundenen Wertvorstellungen, die i n einer bestimmten Gesellschaft lebendig sind. Doch ist auch eine solche Aussage noch recht ungenau. Die Frage ist, wessen Normbewußtsein und Wertordnung sich i n der Vielzahl rechtlicher — und sonstiger — Verbote sowie sozialer Normen artikuliert. Recht häufig erblickt man darin die Ausprägung allgemeiner oder herrschender Wertvorstellungen. Die erste Annahme ist empirisch kaum zu rechtfertigen: Sie würde weitgehende oder gar durchgängige Einstellungskonformität voraussetzen. Die zweite A n nahme, die auf herrschende Anschauungen rekurriert, gibt i m Grunde nur die Frage weiter: Es bleibt das Problem, ob und inwieweit sich i m 10 Müller-Dietz

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Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

bestehenden Normensystem die Wertvorstellungen bestimmter Gruppen oder Teile der Gesellschaft spiegeln, die eben faktisch die Macht zur Durchsetzung ihrer Überzeugungen besitzen. Der Zusammenhang zwischen Kriminalitätsentstehung und Normsetzungsbefugnis (-monopol) liegt klar zutage: Erst die Norm eröffnet die Möglichkeit zur Übertretung. Wer den Normsetzungs- und -durchsetzungsprozeß bestimmt, legt damit fest, was und wer kriminell ist. Hier findet also eine erste Auswahl aus der Vielzahl möglicher Verhaltensweisen, eine erste Rollenzuschreibung statt, die ihrerseits zwangsläufig weitere soziale Mechanismen i m Gefolge hat. Es geht dabei nicht allein, ja nicht einmal i n erster Linie u m das juristische und zugleich rechtssoziologische Problem, wie Rechtsnormen, insbesondere Gesetze, Zustandekommen, sondern vornehmlich u m sozialpsychologische Phänomene der Machtbildung und -behauptung sozialer Herrschaft innerhalb von Gruppen und ganzen Gesellschaften. Sicherlich ist die Problematik der Normentstehung nicht nur eine Machtfrage; aber sie ist es zumindest auch. Insofern kommt eine weiter ausholende K r i m i nalätiologie, die sich nicht durch Denkverbote oder Tabus behindern lassen w i l l , an dem Problem der Entstehung von Macht nicht vorbei. Der Soziologe Popitz hat Humes alte Frage, wie es denn geschehe, „daß wenige Macht über viele gewinnen", wieder aufgenommen und die „Prozesse der Machtbildung", die eben nicht zuletzt zu bestimmten Normierungen und Sanktionierungen führen, an den allerdings exzeptionellen Beispielen „geschlossener" Gesellschaften zu verdeutlichen gesucht. Ähnlich hat Harald Mey, ausgehend vom Grundproblem Theodor Geigers, „wer die Gesellschaft eigentlich vertreten kann oder darf und wie er dazu kommt", „Machtdifferenzierung und Schichtzugehörigkeit als Grundlage der Rollennormen" begriffen. Belege für jene Problemat i k liefert gerade die Entstehung von Strafrechtsnormen zur Genüge. Die beliebte Vokabel, sie seien Ausdruck des Zeitgeistes oder herrschender Wertvorstellungen, entspringt, wie w i r gesehen haben, ebenso naiver wie vordergründiger Betrachtungsweise; ihr Erklärungswert ist verhältnismäßig gering. Weiter führt hingegen schon eine Analyse des Normensystems und eine Konfrontation rechtlich verbotener Verhaltensweisen m i t erlaubten oder unverbotenen Schädigungen Dritter. Denn sie kann möglicherweise Rückschlüsse nicht nur auf das dahinterstehende Menschenbild, sondern auch auf die Träger und Agenten des Normierungsprozesses zulassen. Einen erheblichen Umfang nimmt i n unserem Strafgesetzbuch die kasuistische und detaillierte Regelung des Schutzes von Eigentum und Vermögen ein. Vielzitiertes und -kritisiertes Musterbeispiel für die dem StGB anscheinend zugrundeliegende Einschätzung des Verhältnisses von Person zur Sache bildet die Strafbarkeit der versuchten Sachbe-

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Schädigung und die Straflosigkeit der versuchten Körperverletzung. Daß hier möglicherweise grundlegende Relationen i n der Bewertung von Rechtsgütern und Verhaltensweisen nicht mehr stimmen, zeigt die Diskussion u m die Themen Wirtschaftskriminalität und Umweltverschmutzung. Das besitzbürgerliche Denken, das hinter dem tradierten Normensystem steht, verschließt weitgehend die Augen vor der Tatsache, daß es sozialschädliche Verhaltensweisen gibt, die weitaus einschneidender i n die Entfaltungsfreiheit und Lebensbedingungen Dritter eingreifen, als es sich der Strafgesetzgeber von 1871 träumen ließ. Während das Strafrecht auf der einen Seite jeden, auch den geringsten Diebstahl geahndet wissen w i l l (der übrigens i n manchen Erscheinungsformen und Sozialbereichen nahezu konformes Verhalten bedeutet), ignoriert es auf der anderen Seite die Tatsache, daß bestimmte gravierend sozialschädliche Verhaltensweisen auf steuerlichem und w i r t schaftlichem Gebiet als legal behandelt werden. Bezeichnenderweise haben Wirtschaftskriminalisten festgestellt, daß Ober- und Mittelschicht über größere Möglichkeiten erlaubter Steuerverkürzung verfügen als die Unterschicht (Zirpins/Tersteegen). Unter diesen Umständen kann es nicht überraschen, daß man das StGB als „kapitalistisches" Strafrecht, unsere Strafrechtspflege als „Arme-Leute-Justiz" (Berrà) oder „Klassenjustiz" (Ostermeyer) charakterisiert hat. Es paßt i n dieses Bild, daß das jetzige Straf recht einen, wenn auch unvollkommenen Schutz des Einzelnen bietet, hingegen die Sicherung sozialer Belange — etwa ökonomischer und steuerlicher A r t — weitgehend hintanstellt (Tiedemann). Insofern steht das Fortwirken wirtschaftsliberaler Tendenzen i n der noch geltenden Rechtsgüterordnung i n einem seltsamen Kontrast zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen des sozialen Rechtsstaates. Ähnliche Inkonsistenzen weist das Strafrechtssystem i m Bereich des Umweltschutzes auf, wo die wirtschaftliche und technische Entwicklung gleichfalls zu einer Überprüfung der bestehenden Wertordnung veranlassen müßte. Die Frage erscheint naheliegend, ob denn das Normensystem nicht Ausdruck bestimmter schichtgebundener Vorstellungen ist, ob es nicht — u m es überpointiert zu formulieren — faktisch dem Schutz bestimmter gesellschaftlicher Machtpositionen dient. Solche Feststellungen drängen leicht zu Überlegungen, von denen sich Marx i n seinen bekannten „Debatten über das Holzdiebstahlgesetz" leiten ließ: der Vorstellung von der „natürlichen", d. h. der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechenden Verbotsnorm, die indessen i m W i derspruch zu der tatsächlich geltenden steht und damit das „wahre", d.h. richtige Recht perhorresziert. I n diesem Sinne hielt Marx den „Herrschenden" entgegen: „So wenig es euch gelingen wird, den Glauben zu erzwingen: hier ist ein Verbrechen, wo kein Verbrechen ist, so sehr w i r d es euch gelingen, das Verbrechen selbst i n eine rechtliche Tat 10·

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zu verwandeln." Jedoch kann die Frage, ob w i r es bei dieser A r t von Selektion verbotener Verhaltensweisen tatsächlich m i t Auswirkungen gesamtgesellschaftlicher Steuerungsmechanismen zu t u n haben, hier nur aufgeworfen, aber nicht beantwortet werden. Jedenfalls deutet manches darauf hin, daß jenes Phänomen zu der auffallenden Tatsache der Uberrepräsentierung unterer sozialer Schichten innerhalb des strafrechtlichen Sanktionierungsprozesses beiträgt. Dieser Gesichtspunkt spielt konsequenterweise auch für das weitere Problem eine Rolle, ob und inwieweit es den Trägern oder Agenten der sozialen Kontrolle gelingt, bestehende Normen durchzusetzen. Hier findet wiederum ein Selektionsprozeß statt, der zu einer bestimmten Ausw a h l von Normbrüchen und Normverletzungen aus der Vielzahl von Verstößen und Tätern führt. Offen ist dabei immer noch, ob diesem Phänomen gewisse Gesetzmäßigkeiten zugrundeliegen oder ob das jeweilige Ergebnis Produkt des Zufalls ist. I n jedem Fall steht aber fest, daß der staatliche Sanktionsapparat nur einen Bruchteil der wirklichen Normverletzungen erfaßt. Die bekanntgewordene Kriminalität, wie sie sich etwa i n den polizeilichen Kriminalstatistiken niederschlägt, bildet lediglich einen schmalen Ausschnitt aus der i n der Gesellschaft tatsächlich vorhandenen. Fast jedermann ist die Problematik der sog. Dunkelziffer gegenwärtig, sobald man an die Beispiele des Diebstahls und der Abtreibung erinnert. Man hat i n diesem Zusammenhang das recht plastische B i l d der „Spitze eines Eisbergs" gebraucht, die i n Gestalt der von den Strafverfolgungsorganen ermittelten Kriminalität zum Vorschein kommt (Christie/Andenaes/Skirbekk). Schätzt man doch bei manchen Delikten die Dunkelziffer auf nahezu 99 % (Popitz). Bekannt geworden ist jenes Phänomen vor allem unter dem Stichwort „whitecollar-Kriminalität", deren Entdeckung das Verdienst des amerikanischen Kriminologen Sutherland ist. Ausgangspunkt war die kriminalstatistisch zu belegende Tatsache einer schichtspezifischen Auswahl ermittelter und verurteilter Täter. Daß diese Delinquenten zum überwiegenden Teil Personen m i t niedrigem sozialökonomischem Status sind, also der sozialen Unterschicht angehören, hat man lange Zeit m i t A r mut und geringem Bildungsniveau zu erklären versucht. Danach wäre das Verbrechen eine weitgehend schichtgebundene Erscheinung, würde also i n den Oberklassen nur i n reduziertem Umfang vorkommen. Sutherland hielt indes dieser Annahme Ergebnisse amerikanischer Untersuchungen entgegen, die gerade von einer ausgedehnten Delinquenz von Angehörigen der Ober- und Mittelschicht i n Wirtschaft und Politik zeugten. Die Kosten solcher „white-collar-Kriminalität" schätzte er u m ein Mehrfaches der Kosten der bekannten „normalen" Kriminalität ein. Gleichwohl wurde sie i n weitaus geringerem Maße als diese entdeckt und verfolgt. Die Schlußfolgerung bietet sich an, daß der jeweilige so-

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zialökonomische Status des Täters auch i m Rahmen der Strafverfolgung als Selektionsfaktor w i r k t und damit letztlich die Zusammensetzung des Personenkreises der verurteilten Täter entscheidend beeinflußt. Wie richtig oder falsch eine solche Annahme immer sein mag: Tatsache ist jedenfalls, daß auch heute „sich der Großteil der Delinquenten und Kriminellen aus den unteren sozialen Schichten rekrutiert" (Sack, Moser). Dem entspricht das Ergebnis einer norwegischen Untersuchung, wonach „eine Person aus der Oberklasse bedeutend größere Chancen hat, einer Anklageerhebung zu entgehen, oder — wenn sie angeklagt w i r d — freigesprochen zu werden, als eine Person der Arbeiterklasse" (Sveri). Das setzt sich dann konsequenterweise i m Strafvollzug fort. Die Insassen unserer Strafanstalten rekrutieren sich weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, aus der sozialen Unterschicht. Vor allem Untersuchungen i n Jugendstrafanstalten haben ergeben, daß der Prozentsatz der aus Arbeiterfamilien stammenden Gefangenen bis zu 7 5 % reicht, daß die Zahl der Delinquenten m i t niedrigem Bildungsstand i m Verhältnis zur gleichaltrigen Bevölkerung erheblich überrepräsentiert ist (Quensel). Entsprechendes gilt für den hohen Anteil erwachsener Strafgefangener m i t mangelndem beruflichem Abschluß (Neu). Gerade die Gruppe der Rückfalltäter, die i n zunehmendem Maße das B i l d der Strafanstalten prägt, setzt sich vorwiegend aus Angehörigen der sozialen Unterschicht zusammen. Die Schichtproblematik w i r d also auf sämtlichen Stufen des Sanktionierungsprozesses i n mehr oder minder starkem Umfang sichtbar. Freilich harrt dieses Phänomen der „sozialen Stigmatisierung" noch einer plausiblen Erklärung. Die Annahme, daß die Instanzen der sozialen Kontrolle i m wesentlichen von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht beherrscht werden, so daß Täter dieser Gruppe entsprechende Aussichten haben, unentdeckt zu bleiben oder ungeschoren davonzukommen, hat zwar manches für sich, bedürfte aber noch weiterer empirischer Überprüfung. Die „sozialen Folgekosten" solcher Erscheinungen jedenfalls sind eklatant: Extrapoliert man die Feststellung, „daß die Steuern u m fast ein Drittel gesenkt werden könnten, wenn alle Steuern ehrlich gezahlt würden" (Tiedemann), daß Steuerhinterziehungen und Erschleichungen staatlicher Subventionen zur Verkürzung sozialstaatlicher Ansprüche führen (Wassermann), auf den gesamten ökonomischen Bereich, so w i r d deutlich, welchen gesellschaftlichen Verzerrungen die inkriminierte Wertordnung und Verfahrenspraxis Vorschub leisten. Zugespitzt — nur scheinbar t r i v i a l — formuliert, bedeutet das jedenfalls: Krimineller w i r d man nicht allein durch die Begehung von Straftaten; man muß auch erwischt werden. Geschieht das nicht, bleiben also soziale (und rechtliche) Sanktionen aus, kann der Täter unbe-

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helligt seine bisherige Rolle als ehrbares Mitglied der Gesellschaft weiterspielen. Manchen mag diese Feststellung befremdlich, ja unheimlich erscheinen, schließt sie doch notwendig die Konsequenz i n sich, daß sich etliche Täter unter der straffreien, scheinbar nichtkriminellen Bevölkerung befinden, frei umherlaufen, ohne jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden. Man kann natürlich den Faden solcher Überlegungen scherzhafterweise bis zu der — theoretisch sicher nicht bestreitbaren — Möglichkeit ausspinnen, daß gerade unter derartigen Gelegenheitsdelinquenten Täter sind, die für besonders exemplarische Strafen eintreten. Freilich müßte auch diesem Personenkreis die Unschuldsvermutung der Menschenrechtskonvention zugutekommen, wonach jedermann bis zur rechtskräftigen Aburteilung als Unschuldiger behandelt werden muß. Jedenfalls weist auch das Phänomen der Dunkelziffer auf die sozialpsychologische Problematik einer strikten Unterscheidung zwischen als solchen registrierten Kriminellen und Nichtkriminellen hin. Es schließt zwar sicher nicht aus, daß einzelne Tätergruppen, vor allem aus dem Bereich der Rückfall- und Schwerkriminalität, sich i n Persönlichkeitsstruktur und Verhaltensmustern — von der Delinquenz einmal abgesehen — von der Normalbevölkerung abheben: es läßt jedoch ebenso sicher die pauschale und undifferenzierte Gegenüberstellung von K r i minellen und Nichtkriminellen fragwürdig erscheinen. Skandinavische Kriminologen tendieren auf Grund sog. self-report-Untersuchungen sogar zu der Annahme, daß Gelegenheitsdelinquenz bis zu einem gewissen Grade alterstypisch sei. John Barron Mays sprach es kürzlich aus: „Der größere Teil aller Delikte w i r d von ganz gewöhnlichen Personen begangen, die uns sehr stark gleichen." Das ändert freilich nichts an der Feststellung, daß der Selektionsmechanismus von Strafrecht und Strafverfahren — aus welchen Gründen auch immer — schichtspezifischen Charakter trägt. Vergleicht man nämlich den Umfang der polizeilich erfaßten Jugendkriminalität m i t der mutmaßlich existierenden, dann w i r d deutlich, i n welchem Maße der skizzierte Selektionsprozeß am Phänomen der Rollenzuschreibung beteiligt ist. Wieviel oder wie wenig Gewicht man dem „Prozeß der sozialen Kontrolle" beilegen mag — sicher scheint jedenfalls, daß dieser Gesichtspunkt einen „bedeutsamen Verursachungsfaktor für abweichendes Verhalten" bildet (Sack). Dann erhöht sich aber notwendig das Risiko weiterer Delinquenz bei demjenigen, der von den Instanzen der sozialen Kontrolle erfaßt wird, während umgekehrt dem unentdeckt gebliebenen Täter wenigstens jener Prozeß der „sozialen Stigmatisierung" erspart wird. Er w i r d also zumindest von der kriminalisierenden „Verstärkerwirkung" verschont, die von einem solchen Prozeß ausgeht. Insofern mag man — zugegebenermaßen zynisch (wenn man das

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Ergebnis der Prozedur ins Auge faßt) — auch von einem heilsamen Effekt des Dunkelfeldes sprechen. VI Die Tatsache, daß offenkundig Zusammenhänge zwischen der sozialen Schichtung der Bevölkerung und dem Sanktionierungsprozeß bestehen, gewinnt noch an Bedeutung, vergegenwärtigt man sich den „stigmatisierenden Effekt der Strafe" (Sveri). Daß, wer bestraft ist, auf Mißtrauen und Ablehnung stößt, ist eine Binsenweisheit. Hier spielt sich nicht selten ein verhängnisvoller Kreislauf ein. Ist jemand aufgrund seiner Straffälligkeit und seiner Strafverbüßung als Krimineller abgestempelt, pflegt ihn seine Umgebung entsprechend einzuschätzen und zu behandeln. Man traut i h m eher die Begehung weiterer Straftaten als das Gegenteil zu. Dabei w i r k t der Faktor der Schichtzugehörigkeit leicht als Verstärker der latenten Stigmatisierungstendenz. Wer delinquiert und der sozialen Unterschicht angehört, ist i n der Gesellschaft entsprechend „gezeichnet". Die Verhaltenserwartungen der Umgebung zielen, obgleich weitere Delinquenz natürlich unerwünscht erscheint, auf Wiederholung und Rückfall. Solche Verhaltenserwartungen prägen sich häufig i n Prozessen der Ausstoßung des Delinquenten, der Distanzierung von i h m aus und nähren korrespondierende Einstellungen des Verurteilten. Wer als ohnehin sozial „Gezeichneter" obendrein noch Schwierigkeiten und Widerstände erfährt, w i r d leicht resignieren und sich i n seiner Außenseiterrolle bestätigt fühlen. Wie auch sonst Konformitätsdruck i n Anpassung mündet, w i r d hier der Delinquente auf seinen Status gleichsam fixiert. Das äußert sich nicht zuletzt i n der Befriedigung über das Eintreffen einer schlechten Prognose. So erblickt man etwa i n einer schematischen Anwendung der Glueck'sehen Prognosetafeln nicht selten die Gefahr, „daß die Testinstrumente selbst diskriminierend wirken, ja daß durch sie die Rollenzuschreibungen zustande kommen, die das delinquente Verhalten erst hervorrufen" (Soukup). Die Voraussage des späteren Rückfalls gerät damit zum A l i b i für das eigene ablehnende Verhalten gegenüber dem Delinquenten. Man hat diesen — hier stark vereinfacht und modellartig beschriebenen — Vorgang wiederholt als Prozeß des gegenseitigen Sich-hinauf-Schaukelns charakterisiert, an dem gleichermaßen die Instanzen der sozialen Kontrolle, der Delinquente selbst und seine soziale Umgebung beteiligt sind (Quensel). I n kybernetischer Sicht erschiene er als feed-back-Prozeß. Freilich würde die Kenntnis der Tatsache, daß jemand delinquiert hat, wohl noch nicht i n vollem Umfang jene soziale Beziehungsstruktur erklären. Manche Anzeichen sprechen dafür, daß sie durch weitverbreitete Vorurteile mitgeprägt ist. Belege dafür wären durch die Vorurteilsforschung und demoskopische Untersuchungen beizubringen. Noch

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liegen allerdings zureichende empirische Analysen — wie etwa i n den USA — bei uns nicht vor. Immerhin weisen bisherige Ergebnisse der Demoskopie auf ein Phänomen hin, das weitverbreitet zu sein scheint und hinsichtlich verschiedenster sozialer und politischer Probleme anzutreffen ist: „Meinungsumfragen stoßen immer wieder auf ein beklagenswertes Desinteresse oder auf ein hohes Maß falscher oder unvollständiger Informationen" (Ernst Wolfgang Buchholz). Und immerhin darf man auf Grund verschiedener Meinungsumfragen wohl vermuten, daß Delinquenz schlechthin weitgehend m i t schwerer Kriminalität identifiziert, diese selbst aber erheblich überschätzt wird. Der vielfach unkritische Konsum der Massenmedien nährt so Vorstellungen von der „Bösartigkeit" und Gefährlichkeit des Kriminellen, die zwar hinsichtlich einer statistisch geringen Zahl, aber keineswegs hinsichtlich der großen Mehrheit der Delinquenten gerechtfertigt erscheinen. So muß der exzeptionelle Einzelfall vielfach als Exempel für „das" Verbrechen schlechthin herhalten. Starke Fehleinschätzungen der Tötungskriminalität i n der Öffentlichkeit deuten darauf h i n (von Oppeln-Bronikowski). „Die Klischeevorstellung vom Kriminellen als maskiertem Gewalttäter oder als Sträfling i m gestreiften Anzug hat m i t der Wirklichkeit nichts gemein, denn der Kriminelle ist nur ein Heimatloser. Aber dieses K l i schee baut Hemmungen ab" (Ostermeyer). Haben sich solche Vorstellungen einmal durchgesetzt, sind Korrekturen entsprechend der Realität — auch und gerade über die Massenmedien — nur schwer möglich. Wie w i r aus Untersuchungen über Massenkommunikation wissen, tendiert der Konsument zur Selektionierung von Informationen i m eigenen vorgefaßten Sinne; er möchte sich gleichsam bestätigt sehen: „das Publikum neigt dazu . . . jene Antworten herauszulesen, die i n die vertraute Meinung hineinpassen" (Urs Jaeggi). Insofern überträgt sich das negative Image, das generell dem Kriminellen anhaftet, auf den einzelnen Delinquenten, selbst wenn dessen Persönlichkeitsbild der Standardauffassung widersprechen sollte. Es kommt hinzu, daß K r i m i n a l i tät schon als abweichendes Verhalten — ohne Rücksicht auf seine etwaige Sozialschädlichkeit — dem Verdikt der normkonformen Mehrheit verfällt. A l l e i n die Tatsache der Devianz begründet Mißtrauen, schafft kritische Distanz, die bis zur Freund-Feind-Haltung reichen kann. Wer nun jene negative soziale Rolle spielt — fast möchte man sagen: zu spielen verurteilt ist —, tut sich dementsprechend allemal leichter, wenn er dem Vorurteilsschema gerecht zu werden versucht, als wenn er sich allgemeinen Erwartungen zuwider u m eine neue gesetzeskonforme Rolle bemüht. Das ist vergleichbar den Anpassungszwängen, wie sie sich — ebenfalls unter negativem Vorzeichen — i n der Strafanstalt traditioneller Prägung vorfinden. Das Verhalten des Delinquenten

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kommt so den Erwartungen der Gesellschaft entgegen — ebenso wie diese sich weitgehend dessen Vorstellungen entsprechend verhält. Verfehlt wäre es allerdings, darin eine bewußte Entscheidung der Gesellschaft gegen den Straftäter zu erblicken. Das käme einer Projizierung des Bildes vom „bösen" Kriminellen auf eine antisoziale Gesellschaft gleich. So viel oder so wenig Kriminalität gezielte, kalkulierte Auflehnung gegen die Gesellschaft bedeutet — das t r i f f t sicher für die Regel nicht zu —, so viel oder so wenig w i r d man dieser selbst unterstellen dürfen, daß sie den Prozeß der Stigmatisierung beabsichtigtermaßen betreibt, u m etwa m i t den Mitteln der sozialen Kontrolle bestimmte Gruppen der Bevölkerung beherrschen oder gar unterdrücken zu können. Einmal wäre zu fragen, was „Gesellschaft" i n diesem Sinne überhaupt heißt. Gemeint sein könnten doch immer nur diejenigen Gruppen, i n deren Händen sich die Instanzen der sozialen Kontrolle befinden. Was aber den staatlichen Machtapparat angeht, so läßt sich für den Normalfall rechtlich geordneter Verhältnisse schwerlich bezweifeln, daß i h m gerade an der Eindämmung der Kriminalität und nicht an ihrer Ausdehnung sowie an der negativen Fixierung von Straftätern gelegen ist — mögen auch die zu diesem Zweck eingesetzten M i t t e l wenig geeignet erscheinen. So hat Sveri etwa darauf hingewiesen, daß für den Staat die „soziale Stigmatisierung" keineswegs ein gewollter Effekt, daß sie vielmehr eher durch die „Intoleranz der Allgemeinheit gegenüber abweichenden einzelnen Menschen" bedingt sei. Von totalitären Staatsformen abgesehen dürften jegliche empirische Belege dafür fehlen, daß Strafsanktionen dem Ausbau und der Befestigung gesellschaftlicher Machtpositionen dienen (sollen) — wie sehr auch das Verhältnis von sozialer Schichtung und Sanktionierungsprozeß nach Erklärung verlangen mag. Dem Anspruch auf eine kriminalätiologische Theorie würde solcher Reduktionismus, der die Klassenstruktur der Gesellschaft und deren Herrschaftsverhältnisse zur Kriminalitätsursache schlechthin befördern möchte, schwerlich genügen. Insofern trägt jeder Versuch, Kriminalitätsentstehung wesentlich m i t Hilfe sozioökonomischer Kategorien erklären zu wollen, die Gefahr i n sich, zu den monokausalen und spekulativen Betrachtungsweisen klassischer Observanz zurückzukehren. Nicht selten glaubt man darin eine — freilich von billigenswerten Motiven getragene — Parteinahme zugunsten der unteren sozialen Schichten zu erkennen, die zwar menschlich verständlich, aber wissenschaftlich damit noch keineswegs legitim sei (Kaiser). Wenig überzeugend erscheint hingegen der Einwand, i n der Erwachsenenkriminalität hebe sich die — für die Jugendkriminalität typische — schichtsoziologische Zuordnung weitgehend auf (Suermann/Wolf). Denn er läßt ja gerade unberücksichtigt, daß die Annahme mehr oder weniger gleicher Delinquenzbelastung aller sozialer Schichten (Sutherland)

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kein Korrelat i n den Ergebnissen des Selektionsprozesses findet. Gleichwohl w i r d man einer ausschließlich oder vorwiegend sozialökonomischen Deutung des Phänomens m i t Zurückhaltung begegnen müssen. Diese Feststellung läßt sich auch dann treffen, wenn man — wie es gegenwärtig häufig geschieht — das Schichtproblem für den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis und zur Lösung der K r i m i n a l i tätsfrage ansieht. VII I n der Tat w i r d dadurch ein erheblicher Teil der aktuellen kriminologischen Diskussion absorbiert. W i r können dabei das interessante Phänomen beobachten, daß sich i n jener Fragestellung unterschiedliche, ja kontroverse Ansätze begegnen. Das prägnanteste Beispiel dafür bilden die kriminalsoziologischen Kriminalitätstheorien einerseits (Sack) und die tiefenpsychologischen/psychoanalytischen Kriminalitätstheorien andererseits (Moser), i n denen — freilich wissenschaftlich verschlüsselt — sich das „real antagonistische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft" (Horn) widerspiegeln mag. I n beiden Theoremen spielt das Schichtproblem eine Rolle; „ n u r " ist sein Stellenwert verschieden. Der Prozeß der Rollenzuweisung und sozialen Stigmatisierung, i n Gang gesetzt und gehalten durch die Agenten der sozialen Kontrolle, fungiert i n soziologischer Sicht als entscheidender Kriminalitätsfaktor. Delinquent w i r d man hiernach — vereinfacht ausgedrückt — durch normative Festlegungen und Selektionierung i m Rahmen gesellschaftlicher Sanktionsprozesse. Diesem Konzept liegt also ein „soziologischer Bezugsrahmen" (Sack) zugrunde. Dem steht der „psychologische Bezugsrahmen" gegenüber, der freilich i n seiner heutigen Ausprägung nur noch bedingt so umschrieben werden kann. Denn die vor allem bei Kriminalsoziologen beliebte Entgegensetzung von individuellem Täter und sozialem System (Sack) nimmt durch ihre naivverkürzende Charakterisierung jenes Spannungsverhältnisses einen Gutteil der eingangs erwähnten kriminologischen Differenzierungsbestrebungen wieder zurück. Immerhin ist daran richtig, daß die psychologische Gegenposition wesentlich beim Individuum und seiner Entwicklung zum Kriminellen ansetzt. Doch w i r d dieser Ablauf — anders als etwa i n der älteren psychoanalytischen Literatur — nicht mehr nur als Ausdruck individueller psychischer Beschädigungen und Deformationen verstanden, sondern gleichzeitig i n einen sozialen Kontext eingebettet. Wurde K r i m i n a l i t ä t i n jener Sicht ursprünglich vielfach als sozial inakzeptabler Versuch zur Lösung seelischer Konflikte und Spannungen interpretiert, so glaubt heute die wiederbelebte psychoanalytische/tiefenpsychologische Forschung innerfamiliäre Lebensbedingungen und äußere Umweltstrukturen i n die kriminalätiologische Betrachtung einbeziehen zu müssen (Moser). Gewiß bilden auch hier see-

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lische Fehl- und Unterentwicklungen i n der Kindheit und i m Jugendalter den Ausgangspunkt. Aber sie werden weitgehend auf „defizitäre Familienstrukturen" (Moser) zurückgeführt, wie sie gerade i n der sozialen Unterschicht i n gehäuftem Maße auftreten. Wenn es richtig ist, daß hier vielfach i m Hinblick auf „sozialstrukturelle Belastungen der Sozialisationsfähigkeit der Familie" (Moser) die Reifeentwicklung gestört, die Identitätsbildung unterblieben ist, seelische Funktionen verkümmert sind, dann ist die soziale Vermittlung scheinbar individuell bedingter Kriminalität offenkundig. Dann muß es aber auch Ziel der K r i minalätiologie sein, Zusammenhänge zwischen schichtspezifischen Sozialisationsbedingungen und Kriminalitätsgenese herzustellen. I n der Tat werden für die Gruppe der chronischen Rezidivisten unter den k r i minellen Jugendlichen i n zunehmendem Maße Erklärungen angeboten, welche die Ausbildung kriminogener Charakterstrukturen auf „ökonomischen, psychischen und sozialen Druck" zurückführen, der „auf unterprivilegierte Unterschichtfamilien" ausgeübt werde (Moser). Das konvergiert i n gewissem Betracht m i t amerikanischen Untersuchungen zum Erziehungsstil der Eltern, der gleichfalls an die jeweilige soziale Schicht gebunden erscheint. Danach tendiert das Erziehungsverhalten i n der Unterschicht zu „Anpassung" und „Konformität", i n der Mittelschicht dagegen mehr zu „Toleranz" und „Gewährenlassen". Dementsprechend glaubte Thomae i m Anschluß an Lewin konstatieren zu müssen: „Niederer sozio-ökonomischer Status schafft eine Restriktion und Absperrung des psychologischen Lebensraumes . . . erhöhter sozialökonomischer Status schafft erhöhte Offenheit." W i r sehen hier deutlich den veränderten Stellenwert der Schichtproblematik. Während i n soziologischer Sicht die Zuweisung der kriminellen Rolle i m Rahmen des Selektionsprozesses zum entscheidenden Moment der Kriminalitätsentwicklung wird, sieht die sozialpsychologische Interpretation darin eher „Besiegelungs-Vorgänge, denen Entfaltungsbzw. Deformationsprozesse lebensgeschichtlicher A r t vorausgegangen sind, die an ihren Subjekten meßbare psychische Folgen hinterlassen haben" (Moser). I n letzter Konsequenz heißt dies, daß der Selektionsund Verurteilungsvorgang bereits auf eine „gekrümmte, infantilisierte, beschädigte soziale und psychische Identität" t r i f f t (Christ), das Scheitern der Sozialisation also nicht erst herbeiführt, sondern nur mehr bekräftigt. Dann wäre i n der Tat die Gesellschaft Adressat der Forderung nach Resozialisierung, wären die Vokabeln von der „schuldigen" (Voigts), der „asozialen Gesellschaft" (Hartmut von Hentig) nicht jene billigen Schlagworte, m i t denen man die Mißerfolge i n der Verbrechensbekämpfung zu kompensieren sucht. Aber auch dann behielte die Warnung vor Klischeevorstellungen ihren Wert. Wenn die normkonforme Mehrheit dazu tendiert, den Kriminellen zum „Sündenbock" für

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Die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität

soziale Mängel und Versäumnisse zu stempeln, so würde es uns gewiß nicht weiterhelfen, umgekehrt den anscheinend oder scheinbar gesetzestreuen Bürger zum „Sündenbock" zu stilisieren; denn auch hier könnte die fatale Tendenz zur eigenen Entlastung und zur Fremdprojektion von Fehlern ihre Eigengesetzlichkeit entwickeln. Freilich erheben jene soziologischen und psychologischen K r i m i n a litätstheorien nicht den Anspruch, Kriminalität schlechthin erklären zu wollen; für die akzidentielle, situationsbedingte Delinquenz wären möglicherweise andere Überlegungen anzustellen. Aber sie zielen auf jenen „Kernbereich" der Kriminalität, der sich bisher so sehr theoretischer Analyse und praktischer Behandlung entzogen hat: auf die schwere Jugendkriminalität, die dann häufig genug i n Rückfallkriminalität mündet. Ob solche Erklärungen w i r k l i c h überzeugend oder stichhaltig sind, mag zweifelhaft erscheinen, da Kriminalität nun einmal ein differenziertes Phänomen ist und Pauschalurteilen nicht zugänglich. Sicher bedürfen sie empirischer Überprüfung. Eines w i r d man ihnen jedoch nicht bestreiten können: Jene aufklärerischen, humanen I m pulse, die schon die klassischen Kriminologen seit Beccaria bewegt und zur Revision traditioneller Leitbilder veranlaßt haben.

Entscheidungsrecht und Mitverantwortung im kommenden Strafvollzugsgesetz

I Es gehört zu der Eigenart der Strafanstalt als eines weitgehend selbständigen und nach außen abgeschlossenen sozialen Gebildes, daß fast keines ihrer Probleme nur unter einem einzigen wissenschaftlichen und praktischen Gesichtspunkt angegangen werden kann. Immer greifen verschiedene Faktoren ineinander. Fast regelmäßig führt die Bevorzugung eines Aspekts zur Verzerrung des Gesamtbildes. So mannigfaltig sich die Strafanstalt aus der Sicht verschiedener Fachwissenschaften und Berufssparten darstellt, so entscheidend kommt es darauf an, über der speziellen Perspektive den Blick aufs Ganze nicht zu verlieren. Das alles mag banal klingen, muß aber gleichwohl h i n und wieder i n die Erinnerung zurückgerufen werden, w e i l bekanntlich die meisten Analysen des Strafvollzugs an einer Verabsolutierung bestimmter Methoden und Standpunkte kranken. Das vielzitierte Beispiel der Rollenkonflikte innerhalb des Strafvollzugspersonals macht dies zur Genüge deutlich. Es liegt auf der Hand, daß auch die Fragen des Entscheidungsrechts und der Mitverantwortung von jener Problematik betroffen sind. So fallen sie sicher i n die Kompetenz des Juristen, der sich m i t ihrer Regelung i m Strafvollzugsgesetz auseinanderzusetzen hat. Dabei sind verschiedene Rechtsgebiete angesprochen. Fragen der Leitung einer Strafanstalt, ihrer amtsmäßigen Gliederung, der Zuständigkeitsverteilung und der Trennung von Verantwortungsbereichen gehen vor allem das Verwaltungsrecht (das Organisationsrecht) und das Beamtenrecht an. Dabei fließen natürlich gleichfalls verwaltungswissenschaftliche Gesichtspunkte ein. Mittelbar ist auch das Strafrecht engagiert, wenn und soweit es Aussagen über die Aufgaben des Strafvollzuges macht. Denn das Problem, wie eine Anstalt zu führen ist, läßt sich letztlich nicht lösen ohne eine Beantwortung der (vorausgehenden) Frage, welchen Zwecken sie eigentlich dient. Neben dem Juristen sind ferner der Sozialpädagoge und Sozialpsychologe zuständig. Sind doch überall dort, wo es u m Fragen der Menschenführung geht, pädagogische und psychologische Gesichtspunkte i m Spiel. Nur diese können etwas über die komplizierten Interaktions- und Sozialisationsvorgänge i m zwischen-

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menschlichen Bereich aussagen. Die Soziologie kann gleichfalls ein M i t spracherecht beanspruchen. Die Strafanstalt ist als besonderes soziales Gebilde seit einiger Zeit Gegenstand der Organisationssoziologie und ihrer Bemühungen, strukturelle Eigenarten und Gesetzmäßigkeiten solcher Institutionen aufzudecken. Genau genommen kann man dabei selbst an wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen nicht vorübergehen. So könnte eine Erörterung der Leitungs- und Verantwortungsfunktionen i n einer Anstalt verbunden werden m i t der Entwicklung eines volkswirtschaftlichen Optimierungsmodells, u m — etwa auf der Grundlage der Mittel-Zweck-Relation oder der cost-benefit-Analyse — Kriterien für ein möglichst effizientes Leitungssystem herauszuarbeiten. Ebenso ist der Politologe gefragt, auch wenn man die Politikwissenschaft nicht auf den engeren Gegenstandsbereich einer „Demokratiewissenschaft" eingrenzt. Denn Fragen der Amtsorganisation lassen sich nun einmal nicht ablösen von den politischen Strukturprinzipien des Staates. Gerade daran zeigt sich übrigens die Richtigkeit der eingangs getroffenen Feststellung. Der sozialpädagogisch-psychologische, der organisationssoziologische, der nationalökonomische und der politologische Ansatz gehen zwar jeweils das Thema von verschiedenen Standorten aus an, berühren und überschneiden sich jedoch immer wieder i n bestimmten Fragestellungen. Eine sehr eindrucksvolle Parallele dazu böte eine Analyse der Strafanstalt aus der Sicht der verschiedenen, i n ihr engagierten Berufe und sozialen Rollen. Ob es der Aufsichts-, der Werkdienst, der soziale, der sozialpädagogische, psychologische und ärztliche Dienst, der Seelsorger, der Anstaltsleiter ist: jeder von ihnen glaubt, die Anstalt auf seine Weise sehen, seine Funktion i n der Anstalt besonders verstehen zu müssen. Das ist nur natürlich und sei hier darum ohne jede Polemik gesagt. Andererseits ist damit sehr genau die Problematik bezeichnet, die sich daraus für das Zusammenw i r k e n der verschiedenen Gruppen von Strafvollzugsbediensteten i n einer Anstalt ergibt. Die bisherigen Überlegungen sollen nun nicht der Vorbereitung auf das etwa vermißte integrative Konzept dienen, das gleichsam alle Standpunkte i n sich vereinigt. Ein solches Konzept existiert nicht. Es wäre auch sehr die Frage, ob es uns von Nutzen sein könnte. Denn i n der Überpointierung der eigenen sozialen Rolle, des Selbstbildes, das man so von sich hat, und des Fremdbildes, das sich u m uns herum entwickelt, könnten ja gerade fruchtbare Ansätze für notwendige Korrekturen und damit für Selbstkritik liegen. Meine Vorüberlegungen verfolgen vielmehr einen weitaus bescheideneren Zweck. Sie sollen verständlich machen, weshalb ein Jurist eine ausschließlich rechtliche Betrachtungsweise für verfehlt hält, andererseits aber auch jeden sozialwissenschaftlichen Monopolanspruch zurückweisen möchte. Es gibt hier

Entscheidungsrecht und Mitverantwortung

kein starres Entweder-Oder — so wenig Patentrezepte zur Lösung der Schwierigkeiten und Konflikte existieren, die i n einer Strafanstalt herrschen. II Der Katalog rechtlicher Regelungen, die sich m i t dem Thema Entscheidung und Mitverantwortung befassen, war von jeher klein. Gehen w i r die bisherigen Entwürfe und Vollzugsvorschriften durch, so zeigt sich durchweg das gleiche Bild: Die Anstalt steht unter der monokratischen Leitung des Vorstehers, Vorstandes oder Anstaltsleiters und ist hierarchisch strukturiert. Die Beteiligung der nachgeordneten Vollzugsbediensteten am Entscheidungsprozeß beschränkt sich i n aller Regel auf beratende Funktionen, etwa i m Rahmen von Beamtenbesprechungen und Anstaltskonferenzen. Ebenso wie Entscheidungen letztlich i n die Alleinverantwortung des Anstaltsleiters fallen, ist die Vertretung der Anstalt nach außen (und oben) seine Sache. Diese Konzeption, die i m übrigen am Modell der allgemeinen und inneren Verwaltung orientiert ist, findet sich etwa i n den „Reichsratsgrundsätzen" von 1923 (§§ 8, 14, 15), die i n § 15 Abs. 3 ausdrücklich sagen, daß die Beamtenbesprechung „zur Beratung des Vorstehers" dient. Der Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes von 1927 schlug i n den §§ 31 und 36 denselben Weg ein. Die Begründung hob lediglich den Wert von Beamtenbesprechungen für das Engagement der Beamten an den „allgemeinen Aufgaben der Strafanstaltsverwaltung und des Strafvollzugs" sowie an der erzieherischen Einwirkung auf den einzelnen Gefangenen hervor, ohne sich m i t dem Problem der Mitverantwortung i n irgendeiner Weise auseinanderzusetzen. Auch die DVollzO hat sich bekanntlich auf den Boden der traditionellen Regelungen gestellt. So legt Nr. 13 sämtliche Entscheidungen i n die Hand des Anstaltsleiters, der i m übrigen die Anstalt nach außen vertritt. Die Möglichkeit, Aufgaben zu delegieren (Nr. 13 Abs. 2) und Abteilungsleiter zu bestellen (Nr. 14), berührt das Entscheidungsmonopol des Anstaltsleiters nicht. Sie besteht zudem auch bei den anderen Behörden (außerhalb des Strafvollzugs). Die Dienstbesprechungen dienen i n der überkommenen Weise der Unterrichtung der Anstaltsbediensteten über wichtige Maßnahmen und Vorkommnisse und dem Gedankenaustausch (Nr. 32). Z u m Problem der Mitverantwortung äußert sich Nr. 32 Abs. 5 m i t lapidarer Kürze: „Die Besprechungen entheben den Anstaltsleiter nicht der eigenen Verantwortung." Das gilt ungeachtet der Tatsache, daß der Anstaltsleiter i n bestimmten Fällen, etwa bei der Verhängung von Hausstrafen wegen schwerer Verstöße gegen die A n staltsordnung (Nr. 188 Abs. 5), gehalten ist, sich m i t anderen Bediensteten zu besprechen. I n modifizierter Weise ist dieses Konzept i n die nunmehr vorliegenden Entwürfe eines Strafvollzugsgesetzes der Strafvollzugskommission und des Bundesjustizministeriums eingegangen. Nach

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§ 147 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs und des Vorläufigen Referentenentwurfs leitet der Anstaltsleiter „den gesamten Vollzug" und „vertritt die Anstalt nach außen". Diese ausschließliche Zuständigkeit w i r d auch durch die Bestellung sog. Gruppenleiter für Wohn- und Behandlungsgruppen (vgl. § 153) nicht aufgehoben oder eingeschränkt. § 156, der sich m i t den Konferenzen und Dienstbesprechungen befaßt, entspricht gleichfalls überkommenen Regelungen. Die Begründung zum Vorläufigen Referentenentwurf läßt eine Auseinandersetzung m i t abweichenden Organisationsprinzipien vermissen. Lediglich der kooperative Gesichtspunkt w i r d nunmehr i n den Entwürfen stärker betont. So bestimmt etwa § 8 Abs. 1, daß der Vollzugsplan „unter M i t w i r k u n g aller an der Behandlung des Gefangenen Beteiligten" erstellt wird. Die sog. Zusammenarbeitsklausel des § 155 Abs. 1, der nach der Konzeption der Entwürfe eine Schlüsselfunktion zukommen soll, verpflichtet „alle i m Vollzug Tätigen" i m Interesse des Behandlungsziels zur Zusammenarbeit. Das soll sowohl für die hauptamtlichen Vollzugsbediensteten als auch für nebenamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter gelten. Die Entwürfe sehen diese Verpflichtung, wie auch die Begründung zum Vorläufigen Referentenentwurf ausweist, i n unmittelbarem Zusammenhang mit den Konferenzen und Dienstbesprechungen. So sehr sich die Entwürfe am Leitbild der Kooperation orientieren, bleiben sie gleichwohl dem traditionellen Organisationsschema staatlicher Verwaltungen treu. Die Gründe dafür sind offensichtlich i n überkommenen verwaltungsrechtlichen und -wissenschaftlichen Vorstellungen über einen sachgerechten und optimalen Behördenaufbau zu suchen. Man hält dafür, daß allein eine monokratische Amtsführung und eine hierarchische Organisationsstruktur klare Verantwortlichkeiten und Kompetenzen gewährleisten können. Die Bindung an feste Entscheidungsbefugnisse und Regeln trage überdies rechtsstaatlichen Erfordernissen der Berechenbarkeit staatlicher Maßnahmen Rechnung und erleichtere dem Vollzugsbediensteten die tägliche Arbeit. Dem Gefangenen garantiere dieses System eine gewisse Stetigkeit der Amtsführung, für den Untergebenen bedeute es Entlastung von Verantwortung. I n der Tat scheint gerade der letztere Gesichtspunkt bestimmten Erwartungen zu entsprechen, die von Teilen des Vollzugspersonals dem Strafvollzugsgesetz entgegengebracht werden. Dieses Schema ist von der Organisationssoziologie seit Max Weber wiederholt analysiert worden. Man pflegt es gemeinhin als „klassisches" oder „bürokratisches" Modell zu bezeichnen, das für den Aufbau und die Tätigkeit staatlicher Behörden charakteristisch sei. Diese „Führungs- und Organisationstechnik" (Bahrdt) zeichnet sich durch Ubiquität und Fungibilität aus. Wesensmerkmale sind vor allem die Monopolisierung des Entscheidungsprozesses, die hierarchische Struktur und

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das Streben nach einem Höchstmaß an Rationalisierung, das die Kontrollierbarkeit und Effektivität aller Verwaltungsvorgänge gewährleisten soll. Heute gewinnt der letztere Gesichtspunkt unter dem Vorzeichen von Computertechnik und elektronischer Datenverarbeitung noch weiter an Boden. Formalisierung, Standardisierung und Transparenz aller Abläufe dienen hiernach ebenso wie die Bindung an die Amtsautorität sowie an ein möglichst straffes und dichtes System von Regeln der optimalen Verwirklichung des Organisationsziels. Schon Max Weber hat für sein 1922 entwickeltes Bürokratiemodell ein Höchstmaß an Effizienz i n Anspruch genommen. Auch dieses Modell weist einige signifikante Ubereinstimmungen m i t der staatlichen Verwaltungsorganisation auf: feste Kompetenzverteilung, Amtshierarchie, Erledigung der Aufgaben nach Sachgesichtspunkten durch fest bezahlte und ständig angestellte Amtsträger (Beamte) (Mayntz/Ziegler). Die Organisationssoziologie hat auch die Strafanstalt diesem Typus des bürokratischen Modells zugeordnet. Sie hat freilich i m Laufe der Zeit, wie gerade amerikanische Untersuchungen gezeigt haben, eine Reihe von typischen Faktoren, u m nicht zu sagen Gesetzmäßigkeiten, entdeckt, die den generellen Optimismus i n bezug auf jenes Modell jedenfalls hinsichtlich der Strafanstalten unberechtigt erscheinen lassen. Die Problematik w i r d i m wesentlichen durch das Stichwort „Organisationsziel" bezeichnet. Jede Organisation w i r d durch ein bestimmtes spezifisches Ziel, dessen Erreichung ihr auf getragen ist, definiert. Das klingt theoretisch plausibel, bereitet jedoch i n der Praxis nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Denn einmal können normativ festgelegtes und faktisch von den Mitgliedern verfolgtes Ziel auseinanderfallen. So kann — um nur ein Beispiel aus unserem Thema zu nennen — dem Strafvollzug durch Gesetz die Aufgabe der Resozialisierung gestellt sein, während man i n der Vollzugspraxis die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung als oberstes Ziel ansieht. Zum andern kann einer bestimmten Organisation die Verfolgung verschiedener, konfligierender Zwecke schon normativ übertragen sein. Dann stellen sich i n der Verwaltungspraxis die vielzitierten „Zielkonflikte" ein. Sie können aber auch i n unterschiedlichen Vorstellungen und dementsprechenden Verhaltensweisen der Mitglieder der Organisation begründet sein. Unabhängig von der Entstehungsursache und der Erscheinungsform führen i m einzelnen „Zielkonflikte" jedenfalls leicht zu Zielverschiebungen, Uberforderungen der Amtsträger, ja zur Verfehlung des „eigentlichen" oder ursprünglichen Zwecks der Organisation. Welche Konsequenzen sich daraus für die Mitglieder der Organisation ergeben, liegt klar zutage: sie stehen vor dem Problem, divergierenden, vielleicht sogar einander widersprechenden Verhaltensanforderungen gerecht werden zu müssen. 11 Müller-Dletz

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Dieses Phänomen der „Rollenüberlastung" ist hinsichtlich des Strafvollzugs durch neuere Untersuchungen weitgehend belegt. I m deutschen Bereich wäre auf die Arbeiten von Waldmann, Hoppensack und Calliess zu verweisen, für den amerikanischen Bereich wären etwa Cressey, Zald, Street/Vinter/Perrow zu nennen. Die „Zielkonflikte" der Strafanstalt (Waldmann) kulminieren vor allem i m Gegensatz von Sicherung und Verwahrung einer- und Resozialisierung andererseits. K r i m i n a l therapeutisch orientierte Institutionen sind anders organisiert und verwenden andere Techniken als Anstalten klassischen Typs, i n denen das Sicherheitsstreben dominiert. Wenn aber — wie es heute noch häufig der Fall ist — beide Zielsetzungen i m wahrsten Sinne des Wortes unter einem Dach vereinigt sind, dann stehen die Vollzugsbediensteten ständig vor der schwierigen Frage, sich für eine Zielsetzung auf Kosten der jeweils anderen entscheiden zu müssen. Ein solcher Konflikt kann sich auch i n gruppenspezifischen Frontstellungen äußern, so etwa wenn der Aufsiditsdienst den Sicherungszweck, der soziale und sozialpädagogische Dienst den Resozialisierungszweck bevorzugt. Diese Problematik hat ja nicht zuletzt die lebhafte Diskussion um die künftige Funktion und soziale Rolle des Aufsichtsdienstes beeinflußt und den Vorschlag der Strafvollzugskommission zur Folge gehabt, den Aufsichtsdienst überkommener Prägung durch einen gleichfalls an der Behandlung des Gefangenen beteiligten allgemeinen Vollzugsdienst zu ersetzen (§ 147 b). Die „Zielkonflikte" der Strafanstalt (Waldmann) resultieren freilich nicht allein aus organisationsinternen Spannungen und Verhaltenserwartungen. Sie sind nicht zuletzt auf juristische und gesamtgesellschaftliche Motivationen zurückzuführen. I n dem Maße wie Gesetzgeber u n d Rechtsprechung auf klare und eindeutige Festlegungen der Vollzugsaufgaben verzichten und damit auch praxisnahe Rollenzuschreibungen für das Strafvollzugspersonal unmöglich machen, hält es schwer, die Strafanstalten vor solchen Schwierigkeiten zu bewahren. Wenn i n der Öffentlichkeit unterschiedliche Vorstellungen vom Vollzug virulent sind, die von der Vergeltung über die Sühne, den Schutz der Allgemeinheit und die Abschreckung bis h i n zur Resozialisierung und Behandlung des Gefangenen reichen, sieht sich das Vollzugspersonal wiederum i n den Sog verschiedenartigster Verhaltenserwartungen gezogen, von denen zumindest das eine feststeht, daß sie keineswegs alle und i n gleicher Weise befriedigt werden können. Aber noch i n anderer Hinsicht lassen sich Zweifel an der Funktionstüchtigkeit des bürokratischen Organisationsmodells anmelden. Sie haben weniger m i t der spezifischen Organisationsstruktur einer Strafanstalt als m i t allgemeinen organisationssoziologischen Erfahrungen zu tun, die man i m Rahmen der Staatsverwaltung gesammelt hat. So hat etwa Merton auf den Prozeß der Ritualisierung aufmerksam gemacht,

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dem vermutlich eine Bürokratie eher und rascher anheimfällt als eine andere Organisationsform. Gemeint ist damit das Phänomen, daß i n einem stark durchreglementierten System das strikte Befolgen der Regeln zum Selbstzweck werden und damit die eigentliche Zielsetzung i n den Hintergrund drängen kann. Auch dafür gibt es i m Strafvollzug Beispiele. Besonders deutlich w i r d dies bei der Gegenüberstellung der beiden Faktoren „Ordnung" und „Resozialisierung". Sicher bilden sie keinen Gegensatz i n dem Sinne, daß sie miteinander unvereinbar wären. Doch ebenso sicher lassen sich praktische Kontroversen bei der Verwirklichung beider Ziele nicht ausschließen. Als staatliche Verwaltungsorganisation neigt eine Strafanstalt naturgemäß dazu, dem Faktor „Ordnung" einen hohen Stellenwert beizulegen. Ordnung i m Sinne eines reibungslosen Funktionierens heißt Abbau aller Konfliktstoffe, Beseitigung störender Elemente. T r i v i a l ausgedrückt läßt sich diese Tendenz i n den beiden Sätzen zusammenfassen: „Es muß laufen." Und: „Es darf nichts passieren." Tendenziell ist also i n einer Strafanstalt die Verselbständigung des Mittels, etwa Aufrechterhaltung eines Minimums an Ordnung, gegenüber dem Zweck, etwa Resozialisierung, angelegt. Die praktischen Auswirkungen einer solchen Entwicklung brauchen i m einzelnen nicht näher dargelegt zu werden. Der Strafvollzug steht dam i t i n Gefahr, „Primärziele" zugunsten von „Sekundärzielen" zu vernachlässigen, was wiederum notwendig auf die Organisationsstruktur zurückwirkt. U m nur ein Beispiel herauszugreifen: es ist klar, daß das bürokratische Modell einem Sicherungs- und Ordnungsvollzug angemessener ist als etwa einem vorrangig an der Resozialisierung orientierten. Noch von einem dritten soziologischen Ansatz her läßt sich das Problem konkurrierender und konfligierender Ziele sowie der Zielerreichung überhaupt angehen. Organisationen leben — das ist eine Binsenweisheit — innerhalb einer bestimmten Umwelt und können daher von dieser beeinflußt werden. Das gilt auch für so weitgehend von der Umwelt isolierte soziale Gebilde wie die Strafanstalten. Aus dieser schlichten Tatsache ergeben sich für das kybernetische Modell, wie es etwa Deutsch 1963 entworfen hat, bestimmte Konsequenzen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung. Danach erhöht oder senkt der Rückkoppelungsprozeß, der zwischen Umwelt und Organisation stattfindet, je nach dem Maß der Veränderungen, die sich i n der Umwelt abspielen, die Chancen der Organisation, ihren Zweck zu erreichen. Je stärker die Umweltbedingungen wechseln, je komplexer die Umwelt also ist, desto mehr wächst das Risiko der Organisation, ihren Zweck zu verfehlen. Ein entsprechendes Risiko läuft die Organisation, wenn sie Informationen über Umweltveränderungen spät verarbeitet, d. h. i n eigene Aktionen „umsetzt", oder wenn solche Informationen ungenau und 11·

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unzuverlässig sind. Einen vierten wesentlichen Faktor jenes Rückkoppelungsprozesses bildet Deutsch zufolge „das Ausmaß der durch das eigene Verhalten verursachten Änderungen" (Mayntz/Ziegler). Uberträgt man dieses Theorem auf unsere gegenwärtige Situation, so w i r d deutlich, welchen Risiken die Strafanstalt i n einer Gesellschaft hoher Komplexität, also starker und rascher Veränderungen, ausgesetzt ist. Jeder von uns weiß, daß kaum ein Bereich des Strafvollzugs von dem enormen Wechsel der Verhaltensmuster und Normvorstellungen der freien Gesellschaft unberührt bleibt, daß aber andererseits das überaus langsame Reagieren auf jene Veränderungen den Strafvollzug leicht ins Hintertreffen bringt. N u n sind die organisationssoziologischen Einwände und Vorbehalte gegenüber bestimmten Organisationsmodellen nicht allein auf diese beschränkt, sondern zielen i m Grunde auf typische Mängel und Risiken, die jeder Organisationsform i n mehr oder minder starkem Maße inhärent sind. Es wäre daher abwegig, nach Strukturmodellen Ausschau halten zu wollen, die von vornherein solche Fehlerquellen gänzlich ausschließen. Bei einer idealtypischen Betrachtung muß die Organisationswirklichkeit notwendig hinter optimalen Erwartungen zurückbleiben. Das spiegelt sich auch i n der Feststellung von Renate Mayntz: „Gemessen an der Zweckmäßigkeit eines kybernetischen Systems und an der vollkommenen Rationalität der Entscheidungstheorie weist also jede Organisation ganz erhebliche Mängel auf." Das befreit andererseits natürlich nicht von dem Bemühen, Organisationsformen zu finden (oder zu entwickeln), die ein möglichst hohes Maß an Zielverwirklichung gewährleisten, so daß es für den Strafvollzug entscheidend darauf ankommt, die Organisationsstruktur der Strafanstalt m i t ihrer Funktion zur Deckung zu bringen. Dabei spielt nicht nur die Bestimmung der Organisationsziele, sondern auch die Festlegung der Erfolgskriterien, an denen das Funktionieren der Organisation gemessen werden soll, eine wesentliche Rolle. Hierher paßt wiederum das schon wiederholt zitierte Beispiel divergierender Vollzugsaufgaben. Man kann die Leistungsfähigkeit einer Strafanstalt danach beurteilen, wie reibungslos ihr Betrieb läuft und i n welchem Maße es ihr gelingt, Konflikte zu vermeiden. Dann sind offensichtlich die K r i terien „Sicherheit und Ordnung" Trumpf. Die Konsequenzen für die Behandlung und Resozialisierung des Gefangenen liegen klar zutage. Man kann als Erfolgskriterium aber auch die Verhinderung des Rückfalls ansehen. Dann treten die Gesichtspunkte der „Sicherheit und Ordnung" — zumindest i n gewissen Bereichen — zugunsten des Resozialisierungsziels zurück. Und schließlich könnte man selbst dieses Ziel i m Sinne höchst möglicher Selbstverwirklichung des Gefangenen umdefinieren und uminterpretieren. Dann stehen unter Umständen nicht so

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sehr kriminalprophylaktische Maßnahmen und deren Erfolg i m Vordergrund als vielmehr das Maß, i n dem es der Anstalt gelingt, dem Gefangenen bei der Selbstwerdung zu helfen. Daß ein solches K r i t e r i u m die Nachprüfung der Wirksamkeit einer Anstalt erschweren würde, sei am Rande bemerkt. Freilich ließen sich noch andere Faktoren heranziehen. Gerade i m Strafvollzug ist verschiedenartigen Möglichkeiten der Erfolgsmessung breiter Spielraum eröffnet. I n positiver Hinsicht ließe sich auch die hohe Ertragslage der Arbeitsbetriebe oder die Höhe der gezahlten Arbeitsentgelte als Erfolgskriterium verwenden, i n negativer Hinsicht könnte man etwa auf die geringe Anzahl der Krankheitsfälle, arbeitsunfähigen Gefangenen oder gar Arresttage verweisen. Dieser Katalog könnte natürlich noch beliebig erweitert werden. Der organisationssoziologischen Problematik des Systems „Strafanstalt" korrespondiert i n gewissem Umfang — sicher nicht i n allen Einzelheiten — die sozialpsychologische und politologische Fragestellung. Auch hier geht es — wenn auch unter anderem Vorzeichen — darum, M i t t e l und Wege zu möglichst sinnvoller Verwirklichung der Organisationsziele zu finden. Dabei stehen wiederum die Rollen-, Kommunikations- und Autoritätsstruktur der Anstalt zur Diskussion. Die Frage ist etwa, auf welche Weise Gefangene am besten i m Sinne des Resozialisierungsziels beeinflußt werden können. Hierfür spielen sozialpädagogische Erwägungen, wie sie i m Rahmen der Sonderpädagogik und der Erwachsenenbildung angestellt werden, eine wesentliche Rolle. Bestimmende Faktoren bilden die Entwicklung und Steuerung der Lernfähigkeit des Einzelnen, seine Ichfindung, die Fruchtbarmachung des gruppendynamischen Prozesses für die Stabilisierung der Persönlichkeit und die Ausbildung von Konfliktlösungsstrategien (Tobias Brocher). Daß diese Gesichtspunkte unter den Bedingungen des Vollzugs i m Rahmen einer Zwangsgemeinschaft eine veränderte Bedeutung gewinnen, braucht kaum betont zu werden. Antagonistische Rollenerwartungen i m Verhältnis von Strafvollzugspersonal und Insassen, konfligierende Interessen zwischen beiden Gruppen, unterschiedliche Normensysteme, die i n die Konfrontation von formeller Stabskultur und informeller „Subkultur" (Harbordt) münden können, erschweren die sozialpädagogische Aufgabe. Daß gerade affektive, emotionale Momente leicht i n den Vordergrund treten und das Verhalten i n der Anstalt bestimmen können, entspricht täglicher Vollzugserfahrung. Welcher Führungsstil (und damit welche Organisationsstruktur) dieser Situation am besten gerecht werden kann, ist die sozialpsychologisch zu entscheidende Frage. Kurt Lewin hat sie vor über 40 Jahren an Hand empirischer Analysen für den freilich andersgearteten pädagogischen Bereich zu beantworten versucht. Er hat zwischen dem autoritären, dem laissezfaire- und dem freiheitlich demokratischen Führungsstil unterschieden

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und diesem — i m Sinne optimaler Lernerfolge wie der Entwicklung selbständiger Persönlichkeiten — eindeutig den Vorzug gegeben. Brocher hat diese Erfahrungen i n die heutige Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung eingebracht und damit auch dem Strafvollzug einen Weg gewiesen, den dieser bei Verwirklichung bestimmter Lebensbedingungen i n modifizierter Form möglicherweise einschlagen könnte. A n haltspunkte für die Realisierbarkeit eines solchen modifizierten Konzepts liefert i n etwa die „therapeutische Gemeinschaft" (Maxwell Jones), die die Struktur der sozialtherapeutischen Anstalt künftig m i t bestimmen soll. Die pädagogisch-psychologische Thematik Lewins hat inzwischen auch politsoziologische Relevanz gewonnen. Denn das Problem des Führungsstils i m Rahmen von Organisationen hängt nicht zuletzt m i t den politischen Leitbildern zusammen, von denen man ganz allgemein i m staatlichen und gesellschaftlichen Bereich ausgeht. Nun muß man sich freilich auch hier vor allzu plakativen Formulierungen und Vereinfachungen hüten. Was etwa unter der Überschrift „Demokratisierung" i n den letzten Jahren gesagt worden ist, führt nicht unbedingt weiter und paßt auch keineswegs i n jeder Hinsicht auf sämtliche staatlichen Institutionen. Gleichwohl zeichnet sich hier eine diskussionswürdige Parallele zur sozialpsychologischen Fragestellung ab. Sie ist schon vor Jahren von Dahrendorf i n seiner kritischen Analyse der deutschen Gesellschaft beschrieben worden. Sein Plädoyer für eine demokratische Ausgestaltung staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen gipfelte i n der Absage an vornehmlich auf Zwang und Gehorsam gegründete autoritäre Strukturen, eine Absage an die verbreitete Tendenz, widersprüchliche Interessen und soziale Konflikte autoritativ zu „lösen" statt Spielregeln auf der Basis der Anerkennung des jeweils anderen zu entwickeln. Dahrendorf sieht Institutionen u. a. als ein „System der Regelung von Konflikten" und verweist i n diesem Zusammenhang auf Goffmans bekannte Untersuchungen zur „totalen Institution": „Je stärker jedoch der Zwang ist, der eine Organisation zusammenhält, je mehr Gehorsam also verlangt wird, desto heftiger gärt auch der latente Konflikt, den dieser Zwang produziert." Dahrendorf möchte m i t dieser Feststellung Organisationsstrukturen und Spielregeln das Wort reden, die es erlauben, die Konflikte, „ m i t denen w i r leben müssen", auf eine zugleich rationale und demokratische Weise auszutragen und zu verarbeiten. Die Reibungsverluste, die ein solches Modell produziert, müssen als gleichsam systemimmanent, d.h. durch das Mitspracherecht aller verursacht, hingenommen werden. Der Verlust an Effizienz w i r d danach durch den Gewinn an Humanität und Rationalität aufgewogen. So sieht der Soziologe Bahrdt die Hauptschwierigkeit der Organisation der Zukunft darin, „die (auf Grund von

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Technik und Wissenschaft) vergrößerte Effizienz m i t größerer Transparenz und besserer demokratischer Kontrolle zu verbinden". I n diesem Zusammenhang stellt sich freilich die naheliegende Frage, ob denn das demokratische Modell i m Endergebnis nicht doch deshalb effizienter ist, w e i l etwa die innerhalb technokratischer oder autokratischer Strukturen unterdrückten Konflikte sich gewaltsam Bahn zu schaffen suchen und damit auf weit einschneidendere Weise das Funktionieren von Organisationen beeinträchtigen können. Denn offensichtlich vernachlässigt das bürokratische K a l k ü l latente sozialpsychologische Mechanismen, die allenthalben am Werk sind, zugunsten einer weitgehend technologisch verstandenen Rationalität. III W i r haben mit diesen Überlegungen den Stand der aktuellen Diskussion über die Reform der Anstaltsorganisation erreicht, wie er sich vor allem i n den Beratungen der Strafvollzugskommission und in Vorschlägen der neuesten Literatur spiegelt. Auch hier lassen sich gewisse gemeinsame Züge herausarbeiten, die sich auf das künftige Verhältnis der Strafvollzugsbediensteten untereinander und zu den Anstaltsinsassen beziehen. Sie sind freilich nur zum geringeren Teil von verwaltungsrechtlichen, verwaltungswissenschaftlichen, organisationssoziologischen und politologischen Erwägungen bestimmt, sondern orientieren sich vielmehr vornehmlich an sozialpädagogisch-psychologischen Gesichtspunkten sinnvoller Interaktion und Einwirkung auf den Gefangenen. Das erklärt es vielleicht auch mit, weshalb diese Stellungnahmen weitaus mehr als die organisationssoziologischen aus ihrer Reserve heraustreten und i m Gegensatz zu diesen (vgl. Mayntz) keine Scheu zeigen, sich von dem „Kontrastprogramm" demokratischen und autoritären Führungsstils leiten zu lassen. Versucht man die relevanten Gesichtspunkte zu systematisieren, so ergibt sich folgendes Bild: Die Probleme des Entscheidungsweges, der Mitverantwortung und des Führungsstils werden hauptsächlich als solche des Verfahrens und der Beteiligung der Anstaltskonferenzen am Entscheidungsprozeß, des Verhältnisses der Mitarbeiter zum A n staltsleiter sowie der Milieutherapie innerhalb der Anstalt erkannt und diskutiert. Dementsprechend konzentrierten sich Überlegungen i n der Strafvollzugskommission auf die Frage, ob und i n welchem Umfang der Konferenz (oder auch einem anderen Gremium von Mitarbeitern) Entscheidungsbefugnisse übertragen werden sollen. Erwogen wurde dies vor allem hinsichtlich spezieller Maßnahmen zur Behandlung des Gefangenen — nicht zuletzt aus der Erwägung heraus, daß die vorwiegend sozialpädagogische Problematik solcher Fragen sich schwerlich für autoritative Entscheidungen des Anstaltsleiters eignet. „Die Entschei-

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dung über wichtige Behandlungsfragen darf nicht mehr einzelnen Personen überlassen bleiben, sondern muß abgestellt werden auf das Beratungsergebnis aller m i t der Behandlung befaßten Personen i n der Anstaltskonferenz" (Ruprecht). Daraus würde zwangsläufig eine Einschränkung der Entscheidungsbefugnis des Anstaltsleiters auf dem Behandlungssektor folgen. Das würde zu einer — psychologisch nicht zu unterschätzenden — Entlastung des Anstaltsleiters führen. Freilich könnte er dann i n solchen Angelegenheiten überstimmt werden. Dann müßte aber auch durch ein verfahrensmäßiges „Sicherheitsventil" i n Gestalt eines Vetorechts des Anstaltsleiters, der Anrufung der Aufsichtsbehörde oder des Vollzugsgerichts ein Ausweg für solche Fälle geschaffen werden, i n denen der (überstimmte) Anstaltsleiter unüberwindliche rechtliche oder vollzugspolitische Bedenken gegen die getroffene Entscheidung hat. Freilich würde ein Interventionsrecht der Aufsichtsbehörde der sozialpädagogischen Natur derartiger Entscheidungen widersprechen. Deshalb hat man vorgeschlagen, es bei der Möglichkeit, das Vollzugsgericht anzurufen, bewenden zu lassen (Ruprecht). Freilich müßte dann ein solches Recht auf Anrufung des Gerichts auf „vitale" Fragen beschränkt bleiben, w e i l sonst verfahrensmäßige „Reibungsverluste" den möglichen sozialpädagogischen Effekt vereiteln könnten. Diese Konzeption hat aus verschiedenen Gründen Befürworter gefunden. Man verspricht sich von einer solchen Beteiligung der Mitarbeiter an wichtigen Sachentscheidungen eine Auflockerung der A n staltsatmosphäre, ein stärkeres Engagement des Strafvollzugspersonals an den Aufgaben des Vollzugs, eine Erleichterung der Führungsfunktionen, einen Abbau autoritärer Strukturen und natürlich auch ein höheres Maß an sozialpädagogischer Wirksamkeit. Das entspreche i m übrigen auch den Grundsätzen des modernen team-works, von denen die Anstalt der Zukunft durchdrungen sein soll. Nicht unerhebliches Gewicht kommt hiernach dem Umstand zu, daß auch der Gefangene mehr als bisher an der Entscheidung über die i h n betreffenden Angelegenheiten beteiligt werden soll, w e i l er sowohl aus rechtlichen als auch aus sozialpädagogischen Gründen nicht als bloßes Objekt der Behandlung angesehen werden kann. Zu erinnern ist daran, daß nach § 4 Abs. 1 des Kommissionsentwurfs der Gefangene „an der Planung seiner Behandlung" beteiligt werden muß und daß § 155 Abs. 2 dieses Entwurfs von der Mitverantwortung der Gefangenen für solche Angelegenheiten ausgeht, „die i m gemeinsamen Interesse liegen und die sich ihrer Eigenart und der Aufgabe der Anstalt nach für deren M i t w i r k u n g eignen". Wenn schon der Gefangene künftig mehr als bisher am Entscheidungsprozeß partizipieren soll, dann muß dies i n u m so stärkerem Maße für die Mitarbeiter des Anstaltsleiters gelten. Insofern scheint

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sich das erörterte Organisationskonzept folgerichtig i n den Kontext eines Behandlungsvollzuges zu fügen, der i m Rahmen des traditionellen bürokratischen Modells offenbar nicht verwirklicht werden kann. Dem korrespondieren i n gewissem Umfang Überlegungen, wie sie derzeit zum künftigen Berufsbild des Aufsichtsbeamten und zur Milieutherapie i m Strafvollzug angestellt werden. So hat etwa Hohmeier die gegenwärtige Situation des Aufsichtsbeamten auf die Formel gebracht: „geringe Entscheidungsmöglichkeit bei großer Verantwortung" und daraus die Forderung abgeleitet, nicht nur seine Aufgaben neu zu definieren, sondern i h n auch stärker am Entscheidungsprozeß zu beteiligen. Der Aufsichtsbeamte könne auf Grund seiner „kompetenzlosen Rolle" keine „funktionale Autorität" entwickeln. Hierarchische Gliederung der Anstalt, Informationsfluß von oben nach unten, geringe Möglichkeiten der Einflußnahme auf den eigenen Arbeitsplatz erscheinen als Charakteristika einer weitgehend fremdbestimmten Position. Möglichkeiten der Abhilfe werden hier wiederum i n der Mitarbeit von Aufsichtsbeamten i n den Konferenzen sowie i n der Bildung von Insassengruppen gesehen, deren sich der Aufsichtsbeamte annehmen soll. Verwandte Interpretationsmuster kehren i m Behandlungskonzept wieder, wie es — nicht allein, aber vorzugsweise — für die Organisation der sozialtherapeutischen Anstalt entwickelt worden ist. Erfordert Milieutherapie „volle Mitbestimmung des Betroffenen" (Mauch), dann kann auch die Mitwirkungsbefugnis auf der Seite des Personals nicht vor den Mitarbeitern des Anstaltsleiters haltmachen. „Denn wie der Insasse die Selbstbestimmung, die Straftaten entbehrlich macht, lernen muß, so ist die Rolle des Beamten i n Richtung auf Mitentscheidung zu erweitern" (Mauch). So w i r d denn hier gleichfalls vorgeschlagen, dem Aufsichtsbeamten „gewisse Verantwortlichkeiten" i m Rahmen von Behandlungsgruppen und Wohngemeinschaften zu übertragen. Damit erscheinen die Kategorien der Mitentscheidung und Mitverantwortung des Strafvollzugspersonals als integrierende Bestandteile des Behandlungskonzepts überhaupt (Einsele, Mauch). W i l l man dieses ernstlich verwirklichen und etwa dem Behandlungsziel des § 3 des Kommissionsentwurfs Rechnung tragen, müssen demnach entsprechende organisatorische Konsequenzen gezogen werden. IV Gemessen an diesen Vorstellungen sind die bisher vorliegenden Entwürfe hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die positiven Ansätze i n Richtung kooperativen, partnerschaftlichen Zusammenwirkens aller Kräfte i n der Anstalt sind unverkennbar vorhanden; der Gedanke des team-works macht sich durchaus geltend. Doch sobald es u m die Trans-

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formation organisationssoziologischer, sozialpsychologischer und sozialpädagogischer Erkenntnisse i n rechtliche Regelungen geht, ziehen sich die Entwürfe auf die überkommenen Bastionen des Entscheidungsmonopols und der monokratischen Amtsführung des Anstaltsleiters zurück*. Ob die von juristischer Seite immer wieder bemühten Aushilfen entsprechender Auswahl und Schulung der Anstaltsleiter sowie sorgfältiger Dienstaufsicht hinreichen, mag zweifelhaft erscheinen. Denn sie ändern ja i m Grundsatz nichts an der vorfindlichen normativen Kompetenzregelung, lassen es also für den Konfliktsfall weitgehend beim Alten. Freilich mag man einwenden, daß bis zur Stunde noch kein Strukturmodell existiert, das sozialpädagogischen Intentionen und praktisch erprobten Organisationsformen öffentlicher Verwaltung i m gleichen Maße entspricht. Vielleicht stehen w i r vor der Schwierigkeit, i n rechtliche Regelungen umzusetzen, was sich zwar sozialpsychologisch klar fassen läßt, aber m i t dem gegenwärtig verfügbaren juristischen Instrumentarium nicht recht i n den Griff zu bekommen ist. Vielleicht liegt es aber auch an dem eigentümlich juristischen Mangel an Phantasie und an Beweglichkeit, der unseren Regelungsspielraum faktisch so einengt. Gleichwohl hätte man i n den Entwürfen ein Mehr an rechtlichen Zugeständnissen an die Grundsätze der Mitverantwortung aller für das Behandlungsziel und demokratischer Ausgestaltung der Anstaltsorganisation erwarten dürfen. Mehr Mut hinsichtlich der Beschreitung neuer Wege und mehr Vertrauensvorschuß i n bezug auf die Mitarbeiter des Anstaltsleiters würden einem Strafvollzugsgesetz wohl anstehen. Fatal wäre es jedoch, wollte man aus einer solchen Feststellung das Recht zu resignieren herleiten. Denn jeder, der i m Vollzug tätig ist, weiß, wie wenig i m Grunde rechtliche Regelungen dem Vollzugspersonal an Schwierigkeiten abnehmen können, die i n der täglichen Arbeit auftreten.

* Diese Kritik gilt nicht mehr — jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt — für die neueste Fassung des Entwurfs (Stand vom Oktober 1971). Die entscheidenden Passagen lauten jetzt: §147 (2) Der Anstaltsleiter vertritt die Anstalt nach außen. Er trägt die Verantwortung für den gesamten Vollzug, soweit nicht bestimmte Aufgabenbereiche der Verantwortung anderer Vollzugsbediensteter oder ihrer gemeinsamen Verantwortung übertragen sind. § 155 (1) Alle im Vollzug Tätigen arbeiten zusammen und wirken dabei mit, das Behandlungsziel zu erreichen.