Vorverständnis als Methode: Eine Methodik der Verfassungsinterpretation unter besonderer Berücksichtigung U.S.-amerikanischen Rechtsdenkens [1 ed.] 9783428515752, 9783428115754

Jeder Jurist hat Vorverständnisse über das richtige Recht und wird von ihnen bei der Anwendung des Rechts beeinflusst. E

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Vorverständnis als Methode: Eine Methodik der Verfassungsinterpretation unter besonderer Berücksichtigung U.S.-amerikanischen Rechtsdenkens [1 ed.]
 9783428515752, 9783428115754

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 972

Vorverständnis als Methode Eine Methodik der Verfassungsinterpretation unter besonderer Berücksichtigung U.S.-amerikanischen Rechtsdenkens

Von

Alexander Schmitt Glaeser

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ALEXANDER SCHMITT GLAESER

Vorverständnis als Methode

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 972

Vorverständnis als Methode Eine Methodik der Verfassungsinterpretation unter besonderer Berücksichtigung U.S.-amerikanischen Rechtsdenkens

Von

Alexander Schmitt Glaeser

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11575-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Das vorliegende Buch bietet kein System mit einem zugehörigen fertigen Lehrgebäude. Mein Anliegen war es, das Wesen der praktischen Arbeit am Recht zu erforschen und die Verbindung zu den Eigenarten der Jurisprudenz zu zeigen. Wann immer mich die Überlegungen zu Konsequenzen führten, die gar zu theoretisch erschienen, habe ich mich bemüht, sie mit Aspekten der Erfahrung zu verknüpfen, die das Fundament der Erkenntnisse über das Recht ist. An vielen Schlüsselpassagen des Buches stütze ich mich auf Erkenntnisse aus der Philosophie, was nicht gleichzusetzen ist mit Erkenntnissen über Philosophie. Es sind zum größten Teil (Lese-)Früchte, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob ich sie richtig gepflückt habe und ob sie reif sind. Bei vielen Passagen empfand ich zudem tiefes Unbehagen, ob ich meiner Nachweispflicht genügt habe, weil das, was ich als weiterführende Erkenntnisse empfand, durchweg im Anschluss an das Grübeln über die unterschiedlichsten Texte entstand. Ich will daher die wichtigsten Autoren nennen, die mich bei der Arbeit begleitet haben. Dies war zuerst Josef Esser, auf dessen Werk durch die Wahl des Titels mit höchstem Respekt Bezug genommen wird. Sodann waren es Max Weber, Karl Popper, Hans-Georg Gadamer, Martin Kriele und Bernd Rüthers, die mir halfen, eine Vorstellung von dem Gegenstand der Arbeit zu gewinnen. Schließlich ist es vor allem die begleitende Lektüre von Immanuel Kant, Rudolf Smend, Carl Schmitt, Willard Quine, Stanley Fish, Jacques Derrida, Friedrich Müller und immer wieder Friedrich Nietzsche gewesen, die mein Denken fokussierte. Ich habe sie nicht immer verstanden, aber sie haben mir immer wieder geholfen zu verstehen. Mit dem Abschluss der Habilitation endet eine Periode, die ganz entscheidend auch von den Lehrern beeinflusst wurde, die mein Leben und Denken geprägt und bereichert haben. Ich gedenke mit großer Bewunderung Professor Joachim Gernhuber, dessen Vorlesung zum Bürgerlichen Recht in Tübingen für mich unvergessen ist, sowie Professor Günter Dürig, dessen Schriften mir Spaß und Ernst in der Jurisprudenz vermittelten. Ich danke Herrn Professor Wolfgang Graf Vitzthum, neben anderem vor allem dafür, dass er mich zum Studium in den USA ermutigte und mir bei der Realisierung meiner akademischen Reise half. Meine erste wissenschaftliche Übung absolvierte ich im Seminar von Professor Peter Häberle, wo ich erfahren durfte, warum Forschung und Lehre eine notwendige Einheit bilden. Die schönste Zeit meines Studiums verdanke ich der Yale Law School, die mir einen überaus großzügigen finanziellen Nachlass gewährte, Professor Hans-Joachim Mengel wegen seiner Hilfe bei der Aufnahme und vor allem Professor Michael Reisman, der mir auch meinen zweiten Aufenthalt als visiting scholar in New

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Vorwort

Haven ermöglichte und mir in seinem Seminar „Jurisprudence“ viele neue Perspektiven eröffnete. Besonders verpflichtet fühle ich mich auch dem ehrenwerten Richter und ehemaligen Dekan Guido Calabresi, in dessen Amtszeit die Yale Law School ein ganz außergewöhnlicher Ort war. Weiterführende Anregungen für die Habilitation gewann ich in den Lehrveranstaltungen der Professoren Bruce Ackerman und Paul Kahn. Schließlich danke ich ganz besonders meinem Doktorvater, Professor Albrecht Randelzhofer, der auch die vorliegende Habilitation betreute, und dem ich neben vielem anderen dafür Dank schulde, dass er mich geduldig gelehrt hat, auf feste Bodenhaftung zu achten, wenn der Kopf über den Wolken schweben will. Die Arbeit wurde großzügig gefördert durch ein Habilitationsstipendium der Görres-Gesellschaft zu Köln und durch einen Druckkostenzuschuss der DFG. Meinem Verleger, Herrn Professor Norbert Simon, danke ich für die Aufnahme in das Programm seines Verlages. München, im April 2004

Alexander Schmitt Glaeser

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Grundthese der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Thematische Einstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Kapitel Theorie und Verstehen der Verfassung

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A. Die Frage nach der Verfassung als Ausgangspunkt des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Verfassung als Ordnung und Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Verfassung als Ordnungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Verfassung als Prozessrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Resümee und Folgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Kapitel Praxis und Verstehen der Verfassung

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Abschnitt 1: Die Methodik der Praxis: Die Common Law-Methodologie . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Grundgedanken des Common Law in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Stare Decisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Gesetze und Verfassung im Common Law der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt 2: Verfassung zwischen Präzedenz und Idee – die Verantwortung des Interpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Der Verfassungstext als Auftrag zur Sinnsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Die Geschichte als Hilfsmittel des Verstehens und als Präzedenz . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Verfassungsgeschichtliche Präzedenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Die Praxis zwischen Verantwortung und Delegation: die Berufung auf Tradition

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E. Die Problematik der Sinnsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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F. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Abschnitt 3: Theorie der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Die Chronologie der Bewältigung einer „missverstandenen“ Verfassung . . . . . . . . .

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C. Die Countermajoritarian Difficulty als Bindeglied zwischen Theorie und Praxis der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 D. Die Filterfunktion der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

3. Kapitel Die Eignung methodischen Vorgehens für die Rechtsanwendung

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Abschnitt 1: Aufgabe einer juristischen Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Abschnitt 2: Der Begriff der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Abschnitt 3: Die Freiheit des Interpreten und die Methodik des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 A. Die Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 B. Die Fähigkeit, sich über Beobachtungen zu verständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 C. Die Fähigkeit, einen Rechtssatz zu einem Beobachtungssatz in Beziehung zu setzen – die Versuchung der Dudeninterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Abschnitt 4: Schwierigkeit der Zielsetzung einer juristischen Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . 155 A. Kausalität und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 B. Zwischen zwei Polen: Alles, was Recht ist und alles, was richtig ist . . . . . . . . . . . . . 165

4. Kapitel Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

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Abschnitt 1: Die Individualpositivierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Abschnitt 2: Die Vermachtung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 A. Die Intrastruktur des Rechts und das Ideal des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 I. Die Intrastruktur und die Herausforderung an die Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . 183 II. Die Abdankung des rationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 B. Die Wertoffenheit des Gesetzes und das Problem der Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 I. Immanente Qualität des Verfassungsgesetzes ohne überempirische Würde? 192 II. Dogmatische Orientierungen: System und Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Architektonische Systembildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Kompositorische Systembildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Inhalt

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III. Werte und Prinzipien oder: Die Invisibilisierung des Verfassungstextes . . . . . 215 1. Drittwirkungsproblematik als Verfassungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Grundsätze als Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Die Geltung des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 4. Grundsätze als Einbruchstellen der Ideologie der Anderen . . . . . . . . . . . . . . . 233 C. Die Aufgabe der Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 I. Die Geltung des gesatzten Rechts – eine Weichenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 II. Effektive Normativität als Ziel der Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 III. Maßstabsbildung in der Intrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

5. Kapitel Juristische Methoden im freiheitlichen Verfassungsstaat

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A. Intersubjektivität statt Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 B. Die entwicklungsgeschichtliche Auslegung – der Einstieg in die methodische Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 C. Die Suche nach der Bedeutung des Textes in der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 D. Entwicklungsgeschichte und Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Einleitung A. Grundthese der Arbeit Freiheitliche demokratische Verfassungsstaaten entstehen aus unterschiedlichen historischen Lagen und setzen sich unterschiedliche Ziele. Selbst wenn das ursprüngliche Anliegen mit allen guten und schlechten Eigentümlichkeiten der Verfassungsautoren verwoben ist: im Laufe der Zeit transzendiert das Produkt ihrer Bemühungen regelmäßig zu einem Ideal, es wird im täglichen Bemühen um Erhaltung und Fortschritt überhöht und den Menschen zur Hoffnung, zur Hoffnung auf Verständigung, Konsens und Gerechtigkeit. Darin besteht das Wesen jedes freiheitlichen Staates und der Kern seiner Verfassung. Wer Jurisprudenz betreibt, darf sich von dieser Verfassung nicht abwenden. Die Verfassung ist indes kein eindeutiger Gegenstand der Betrachtung, sie ist für jeden etwas anderes. Dementsprechend sind die Wege zum Verstehen der Verfassung so vielfältig wie die Wege zur Wahrheit. Den Weg gemeinsam zu gehen und sich auf dem Weg nicht aus den Augen zu verlieren, muss das Ideal einer juristischen Methode sein. So handelt die vorliegende Arbeit von Verstehen und von Gestalten. Beides verbindet sich in dem Versuch, das Anliegen des freiheitlich verfassten Staates aufzuspüren und so den Staat zu konstituieren. Dieser Versuch ist eine Auseinandersetzung, eine Auseinandersetzung mit dem Ziel, die Verfassung immer wieder in einer Weise zu interpretieren und in Erscheinung treten zu lassen, dass alle Menschen in dem so verfassten Staat eine Heimstatt finden wollen. Eine Methodik der Rechtsanwendung muss in den Grundsätzen und in den einzelnen Vorgaben der Tatsache Rechnung tragen, dass sich Erkenntnisse nur gewinnen lassen, wenn man eine Vorstellung davon hat, was man erkennen will. Diese allen intellektuellen Prozessen eigene Problematik ist für die Rechtsarbeit besonders bedeutsam, weil schon die Identifizierung eines Problems als rechtliches Problem einen geschulten (und damit vorgefassten) Blick voraussetzt. Der Jurist muss Vorstellungen davon haben, was das Recht leisten soll und von dem, was es nicht leisten kann. Er muss aber auch das Recht kennen, Vorstellungen davon haben, was rechtens und was gerecht ist. Dieses Vor-Wissen ist dabei notwendig individuell, niemand lernt dasselbe und niemand versteht das Gelernte auf dieselbe Weise; damit aber ist jedes Herangehen an das Recht subjektiv, jeder hat eigene Vorverständnisse von dem, wie der konkrete Fall zu lösen ist. Der Versuch, das Recht und die Methodik gegen diese Vorverständnisse zu immunisieren, ist aussichtslos. Die juristische Methodik muss aber Wege aufzeigen, wie Vorverständnisse bewältigt werden können, weil das Recht Konflikte lösen und gefundene Konfliktlösungen auch (zumindest mittelfristig) stabilisieren soll. Dementspre-

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Einleitung

chend müssen die Vorgaben an die Interpretation des Rechts so bestimmt werden, dass darüber ein Konsens hergestellt ist, bevor das Objekt, die konkrete Verfassung, in den Blick genommen wird. Die Rechtsanwendung ist zumindest in dem Maße zu objektivieren, dass es möglich wird, das Herangehen an die konkrete Verfassung intersubjektiv vermittelbar zu machen. Wenn es also auch kaum möglich sein wird, objektive Maßstäbe für die Interpretation des Rechts zu ermitteln, so muss die Methodik des Rechts doch so angelegt sein, dass alle, die guten Willens an der Rechtsarbeit teilhaben, ihre Überzeugungen als vermittelbar erleben und die gefundenen Ergebnisse akzeptieren können. Der erste und entscheidende Schritt ist dabei eine Klärung des Ausgangspunktes, genauer: die richtige Fragestellung. Die Entwicklung einer solchen Fragestellung hat sich zwei Ziele zu setzen. Zum einen muss sie die Gemeinschaft der Interpreten integrieren, zum anderen muss sie die Basis für konkrete Vorgaben an die Rechtsarbeit legen. Beide Ziele sind insoweit konträr, als man sich in der pluralistischen Gesellschaft der Gegenwart kaum noch auf sehr viel mehr als auf vage Gemeinplätze verständigen kann. Dementsprechend befürworten viele Rechtsdenker prozessuale Theorien des Rechts. Sie erscheinen ergebnisoffen und sie scheinen es zu ermöglichen, verschiedene Auffassungen über das „richtige“ Recht einzubinden. Gleichzeitig behaupten sich in der Rechts- und Verfassungstheorie aber auch weiterhin Ordnungsmodelle, obgleich inzwischen im Wesentlichen Einigkeit darüber besteht, dass diese notwendig zirkulär sind, weil die in solchen Modellen entwickelten Ergebnisse schon in der Struktur der Ordnung angelegt sind. Ordnungs- und Prozessmodelle basieren auf einem unterschiedlichen Grundverständnis. Die „Prozessualisten“ betonen das Pluralistische im Gemeinwesen, die „Ordnungsdenker“ die Notwendigkeit des Gemeinschaftlichen auch im Pluralismus. Wie zu zeigen sein wird, beruht der Gegensatz auf einer zu spät ansetzenden Frage nach dem Erkenntnisgegenstand. Erweitert man das Problem um das Phänomen der in jeder Gesellschaft wirkmächtigen Denksysteme, die Vorstellungen und Überzeugungen als Handlungsorientierungen enthalten, so wird deutlich, dass mit der zunehmenden Unsicherheit in Bezug auf das Verständnis von Recht die Einflussmöglichkeiten von ideologischen Orientierungen wachsen. Dies wäre hinnehmbar, wenn sich hinter dem Recht eine bestimmte Vorstellung von der Welt und ihrer Eigengesetzlichkeit ausmachen ließe, die dann die Rechtsarbeit unterstützt. Das Recht der freiheitlichen Verfassungsstaaten zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass es Kompromisscharakter hat. Dies gilt in besonderem Maße für das Verfassungsrecht demokratischer Staaten, das auch den Wandel von Grundüberzeugungen aushalten muss und will. Dementsprechend sind Verfassungen in weiten Feldern vage formuliert; viele Konflikte bleiben in den Verfassungen von Anfang an unaufgehoben, viele Konflikte entstehen auch erst nach der Umsetzung der Verfassung in einfache Rechtsätze. Eine Methodik, die sich dem Konflikt und der Möglichkeit eines Wandels der Lösungen nicht stellt, wird über kurz oder lang obsolet. Die herkömmliche Methodik scheint von diesem Schicksal ereilt worden zu sein. Ein deutliches Indiz dafür ist die Tat-

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sache, dass Kritik an Entscheidungen von Gerichten in den seltensten Fällen methodische Kritik ist. Zwar finden sich in allen Auseinandersetzungen auch methodische Argumente; sie reichen aber nicht mehr aus, um für sich allein ein Verdikt „richtig“ oder „falsch“ zu begründen. Die vorliegende Arbeit bemüht sich um eine integrative Methodik, eine Methodik also, die die grundlegenden Konflikte einbezieht. Das Ziel der Einbeziehung wird dabei weder in der prinzipiellen Aufhebung noch in der abschließenden Lösung der Konflikte gesehen. Zielvorgabe ist allein die Bewältigung der Konflikte für die konkreten Fälle durch eine Fragestellung an die Verfassung, die die bisher vorstellbaren Antworten „einfangen“ kann. Die Methodik des Rechts muss dabei den fortgeschrittenen Stand der rechtlichen Kultur moderner Verfassungsstaaten nutzen; was eingangs als besonderes Problem der Jurisprudenz bezeichnet wurde, nämlich das durch Ausbildung und Erfahrung verdichtete Vorverständnis, soll methodisch produktiv umgesetzt werden. Jedes Problem hat Vorgänger und jedes Problem weist Parallelen zu anderen Problemen auf. In der Ermittlung der gefundenen Lösungen und der Bewertung der Konsequenzen eröffnet sich die Möglichkeit, tragfähige Grundlagen einer Verfassungsmethodik zu entwickeln. Dabei soll die Common Law Methodologie als Hilfe herangezogen werden. Entwicklungsgeschichtlich begründete Hypothesen über die „beste“ Anwendung des bestehenden Rechts können eine Grundlage für eine informierte Beurteilung der bisher gefundenen Ergebnisse nach dem Rechts- und Gerechtigkeitsgefühl geben, sie helfen, den Kontext zu nutzen, in dem der Text des Gesetzes verstanden wird und verstanden werden kann, sie bieten Anhaltspunkte für bisher erkannte Alternativen des Verständnisses und sie eröffnen Kenntnisse über die denkbaren Zwecke gesetzlicher Regelungen.

B. Thematische Einstimmung „Vorverständnis als Methode“ ist eine thematische Variation der Frage nach rationaler Rechtsanwendung. So wie die naturwissenschaftliche Methode in Spannung steht zu übernatürlichen Welterklärungen, so steht die juristische Methodik im Mahlstrom der vielen unterschiedlichen Vorstellungen davon, was eine gerechte Welt ist. Nun soll die juristische Methodik aber auch ermitteln helfen, was das Recht „will“. Insofern verlangt sie Distanz zu eigenen Vorstellungen und Objektivität in Bezug auf den Gegenstand der Untersuchung, eben Rationalität. Die Spannung zu Vorverständnissen gründet allerdings nicht in einer Gegenläufigkeit, sondern in einer Gemengelage. In nicht wenigen Bereichen lässt sich Recht nur mit Hilfe einer Ideologie verstehen und damit zur Anwendung bringen. So ist z.B. Art. 20 I GG nur einsichtig, wenn man der Interpretation die Ideologie der Demokratie1 beistellt. Vorverständnisse und Ideologien bieten eine oft unentbehrliche 1 Im Sinne eines ideologischen Wortverständnisses; vgl. M. Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung (1967), 27 ff.; H. Kelsen, Demokratie (19292), 14 ff. Zu den ideologischen Inhalten des Demokratiebegriffs: M. Hättich, a. a. O., 25 f.

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Orientierung bei der Rechtsarbeit, vor allem auf einem Gebiet wie dem Verfassungsrecht, das den Interpreten weite Spielräume eröffnet. Die unterschiedlichen Sichtweisen dessen, was sein, was geschehen soll, umhüllen jedes juristische Denken; sie gehen ihm voraus, begleiten es und beeinflussen das Ergebnis. Das verschlungene Gewebe, in dem die Rechtsanwendung vor sich geht, entzieht sich umfassender Analyse, so dass der Gesamtkomplex des juristischen Arbeitens kaum begreifbar und einer umfassenden Strukturierung nicht zugänglich ist. Auch wenn es möglich wäre, die einzelnen Elemente des juristischen Arbeitens zu beschreiben und zu erfassen, so bliebe der Gesamtvorgang doch zu komplex, um daraus einen für die einzelne Rechtsanwendung greifbaren Gewinn zu ziehen. Das juristische Arbeiten ist in vielen Aspekten nur durch eine Mischung von Wissen, Intuition, Gefühl und Gewohnheit möglich. Allerdings kann man es bei dieser Feststellung nicht bewenden lassen, weil Rechtsarbeit notwendig kommunikativ ist. Die Frage, wie man zu einem bestimmten Ergebnis kommt, ist die zentrale Frage der Rechtsanwendung; sie muss immer beantwortet werden. Wer sich der Antwort entzieht, disqualifiziert sich für diese Aufgabe. So ergibt sich ein Paradoxon: Einerseits ist es unmöglich, umfassend darzustellen, wie man zu einem bestimmten Ergebnis gekommen ist, andererseits muss man gerade dies erklären, um das Ergebnis zu rechtfertigen. Im Spannungsfeld dieses Paradoxons ist die juristische Methodik angesiedelt. Methode ist vom Wortursprung her (methodos) auch ein Weg des Nach-Gehens. Für die Anwendung der Methoden kann man in der Folge von dem einzelnen Rechtsanwender ein Vor-Gehen fordern, das für andere ex ante vorhersehbar und ex post nachvollziehbar ist. Angesichts der Tatsache, dass jeder Rechtsanwender in unterschiedlichen Situationen arbeitet, unterschiedliche Vorverständnisse entwickelt hat und unterschiedlichen Ideologien anhängen kann, erscheint es daher notwendig, die Methoden so zu gestalten, dass sie situations-, vorverständnis- und ideologieunabhängig sind. Diese Forderung erinnert an die Methoden der Naturwissenschaften, wenn z.B. für Experimente verlangt wird, dass die Anordnung des Experiments so beschaffen sein muss, dass es jederzeit und von jedermann wiederholbar ist. Dazu bedarf es vor allem einer optimalen Ausschaltung von veränderlichen und ergebnisbeeinflussenden Umwelteinflüssen. Intellektuelle Prozesse können indes nicht sterilisiert werden. Der menschliche Verstand arbeitet nicht im Vakuum und er arbeitet zeitabhängig. Für die juristische Arbeit bedeutet dies, dass man die Entscheidungssituation, die Vorverständnisse und die Ideologien der am Rechtsfindungsprozess beteiligten Personen nie neutralisieren kann. Diese „störenden“ kontextualen Bindungen der Rechtsarbeit sind keine auszumerzenden Verunreinigungen des juristischen Verstandes, sie sind Teil des in der Rechtsarbeit zu bewältigenden Stoffes. Dies soll nicht heißen, dass Vorverständnisse und Ideologien im Verlaufe der Rechtsarbeit eine herrschende Rolle einnehmen dürfen oder gar müssen. Damit würde man eine der vornehmsten Aufgaben des Rechts aufgeben, die darin zu sehen ist, politische und ideologische Konflikte zu lösen und die Konfliktlösungen (zumindest für eine gewisse Zeit) zu stabilisieren. Es soll aber heißen, dass man

Einleitung

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die kontextualen Bindungen zu berücksichtigen hat und sie bei der Rechtsarbeit nicht ausschließen darf. Andernfalls würde der Rechtsanwender in die beinahe schizophrene Situation gezwungen werden, etwas bewältigen zu müssen, das er nicht wahrnehmen darf. Man kann nicht etwas dem Außerrechtlichen zuordnen und gleichzeitig im Recht bewältigen. Diese unvereinbaren Forderungen werden allerdings in der juristischen Methodologie weiterhin gestellt. Eine Folge dieser Spannung äußert sich darin, dass das Thema der Beziehung von juristischer Methodik und Vorverständnis oder Ideologie fast durchweg polemisch gestaltet wird: das eigene Vorgehen wird als methodisch charakterisiert und gegen das zirkuläre, axiomatische, (partei-)politische oder ideologische Vorgehen anderer gestellt. So wird das Thema verengt und zum Problem gewandelt, zu einem Problem freilich, das aufgrund der thematischen Verengung der Materialien beraubt ist, die man für eine befriedigende Lösung braucht. Die aufklärerisch-rationale Haltung vieler juristischer Methodologien verkennt die spannungsreiche, aber gleichsam naturbedingte Abhängigkeit gerade von Ideologie und Recht, vor allem von Ideologie und Verfassungsrecht. Neben der ideologischen Prägung auch des Verfassungsrechts verkörpern Verfassungen zudem eine „Wahrheit“ des von ihnen verfassten Staates. Diese „Wahrheit“ ist nicht einfach „pures Recht“, sondern auch eine Idee über den konkreten Staat, eine Vorstellung über seine richtige Verfasstheit, ist also selbst Ideologie und so wird auch eine anti-ideologische Haltung des Verfassungsinterpreten ideologisch, verfassungs-ideologisch2. Dies wäre kein erheblicher Einwand, wenn man sicher sagen könnte, welche Ideologie eine Verfassung enthält und, so sie klar beschrieben werden kann, dass man sich qua Verfassung danach zu richten hat. Verfassungen sind indes keine ideologischen Manifeste, es sind Grund-Gesetze für alle Bürger und (von der Idee her) alle Zeiten oder doch für eine lange Zeit. In dieser Betrachtung ist Ideologie für die Verfassungsinterpretation kein (zu lösendes) Problem, sondern ein (zu behandelndes) Thema, das umso drängender ist, je schneller sich die Gesellschaft ändert, je weniger die Gesellschaft hierarchisch strukturiert ist und je weniger dementsprechend Übereinstimmung in der Gesellschaft darüber herrscht, in welche Richtung man sich verändern soll oder verändert hat. Verfassungsinterpretation erhält damit einen Bezug zum Phänomen der Autorität. Autorität kann als ein Funktionsschema der Freiheit betrachtet werden. Während es in einer Gemeinschaft instinktiv gelenkter Wesen lediglich einer Funktionsteilung bedürfte, um ihr Funktionieren zu gewährleisten (klassisch: der Ameisenhügel), sind die menschlichen, aus freien und vernunftbegabten Individuen zusammengesetzten Gemeinschaften darauf angewiesen, Personen unterschiedlichster Überzeugungen für gemeinsame Mittel und Zwecke zu gewinnen. Das Recht hat zum Ziel, derartige Übereinkünfte zu stabilisieren. Nur Autorität ist in der Lage, Individualität und Gemeinschaft aufeinander auszurichten. Diese Auto2 Auch die Charakterisierung als unpolitisch ist politisch, C. Schmitt, Politische Theologie (19342), Vorbemerkung.

2 Schmitt Glaeser

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rität kann in persönlicher und in sachlicher Gestalt auftreten. Sie kann sich in Personen und Gedanken verwirklichen; beides geht meist Hand in Hand. Augenscheinlich wird dies im Credo des Juristenstandes: verpönt sind Willkür, Parteilichkeit, Befangenheit oder Missbrauch als Phänomene eines unsachlichen bzw. zu persönlichen Umgangs mit dem Recht; der „richtige“ Umgang mit dem Recht ist rational, logisch, schlüssig; gefordert wird ein Umgang, der allgemein oder doch überwiegend anerkannt werden kann. Wer Recht anwendet, muss dem Recht dienen, indem Wortlaut und Sinn des Rechts zur Geltung gebracht werden. Allen Unsicherheiten zum Trotz lässt sich immer noch formulieren, dass es nicht die Aufgabe des Rechtsanwenders ist, das Recht zu „machen“, sondern es zu „finden“; die fontes juris sind nicht dem Willen des Rechtsanwenders überantwortet, sie stehen außerhalb seiner Verfügungsgewalt. Das so knapp umrissene Credo des Juristenstandes lässt sich freilich kaum (mehr) umsetzen. Dass es für das Urteil eines Richters entscheidend sein kann, ob er gut geschlafen oder gefrühstückt hat, ist ungeachtet der Polemik nicht ohne Richtigkeit. Dass derartige kritische Betrachtungen zunehmend Allgemeingut werden, ist Ausdruck einer prinzipiellen In-Frage-Stellung von Autorität qua Funktion. Die „Weisheit“ des Richters, Anwalts, Beamten oder Professors wird immer weniger anerkannt. Hergeleitet wurde sie aus einer Nähe der Person zu einer höheren Weisheit, in aller Regel: einem Gott. Mit dem „Tod Gottes“ bleibt nur die allen zugängliche Vernunft. Rationalität ersetzt Inspiration. Die nach dem „Tod Gottes“ vielfältig unternommenen Versuche, einen rationalen Umgang mit dem Recht zu ermöglichen und so die Kompetenz der Rechtsanwender durch ein Verstandesgnadentum zur Autorität zu adeln, sind immer wieder gescheitert. Der wesentliche Grund liegt darin, dass es nach Gott kein Phänomen des Sollens gibt, das (wenigstens von der Idee her) dem Willen und der Willkür des Menschen entzogen ist: Gott steht für das Absolute der Vernunft. Die Natur der Sache, der Volksgeist, ökonomische Gesetzmäßigkeiten, Logik, herrschaftsfreier Diskurs, Geschichte, Werte: alle diese Erkenntnisquellen sind ungeeignet, das einzig Wahre, das Absolutum zu finden. Die Vernunft, angetreten Ideologien (vor allem die des Glaubens) zu entlarven, kann sich gegen die vielfältigen Einflüsse von Gefühl, Konvention, Vorstellungen nicht behaupten: wer glaubt, absolut aufklären zu können, muss selbst aufgeklärt werden3. In der Philosophie hat diese Erkenntnis längst Fuß gefasst, es wird „entschuldigt“, was lange als unentschuldbar galt und findet ihren Ausdruck in der post-modernen Apologiewelle: die Apologie des Vorverständnisses, des Zufälligen, des sozialen Experiments, des Willens, der Macht. All diese Apologien sind keine Freibriefe, es sind Versuche, die Schwächen des menschlichen Geistes in einer Relativierung der Rationalität fruchtbar werden zu lassen. Die Anerkennung des Allzumenschlichen durch den Menschen ist modern geworden. Die vielfältigen Versuche, die Schwächen der ju3 Vgl. P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft I (1983), 55 f. Vgl. auch S. Zˇizˇek, Die Tücke des Subjekts (2001), 245, Fn. 11 zu Habermas: „Das vollständig realisierte Projekt der Aufklärung würde seinen eigenen Begriff unterminieren.“

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ristischen Rationalität auszugleichen durch Orientierung an formaler Logik, Diskurs, Pragmatismus, Rhetorik oder Erkenntnissen der Sozialwissenschaften vermögen es indes nicht, das Grundproblem des Rechts in den Griff zu bekommen. Sie bringen nur neue rationale Varianten der Rechtsanwendung ins Spiel, die an derselben Schwäche leiden, wie die, die sie ersetzen wollen. Und sie verschärfen das Problem noch, weil jede neue Variante neue Methoden hervorbringt und so die Auswahl unter verschiedenen Prozessen der Ergebnisfindung erweitert: Methodenvielfalt führt zu Ergebnisvielfalt – die Rationalität entmachtet sich mit jedem Versuch einer Behauptung gegenüber der Macht. Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass man (im Ergebnis) nichts akzeptiert, was den eigenen Wertvorstellungen widerspricht. Auch die überzeugendsten Begründungen bringen kaum jemanden dazu, eine Entscheidung als richtig anzusehen, wenn er es nach eigener Wertvorstellung für unabdingbar hält, dass anders entschieden wird. Und wenn diese Person ein Richter ist, dann kommt es im Wesentlichen darauf an, auf welche Weise er meint, die eigenen Überzeugungen vermittelbar durchzusetzen. Methodisch lässt sich häufig auch ein Weg finden, der nicht weniger Überzeugungskraft besitzt als derjenige, der in die entgegengesetzte Richtung führt4. In der Jurisprudenz bahnt sich diese relative Rationalität nur zögerlich ihren Weg, weil jede In-Frage-Stellung der Möglichkeit reiner Vernunft auch die Möglichkeit richtiger Rechtserkenntnis in Frage stellt. Man kann Auslegungsergebnisse weder mit dem eigenen Vorverständnis noch dem eigenen Willen oder gar der eigenen Macht begründen. Ein Urteil, das sich auf den Satz stützt: „Weil ich es so will“, ist in der Revision unhaltbar. Und so bleibt man, ungeachtet aller Erkenntnis von der Schwäche der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, bei der „absoluten“ Rationalität. Die Überzeugungskraft der „rationalen“ Rechtsanwendung beruht aber hintergründig vor allem auf der Autorität der Rechtsanwender, die durch Hierarchisierung des Berufsstandes in Instanzen und durch „Einschüchterung“ qua Dogmatik und Fachsprache gestützt wird. Gerade diese Autorität gerät aber zunehmend ins Wanken. Dass die Politik immer weniger Sorgfalt in Bezug auf die Rechtspflege walten lässt, in oft rücksichtsloser Parteilichkeit Richterposten besetzt und die Autorität von Gerichten durch Kritik an Entscheidungen bedenkenlos demontiert, ist nicht prima causa, sondern Konsequenz einer fortschreitenden Egalisierung der Gesellschaft und der Gleich-Gültigkeit der Überzeugungen. Diese Entwicklung lässt sich aus erkenntnistheoretischer Sicht kaum kritisieren, führt sie doch dazu, dass der Vorhang der Rationalität gelüftet wird. Das Fatale an dieser Entwicklung ist aber, dass einerseits dem Kaiser keine Kleider zur Verfügung gestellt werden, mit der er seine Blöße bedecken könnte, und dass andererseits sich jeder dazu berufen fühlt zu rufen: „Er ist ja nackt“. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die juristische Kommunikation zunehmend erstarrt. Die Methodik ist „zahnlos“ geworden: Sei es das Grund4 Methodenvielfalt als „Vehikel der Richterfreiheit“, M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (19762), 26.

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steuerurteil5, sei es das Kruzifix-Urteil6 – die Argumente prallen gegeneinander und fallen zu Boden. Im Kern geht es durchweg und zentral um die Frage: Was für eine Gemeinschaft, was für einen Staat wollen wir? So bedeutsam diese Frage und so wichtig sie auch immer für die Anwendung der Verfassung ist, so anfechtbar erscheint es, sie in den Mittelpunkt der Verfassungsrechtsarbeit zu stellen. Zwar ist es durchaus denkbar, dass man ein Gremium wie das Verfassungsgericht zur letztverbindlichen Erörterung zentraler politischer Fragen etabliert. Der Erfolg einer solchen politischen Instanz hängt aber von der Anerkennung einer Autorität ab, deren Mangel gerade zur Forderung nach einer Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit führt7. Es bedarf keiner seherischen Fähigkeiten, um das Ende des Prozesses auszumachen: Das Bundesverfassungsgericht wird zu nichts anderem als einer weiteren Instanz im politischen Meinungskampf. Ohne eine überzeugende und im Wesentlichen anerkannte Methodik der Verfassungsauslegung wird Verfassungsrechtsprechung als Instrument zur Abwendung von (kleinen und großen) Verfassungskrisen unbrauchbar. Bei der Entwicklung einer solchen Methodik muss man sich der Schwächen der Rationalität bewusst sein, weil juristische Methodik ein Phänomen rationaler Jurisprudenz ist. Seit der Aufklärung wird die Rationalität als Instrument gesehen, das den Glauben an ein übernatürliches Wesen ersetzen kann durch den Glauben an die Fähigkeit des Menschen, in Freiheit seine Welt zu erklären und zu gestalten. Eingelöst wurde dieses Versprechen bis heute nicht. Dass die Anfänge so ermutigend verliefen, liegt nicht an einer gefundenen Rationalität, sondern an der zunächst noch bestehenden Verbindung von aufklärerischem Geist und anerkannten Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen. In einer hierarchisch strukturierten staatlichen Gemeinschaft können Schwächen der Erkenntnisgewinnung durch Konsens der Herrschenden verdeckt werden. Konkret auf die juristische Methodik bezogen bedeutet dies, dass man die Abhängigkeit der Interpretation von Vorverständnissen solange nicht wahrnimmt, solange alle maßgeblichen Interpreten im Kern dieselben Vorverständnisse haben, bzw. solange abweichende Vorverständnisse in einer unangefochtenen Hierarchie aufgehoben werden. Die „herrschende Meinung“ wird als die richtige Meinung empfunden, solange sie sich nicht aus der Anzahl, sondern aus der Autorität ihrer Vertreter ableitet. Zugespitzt formuliert: Im Staatsrecht der 60er Jahre galt als herrschend, was in Tübingen gelehrt wurde, im heutigen Staatsrechts gilt als herrschend nur noch das, was in der größten Anzahl von Publikationen vertreten wird. Beide Zustände sind unbefriedigend. Während aber der frühere Zustand in sich stabil war, erscheint es heute so, als ob sich die Lage zunehmend zerfasert und in die Labilität gleitet. Grundsatzstreitigkeiten bleiben polar pointiert und eine Versöhnung findet nicht statt. Die wissenschaftliche Diskussion parzelliert sich, die BVerfGE 93, 121. BVerfGE 93, 1 und dazu etwa E. Denninger, KJ 1995, 425; J. Isensee, Politische Studien, Sonderheft 2 / 1995, 19; R. Zuck, NJW 1995, 2903; W. Flume, NJW 1995, 2904; H. Goerlich, NVwZ 1995, 1184; und (sehr grds.) M. Heckel, DVBl. 1996, 453. 7 Vgl. nur A. Rinken, in: AK, 1989, vor Art. 93, Rn. 91. 5 6

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Lager grenzen sich zunehmend voneinander ab, und die Kommunikation verarmt8. Viele Beiträge bemühen sich mehr um Rechtfertigung der Polarisierung denn um Kommunikation mit den gegenläufigen Meinungen. Es wird polemisiert, das eigene Lager wird mit Argumenten munitioniert und durch Gruppencodes immunisiert; zunehmend seltener findet man wissenschaftliche Beiträge, die die ideologischen Grenzen zu überwinden trachten. Viele Argumentationen lassen sich lediglich noch auf ein „Weil wir das so wollen“ zurückführen. Die Erkenntnis, dass Methodik ohne Vorverständnisse nicht auskommt, wird konkludent oder explizit als Rechtfertigung dafür herangezogen, dass man die eigene Methodik als Waffe gegen andere Methodiken in Stellung bringt, es kommt zum Methodenpluralismus. So gesehen ist nicht das Vorverständnis als solches das Problem, sondern das Problem ist das Vorverständnis der Anderen. Der Streit um das Kruzifix-Urteil hat die Situation in aller Schärfe deutlich werden lassen. Er handelt im Wesentlichen alleine von der Vorstellung darüber, welche Rolle der christliche Glaube in unserer Gesellschaft spielen, und welches Gewicht Minderheiten zugestanden werden soll. Dass diese Kontroverse von großer rechtlicher Bedeutung ist, kann kaum bestritten werden. Umso wichtiger ist es, sie so zu lösen, dass die Antwort allgemein als gültig, oder doch wenigstens als methodisch richtig entwickelt angesehen wird. Beides wurde durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil nicht erreicht. Der Streit wurde lediglich mit neuem Material angereichert – ansonsten ging er weiter wie vor der Entscheidung. Egal, ob die Entscheidung gut oder schlecht, richtig oder falsch war: in solchen Vorgängen erweist sich entweder die Verfassung, und damit auch der Verfassungsstaat, oder aber die Methodik der Verfassungsinterpretation als grundsätzlich fragwürdig. Häufen sich derartige Vorkommnisse, dann wird der Verfassungsstaat zum Auslaufmodell. Konsequenzen dieser Art sollten aber ernsthaft erst erörtert werden, nachdem die Möglichkeiten methodischer Arbeit am Verfassungstext hinreichend ausgelotet wurden. Dazu bedarf es eines grundsätzlichen Überdenkens der Rationalität im Recht. Das Material für solche Erwägungen ist überaus reichhaltig. Vor allem die Philosophie hat einen unermesslichen Schatz angehäuft, der der Methodik der Verfassungsinterpretation Anregungen gegeben hat und weiterhin geben kann. Von besonderem Reiz ist dabei, dass die Philosophie ihrerseits immer wieder Impulse aus dem spezifisch Juristischen aufnahm. Bei der Neubesinnung wird man zwei Grundanliegen in den Mittelpunkt stellen müssen. Erstens: Angesichts der Pluralisierung und Enthierarchisierung der Gesellschaft und des Juristenstandes bedarf es einer Kompensation des Wegfalls persönlicher Autorität. Vor allem die Enthierarchisierung der Dogmatik muss kompensiert werden, um die Kommunikation wieder herzustellen. Zweitens: Der Ausgleich muss so beschaffen sein, dass jeder Interpret guten Willens an ihm teilhaben kann, ohne die eigenen Vorstellungen von vorneherein (gleichsam als Eintrittsgeld) opfern zu müssen. Francis Bacon9, der 8 Pointiert: U. Haltern, Der Staat 36 (1996), 551 / 554 f., zu Schwangerschaftsabbruchentscheidungen und Kruzifix-Urteil. 9 Neues Organon (1620), Aph. 67.

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die Schwäche der Rationalität ebenso erkannte wie er sich einer Fundamentalkritik an der Rationalität entgegenstellte, mahnte, „daß den Sinnen und dem Verstand des Menschen und ihrer Schwäche nicht der Glaube zu versagen, sondern Hilfe zu gewähren ist.“ Die Erreichung des so gestellten Zieles leidet allerdings schon im Ausgangspunkt an zwei Handicaps: Zum einen an der inzwischen wohl allgemein anerkannten Tatsache, dass es keine vorgegebene Methodik gibt. Die juristische Methodik ist selbst eine normative Festlegung, deren Überzeugungskraft und Verbindlichkeit im Wesentlichen daran gemessen wird, ob sie die Ziele erreichen kann, die man erreichen will, und ob sie die Erklärungen ermöglicht, die man für nötig erachtet. Zum anderen ist der Gegenstand der juristischen Methodik selbst, das Recht, starken Relativierungstendenzen ausgesetzt. Die Forderung nach einer Rationalität des Rechts bürdet nicht nur den Anwendern des Rechts Lasten auf. Recht wird allgemein nicht mehr nur befragt, es wird hinterfragt, muss also bestimmte Kriterien erfüllen. Wenn das Orakel unklar war, dann befiel die Menschen die Angst, sie könnten es nicht oder falsch verstanden haben. An der Wahrheit des Orakelspruchs wurde nicht gezweifelt; die Sage des Oedipus ist Ausdruck dieser Angst. Dem rationalen Anspruch genügt es dagegen grundsätzlich nicht, zu bestimmen, welche Personen in welchem Verfahren gültiges Recht setzen können10; er fordert die Befragung des Inhaltes des gesetzten Rechts11. Die rechtsphilosophische Relativierung des Rechts verschärft sich parallel zur Relativierung der Methodik. Auch hier kann man feststellen, dass der Rationalitätsanspruch an das Recht im Gefolge der Auflösung der Hierarchien und Autoritäten zum Problem wird. Es ist daher auch wenig erfolgversprechend, sich auf einen irgendwie gearteten „Ethos der Interpreten“ zu verlassen12. Dieser entsteht nur aus einer Verbindung von Rationalität und Herrschaft13, die sich in einem Recht der juristischen Bildung verwirklicht14, einem Standesrecht der Juristen, das auf der Grundlage eines in Ausbildung und Praxis entwickelten Standesethos das Recht in Begriffen und Systemen verarbeitet. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts attestierte Max Weber dem Juristenstand, dass seine einzige ideologische Beziehung zu den gesellschaftlichen Gewalten die Anknüpfung an die „jeweils gerade herrschenden ,legitimen‘ auto10 Die Entwicklung der so verstandenen Rationalität des Rechts geht daher einher mit einem Zurückdrängen formaler Elemente. Besonders augenscheinlich wird dies in der Abkehr von formalen Beweisregeln (z.B.: „Zweier Zeugen Mund tut allerweil die Wahrheit kund“) hin zu freier Beweiswürdigung. 11 Vgl. aber K. Doehring, in: Fs Forsthoff (1972), 103 / 106: Autorität der Norm setzt voraus, dass „nicht ihr Inhalt, sondern schon ihre Existenz Befolgung garantiert“. 12 J. Isensee, in: Fikentscher u.a. (1997), 17 / 21 f. und 26 ff. Wie wenig verlässlich die Einhaltung des Ethos ist, weiß natürlich auch Isensee; siehe etwa a.a.O., 22: „. . . liefert die richterliche Unabhängigkeit den Rechtstitel für die Selbstermächtigung des Richters zu Sozialgestaltung und Weltverbesserung nach eigenem Gusto – intra legem, praeter legem, contra legem.“; vgl. auch ders., Fs Winkler (1997), 367 ff. 13 Zum folgenden M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 387 ff. 14 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 496, bezeichnet die juristische Bildung als die Grundlage eines der drei großen Weltrechte.

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ritären politischen Gewalten“15 ist. Eine solche Art von Recht, das sich zu Beginn des Jahrhunderts auf eine relativ stabile gesellschaftliche Grundlage stützen konnte, wurde im 20. Jahrhundert grundlegend diskreditiert. Die kühle Distanziertheit zu den realen oder propagierten Bedürfnissen der Menschen16 musste nach der Krise der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit im New Deal17 und in der Folge des Zusammenbruchs des Rechts im „Dritten Reich“ aufgegeben werden. Es offenbarten sich die Schwäche einer Rationalität, die an Autoritätsstrukturen haftet und einer Veränderungen dieser Strukturen hilflos ausgeliefert ist. Zwar war und ist das Recht der juristischen Bildung ein Phänomen, das sich fortlaufend regeneriert, weil es unverzichtbar für das praktische Funktionieren der Rechtsordnung ist. Die Veränderungen sind aber zwischenzeitlich so ausgreifend und so häufig, dass dieses Recht keinen Selbststand mehr hat und im Wesentlichen nur noch nachvollzieht, was sich in der Gesellschaft durchsetzt. Die „Entmachtung“ der juristischen Bildung kann sowohl in den USA als auch in Deutschland zeitlich in den 20er und 30er Jahren festgemacht werden18. So unterschiedlich die besonderen geschichtlichen Ereignisse in beiden Ländern auch verliefen, so ähnlich waren die Auswirkungen auf den Stand der Juristen. In den USA zwang ein aktionistischer Präsident (Theodore Roosevelt) den Supreme Court, von dessen wirtschaftsliberaler Rechtsprechung Abstand zu nehmen19. In Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 503. Wie M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 502 f., im Anschluss an seine Analyse der Naturrechtsentwicklung deutlich macht, standen die Juristen seiner Zeit sowohl dem Ansturm materialer Postulate „von unten“ wie „von oben“ kühl gegenüber: „Die feste regelhafte Bestimmtheit aller äußeren Rechte und Pflichten wird ihnen als ein um seiner selbst willen erstrebenswerte Gut erscheinen, und diese spezifisch „bürgerliche“ Grundlage ihres Denkens bedingte ihre entsprechende Stellungnahme in den politischen Kämpfen, welche um die Eindämmung der autoritären patrimonialen Willkür und Gnade geführt wurden“. 17 Besonders deutlich wurde dies im Umgang des SCt. mit Gesetzen im 19. Jahrhundert und vor allem in der New Deal-Rspr. des Hughes-Court in den 30er Jahren. Präsident Roosevelt unterbreitete, nach einigen Niederlagen seiner Gesetze vor dem SCt., den sog. Court packing-Plan, der es dem Präsidenten ermöglichen sollte, bis zu sechs neue Richter an den SCt. zu berufen. Diese unverschleierte Drohung an das oberste Gericht der USA, jede nötige Maßnahme zu ergreifen, um den New Deal zu verwirklichen, hatte die beabsichtigte Wirkung: es kam zum „switch in time that saved nine“. Es war aber nicht nur die politische Drohung Roosevelts, die die Kehrtwende herbeiführte. Sie war vorbereitet durch eine Vielzahl von oft nachgerade bitteren Dissents z.B. von Justice Stone; dazu H. Wechsler, in: Principles, Politics, and Fundamental Law (1961), 83 / 100 ff. 18 In beiden Ländern war diese Zeit durch schwere soziale Krisen geprägt. In Deutschland fand diese Situation Ausdruck in den Schriften von Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck und Ernst Jünger. Ein kurzer Abriss ihrer Gedanken findet sich bei E. Eucken-Erdsiek, Die Macht der Minderheit (19712), 34 ff. 19 Man darf dabei nicht negieren, dass der SCt. durchaus legitime Bedenken gegen die Vorhaben Roosevelts vorbringen konnte. Es ist heute anerkannt, dass Roosevelts Reformen in manchen Aspekten totalitäre Charakteristika aufwiesen. Besonders eklatant ist dies in der Grundkonzeption des National Industrial Recovery Act (NIRA), der eine partielle (aber äußerst bedeutsame) Verstaatlichung der Gesellschaft mit einer Vergesellschaftung des Staates verband. Der NIRA hatte zum Ziel, die Marktwirtschaft abzuschaffen und an ihre Stelle eine 15 16

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der Folge (im Wesentlichen bis zu Brown v. Board of Education20) galt es als ausgemacht, dass das Verfassungsgericht die Entscheidungen der politischen Organe der USA grundsätzlich nicht auf ihre Rechtmäßigkeit hinterfragen darf. In Deutschland ergriffen die Nationalsozialisten die Macht und in der Folge stand jede juristische Arbeit unter dem Diktat des Führerwillens. Die offensichtliche Ohnmacht (und zum Teil auch Willfährigkeit) der Jurisprudenz im Angesicht einer drückenden politischen Macht führte zur Diskreditierung einer ganzen Juristengeneration – eine Diskreditierung, die noch heute Gegenstand von wissenschaftlicher Bewältigungsliteratur 21 ist. Im Ergebnis erwies sich in beiden Ländern das Ideal einer vernünftigen, rationalen Evolution des Rechts gegenüber dem politischen Willen als hilflos22. Während in den USA der Sieg der politischen Macht zu einer wohl besseren und gerechteren Gesellschaft führte, waren die Folgen in Deutschland verheerend. Daher verwundert es nicht, dass die neu entstehende Bundesrepublik eine Verfassungsordnung errichtete, die der Verfassungsgerichtsbarkeit eine zentrale Rolle zuwies. Gestützt wurde dieses Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht von einer – der Zeit an sich unangemessenen – Einigkeit der Wertvorstellungen23. Der schon geraume Zeit bestehende Pluralismus der Werte war durch den vorangegangenen Werteverfall, Krieg, Niederlage und wirtschaftliche Not verdeckt. Ein breiter Wertekonsens, der alle wichtigen Entscheidungen tragen konnte, war in dieser Situation allgemein erwünscht und erschien existenziell notwendig. Der Wertekonsens wurde als durch die Verfassung formuliert angesehen24. Und noch heute erleichtern korporative Struktur unter der Aufsicht des Präsidenten zu errichten. Jeder Industriezweig war gehalten, eine eigenständige Regulierung der wirtschaftlichen Bedingungen vorzunehmen, die sowohl den Interessen der Gewerkschaften als auch denen des Kapitals Rechnung tragen sollte. Die Regulierungen mussten vom Präsidenten bestätigt werden. Die unter dem NIRA eingerichtete Bundesbehörde NRA war angesichts des ungeheuerlichen Verwaltungsaufwandes allerdings schon bald überfordert und das Scheitern des Gesamtkonzepts bereits abzusehen, als der SCt. 1935 in Schechter Poultry Corporation v. U.S. (295 U.S. 495 [1934]) zu erkennen gab, dass der NIRA in vielen Aspekten keinen Bestand vor ihm haben wird. In diesem Kontext sei nur angemerkt, dass sich die Situation in den USA zur Zeit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland ebenfalls als außerordentlich anfällig für einen radikalen Regimewechsel darstellte: die Jahre vor der Wahl 1932 waren geprägt von Protesten, die 1932 so gewalttätig und weit verbreitet waren, dass es nicht übertrieben ist, von einer Umsturzsituation zu sprechen; vgl. dazu J. Sundquist, Dynamics of the Party System (1983), 206; zu der Bildung von Protest-Gruppierungen: 211 f. 20 347 U.S. 483 (1954). 21 Zuletzt H. Dreier und W. Pauly, VVDStRL 60 (2001) 9, 73 jew. mzN. 22 Auch wenn Roosevelts Attacke auf den SCt. zu einem schwerwiegenden Riss in seiner New Deal-Coalition führte und so der Durchsetzung seiner Vorstellungen erheblich schadete; vgl. zum politischen Prozess: B. Ackerman, We the People II (1998), 286 ff. mzN. 23 Vgl. zum Kontext von Zusammenbruch des NS-Regimes und Wertedenken E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 29 / 50 sowie 159 / 162. Zuzustimmen ist ihm insoweit, als er eine Besinnung auf Werte in dieser Situation als „unvermeidlich“ bezeichnet. Ob es auch geboten ist, die Grundrechte als Wertentscheidungen zu konzipieren, erscheint dagegen zweifelhaft; dazu u. 4. Kap. 2. Abschn. B III.

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die Erfahrungen im „Dritten Reich“ den Konsens in manchen Fragen; diese Rückbesinnung wird aber zunehmend aussageärmer: die Befindlichkeit der Menschen unter dem GG ändert sich und mit ihr wird auch die Steuerungsfunktion der Verfassung schwächer. Immer mehr Probleme lassen sich kaum noch in Beziehung setzen zu den Erfahrungen im „Dritten Reich“ und geraten ganz in den „Strudel“ pluralistischer Kontroverse. Fragen etwa wie Abtreibung, Sterbehilfe, Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit uvm. finden in dem Maße neue Antworten, in dem die gelebte Geschichte der Bevölkerung von Frieden, Wohlstand und Sicherheit geprägt ist. Wer heute Abtreibung und Holocaust, Abschiebung und Judenverfolgung oder Auslandseinsätze der Bundeswehr und Zweiten Weltkrieg in Beziehung setzt, verfehlt das Thema. So „einfach“ lassen sich Probleme nicht (mehr) lösen; es gibt keine eindeutigen Antworten. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Vereinigung Westdeutschlands mit der DDR, deren Bevölkerung eine völlig abweichende Lebenserfahrung hat und deren Wertesystem sich in einer Diktatur, ihrem Zerfall und der schwierigen Situation nach der Wiedervereinigung bildete. Es speist sich aus Aspekten von Befreiung, Oktroyierung, finanzieller Unterstützung, Individualität, Hilfsbedürftigkeit, Neugierde und Übervorteilung. So stellt sich die Wertverfassung der Bundesrepublik heute zu einem nicht unerheblichen Teil als Chaos im Rahmen hinreichend funktionierender Staatsgrundprinzipien (Bundesstaat, Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat) dar. Der oft beklagte Werteverfall25 ist in Wahrheit eine Überfluss an Werten, verbunden mit dem Fehlen einer allgemein anerkannten Wertehierarchie 26. Die pluralistische Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihr unterschiedlichste Weltanschauungen nicht nur existieren, sondern grundsätzlich auch gleiche Geltung beanspruchen können. In diesem Rahmen scheinen – jedenfalls auf den ersten Blick – Verfahrensmodelle der Wertverarbeitung und des Interessenausgleichs die einzige Lösung zu sein. Das Verfahrensmodell schlechthin ist die Demokratie: Die Werte, auf die sich die Mehrheit verständigt, sind die „richtigen“ Werte. Freilich müsste dann auch die Konsequenz gezogen werden, die Verfassung als reine Organisationsverfassung zu sehen, und das sind die Verfassungen der Bundesrepublik und der USA gerade nicht. Beide statuieren dezidiert materielle Anforderungen an den Staat. Besonders augenscheinlich wird dies in den Grundrechtsbestimmungen sowie in Art. 79 III i.V.m. Art. 1 und 20 GG. Aber auch ohne diese positivierte Anerkennung „ewiger“ Werte erscheint es unerlässlich, aus der Verfassung mehr als nur Prozessmaximen herzuleiten. Ungeachtet allen Vertrauens in die Demokratie bedarf es auch materieller Vorgaben. In den USA wurde dies vor allem in der Zeit deutlich, als die schwarze Bevölkerung ihren Bürgerstatus einforderte. Als eine Gruppe, die kraft ihrer Hautfarbe Minderheit ist, konnte sie im demokratischen Prozess keine grundlegenden Änderungen bewirken. Der Supreme 24 Exemplarisch etwa die Interpretation der Menschenwürde durch G. Dürig, in: Gesammelte Schriften (1984), 27 ff. 25 Dazu etwa W. Fikentscher u.a., Wertewandel – Rechtswandel (1997), mzN. 26 W. Schmitt Glaeser, Ethik (1999), 16 mN.

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Court half ihnen unter Berufung auf die Verfassung gegen den Mehrheitswillen in vielen Bundesstaaten. Auch wenn die rechtfertigende Natur der Demokratie inzwischen auf die Grundlagen der Wahrheitsfindung und damit auf die Kernkompetenz der Rationalität übergreift27: Das, was in demokratischen Verfahren gewonnen wird, ist nicht unbedingt „die Wahrheit“. Die Entscheidung der Majorität ist nicht deshalb verbindlich, weil sich die Minorität über den wahren Inhalt der volonté générale geirrt hat (Rousseau). Überdies gelingt es auch den demokratischen Verfahren kaum noch, die WertÜberflussgesellschaft zur Raison zu bringen28. Sicherlich ist das demokratische System wie kein anderes zur Steuerung der pluralistischen Gesellschaft geeignet, weil es (im Ansatz) Rationalität und Autorität verbindet. Es ist aber nur formell und insoweit rational, als die Grundlagen rational erklärbar sind: Die entscheidende Institution, das Parlament, wird durch die Bevölkerung gewählt, Entscheidungen werden von Mehrheiten getroffen und sie sind abänderbar. Autorität wird geschaffen durch die Berufung auf das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht (Art. 20 II 1 GG) und gewahrt durch die Abschirmung gegen rationale Kritik. Bewirkt wird dies vor allem durch die Entscheidungsstrukturen. Die Vielzahl von Entscheidern in parlamentarischen Organen und die damit verbundenen Notwendigkeit zu Kompromissen entpersonalisiert Verantwortung und erschwert Kritik am gefundenen Ergebnis. Das demokratische Recht beruht nicht auf Rationalität, es wird präsentiert. Das Parlament oder das Volk „in session“ ersetzt das Orakel. Gottes Rolle übernimmt „das Volk“29. Vor diesem Hintergrund ist es zwar jederzeit möglich, eine demokratische Entscheidung politisch als irrational oder unzweckmäßig zu kritisieren oder sie mit rationalen oder zweckmäßigen Gesichtspunkten zu bekämpfen. Nicht möglich aber ist es, sie ohne weiteres juristisch entweder auf Rationalität (i.S. von Richtigkeit) oder Zweckmäßigkeit30 hin zu untersuchen. Will man (inhaltliche) Rationalität als Grundlage der Gesetzgebung, dann darf man sich nicht auf demokratische Ge27 Dieser Ansatz liegt der Philosophie J. Habermas’ ebenso zugrunde (vgl. dazu vor allem die Ansätze einer Verbindung von Erkenntniskritik und Gesellschaftstheorie, in: Erkenntnis und Interesse [1968], 2001) wie der R. Rortys (Philosophy and the Mirror of Nature [1979]). 28 Zum antinormativen Affekt als Ausdruck eines neuen Daseinsgefühls des modernen Menschen: O. Ballweg, Natur der Sache (1960), 7, 10 ff. 29 Es kommt nicht von ungefähr, dass die Abgeordneten nach Art. 38 I GG „nur ihrem Gewissen“ unterworfen sein sollen und dass bei spezifischen, gesellschaftlich besonders umstrittenen Fragen die Fraktionsdisziplin zurücktritt. Zum Rollentausch von Gott und Volk im demokratischen Staat vgl. C. Schmitt, Politische Theologie (19342), 62 ff. 30 Vgl. etwa A. Heldrich, in: AcP 186 (1986), 74 / 110 f. Wenn H.-M. Pawlowski, Methodenlehre (1981), Rn. 369, meint, staatliche Gesetze könne man „erst dann als ,Bestandteile‘ (Normen) des geltenden Rechts“ erkennen, „wenn man angegeben hat, warum und inwieweit der durch sie festgelegte Zusammenhang von Tatbestand (Beschreibung) und Regelungsanordnung „richtig“ (vernünftig, sachlich angemessen) ist“, so liegt darin ein wichtiger Gedanke für die Auslegung, nicht aber für die Anerkennung der Normativität. G. Roellecke, HStR II (19982), § 53, Rn. 40, bringt es auf den Punkt: „Im Parlament entscheidet die Mehrheit und nicht der Sachverstand“.

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setzgebung stützen31. Ungeachtet aller möglichen Irrationalität schafft sie geltendes Recht32. Dabei kann es aber nicht sein Bewenden haben. Auch wenn man anerkennt, dass irgendein verlässliches Verfahren notwendig ist, um Entscheidungen zu treffen, und auch wenn man es als sinnvoll ansieht, hierfür ein Gremium zu schaffen, das sich aus Wahlen rekrutiert und nach Diskussionen Mehrheitsbeschlüsse fasst: das Ergebnis kann sich letzten Endes einer Untersuchung anhand materieller Kriterien doch nicht entziehen. Ethische Imperative, utilitaristische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder auch politische Maximen beanspruchen selbst dann Gültigkeit, wenn sie im Prozess der Gesetzgebung nicht genügend „gehobene Hände“ auf ihre Seite ziehen können. Mit der Hinterfragung des Rechts öffnet sich die Rechtsarbeit der materiellen Rationalität in all ihren Facetten und Unwägbarkeiten33. Ein Weg, diese Vielgestaltigkeit in den Griff zu bekommen, ist die Ermittlung und systemische Verknüpfung fester Grundsätze. Diese Form der Disziplinierung materieller Rationalität verträgt sich allerdings nur eingeschränkt mit dem demokratischen Gedanken. Die Ermittlung einer Ordnung hinter den mehr oder weniger konkreten Ergebnissen der Rechtsarbeit war das Kern-Anliegen der Rezeption des römischen Rechts durch die gemeinrechtliche Jurisprudenz und sie prägte im 16. und 17. Jahrhundert auch das ursprünglich auf ständischer Rechtspflege beruhende und durch Kasuistik zerfaserte Common Law. Der Code Civil und – in gewissem Maße – auch das Bürgerliche Gesetzbuch waren die Kulminationspunkte dieses Bemühens; ihre Grundlagen fanden sie im Wesentlichen in der Vernunft. Wenn Max Weber in Bezug auf den Code Civil von dem Genie als Grundlage der Kodifikation spricht, so ist damit sicherlich nicht nur Napoleon gemeint. Gemeint ist damit auch und vor allem, dass die Kodifikationen der vor-pluralistischen Gesellschaft einen Konsens der Gebildeten, und das hieß auch: der Herrschenden, zum Ausdruck brachte. In der pluralistisch-demokratischen Gesellschaft genügt ein solcher Konsens nicht mehr. Das Naturrecht, die Vernunft, die Gerechtigkeit, alle diese Bezugspunkte geistes- und 31 Vgl. etwa die Kritik am Mehrheitsprinzip von M. Horkheimer, Eclipse of Reason (1946), 30: „It is a new god, not in the sense in which the heralds of the great revolutions conceived it, namely, as a power of resistance to existing injustice, but as a power of resistance to anything that does not conform.“ 32 Um mit Justice Scalia, Pennsylvania v. Union Gas Co., 491 U.S. 1 (1989) 34, zu sprechen: „It is [not] our task . . . to enter the minds of the Members of Congress – who need have nothing in mind in order for their votes to be both lawful and effective“. Hier lässt sich an die Smend’sche Vorstellung (in: Staatsrechtliche Abhandlungen [19943], 215 f.) anknüpfen, wonach Gesetze ihre Verbindlichkeit aus der politischen Verfassungs- und Gesetzgebungsgewalt ziehen (formale Legitimation). Zweckmäßig bedeutet natürlich auch immer eine an Popularität orientierte Regulierung. Damit ist noch nicht sogleich an Meinungsumfragen gedacht (dazu – mit anderer Tendenz wie hier – E. Benda, JZ 1972, 497; siehe auch unten: 3. Kap. 3. Abschn. C). 33 Die folgenden Überlegungen sind ganz wesentlich von Max Webers Ausführungen in Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 396 f., geprägt, die freilich terminologisch und auch inhaltlich stark auf die Begriffsjurisprudenz (vgl. etwa die Bezugnahme auf R. Stammler) ausgerichtet werden und sich daher für die heutige Diskussion nur mittelbar verwenden lassen.

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rechtswissenschaftlichen Strebens werden zu vagen Leitbildern, die vielen unterschiedlichen Konzepten Pate stehen können. Die Entstehung von neuem Recht hat sich in der demokratischen Gesetzgebung von der juristischen Bildung in dem Maße abgelöst, in dem sich die juristische Bildung in Vielfalt auflöst. Die Zurückdrängung umfassender Kodifikationen zugunsten sachspezifischer Gesetze ist nur ein Ausdruck dieses Wandels. Max Weber34 hat das Schwinden der alten Naturrechtsvorstellungen dafür verantwortlich gemacht, dass die Möglichkeit „prinzipiell vernichtet“ wurde, „das Recht als solches kraft seiner immanenten Qualitäten mit einer überempirischen Würde auszustatten“. Darüber hinaus sind die immanenten Qualitäten des Rechts fraglich geworden, weil in der Demokratie gerade die Änderbarkeit des Rechts mit zu seiner Legitimationsgrundlage wird. Die Positivität des Rechts ist nicht die Fixiertheit des Rechts, die Platon für einen Garanten gegen alles Ungerechte ansah35, es ist die Annahme veränderbaren Rechts. Diese Positivität ernst zu nehmen heißt, die Änderbarkeit zu ermöglichen36. So koppelt der Positivismus das Recht von der materiellen Rationalität ab und bemüht sich darum, die Emanationen des herrschenden Rechtssetzers so genau wie möglich von anderen bestimmenden Faktoren abzugrenzen37. Diese Faktoren sollen nur auf die Veränderung von Recht Einfluss haben können, und diese Veränderung soll den politischen, demokratischen Organen überlassen sein. Vereinfacht kann man das Anliegen darin sehen, der Pluralisierung der Grundlagen materieller Rationalität dadurch zu begegnen, dass man nur noch das als Recht zur Kenntnis nimmt, das im Prozess staatlicher Entscheidungsfindung als verbindlich festgelegt wurde, das aber eben jederzeit auch verändert werden kann. Vor diesem Hintergrund sind Verfassungen Fremdkörper im Recht pluralistischer Gesellschaften, denn eines ihrer Hauptanliegen ist Konstanz38. Damit entsteht eine Spannungslage, der die Interpretation Rechnung zu tragen hat. Einerseits muss man den Gehalt von Verfassungen so weit konkretisieren, dass sie dem staatlichen Geschehen feste Rahmenbedingungen geben können, andererseits darf man sie nicht so weit detaillieren, dass sie die Abänderbarkeit des „unter“ ihnen positivierten Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 502. Nomoi, 12. Kapitel, 8. 36 Vgl. zur Gesetzesinterpretation z.B. F. Frankfurter, in: 47 Colum.L.Rev. 527 (1947) 533, der ausführt: „no one will gainsay that the function in construing a statute is to ascertain the meaning of words used by the legislature. To go beyond it is to ursurp a power which our democracy has lodged in its elected legislature“. 37 Vgl. z.B. bzgl. der Moral H. Kelsen, Reine Rechtslehre (19341), 12 ff. 38 Besonders deutlich wird dies bei H.L.A. Hart, The Concept of Law (1961), 106 f., wenn er die Verfassung nur dann als „rule of recognition“ anerkennen will, wenn sie keine Verfassungsänderung ermöglicht oder bestimmte Klauseln von der Änderungsmöglichkeit ausnimmt. Die rule of recognition ist für Hart der Grundstein des Rechts, weil sie es erlaubt, Recht von Nicht-Recht abzugrenzen. Für den deutschen Rechtskreis etwa P. Kirchhof, HStR II (20043), § 21, Rn. 3: „Das Verfassungsgesetz ist auf dauernde Geltung angelegt, beansprucht prinzipiellen Bestand und wird nur ausnahmsweise geändert.“ 34 35

Einleitung

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Rechts ausschließen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Positivismus die Verfassungen nur mit größten Schwierigkeiten und meist nur unter InKauf-Nahme eines konzeptionellen Bruches einbinden kann39. Der Positivismus kann, um es zuzuspitzen, nur für abänderbares Recht überzeugen. Ist Recht nicht abänderbar, so müssen die Entscheidungen auf seiner Grundlage auch ethische und andere materiell-rationale Erwägungen einbeziehen40. Damit aber eröffnet sich wieder der Bannkreis des Pluralismus: Es gibt kaum mehr allgemein anerkannten Werte, und die Werte, die noch eine gewisse Anerkennung beanspruchen können, lassen sich in keine Rangfolge mehr bringen. Durch das unaufhaltsame Schwinden fester Herrschaftsstrukturen wird die Vielzahl unterschiedlicher und oft auch gegensätzlicher Wertüberzeugungen zum Problem für die Autorität auch des Verfassungsrechts. Ohne den Umschwung zu einer totalitären Demokratie oder in ein anderes Regime, das einen Wertekonsens erzwingt, ist dieser Prozess nicht umkehrbar. Die juristische Methodik muss sich dieser Situation stellen, will sie ihre Aufgabe erfüllen, die in der Aufrechterhaltung der Kommunikation unter Juristen im Allgemeinen und den Rechtsanwendern im Besonderen zu sehen ist. Die Chance, die die Methodik dabei bietet, ergibt sich aus der Möglichkeit, über Methodik zu diskutieren, ohne von vorneherein die Sachfragen ins Auge zu nehmen41. Natürlich ist jede Aussage über Methoden von Vorverständnissen abhängig und niemand, der über Methodik nachdenkt, wird die Konsequenzen bestimmter Konzeptionen für die Ergebnisse außer Acht lassen. Gleichwohl kann über Methodik nach wie vor politikübergreifend diskutiert werden; die Kommunikation ist noch hinreichend intakt. Im folgenden soll das Thema für die Methodik der Verfassungsinterpretation präzisiert und die Fragen herausgearbeitet werden, die einer Antwort bedürfen. Im Ergebnis wird eine Methodik vorgeschlagen, die die Arbeit mit und an der Verfassung ermöglicht, ohne das, was an Konsens verblieben ist, zu entwerten, und ohne das auszuschließen, dessen Negierung die Verfassung auf mittlere oder längere Sicht auflösen könnte: die Vorverständnisse derer, die sich (bislang noch) nicht durchsetzen können. 39 So muss H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925), 249, eine „Verfassung in einem rechtslogischen Sinne“ konstruieren, die durch „ein das Recht erzeugendes Organ“ gebildet wird, welches durch die Grundnorm eingesetzt ist. Der „solcherweise geschaffene Gesetzgeber“ setzt Normen, „die die Gesetzgebung selbst regeln“, welche dann die „Verfassung im positivrechtlichen Sinne“ entstehen lässt – schon die schiere Komplexität der Konstruktion weckt Zweifel. 40 Vgl. z.B. Justice Harlan in: Poe v. Ulman, 367 U.S. 497 (1960) 539, 542 et passim. Dazu L. Tribe / M. Dorf, On Reading the Constitution (1991), 78: „His lesson is that, if constitutional decision making is to be in any sense ,rational‘ then one must seek rationalizing – that is, unifying principles to link disparate decisions.“ 41 So sieht F. Nietzsche (Der Wille zur Macht [1883 bis 1888], 3. Buch, I, a, Aph. 466 ff.) die Methoden als das letzte Refugium der Philosophie vor dem Pathos der Menschheit und formuliert, a.a.O., Aph. 469: „Die Gewissenhaftigkeit im kleinen, die Selbstkontrolle des religiösen Menschen war eine Vorschule zum wissenschaftlichen Charakter: vor allem die Gesinnung, welche Probleme ernst nimmt, noch abgesehen davon, was persönlich dabei für einen herauskommt“.

1. Kapitel

Theorie und Verstehen der Verfassung Verfassungsinterpretation ist ein intellektueller Prozess, der aus dem Verfassungstext und aus der von ihm konstituierten Ordnung Erkenntnisse für die Bestimmung und Entwicklung der Verfasstheit des Staates zu gewinnen sucht. Man kann diese Definition auch auf den Kopf stellen und Verfassungsinterpretation als Prozess verstehen, der aus der Bestimmung und Entwicklung der Verfasstheit des Staates Erkenntnisse für den Verfassungstext und die von ihm konstituierte Ordnung gewinnen lässt. Beide Definitionen haben ihre Rechtfertigung, beide können auch ineins gesetzt werden. So formuliert Josef Isensee1 in Anlehnung an die juristische Hermeneutik von Engisch, dass das „verfassungs-adäquate Staatsbild . . . nur im ,Hin- und Herwandern des Blickes‘ zwischen Staat und Verfassung als den einander zugeordneten Größen zu erkennen“ ist. Das Verhältnis von Verfassungsbzw. Verfassungsstaatstheorie und Verfassungsinterpretation ist bedeutsam für die Normativität der Verfassung, weil die Verfassungstheorie „verbindliche Leitgesichtspunkte und darauf gegründete dogmatische Strukturen für die Interpretation abzugeben vermag“2. Und man findet auch kaum eine Verfassungstheorie, die keine Schlussfolgerungen für die Interpretation enthält und keine Abhandlung über Verfassungsinterpretation, die nicht zu klären sucht, was Verfassung ist. Aber wie ist die Frage zu beantworten, was das Ei und was die Henne ist, welche Beziehung zwischen Verfassungstheorie und Verfassungsinterpretation angemessen erscheint und was die Maßstäbe für diese Angemessenheit setzt: die Interpretation oder die Theorie? Besonders deutlich wird das Gewicht und auch die Schwierigkeit dieser Fragestellung bei Ernst-Wolfgang Böckenförde3. Ausgangspunkt ist die von ihm als notwendig angesehene Normativität der Verfassung und die Beobachtung, dass die meisten Methodiken der Verfassungsinterpretation diese Normativität nicht verwirklichen können. Den Grund für dieses Versagen sieht er in der fehlenden oder mangelhaften gegenseitigen Ausrichtung von Verfassungstheorie und Interpretation. Dabei entsteht das Problem, ob es eine richtige, oder genauer: eine verbindliche Verfassungstheorie geben kann, ob also „eine solche Verfassungstheorie, die ihrerseits nicht wieder Ausfluß interpretatorischer Standpunktnahme und subjektiv 1 2 3

In HStR II (20042), § 15, Rn. 192. E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 53 / 82. In: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 53, 115.

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bleibender Vorverständnisse ist, ernsthaft postuliert werden“ kann4. Die von ihm gestellte Aufgabe der Entwicklung einer solchen der Interpretation hilfreichen Verfassungstheorie muss seiner Ansicht nach folgendermaßen angegangen werden5: Zunächst erhebe sich die Frage, ob die Verfassung vorgegeben oder aufgegeben, d.h. ob an ihrem normativ verbindlichen Charakter festzuhalten ist6. Normativität unterstellt, müsse als nächstes geklärt werden, wie weit dieser normativ-verbindliche Charakter ausgreift, ob also den verschiedenen Teilen der Verfassung verschiedene Regelungsdichten eigen sind. Schließlich fordert er eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit7. In den Kontext gestellt, steckt in Böckenförde’s Ansatz die ganze Komplexität des hermeneutischen Zirkels: Um etwas zu verstehen, muss man schon etwas verstanden haben. Um die Verfassung zu verstehen, muss man verstanden haben, was eine Verfassung ist. Aber was muss – um die bereits oben gestellte Frage zu wiederholen – anhand wessen verstanden werden? Wenn Böckenförde meint, man könne die Normativität der Verfassung nur bewahren, wenn man sich über eine auf die Interpretation ausgerichtete Verfassungslehre einigt, dann wird nicht deutlich, welche Frage diese Verfassungstheorie zu beantworten helfen soll.

A. Die Frage nach der Verfassung als Ausgangspunkt des Verstehens Im formellen Sinne versteht man unter Verfassung ein Gesetz, das die höchste Norm der staatlichen Rechtsordnung darstellt, erschwert abänderbar ist und daher eine erhöhte Bestandskraft hat; im materiellen Sinne ist sie die Grundlage des staatlichen Gemeinwesens8. Worin besteht aber nun der Gegenstand der Verfassungsinterpretation? Wie lässt sich der Gegenstand des Verstehens einordnen? Die Grundannahme jedenfalls ist richtig: Um etwas zu verstehen, braucht man eine Vorstellung von dem, was man verstehen will. Martin Heidegger9 formuliert pointiert: „Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben.“ Er sieht in diesem Zirkel kein vitiosum, aus dem man herauskommen muss; das entscheidende sei, „in ihn nach der rechten Weise hiIn: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 53 / 83. In: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 53 / 85 ff. 6 Zum Konnex Aufgegebenheit der Verfassung und Abbau der Normativität ablehnend: W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates (1945), 119 f. 7 Offenbar versteht E.-W. Böckenförde die Frage danach, ob die Verfassung vorgegeben oder aufgegeben ist als Frage danach, ob man Verfassung als prozedural oder formal (dazu sogleich) begreifen soll. 8 Vgl. J. Isensee, in HStR II (20042), § 15, Rn. 184 ff. mwN. 9 Sein und Zeit (199317), 152 f. Dazu auch Chr. Graf v. Pestalozza, in: Der Staat 2 (1963), 425 / 431 f. und G. Radbruchs (Einführung in die Rechtswissenschaft [196912], 169) geflügeltes Wort, dass die Auslegung das Ergebnis ihres Ergebnisses sei. 4 5

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1. Kap.: Theorie und Verstehen der Verfassung

neinzukommen“. Entscheidend ist also, was man an der Verfassung verstehen kann und was man verstehen will. Der Sinn der Frage ist – nach Hans-Georg Gadamer10 – die Richtung, in der die Antwort allein erfolgen kann, wenn sie sinnvolle, sinngemäße Antwort sein will. Es geht folglich nicht alleine darum, zu fragen: „Was ist Verfassung?“11, sondern auch darum, ob es die richtige Frage ist, um in den Zirkel des Verstehens in der rechten Weise hineinzukommen. Und: Es geht darüber hinaus darum, wie viel man (vorthematisch) am Phänomen Verfassung verstanden haben muss12, um Verfassungen auslegen (thematisieren) zu können. Als Gegenstände der Untersuchung bieten sich an: Die Verfassung und das Verfassungsgesetz, die zu unterscheiden nach Carl Schmitt13 den Anfang jeder weiteren Erörterung und der Begriffsbestimmung von Verfassung darstellt. Verfassungsgesetz ist die formelle Verfassung, wie sie oben beschrieben wurde. Für die Bundesrepublik Deutschland sind dies die etwa 150 Artikel des Bonner GG. Ungeachtet aller Differenzen im Einzelnen kann man hierüber wohl noch Einigkeit herstellen, auch, weil diese Begriffsbestimmung keine weit reichende Konsequenz hat. Was dagegen unter materieller Verfassung zu verstehen sei, ist äußerst umstritten; hier beginnen die Auseinandersetzungen. Dabei lässt sich Verfassungslehre von Staatslehre kaum trennen, nicht nur, weil Verfassungslehre auf den Grundbedingungen und dem Zweck jeglicher Staatlichkeit, Frieden und Sicherheit, aufbaut14, sondern auch, weil es für das Verstehen der Verfassung ebenso darauf ankommt, was für ein Staat es ist, der die konkrete Verfassung hat15. Die Integrationslehre Rudolf Smend’s16 etwa sieht den Staat als Sinnverwirklichung, die Verfassung demnach als gesetzliche Normierung einzelner Seiten des Integrationsprozesses. Für Carl Schmitt17 ist Verfassung eine „grundlegende politische Entscheidung des Trägers der Verfassunggebenden Gewalt“; für die Weimarer Verfassung waren dies nach seinem Dafürhalten Demokratie, Republik, Bundesstaatlichkeit, Parlamentarismus und bürgerlicher Rechtsstaat. Für Josef Isensee18 ist Verfassung vor dem HinterWahrheit und Methode I (19906), 368; vgl. u.a. auch S. Fish, Is there a Text in this Class (1980), 1. 11 J. Isensee, in: HStR II (20043), § 15, Rn. 191 f. 12 Mit anderen Worten: Als was sie verstanden werden soll. Dazu M. Heidegger, Sein und Zeit (199317), 149: „Das ,Als‘ macht die Struktur der Ausdrücklichkeit eines Verstandenen aus; es konstituiert die Auslegung“. 13 Verfassungslehre (19573), 21. Die Unterscheidung lässt sich schon bei P. Laband (Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. I [19115], 34, Anm. 1) ausmachen. 14 J. Isensee, in: HStR II (20043), § 15, Rn. 83 ff. 15 Nichts anderes gilt für das Verhältnis von Staatsrecht und Verfassungsrecht: vgl. etwa H. Maurer, Staatsrecht (1999), Vorwort: „Das Buch bringt eine Darstellung des geltenden Staatsrechts, das vor allem im Grundgesetz zum Ausdruck kommt und deshalb weitgehend mit dem Verfassungsrecht identisch ist.“ Vgl. auch ders., ebenda, § 1 Rn. 43 f. 16 In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943), 119 / 189, s. auch 136 ff., insbes. 160 ff. 17 Verfassungslehre (19573), 23. 18 In: HStR II (20043), § 15, Rn. 137 ff. 10

1. Kap.: Theorie und Verstehen der Verfassung

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grund des Typus „moderner Verfassungsstaat“ zu erläutern, der sich in Deutschland vor allem als Mitglied in der Staatengemeinschaft darstellt und Elemente des bürgerlichen Rechtsstaates, der Demokratie und der Bundesstaatlichkeit vereint. Ein besonderes Augenmerk richtet Isensee dabei überdies auf die Wehrhaftigkeit des Verfassungsstaates. Das BVerfG19 folgt in Anlehnung vor allem an Günter Dürig20 einem wertbezogenen Verfassungsverständnis, das von seiner Grundanlage her in alle gesellschaftlichen Lebensbereich ausgreifen kann21 (aber nicht muss, wie gerade die Konzeption Dürigs zeigt)22. Alle diese Verständnisse von Verfassung sind nicht nur für die Erörterung des Phänomens Verfassung bzw. Verfassungsstaat bedeutsam; sie sind für ihre Protagonisten auch zugleich Grundlage der Interpretation der Verfassung. Denn gleichgültig, ob die Verfassungstheorie beim Text der Verfassung ansetzt oder ihn lediglich als Teil des zu entwickelnden Verfassungsverständnisses ansieht: Irgendwann spielen die einzelnen Bestimmungen eine Rolle, sei es als Grundlage, Elemente oder zu überwindende Hindernisse. Daraus ließe sich folgern: Es gibt keine Verfassungslehren ohne Auslegung einzelner Verfassungsbestimmungen, also ohne Verfassungsmethodik und vice versa.

B. Verfassung als Ordnung und Prozess Die Lehren von der Verfassung können sich einer Vielfalt an Materialien bedienen; besonders bedeutsam sind dabei Ideen von Staat, Verfassung und Gesellschaft sowie der Verfassungstext und das verfasste Gemeinwesen. Die Möglichkeiten der Klassifizierung verschiedener Verfassungslehren sind dementsprechend vielfältig. Man kann sie im Wesentlichen nach der Bedeutung von Werten, des Textes der Verfassung oder der sozialen Gegebenheiten unterteilen. Vorliegend geht es (nur) darum, die in den Verfassungslehren verkörperten Interpretationsansätze zu ermitteln. Weil die Interpretation der Verfassung an irgendeinem Punkt immer zum Verfassungstext kommt, ist dessen Bedeutung hier von besonderer Relevanz. Davon ausgehend bietet sich eine Einteilung der Verfassungslehren danach an, inwieweit sie der positiven Verfassung eine Ordnungsfunktion zuweisen, d.h. wie der Verfassungstext in Beziehung steht zu der tatsächlichen Verfasstheit des Gemeinwesen. So betrachtet lassen sich die Verfassungslehren einteilen nach solchen, die Verfassung als feste Ordnung begreifen (OrdnungsTheorien), und solchen, die in ihr eher eine bedeutsame Grundlage der Bildung einer dynamischen Ordnung erkennen (Prozess-Theorien). Von besonderem Inte19 E 6, 32 / 41; E 7, 198 / 205; E 14, 288 / 391 und ständig; s. etwa noch E 35, 79 / 114 mwN. 20 In: Maunz / Dürig, Art. 1 I, Rn. 1 ff.; Art. 2 I, Rn. 3 ff. („Wert- und Anspruchssystem des Grundrechtsteils der Verfassung“); ders., in: Gesammelte Schriften (1984), 127 ff. Dazu auch P. Häberle, ebenda, insbes. 20 ff. 21 Vgl. auch E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 29 / 51. 22 Dazu noch ausführlicher unten 4. Kap. 2. Abschn. B III 1.

3 Schmitt Glaeser

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resse ist dabei der unterschiedliche Stellenwert, den die beiden Konzeptionen dem Verfassungstext zuweisen. Angesichts des Wortlautes des GG erscheint es nahe liegend, die deutsche Verfassung als eher feste Ordnung zu begreifen. Die „verfassungsmäßige Ordnung“ kann als Leitmotiv des GG angesehen werden; sie findet sich in zentralen Bestimmungen und an vielen hervorgehobenen Textstellen (z.B. Art. 2 I, 9 II, 20 III, 20a, 28 III, 98 GG)23. Man könnte schlussfolgern, dass damit allen prozessual ausgerichteten Verfassungslehren, zumindest für das GG, der Boden entzogen ist. In der Anfangszeit des GG wurde diese Folgerung offensichtlich auch gezogen. Jedenfalls überwiegen Verfassungsverständnisse, die das GG als Wertordnung begreifen24.

I. Verfassung als Ordnungsrahmen Nach Georg Jellinek25 bedarf jeder „dauernde Verband . . . einer Ordnung, der gemäß sein Wille gebildet und vollzogen, sein Bereich abgegrenzt, die Stellung seiner Mitglieder in ihm und zu ihm geregelt wird. Eine derartige Ordnung heißt eine Verfassung.“ Mehr an theoretischen Ausführungen lassen sich bei Jellinek kaum ausmachen; mit dieser Feststellung beginnt er die Arbeit an und mit der Verfassung26. Eine theoretische Grundlegung dieses Vorgehens findet sich bei Carl Schmitt, der Verfassung als „ein einheitliches, geschlossenes System höchster und letzter Normen“27 versteht. Mit einer positivistischen Grundlegung eines solchen Systems als normatives System kann Schmitt allerdings nichts anfangen, weil ein System oder eine Einheit entweder der Begründung in Richtigkeit und Vernunft28 oder im Willen bedarf. Weil die Grundlegung in der Richtigkeit aber zur Konsequenz hätte, dass die Verfassung jegliche Positivität verliert29, gelangt er zum Willen der verfassunggebenden Gewalt als Grundlage der absoluten Verfassung und zur „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit“, der „positiven Verfassung“30. So entsteht die absolute Verfassung, die eben nicht nur ein System höchster und letzter Normen ist, sondern auch „der konkrete Gesamt23 D. Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat (1977), 4. – Keine Rolle spielt in diesem Zusammenhang, dass der Begriff nicht in jeder der angegebenen Bestimmungen die exakt gleiche Bedeutung besitzt: dazu etwa BVerfGE 6, 32 / 57 f. und allg. Ph. Kunig, in: v. Münch / Kunig I (20005), Art. 2, Rn. 22 mN. 24 Vgl. exemplarisch etwa G. Dürig, in: Gesammelte Schriften (1984), 127 ff. 25 Allgemeine Staatslehre (19143), 505. 26 Sogar im Falle einer Verfassungsarbeit de lege ferenda!, dazu seine Schrift: Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich (1885), in der er auf (nur) etwa 2 Seiten (1 f.) die Grundlagen seiner Erörterungen legt. Scharfe Kritik erfährt die „Theorielosigkeit“ Jellineks durch R. Smend, in: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943), 119 / 121, 124. 27 Verfassungslehre (19573), 7. 28 Verfassungslehre (19573), 8 f. 29 Verfassungslehre (19573), 9. 30 Verfassungslehre (19573), 20 ff.

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zustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates“31. Aus Sicht der Verfassungsmethodik leiten diese Konzeptionen den materiellen Gehalt der Verfassungsordnung im Wesentlichen aus dem Verfassungstext her. Mag auch die theoretische Begründung unterschiedlich sein, im Ergebnis lassen sich danach die Gehalte der Verfassungsordnung aus den Formulierungen in der Verfassung erschließen. Auch Rudolf Smend32 orientiert sich – jedenfalls im Ansatz – am Gedanken einer Ordnung, wenn dies auf den ersten Blick auch nicht ohne weiteres erkennbar ist; denn die Verfassung wird als „ein dauernd seinen Sinn erfüllendes Integrationssystem“ charakterisiert, und das Verstehen der Verfassung beruht für ihn auf einem zeit- und umstandsgerechten Verstehen des staatlichen Daseins. Dieses Dasein ist kein ruhendes Ganzes, sondern entwickelt sich aus „einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigung eines geistigen Gesamtzusammenhangs sind“33. Insoweit folgen ihm auch die prozessualen Konzeptionen von Konrad Hesse34 und Peter Häberle35. Dann trennen sich die Wege aber wieder. Besonders deutlich wird dies dort, wo Smend selbst auf die Verwandtschaft seiner Integrationskonzeption mit dem Ansatz der faschistischen Staats-„Theorie“ verweist36. Wie später auch Häberle, sieht es Smend als für die Verfassungslehre bedeutsam an, in welche Kulturzusammenhänge die Tätigkeit des Geistes hineinwirkt. Anders als Häberle sieht Smend indes hier eine „Wertgesetzlichkeit des Geistes“ am Werke37 und damit eine Ordnung, die die Verfassung strukturiert38. Der Smend’sche Verweis auf die faschistische Staatstheorie kann dabei gar nicht deutlich genug betont werden. Die ansatzweise „totalitäre“ Sicht der geschichtlichen Entwicklung lässt die Verfassung als Ordnung der Entwicklung erscheinen. Die Unterschiede der verschiedenen Ansätze, die dem Verständnis der Verfassung als Ordnung zugrunde liegen, können ebenso in der Methode der Ermittlung des materiellen Gehalts dieser Ordnung und damit in der Methodik der Verfassungsinterpretation ausgemacht werden. Die Ordnung nach Jellinek und Schmitt lässt sich im Ergebnis nur aus dem Text der Verfassung verstehen, sei es, weil dieser Text eben existiert, sei es, weil er kraft des Willens der verfassunggebenden Verfassungslehre (19573), 4. 32 In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943) 119 / 242. 33 In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943) 119 / 136. 34 Grundzüge (199520), Rn. 5 ff., 16 ff., insbes. auch Rn. 36 ff. (zur Zuordnung von „Starrheit“ und „Beweglichkeit“ der Verfassung). 35 In: Verfassung als öffentlicher Prozeß (19962), 182 / 190; ders., ebenda, 59 / 65, jew. mwN. 36 In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943), 119 / 141. Auf die faszinierenden Interaktionen der Konzepte Hegels mit den totalitären Ansätzen des Faschismus und des Sozialismus kann hier nicht eingegangen werden; dazu sehr pointiert (allerdings nur bezogen auf den Marxismus): K. Popper, Die offene Gesellschaft II (19927). 37 In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943) 119 / 141, 165, 190, 195. 38 Vgl. D. Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat (1977), 11. 31

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1. Kap.: Theorie und Verstehen der Verfassung

Gewalt gesetzt wurde. Unter Zugrundelegung der Lehre von Smend wird die Interpretation dagegen besonderes Gewicht auf die historische und teleologische Interpretation legen müssen. Vor diesem Hintergrund steht im Übrigen auch Günter Dürigs39 Konzeption der grundgesetzlichen Wertordnung. Für ihn findet das GG in Art. 1 I GG gleichsam Anfang und Ende; der Staat unter dem GG ist in erster Linie der Staat, der die Menschenwürde schützt. Die Grundlage dieser Ordnung und ihr Gehalt erklärt sich für Dürig in erster Linie aus den Erfahrungen im „Dritten Reich“; diese Erfahrungen und die Lehren, die daraus gezogen werden können, sind Grundlage und Legitimation der Ordnung des GG. So deutlich dies in vielen Schriften Dürig’s auch aufscheint, so wenig wird es von ihm theoretisch unterfüttert. Man möchte vermuten, dass für Dürig die Theorie angesichts der gelebten Geschichte nicht mehr nur grau, sondern unwichtig erschien. In einem gewissen Sinn ist für ihn das GG ein Abschlussdokument der Geschichte.

II. Verfassung als Prozessrahmen Ohne Übertreibung lässt sich konstatieren, dass Smend‘s Lehre den kopernikanischen Punkt der deutschen Verfassungslehre darstellt, weil er nicht nur die Sicht der Verfassung als Ordnung in neue Perspektiven gerückt, sondern auch, weil er die Grundlage für eine prozessuale Sicht der Verfassung gelegt hat. Ihm kommt in etwa dieselbe Bedeutung zu, die Roscoe Pound in der U.S.-amerikanischen Rechtstheorie besitzt40. Stark vereinfachend lässt sich in der Grundkonzeption von Smend und Pound die juristische Antwort auf Eugen Ehrlich41 sehen, der seine „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ 1912 in dem Satz zusammenfasst, der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege in der Gesellschaft selbst. Mit der Einführung der Wirklichkeit als normativer Aspekt des Rechts, mit der Überwindung der Dichotomie von Sollen und Sein, eröffnet sich nicht nur eine neue Sicht der Ordnung, sondern auch die Möglichkeit des Abschieds vom Ordnungsdenken. Im deutschen Rechtskreis sind es vor allem Konrad Hesse und Peter Häberle, die diese Möglichkeit realisiert haben. In seiner Verfassungslehre bezeichnet Häberle Verfassung als „rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft“, die offen ist sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft hinein und ebenso offen ist für die Fülle von Sinngebungen der Menschen, die unter ihr leben42. Wie Smend hält er es für entscheidend, beim Verständnis des Textes der Verfassung dem Raum und der Zeit auf die Spur zu kommen, in denen dieser Text steht43. Die Zeitoffenheit findet sich auch bei 39 40 41 42 43

In: Gesammelte Schriften (1984), 127 ff. Vgl. etwa An Introduction to the Philosophy of Law (1922, 1954). Grundlegung (19894), Vorrede. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (19982), 118, 120. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (19982), 227.

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Smend44, wenn er meint, der Staat sei nur „weil und sofern er sich dauernd integriert, in und aus dem Einzelnen aufbaut“. Die Ergründung seines Wesens als geistig-soziale Wirklichkeit und die Klärung seiner Beziehung zu den übrigen Gebieten der Kultur ist für Smend die staatstheoretische Fragestellung. Smend erkennt aber auch in aller Schärfe die wesentliche Problematik dieses Ansatzes. Zum einen stehe er vor der Gefahr einer Auflösung der Unterscheidung des zeitlich Realen und des Ideell-Zeitlosen, d.h. man laufe Gefahr, entweder die soziale Realität zu Lasten der Ideale der Gesellschaft oder die Ideale der Gesellschaft zu Lasten der sozialen Realität zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Dieses Problem stellt sich auch für Häberle, allerdings in einer erheblichen Variation. Denn er orientiert sich nicht mehr an Hegel, sondern an Popper. Geschichte und Vernunft unterstehen danach keinen Gesetzmäßigkeiten mehr, sondern sind Aspekte der offenen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund erscheint die Smend’sche Dichotomie von sozialer Realität und gesellschaftlichen Idealen wesentlich entschärft. Die andere Schwierigkeit, die Smend sieht, bleibt aber auch unter einer Konzeption der offenen Gesellschaft virulent: Es ist die Aufgabe, dem Recht als Stabilisator geistesgesetzlicher Möglichkeiten und Aufgaben eine angemessene Rolle zuzuweisen45. Letztere wird bei Häberle46 exemplarisch zur offenen Frage, wenn er ausführt, die Würde der Person erzwinge ein Höchstmaß an Toleranz gegenüber der Sinngebung des Einzelnen, „freilich mit bestimmten ,Toleranzgrenzen‘, die um so unverzichtbarer werden, als sich die Toleranz zu einem Bestandteil des verfassungsrechtlichen Grundkonsenses entwickelt, der als solcher (verfassungs-)rechtlich schwer formalisierbar ist“47. Lösen will Häberle die Problematik offenbar mit dem Hinweis, dass Verfassungsinterpretation „Sensorium und Takt, aber auch Standhaftigkeit“ verlangt. Die Bedeutung dieses Appell’s an den „Ethos des Interpreten“ (Josef Isensee) wird erst deutlich, wenn man sich die Unterschiede zu Smend’s Konzeption vor Augen führt. Denn anders als Smend versteht Häberle die Sinngebung, die unter bzw. vor der Verfassung stattfindet, als wahrhaft offen. Diese Offenheit hat viele Konsequenzen. Zuerst bedarf es einer Erweiterung der Interpretationsmaterialien. Die zu bildende Ordnung kann sich in ihren Grundlagen nicht alleine auf die „zentralen“ Verfassungsbestimmungen beziehen. Der Text der Verfassung ist vielmehr auf alle Aspekte hin zu untersuchen. So erlangen u.a. auch Präambeln, Feiertagsgarantien und Übergangsbestimmungen ihre Bedeutung. Weiterhin drückt sich eine offene Gesellschaft eben nicht nur im Recht aus. Sie hat viele Möglichkeiten der Artikulation, z.B. in Literatur und Poesie. Und schließlich kann eine offene Gesellschaft auch die Vielfalt ihrer Lösungen nicht als die einzig relevanten Lösungen ansehen. Daher ist die Rechtsvergleichung mehr als nur eine Hilfe des Verstehens. Sie ist als konkrete Möglichkeit zu begreifen, Lösungen zu finden; sie wird zur „fünften“ Auslegungs-

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In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943), 119 / 138. R. Smend, in: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943), 119 / 138 f. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (19982), 132. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (19982), 120.

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1. Kap.: Theorie und Verstehen der Verfassung

methode48. Angesichts der Vielfalt der Rechtsquellen (im untechnischen Sinne) stellt sich freilich wieder die Aufgabe Smend‘s49, dem Recht als Stabilisator geistesgesetzlicher Möglichkeiten und Aufgaben eine angemessene Rolle zuzuweisen. Wie ernst es Smend50 mit dieser Aufgabe ist, zeigt eine Passage aus „Verfassung und Verfassungsrecht“, in der es heißt: „Besonders liberaler Staatsfremdheit liegt es nahe, im Staat nur eine Technik der Kultur zu sehen und über solcher Teleologie dann die erste und wesentliche Fragestellung nach dem eigenen Strukturgesetz des Staats zu vernachlässigen.“ Und es fällt schwer, bei Häberle hierauf eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Die „Verfassungstheorie der Verfahren und praktischen Alternativen“51 stellt die Verwirklichung der Verfassung als Prozess dar, in dem die Entwicklung durch trial and error fortschreitet: „Verfassungen müssen sich bewähren, sie haben nicht bloß zu bewahren!“52. Damit wird die Gefahr offenkundig, dass die „Normativität der Verfassung (und damit ihre Substanz) gegen die Faktizität ihrer ,Anwendung‘ ungesichert“ bleibt53. An der soeben angeführten Textstelle verweist Häberle allerdings auf die U.S.-Verfassung und deren Alter als Beweis ihrer „ewigen Jugend“. Vernachlässigt wird dabei freilich ein entscheidender Aspekt der amerikanischen Verfassung: Sie ist eingebunden in das Common Law und diese Einbindung ist ein bedeutender Stabilisierungsfaktor. Konrad Hesse’s Verfassungtheorie nimmt wie die Häberles ihren Ausgangspunkt bei Smend, verändert aber die Fragestellung. Der Verfassungsbegriff wird nicht als rechtliche Ordnung des Prozesses staatlicher Integration, sondern als „Prozeß bewußten, planmäßigen, organisierten Zusammenwirkens“ erfasst54. Dass Hesse dabei dem Ordnungsdenken Raum und Bedeutung gibt, steht außer Frage; die Ordnung ist aber Aufgabe und nicht Ausgangspunkt des Prozesses: „Aufgegeben ist die politische Einheit des Staates“55. Die Verwirklichung der Verfassung und die Schaffung politischer Einheit sind ungeachtet aller Bekenntnisse zur Normativität der Verfassung aber nach Hesse nicht in einem Verhältnis der Über-Unterordnung zu sehen.

C. Resümee und Folgerung Die Sicht der Verfassung als Ordnung oder Prozess muss zu unterschiedlichen methodischen Ansätzen der Verfassungsinterpretation führen. Begreift man die Verfassung vor allem als Ordnung des Gemeinwesens, dann beginnt das Verstehen der 48 49 50 51 52 53 54 55

P. Häberle, Rechtsvergleichung (1992). In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943), 119 / 138 f. In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943), 119 / 129. P. Häberle, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß (19962), 93 / 114. P. Häberle, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß (19962), 52 / 64. D. Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat (1977), 82. K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 4. K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 5.

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Verfassung beim Text und erfährt ihre erste und mächtigste Vorformung über die Dogmatik, die sich im Anschluss an die Positivierung bildet. Besonders deutlich wird dies z.B. bei Günter Dürig, der in seiner Einführung in das GG56 den Einstieg über Art. 79 III GG sucht, der „Ewigkeitsgarantie“ also, und so eine Vorschrift in den Mittelpunkt stellt, die die Normativität der Verfassung wie keine andere verkörpert, indem sie auch das demokratisch legitimste Verfahren, die Verfassungsänderung, auf bestimmte inhaltliche Grundsätze verpflichtet. Die weitere Konkretisierung wird in Anknüpfung an die Reaktion auf das Unrecht des „Dritten Reiches“ geleistet. Vor dem Hintergrund eines prozessualen Verständnisses der Verfassung nimmt das Verstehen dagegen im Politischen seinen Ausgangspunkt. Dementsprechend findet sich in dem Verfassungsrechtslehrbuch von Konrad Hesse57 der erste Hinweis auf ein Gesetz erst in Rn. 50 und verwiesen wird auf § 31 BVerfGG, wonach das Bundesverfassungsgericht die Verfassung verbindlich interpretiert. Eine objektive Bewertung der unterschiedlichen Ansätze des Verfassungsverständnisses ist kaum möglich. Alle beruhen sie auf einem mehr oder weniger sichtbaren Wunschbild von „unserem“ Staat. Damit bieten sie zwar einen Einstieg in den Zirkel des Verstehens, ihre Vielzahl und Gegensätzlichkeit aber lässt daran zweifeln, dass sie einen „richtigen“ Einstieg bieten. Insofern bestätigt sich die Meinung Böckenförde’s58, wonach die Zugrundelegung einer Verfassungstheorie die Gefahr interpretatorischer Standpunktnahme und subjektiv bleibender Vorverständnisse beinhaltet. Sein Lösungsansatz fällt aber in eben dieses Dilemma zurück, wenn er fordert, eine „bessere“ (und dann auch verbindliche) Verfassungstheorie müsse von der die Verfassung leitenden „Ordnungsidee“ ausgehen. Gegen die Realisierung einer solchen „besseren“ Theorie für die Grundrechte59 argumentiert Ralf Dreier60, Böckenförde verfalle dem hermeneutischen Zirkel, weil sich aus der Verfassung nicht herleiten lasse, „ob und wie die sozialstaatlich modifizierte, liberal-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie im Blick auf die politisch-sozialen Gegebenheiten der Gegenwart angemessen zu verstehen und fortzuschreiben sei“. Der Einwand trifft das Problem allerdings nicht ganz, und Böckenförde61 wendet dagegen auch zu Recht ein, jede Interpretation bedürfe einer Fragestellung. Zudem offenbart sich in der Kritik Dreiers wiederum lediglich ein anderes, von Böckenförde eben nur abweichendes Verständnis der Verfassung. Fragwürdig an Böckenförde’s Ansatz ist keineswegs, dass er nicht eindringlich genug danach fragt, welche Auswirkungen die politisch-sozialen Gegebenheiten der Gegenwart auf die Verfassungstheorie haben. Das Problem an Böckenförde’s Lösung ist, dass das Grundproblem der Normativität der Verfassung darin besteht, dass offen ist, als was die Verfassung verstanden werGG-Textausgabe (199633), ix. 57 Grundzüge (199520). 58 In: Staat, Verfassung, Demokratie (19922) 53 / 83. 59 E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 115. 60 In: Recht-Moral-Ideologie (1981), 106 / 126; vgl. auch M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), 128 f. und H.-J. Koch, EuGRZ 1986, 345 / 360. 61 In: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 53 / 84. 56

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1. Kap.: Theorie und Verstehen der Verfassung

den soll. Und eben hier sind die Verfassungstheorien schon in der „Vorhabe“ (Heidegger) so gespalten, dass die Lösung offenbar nicht in einer solchen Theorie bestehen kann – zumal wenn es sich hierbei um eine Ordnungs-Theorie handelt. Um es noch einmal zu betonen: Der hermeneutische Zirkel ist „kein vitiosum, aus dem man herauskommen muss“, sondern vielmehr eine Reflektion über die Art und Weise menschlichen Verstehens und damit etwas Hilfreiches, sofern man denn richtig in ihn hineinkommt62. Angesichts der Tatsache, dass die Reflexion über die Verfassung so unterschiedliche Verständnisse hervorbringt, stellt sich die Frage, an welcher Stelle man suchen muss. Die Verfassungstheorien verstehen die Verfassung, indem sie ihr einen bestimmten Sinn geben. Die Fragen an die Verfassung folgen so aus einer Sinngebung. Ob es nun die Herstellung der politischen Einheit (Hesse), die Integration (Smend), die Menschenwürde (Dürig) oder die Normativität (Böckenförde) ist: das, was verstanden wurde, die Hypothese, das Vor-Verständnis, ist nur ein Teil dessen, was verstanden werden könnte. Und die Verfassungslehren sehen in aller Regel auch, dass sie nur ein Motiv ihres Erkenntnisobjekts hervorheben und dass dieses sehr wohl auch von anderen Motiven bestimmt wird. Vor dem Hintergrund ihrer Fragestellung, ihrer Hypothesen, sind die anderen Motive indes sinn-los und können daher auch nie wirklich verstanden werden. Diese Überlegungen dürfen allerdings nicht dazu führen, auf Verfassungslehren als Hilfsmittel der Methodik ganz zu verzichten. Denn sie sind nicht nur eine wertvolle Rationalisierung von Vorverständnissen, sondern sie schärfen überdies den Blick für das Gesamtproblem der Verfassungsmethodik. So wie Theorien des Rechts oft mit der Feststellung beginnen, was „das Recht“ ist, so nehmen Verfassungslehren ihren Anfang oft in der Feststellung, was „die Verfassung“ ist. Was dabei nicht hinreichend erkannt bzw. deutlich gemacht wird, ist, dass eine Klärung des Begriffes auch Wertungen und Vorverständnisse beinhaltet. Dies wäre unschädlich, wenn die Begriffsfestlegung als Hypothese eingeführt würde und wenn die weiteren Erörterungen zu einer Verifizierung / Falsifizierung der Hypothese führen sollen. So betrachtet könnte die Klärung des Begriffes als Ausgangspunkt einer analytischen Untersuchung dienen. Die analytische Methode findet ihre klassischen Anwendungsbereiche z.B. in der Mathematik oder der Wirtschaftstheorie. Rein theoretische Modelle dieser Art ziehen ihre Brauchbarkeit vor allem daraus, dass sie in aller Regel Vorstufe einer empirischen Untersuchung sind. Sie bereiten diese vor, indem sie Aufschluss über mögliche Kausalitäten geben und damit Hypothesen entstehen lassen, die ohne die Annahme nicht aufgestellt werden könnten. Der Wert der Theorie liegt hier in der Strukturierung des beobachtenden Blickes oder des Experiments. Auch die Verfassungstheorien haben diesen Wert; als normatives Konstrukt kommt es bei ihnen aber nie zur Verifikation oder Falsifikation63. Niemand käme auf den M. Heidegger, Sein und Zeit (199317), 152 f. Insofern lässt sich die wissenschaftstheoretische Erkenntnis von H. Reichenbach (Experience and Prediction [1938], 6 ff.), wonach Erkennen im Entdeckungs- und Begründungszusammenhang steht, auf das Recht nicht übertragen. Vgl. zu dieser Problematik auch K. Larenz, Methodenlehre (19916), 196 ff. 62 63

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Gedanken, etwa die Verfassungslehre von Smend durch eine Untersuchung des „lebenden Rechts“ zu bestätigen oder zu widerlegen. Alles, was man tun kann, ist zu untersuchen, ob sich das tagtägliche Rechtsgeschehen vor dem Hintergrund der Theorie besser verstehen lässt. So betrachtet ist der heute etwas aus der Mode gekommene Begriff der Verfassungslehre besser als der der „Theorie“. Das bessere Verstehen des lebenden Rechts ist aber nicht das Anliegen der Konzeptionen von Schmitt oder Smend. Wäre es dies, so müssten sie entweder rein empirisch-soziologisch oder rein dogmatisch arbeiten. Das Hauptanliegen besteht vielmehr in der Schaffung und Ausarbeitung von Hypothesen über das Verfassungsrecht, die sich nicht finden ließen, wenn man soziologisch oder dogmatisch arbeitet. Das Anliegen ist ebenso kreativ wie zweifelhaft. Überspitzt kann man formulieren, dass Verfassungstheorien fragen, was Verfassung wäre, wenn sie der eigenen Vorstellung von Verfassung entspräche. Was ist Verfassung, wenn sie eine Integrationsordnung wäre? Was ist Verfassung, wenn es in ihr um die Herstellung von politischer Einheit ginge? Oder: Was ist Verfassung, wenn sie offen wäre für die Fülle von Sinngebungen der Menschen, die unter ihr leben? So lässt sich auch durchaus arbeiten und es würde keine Schwierigkeiten geben, wenn die jeweilige Vorstellung des Verfassungstheoretikers auf einem allgemeinen Konsens beruhte. Sobald aber z.B. ideologische Gegensätze ins Spiel kommen, werden diese Ansätze suspekt. Warum soll die Verfassung politische Einheit herstellen? Um Minderheiten zu marginalisieren? Warum soll sie der Fülle von Sinngebungen Raum lassen? Um die herrschenden Werte aufzuheben? Will man Methode als einen Weg des Nachgehens ausgestalten und will man so das Gespräch aller mit allen ermöglichen, dann kann nicht verlangt werden, dass alle erst einmal eine Vorstellung darüber akzeptieren, was Verfassung sein sollte. Mit Blick auf die Methodik sind Verfassungstheorien zwar geeignet, mögliche Gesamtdeutungen vorzustellen, sie bieten aber keinen geeigneten Einstieg in den Zirkel des Verstehens64.

64 Zum Problem vgl. auch (statt vieler): K. Stern, in: Fs Schambeck (1994), 381 / 402 ff., insbes. 404.

2. Kapitel

Praxis und Verstehen der Verfassung Wenn eine theoretische Durchdringung der Verfassung auch mancherlei Erkenntnisgewinne verspricht, so lassen Verfassungstheorien doch die Fragen unbeantwortet, die einen Einstieg in das methodische Arbeiten mit konkreten Verfassungen ermöglichen. Sehr viel erfolgversprechender könnte es sein, die Praxis der Verfassungsinterpretation als Ausgangspunkt zu wählen, um sich dem Verstehen der Probleme und Eigenarten der Verfassungsmethodik zu nähern. Mit „der Praxis“ ist natürlich nicht „die Realität“ gemeint. Eine detailgetreue Beschreibung des Staates mit einer Verfassung wäre eine in bloße Worte gefasste (und damit künstliche) Abbildung der Wirklichkeit – ein konstitutioneller „Ulysses“ à la James Joyce. Die „Realität“ ist so vielgestaltig und komplex, dass jeder Ansatz des Verstehens unendlich viele Aspekte von vorneherein ausklammern muss. Wird etwa nach den praktischen Auswirkungen der Verfassung gefragt, dann interpretiert man bereits und ist damit schon im Zirkel des Verstehens befangen. Wählt man den Aspekt einer Beschreibung aller Erscheinungen, in denen sich Akteure auf die Verfassung berufen, wäre eine solche Suche nach der Verfassung nichts anderes als die Suche nach der „Verfassung“ als Wort. Unter „Praxis“ ist im folgenden die verfassungsgerichtliche Praxis zu verstehen. Diese Fokussierung verspricht vor allem deshalb Gewinn, weil die Bedingungen, unter denen sich der Erkenntnisansatz in der verfassungsgerichtlichen Praxis ausbildet, gänzlich von dem der Verfassungslehren abweicht; es geht (in aller Regel) um Entscheidungen in Einzelfällen. Die Entscheidungen stehen in konkreten politischen Kontexten; vor allem aber haben Entscheidungen von Verfassungsgerichten häufig ein sehr interessiertes Publikum, das von dem Gericht eine befriedigende (und befriedende) Antwort mit hinreichender Begründung erwartet. Gerade im letzten Aspekt gründet sich die Erwartung, dass der Ansatz der verfassungsgerichtlichen Praxis, wenn auch nicht alle, so zumindest doch sehr viele Aspekte der Realität berücksichtigt, in der die Verfassung sich etabliert. Das Problem einer solchen Fokussierung liegt nun freilich darin, dass die Untersuchung der Praxis eines Verfassungsgerichtes nur sehr schwer ausmachen könnte, welche Eigenarten dieser Praxis ihren Grund in der konkreten Verfassung haben und welche Eigenarten in der verfassungsgerichtlichen Praxis „als solcher“ angelegt sind. Während der erste Bereich schon im Zirkel des Verstehens gefangen ist, erscheint der letzte Aspekt für die Ermittlung eines geeigneten Einstiegs in den hermeneutischen Zirkel von vorrangigem Interesse. Im folgenden soll die Praxis

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des U.S.-amerikanischen Supreme Court und des deutschen BVerfG vergleichend herangezogen werden. Der Gewinn eines solchen Vorgehens liegt darin, dass man jedenfalls bei Parallelen zur Rechtsprechung des BVerfG im methodischen Umgang mit der Verfassung vermuten kann, dass es sich um Eigenarten in der verfassungsgerichtlichen Praxis „als solcher“ handelt. Diese Vermutung lässt sich auch dadurch stützen, dass die Erkenntnisobjekte beider Verfassungsgerichte große Unterschiede aufweisen. Der Supreme Court judiziert auf der Grundlage einer sehr viel älteren und auch sehr viel knapper gefassten Verfassung. Seine Praxis weist daher auch Entscheidungen auf, die so lange zurückliegen, dass die Analyse Langzeitfolgen in die Bewertung einschließen kann. Auch ist zu erwarten, dass sich in der Judikatur des Supreme Court eine höhere Sensibilität gegenüber möglichen Fehlentscheidungen manifestiert; denn in der U.S.-Verfassungsgeschichte gab es viele Entscheidungen, die heute ganz offensichtlich unter dieses Judiz fallen.

1. Abschnitt

Die Methodik der Praxis: Die Common Law-Methodologie Für das Verstehen des Rechts eines Landes und des Rechts als Eigenart der Organisation menschlichen Zusammenlebens ist es immer hilfreich, zu vergleichen. Vergleiche entdecken Zusammenhänge und Perspektiven1, erweitern und relativieren das Denken. Gleichzeitig birgt es aber auch spezifische Schwierigkeiten, wenn man versucht, Fragestellungen des eigenen Rechtskreises unter Zuhilfenahme von Gedankenkonstrukten und dogmatischen Erkenntnissen aus anderen Rechtskreisen zu erörtern oder zu beantworten; zwar finden sich in allen Rechtskulturen ähnliche Problemstellungen: Für das Verfassungsrecht sind dies z.B. die Gefahren der Einschränkung von Kommunikationsgrundrechten, die Voraussetzungen von Hausdurchsuchungen oder die Funktionsschemata der Gewaltenteilung. Weder die Problemstellungen noch die jeweiligen Lösungen sind indes von dem Rechtskreis zu trennen, in dem sie gefunden und entwickelt wurden. Sie stehen immer fest verwurzelt in dem jeweiligen nationalen Kontext2. Hierin liegt die Problematik vieler rechtsvergleichender Arbeiten. Wer beispielsweise das Wettbewerbsrecht Deutschlands mit dem Frankreichs vergleicht, kann weder alleine die Gesetzestexte noch 1 Vgl. nur J. Esser, Grundsatz und Norm (1956) oder die aus einer Analyse des Verfassungsrechts der USA gewonnene „Entdeckung“ ungeschriebener Reichskompetenzen und damit von ungeschriebenem Verfassungsrecht durch G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandel (1906), 17 ff., 28 ff., 35 ff. sowie H. Triepel, in: Fg Laband, Bd. II (1908), 247 / 254 ff. 2 Dazu die Problemdarstellung von J. Esser, Grundsatz und Norm (1956), 15 ff. mzN., vor allem sein Verweis auf das Fehlen eigener historischer Anschauung der immanenten Prinzipien.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

alleine die Judikatur der Gerichte vergleichen, er muss die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten (Wirtschaftssysteme, Vertragsgestaltungen, Konzernstrukturen uvm.) mit heranziehen, in der die Texte gelten und in denen sie ihre konkrete Gestalt gewonnen haben. Weil dies aber in aller Regel nicht zu bewältigen, jedenfalls aber zu aufwendig ist, wird es kaum je hinreichend unternommen, und so sind die Schlussfolgerungen rechtsvergleichender Arbeiten oft äußerst unbefriedigend. Es fehlt am substanziellen Bezug. Das Vergleichen ist letzten Endes nicht sehr viel mehr als ein bloßes Nebeneinander-Stellen. Und so sind viele rechtsvergleichende Arbeiten oft mehr „Binnenrechtsvergleiche“3, die das ausländische Recht wie einen Entwurf zum inländischen Recht behandeln. Für eine methodische Arbeit entschärft sich diese Problematik allerdings insoweit, als man die Aufgabe der juristischen Methodik darin sieht, Texte zur Anwendung zu bringen. Gerade in Bezug auf die U.S.-amerikanische Rechtsordnung lässt sich überdies eine vergleichende Perspektive für methodische Arbeiten kaum noch vermeiden, weil die deutsche Methodendiskussion im Verfassungsrecht erheblich durch die amerikanische beeinflusst ist; dies gilt sowohl für das BVerfG4 als auch für die rechtswissenschaftlichen Behandlung der Fragestellungen5. Der große Einfluss hat seinen Grund nicht nur in der Tatsache, dass die amerikanisch dominierte Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg wesentliche Vorgaben für die Verfassungsgebung gemacht hatte6. Dass Entscheidungen des BVerfG oft auf amerikanische Rechtsgedanken (offen oder verdeckt) Bezug nehmen, ist nur ein Teil einer gesellschaftlichen Gesamtentwicklung. Der starke Einfluss der U.S.-amerikanischen Wissenschaft und Kultur auf die deutsche Gesellschaft beginnt bei scheinbar banalen Aspekten wie der Jugendkultur und endet bei der Wirkmacht amerikanischer Philosophen wie Rawls oder Dworkin7 sowie in neuerer Zeit der 3 Zum Begriff: Chr. Gößwein, Allgemeines Verwaltungs(verfahrens)recht der administrativen Normsetzung? (2001), 132 f. 4 Vgl. etwa BVerfGE 7, 198 / 208 (Meinungsfreiheit wird unter Verweis auf Benjamin Cardozo als „schlechthin konstituierend“ für die freiheitliche demokratische Grundordnung bezeichnet); zum Apothekenurteil BVerfGE 7, 377 und Lochner v. New York siehe unten 3. Abschn. D. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Kruzifix-Urteil, BVerfGE 93, 1, das sich der Haltung des SCt. zur Neutralität des Staates annähert; dazu u. 2. Abschn. C. 5 Vgl. z.B. M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (19762); J. Esser, Grundsatz und Norm (19743); R. Alexy, in: Recht, Vernunft, Diskurs (1995), 177 ff. sowie ders., Theorie der Grundrechte (19963). Mittelbare Beeinflussungen kommen vor allem aus der Soziologie und Philosophie (Luhmann, Habermas, Rawls, Dworkin uvm.). Detaillierte Darstellungen finden sich in M. Lutter / E. Stiefel / M. Hoeflich, Der Einfluß deutscher Emigranten (1993). 6 Dazu K.-B. v. Doemming / R.W. Füßlein / W. Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JÖR, Bd. 1 (1951); Der deutsche Bundestag / Bundesarchiv (Hg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 8: M. F. Feldkamp, Die Beziehungen des Parlamentarischen Rates zu den Militärregierungen. 7 Eine Ursache dieser intensiven Hinneigung zu einer anderen Kultur mag man in der in Deutschland mit Kriegsende zu beobachtenden besonders starken Loslösung von der eigenen Herkunft sehen. So hat sich das „Zeitalter der Vergleichung“ (Friedrich Nietzsche) in Deutschland durch die durch den Nationalsozialismus begangenen Verbrechen und die fol-

1. Abschn.: Die Methodik der Praxis: Die Common Law-Methodologie

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Postmoderne. Politische, gesellschaftliche und vor allem auch rechtliche Wertvorstellungen werden schnell und nahezu vollkommen rezipiert8. Bei der Übernahme rechtlicher Vorstellungen ist erstaunlich, wie wenig die Tatsache Berücksichtigung findet, dass Rechtsprechung und Rechtswissenschaft in den USA durch und durch von den Gedanken des Common Law beeinflusst sind. Zudem wird man auch selten gewahr, dass die Rezeption U.S.-amerikanischen Rechtsdenkens ein Re-Import deutschen Rechtsdenkens ist9. Vor allem am Anfang des letzten Jahrhunderts hatte die deutsche Rechtswissenschaft (genannt seien nur: Ihering, Savigny, Ehrlich, Stammler) einen entscheidenden Einfluss auf die amerikanische Jurisprudenz. Bei dieser „Gemengelage“ erscheint es vielversprechend, die amerikanische Verfassungsjudikatur und amerikanisches Rechtsdenken vergleichend heranzuziehen, zumal es für die Frage, wie die Praxis an das Verstehen von Recht herangeht, nahe liegend erscheint, die Common-Law-Methodologie zu untersuchen, die spezifisch auf die Praxis ausgerichtet ist, indem sie deren Erkenntnisse zu einer Rechtsquelle erhebt und Vorgaben an die Weiterentwicklung von Rechtsprechung postuliert.

A. Grundgedanken des Common Law in den USA Die USA sind, unbeschadet der Höchstrangigkeit der U.S. Constitution, ein Land unter dem Common Law. Das Verhältnis von geschriebener Verfassung und Common Law in den USA ist außerordentlich kompliziert, vor allem auch deshalb, weil sich in der Zeit des New Deal die Vorstellung durchsetzte, dass es in Strafund Zivilsachen kein Bundes-Common Law geben kann10. Damit kommt es gerade in den richterlichen Erörterungen des Bundesrechts (einschließlich des Verfassungsrechts) oft zu Überlegungen, die zwar einerseits auf keiner Common LawMethode beruhen, die aber andererseits nur vor dem Hintergrund des Common gende besatzungsbedingte unabwehrbare Verurteilung durch die Welt besonders intensiv realisiert; vgl. zu den Gründen (und Chancen) der Vergleichung ders., Menschliches Allzumenschliches (1878), Bd. I, I, Aph. 23. 8 Als Beispiele seien hier genannt das Phänomen des „Zivilen Ungehorsams“ als Mittel politischer Auseinandersetzung (grundlegend: H.D. Thoreau, Über die Pflicht zu zivilem Ungehorsam, Vortrag in Concord am 16. 1. 1848, in: Schambeck u.a. [Hg.], Dokumente [1993], 341) sowie die Reflexion über Sprache als Ausdruck und Heilmittel für gesellschaftliche Missstände. 9 Vgl. nur die Entwicklungslinie der Regel und Prinzipien-Unterscheidung und –zuordnung bei J. Esser, Grundsatz und Norm (1956), 183 ff. und R. Alexy, in: Recht, Vernunft, Diskurs (1995), 177 einerseits sowie R. Dworkin, in: Taking Rights Seriously (1978), 14 und 46 andererseits. 10 U.S. v. Hudson and Goodwin, 11 U.S. (7 Cranch) 32 (1812); vgl. insbes. Wickard v. Filburn, 317 U.S. 111 (1942): Die Entscheidung hält eine Verurteilung unter dem Agriculture Act von 1938 gegen einen Bauern aufrecht, der in seinem Hinterhof Getreide anpflanzt; vgl. auch Eerie R.R. v. Tomkins, 304 U.S. 64 (1938).

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Law-Denkens begriffen werden können. Diese oft vielfach verschlungenen Strukturen aufzudecken, ist hier weder möglich noch nötig. Die folgende Darstellung kann sich auf zentrale Begriffe und Aspekte11 beschränken, die das Denken in Common Law-Kategorien prägen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass das Common Law in den USA als eine Methode der Rechtsfindung begriffen wird: „The common law is not a body of rules; it is a method. It is the creation of law by the inductive process“12. Nur als „Rechtsschöpfung im Prozess“ interessiert das Common Law in unserem Zusammenhang. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Begriff des Präzedens (precedent), der im Zentrum der Methode steht. Er besitzt für sich alleine wenig Aussagekraft, denn er meint generell lediglich „ein früherer Fall“. Die Bedeutungsstufen der „früheren Fälle“ können, stark vereinfacht13, wie folgt dargestellt werden: Lässt sich das Präzedens (precedent) mit der Regel „stare decisis et non quieta movere“ verbinden, dann wird es zum Präjudiz und muss als solches Berücksichtigung finden (persuasive precedent). Kommt der Richter zu der Auffassung, es habe sich seit dem früher entschiedenen Fall die Entscheidungslage nicht oder nur unwesentlich geändert (dies ist die Frage, ob der Fall „distinguished“ werden kann), dann wird das Präjudiz zum bindenden Präjudiz, d.h. die Vorentscheidung ist für die aktuelle Entscheidung bindend (binding precedent). Neben der Ermittlung eines bindenden Präjudizes kann sich aus Präjudizien aber auch ein Prinzip herleiten lassen14, aus dem die Entscheidung eines neuen Falles ermittelt wird. Diese Prinzipien können einen dogmatischen Charakter gewinnen, sie sind aber in erster Linie praktische „Überlegungen“. Die Methodik kreist um drei Grundgedanken15, das „incremental lawmaking“, den „formalism“ und die „equity“. Der schrittweisen Rechtssetzung (incremental lawmaking) liegt der Pragmatismus zugrunde16, dem Formalismus (formalism) der 11 Vgl. auch den knappen und sehr differenzierten Überblick bei O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law (1997), 31 ff. 12 A. Corbin, 3 American Law School Review 75 (1912) 77. Der Begriff „induktiver Prozess“ ist allerdings nicht ganz korrekt, weil nicht aus einer Beobachtung eine Norm gebildet wird. Vgl. auch E. Levi, An Introduction to Legal Reasoning (1949), 27 („With case law the concepts can be created out of particular instances. This is not truly inductive, but the direction appears to be from particular to general“) sowie die Darstellung von J. Esser, Grundsatz und Norm (1956), 183 ff. 13 Die folgende begriffliche Differenzierung ist eine Festlegung für die weiteren Überlegungen. Im Çommon Law“ gab und gibt es immer wieder variierende Begriffsverwendungen. Vgl. zum folgenden auch J. Esser, Grundsatz und Norm (1956), 276. 14 Vgl. dazu vor allem J. Esser, Grundsatz und Norm (1956), 184 ff. mwN. 15 In anderen Begrifflichkeiten beschreibt B. Cardozo, Judicial Process (1921), 30 f., die Methoden des Common Law im Wesentlichen in der „logical progression“ (logische Fortschreibung) durch Analogie und Philosophie, dem „historical development“ (historische Entwicklung) durch Evolution, der çustom of community“ (Gebräuche der Gemeinschaft) durch Tradition und „justice, morals, social welfare und myth of the day“ (Gerechtigkeit, Moral, Soziale Wohlfahrt und aktueller Mythos) durch Soziologie. 16 R. Pound, 8 Colum.L.Rev. 603 (1908) 609: „. . . the juristic philosophy of the common law is at bottom the philosophy of pragmatism.“

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Gedanke der bindenden Rechtsordnung, und der Sachgerechtigkeit (equity) schließlich das Gebot, bestimmte Entwicklungen des Rechts durch rationale Erwägungen zu beschleunigen, aufzuhalten oder umzukehren17. Man kann die ersten beiden Grundgedanken auch in einem Verbund sehen und gegen den dritten stellen. Es lassen sich dann zwei Bereiche unterscheiden, in denen sich das Common Law fortbildet: ein interner und ein externer18. Die interne Entwicklung geht ins Detail, sie bemüht sich vor allem um formale Gerechtigkeit und sie ist von der Grundanlage her konservativ. Die externe Entwicklung ist ergebnisorientiert, sie bemüht sich um materielle Gerechtigkeit und ist insofern auch auf Veränderungen des Rechts angelegt. Das incremental lawmaking besagt im Wesentlichen, dass sich das Common Law im Gegensatz zum Civil Law und seinen römisch-rechtlichen Vorgängern prozesshaft entwickelt, dass die Grundsätze des Common Law als Folge und nicht als Ursprung der Einzelentscheidung verstanden werden: „The common law does not work from pre-established thruths of universal and inflexible validity to conclusions derived from them deductively. Its method is inductive, and it draws its generalizations from particulars.“19 Damit ist nicht gesagt, dass sich die schrittweise Entwicklung des Rechts „blind“ vollzieht. Die richterliche Entscheidung orientiert sich keineswegs allein am einzelnen Fall und seinen Eigenartigkeiten. Sie wird aber auch nicht durch bestimmte philosophische Konzepte geleitet. Ausschlaggebend ist vielmehr neben dem Einzelfall (Präzedens) und seiner spezifischen Gestaltung das Verständnis der juristischen Konzeptionen und der gesellschaftlichen Institutionen, die im Kontext mit dem Fall stehen20. Eine Zusammenschau dieser Konzeptionen und Institutionen ist es, die sich in den Präzedenzien wiederspiegeln, wobei das Ausmaß ihrer Wirkung durchaus auch von philosophischen Erwägungen bestimmt werden kann21. Das Prinzip des formalism bezeichnet die Notwendigkeit, der pragmatischen Grundhaltung der Richter einen Rahmen zu geben. Die Rechtsordnung mag zwar durch die graduelle Ansammlung spezieller Ent17 Die equity wird in England wohl weiterhin als vom Common Law getrennte Rechtsmasse gesehen; in den USA wurde die Trennung – vor allem auch mangels eines ausdifferenzierten Gerichtssystems in den Kolonien – nie in der gleichen Schärfe vorgenommen. 18 Vgl. etwa K. Warner, 40 Am.J.Juris. 347 (1995) 358 f., der dieses Verhältnis anhand der klassischen Entscheidung Rylands v. Fletcher, (1868) LR 1 Exch. 265, erläutert. 19 B. Cardozo, Judicial Process (1921), 23. Vgl. auch H.F. Stone, 50 Harv.L.Rev. 4 (1936) 6: „With the common law, unlike the civil law and its Roman law predecessor, the formulation of general principles has not preceded decision. In its origin it is the law of the practicioner rather than the philosopher.“ 20 B. Cardozo, Judicial Process (1921), 19 (unter Berufung auf Saleilles, Ehrlich und Pound): „Back of precedents are the basic juridical conceptions which are the postulates of juridical reasoning, and farther back are the habits of life, the institutions of society, in which those conceptions had their origin, and which, by a process of interaction, they have modified in turn.“ 21 B. Cardozo, Judicial Process (1921), 28: „. . . he must first extract from the precedents the underlying principle, the ratio decidendi; he must then determine the path or direction along which the principle is to move and develop, if it is not to wither and die.“

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

scheidungen entstehen22, sie soll sich aber auch in zumindest grundsätzlich vorhersehbaren Linien entwickeln, um Rechtssicherheit zu bieten23. Offenkundig ist, dass sowohl die schrittweise Rechtssetzung als auch der Formalismus – vom inhärenten Ermessen des Richters abgesehen – kaum Maßstäbe für die Diskussion über Gerechtigkeit oder Angemessenheit bieten. Dazu kommt noch, dass die Notwendigkeit, schon getroffene Entscheidungen zu verarbeiten, eine Konzentration auf Vergangenes impliziert. Dabei kann man leicht die Probleme des aktuellen Falles aus den Augen verlieren. Es ist daher unabdingbar, sich in diesem Prozess immer wieder selbst zu hinterfragen. Incremental Lawmaking und Formalism lassen den Richter dazu neigen, mit dem Rücken zu Gegenwart und Zukunft zu stehen. Es ist im Wesentlichen der Gedanke der equity, der diese Orientierung modifizieren soll24. Indem man die Prüfung nach Sachgerechtigkeit und Angemessenheit in den Prozess einführt, wird die Rechtsanwendung dem aktuellen Fall angepasst. Insoweit kann das Common Law auch als ein Vorrat von „sound common-sense principles“25 bezeichnet werden. Hinter diesen relativ einfach strukturierten, aber doch schwer fassbaren Grundgedanken steht ein Mythos, dessen Konturen kaum auszumachen und dessen Gehalte umstritten sind. So spricht Justice Oliver Wendell Holmes26 vom Common Law als einer„brooding omnipresence in the sky“ und Benjamin Cardozo27 beschreibt den Beginn der Rechtsprechung nach Common Law wie folgt: „We reach the land of mystery when Constitution and statute are silent, and the judge must look to the common law for the rule that fits the case.“ Diese poetische Umschreibung ist durchaus treffend, wenn man die Literatur zum Common Law betrachtet. Es lässt sich kaum eine Beschreibung finden, die nicht irgendwie magisch-mystische Dimensionen beschwört, und auch das Charisma ist nie weit; es äußert sich vornehmlich in den Zitaten der „großen Richter“. Insoweit kann man davon sprechen, dass sich auch das Common Law zu einem gewissen Teil der Rationalität entzieht. Ein Grund dafür, dass der Mythos des Common Law be22 H.F. Stone, 50 Harv.L.Rev. 4 (1936) 6: „. . . a system built up by gradual accretion of special instances“. 23 Auf den formalism wird später vertieft eingegangen. Er ist im Grunde das komplexeste Strukturelement des Common Law. 24 B. Cardozo, Judicial Process (1921), 137 f.; er sieht diesen Gedanken als für seine Zeit weiterhin erfolgversprechend an, um neuen Problemen gerecht zu werden: „Modern juristic thought, turning in upon itself, subjecting the judicial process to introspective scrutiny, may have given us a new terminology and a new emphasis. But in truth its method is not new. It is the method of the great chancellors, who without sacrificing uniformity and certainty, built up the system of equity with constant appeal to the teachings of right reason and conscience. It is the method by which the common law has renewed its life at the hands of its great masters – the method of Mansfield and Marshall and Kent and Holmes.“ 25 Lord Justice Bowen, Mogul Steamship Co. v. McGregor & Co., 23 Q.B.D. 598 (1889) 620. 26 Southern Pacific Co. v. Jensen, 244 U.S. 205 (1917) 222. 27 Judicial Process (1921), 18 f.

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sonders in den USA so oft beschworen wird, dürfte ebenso darin liegen, dass es sich – anders als das englische Common Law – einem gesatzten Recht gegenüber sieht, das in einer Verfassung gipfelt. In der normativen Konkurrenz zu diesem Rechtskörper bedarf es wohl der „Beschwörung eines Mythos“, um Legitimität zu gewinnen. Ungeachtet aller Poetik bleibt gleichwohl bewusst, dass das Common Law, wie Justice Frankfurter formuliert, in erster Linie die „articulate voice of some sovereign“28 ist.

B. Stare Decisis Eine bedeutsamer Hintergrundgedanke des Common Law ist das „stare decisis et non quieta movere“29. Kaum ein anderer verfassungsgerichtlicher Fall hat sich in jüngster Zeit intensiver an dieser Regel „gerieben“ als Planned Parenthood v. Casey30. Er ist daher besonders geeignet, in die Grundproblematik der Regel einzuführen. Zu entscheiden war, ob die grundlegenden Aussagen (holdings) von Roe v. Wade31 im aktuellen Fall aufrechterhalten werden sollen oder nicht. Diese grundlegenden Aussagen bestanden darin, dass die Abtreibung für grundsätzlich zulässig erachtet wurde und die Frage der Schwangerschaftsunterbrechung von den Bundesstaaten auch geregelt werden darf, diese aber keine Kompetenz haben darüber zu bestimmen, ab wann das Leben des Fötus schützenswertes Leben i.S.d. Verfassung darstellt. Dafür entwickelte der Gerichtshof Leitlinien, indem er die Schwangerschaft in Trimester einteilte und bestimmte, dass Frauen im ersten Trimester das unbeschränkte Recht zum Abbruch besitzen. Im zweiten Trimester könnten die Staaten die Abtreibung gesetzlich regulieren, um erhebliche gesundheitliche Risiken der Frau auszuschließen, und im dritten Trimester schließlich könnten Staaten den Schwangerschaftsabbruch prinzipiell verbieten. Sie müssen dabei aber Ausnahmen für die Fälle vorsehen, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft ein Risiko für das Leben der Frau darstellt. Das Problem bestand nun darin, dass die Mehrheit des Gerichts in Planned Parenthood, entgegen der Entscheidung des Supreme Court in Roe, grundsätzlich dazu neigte, das Verbot von Abtreibungen für generell verfassungsgemäß zu halten. Damit war die Frage der stare decisis-Regel prinzipiell aufgeworfen, die nach Christopher J. Peters in zwei Hauptrichtungen weist32. Eine Denkrichtung stellt auf H. Philips, Felix Frankfurter Reminisces (1960), 168. Man spricht meist nur von „stare decisis“. Diese „Regel“ lässt sich so verstehen, wie sie D. Blumenwitz, Einführung (19904), 23, sehr sinnig übersetzt: „bei den Entscheidungen stehen bleiben“. Auch hier ist aber zu beachten, dass das Common Law ein pragmatisches Recht ist. Wenn im folgenden von einer „Regel“ des stare decisis gesprochen wird, dann nur im Sinne einer „Regel mit sehr vielen Ausnahmen“. 30 505 U.S. 833 (1992). 31 410 U.S. 113 (1973). 32 Foolish Consistency, 105 Yale L.J. 2031 (1996) 2037 ff. 28 29

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die gerechtigkeitsfördernde Wirkung gleichmäßiger Rechtsprechung ab (çonsequentialist theories“), während eine andere in der Konsistenz einen eigenständigen Wert sieht („deontological theories“). Der Unterschied der beiden Konzeptionen liegt auf der Hand: Für einen Anhänger der consequentialist theories ist ein Abweichen von bindenden Präjudizien dann möglich, wenn die theoretische Grundlage wegfällt, d.h., wenn das Beharren auf einem bindenden Präjudiz durch die gerechtigkeitsfördernde Wirkung des stare decisis-Grundsatzes (Vorhersehbarkeit, Gleichheit, u.a.) nicht mehr getragen wird. Dagegen wird ein Anhänger der deontological theories die stare decisis-Regel in jedem Fall zum Tragen bringen, unabhängig davon, ob die Folgen die Gerechtigkeit fördern oder nicht. Die Spannung zwischen diesen beiden Positionen ist nicht nur deswegen so groß, weil die eine auf den konkreten Einzelfall abstellt, während die andere generelle Gültigkeit beansprucht. Darüber hinaus haben beide Konzeptionen unter der grundsätzlichen Geltung der stare decisis-Regel auch gegenüber der jeweils anderen Konzeption gute Argumente. Die genannte Entscheidung des Supreme Court in Planned Parenthood findet einen überzeugenden Weg, um beide Konzeptionen in Einklang zu bringen: Das Gericht hält grundsätzlich an der Verpflichtung fest, bindende Präjudizien zu beachten, lässt Veränderungen aber dann zu, wenn die vorangegangene Entscheidung nicht nachvollziehbar und daher auch nicht durchsetzbar ist: The obligation to follow precedent begins with necessity, and a contrary necessity marks its outer limit. With Cardozo, we recognize that no judicial system could do society’s work if it eyed each issue afresh in every case that raised it. Indeed, the very concept of the rule of law underlying our own Constitution requires such continuity over time that a respect for precedent is, by definition, indispensable. At the other extreme, a different necessity would make itself felt if a prior ruling should come to be seen so clearly as error that its enforcement was for that very reason doomed.33

Im konkreten Fall hält der Gerichtshof an Roe v. Wade fest und findet dafür vielfältige Argumente34. Im Kern beruft er sich darauf, dass die ursprüngliche Entscheidung einen Rechtszustand geschaffen hat, der zwar weiterhin in intensiver öffentlicher Auseinandersetzung steht, der aber gleichzeitig dem Grundsatz nach gefestigt ist und mit dem sich auch die Mehrzahl derer abgefunden hat, die ursprünglich einer anderen Entscheidung den Vorrang gegeben hätte35. 505 U.S. 833 (1992) 854 (Zitate wurden weggelassen). Planned Parenthood v. Casey, 505 U.S. 833 (1992). Als generelle Regel stellt der SCt. fest, dass Kontinuität das Wesensmerkmal der Konzeption der Rule of Law ist (505 U.S. 833 (1992) 854 f.). Ein Grund dafür liege in der Tatsache begründet, dass Legitimität ein Produkt von Gehalt und Perzeption ist (869). Als Ausnahmen werden die Fälle anerkannt, in denen das Volk eine Korrektur der Rspr. akzeptieren kann, ohne dass es die Legitimität des Gerichts in Frage stellt (864). Das soll dann anzunehmen sein, wenn eine vorangegangene Entscheidung nicht umsetzbar ist, sie nicht beachtet wurde oder sich das die Entscheidung umgebende Recht oder die die Entscheidung umgebende faktische Situation zu stark gewandelt hat (854 f.). Ungeachtet des Vorliegens dieser Bedingungen dürfen Veränderungen der Rspr. aber weder zu oft, noch ohne zwingende Gründe erfolgen (864). 33 34

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Die stare decisis-Regel ist der zentrale Stabilisator des Common Law. Ihr Bezug zum Gedanken der „rule of law“ und ihre Problematik wird greifbar, wenn man die Entwicklung des Common Law (unhistorisch fiktiv) auf die Situation der ersten Streitschlichtung zurückführt36. Ob diese Entscheidung mehr oder minder richtig war, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist die Verbindlichkeit, die darin gründet, dass die Herrschaft, der die Entscheidung zuzuschreiben ist, kein Unrecht tun kann: „The King can do no wrong“ – eine Idee im Übrigen, die sich in der Souveränität der „Queen in Parliament“ (in Großbritannien) noch heute behauptet37. Die Prognose: „Der Souverän (in der Gestalt des Richters) wird richtig entscheiden“, verfestigt sich für die getroffene Entscheidung in einer Bestätigung: „Der Souverän hat richtig entschieden, weil er der Souverän ist“. Das hat notwendigerweise zur Folge, dass ein aktueller Streitfall, der denselben Sachverhalt wie eine frühere Entscheidung betrifft, grundsätzlich nicht anders entschieden werden kann. Nota bene: Historisch gab es natürlich nie eine bewusst „erste“ Entscheidung und sie wurde auch nie so begründet. Das Konzept des „stare decisis“ und ihr Bezug zur „rule of law“ wird aber unter Zuhilfenahme einer solchen Fiktion verständlicher. Denn wenn sich die Einzelentscheidung auf die Richtigkeit qua Souveränität stützt, dann muss der Souverän sie als (auch sich selbst gegenüber) bindend anerkennen, will er sich nicht selbst in Frage stellen. Die souveräne Herrschaft „verstrickt“ sich so im Common Law – sie wird gebunden38. Diese „Logik“ des Common Law unter der rule of law stützt die stare decisisRegel; die Logik ist freilich nicht zeitimmun. Je länger der Souverän Entscheidungen trifft, desto mehr Entscheidungs-Material häuft sich an, und sowohl die Tatsache, dass immer wieder andere (neue) Richter die Streitschlichtung vornehmen, als auch die zunehmende Unterschiedlichkeit der Sachverhalte, muss Widersprüchlichkeiten zu Tage fördern, die dem Gedanken der stare decisis-Regel den Boden entziehen. Auch die fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung zwingt den Souverän immer wieder zu neuen, von früheren Entscheidungen mehr oder minder abweichenden Entscheidungen, so dass das, der stare decisis-Regel zugrunde liegende Kontinuitätsprinzip durchbrochen wird39. Die Regel wird daher heute auch 35 A.a.O., 864 f. Vgl. aber die Entscheidung Lawrence et al. v. Texas (Nr. 02 – 102 v. 26. 6. 2003, dazu näher unten in Fn. 44 und bei Fn. 142), in der diese Grundsätze modifiziert werden, indem auch fortgesetzte Kritik an einer Entscheidung ein Abweichen rechtfertigen soll. 36 Die folgenden Überlegungen richten sich zunächst am britischen Common Law Denken aus, das Equity nicht integriert hat. 37 Vgl. etwa A. Bradley / K. Ewing, Constitutional and Administrative Law (1997), 241. – In den USA galt dieser „Glaubenssatz“ auch erstaunlich lange, vgl. W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA (1972), 102 f. mN. 38 Noch 1915 bezeichnete A.V. Dicey, The Law of the Constitution, 213 ff., insbes. 271 ff., das französische (und nebenbei auch das deutsche) Verwaltungsrecht insbesondere deswegen als mit der „rule of law“ unvereinbar, weil es der Exekutive ein Ermessen einräumt, ein Gedanke der sich mit der unbezweifelbaren Richtigkeit der Entscheidungen des Souveräns nicht vereinbaren lässt.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

nicht mehr strikt eingehalten40. Das gilt z.B. für Präjudizien, die das aktuell entscheidende Gericht selbst geschaffen hat. In Groß-Britannien besteht eine solche Bindung nach wohl noch überwiegender Meinung nur für den Court of Appeals, der freilich schon vor etwa 3 Jahrzehnten in einem Practice Statement41 diese Bindungswirkung selbst für hinfällig erklärt hat. In den USA werden Präzedenzien des eigenen Gerichts nur noch für den Supreme Court als zu beachtend angenommen, und auch dies nicht mehr durchgängig42. Darüber hinaus gibt es aber auch ganz prinzipielle Bedenken, die ihren Ansatz in der bereits erwähnten consequentialist theory haben, dabei jedoch nicht stehen bleiben, sondern darüber hinaus ganz allgemein auf die Macht des besseren Arguments abheben, das im Prozess von Versuch und Irrtum zu finden ist. Dem Präzedens wird danach zwar noch Gewicht zugemessen, dieses Gewicht soll in seiner Bedeutung aber abhängig sein von der Einschätzung der einschlägigen vorgängigen Entscheidung als gut oder schlecht, als überzeugend oder nicht überzeugend. So führt Justice Louis B. Brandeis in Burnet v. Coronado Oil & Gas Co.43 aus: „Stare decisis is usually a wise policy, because in most matters it is more important that the applicable rule of law be settled than that it be settled right. . . . This is commonly true even where the error is a matter of serious concern, provided correction can be had by legislation. But in cases involving the Federal Constitution, where correction through legislative action is practically impossible, this Court has often overruled its earlier decisions. The Court bows to the lessons of experience and the force of better reasoning, recognizing that the process of trial and error, so fruitful in the physical sciences, is appropriate also in the judicial function.“

Sehr prägnant wird diese Erkenntnis von Robert Jackson44 formuliert: „. . . to be right is a better way of maintaining respect than to be stable in the wrong“. 39 In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, dass an den Court of Chancery weder in noch nach der Revolution von 1688 Hand gelegt wurde, obwohl er, wie auch die Star Chamber oder das Privy Council der Krone die Möglichkeit gab, die Rechtsprechung stark zu beeinflussen. Der Court of Chancery hatte aber schon Grundsätze für eine equity-Rechtsprechung entwickelt und wurde weitgehend als den Common Law-Gerichten überlegen angesehen: Man hat nicht mehr zu wenig Recht, das herrscht, sondern zu viel davon – die Billigkeit kam zu kurz; vgl. dazu A.V. Dicey, The Law of the Constitution (1915), 249 f. – Equity ist im englischen Recht kein Teil des Common Law! 40 Vgl. etwa Pennhurst State School & Hospital v. Halderman, 465 U.S. 89 (1984), wo Justice Stevens der Mehrheit vorwirft, 28 entscheidungserhebliche Fälle zu missachten (165). Dazu M. Shapiro, 98 Harv.L.Rev. 61 (1984). 41 Practice Statement (Judicial Precedent) [1966] 1 W.L.R. 1234. Vgl. noch London Street Tramways v. London County Council [1898] AC 37. Die Rechtsnatur des Practice Statement ist unklar, vgl. dazu J. Stone, 69 Colum.L.Rev. 1162 (1969). 42 Auch nicht vom SCt. selbst; ein klassischer Fall ist insoweit Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954), der ungeachtet der Begründung eine Reversal von Plessy v. Fergusson (163 U.S. 537 (1895)) ist. Dazu näher u. 3. Abschn. C. 43 285 U.S. 393 (1932) 406, 408. 44 The Struggle for Judicial Supremacy (1941), 44. Insoweit auch aufschlussreich die Kriterien in Lawrence et al. v. Texas (Nr. 02 – 102 v. 26. 6. 2003), die eine von einem Precedent

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Als eiserne Regel kann man freilich auch diese weitgehende Abwendung von Präzedenzien nicht bezeichnen. Eine Leitlinie ließe sich nur formulieren, wenn man von ihr wenig Aussagekraft verlangte; sie würde dann lauten: Im Grundsatz wird die stare decisis-Regel zwar noch anerkannt, aber es ist eine Regel, die in vielen Fällen durchbrochen wird. In diesem Zusammenhang ist z.B. auffällig, dass die Entscheidungen des Supreme Court aus den Jahren nach der Reconstruction bis zum New Deal kaum (noch) zitiert werden, obwohl beinahe die Hälfte aller judicial review-Fälle in dieser Zeit entschieden wurde45. Dagegen hat z.B. eine Fußnote in einer an sich unbedeutenden Entscheidung aus dem Jahre 193846, auf die noch näher eingegangen werden soll47, bis heute nachgerade mystische Bedeutungstiefe, über die immer noch raisoniert wird48. Die nachlassende PräzedenzienBindung hat natürlich auch Auswirkungen auf das Verhältnis des Common Law zum Gesetz, auch wenn dieser Konnex nicht ohne weiteres nachweisbar ist.

C. Gesetze und Verfassung im Common Law der USA In den USA des 19. Jahrhunderts wurden neue Gesetze immer wieder unter der „Derogation of Common Law-Doctrine“ für ungültig erklärt. Das Common Law war das dominierende Recht, in dem Gesetze nur insoweit als „Enklaven politischer Ordnungsmacht“49 Bestand haben konnten, als sie in das Common Law „passten“50. Dieses „Ein-Passen“ wurde überdies – entsprechend dem traditionelabweichende Entscheidung dann für gerechtfertigt halten, wenn dessen Grundlagen durch nachfolgende Entscheidungen erodiert wurden, wenn er substanzieller und fortgesetzter Kritik ausgesetzt war und wenn weder die Einzelnen noch die Gesellschaft insoweit eine gewisse Rechtserwartung entwickelt haben (individual or societal reliance). In Planned Parenthood v. Casey, 505 U.S. 833 (1992), waren die Kriterien noch strenger gefasst. 45 Vgl. etwa ausdrücklich West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319 U.S. 624 (1943) 640, wo ausgeführt wird, dass der Wandel im New Deal zu einer grds. neuen Situation geführt hat. Daher: „These changed conditions often deprive precedents of reliability and cast us more than we would choose upon our own judgement.“ 46 Die berühmte „Fußnote 4“ in United States v. Carolene Products. Co,. 304 U.S. 152 (1938). 47 U. Teil 3 C (im Kontext der Erörterungen zu Ely). 48 Vgl. B. Ackerman, in: 98 Harv.L.Rev. 713 (1985). 49 J. Esser, Grundsatz und Norm (1956), 129 Fn. 145. 50 Vgl. J. Esser, Grundsatz und Norm (1956), 129 ff. hier: 183, Fn. 183 a; vgl. auch K. Llewellyn, Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika I (1933), 43: Gesetze werden wie Eindringling behandelt. Vgl. zur Gesamtproblematik auch W. Heun, VVDStRL 61 (2002), 80 / 83 ff., der die Wertigkeit der Gesetze im rechtlichen Gefüge der USA des 19. Jahrhunderts allerdings stärker auf die Existenz der Verfassung und weniger auf den Einfluss der Common-Law-Tradition zurückführt. Er betont aber auch den engen Zusammenhang zwischen der Maßstäblichkeit der Verfassung und der Möglichkeit, ihre Prinzipien als solche des Common Law darzustellen (86).

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

len Common Law Grundsatz – eng ausgelegt51. „Da sich“ – wie Oliver Lepsius52 hervorhebt – „das Common Law auf der einen Seite in Gerichtsentscheidungen immer wieder manifestiert, auf der anderen Seite aber zugleich ewiglich vorhanden und immanent vernünftig sein soll, ist es ein wirkungsvollerer Maßstab als jedes überpositive Naturrecht.“ Und so war nicht „die Gesetzesvorschrift, sondern die richterliche ,Glosse‘ . . . anzuwendendes Recht“53. Es trifft den Kern, wenn Roscoe Pound54 eine „traditional suspicion“ gegen Gesetze feststellte. Gesetze waren den Common Law Richtern suspekt. Das hat sich inzwischen grundsätzlich geändert. Dominanter Maßstab einer Gesetzesüberprüfung ist heute die Verfassung. Rechtstechnisch wird die Vermittlung über die „substantive due process-Clause“ gesucht, die aus der Verfassung hergeleitet wird (Amend. 14, Sec. 1). Diese besagt im Wesentlichen, dass solche Freiheiten, die zum Konzept einer freiheitlichen Ordnung gehören („implicit in the concept of ordered liberty“)55 und die in Geschichte und Tradition der Nation verankert sind („deeply rooted in this Nation’s history and tradition“)56 durch den due process of law geschützt und auch gegen Parlamentsgesetze geltend gemacht werden können. Über diese traditionelle Ausrichtung von Gesetzesüberprüfungen finden auch Common Law-Prinzipien nach wie vor Berücksichtigung. Erforderlich ist, dass sich ein Bezug herstellen lässt zu „settled usages and modes of proceeding existing in the common and statute law of England . . .“57, zu „fundamental principle of liberty and justice which inheres in the very idea of free government“58, based on the careful „respect for the teaching of history [and] solid recognition of the basic values that underlie our society“59. Allerdings hat der Supreme Court nach der Konfrontation mit der Exekutive in der Ära des New Deal starke Zurückhaltung geübt, wenn es darum ging, aus der Tradition und mittelbar aus Common Law-Prinzipien Rechte herzuleiten oder gar Gesetze für verfassungswidrig zu erklären60. Insofern kann man heute beinahe von einer „traditional suspicion“ gegenüber dem judicial review sprechen. R. Pound, 21 Harv.L.Rev. 383 (1908) 395. Verwaltungsrecht unter dem Common Law (1997), 39. 53 P. Hay, Einführung (19903), 10. 54 The Formative Era of American Law (1938), 59. 55 Palko v. Connecticut, 302 U.S. 319 (1937) 325 f. 56 Moore v. East Cleveland, 431 U.S. 484 (1977) 503; Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1964) 506. 57 Murray’s Lessee v. Hoboken Land and Improvement Co., 59 U.S. 272 (1855). 58 Twinning v. New Jersey, 211 U.S. 78 (1908). 59 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1964) 501. 60 Ausdrücklich in Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1985) 194 f. Justice White: „The Court is most vulnerable and comes nearest to illegitimacy when it deals with judge-made constitutional law having little or no cognizable roots in the language or design of the Constitution. That this is so was painfully demonstrated by the face-off between the Executive and the Court in the 1930’s, which resulted in the repudiation of much of the substantive 51 52

1. Abschn.: Die Methodik der Praxis: Die Common Law-Methodologie

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Ungeachtet dieser Entwicklung bleibt das Common Law „lebendig“. So lassen sich immer wieder Aussagen finden, die ein Verständnis der Verfassung im Lichte des Common Law61 fordern (oder zumindest eine Berücksichtigung des Common Law zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung)62. Eine Folge der nach wie vor bestehenden Vitalität des Common Law-Denkens ist auch die starke Betonung, die die amerikanische Verfassungsjurisprudenz auf Geschichte und Tradition legt, eine Betonung, die sich oft in Formulierungen kleidet, die an Common-Law-Terminologie angelehnt ist, die aber auch oft Nähe zu gewohnheitsrechtlichen Grundsätzen aufweisen. So wurde in Calder v. Bull63 ein Landesgesetz unter Berufung auf die „ancient and uniform practice of the state“ aufrecht erhalten. Eher methodischer Natur sind Formulierungen wie: „[U]pon questions of constitutional law, the long settled habits of the community play a part as well as grammar and logic“64 oder „If a thing has been practiced for two hundred years by common consent, it will need a strong case for the Forteenth Amendment to affect it.“65 Dass die U.S.-Verfassung von Anbeginn ein nur schwer zu bewältigendes Phänomen für ein Common Law – System war, ist angesichts der früher vorherrschenden Ansicht über den geringen Stellenwert des Gesetzes im Rahmen des Common Law offensichtlich und verständlich. Mit der Aufwertung des Verfassungsgesetzes kam auch eine Stärkung des einfachen Gesetzes. Nach wie vor wird aber in der Rechtsprechung des Supreme Court sehr viel bewusster und dezidierter auf vorangegangene Entscheidungen abgestellt als in Deutschland. Zwar beruft sich auch das BVerfG auf die eigene Rechtsprechung; die Relevanz bisheriger Entscheidungen wird aber selten offen in normative Formen überführt. Präzedenzien werden nicht als bindende Präjudizien behandelt, sie sind nur zu beachten. Auch wenn die Beachtlichkeit der Präzedenzien in den USA nicht mehr strikt gilt66, so lässt sich gloss that the Court had placed on the Due process Clauses of the Fifth and Fourteenth Amendments.“ 61 U.S. v. Wong Kim Ark, 169 U.S. 649 (1898) 654: „The Constitution . . . must be interpreted in the light of the common law“; ebenso Schick v. U.S., 195 U.S. 65 (1904) 69; vgl. auch Ex parte Grossman, 267 U.S. 87 (1925) 108 f.: „The language of the Constitution cannot be interpreted safely except by reference to the common law and to British institutions as they were when the instrument was framed and adopted.“ 62 Dimick v. Schiedt, 293 U.S. 474 (1935) 476: „In order to ascertain the scope and meaning of the Seventh Amendment [guaranteeing trial by jury in Federal courts], resort must be had to the appropriate rules of the common law established at the time of the adoption of that constitutional provision.“ 63 3 U.S. (Dall.) 386 (1798) 401. 64 Paddell v. New York, 211 U.S. 446 (1908) 448. Siehe dagegen aber z.B. Bates v. State Bar of Arizona, 433 U.S. 350 (1977) 371: „habit and tradition are not in themselves an adequate answer to a constitutional challenge.“ 65 Jackman v. Rosenbaum Co., 260 U.S. 22 (1922) 31; vgl. auch Frank v. Maryland, 359 U.S. 360 (1959) 370. Bei solchen Formulierungen kommt der Verdacht auf, dass hier immer noch die Idee des „statute in derogation of the common law“ mitschwingt. 66 Eine Aussage, dass ein bestimmtes Verständnis der Verfassung ihre Interpretation für die Zukunft festlegt (Stuart v. Laird, 5 U.S. [1 Cranch], 299 [1803] 309), wird man heute in

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

doch nach wie vor konstatieren, dass der Supreme Court einer strengeren Darlegungslast unterliegt als das BVerfG, wenn er von früher ergangenen Entscheidungen abweichen will. Eine Leitlinie dieser Bindung kann z.B. der Entscheidung Cooley v. Board of Wardens of the Port of Philadelphia entnommen werden, in der es heißt: „[C]ontemporaneous construction of the Constitution acted upon with . . . uniformity in a matter of much public interest and importance, is entitled to great weight, in determining whether such a law is repugnant to that Constitution.“67. Eine ähnliche Aussage findet sich in Minor v. Happersett: „[U]niform practice long continued can settle the construction of . . . the Constitution.“68 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das Common Law hat in den USA seine alles überragende Rolle verloren. Allgemein wird heute davon ausgegangen, dass man sich vornehmlich an Verfassung und Gesetz zu orientieren habe. Gleichzeitig bleibt das Common Law aber als juristisches Denkmodell in vielen Variationen lebendig. Es beeinflusst vor allem die Maßstäbe und Methoden, die Gerichte beim Umgang mit Verfassung und Gesetz heranziehen. Dies äußert sich vornehmlich darin, dass Präzedenzien grundsätzlich als beachtlich behandelt werden, und dass es darüber hinaus auch bindende Präjudizien gibt. Zwar wird diese Beachtung nicht mehr strikt durchgehalten, im Grundsatz aber ist sie weiterhin anerkannt. Daneben kann durchweg festgestellt werden, dass sich amerikanische Juristen stark an Geschichte und Tradition orientieren, eine Orientierung, die im folgenden näher dargestellt werden soll. Dabei wird auch deutlich werden, dass diese Orientierung für die Praxis ohnehin sehr nahe liegend ist.

2. Abschnitt

Verfassung zwischen Präzedenz und Idee – die Verantwortung des Interpreten Verfassungsgerichte bekennen sich zwar zu methodischem Vorgehen, sie halten sich aber nicht daran; das ist fast ein Gemeinplatz. Diese Feststellung, die vor alder höchstgerichtlichen Rspr. nicht mehr finden; Stuart v. Laird wurde in den folgenden Entscheidungen „distinguished“: Fairbank v. U.S., 181 U.S. 307 (1901) 309; Martin v. Hunter’s Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304 (1816) 326 ff.; Cohens v. Virginia, 19 U.S. (6 Wheat.) 264 (1821) 382 f. 67 53 U.S. (12 How.) 299 (1851) 315. Vgl. auch McPherson v. Blacker, 146 U.S. 1 (1892) 27: „[W]here there is ambiguity or doubt, or where two views may well be entertained, contemporaneous and subsequent practical construction is entitled to the greatest weight.“ 68 88 U.S. (21 Wall.) 162 (1875) 177 f. Vgl. auch Maynard v. Hill, 125 U.S. 190 (1888) 204 („A long acquiescence in repeated acts of legislation on particular matters is evidence that those matters have been generally considered by the people as properly within legislative control.“) oder Mistretta v. U.S., 488 U.S. 361 (1989) 401: „Traditional ways of conducting government give meaning to the Federal Constitution“; vgl. auch Freytag v. Commissioner, 501 U.S. 868 (1991).

2. Abschn.: Verfassung zwischen Präzedenz und Idee

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lem im deutschen Schrifttum immer wieder auftaucht, wird allerdings nur selten zum Anlass genommen, darüber nachzudenken, ob und inwieweit methodisches Vorgehen bei der Rechtsanwendung überhaupt sinnvoll ist69, oder, was noch näher läge, die Frage zu stellen, nach welchen Verstehensprinzipien die Praxis an die Verfassung herangeht. Soweit Erwägungen dieser Art angestellt werden, liegt ihnen die Vorstellung zugrunde, Rechtsanwendung könne jedenfalls objektiv erklärt werden, so dass hinter jedem Vorgang der Rechtsanwendung eine bestimmte Gesetzlichkeit stehen müsse. In diesem Rahmen werden dann zuweilen auch neue (für die Praxis besser geeignete) Methoden zu entwickeln versucht70. Juristen sollten sich aber darüber klar sein, dass die Frage, wie ein bestimmtes Urteil auf der Basis eines bestimmten Sachverhaltes und anhand bestimmter Rechtsätze zustandekommen konnte, ihre Antwort kaum, jedenfalls nicht in erster Linie oder gar ausschließlich, in einer wie auch immer gearteten Gesetzlichkeit, sondern zunächst einmal im Handeln, genauer: im Willen von Menschen findet. Diese Menschen sind allerdings Richter und damit Inhaber eines Amtes, das ihnen eine entsprechende Verantwortung auferlegt71. Der Wille des Richters darf nicht zur Willkür werden. Diese Verantwortung besteht – wie Josef Isensee72 betont – vor allem in einer Askese, die das Amt von seinem Inhaber verlangt; diese Askese bestehe in der Zurücknahme von Subjektivität, in der Distanz zu eigenen Vorstellungen und Interessen, damit das Gesetz (Recht) herrschen kann. Das Amt sei angelegt auf den „dienenden Gehorsam des Interpreten, auf Versachlichung und Entsubjektivierung“. Das Amt also bindet den Richterwillen in der Amtsverantwortung, es bindet ihn an Maßstäbe, die sein Tun bestimmen. In diesem Rahmen liegen die Methoden der Entscheidungsfindung. Das sind freilich noch sehr allgemeine Erwägungen, und es ist die Frage, wie sich konkretere Fixpunkte finden lassen, die den Richter leiten sollen. Benjamin Cardozo73, einer der herausragenden Richterpersönlichkeiten der USA, spricht in diesem Zusammenhang von Standards und stellt die Frage: „Shall our standard be a metaphysical conception, or an historic datum, or a living need? As you give one answer or the other you will reach different results“. Das Bedeutsame an dieser Sentenz ist nicht die Frage, sondern die in ihr enthaltene Feststellung. Für die Praxis beginnt die Verantwortung bei der Auswahl der Standards, weil der Standard die Antwort bedingt74. Die Antwort ist es, die 69 Vgl. aber Chr. Graf v. Pestalozza, Der Staat 2 (1963), 425. Zu den verschiedenen Aspekten dieser Frage näher unten, 3. Kap. 70 Vgl. etwa F. Müller, Juristische Methodik (19977), 38 ff.; R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (19963), 17 ff. 71 Grds. dazu W. Hennis, in: Fs Smend (1962), 51. 72 In: HStR II (20043), § 15, Rn. 131, 172; ders., in: W. Fikentscher u.a., Wertewandel – Rechtswandel (1997), 17 / 21 f., 27 ff. 73 The Growth of the Law (1924), 75. 74 H.-J. Strauch, Rechtstheorie 32 (2001), 197 / 198 f., bezeichnet dies zu recht als die Bruch-Stelle zwischen Theorie und Praxis. Er bezieht die Verantwortung auf die Aufgabe der

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vor allem anderen in der Verantwortung der Richter steht75, die sie zu vertreten haben. Und gerade hier erweitert der Vergleich zwischen Deutschland und den USA den Blick, weil der Verfassungsjurist in den USA mit einer Verfassung arbeitet, unter der – im Rückblick aus heutigem Verständnis – zum Teil erschreckend falsche Urteile gefällt wurden. Dagegen trägt das GG immer noch sein Taufkleidchen. Im folgenden soll versucht werden, vor allem in U.S.-amerikanischen Entscheidungen danach zu forschen, wie die Auswahl der Standards vor sich geht und welche Motive Richter dabei bestimmt haben könnten. Zugleich wird auch nach der Methodik in diesen Entscheidungen gefahndet. Ausgangspunkt jeder Entscheidung ist der Versuch, zu bestimmen, was die Verfassung im Einzelfall gebietet oder untersagt. Dabei kann zum einen an das angeknüpft werden, was unveränderlich vorgegeben erscheint, insbesondere an Text und Geschichte. Beides verbindet sich in dem Versuch, den Text als einen einst „gesprochenen“ Text zu rekonstruieren und über eine Ermittlung von Vor-Texten, Motiven und geschichtlichen Situationen soweit anzureichern, dass er für den zu beurteilenden aktuellen Sachverhalt eine Antwort bietet (subjektiv-teleologischer Ansatz). Versucht werden kann zum anderen aber auch, die Verfassung als Phänomen der Gegenwart zum „Reden“ zu bringen, d. h. eine Idee hinter dem Text aufzuspüren, die es ermöglicht, einen für den zu beurteilenden Sachverhalt aufschlussreichen Text zu konstruieren (objektiv-teleologischer Ansatz). Während der erste Ansatz die Verfassung als (einmal getroffene) Entscheidung zu perpetuieren trachtet, bemüht sich der zweite um eine Er- und Vermittlung der Verfassungsidee, also darum, die Verfassungsentscheidung aus dem Geschehenen in die Aktualität zu transferieren. Beiden Konzeptionen geht es um das Telos, das dem Text innewohnen soll. Einen prinzipiell anderen Weg bietet schließlich die Anknüpfung an „vormals Geschehenes und Feststehendes“. Die Formulierung ist bewusst vage gehalten, weil die Anknüpfung inhaltlich kaum zu strukturieren ist. Es gehören zu dieser Interpretationsmethode Präjudizien, aber es gehören dazu auch die Tradition sowie Geschehnisse in der Vergangenheit, die dem Richter für die Auslegung bedeutsam erscheinen. Unterschiedliche, bereits gegebene Antworten werden mit unterschiedlichen Akzentuierungen und in verschiedenartigen Kombinationen herangezogen, um zu Antworten für aktuelle Fragen zu kommen. Bevor wir uns aber mit diesem Phänomen näher beschäftigen (C u. D), soll zunächst der Frage nachgegangen werden, wie sich Text und Sinn in der Praxis verbinden.

Lösung eines sozialen Konflikts, die sich von der Lösung eines juristischen Problems unterscheiden soll. 75 Zu den verschiedenen Facetten der Verantwortung als Institution des Verfassungsrecht: U. Di Fabio, in: Knies (Hg.), 15 / 21 ff.

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A. Der Verfassungstext als Auftrag zur Sinnsuche Zum Einstieg bietet sich eine Entscheidung des Supreme Court an, in der der Text der amerikanischen Verfassung als eo ipso streitentscheidend angesehen wurde76: Olmstead war verurteilt worden, weil er gesetzwidrig Alkohol transportiert und verkauft hatte (National Prohibition Act). Der Staat stützte sich bei seiner Beweisführung wesentlich auf die ohne Rechtsgrundlage gewonnene Tonbandaufzeichnung eines Telefongesprächs. Vor dem SCt. stellte sich die Frage, ob die Aufzeichnung gegen Rechte des Angeklagten aus dem 4. und 5. Amendment verstößt. Es war das erste Mal, dass der SCt. die Gelegenheit erhielt, darüber zu befinden, ob und unter welchen Voraussetzungen das Anzapfen von Telefonleitungen verfassungsrechtlich zulässig ist. Chief Justice Taft sah Unterhaltungen als vom 4. Amendment nicht geschützt an und verneinte einen Eingriff in die Rechte des 5. Amendment, weil die Aufzeichnung kein Eindringen in das Haus des Angeklagten darstellte: „The amendment itself shows that the search is to be of material things – the person, the house, his papers or his effects. . . . The language of the amendment cannot be expanded“77. Der Dissent von Justice Brandeis stützte sich dagegen auf die Überlegung, dass das 4. und 5. Amendment ein allgemeines Recht auf individuelle Privatheit begründet und die Verwendung von Beweisen, die durch ein gesetzlich nicht erlaubtes Abhören von Telefongesprächen gewonnen werden, die Regierung zu einem Gesetzesbrecher macht.

Der Unterschied der beiden Meinungen in Olmstead scheint darin zu liegen, dass die Mehrheit den Text wörtlich und als abschließend versteht, Brandeis dagegen über den Text hinausgehen will. Vertreten werden kann aber auch die Auffassung, Brandeis nehme den Text ernster als die Mehrheit, weil er sich darum bemüht, dem Text einen Sinn zu geben, der den „bloßen“ Wortlaut transzendiert. Was die Argumentation von Taft angeht, so lassen sich gewisse Ungereimtheiten ausmachen. Er leitet ein mit den Worten: „Das Amendment selbst zeigt, . . .“; damit erwartet man im folgenden eine, wie auch immer beschaffene „Demonstration“ des Amendments. Taft fährt aber fort, das Amendment zeige, dass nur solche Durchsuchungen unter das Amendment fallen, „die materielle Dinge“ betreffen, bzw. Dinge, die sich im Haus des Observierten befinden. Derartiges lässt sich dem Amendment selbst aber nicht entnehmen; eine Formulierung „material things“ oder „im Haus befindlich“ enthält die Bestimmung nicht. Überdies ist auch eine Telefonleitung ein „materielles Ding“, das man – wie Papier auch – „durchsuchen“ kann, um daraus Informationen zu gewinnen. Entscheidend ist für Taft also nicht der Abstraktionsbegriff „materielle Dinge“ bzw. „im Haus befindlich“, sondern die Aufzählung, die das Amendment vornimmt: Person, Haus, Papiere und sonstige Habe des Betroffenen. Da „Telefonleitung“ nicht in der Liste steht, fällt die „Durchsuchung“ von Telefonleitungen nach seiner Ansicht nicht unter das 5. Amendment. Taft verweigert sich vordergründig einer Sinngebung: Die Verfassung 76 77

Olmstead v. U.S., 277 U.S. 438 (1928). 277 U.S. 438 (1928) 464.

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ist, so wie sie ist, weil sie so ist. Der Verfassungstext allein entscheidet den Streit: „The laguage of the amendment cannot be expanded“. Gerade diese Entscheidung zeigt, dass ein Bekenntnis zum Text die Komplexität der Verfassungsauslegung in allen Facetten entfaltet. Obwohl Taft offenbar an der Aufzählung der geschützten Objekte anknüpfen wollte, um den Fall zu entscheiden, nimmt er eine Sinndeutung vor, die sein Ergebnis als willkürlich erscheinen lässt. Der Text „drängt ihn“ dazu, die Deutung vorzunehmen, nur materielle Dinge fielen unter den Schutz des Amendments. Wenn sich das BVerfG auf den Wortlaut einer Verfassungsbestimmung beruft, geschieht dies meist in der Form, dass von dem Wortlaut „auszugehen“ sei78. Selbst in den Fällen, in denen der Wortlaut „eindeutig“ ist, wird er in aller Regel nur als Ausgangspunkt der Interpretation verstanden79. Überhaupt wird die Bedeutung des Wortlautes eher konkludent erkennbar. Dabei fällt auf, dass der Einstieg in das Verstehen des Textes auf ganz unterschiedliche Weise geschieht. Mal beginnt das Gericht mit Ausführungen zur Entstehungsgeschichte80, mal mit Verweisen auf die eigene Rechtsprechung81, mal mit abstrakten Ausführungen zur Gesamtordnung des GG82. In jedem Fall aber sind die „Bekenntnisse“ zum Text weithin ohne Relevanz, wie anhand von Passagen aus zwei Entscheidungen des BVerfG exemplarisch dargestellt werden kann. So heißt es in BVerfGE 80, 315 / 33383: „Nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Der Begriff ,politisch Verfolgter‘ lässt sich allein nach dem lapidaren Wortlaut dieser Bestimmung nicht näher abgrenzen. Hierzu muss vielmehr festgestellt werden, was insgesamt als Sinn und Zweck der normativen Festlegung, die mit der gegebenen Formulierung zum Ausdruck gebracht wird, gemeint war und ist, wobei insbesondere die Regelungstradition und die Entstehungsgeschichte des Grundrechts in die Betrachtung einzubeziehen sind “.

Zunächst fällt auf, dass der angeblich „lapidare“ und zur Abgrenzung schlecht geeignete Wortlaut nicht nur den Sinn und Zweck des Art. 16 II 2 GG „zum Aus78 Etwa BVerfGE 39, 1 / 37 (Schwangerschaftsabbruch I). Vorgeschaltet ist hier freilich ein historisches Argument dahingehend, dass sich der Sinn der Vorschrift aus der Stellung des Lebensrechts im „Dritten Reich“ erklärt (Seite 36 f.); BVerfGE 67, 213 / 224 (Anachronistischer Zug) beginnt die Auslegung des Art. 5 III 1 mit der Formulierung: „Diese Freiheitsverbürgung enthält nach Wortlaut und Sinn zunächst . . .“. 79 Etwa BVerfGE 62, 1 / 35 (Bundestagsauflösung), wonach schon der Wortlaut in dem „Kann-Satz“ des Art. 68 I 1 GG deutlich macht, dass der Bundespräsident ein Ermessen hat. Das BVerfG macht gleichwohl Ausführungen zu Art. 67 GG und zum „Sinngefüge“ des Art. 68 GG. Vgl. auch D. de Lazzer, in: Fs Esser (1975), 85 / 90. 80 Etwa: BVerfGE 7, 198 / 204 f.; E 32, 54 / 69 ff. 81 Vgl. etwa BVerfGE 65, 1 / 37, 41 f., 44. 82 Etwa: BVerfGE 69, 1 / 21 ff. (KDVNG), in der Berufung auf Art. 4 III GG mit einer mehr als ausführlichen Erörterung des Kontextes der Norm. 83 Unter Verweis auf BVerfGE 74 / 51, 57. – Der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ findet sich nun in Art. 16a I GG.

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druck“ bringt, sondern auch in der Lage ist, eine normative Festlegung zu begründen. In einer späteren Passage der gleichen Entscheidung geht das Gericht überdies davon aus, dass das Attribut „politisch“ etwas „meint“84. Angesichts dessen hätte das BVerfG auch formulieren können: Nach Art. 16 II 2 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Die normative Festlegung gewinnt ihren Sinn und Zweck aus dem Begriff „politisch Verfolgter“, wobei insbesondere die Regelungstradition und die Entstehungsgeschichte des Grundrechts in die Betrachtung mit einzubeziehen sind.

Im Grunde geht es darum, zu verstehen, wer die politisch Verfolgten sind, denen Asylrecht zu gewähren ist. Ohne Art. 16 II 2 GG gäbe es kein Grundrecht auf Asyl. Und ob der Begriff nun „lapidar“ ist oder „aussagekräftig“, das Gericht muss eine Definition von „politisch“ und von „Verfolgung“ geben, die es erlaubt, das, was „zum Ausdruck“ gebracht wird, auch „zur Anwendung“ zu bringen. Im Ergebnis könnte die in der Entscheidung vorgenommene Argumentation des BVerfG auf beiden Grundlagen gleichermaßen aufbauen; der Unterschied beider Einstiege erscheint insoweit als rein formal. Zum Vergleich kann das Ausländerwahlrechts-Urteil85 angeführt werden: „Der Verfassungssatz ,Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus‘ (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) enthält – wie auch seine Stellung und der Normzusammenhang belegen – nicht allein den Grundsatz der Volkssouveränität. Vielmehr bestimmt diese Vorschrift selbst, wer das Volk ist, das in Wahlen, Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) Staatsgewalt ausübt: Es ist das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland.“

Obgleich die Vorschrift nach Ansicht des Gerichts selbst bestimmt, wer das Volk ist, hält es das BVerfG im Anschluss an diese Feststellung doch für erforderlich, sie noch sehr ausführlich (unter Heranziehung des Demokratieprinzips, des Staatsangehörigkeitsrechts, der Präambel sowie der Entstehungsgeschichte) zu begründen. Verwundert bei dem erstgenannten Urteil, wie ein „lapidarer“ Satz so viel auszusagen vermag, dann fragt man sich hier, wozu es bei einem vorgeblich so aussagekräftigen Satz der nachfolgenden ausführlichen Begründung und Absicherungen bedarf. Das gleiche Ergebnis hätte mit einer Argumentation herbeigeführt werden können, die strukturell und nach der „Einstiegs“-Art dem erstgenannten Urteil entspricht: Nach Art. 20 II 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Der Begriff „Volk “ lässt sich allein nach dem lapidaren Wortlaut dieser Bestimmung nicht näher abgrenzen. Hierzu muss vielmehr festgestellt werden, was insgesamt als Sinn und Zweck der normativen Festlegung, die mit der gegebenen Formulierung zum Ausdruck gebracht wird, gemeint war und ist, wobei insbesondere die Regelungstradition und die Entstehungsgeschichte der Bestimmung in die Betrachtung einzubeziehen sind.

84 85

BVerfGE 80, 315 / 333 (Tamilen). BVerfGE 83, 37 / 50.

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Die Charakterisierung des Wortlautes als lapidar oder präzise erscheint also nur auf den ersten Blick als weichenstellend für den Spielraum, den sich der Interpret damit einräumt. Im Ergebnis ist es offensichtlich ganz gleichgültig, weil in beiden Fällen auf die gleiche Weise verfahren wird: das textlich „Vor-Gegebene“ soll mit Hilfe der damit möglicherweise zum Ausdruck gebrachten Idee herausgefunden werden. In beiden, scheinbar so unterschiedlichen Ansätzen, offenbart sich damit die Unergiebigkeit der Trennung von Wortlaut und Sinn. Sobald man sich darum bemüht, den Sinn eines Textes zu verstehen, wird der Text mehrdeutig, mag er zunächst noch so lapidar oder noch so aussagekräftig erscheinen. Ungeachtet aller Referenz an die Verbindlichkeit des Textes lässt sich doch nicht negieren, dass jeder Text interpretationsfähig und –bedürftig und damit ungeeignet ist, einen Einzelfall „aus eigener Kraft“ zu entscheiden.

B. Die Geschichte als Hilfsmittel des Verstehens und als Präzedenz Der Versuch, die Autorität des Textes unmittelbar zur Entscheidung von Streitfragen zu nutzen, scheitert also an der Unmöglichkeit, Texte ohne Interpretation zur Anwendung zu bringen. Das Lesen von Verfassungstexten zwingt zur Sinnsuche. Zwei Erfüllungsarten dieses „Auftrages“ lassen sich dabei – wie schon erwähnt86 – unterscheiden: die subjektiv- und die objektiv-teleologische Auslegung. Die subjektiv-teleologische Auslegung sieht das Geschäft der Auslegung in der „Reconstruction des dem Gesetz innewohnenden Gedankens“87. So heißt es z.B. in einer Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahre 1887: „[I]n the construction of the language of the Constitution . . . we are to place ourselves as nearly as possible in the condition of the men who framed that instrument“88. Der Text soll den Interpreten eine Regression in die Vergangenheit ermöglichen und als Legitimation für die Identifikation der Rechtsanwender mit den Verfassungsgebern dienen. Die objektiv-teleologische Methode setzt dagegen nicht beim „Willen des Gesetzgebers“, sondern beim „Willen des Gesetzes“ an89. Diese Methode wird in ständiger Rechtsprechung auch vom BVerfG vertreten90. Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift sei der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Tatsächlich Oben 2. Abschn. Einl. C.F. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I (1840), 213. Die subjektiv-historische Auslegungstheorie wurde neben v. Savigny vor allem von R. v. Mohl, in: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. I (1860), 96 ff., vertreten. 88 Ex parte Bain, 121 U.S. 1 (1887) 12. 89 K. Stern, Staatsrecht I (19842), § 4 III 1 a (124) mwN. 90 Vgl. etwa BVerfGE 1, 299 / 312; E 6, 389 / 431; E 10, 234 / 244; E 11, 126 / 130; E 13, 261 / 268; E 33, 265 / 294; E 35, 263 / 278; E 54, 277 / 297 ff.; E 62, 1 / 45. 86 87

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wird diese Art von Einstieg in das Normverständnis allerdings nur bedingt durchgehalten. Allzu häufig bewertet das Gericht die Geschichte einer Norm als textbeherrschend. Symptomatisch dafür ist die Betriebsbetretungs-Entscheidung aus dem Jahre 197191. Dabei ging es um § 17 II HwO, wonach der Handwerkskammer ein Betretungs- und Besichtigungsrecht für Betriebs- und Geschäftsräume von Handwerksbetrieben eingeräumt wird. Dem BVerfG stellte sich die Frage, ob Art. 13 I GG („Die Wohnung ist unverletzlich“) Prüfungsmaßstab ist. Die Norm wählt mit „Wohnung“ einen Begriff, der im allgemeinen Sprachgebrauch Betriebsgebäude nicht erfasst. Ausgehend vom objektivierten Willen des Verfassungsgebers hätte es folglich nahegelegen, Betriebsgebäuden den Schutz des Art. 13 GG zu versagen. Das Gericht kommt zum gegenteiligen Ergebnis. Dabei verwendet es den Begriff Wohnung schon am Anfang der Begründung in Anführungsstrichen und „im Sinne des“ Art. 13 GG: „Die Rüge der Beschwerdeführer wäre also gegenstandslos, wenn Geschäfts- und Betriebsräume überhaupt nicht unter den Begriff ,Wohnung‘ im Sinne des Art. 13 GG fielen“92. In dieser Verwendung des Wortlautes von Art. 13 GG zeigt sich, dass das BVerfG offenbar einem juristischen Sprachgebrauch den Vorzug gibt. Und dementsprechend setzt seine Auslegung an mit einem Verweis auf Art. 10 der belgischen Verfassung von 1831, fährt fort mit dem Hinweis auf § 140 der Frankfurter Reichsverfassung von 1848 / 49, auf Art. 6 der Preußischen Verfassung von 1848 / 1850 und endet schließlich bei Art. 115 der Weimarer Reichsverfassung. Mit diesen historischen Verweisen wird belegt, dass der „Grundrechtsbereich [in Art. 13] mit einer seit langem feststehenden Formel“ umschrieben wird, die seit Anbeginn einer extensiven Interpretation unterliege. Der nächste Schritt ist eine historische Auslegung und sodann erfolgt ein Verweis auf das Schrifttum und ausländische Regelungen. Am Ende gelangt das Gericht zu der – wohl von Anfang an gewünschten – weiten Auslegung; systematische und teleologische Gesichtspunkte werden nur noch daraufhin untersucht, ob sie Anlass geben, von der „weiten Auslegung (!) des Wohnungsbegriffes“ abzugehen93. Schließlich heißt es: „Der Wortlaut des Art. 13 Abs. 1 GG kann demgegenüber nicht entscheidend sein“.

Angesichts des großen Aufwandes, den das Gericht mit dem Text der Verfassung getrieben hat, verwundert die Qualifizierung des Wortlautes als „nicht entscheidend“. Verständlich wird dies nur, wenn man den Beschluss in Wahrheit als Anwendungsfall einer subjektiv-teleologischen Auslegung sieht. Friedrich Carl v. Savigny94 bemerkt zum Wortlaut: „Da nun der Ausdruck bloßes Mittel ist, der Gedanke aber der Zweck (sc. des Gesetzes), so ist es unbedenklich, daß der Gedanke vorgezogen, der Ausdruck also nach ihm berichtigt werden muß“. Genau auf dieser Linie liegt auch die Rechtfertigung des BVerfG für die Abkehr vom Wortlaut. So heißt es an einer Stelle des Urteils, die „sprachliche Einkleidung dieses Grundrechts [habe] seit jeher die juristische Präzision zugunsten des feierlichen Pathos einer einprägsamen Kurzformel zurücktreten“ lassen95, was nichts anderes bedeu91 92 93 94 95

BVerfGE 32, 54. E 32, 54 / 69. E 32, 54 / 70 ff. System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I (1849), 230 f. E 32, 54 / 72.

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tet, als dass die gesetzgeberische Tradition nur den Schluss zulässt, der Verfassungsgeber habe unter Wohnung mehr verstanden als „Wohnung“. Scheinbar ganz anders geht die objektiv-teleologische Auslegung vor. Abgestellt wird nicht auf den Sinn, der dem Text gleichsam historisch zugrunde liegt, sondern auf den Sinn, den der Text schafft. Karl Binding96 forderte 1885 die „Lösung des Rechtswillens vom Individuum“. Der normative Sinn des Gesetzes ist der Sinn, der aktuell maßgeblich sein soll: „Wer das Gesetz jetzt auslegt“ – so Karl Larenz97 –, „sucht in ihm die Antwort auf die Fragen seiner Zeit“. Mit dieser Orientierung liegt der Schwerpunkt des Verstehens nicht mehr in der Ermittlung der Vorgaben, die im Text Ausdruck gefunden haben sollen, sondern in der Ermittlung eines Sinnes, den der Text zulässt98; der Text wird für die Gegenwart instrumentalisiert. Das ändert freilich nichts daran, dass der subjektiv-teleologische Ansatz weiterhin bedeutsame Erkenntnisse vermittelt. Mit der Behauptung, der Schwerpunkt des Verstehens liege nicht mehr im vorgegebenen, sondern im gegenwartsbezogenen Sinn, wird eher eine andere Tendenz als ein anderer Ansatz verfolgt. Denn das Vorgegebene ist ein Teil des Erkennbaren, aus dem wir den Sinn eines Textes bilden99. Man kann sich vom subjektiv-historischen Sinn eines Textes nicht abwenden, wenn und soweit man ihn kennt. So betrachtet könnte man die objektiv-teleologische Auslegung als eine erweiterte subjektiv-teleologische Auslegung charakterisieren. Und in den meisten Bekenntnissen des BVerfG zur objektiv-teleologischen Methode ist das Gegenbild auch nicht die subjektiv-teleologische Auslegung, sondern die vom Gericht abgelehnte (Über-) Betonung der Materialien. Diese vor allem sind für das BVerfG kein geeigneter Einstieg des Verstehens. So heißt es im Bundestagsauflösungs-Urteil100: „Die Materialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen“. Das „Verleitende“ der Materialien lag für diesen Fall darin, dass den Richtern des BVerfG klar sein musste, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rats unter dem Eindruck der Weimarer Geschichte eine Selbstauflösung des Bundestages nicht wollten. Der entgegenstehenden Vorstellung des Gerichts wird auf eindrucksvolle Weise der Weg geebnet: „Mehr als die Interpretation der Gesetze“ – so heißt es in der Entscheidung weiter – „hat die der Verfassung mit dem Problem der Offenheit des Normtextes zu tun, weil die Verfassung der aufgegebenen politischen Einheit des Staates zu dienen bestimmt ist ( . . . ). Insbesondere hinsichtlich des organisatorischen Teils der Verfassung, . . . , wird die Aufgabe der Verfassungsinterpretation dahin verstanden, wechselnden Gestaltungsmöglichkeiten Raum zu lassen ( . . . )“101. Handbuch des Strafrechts, Bd. I (1885), 455. Methodenlehre (19916), 318. 98 Hier kann man den Zusammenhang von Auslegungstheorie und Grenzfunktion des Wortlauts festmachen: O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), 17 ff. 99 Vgl. hierzu vor allem H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode I (19906), 296 ff. 100 BVerfGE 62, 1 / 45. 101 BVerfGE 62, 1 / 45. 96 97

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Das Problem der Offenheit des Normtextes besteht also, weil die Verfassung die Aufgabe hat, der politischen Einheit des Staates zu dienen und weil wechselnden Gestaltungsmöglichkeiten Raum zu lassen ist. Hier, wie in vielen anderen Passagen der Entscheidung, wird mehr als deutlich, dass die Absicht der Verfassungsgeber von den Richtern des BVerfG wohl verstanden worden war, dass dieser Absicht aber nicht gefolgt werden sollte. Nach der Rechtsprechung des Gerichts ist das Verstehen der Verfassung nicht schon dann vollendet, wenn die Richter verstanden haben, was die Autoren des Verfassungstextes festschreiben wollten. Etwas überspitzt könnte man sogar formulieren: Das eigentliche Verstehen fängt damit erst an. Das besagt zugleich, dass den subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanz durchaus noch Bedeutung zugemessen wird. Gerade die hier angeführte Entscheidung zeigt dies deutlich. Sie lässt die Auflösung des Bundestages zwar zu, trägt aber dem ursprünglichen historischen Sinn des Art. 68 GG wenigstens teilweise dadurch Rechnung, dass die Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten sehr eingehend daraufhin untersucht wird, ob überzeugende Gründe für eine Auflösung des Bundestages gegeben waren102; überprüft wird auch sehr umfangreich die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers daraufhin, ob er das ihm zugestandene Ermessen verantwortungsvoll wahrgenommen hat103. Die Konstruktion ist also nicht alleine objektiv-teleologisch, sondern wird in Anlehnung an eine subjektiv-teleologische Rekonstruktion modifiziert. So gesehen stehen sich subjektiv- und objektiv-teleologische Auslegung nicht in einem hartleibigen Entweder-Oder gegenüber, sondern ergänzen sich. Das ändert aber nichts daran, dass in dem Bekenntnis zur objektiven Methode eine ganz prinzipielle Aussage liegt, die für das Verstehen der Praxis zentrale Bedeutung hat. Die Einordnung und Bewertung der Materialien der Verfassungsgesetzgebung sind dabei gerade im vergleichenden Bezug zur U.S.-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung aufschlussreich. Denn das „Verleitende“ der Materialien wird umso machtvoller, je weiter der Text als Auftrag zur Sinnsuche in die Vergangenheit rückt – ein Problem im Übrigen, das auch für die Bundesrepublik zunehmend an Relevanz gewinnt.

C. Verfassungsgeschichtliche Präzedenzen Bemühungen um das Verstehen der Verfassung können also nach dem Sinn forschen, der der Verfassung zugrunde liegt (subjektiv – teleologisch), und sie können nach dem Sinn forschen, den sie schafft (objektiv – teleologisch). Daneben stehen aber immer auch die Sinndeutungen, die schon vorgenommen wurden, seien es vorangegangene Urteile über Verfassungsfragen, seien es Traditionen, die sich unter der Verfassung herausgebildet haben, seien es Ereignisse, die durch Verfas102 103

BVerfGE 62, 1 / 62 f. BVerfGE 62, 1 / 60 ff.

5 Schmitt Glaeser

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sungsprobleme entstanden oder in engem Bezug zur Frage der Verfasstheit des Staates aufgetreten sind. Ein Fall, in dem die Problematik der Verfassungsgeschichte besonders prägnant deutlich wird, ist Marsh v. Chambers104. Ernest Chambers war Friseur und seit 1970 Mitglied des Parlaments von Nebraska. Als Agnostiker konnte er nicht akzeptieren, dass der seit 1965 angestellte Parlaments-Kaplan jede Sitzung mit einem Gebet eröffnete105. Daran änderte nichts, dass der presbyterianische Kaplan sehr kurze und unspezifische Gebete sprach. Die Bemühungen von Chambers, seine Kollegen davon zu überzeugen, auf das Eröffnungsgebet zu verzichten, waren erfolglos. 1979 erhob er daher Klage mit der Begründung, die Zahlung eines staatlichen Gehalts an den Priester einer Glaubensgemeinschaft dafür, dass er Gebete spreche, sei eine Verletzung der establishment clause. Der SCt. entschied gegen Chambers mit der Begründung, dass das Gebet schon zu Zeiten der Verfassungsgebung gesprochen wurde. Als besonders bedeutsam wurde dabei angesehen, dass der erste Kongress 1789 einen Kaplan angestellt hatte, und zwar drei Tage bevor man sich über die endgültige Fassung des 1. Amendments einigte. „[Historical] evidence sheds light not only on what the draftsmen intended the Establishment Clause to mean, but also how they thought that Clause applied to the practice authorized by the First Congress – their actions reveal their intent“106.

Die Entscheidung in Marsh stützt sich alleine auf eine spezifische historische Situation. Die Mehrheit der Mitglieder des Kongresses hatte einen Kaplan eingestellt, und zu einem späteren Zeitpunkt die Formulierung des 1. Amendments beschlossen. Damit steht nach Auffassung der Mehrheit der Richter des Supreme Court fest, dass die Beschäftigung eines Kaplans und die Eröffnung der Sitzungen eines Parlaments mit einem Gebet nicht gegen die Verfassung verstoßen kann. Auch durch ihre Formulierungen lässt die Entscheidung die Problematik des Einstieges in das Verstehen der Verfassung deutlich werden. Einerseits wird ausgeführt, die Geschichte gebe Aufschluss darüber, was die Verfassungsväter mit der Vorschrift bezweckten. So gesehen ist die Geschichte ein Hilfsmittel für das Verstehen der Verfassung als Idee, sie gibt Anhaltspunkt dafür, wie man den Text aufschlüsseln kann. Andererseits – das Gericht leitet diesen Gedanken mit einem „but also“ ein – ist die Geschichte bestimmend für die Bewertung eines konkreten Sachverhaltes. Dieser Sachverhalt, die Beschäftigung eines Kaplans im Kongress schon vor der Abfassung des 1. Amendments, wird so gedeutet, als hätte der Kongress im Moment der Verfassungsgebung gleichzeitig eine ausdrückliche Entscheidung gefällt, wonach es verfassungsgemäß ist, einen Kaplan zu beschäftigen, der die Sitzungen des Kongresses mit einem Gebet eröffnet. Erstaunlich ist diese Begründung vor allem deswegen, weil die Verfassung nicht vom Kongress, sondern vom Verfassungskonvent verabschiedet wurde, der seine Sitzungen nicht mit einem Gebet einleitete107. Über463 U.S. 783 (1983). Dies führte dazu, dass er und der Kaplan „were almost in a race to see whether [the chaplan could] get to the front before [Chambers could] get out the back door“, Testimony of Ernest Chambers, Marsh v. Chambers, 463 U.S. 783 (1983), joint appendix at 20, 23 – 24, 27. 106 463 U.S. 783 (1983) 789. 107 Siehe 463 U.S. 783 (1983) Fn. 6 und die Gründe, die der SCt. als dafür maßgeblich herausstreicht (vor allem fehlende finanzielle Mittel für die Beschäftigung eines Kaplans). 104 105

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dies ist nicht gesagt, dass die Mehrheit, die die Verfassung im Kongress verabschiedet hat, mit der Mehrheit identisch ist, die den Kaplan eingestellt hat. So betrachtet könnte diese Einstellungs-Entscheidung der erste Verstoß gegen die noch gar nicht ratifizierte Verfassung gewesen sein. Noch seltsamer erscheint die Entscheidung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Supreme Court in Marsh von einer gefestigten Rechtsprechung zur establishment clause108 abweicht. Besonders ausdrucksstark ist eine entsprechende Entscheidung aus dem Jahre 1984. Danach verstößt es gegen die Verfassung, wenn ein Staat gesetzlich ermöglicht, dass vor dem Unterricht eine Schweigeminute abgehalten wird, in der die Schüler meditieren oder beten109. Ausschlaggebend für das Verdikt der Verfassungswidrigkeit war gerade die Möglichkeit, (freiwillig) auch ein Gebet zu sprechen110. Insgesamt kann man feststellen, dass der Supreme Court sehr empfindlich reagiert, wenn es um auch noch so geringfügige Bezüge des Staates zur Religion geht. Dass Marsh v. Chambers dieses Gebot der Staatsneutralität kaum beachtet, lässt sich wohl nur damit erklären, dass es dem Gericht unmöglich erschien, gegen den Präzedenz zu argumentieren. Dabei mag eine wichtige Rolle die lange Gebetstradition des Repräsentantenhauses gespielt haben, zudem auch, dass die Entscheidung gegen das Gebet in der Öffentlichkeit einen religionsfeindlichen Eindruck erzeugt hätte. In jedem Fall zeigt die Entscheidung, dass es geschichtliche Ereignisse oder Konstellationen gibt, die dem Verfassungstext an Einfluss ebenbürtig zu sein scheinen. Ein ähnlicher Ansatz der Urteilsbegründung findet sich in Dred Scott v. Sandford111. Dred Scott war ein Sklave aus Missouri. Von seinem Besitzer, einem Armee-Chirurgen, war er nach Illinois mitgenommen worden. Illinois war damals ein Teil des Wisconsin Territory, wo, infolge des Missouri Kompromisses, die Sklaverei verboten worden war. Scott wurde von Abolitionisten dazu überredet, eine Klage vor die Gerichte von Missouri zu bringen, damit diese feststellen, dass er durch seine Verbringung in ein freies Territorium zu einem freien Mann geworden war. Seine Klagen hatten keinen Erfolg. Nachdem sein Besitzer gestorben war, wurde ein Verwandter aus New York, J.F.A. Sandford, sein Eigentümer. Sandford war Abolitionist, entließ ihn indes nicht in die Freiheit, um ein Gerichtsverfahren vor Bundesgerichten zu ermöglichen. In Dred Scott v. Sandford, 60 U.S. 393 (1856), stellte sich Chief Justice Taney die Frage, ob Schwarze Mitglieder des Volkes der Vereinigten Staaten oder Bürger sind bzw. sein können. Taney führte dazu aus: „They had for more than a century before been regarded as beings of an inferior order, and altogether unfit to associate with the white race, either 108 Ausdruck findet diese Grundhaltung in dem Jefferson’schen Bild der „wall of separation“, das in Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1 (1947) 16, aufgegriffen wurde. Vgl. auch Illinois ex rel. McCollum v. Board of Education, 333 U.S. 203 (1948) 244 ff. (Verbot von optionalem Religionsunterricht in öffentlichen Schulen). 109 Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38 (1984). 110 Ebda., 60. 111 60 U.S. 393 (1856).

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung in social or political relations; and so far inferior, that they had no rights which the white man was bound to respect; and that the negro might justly and lawfully be reduced to slavery for his benefit. He was bought and sold, and treated as an ordinary article of merchandise and traffic, whenever a profit could be made by it. This opinion was at that time fixed and universal in the civilized portion of the white race. It was regarded as an axiom in morals as well as in politics, which no one thought of disputing, or supposed to be open to dispute . . .“112. Ein Widerspruch gegen diese Einschätzung war für Taney unmöglich, denn „the men who framed the declaration were great men – high in literary acquirements – high in their sense of honor, and incapable of asserting principles inconsistent with those on which they were acting. They perfectly understood the meaning of the language they used, and how it would be understood by others; and they knew that it would not in any part of the civilized world be supposed to embrace the negroe race, which, by common consent, had been excluded from civilized Governments and the family of nations, and doomed to slavery.“113 Und weiter: „It is not the province of the court to decide upon the justice or injustice, the policy or impolicy, of these laws . . .. The duty of the court is, to interpret the instrument they have framed . . . according to its true intent and meaning when it was adopted.“114

Die Argumentation des Gerichts enthält drei Aspekte. Zunächst bringt sie eine (zutreffende) Analyse des Status der Schwarzen in der „zivilisierten Welt“ zur Zeit der Verfassungsgebung. Diese soziologische Bestandsaufnahme wird sodann durch zwei normative Elemente ergänzt. Als erstes wird den Verfassungsvätern und Repräsentanten dieser „zivilisierten Welt“ bescheinigt, dass sie wussten, was sie taten und wie sie es taten. Damit verbunden ist eine Referenz an ihre fortdauernde Autorität. Schließlich wird postuliert, dass der Gerichtshof zu prüfen hat, was für einen Sinn und was für eine Bedeutung die Verfassung zur Zeit ihres Erlasses hatte. Ausgehend von diesen Voraussetzungen erscheint die Antwort schlüssig. Stellt man die Frage, ob die Verfassungsväter der U.S.-Verfassung Schwarzen Bürgerrechte gegeben hätten, dann erscheint115 eine Verneinung zwingend. Für Taney ist Interpretation Rekonstruktion; er identifiziert sich als Interpret mit denen, die die Verfassung geschrieben haben (historische Identifikation). Er sieht die Aufgabe des Interpreten darin, sich so exakt wie möglich in die Situation der Männer zu versetzen, die das Gesetz entworfen haben116. Dabei ist sein Ziel wohlgemerkt Identifikation, nicht Repräsentation. Denn Repräsentation hätte eine Neubewertung erfordert, eine Konsequenz, die Taney vermieden hat und auch vermeiden wollte (dazu sogleich). Um die Besonderheit des Verständnis-Ansatzes in Dred Scott zu erkennen, ist es hilfreich, den interpretatorischen Ansatz im Mehrheitsvotum der Slaughter House 60 U.S. 393 (1856) 407. 60 U.S. 393 (1856) 410. 114 60 U.S. 393 (1856) 405. 115 Die vorsichtige Formulierung gründet in dem Problem, dass man natürlich nicht wissen kann, ob die Verfassungsväter die Sklaverei wirklich befürworteten; angesichts der Schutzklauseln zugunsten der Sklaverei (Art. 1 Sec. 9 [abgesichert durch Art. 5], Art. 4 Sec. 2), ist dies aber höchst wahrscheinlich. 116 Siehe dazu oben (Anm. 87) die Formulierung aus Ex parte Bain, 121 U.S. 1 (1887) 12. 112 113

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Cases117 zu beleuchten. Die Entscheidung behandelt die Frage, ob die Amendments, die die Sklaverei abgeschafft und den Gleichheitssatz eingeführt hatten (13. und 14. Amendment), auch in Fällen Anwendung finden, die in keinerlei Bezug zur Abschaffung der Sklaverei stehen. Konkret ging es um ein Gesetz Louisianas, wonach einer Gesellschaft das exklusive Recht eingeräumt wurde, Schlachthöfe in der Gegend um New Orleans zu betreiben. Justice Miller sah den eigentlichen Zweck des 14. Amendments in „the protection of the newly-made freeman and citizen from the oppression of those who had formerly exercised unlimited dominion over him.“118 Dem Gerichtshof ging es darum, die Auswirkungen der Verfassungsänderungen auf das bundesstaatliche Machtgefüge festzustellen119, konkret, ob der Rechtsstatus der Bürger gegenüber dem Bundesstaat, in dem sie leben, durch das 14. Amendment tangiert wird. Die Mehrheit sah im 14. Amendment keine Veränderung des bundesstaatlichen Kräfteverhältnisses: „Nor did it profess to control the power of the State governments over the rights of its own citizens“120. Dagegen macht Justice Swayne in der dissenting opinion geltend: „These amendments are a new departure and mark an important epoch in the constitutional history of the country. They trench directly upon the power of the States, and deeply affect those bodies. They are, in this respect, at the opposite pole from the first eleven.“121 Die Mehrheit wandte ein: „We do not say that no one else but the negro can share in this protection“. „[But] what we do say, and what we wish to be understood is, that in any fair and just construction of any section or phrase of these amendments, it is necessary to look to the purpose which we have said was the pervading spirit of them all.“122

In den letzten Formulierungen zeigt sich der Unterschied des interpretatorischen Ansatzes gegenüber Dred Scott. Die Analyse von Justice Miller stellt zwar immer noch darauf ab, aus welcher historischen Situation heraus die Verfassungsbestimmungen entstanden sind, die Geschehnisse werden aber nicht mehr aus der Sicht der Autoren der Amendments, sondern aus einer eigenen, textorientierten Perspektive bewertet. Er bemüht sich um Repräsentation, nicht um Identifikation. Aus den 83 U.S. 36 (1872). Slaughter House Cases, 83 U.S. (16 Wall.) 36 (1872), 71; dieser Gedanke findet sich auch noch in Strauder v. West Virginia, 100 U.S. 303 (1879) 310 (Das Ziel des 14. Amendment „was against discrimination because of race or color“). 119 Besonders deutlich wird dies auf den Seiten 77 f. (83 U.S. [16 Wall.] 36 [1872]). Das Ergebnis dieser „Besorgnis“ findet sich auf Seite 81: „It is so clearly a provision for that race and that emergency, that a strong case would be necessary for its application to any other.“ Die Forderung zu stellen heißt, sie für nicht erfüllt anzusehen. 120 Slaughter House Cases, 83 U.S. (16 Wall.) 36 (1872) 77; vgl. auch 83: „But however pervading [the belief in the necessity of a strong national government], and however it may have contributed to the adoption of the amendments we have been considering, we do not see in those amendments any purpose to destroy the main features of the general system.“ 121 Slaughter House Cases, 83 U.S. (16 Wall) 36 (1872), 125 (Justice Swayne, dissenting); vgl. auch 122 (Justice Bradley, dissenting): „[I]t was the intention of the people of this country in adopting that amendment to provide National security against violation by the States of the fundamental rights of the citizen.“ 122 Slaughter House Cases, 83 U.S. (16 Wall.) 36 (1872) 72. 117 118

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Geschehnissen, „which are familiar to us all“123, werden eigene Schlussfolgerungen gezogen. Dazu bedient sich Miller folgerichtig auch des Verfassungstextes, der in der Argumentation Taneys keine Rolle spielt. Der Text wird als sinnvoller Ausdruck einer Idee gesehen; es bedarf daher nach seiner Ansicht keiner Berufung auf die Autorität derer, die ihn geschrieben haben124. Mit der Umorientierung von der wahrscheinlichsten Antwort der Verfassungsväter in Dred Scott zu einem sinnvollen Verständnis des Textes unter Beachtung des Entwicklungsstandes zur Zeit der Entscheidung in den Slaughter House Cases wandelt sich auch der interpretatorische Ansatz. In Dred Scott wird jede eigenverantwortliche Interpretation der Verfassung abgelehnt. Es wird etwa auch nicht thematisiert, ob die „großen Männer mit umfassender Bildung und gesteigertem Sinn für Ehre“, die die Verfassung schufen, im Jahre 1856 die Sklaverei überhaupt noch befürwortet hätten. Damit nämlich wäre eine Berufung auf die Autorität der Verfassungsväter nicht mehr möglich gewesen. Sie wären gleichsam nur noch als virtuelle Personen befragt worden, nicht mehr als historische Persönlichkeiten. Die Vermutung liegt nahe, dass für Chief Justice Taney nur die Beschwörung von historischen Persönlichkeiten eine Entscheidung tragfähig machen konnte. Die Hintergrundproblematik des Falles, die Sklaverei, die etwa fünf Jahre nach der Entscheidung in Dred Scott mit dem Bombardement von Fort Sumter durch die Truppen unter General Beauregard zum Bürgerkrieg führte, konnte nach seiner Ansicht wohl nicht mehr rational entschieden werden. Der Supreme Court wählt in Dred Scott einen Einstieg in das Verstehen der Verfas123 Slaughter House Cases, 83 U.S. (16 Wall.) 36 (1872) 71. In der Formulierung offenbart sich auch eine psychologische Komponente. Während für Taney die Verfassungsväter als quasi „Überväter“ der Kritik entzogen scheinen, sind die Verfassungsväter des 14. und 15. Amendments für Miller „Kollegen“ bzw. Zeitgenossen. 124 Es soll hier nur angemerkt sein, dass Miller wohl auch von einer Problematik beeinflusst wurde, die ansatzweise auf den Seiten 70 f. (83 U.S. [16 Wall.] 36 [1872]) anklingt. Das 14. Amendment war in einem Verfahren zustande gekommen, das nur mit Mühe als dem Art. V der U.S. Const. entsprechend angesehen werden konnte. Das 14. Amendment wurde im Juni 1866 vom U.S. Kongress mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit vorgeschlagen. Allerdings waren damals die Abgeordneten aus den Staaten des Südens nicht vertreten, weil sie von der Mehrheit des Kongresses ausgeschlossen worden waren (s. den Majority Report of the Joint Committee on Reconstruction, in: McPherson [Hg.], History of the Reconstruction of the United States [18803], 86 f.). Nach der Abstimmung wurde das Amendment an alle Staaten zur Ratifizierung geschickt. Texas nahm das Amendment an (woraufhin Texas wieder im Kongress vertreten werden durfte), alle anderen Südstaaten verweigerten die Ratifizierung (und in einigen Nordstaaten regte sich Widerstand). Da die Union mit den Südstaaten aus 37 Staaten bestand, war die Ratifizierung so gut wie gescheitert, weil es einer Drei-Viertel-Mehrheit bedurft hätte. Daraufhin wurden die zehn Südstaaten in fünf Militärdistrikte unterteilt, und der Unionsarmee wurde die Aufgabe zugeteilt, den Übergang zur Wiederherstellung der Staatlichkeit zu überwachen. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: es wurde alles getan, um zu garantieren, dass die benötigte Mehrheit zustande kommt. Zu dem Gesamtkomplex und einer ausführlichen (wenn auch argumentativen) Darstellung der jeweiligen Rechtfertigungen vgl. B. Ackerman, We The People II (1998), 99 ff. Angesichts der vorangegangenen Sezession der Südstaaten und des Sieges der Nordstaaten im Bürgerkrieg war die Verfassungsänderung in dieser Form tatsächlich unanfechtbar.

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sung, der nur zu einer einzigen möglichen Lösung führt. R. Delgado und J. Stefancic125 erheben dagegen den Vorwurf der Zirkularität. Das ist nicht richtig. Gewiss mag Taney der Vorwurf gemacht werden, er habe seinen Interpretationsansatz so gewählt, dass er zum gewünschten Ergebnis kommen konnte. Ansatz und Ergebnis bilden aber keinen Zirkel. Auch aus der Luft gegriffen ist das Resultat nicht. Der Argumentationsverlauf lässt sich gut nachvollziehen: 1. Die Verfassungsväter waren ehrenwerte Männer; 2. Die Verfassung ist ein genaues Abbild ihrer Überzeugungen; 3. Der Supreme Court hat die Verfassung zu befolgen; 4. Für die Verfassungsväter waren Schwarze keine vollwertigen Menschen; 5. Unter der Verfassung können Schwarze keine Bürger sein. Freilich: der Supreme Court wird bei diesem Argumentationsmodell zu einem bloßen Notar und es stellt sich die zentrale Frage, ob bei einem derartigen Argumentationsablauf Gegenstand der Auslegung wirklich noch die Verfassung ist. In diesem Zusammenhang wird auch sehr deutlich, was hinter der Formulierung des BVerfG steht, wenn es die Verfassungs-Materialien als „verleitend“ bezeichnet. Das Verleitende der Materialien liegt in der Möglichkeit begründet, die Verantwortung für eine Entscheidung auf die Autoren der Verfassung abzuwälzen. Das Gericht selbst entscheidet im Grunde nur formal, nicht inhaltlich. Die inhaltliche und damit selbstverantwortliche Entscheidung verlangt, dass man die Verfassung selbst zum Gegenstand der Auslegung macht. In diesem Rahmen können historische Präzedenzen im Wesentlichen nur noch zur Bestätigung eigenverantwortlicher Entscheidungen herangezogen werden. Die historische Auslegung gewinnt ihren Wert in einer Unterstützungsfunktion. Die Richter in den Slaughter House Cases dagegen übernehmen Verantwortung, indem sie die Geschichte des 13. und 14. Amendment selbst bewerten. Mit dieser Eigenbewertung muss freilich die Entscheidung in ihrem Ergebnis auch dann nicht überzeugen, wenn man der Art dieses Einstiegs in das Verstehen der Verfassung folgt. Während in Dred Scott der Einstieg in die Entscheidung nur eine einzige Antwort zulässt, ermöglicht der Einstieg von Justice Miller mehrere Antworten. Abgesehen davon, dass das 14. Amendment in der Tat der Abschaffung der Sklaverei diente, kann man seinen Ursprung als weitaus komplexer beschreiben: nämlich als Ausdruck des Gedankens der „free labor“, einem Prinzip, dem nicht nur die Sklaverei, sondern auch das gesamte Erscheinungsbild der geschlossenen, statischen und aristokratischen Gesellschaft in den südlichen Staaten der USA widersprach, und das sehr wohl als der tiefere Grund des Bürgerkrieges angesehen werden kann.126 Und eben darauf stützen sich auch die Dissenter: „for by it [the Louisiana Statute] the right of free labor, one of the most sacred and imprescriptible rights of man, is violated“127. Sie können, ohne den interpretatorischen Ansatz 69 Tex.L.Rev. 1929 (1991) 1935 f. Vgl. dazu W. Forbath, 1985 Wis.L.Rev. 767 / 772 ff. 127 Dieses Recht wurde freilich alleine den Männern zugestanden, vgl. e contrario Bradwell v. State, 83 U.S. 130 (1873). Wie in den Slaughter House Cases ging es auch hier um die Berufsfreiheit, diesmal von Frauen. Und die Dissenter aus Slaughter House fanden sich diesmal als Consenter zusammen, um zu erklären, dass Frauen aus traditionellen Gründen (und 125 126

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

von Miller abzulehnen, eine andere Entscheidung befürworten, indem sie die Idee, die Miller als entscheidend ansieht, durch eine andere Idee bzw. eine eigene Interpretation der geschichtlichen Ausgangslage ersetzen. Der Verweis der Mehrheit auf die „events almost too recent to be called history“128 vermittelt der Minderheit dieselbe Autorität wie der Mehrheit. Beide können in einer Interpretation der Geschehnisse und der historischen Problemlagen Lösungen vertreten, die nicht per se richtiger oder unrichtiger sind. Die Quintessenz der Darlegungen zu den Ereignissen und Entscheidungen, die als verfassungsgeschichtlich „beispielhafte Vorfälle“ zur Grundlage von Entscheidungen gemacht werden (Präzedenzen), lässt sich in aller Kürze folgendermaßen formulieren: Der Richter kann bei der interpretativen Verwertung von historischen Präzedenzen Eigenverantwortung meiden, indem er gleichsam die Vergangenheit „abliest“ und mehr oder minder unbesehen auf die Gegenwart überträgt. Der Unterschied zur subjektiv-teleologischen Methode liegt darin, dass dieser Ansatz den Text der Verfassung nicht als Auftrag zur Sinnsuche wertet; der Ansatz ist nicht teleologisch. Der Interpret tritt in den Hintergrund. Sobald man die Materialien dagegen lediglich als Grundlage für die Ermittlung der Idee nutzt, die die Autoren mit dem Text verfolgten (subjektiv-teleologische Auslegung), sobald man also die Vergangenheit in irgendeiner Weise fortschreibt, tritt der Interpret in eigene Verantwortung. Die Verantwortung bezieht sich auf die Formulierung der Idee und in ihrer Re-Konkretisierung auf eine sachverhaltsbezogene Norm. Besonders deutlich wird der Unterschied beider Ansätze in der oben untersuchten Entscheidung Marsh v. Chambers129. Für ein besseres Verständnis des methodischen Ansatzes der Praxis ist es unabdingbar, die Berufung auf Präzedenzen von der subjektiv-teleologischen Auslegung zu trennen. Nur so wird verständlich, dass das BVerfG einerseits eine objektiv-teleologische Auslegung propagiert und andererseits der Entstehungsgeschichte eine leitende Funktion130 zugesteht. M.E. grenzt das Gericht seinen Ansatz gar nicht von der subjektiv-teleologischen, sondern von einer nicht-teleologischen Auslegung ab. Es verlangt, dass aus den Materialien keine Entscheidung hergeleitet werden, ohne sie teleologisch zu vermitteln. Das BVerfG sieht den Text als Auftrag zur Sinnsuche. Es wurde oben131 betont, dass das Vorgegebene ein Teil des Erkennbaren ist, aus dem wir den Sinn eines Textes bilden, und dass sich auch eine „objektive Auslegungshaltung“132 vom subjektiv-historischen Sinn eines Textes nicht abwenden damit kraft des Common Law) keine Juristen sein können, und dass das Common Law von dem Amendment nicht erfasst ist. 128 83 U.S. 36 (1872) 71 und 72: „fresh within the memory of us all“. 129 463 U.S. 783 (1983). 130 Z. B. E 9, 124 / 128; E 33, 125 / 152 („ . . . dem Merkmal des ,Traditionellen‘ oder ,Herkömmlichen‘ kommt dabei wesentliche Bedeutung zu“). 131 1. Kap. A, unter Verweis auf Gadamer.

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kann, wenn und soweit er bekannt ist. Ohne schon hier der Berufung auf Präzedenzen jegliche Rechtfertigung absprechen zu wollen: Wenn der Verfassungstext einen Auftrag zur Sinnsuche beinhaltet, dann muss die Grundhaltung des Interpreten eine teleologische sein. Mit dieser Feststellung tritt ein weiteres Phänomen der Praxis ins Blickfeld, das einerseits mehr ist als Präzedenzen-Suche, das aber andererseits von der teleologischen Auslegung zu scheiden ist: es ist die Berufung auf Tradition.

D. Die Praxis zwischen Verantwortung und Delegation: die Berufung auf Tradition Die U.S.-amerikanische Rechtsprechung trennt Tradition und Präzedenzienbindung, diese Trennung ist aber alles andere als messerscharf. Zur Traditionsermittlung werden unterinstanzliche Entscheidungen ebenso herangezogen wie Entscheidungen des Supreme Court, also bindende Präjudizien. Tradition und Präzedenzien sind nicht identisch; Präzedenzien zählen aber zur Tradition, sind also ein Teil von ihr. Dass ein Common Law Gericht prinzipiell dazu neigen wird, auf vergangene Geschehnisse oder Wertungen abzustellen, folgt aus der Nähe des Common Law zum philosophischen Pragmatismus, der die Güte neuer Gedanken in aller Regel daran misst, wieweit sie in das bisher als richtig Angesehene harmonisch eingefügt werden können. Ein solcher Ansatz findet sich in vielen Entscheidungen des Supreme Court, auch wenn er sich nicht auf Präzedenzien, sondern allgemein auf Tradition beruft. Das „Verleitende“ dieses Ansatz speist sich, anders als die Vorgehensweise, die in den vorangegangenen Passagen erörtert wurden, nicht aus der Autorität der Verfassungsväter, sondern aus der Autorität der Erfahrung. Es basiert auf dem Gedanken, dass das, was schon immer (oder doch zumindest lange Zeit) Geltung besaß, nicht grundsätzlich falsch sein kann. Symptomatisch hierfür ist eine Entscheidung des Supreme Court, Bowers v. Hardwick133, die einen Fall von Homosexualität zum Gegenstand hat: In Georgia ist Sodomie134 unter Strafe verboten. Hardwick wurde angeklagt, im Schlafzimmer seines Hauses mit einem erwachsenen Mann Sodomie begangen zu haben. Hardwick rügte vor einem Bundesgericht die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Nach einer Niederlage in erster Instanz entschied das Berufungsgericht, dass das Gesetz Grundrechte F. Müller, Juristische Methodik (19977), 41. 133 478 U.S. 186 (1985). 134 Das Gesetz Georgias definiert Sodomie als sexuelles Verhalten, das „die Sexualorgane einer Person und den Mund oder den Anus einer anderen Person involviert“, Georgia Code Ann. § 16 – 6-2 (1984). Es unterscheidet nicht nach homo- oder heterosexuellem Verhalten. Anders Texas Penal Code Ann. § 21.06(a) (2003), wonach auch homosexuelles Verhalten (neben Sodomie) unter Strafe steht. Diese Bestimmung war Gegenstand der Entscheidung Lawrence et al. v. Texas (Nr. 02 – 102 v. 26. 6. 2003), in der Bowers v. Hardwick „overruled“ wurde (dazu unten bei Fn. 142). 132

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung Hardwicks verletzt. Der SCt. erklärte das Gesetz dagegen für verfassungsgemäß. Nach Ansicht der Mehrheit gewährt die US-Verfassung kein Recht auf homosexuelle Sodomie. Auch die Tatsache, dass sie in der Privatsphäre Hardwicks vorgenommen wurde, führt nach Ansicht des Gerichts zu keiner anderen Beurteilung. Justice Byron White beginnt seine Begründung mit dem Verweis auf die Tatsache, dass das Verbot der homosexuellen Sodomie seit langer Zeit besteht. Er zitiert Belege aus der Zeit der Verfassungsgebung, der Reconstruction-Ära und der Zeit nach dem New Deal und beendet diesen geschichtlichen Überblick mit einem Hinweis darauf, dass zur Zeit seiner Entscheidung immer noch in 24 Staaten und im District of Columbia solche Gesetze in Geltung seien135. Sodann stellt er fest, der SCt. würde seine Legitimität gefährden, wenn er Grundsätze postuliert, die keine deutlichen Anhaltspunkte im Wortlaut oder im Entwurf (design) der Verfassung aufweisen. Dabei ruft er die Erfahrung des SCt. aus der Zeit des New Deal in Erinnerung, als die Exekutive das Gericht zwang, seine wirtschaftsliberale Rechtsprechung aufzugeben136. Auf dieser Grundlage erörtert er die Frage, ob es der Schutz der Privatsphäre gebietet, einverständliche homosexuelle Sodomie dann zu erlauben, wenn sie in der Privatsphäre stattfindet. White anerkennt die Möglichkeit, dass es Fallkonstellationen gibt, in denen ein Verhalten, das in der Öffentlichkeit verboten werden darf, im Privaten der staatlichen Regulierung entzogen ist. Eine solche Differenzierung ist nach White aber nur statthaft, wenn sich in der Verfassung hierfür Anhaltspunkte finden lassen. Während er für den Besitz und die Lektüre von Pornographie einen Anhaltspunkt im 1. Amendment ausmacht, sieht er keine entsprechende Rechtfertigung für bestimmte sexuelle Praktiken. Schließlich weist White auch das Argument Hardwicks zurück, das Gesetz könne sich auf keinen statthaften Grund (rational basis) beziehen. White hält die moralischen Vorstellungen der Mehrheit für einen hinreichender Grund.

Bezogen auf den Sinn des Verfassungstextes kann man der Entscheidung zwei Aussagen entnehmen: Zum einen, dass sich in der Verfassung kein ausdrücklicher Verweis auf homosexuelle Sodomie findet und zum anderen, dass zur Zeit der Verfassungsgebung und auch noch zur Zeit der Entscheidung homosexuelle Sodomie in vielen Staaten verboten war. Beide Aussagen sind indes für die Argumentation von Justice White wenig hilfreich, weil White selbst ausdrücklich zugesteht, dass der Supreme Court viele Rechte entwickelt hat, die im Verfassungstext keine Grundlage finden137, und weil es auch hinreichend viele Fälle gab, in denen ein traditionell verbotenes Verhalten als von der Verfassung geschützt angesehen wurde138. Was in der Argumentation fehlt, ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie die U.S.-Verfassung zur gleichgeschlechtlichen Sexualität steht, insbesondere, ob die sexuelle Orientierung der Menschen qua Verfassung eigenem 135 478 U.S. 186 (1986), 190 ff. Chief Justice Burger (ebenda, 196) geht in seiner historischen Betrachtung gar auf das römische Recht zurück. 136 478 U.S. 186 (1986) 194 f. 137 478 U.S. 186 (1986) 191: „It is true that despite the language of the Due Process Clauses of the Fifth and Fourteenth Amendment, . . . , the cases are legion in which those Clauses have been interpreted to have substantive content, subsuming rights that to a great extent are immune from federal or state regulation or subscription.“ 138 Etwa der Besitz und die Lektüre von obszönem Material in der eigenen Wohnung, Stanley v. Georgia, 394 U.S. 557 (1969), ein Fall, auf den sich Hardwick ausdrücklich beruft.

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Gutdünken überlassen ist oder nicht. Dieser Mangel ist umso auffälliger, als Justice White die Relevanz der Tradition kaum reflektiert. Er verweist lediglich darauf, dass der Supreme Court in früheren Entscheidungen nur dann zu einer „Schaffung“ von Grundrechten bereit war, wenn diese entweder im Konzept einer wohlgeordneten Freiheit implizit enthalten sind, so dass weder Freiheit noch Gerechtigkeit existieren könnten, sollten sie geopfert werden139, oder wenn die betreffende Freiheitsausformung in Geschichte und Tradition der Nation tief verwurzelt ist140. In beiden Fällen geht es freilich keineswegs um die „Schaffung“ neuer, sondern lediglich um die Anerkennung bereits anerkannter Freiheitsgewährleistungen. Auch der Hinweis auf die bestehenden einfach-gesetzlichen Verbotsnormen ist in einem verfassungsgerichtlichen Kontrollverfahren deplaziert, denn diese Argumentation führt zu der seltsamen Situation, dass das zur Prüfung stehende einfache Gesetz nicht an der Verfassung, sondern an anderen einfachen Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft wird. Aber für Richter White sind diese einfachen Gesetze eben Ausdruck einer Tradition, die auch die Verfassung beherrscht. Dagegen wendete sich der Dissent von Stevens141, der ausführte, es sei kein ausreichender Grund für die Beschränkung einer Freiheit, dass die herrschende Mehrheit eines Staates ihre Wahrnehmung als unmoralisch ansehe. Gerade die individuelle Entscheidung zur Form und Art intimer Beziehungen sei aber eine solche verfassungsrechtlich garantierte Freiheit. Diese Ansicht teilte der Supreme Court in der 2003 ergangenen Entscheidung Lawrence v. Texas142 und erklärte Bowers für nicht mehr maßgebend. Dabei stützte sich das Gericht vor allem auch darauf, dass die westliche Zivilisation143 eben dieser Freiheit schon zu Zeiten der Bowers-Entscheidung, in jedem Falle aber zwischenzeitlich, ein so hohes Gewicht einräumt, dass sie mit der in Bowers gewählten Argumentation nicht eingeschränkt werden durfte und darf.144 139 Palko v. Connecticut, 302 U.S. 319 (1937) 325 f.: „implicit in the concept of ordered liberty“, such that „neither liberty nor justice would exist if [they] were sacrificed“, zitiert in 478 U.S. 186 (1986) 191 f. 140 Moore v. East Cleveland, 431 U.S. 494 (1977) 503: „deeply rooted in this Nation’s history and tradition“, zitiert in 478 U.S. 186 (1986) 192. 141 478 U.S. 186 (1986) 216. 142 Nr. 02 – 102 vom 26. 6. 2003. 143 Der Supreme Court stützt sich dabei bemerkenswerterweise auch auf eine Entscheidng des Europäischen Menschengerichtshofes in der Sache Dudgeon v. United Kingdom. 144 Die Lawrence-Entscheidung ist methodisch freilich schwer einzuordnen, weil sie einerseits dem objektiv-teleologischen Ansatz Stevens in Bowers folgt, andererseits aber sowohl die Tradition (freilich eine andere – jüngere) bemüht wie auch die Weisheit der Verfassungsväter hervorhebt. Bemerkenswert die Formulierung am Ende der Entscheidung: „Had those who drew and ratified the Due Process Clause of the Fifth Amendment or the Fourteenth Amendment known the components of liberty in its manifold possibilities, they might have been more specific. They did not presume to have this insight. They knew times can blind us to certain truths and later generations can see that laws once thought necessary and proper in fact serve only to oppress. As the Constitution endures, persons in every generation can invoke its principles in their own search for greater freedom.“

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Heute ist es vor allem Justice Antonin Scalia, der die Bedeutung der Tradition für das Verständnis der Verfassung betont. Sein Vorgehen ist allerdings reflektierter und in seiner Argumentation lässt sich auch der tiefere Grund für die Bedeutung von Präzedenzen und Materialien zur Verfassungsauslegung erkennen. In Michael H. et al. v. Gerald D.145 wird die Relevanz der Tradition und die Frage nach der „einschlägigen“ Tradition intensiv erörtert: Carole D., ein Mannequin, und Gerald D., ein Manager in einer französischen Ölgesellschaft, heirateten 1976. Im Mai 1981 wurde Carole Mutter einer Tochter mit dem Namen Victoria. Gerald wurde in der Geburtsurkunde als Vater eingetragen und bestritt auch die Vaterschaft nicht. Aufgrund von Blutuntersuchungen wurde später festgestellt, dass Michael H., ein Nachbar in Playa del Rey, Cal., mit dem Carole seit 1978 eine ehebrecherische Beziehung unterhielt, der leibliche Vater war. Während der ersten drei Lebensjahre wohnten Carole und ihre Tochter zeitweise (als Gerald geschäftlich in New York wohnte) mit Michael zusammen, der für ihren Unterhalt aufkam. Zeitweise lebte Carole auch mit einem dritten Mann zusammen, und zeitweise wieder bei ihrem Ehemann in New York. Seit Juni 1984 unterhielt sie dann einen gemeinsamen Haushalt mit Gerald in New York. Zwei Jahre vorher hatte Michael Klage auf Feststellung seiner Vaterschaft und auf Einräumung von Besuchsrechten erhoben. Der Vormund von Victoria machte für sie geltend, sie habe das Recht auf töchterliche Beziehungen mit Michael und Gerald. Der Superior Court von Kalifornien entschied 1985 auf der Grundlage von § 621 des kalifornischen Beweisgesetzbuches (Cal. Evid. Code). Danach gilt das Kind einer verheirateten Frau, die mit ihrem zeugungsfähigen Ehemann zusammenlebt, als eheliches Kind. Diese Vermutung darf nur auf Initiative der Eheleute, und nur unter bestimmten Umständen, widerlegt werden. Daher verweigerte das Gericht Michael sowohl die begehrte Feststellung der Vaterschaft als auch ein Besuchsrecht146. Für den daraufhin angerufenen SCt. ging es vornehmlich um die Frage, ob Cal. Evid. Code § 621 gegen das Recht von Michael H. auf Substantive Due Process verstößt (14. Amendment). Justice Scalia stellt darauf ab, ob Michael H. auf Grund seiner natürlichen Vaterschaft eine verfassungsrechtlich geschützte Position innehat und ob der Schutz der Ehe zwischen Gerald und Carole D. ein zureichendes staatliches Interesse für eine Einschränkung dieses Rechts darstellt147. Angesichts des Wortlautes der Due process Clause (14. Amendment) kam Scalia zu dem Schluss, dass ein Interesse des Michael H. nur dann unter die Clause subsumiert werden kann, wenn es sich dabei um eine fundamentale Freiheit handelt und wenn es sich als „interest traditionally protected by our society“ darstellt148. Dabei räumt er zwar ein, dass bestimmte Gemeinschaftsbeziehungen zwischen unverheirateten Eltern und ihren Kindern unter der Due Process Clause Schutz finden; er will dies aber dann nicht gelten lassen, wenn sich das daraus erwachsende Recht gegen die Gemeinschaftsbeziehung einer Familie richtet149. 491 U.S. 110 (1988). Fallbeschreibung nach Syllabus, 491 U.S. 110 (1988) und Zusammenfassung durch Justice Scalia, 113 ff., der seine Beschreibung durch den bemerkenswerten Satz einleitet: „The facts of this case are, we must hope, extraordinary.“ 147 491 U.S. 110 (1988) 121. 148 491 U.S. 110 (1988) 122; unter Verweis auf Justice Cardozo, in: J. Snyder v. Massachusetts, 291 U.S. 97 (1934) 105: Protections „so rooted in the traditions and conscience of our people as to be ranked as fundamental“. Vgl. auch oben zu Bowers v. Hardwick. 145 146

2. Abschn.: Verfassung zwischen Präzedenz und Idee

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Brennans Dissent hebt hervor, es käme für den Gehalt und die Erheblichkeit einer spezifischen Tradition wesentlich darauf an, inwieweit sie gefestigt genug erscheint und unter welchen Umständen sie obsolet wird150. Er hält sich dabei weitestgehend bedeckt hinsichtlich der Frage, welche Relevanz der Tradition generell zukommt151, macht aber deutlich, dass die bestimmende Tradition in wichtigen Entscheidungen des SCt. zumindest nicht eng gefasst wurde. Verwiesen wird dabei u.a. auf Eisenstadt v. Baird152, Griswold v. Connecticut153 und Ingraham v. Wright154. Die bisherigen Entscheidungen lassen seiner Ansicht nach deutlich erkennen, dass die Methodik des SCt. in der aktuellen Entscheidung eine Neuheit darstellt155, eine Neuheit, die die Rolle der Tradition überbetont: „We are not an assimilated, homogeneous society, but a facilitative, pluralistic one, in which we must be willing to abide someone else’s unfamiliar or even repellent practice because the same tolerant impulse protects our own idiosyncracies.“156. Die Methode der Entscheidung sei inakzeptabel, weil sie speziell danach fragt, ob ein Recht des ehebrecherischen Vaters traditionell anerkannt wird, anstatt genereller zu fragen, ob aus der natürlichen Elternschaft eine Stellung erwächst, die historisch die Aufmerksamkeit und den Schutz des Gerichts erhalten hat157. Dabei stützt sich Brennan auf die „who, with care and purpose, wrote the Fourteenth Amendment“158. In dieser Formulierung wird deutlich, dass Brennan nur vordergründig auf die Argumentation von Scalia eingeht. Die Betonung liegt darauf, dass das 14. Amendment „mit Sorgfalt und Bedacht“ verfasst wurde; Brennan strebt also eine objektiv–teleologische Auslegung an. Die Antwort Scalias auf die Methodenkritik Brennans, die er in einer Fußnote (6) der Entscheidung unterbringt159, ist schon deswegen so interessant, weil Justice O’Connor und Justice Kennedy ihre Zustimmung zu der Mehrheitsmeinung unter Ausschluss der Ausführungen in dieser Fußnote erklärten. Scalia betont, es gebe keine Grundlage dafür, seine Methodik als neuartig zu erklären und beruft sich auf Bowers v. Hardwick160 und Roe v. Wade161. Die Anknüpfung an die Frage, welche Bedeutung natürliche Elternschaft habe, 149 150 151 152

491 U.S. 110 (1988) 124. 491 U.S. 110 (1988) 138. Vgl. 491 U.S. 110 (1988) 138 f. 405 U.S. 438 (1972); betrifft den Gebrauch von Verhütungsmitteln durch unverheiratete

Paare. 153

381 U.S. 479 (1965); betrifft den Gebrauch von Verhütungsmitteln durch verheiratete

Paare. 430 U.S. 651 (1977); garantiert die Freiheit von körperlicher Züchtigung in Schulen. 491 U.S. 110 (1988) 140; dagegen Justice Scalia: 491 U.S. 110 (1988) 127, Fn. 6. Wenn Justice Brennan geltend macht, eine Neuheit liege auch darin, dass das Feld der Untersuchung zu stark einschränkt werde, dann ist dies allerdings angesichts von Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986), kaum als „Neuheit“ zu werten; siehe dazu oben. 156 491 U.S. 110 (1988) 141. 157 491 U.S. 110 (1988) 127. 158 491 U.S. 110 (1988) 141. 159 Dieses ungewöhnliche Vorgehen steht in Entsprechung zu Justice Scalias öffentlicher Kritik an den Konferenzen des SCt., in denen er das Fehlen von Auseinandersetzungen über die Richtigkeit der jeweils abgegebenen Voten anprangerte. 160 478 U.S. 186 (1985); siehe dazu oben. 161 410 U.S. 113 (1973); siehe dazu 2. Kap. 1. Abschn. B. 154 155

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung bezeichnet er als willkürlich. Nach seinem Dafürhalten müsse man danach fragen, ob sich eine Tradition ausmachen lässt, nach der die spezifische Konstellation traditionell als schützenswert befunden wird. Nur beim Fehlen einer solchen Tradition könne auf eine generellere Ebene gewechselt werden162.

Das Problem der Entscheidungsbegründung liegt, wie Brennan zu Recht hervorhebt, in der Rolle, die Scalia der Tradition zuweist. Die von ihm angesprochene Tradition ist weder alleine die Tradition, in der die Verfassungsväter des 14. Amendments standen, noch alleine die Tradition, die sich bis 1988, also bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in Präzedenzen gebildet hat. Er stellt damit keinen der üblichen Bezüge her, weder zum Verfassungstext noch zum Common Law. Die Ermittlung der von ihm als Interpretationsmaßstab angeführten Tradition ist kaum zu durchschauen. Er beginnt die Fallbeschreibung mit einer dezidierten Verurteilung der Umstände des Falles163. Er liest die früher ergangenen familienschützenden Entscheidungen des Supreme Court als Ausdruck eines historischen Respekts für die Verbindungen innerhalb der Familie164, und die Ansprüche Michael D.’s schließt er mit dem Argument aus: „This is not the stuff of which fundamental rights qualifying as liberty interests are made.“165 Ungeachtet dieser vorurteilsschwangeren Formulierungen wäre es allerdings zu einfach, schlicht davon auszugehen, der römisch-katholische Sohn italienischer Einwanderer166 verwirkliche hier sein Weltbild. Ungeachtet der Kritik an seiner Argumentation sind alle beteiligten Richter der Meinung, Tradition müsse hier ein Maßstab der Auslegung sein. Streit besteht lediglich darüber, welche Tradition entscheidend ist und ob Tradition alleine streitentscheidend sein kann. Scalia beginnt die Bestimmung der relevanten Tradition mit einem Verweis darauf, dass die Vaterschaftsvermutung des Ehemannes ein fundamentales Prinzip des Common Law ist167. Nach einem Überblick über die Möglichkeiten, die das Common Law für die Widerlegung dieser Vermutung einräumte, verlagert er die Darlegungslast auf den Beschwerdeführer168. Konkret hält er es für geboten, dass Michael H. ein Recht begründen kann, wonach der leibliche Vater eines Kindes, das im Rahmen einer bestehenden ehelichen Beziehung empfangen und geboren wurde, Elternrechte auch dann beanspruchen kann, wenn die Eltern das Kind als eigenes annehmen wollen. Der Grund 162 Justice O’Connor stimmte den Ausführungen Scalias in der Fn. nicht zu, ihr Einwand beschränkt sich aber wohl darauf, dass es für das Gericht in jedem Fall möglich sein muss, einen generelleren Level zu wählen, 491 U.S. 110 (1988) 132 und 127, Fn. 6; zu dem ähnlichen Einwand von Justice Brennan oben Fn. 149. 163 491 U.S. 110 (1988) 113. 164 491 U.S. 110 (1988) 123: „historic respect – indeed, sanctity would not be too strong a term – traditionally accorded to the relationships that develop within the unitary family.“ 165 491 U.S. 110 (1988) 127. 166 Antonin Scalia ist erst der zweite römische Katholik, der zum SCt. berufen wurde – nach William J. Brennan, der den Dissent anführt. 167 491 U.S. 111 (1988) 124. 168 491 U.S. 111 (1988) 125.

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für die enge Fassung dieser Darlegungslast liegt für Scalia darin, dass das Problem bekannt und oft entschieden wurde169. Der Grad der Spezifität der entscheidungsbestimmenden Tradition soll davon abhängen, wie dicht die Tradition in Bezug auf die Fallkonstellation ist. Gegenüber dem Einwand Brennans, das Abstellen auf Tradition sei eine zweifelhafte Grundlage und ähnlich unsicher wie das Abstellen etwa auf „Freiheit“170, meint Scalia lapidar, immerhin biete seine traditionelle Methode einen Maßstab. Damit zeigt sich Scalias eigentliches Anliegen; er sucht nach (möglichst) sicheren Maßstäben für Entscheidungen: „a rule of law that binds neither by text nor by any particular, identifiable tradition is no rule of law at all“171. In gleicher Richtung liegt auch seine Begründung für die oben angesprochene enge Fassung der Darlegungslast: Nur auf diese Weise sei es den Richtern möglich, auf ein eigenes Abwägen zu verzichten und statt dessen ein Abwägungsergebnis zum Maßstab zu nehmen, das von der Gesellschaft selbst erzielt wurde172. Vor diesem Hintergrund ist das Anliegen Scalias ein erkenntnistheoretisches: Er sucht nach Maßstäben für Entscheidungen, die der Freiheit des subjektiven Meinens der Richter Grenzen setzt. In seinem Tanner-Vortrag173 verteidigt er formalistische Ansätze dieser Art damit, dass die „rule of law“ im Formellen seine Basis habe. Ein Gesetz sei kein Gesetz, bevor es die Unterschrift des Präsidenten trägt, und ein Mörder wird nicht bestraft, bevor er verurteilt ist, auch wenn keinerlei Zweifel an seiner Schuld besteht174. Scalia genügt es für die Erklärung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nicht, das „ungewählte Gewissen“ der Richter zu aktivieren. Der Richter müsse sich vielmehr Rechenschaft darüber ablegen, ob er sich auf Erkenntnisquellen stützen kann, die dem Gesetz in Güte, Aussagekraft und Bestimmtheit entsprechen. Dieser methodische Ansatz zeigt sich auch in seiner concurring opinion zu County of Sacramento v. Lewis175. Die Mehrheit des Gerichts hatte eine Staatshaftung abgeNachweise in 451 U.S. 111 (1988) 128 ff. 491 U.S. 111 (1988) 137 ff. 171 491 U.S. 111 (1988) 128 Fn. 6. 172 491 U.S. 111 (1988) 129, Fn. 7: „That tradition reflects a ,balancing‘ that has already been made by society itself“. 173 A Matter of Interpretation (1997), 25. 174 „. . . caught with blood on his hands, bending over the body of his victim; a neighbor with a video camera has filmed the crime; and the murderer has confessed in writing and on videotape.“ 175 Urt. v. 26. 5. 1998, No. 96 – 1337; es ging um die Frage, welche Fahrlässigkeitsstandards unter der Due Process-Clause für Polizisten gelten, die einen Verdächtigen verfolgen, der sich mit einem Fahrzeug der Befragung zu entziehen versucht. Der ursprüngliche Streit entstand aus einer Staatshaftungsklage von Eltern eines 16 Jährigen, der entgegen den Weisungen von Polizeibeamten nicht anhielt und nach einer 75 minütigen Verfolgungsjagd bei etwa 100 mph. mit seinem Motorrad stürzte und von dem verfolgenden Polizeifahrzeug verletzt wurde. In den USA werden jedes Jahr in etwa 100.000 Hochgeschwindigkeitsverfolgungen einige hundert Menschen getötet (L. Greenhouse, Justices Allow Broad Leeway to Police Chases, Even Those Causing Deaths, New York Times vom 27. 5. 1998, A 18). 169 170

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

lehnt, die sich auf die Verletzung des Lebensrechts bei gleichzeitiger Missachtung der Standards des 14. Amendments stützte. Nach der Mehrheitsmeinung hätte eine solche Haftung nur bejaht werden können, wenn das Verhalten der staatlichen Organe „das Gewissen schockiert“ („shocks the conscience“-Test). Scalia stößt sich an dem, wie er es formuliert, „ne plus ultra, the Napoleon Brandy, the Mahatma Ghandi, the Celophane of subjectivity, th’ ol’ ,shocks-the-conscience‘ test“176. Nach Scalia ist das 14. Amendment nur dann verletzt, wenn feststeht, dass das konkrete Verhalten der staatlichen Organe (hier: der Polizei) traditionell von der Gemeinschaft nicht akzeptiert wird: „I would reverse the judgment of the Ninth Circuit, not on the ground that petitioners have failed to shock my still, soft voice within, but on the ground that respondents offer no textual or historical support for their alleged due process right“177. Auf den Fall von Michael H. angewendet, bedeutet dies, dass die Vorstellung der Richter von natürlicher Vaterschaft oder Ehe im Allgemeinen keinerlei Hinweis darauf gibt, ob es Kalifornien verboten werden darf, die besagte Vermutung für die Vaterschaft qua Gesetz zu postulieren. Eine Verfassungswidrigkeit dürfe nur angenommen werden, wenn die Richter nachweisen können, dass das vom Kläger behauptete Recht eine Grundlage in der Tradition hat. Können sie dies nicht, dann können sie sich auch nicht gegen den Gesetzgeber wenden. Vergleicht man die Ansätze von White und Scalia in Bowers v. Hardwick einerseits und Michael H. v. Gerald D. andererseits, so lässt sich die wesentliche Übereinstimmung darin erkennen, dass beide der teleologischen Auslegung kritisch gegenüberstehen. Beide messen den getroffenen Entscheidungen der Vergangenheit eine größere Bedeutung zu als den Ideen, die in einem gegenwärtigen Bezug auf die Verfassung und ihren Sinn vertreten werden können. Für beide Richter kommt es darauf an, die Verfassung auf dem Hintergrund vorangegangener konkreter Entscheidungen zu verstehen. Bei Scalia wird der Hintergrund und die Rechtfertigung eines solchen Ansatzes allerdings bei weitem besser erkennbar. In der Tradition sieht er ein Instrument, mit dem man die Subjektivität des Meinens in den Griff bekommen kann. Anders als bei Taney in Dred Scott ist es nicht die Autorität der Urheber der Tradition, sondern die fehlende Autorität der Richter, die zur Tradition als Interpretationsmaßstab führt. Während White dieses Autoritätsmanko in Bezug setzt zu der Legitimität der direkt gewählten demokratischen Organe, sieht es Scalia allgemeiner in der Subjektivität des Meinens der Richter begründet.

E. Die Problematik der Sinnsuche Als Ergebnis der bisherigen Untersuchung kann festgehalten werden, dass sich die verschiedenen Wege der teleologischen Arbeit der Verfassungsrichter in dem 176 Für die Beispiele von Herausragendem beruft sich Justice Scalia dabei auf Cole Porters „You’re the Top“. 177 Urt. v. 26. 5. 1998, No. 96 – 1337.

2. Abschn.: Verfassung zwischen Präzedenz und Idee

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Bemühen treffen, im Verfassungstext (A), im Willen des Gesetzgebers, im Willen des Gesetzes (B) oder im vormals Geschehenen und Feststehenden, insbesondere in Präjudizien und in der Tradition (C,D) verlässliche Anhaltspunkte aufzuspüren, um auf diese Weise den Einfluss der Subjektivität des Meinens bei der Tätigkeit des Verfassungsgerichts einzudämmen. Als sehr erfolgreich können diese Bemühungen allerdings nicht bezeichnet werden178. Politisch erfuhren die angeführten Entscheidungen fast durchweg harsche Kritik und auch von der Methode her können sie kaum überzeugen. Dred Scott wurde als unmoralisch und als Mit-Ursache des Bürgerkrieges gewertet179, Marsh v. Chambers wird immer wieder als entlarvende Inkonsequenz (oder als beklagenswerte Ausnahme) der grundsätzlich neutralistischen Rechtsprechung des Supreme Court in Religionsangelegenheiten gebrandmarkt180, und Bowers wird als Emanation eines homophoben Gerichts eingestuft. Methodisch lässt sich einwenden, dass die Kriterien für die Auswahl der entscheidenden Präzedenzen, Vorstellungen und Traditionen genauso anfechtbar ist wie die Konkretisierung einer Idee. Falsch ist es auch zu glauben, die Anknüpfung an Ideen sei per se traditionsfeindlicher und „fortschrittlicher“. Das zeigt sich z.B. in der Entscheidung Plessy v. Ferguson181, in der der Supreme Court das Prinzip der Gleichheit der Menschen zur Rechtfertigung einer Apartheid-Ordnung heranzieht. Ein Gesetz von Lousiana (Acts of 1890, Nr. 111) verpflichtete Eisenbahngesellschaften, für weiße und „farbige“ Passagiere gleichwertige, aber getrennte Bereiche einzurichten. Überdies wurden Bußgelder und Freiheitsstrafen angedroht für den Fall, dass sich ein Fahrgast weigert, in dem Bereich zu bleiben, der seiner Rasse zugeteilt ist. Plessy, dessen Herkunft zu 7/8 kaukasisch und 1/8 afrikanisch war, wollte erster Klasse im Wagen für weiße Passagiere reisen. Der Schaffner verwies ihn in den Wagen für Farbige, Plessy weigerte sich und wurde angeklagt. Der SCt. sollte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes prüfen. Er ging zunächst auf das 13. Amendment ein und sah keinen Grund, eine rechtliche Differenzierung nach Rassen in irgendeinen Zusammenhang mit Sklaverei zu bringen182. Die Auseinandersetzung mit dem 14. Amendment beginnt mit der Aussage, dass es das Ziel der Bestimmung war, die völlige Gleichheit der Rassen vor dem Gesetz durchzusetzen. Diese Feststellung wird von Justice Henry Brown jedoch einer bedeutsamen Sinndeutung unterworfen. Es liege in der „Natur der Sache“, dass es nicht der Sinn des Amendments sein könne, Unterscheidungen nach Hautfarbe zu verbieten oder soziale Gleichheit zu verwirklichen; auch könne dem Amendment nicht das Gebot entnommen werden, dass die Rassen in einer Art und Weise zusammenleben müssen, die für eine der beiden unbefriedigend ist183. Im folgenden wird sodann darauf verwiesen, dass die Kinder

178 Man kann eben nicht „herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Zieles, um das Risiko, sich selbst ein Ziel zu geben“, man kann die Verantwortung nicht abwälzen, F. Nietzsche, Der Wille zur Macht (1883 bis 1888), 1. Buch, I, Aph. 20. 179 Der New York Independant schrieb: „If the people obey this decision, they disobey God“. 180 S. Carter, The Culture of Disbelief (1994), 113 f. 181 163 U.S. 537 (1895). 182 163 U.S. 537 (1895) 542 f. 183 163 U.S. 537 (1895) 544.

6 Schmitt Glaeser

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung der verschiedenen Rassen getrennt erzogen werden und dass Ehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Rassen verboten sind. Die Trennung der Rassen könne also keine Verletzung des 14. Amendments begründen. Separation sei nur dann ein Mal der Unterlegenheit (badge of inferiority), wenn die „Farbigen“ dies so sehen184.

Das Gericht beruft sich in seiner Begründung nicht darauf, dass im ersten Kongress keine rassischen Minderheiten vertreten waren und dass es den Verfassern des 14. Amendments wohl nicht in den Sinn gekommen wäre, irgendwann einmal zwischen Schwarzen im Zug zu fahren (noch dazu in der 1. Klasse); es beruft sich auch nicht darauf, dass bisher Schwarze immer in anderen Abteilen als Weiße untergebracht wurden. Das entscheidende Argument ist vielmehr die Rassengleichheit; sie bedeute aber nicht, dass die Angehörigen der verschiedenen Rassen im Sinne einer sozialen Gleichheit miteinander leben müssen. Dies könne allein das Ergebnis einer natürlichen Zuneigung, einer gegenseitigen Achtung sein185. Justice Harlan (der einst selbst Sklavenhalter gewesen war) wendet gegen diese Argumentation ein, die Verfassung der Vereinigten Staaten kenne nur Menschen und Bürger, weder Rassen noch Klassen186. Diese Aussage hat für sich betrachtet mehr ethischen Appeal als Präzision. Harlan meint aber etwas sehr präzises, wie seine weiteren Ausführungen zeigen: Seiner Ansicht nach verbietet die Verfassung, Rassen und Klassen zur Grundlage von gesetzlichen Differenzierungen zu machen. Den Grund dieses Verbotes sieht er vor allem in der Geschichte der Verfassung. So vergleicht er die Entscheidung mit Dred Scott und beurteilt sie als gefährlich. Plessy v. Ferguson sei vor allem deswegen gefährlich, weil sie den Rassenhass schüre, indem sie ein Gesetz aufrechterhalte, dessen Grundaussage darin bestehe, dass farbige Bürger so minderwertig und niedrig sind, dass man sie nicht in Abteilen sitzen lassen könne, die für weiße Bürgern vorgesehen sind. Die geschichtliche Ausgangssituation der Verfassungsänderung wird damit gegen die Sinnkonkretisierung der Mehrheitsauffassung gestellt. Gerade bei Plessy wird deutlich, dass die Problematik des Abhebens auf Ideen hinter der Verfassung zum einen in der Unsicherheit bei der Festlegung der maßgeblichen Ideen und zum anderen in der Weite der Konkretisierungsoptionen liegt. Zielt man auf den der Normierung zugrunde liegenden Sinn (subjektiv-teleolgische Interpretation), dann gewinnen die Strukturen der geschichtlichen Ausgangssituation an Bedeutung; zielt man auf den die Normierung ermöglichenden Sinn (objektiv-teleologische Interpretation), dann wird der zu regelnde Sachverhalt bestimmend. In Plessy wählt das Mehrheitsvotum die zweite Alternative und man kann erkennen, welche enormen Spielräume dieser Ansatz eröffnet. Harlan wählt dagegen einen subjektiv-teleologischen Ansatz. Ähnlich wie Günter Dürig in seiner Kommentierung des Art. 1 GG, die immer wieder auf ein historisches Gegenbild, den Nationalsozialismus, verweist, zeichnet Harlan ein Bild der Situation der Schwarzen, wie sie vor den Bürgerkriegs-Amendments bestand. Er zieht die ratio von Dred Scott heran und folgert, dass die 184 185 186

163 U.S. 537 (1895) 551. 163 U.S. 537 (1895) 551. 163 U.S. 537 (1895) 559, auch zum folgenden 559 f.

2. Abschn.: Verfassung zwischen Präzedenz und Idee

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Amendments nur den Sinn haben können, die vielen „Merkmale der Minderwertigkeit“ abzuschaffen. Während Justice Brown den Sinn der Verfassung in einer Analyse der Gegenwartsproblematik sucht, ermittelt Harlan die Verfassung in einer Abrechnung mit der Vergangenheit. Entscheidungen wie Plessy v. Fergusson, die heute als eindeutig falsch bezeichnet werden können, sind selten, aber doch symptomatisch, weil sie die Willkürlichkeit der verschiedenen Methoden besonders deutlich ins Licht rücken und erkennen lassen, wie wenig überzeugend die unterschiedlichen Interpretationsansätze sind. Alle können ebenso gut begründet und ebenso gut widerlegt werden. Die Suche nach einem entscheidenden Präzedens (wie etwa in Marsh v. Chambers) scheint vor allem dann sinnvoll zu sein, wenn es um die Überprüfung von Gesetzen geht. Dafür spricht das Problem der Subjektivität des Meinens ebenso wie die beschränkte Fähigkeit des Richters, komplexe Fragen der Verfassung aus generellen Erwägungen heraus richtig zu beantworten. Die traditionelle Methode, also die Suche nach Antworten auf gegenwärtig aufgeworfene Fragen in der Vergangenheit, hat den Vorteil, dass damit nicht nur eine Entscheidung gewonnen wird, sondern sich in etwa auch ermessen lässt, welche Konsequenzen die Antwort nach sich ziehen könnten. Aber auch die teleologischen Ansätze haben einiges für sich, weil es nie zwei völlig gleiche Fälle gibt; was gestern richtig war, kann heute falsch sein. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Suche nach bereits vorliegenden Antworten – die Methode des frühen Common Law – weitestgehend zugunsten von equityÜberlegungen und durch die Abschwächung des Grundsatzes des stare decisis aufgegeben wurde. Allerdings: Auch, wenn man diesen verschiedenen Begründungen jeweils einiges abgewinnen kann, so lässt sich doch sehr gut erkennen, dass sie in einem gewissen Sinn vor allem Argumente gegen den jeweils anderen Ansatz sind. Sicherheit gegen Flexibilität, Konstanz gegen Sachgerechtigkeit, Vorhersehbarkeit gegen Einzelfallgerechtigkeit.

F. Zwischenergebnis Die Rolle des Verfassungstextes im Spannungsfeld zwischen Präzedens, Tradition, Idee und Gegenwartsproblem ist vielgestaltig und komplex. Zum einen ist der Text selbst ein geschichtliches Ereignis. Man kann ihn als Gegebenes verstehen, wie die Olmstead-Entscheidung zeigt; man kann ihn aber auch als Indiz der historischen Idee begreifen, ein Beispiel ist Marsh v. Chambers; man kann ihn schließlich – in seiner Offenheit – als Instrument für die Entwicklung von zeit-angepassten Verfassungsideen charakterisieren, ein Ansatz, der in der Bundstagsauflösungs-Entscheidung des BVerfG gewählt wird. Ungeachtet der Allgegenwart von textualen Argumenten und Bekenntnissen zur Relevanz des Textes, als eindeutig kann man weder die Einstellung des BVerfG noch die des Supreme Court zu „ihren“ Texten bezeichnen. In manchen Entscheidungen scheint es so, als ob der Text die Frage aus sich selbst heraus löst, in anderen ist er kaum mehr als eine 6*

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Inspiration. Die Reflexionen des BVerfG in Bezug auf den Wortlaut sind schwach ausgebildet; in den allermeisten Fällen wird seine Bedeutung jedenfalls nicht gesondert herausgestellt. Diesbezüglich finden sich in der US-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung mehr Verweise. Auf den ersten Blick verwundert dies, weil man vermuten möchte, dass dem Wortlaut der Verfassung in der Rechtsprechung des BVerfG ein höherer Stellenwert zukommt als in der Rechtsprechung des Supreme Court. Immerhin ist das GG nicht nur sehr viel ausführlicher als die amerikanische Verfassung, es ist auch jünger und insofern aktueller. In der Rechtssprechung des BVerfG finden sich – in abstrakter Form – sehr viel häufiger Ausführungen dazu, dass der Text nicht (alleine) maßgeblich187, als darauf, dass er entscheidend ist. Die absolute Zahl der Verweise ist freilich wenig aussagekräftig; schließlich judiziert der Supreme Court viermal solang wie das BVerfG. Überdies enthalten die U.S.-amerikanischen Bekenntnisse zum Wortlaut ganz unterschiedliche Maßstäbe. Unbestritten bleiben Einschätzungen wie die folgende: „In expounding the Constitution of the United States, every word must have its due force and appropriate meaning; for it is evident from the whole instrument that no word was unnecessarily used, or needlessly added.“188 Gemeinsam ist allen Forderungen, dass es nicht so sehr auf den konkreten Stellenwert des Textes als auf seine generelle Beachtsamkeit ankommt. Dabei wird fast durchgängig die alltagssprachliche Bedeutung für entscheidend gehalten: „The people who adopted [the Constitution] must be understood to have employed words in their natural sense, and to have intended what they have said.“189 Gleichzeitig finden sich auch viele Äußerungen, die dem Wortlaut bei der Ermittlung des Sinns der Verfassungsvorschriften Grenzen ziehen: „The interpretation of constitutional principles must not be too 187 Etwa in BVerfGE 30, 1 / 19 (Abhörurteil): „Eine Verfassungsvorschrift darf nicht alleine aus ihrem Wortlaut heraus isoliert ausgelegt werden.“ Zur Problematik ausführlicher BVerfGE 85, 69 ff., 77 ff. (abweichende Meinung); O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988); F. Müller, Juristische Methodik (19977), Rn. 312 ff. jew. mzN. 188 Holmes v. Jennison, 39 U.S. (14 Pet.), 540 (1840) 570 f.; ähnlich auch Blake v. McClung, 172 U.S. 239 (1898) 260 f. und Knowlton v. Moore, 178 U.S. 41 (1900) 56 f.; vgl. auch Williams v. U.S., 289 U.S. 553 (1933): „The use of [a word] in some cases, and its omission in others cannot be regarded as accidental, under the rule . . . that in expounding the Constitution . . . every word must have its due force, and appropriate meaning.“; Myers v. U.S., 272 U.S. 52 (1926) 152: „. . . real effect should be given to all the words it uses.“; U.S. v. Butler, 297 U.S. 1 (1936) 65: „Words [employed in the Federal Constitution] cannot be meaningless“. 189 Gibbons v. Ogden, 22 U.S. (9 Wheat.) 1 (1824) 188; Siehe auch Martin v. Hunter’s Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304 (1816) 326: „The words are to be taken in their natural and obvious sense, and not in a sense unreasonably restricted or enlarged.“; Tennessee v. Witworth, 117 U.S. 139 (1886) 147: „Words in a constitution as well as the words in a statute, are always to be given the meaning they have in common use, unless there are very strong reasons to the contrary.“; ebenso: The Pocket Veto Case, 279 U.S. 655 (1929) 679; Wright v. U.S. (302 U.S. 583 (1939) 588) stellt auf die „natural meaning“ ab. Und in U.S. v. Sprague (282 U.S. 716 (1931) 731) wird ausgeführt: „The Federal Constitution was written to be understood by the voters; its words and phrases were used in their normal and ordinary as distinguished from technical meaning.“

2. Abschn.: Verfassung zwischen Präzedenz und Idee

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literal.“190 Im Ergebnis sind Bekenntnisse zum Wortlaut von Verfassungsbestimmungen bei beiden Gerichten im Wesentlichen nichts anderes als Aufrufe dazu, den Text zu verstehen. Nicht mehr will es heißen, wenn das BVerfG formuliert: „Ziel jeder Auslegung“ sei „die Feststellung des Inhalts einer Norm“191. Darin enthalten ist aber auch, dass Verfassungsnormen einen maßgeblichen Sinn haben sollen192. Ungeachtet der oft postulierten Begrenzungsfunktion für Interpretation tritt der Wortlaut in der Rechtsprechung des BVerfG häufig hinter das Telos193 zurück; und das auch dann, wenn ein ihm widersprechendes Ergebnis „einer Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht“194. Bezieht man die Ergebnisse der Analyse der Praxis der Verfassungsinterpretation auf die Ausführungen zur Theorie der Verfassungsinterpretation, so lässt sich feststellen, dass die Verfassung in der Praxis weder als Ordnung noch als Prozess verstanden wird. Sie erscheint eher als Phänomen, das sich in Texten, historischen Bezügen, Präjudizien, Traditionen und Ideen problembezogen verdichtet und so Entscheidungen der Gerichte generiert. Vor allem der Text erscheint oft nur als ein Indiz, das die Annäherung an die Verfassung erleichtert, mit ihr aber nicht identisch ist. Ob man nun den Wortlaut als Ausgangspunkt oder Grenze der Interpretation begreift, in keinem Fall ist er für sich allein schon die Verfassung. Bestätigt wird damit zunächst die Bedeutsamkeit einer Unterscheidung von formeller und materieller Verfassung für ein Verstehen der Verfassung195. Nach alledem lässt sich nicht erkennen, wie ein Einstieg in das Verstehen der Verfassung zu finden ist. Ein bloßes „Zusammenbinden“ der verschiedenen interpretatorischen Anknüpfungspunkte wird dafür kaum ausreichen; dies umso weniger, als in der Praxis die Auswahl der Methoden und die Gewichtung der verschiedenen Auslegungsoperationen auch auf Kriterien beruhen, die sich einer eindeutigen methodischen Erfassung zu entziehen scheinen. Virulent werden diese vielfältigen Unsicherheiten bei der Verfassungsinterpretation in Verbindung mit der unvermeidlichen Dominanz der Subjektivität des richterlichen Meinens, generell im Blick auf die zentrale Position, die das Verfassungsgericht bei der Auslegung der Verfassung einnimmt und speziell insbesondere im Blick auf die Kompetenz des Gerichts, vom demokratisch gewählten Parlament erlassene Gesetze für verfassungswidrig und nichtig zu erklä190 Bain Peanut Co. v. Pinson, 282 U.S. 499 (1931) 501. Vgl. auch: Re Strauss, 197 U.S. 324 (1905) 350: „[O]rdinarily words in such an instrument [Constitution] do not receive a narrow, contracted meaning, but are presumed to have been used in a broad sense, with a view of covering all contingencies.“; U.S. v. Classic, 313 U.S. 299 (1941) 319: „Words, especially those of a Constitution are not to be read with . . . stultifying narrowness.“; Rhode Island v. Massachusetts, 37 U.S. (12 Pet.) 657 (1830) 722: „That some degree of implication must be given to words, is a proposition of universal adoption: implication is but another term for meaning and intention, apparent in the writing, on judicial inspection.“ 191 BVerfGE 35, 263 / 278. 192 Vgl. O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), 14. 193 Z. B. BVerfGE 1, 415 / 416 f.; E 8, 210 / 220 f.; E 9, 89 / 104; E 14, 260 / 262. 194 E 8, 210 / 221. 195 Vgl. dazu oben 1. Kap. A, unter Verweis auf C. Schmitt, Verfassungslehre (19573), 21.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

ren. Immerhin manifestiert sich im Parlament als Repräsentationskörperschaft des Volkes nicht nur der Kern des demokratischen Prinzips, sondern ebenso eine institutionelle Garantie für den freiheitlichen Verfassungsstaat und die ihn strukturierende und prägende individuelle Freiheit196. Diese Spannung zwischen Volkssouveränität als einer wichtigen Bedingung der Einzelfreiheit und der „Souveränität“ des Verfassungsgerichts als letztentscheidende Instanz in Sachen Verfassung gibt den Hintergrund ab für eine in den USA nach wie vor heftig geführte Diskussion zur sog. çountermajoritarian difficulty“. Die Diskussion konkretisiert die Spannung in theoretischer Abstraktion.

3. Abschnitt

Theorie der Praxis A. Problemstellung Die herausragende Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt in ihrer kassatorischen Funktion. Der höchstinstanzliche und damit potentiell frei gestaltende Richter ist befugt, die legitimste Emanation des demokratischen Staates, nämlich das Gesetz, zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben. In der Gegenüberstellung von Verfassung und Parlamentsgesetz findet auch die juristische Rationalität ihre größte Herausforderung, weil sie nicht nur mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten zu kämpfen hat, sondern darüber hinaus auch noch einem Bewertungsobjekt gegenübersteht, das sich nicht aus seiner Rationalität, sondern durch die politische Dezision eines politischen Gremiums, des Parlaments, legitimiert197. Es fehlt daher auch nicht an Überlegungen, die Verfassungsrechtsprechung im Allgemeinen und die kassatorische Funktion im Besonderen als nicht judikativ zu charakterisieren198. So hält es Josef Esser für irreführend, die Tätigkeit der Verfassungsgerichte der dritten Gewalt zuzuordnen, weil es die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit sei, bei der Setzung von Prioritäten zwischen verfassungsmäßigen Werten Normzwecke von inkomparabler Größe gegeneinander abzuwägen; dies liege aber außerhalb der „normalen“ Justiztätigkeit: „Hier ist es nicht mit ,Interpretation‘ von gegebenen Ordnungsmodellen getan, hier muß der geltende politische Wert einer jeden Institution bestimmt werden“199. Die Äußerungen drängen zu der ÜberleVgl. dazu H. Kelsen, Von Wesen und Wert der Demokratie (19292), 26 ff. 197 Dazu schon oben Einl. A. 198 Sehr griffig, aber weniger präzise bezeichnet C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931), 42 ff., die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle als authentische Verfassungsinterpretation und damit als Verfassungsgesetzgebung. 199 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 201, unter Berufung auf die Konzeption von P. Häberle, in: AöR 1970, 86, 260, der die Aufgabe einer Entscheidung von politischen Zweckprioritäten jenseits aller „Programmbildung“ sieht. 196

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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gung, was Gegenstand des Verstehens und der Bewertung der verfassungsgerichtlichen Praxis sein soll: ihre Funktionsweise selbst oder ihr Verhältnis zum Recht, das ihre Funktion normiert200. Besonders brisant wird diese Frage, wenn man mit Rudolf Smend201 und Chief Justice Charles Evan Hughes202 annimmt, das GG bzw. die U.S.-Verfassung gelte praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht bzw. der Supreme Court die Verfassungen interpretieren. Bezogen auf das einfache Recht findet sich die klassische Formulierung bei Bishop Hoadly: „Nay whoever hath an absolute authority to interpret any written or spoken laws it is he who is the lawgiver to all intents and purposes and not the person who first wrote or spake them“203. Gerade in dieser Formulierung wird deutlich, dass das Problem kein Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit allein, sondern ein Problem der letztinstanzlichen Gerichtsbarkeit überhaupt ist. Werden Personen mit der Aufgabe betraut, das Recht abschließend gültig zu interpretieren, dann gewinnt das Recht die Gestalt, die diese Personen in ihm erkennen. Ist der Instanzenweg durchlaufen, dann ist die Interpretation nicht mehr korrigierbar, sie wird faktisch authentisch. Die Authentik kann aber nicht bedeuten, dass die Verfassungsinterpretation und damit auch die Verfassung der Willkür letztinstanzlicher Richter anheimgegeben wäre204. H.L.A. Hart205 hat das mit Hilfe der analytischen Unterscheidung von primary order rules und secondary order rules überzeugend herausgearbeitet206. Primary order rules sind die materiellen Rechtssätze, secondary order rules die Regeln, die festlegen, welche Regeln gelten, wer sie ändern und wer über ihren Inhalt verbindliche Aussagen machen darf207. Er illustriert diese Unterscheidung, indem er das (Rechts- und) Verfassungssystem mit einem Spiel vergleicht, in dem Tore erzielt werden können208. Ein solches Spiel kann ohne Schiedsrichter alleine nach primary order rules gespielt werden. Wird ein Schiedsrichter ins Spiel gebracht, so wird dies regelmäßig unter Maßgabe einer secondary order rule geschehen, wonach die Entscheidung des Schiedsrichters verbindlich und endgültig ist. So ver200 Siehe z.B. den Titel der Schrift von G. F. Schuppert: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation. 201 In: Staatrechtliche Abhandlungen (19943), 581 / 582. 202 „We are under a constitution, but the constitution is what the judges say it is.“ 203 Zit. nach H. L. A. Hart, The Concept of Law (1961), 141. 204 Vgl. auch P. Häberle, in: Verfassungsgerichtsbarkeit (1976), 1 / 16: „. . . zu einer Art Führungsstellung des Verfassungsgerichts in der „Sache Verfassungsinterpretation, – aber nicht zu einem Monopol!“ 205 The Concept of Law (1961), 155. 206 Die Unterscheidung findet sich schon bei E. Ehrlich, Grundlegung (19894), 111 ff. Das Konzept wurde von K. Olivecrona, Gesetz und Staat (1940) weiterentwickelt. Im folgenden soll trotzdem im Wesentlichen auf die Konzeption Harts eingegangen werden, weil sie besonders illustrativ ist. 207 Viel zu eng versteht dies S. Fish, in: Doing What Comes Naturally (1989), 1 / 10, wenn er nur darauf abstellt, dass Hart hier die Gunman-Situation (als paradigmatischer Fall der „Verpflichtung“ durch Zwangsandrohung) von der des Richters abgrenzen will. 208 The Concept of Law (1961), 142 ff.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

standen ist der Satz richtig: „Ein Tor wurde erzielt, wenn der Schiedsrichter ein Tor gibt“. Der Satz darf aber nicht so verstanden werden, dass es nun keine Regeln außer dieser secondary order rule mehr gibt. Es wäre dann ein anderes Spiel, ein Spiel, das man „Des Schiedsrichters Willkür“ nennen könnte. Der Satz „Ein Tor wurde erzielt, wenn der Schiedsrichter ein Tor gibt“, wäre dann nicht mehr eine secondary, sondern die einzige primary order rule. Die Möglichkeit, beide Spiele zu unterscheiden, liegt darin, dass angenommen wird, der Schiedsrichter könne auch eine falsche Entscheidung treffen. Auf dem Spielfeld wird dies dadurch deutlich, dass Spieler und Zuschauer gegen Entscheidungen protestieren, etwa, wenn der Schiedsrichter eines Fußballspiels ein Tor gibt, obwohl der Ball offensichtlich weit neben das Tor geschlagen wurde oder nicht einmal in die Nähe des Tores gekommen war. Würde man tatsächlich das Spiel „Des Schiedsrichters Willkür“ spielen, dann könnten wohl nur Ignoranten an Protest denken. Die Aussagen von Smend, Hughes oder Bishop Hoadly sind also rechtlich gesehen Sottisen und faktisch gesehen eher Bonmots. Denn so richtig es ist, dass die Entscheidungen des BVerfG oder des Supreme Court die Verfassung permanent weiterbilden und der Verfassungstext eine nur sehr unvollkommene Vorstellung davon vermittelt, was unter der Verfassung rechtlich gelten soll, und dass man zur Ermittlung dieses Verfassungsrechts die Entscheidungen der Verfassungsgerichte kennen muss209, so wenig wird dadurch die Verbindlichkeit des Verfassungstextes normativ oder faktisch eingeschränkt oder gar beseitigt. Alle diese Aussagen kann man, wie der Satz von Hoadly zeigt, für jegliches Recht210 verwenden. Dies ändert aber nichts daran, dass Deutschland kein BVerfG-Staat und die USA kein Supreme Court-Staat, sondern beide Verfassungsstaaten sind, so wie die Regel „Ein Tor wurde erzielt, wenn der Schiedsrichter ein Tor gibt“, aus einem Fußballspiel kein Spiel „Des Schiedsrichters Willkür“ macht. Man kann dies nicht deutlich genug betonen, weil rechtliche Sottisen gerade Entwicklungen einleiten können, die man wegen ihrer Unsinnigkeit verhindern sollte211. Dabei liegt die Problematik dieser Bonmots gar nicht so sehr in ihrem Inhalt selbst, als darin, dass sie gleichsam als Endpunkte der Überlegungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, als Quintessenz aller Weisheit präsentiert werden. Will man aber wirklich zu einem nachvollziehbaren Ergebnis gelangen, so steht die Frage nach der Bedeutung des Verfassungsgerichts für das Verstehen und das Wie der Verfassungsgeltung am Anfang aller Überlegungen, und es ist – entgegen Karl AuSo kann man wohl den Satz von R. Smend, in: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943) 581 / 582, verstehen, der, anders als Hughes, die Auslegung der Verfassung durch das Verfassungsgericht nicht mit der Verfassung ineins setzt. M. Jestaed, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), 265 Fn. 13, betont auch, dass Smends Aussage zur „Kompetenz-Kompetenz“ anders, d.h. als Kritik, gelesen werden kann: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das BVerfG es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“ Jestaed will die Betonung auch auf den letzten Halbsatz legen. 210 Wenn nicht gar überhaupt für alles: So vermutete der „erste“ Post-Moderne, Oscar Wilde, der Nebel in London sei wohl von den Impressionisten erfunden worden. 211 H. L. A. Hart, The Concept of Law (1961), 146. 209

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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gust Bettermann212 – eine der vornehmsten Aufgaben der Methodiker, Theoretiker und Philosophen des Rechts, das Verhältnis zwischen Rechtsanwender und Rechtssetzer und auch der Rechtsanwender untereinander zu klären. Die Bemerkung, das Recht gelte so, wie der Interpret es auslegt, ist keineswegs der Weisheit letzter Schluss, sondern es ist das eigentliche Problem; und zwar nicht nur deswegen, weil auch der Interpret seine Vorverständnisse und Unzulänglichkeiten hat, sondern vor allem – es sei wiederholt –, weil sich der Verfassungsinterpret gegen den (demokratischen) Gesetzgeber stellen kann und weil die Frage beantwortet werden muss, auf welche Weise und mit welcher Legitimation der Verfassungsrichter die Verfassung so verstehen kann, dass sein Verstehen von Verfassung und Recht dem Verstehen des parlamentarischen Gesetzgebers vorgeht. Als John Marshall sich in Marbury v. Madison die Frage stellte, „. . . whether an act repugnant to the Constitution, can become the law of the land“213, war „Verfassung“ zu etwas Neuem geworden und zugleich musste Klarheit darüber geschaffen werden, ob gerade der Supreme Court sich diese Frage erlauben, und warum gerade er sie beantworten darf. Es geht um die Klärung des Verhältnisses der verschiedenen Autoritäten (unter der Verfassung), ein Problem, das in den USA nach wie vor heftig diskutiert wird. Alexander Bickel hat sie unter den (m.E. irreführenden) Begriff der çountermajoritarian difficulty“ gebracht. Die Diskussion ist vor allem deshalb so aufschlussreich, weil sie immer wieder auf das Verhältnis von Verfassungs-Theorie und Verfassungs-Praxis rekurriert214 und dabei vor allem versucht, die Verantwortung des Supreme Court im Staatsgefüge der USA zu definieren. Außerdem zeigen sich hier interessante Unterschiede zur Rechtslage in Deutschland. In Deutschland hat das Problem der çountermajoritarian difficulty“ in dieser Ausrichtung kein besonders großes Interesse gefunden, obgleich es nicht an Versuchen gefehlt hat, es in die Verfassungsdiskussion einzuführen215. Die Frage, waDie verfassungskonforme Auslegung (1986), 15. 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803) 176. Gerade Marbury v. Madison zeigt, und dessen war sich auch Marshall bewusst, dass man oft nicht in der Lage ist, eine oder die richtige Interpretation vorzunehmen; dann aber muss man auch das Verhältnis der verschiedenen Autoritäten unter der Verfassung ins Auge fassen. R.G. McCloskey, The American Supreme Court (20003), schreibt auf Seite 40, der Gerichtshof habe sich befunden „in the delightful position . . . of rejecting and assuming power in a single breath“. Das Umfeld von Marbury v. Madison (5 U.S. [1 Cranch] 137 [1803]) hatte die Besonderheit, dass der SCt. zu dieser Zeit so gut wie keine Autorität besaß. Er war in den Wirren der Jeffersonian Revolution gefangen, der Beklagte blieb dem Verfahren fern und Marbury wäre ohnehin niemals zum Richter ernannt worden. Marshall war in der Situation, dem Recht Geltung verschaffen zu müssen / wollen, ohne dass er eine wirksame Entscheidung frei treffen konnte. 214 Für die deutsche Lage vgl. etwa P. Häberle, in: Verfassungsgerichtsbarkeit (1976), 1 / 9 ff. mzN. 215 Aufschlussreich die Beiträge in: P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit (1976). Vgl. zu jüngsten Ansätzen insbes. W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit (1987); ders., ARSP, Beiheft 37 (1990), 173; ders., Staatswissenschaften und Staatspraxis 1993, 319; 212 213

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

rum und wann sich ein Gericht gegen eine Entscheidung des Parlaments stellen darf, wird offenbar nicht als zentral empfunden, genauer: man hatte von Anfang an nichts gegen die kassatorische Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit einzuwenden216. Vorbehalte, um nicht zu sagen: latentes Misstrauen gegenüber demokratischen Mehrheitsentscheidungen kennzeichnen die Stimmung in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkrieges, so dass es überwiegend als richtig, zum Teil geradezu als unbedingt notwendig empfunden wird, dass sich die Politik an der Verfassung und dem sie konkret verwirklichenden Verfassungsgericht orientiert, jedenfalls aber nicht gegen dieses richterliche Gremium aus unabhängigen Persönlichkeiten handeln darf217. Häufig gewinnt man den Eindruck, als sehe die Verfassung nach der dritten Lesung noch eine vierte vor, eine Verhandlung vor dem BVerfG218. Die Situation in den USA ist von ganz anderem Zuschnitt: countermajoritarian difficulty ist hier ein Grundproblem. Das mag auch daran liegen, dass es in der U.S.-Verfassung keine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung für den judicial review, also die kassatorische Funktion219 gibt. Angesichts der Tatsache aber, dass der judicial review schon seit Marbury v. Madison anerkannt ist, kann dies kaum die eigentliche Erklärung sein; eine andere und näherliegendere könnte darin gesehen werden, dass es in einem Common Law System schon wegen der herausragenden Bedeutung der Tradition sehr problematisch ist, Gesetze zu überprüfen und aufzuheben. Im Mutterland des Common Law, in England, ist es prinzipiell unmöglich, Akte der Queen-in-Parliament vom Grundsätzlichen her in Frage zu stellen220. Die Verfassungsgerichtsbarkeit löst daher beim amerikanischen Juristen zwiespältige Rechtsgefühle aus: Als Common Law-Denker stößt er sich einerseits an der Möglichkeit, dass ein Gericht Gesetze invalidieren kann, andererseits muss er aber auch der Existenz einer positivierten Verfassung als höchstrangiger Norm Rechnung tragen. Spannungen sind unvermeidlich.

ders., in: JöR N.F. 42 (1994), 571; U. Haltern, in: Der Staat 36 (1996), 551. Vgl. jüngst zur Problematik der kassatorischen Funktion: Ph. Kunig, VVDStRL 61 (2002), 34 / 46 f. 216 Exemplarisch K. Hesse, Grundzüge, (199520), Rn. 559 ff.; vgl. auch U. Haltern, in: Der Staat 36 (1996), 551 / 552. 217 Im wesentlichen ähnlich, aber weniger pointiert: H.-J. Papier, Teilhabe an der Staatsleitung, FAZ Nr. 119, 15 (23. 5. 2000). Vgl. aber etwa P. Häberle, in: Verfassungsgerichtsbarkeit (1976), 1 / 11: „Vor allem der Grundrechtsschutz des BVerfG ist bester Bestandteil des deutschen Bürgerbewußtseins und ein Stück des allgemeinen politischen Selbstverständnisses geworden.“ Anders dagegen z.B. E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft (1971), 134. 218 Insofern kann man mit D. Grimm, in: Ideologiekritik und Demokratieprinzip bei Hans Kelsen (1982), 149, davon sprechen, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit zu einem Demokratieproblem geworden ist. 219 In der amerikanischen Rechtssprache gibt es auch keinen Begriff, der der „kassatorischen Funktion“ entspricht. Der „judicial review“ wird aber in der Regel in diesem Kontext verwendet. 220 Dazu bereits oben 2. Kap. 1. Abschn. B.

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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Eine Gemeinsamkeit der Einstellung zur countermajoritarian difficulty in den USA und in Deutschland gibt es allerdings. Sie besteht darin, dass die Einschätzung der Verfassung und mit ihr die der Verfassungsgerichtsbarkeit in beiden Ländern Eigentümlichkeiten aufweist, die sich sehr an der Vergangenheit und wenig an der Gegenwart orientieren.

B. Die Chronologie der Bewältigung einer „missverstandenen“ Verfassung Die U.S. Constitution sollte ursprünglich das Grundgesetz eines kleinen Agrarstaates sein und die Männer, die sie entwarfen, konnten dabei auf keine „Blaupause“ zurückgreifen. Darin ist wohl auch der Grund zu sehen, warum William Jefferson meinte, man müsse die Verfassung für jede neue Generation einer Totalrevision unterziehen221. Dieser Gedanke konnte sich nicht durchsetzen. Auch hatte die Geschichte mit Land und Verfassung mehr vor, als sich Jefferson vorstellen konnte; gleichwohl ist die damals formulierte Verfassung in ihrer wesentlichen Ausgestaltung noch heute in Kraft. Die Langlebigkeit der U.S.-amerikanischen Verfassung hat ihren Wert, ist aber auch problematisch. Denn die Geschichte der Verfassung weist viele Brüche auf und viele dunkle Seiten. Unter ihr gab es nicht nur unzählige Kriege mit anderen Staaten, auch einen verheerenden Bürgerkrieg, Sklavenhaltung222, den Genozid an unzähligen Indianer-Nationen, Internierungslager für Staatsbürger anderer ethnischer Zugehörigkeit223 und ein Apartheid-Regime. Alle diese Vorgänge fanden unter ein und derselben Verfassung nicht nur ihre Wirklichkeit, sondern auch ihre Anerkennung224. Und heute soll das für eine agrarische Gesellschaft geschaffene Dokument Antworten auf die Probleme der fortschrittlichsten Informationsgesellschaft dieser Erde geben. Angesichts einer solchen Lage ist eine Diskussion über die Funktion des Supreme Court auch die Frage danach, wie die vielen sehr negativen und vor allem heute als dezidiert ungerecht empfundenen Ereignisse in der U.S.-amerikanischen Geschichte unter der Waage der blinden Justitia möglich waren und in Besonderheit danach, wie der Supreme Court, der diese Ereignisse nicht selten ausdrücklich billigte, seine nach wie vor hohe Autorität bewahren konnte. Die in Deutschland recht heftig geführten Kontroversen etwa um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, die Nachrüstung oder die zivile Nutzung der Kernenergie waren im Vergleich zu den Auseinander221 5 The Writings of Thomas Jefferson 116 (1895) 121; ihm schwebte eine Zeitspanne von neunzehn Jahren vor, um zu vermeiden, dass die gegenwärtige Generation die zukünftige Generation bevormundet. 222 Vgl. Dred Scott, 60 U.S. 393 (1856). 223 Korematsu v U.S., 323 U.S. 214 (1944). 224 Einer besonderen Erwähnung bedarf allerdings die Änderung bzw. Erweiterung der Verfassung um das 13. und 14. Amendment mit dem Ziel, die Sklaverei nachhaltig abzuschaffen.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

setzungen in den USA kaum mehr als ein Sturm im Wasserglas. Nach der Drohung Präsident Roosevelts gegenüber dem Supreme Court während der Zeit des New Deal225 begann eine Epoche, in der sich der Gerichtshof demokratischen Entscheidungen, vor allem Gesetzen gegenüber äußerst zurückhaltend zeigte. Dies wurde grundsätzlich auch in der Lehre befürwortet und bis in die 50er Jahren erschien die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit – jedenfalls aus Sicht von Exekutive und Legislative – als ziemlich unproblematisch. Eine Änderung bahnte sich erst an, als sich der Gerichtshof genötigt sah, der „Apartheid“ in den USA ein Ende zu setzen. In einer Reihe von Entscheidungen erwirkte er die „desegregation“ der amerikanischen Schulen gegen den Willen der zuständigen Bundesstaaten (und damit gegen die Entscheidungen der Staatsparlamente). Für Billings Learned Hand war damit wieder ein Zustand geschaffen, in der der Supreme Court alles falsch machen konnte. Und er eröffnete 1958 in den Oliver Wendell Holmes Lectures an der Harvard Law School226 eine Debatte, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Dabei ist es entscheidend, den „Stein des Anstoßes“, Brown v. Board of Education227, im Auge zu behalten, in der sich die Überwindung der in Plessy v. Ferguson228 vertretenen Grundkonzeption anbahnt. Es war nicht die erste Entscheidung, die die getrennte Erziehung von Angehörigen unterschiedlicher Rassen für rechtswidrig erklärt hatte229; bis zu Brown war dies aber mit einzelfallbezogenen Situationen begründet worden, in denen „separate“ (ausnahmsweise) mit „equal“ unvereinbar sein sollte. In vielen anderen Fällen ordnete das Gericht die bessere Ausstattung von Schulen für Nicht-Weiße an, wenn diese hinter der in Schulen für weiße Schüler zurückblieb. Mit Brown wurde die „separate but equal-Doktrin“ erstmals grundsätzlich in Frage gestellt, indem das Gericht einen Bereich bestimmte, auf dem separate nie equal sein kann. Die Entscheidung Plessy v. Ferguson wurde zwar nicht zur Gänze aufgehoben230, ihre tragenden Gründe sollten aber auf die öffentliche Erziehung keine Anwendung mehr finden. Die Begründung dieses Wandels der Rechtsprechung ist allerdings schwer nachvollziehbar, weil sie im Wesentlichen nicht auf unzulässige Rassentrennung, sondern auf die Veränderung sozialer Gegebenheiten gestützt wurde. Die entscheidende Passage lautet: „Today, education is perhaps the most important function of state and local governments. . . . [I]t is doubtful that any child may reasonably be expected to succeed in life if he is denied the opportunity to an education. Such an opportunity, where the state has undertaken to provide it, must be made available to all on equal terms.“ Die vorinstanzlichen Gerichte hatten festgestellt, dass die Schulen für Schwarze und Weiße getreu der „separate but equal-Formel“ des Supreme Court in Plessy v. FerSiehe dazu oben Einl. B. The Bill of Rights (1958). 227 347 U.S. 483 (1954). 228 163 U.S. 537 (1896). 229 Vgl. Sweatt v. Painter, 339 U.S. 629 (1950); McLaurin v. Oklahoma State Regents, 339 U.S. 637 (1950). 230 347 U.S. 483 (1954), Leitsatz e. 225 226

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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guson hinsichtlich der Gebäude, Lehrpläne, Eignung und Bezahlung der Lehrkräfte und anderer „fassbarer“ Faktoren angeglichen worden waren (oder angeglichen wurden)231. Die Entscheidung des Gerichtshofes in Brown hebt demgegenüber zunächst darauf ab, dass „viele Neger herausragende Erfolge sowohl in den Geistes- und Naturwissenschaften als auch in der Geschäfts- und Berufswelt erreicht haben“232, eine Feststellung, die im Kern als Eingeständnis eines Irrtums über die Eigenarten der „Farbigen“ begriffen werden kann. Sodann heißt es: „In determin-ing whether segregation in public schools deprives Negro students of the equal protection of laws guaranteed by the Fourteenth Amendment, the court must consider public education in the light of its full development and its present place in American life throughout the nation; the clock cannot be turned back to the time when the Amendment was adopted (1868) nor to the time when the Supreme Court announced the ,separate but equal‘ doctrine (1896), under which equality of treatment is accorded by providing Negroes and whites substantially equal, though separate, facilities.“233 Damit wird eine Veränderung des Umfeldes postuliert, ein Versuch, der freilich misslingt. Denn die Aspekte, die der Supreme Court anführt (Erziehung als „vielleicht“ wichtigste Aufgabe der Staats- und Gemeinderegierungen, Grundlage einer „good citizenship“, Vermittlung von Werten, sozialen und professionellen Fähigkeiten, Grundlage des Erfolgs im Leben)234, hätten zum einen auch schon einem Gericht im 19. Jahrhunderts einfallen können; zum anderen stützt sich die Entscheidung im Kern alleine auf die Bedeutung von Erziehung und die soziale Entwicklung der afroamerikanischen Bevölkerung, Begründungsaspekte, die zwar einem politischen Gremium gut anstehen, für ein Gericht dagegen eher fragwürdig sind. Ungeachtet der Schwächen in der Begründung stand für die meisten Kommentatoren aber fest, dass die „desegregation“ überfällig war235. Gleichzeitig waren sich allerdings die meisten Verfassungsrechtler ebenso darüber einig, dass sich der Supreme Court gegenüber demokratischen (Gesetzes-)Entscheidungen zurückhalten soll.

231 347 U.S. 483 (1954) 492: „been equalized or are being equalized, with respect to buildings, curricula, qualifications and salaries of teachers, and other ,tangible‘ factors.“ 232 347 U.S. 483 (1953) 490. 233 347 U.S. 483 (1953) 493. 234 347 U.S. 483 (1953) 495. 235 In der Folge von Brown ergingen eine Reihe von per curiam Entscheidungen, die die Segregation in einer Vielzahl von Bereichen (auch nicht-akademischen und öffentlichen Einrichtungen) für verfassungswidrig erklärten: Mayor of Baltimore v. Dawson, 350 U.S. 877 (1955) (Strände); Holmes v. City of Atlanta, 350 U.S. (1955) (Golf-Kurs); Gayle v. Browder, 352 U.S. 903 (1956) (Busse); New Orleans City Park Improvement Ass’n v. Detiege, 358 U.S. 54 (1958) (Parks). Im Ergebnis ist „separat but equal“ heute kein Grundsatz des amerikanischen Verfassungsrechts mehr. Ungeachtet aller weiterhin bestehender sozialer Unterschiede zwischen der rassischen Mehrheit und der rassischen Minderheiten ist man heute davon überzeugt, dass eine unterschiedliche Behandlung von herrschenden Ethnien und Ethnien in der Minderheit allenfalls dann gerechtfertigt ist, wenn dies dem Ausgleich von historischen Benachteiligungen dient.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Diese Überzeugung von der Notwendigkeit richterlicher Selbstbeschränkung findet sich sowohl in der U.S.-amerikanischen wie in der deutschen Verfassungsjurisprudenz (bezogen auf das BVerfG). Freilich bedarf sie in beiden Verfassungsordnungen einer Begründung, weil beide Verfassungen bestimmen, dass das Verfassungsrecht auch den Gesetzgeber bindet. Im GG ist dies in Art. 1 III, 20 III und – mittelbar – in den Bestimmungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit (insbes. Art. 93 I Nr. 2, 100, 93 I Nr. 4a) normiert236. In der U.S.-Verfassung bestimmt die sog. supremacy clause (Art. VI Abs. 2), dass die Verfassung und die Gesetze, die „in Pursuance thereof“ erlassen werden, das höchste Recht des Landes sein sollen237. Wenn aber auch die Parlamente an die Verfassung gebunden sind, dann ist es nicht von selbst einsichtig, warum das Verfassungsgericht nicht ermächtigt sein soll, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, um Fehler und Versäumnisse des Parlaments zu beheben. Ein erster Grund kann sicher darin zu sehen sein, dass das Verfassungsgericht zwar einerseits an Gesetze gebundene Rechtsprechung ist (Art. 20 III GG, U.S.-Const. Art. III, Sec. II, Abs. 1), andererseits aber Gesetze kontrollieren kann. Gerd Roellecke238 sieht in dieser Kontrollkompetenz eine Sprengung des klassischen Gewaltenteilungsschemas, eine Feststellung, die indes kaum weiterführenden Erkenntnisgewinn verspricht. Zwar ist das klassische Gewaltenteilungsschema sicherlich hilfreich, um das von der jeweiligen Verfassung errichtete System der çhecks and balances“ zu verstehen239, es hat aber neben bzw. über der Verfassung keinen eigenständigen normativen Gehalt, weil es keine bestimmte Staatsorganisation fordert240. Die eigentliche Problematik der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle ist im „demokratischen Argument“241 Rousseaus grundgelegt, wonach das Gesetz als Ausdruck der volonté générale unmöglich irren kann (und daher souverän und unkontrollierbar ist). Dieses demokratische Argument, das seine Überzeugungskraft alleine aus der Volkssouveränität zieht, findet Ausdruck in dem Fehlen einer Normenkontrolle in der Schweiz242, es

236 Zur „richterlichen Selbstbeschränkung“ aus deutscher Sicht: P. Häberle, in: Verfassungsgerichtsbarkeit (1976), 1 / 17 ff.; K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 569 f. mwN. 237 Anders als im GG findet sich in der U.S.-Verfassung allerdings keine ausdrückliche Ermächtigung des SCt., Gesetze zu überprüfen und für verfassungswidrig zu erklären. Angesichts von Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803), der nachfolgenden Praxis des SCt. und der prinzipiellen Anerkennung der kassatorischen Funktion, kann man in den USA aber zumindest eine gewohnheitsrechtliche Grundlage dieser Kompetenz behaupten. 238 In: HStR II (19982), § 53, Rn. 34. Vgl. auch schon E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft (1971), 134. 239 Dies folgt vor allem aus der engen Verbindung, die das Prinzip ideengeschichtlich mit der souveränen Staatlichkeit eingegangen ist, vgl. M. Imboden, Die politischen Systeme (1962), 20. Zur Ausformung der Idee in Deutschland: E. Schmidt-Aßmann, in: HStR II (20043), § 26, Rn. 47 und etwa BVerfGE 3, 225 / 247 und E 68, 1 / 86. 240 Vgl. K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 481: „Maßstab der Verwirklichung ist . . . die konkrete Ausgestaltung durch die Verfassung . . .“. 241 W. Löwer, in: HStR II (19982) § 56, Rn. 51 f. mN. 242 Dazu W. Löwer, a.a.O.

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wurde aber weder in den USA noch in Deutschland akzeptiert. Für Deutschland genügt der Verweis auf Art. 93 und 100 GG, in den USA kann man vor allem auf Alexander Hamilton und Marbury v. Madison verweisen. Insbesondere Hamilton hat hier die wesentlichen (Gegen-)Argumente erarbeitet. Die Tatsache allein, dass der Congress vom Volk gewählt wird, könne – so Hamilton – nicht zu der Annahme führen, der Congress bringe (stets) den Willen des Volkes zum Ausdruck. Dementsprechend stünden einer umfassenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle kaum Hindernisse entgegen243. Allerdings ging Hamilton dabei von enumerierten Kompetenzen aus. Nach seiner Konzeption waren die Gerichte dazu berufen, den Entscheidungen der Legislative entgegenzutreten, die im Lichte der Verfassung ultra vires waren. Intra vires sah er zusätzlich das Problem, dass „the arts of designing men, or the influence of particular conjunctures . . . have a tendency . . . to occasion dangerous innovations in the government, and serious oppression of the minor party in the community“. Legislators can be swayed when „a momentary inclination happens to lay hold of a majority of the constituents“ and thus cause „injury of the private rights of particular classes of citizens, by unjust and partial laws“.244. Hamilton traute den Gerichten zu, die Übel solcher Gesetze soweit als möglich durch einschränkende Auslegung abzumildern, bis bessere Information und gründlichere Überlegungen den Gesetzgeber zu besseren Entscheidungen führen245. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass „[t]he fabric of American Empire ought to rest on the solid basis of The Consent of the People. The streams of national power ought to flow immediately from that pure original fountain of all legitimate authority.“246 Ungeachtet dieser Überlegungen bleibt das „demokratische Argument“ aber wirkmächtig. Dies hat seine Ursache vor allem darin, dass auch die verfassungsstaatlichen Demokratien der Ideologie der Demokratie bedürfen, um ihre Legitimität zu behaupten. Der Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20 II 1 GG) ist eben keine Leerformel; er begründet den Anspruch des Staates, gegenüber den Menschen in seinem Hoheitsbereich Macht auszuüben. Und wenn diese Staatsgewalt „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt wird, dann ist auch das Parlament – und damit dessen Entscheidungen – mit besonderer Legitimität ausgestattet247. 243 Dezidiert wendet er sich gegen die Annahme, dass die çonstitution could intend to enable the representatives of the people to substitute their will to that of their constituents“, The Federalist Nr. 78 (1788), 521 / 525 ff. A. Hamilton ist der einzige, der dieses Problem in den Federalist Papers behandelt; angesichts seiner Ablehnung einer Bill of Rights (The Federalist Nr. 84 (1788), 575 ff.) ist diese Passage allerdings nur eingeschränkt von Relevanz. 244 The Federalist Nr. 78 (1788), 521 / 527. 245 The Federalist Nr. 78 (1788), 521 / 528 f. 246 The Federalist Nr. 22 (1787), 135 / 146. 247 Dem steht die Feststellung des BVerfG (E 9, 268 / 279 f.; E 22, 106 / 111) nicht entgegen, dass „keine Gewalt . . . ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über die anderen Gewalten erhalten“ darf, und dass dies auch für die parlamentarische Gewalt gelte: Der Grundsatz der parlamentarischen Demokratie rechtfertige keinen Gewaltenmonismus (E 49, 89 / 124).

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Das Problem wird noch präzisiert, wenn man die notwendige Subjektivität richterlichen Entscheidens in die Überlegungen mit einbezieht. Die Verbindung beider Aspekte wird vor allem in dem grundlegenden Beitrag von Learned Hand248 deutlich. Er ist sich – wohl vor allem auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen als Richter – besonders eindringlich der Tatsache bewusst, dass Richter notgedrungen auf der Grundlage ihrer eigenen individuellen Überzeugung Entscheidungen treffen. Daher empfindet er Unbehagen, von einer „Schar platonischer Wächter“ regiert zu werden. Das „demokratische Argument“ wird von ihm sehr bescheiden, aber nichtsdestoweniger eindringlich vorgetragen: „If they [a bevy of platonic guardians] were in charge, I should miss the stimulus of living in a society where I have, at least theoretically, some part in the direction of public affairs. Of course I know how illusiory would be the belief that my vote determined anything; but nevertheless when I go to the polls I have a satisfaction in the sense that we are all engaged in a common venture. If you retort that a sheep in the flock may feel something like it; I reply, following Saint Francis, ,My brother, the Sheep‘“249. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Learned Hand für eine Zurückhaltung des Supreme Court plädiert, obwohl in der Rassenfrage exemplarisch deutlich wurde, dass die demokratisch gewählten Organe versagen können. Die Notwendigkeit einer theoretischen Neubegründung der richterlichen Zurückhaltung war offenkundig, weil die Entscheidung in Brown, die auch von Learned Hand als inhaltlich richtig erkannt wird, nur von einem Gerichthof getroffen werden konnte, der sich für ermächtigt hält, demokratische Entscheidungen aufgrund eigener Wertungen zu revidieren. Ihren Ausgang nimmt Learned Hands Argumentation in der Feststellung, dass weder der Text noch die Geschichte der Verfassung eine ausdrückliche Grundlage für eine kassatorische Funktion („judicial review“) des Gerichtshofes bietet250. Vor diesem Hintergrund müsse die Verfassungsgerichtsbarkeit auf der Grundlage allgemeiner Erwägungen in das gewaltenteilige System eingepasst werden. Dabei sieht es Hand als entscheidend an, dass der Text der Verfassung drei gleichgewichtige Zweige der Regierung errichtet, die alle als Agenten des Volkes handeln. Jeder Zweig sei nur durch sein jeweiliges Selbst-Verständnis der eigenen Rolle in der Umsetzung des Volkswillens gebunden. Dabei stellt Hand zunächst Vermutungen über den Willen des Verfassungsgebers auf: „I cannot . . . help doubting whether the evidence justifies a certain conclusion that the Convention would have voted, if the issue had been put to it that courts should have power to invalidate acts of Congress.“251 Überdies sieht Hand auch aus funktioneller Sicht keine Rechtfertigungen für eine kassatorische Funktion.252 Wenn die Über248 The Bill of Rights (1958). Eine knappe Zusammenfassung der Diskussion zur countermajoritarian difficulty findet sich bei U. Haltern, in: Der Staat 36 (1996), 551 / 557 ff., der allerdings die verfassungsmethodischen Aspekte der Diskussion zu stark vernachlässigt. 249 The Bill of Rights (1958), 73 f. 250 Dazu schon oben, Fn. 232. 251 The Bill of Rights (1958), 7. 252 The Bill of Rights (1958), 9 f.

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prüfung anderer Verfassungsorgane durch den Supreme Court gerechtfertigt ist, dann nur, weil es legitim ist „to interpolate into the [Constitution] such provisions, though not expressed, as are essential to prevent the defeat of the venture at hand“253. Der „Judicial Review“ findet für Hand also seine einzige mögliche Rechtfertigung in langfristigen Interessen, die auf den Erhalt der staatlichen Ordnung gerichtet sind. Zulässigerweise könne es nur um die Festlegung der Kompetenzgrenzen staatlicher Gewalten gehen. Demgegenüber sei der Grundrechtskatalog, die Bill of Rights, grundsätzlich kein angemessenes Subjekt für eine solche verfassungsgerichtliche Funktion. Damit richtet sich Hand gegen die Versuche des Warren-Court (1953 – 1969)254, die Funktion des Verfassungsgerichtshofes als Bewahrer der Grundrechte gerade auch gegenüber den Parlamenten wiederherzustellen, die er bis zur Intervention Roosevelts für sich in Anspruch genommen hatte. Für Hand unterscheiden sich Rechtsprechung und Rechtssetzung danach, ob eine Entscheidung auf objektive Normen gestützt werden kann oder nicht. Denn wenn es keine objektiven Maßstäbe gibt, dann werden diejenigen, die Entscheidungen treffen, notgedrungen ihre eigenen Wertordnungen zum Tragen bringen, eine Konsequenz, die für die Gerichtsbarkeit nicht akzeptabel sei. Und weil die Verfassung in den materiellen Bestimmungen kaum objektive Maßstäbe enthält, könne diese auch keine Maßstäbe für Gerichte sein. Gerade hier stellt er auch einen Bezug her zur vehementen (und in seinen Augen durch die Geschichte sanktionierten) Kritik am wirtschaftspolitischen Aktionismus des Supreme Court in den 20er und 30er Jahren: „I can see no more persuasive reason for supposing that a legislature is a priori less qualified to choose between ,personal‘ than between economic values“255. Daher fehlte der Gerichtsbarkeit die Legitimation, Entscheidungen demokratisch gewählter Organe in Frage zu stellen. Die Judikative besitze keine Erkenntnisquellen oder Methoden, die es ihr ermöglichen würde, die zentralen Fragen des Gemeinwesens besser zu beantworten als ein Parlament. Damit ist für ihn der Brown-Fall von der falschen Instanz richtig entschieden worden, und damit zu Unrecht ergangen. Im Kern kann man mit Oliver Wendell Holmes256 das Resümee der Ansicht von Hand so fassen: „If my fellow citizens want to go to hell I will help them. It’s my job.“ Der Beitrag von Learned Hand legt den Finger auf eine Bruchstelle des demokratischen Verfassungsstaates, die erkennbar wird, wenn das demokratische Argument auf die Verfassung als eine in Text gefasste Vorstellung über die „richtige“ The Bill of Rights (1958), 11 ff. Während der Amtszeit von Earl Warren kam es u.a. zu den Entscheidungen Brown v. Board of Education, a.a.O. (Fn. 234), Baker v. Carr, 369 U.S. 186 (1962) – Zuständigkeit von Bundesgerichten für die Überprüfung von Wahlen auf staatlicher Ebene –, Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533 (1964) – Maßstäbe für den Zuschnitt von Wahlbezirken –, Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1965) – Verfassung impliziert Recht auf Privatheit – und Miranda v. Arizona, 384 U.S. 436 (1966) – Verdächtige sind bei der Verhaftung über ihre Rechte aufzuklären. 255 The Bill of Rights (1958), 51. 256 Holmes-Laski Letters, Bd. 1, 249. 253 254

7 Schmitt Glaeser

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Verfasstheit des Staates trifft. Die weitere Diskussion, die in den USA von Alexander Bickel257 unter das Leitmotiv der countermajoritarian difficulty gebracht wurde, beschränkt sich im Wesentlichen auf Variationen der Hand’schen Problemsicht. So setzt Herbert Wechsler258 bei der Frage der Standards an. Ihm geht es nicht darum, bestimmte Sachbereiche der Judikatur des Supreme Court vorzuenthalten, sondern darum, welchen Standards und Methoden der Gerichtshof bei seinen Entscheidungen folgen muss. Dabei steht für ihn die Möglichkeit der Entwicklung und unparteiischen Anwendung neutraler Prinzipien im Mittelpunkt aller Überlegungen259. In dieser besonderen Fähigkeit, Entscheidungen auf der Grundlage objektiver Maßstäbe bzw. neutraler Prinzipien treffen zu können, glaubt er die kassatorische Funktion des Supreme Court rechtfertigen zu können. Allerdings unterlässt es Wechsler, nachzuweisen oder auch nur plausibel zu erklären, dass der Supreme Court diese Fähigkeit besitzt260. Er beantwortet auch nicht die sich sodann aufdrängende Frage, warum allein der Gerichtshof diese Fähigkeit besitzen soll261. Das demokratische Argument und die erkenntnistheoretische Problematik richterlichen Entscheidens lassen sich nicht voneinander trennen262. In einer mangelnden Verknüpfung beider Perspektiven liegt letztlich auch der Grund für die Schwäche der Konzeption von Alexander Bickel263. Während Wechsler die Problematik des „demokratischen Arguments“ ausblendet, vernachlässigt Bickel die Problematik der Subjektivität des richterlichen Entscheidens. Sein Maßstab ist das Prinzip der Volkssouveränität264; nur unter dieser Voraussetzung könne die Kohärenz des Systems gewährleistet werden265. Die den Überlegungen zugrunde liegende DemokraThe Least Dangerous Branch (1962). In: Principles, Politics, and Fundamental Law (1961), 3. 259 Was unter „neutral principles“ im Einzelnen zu verstehen ist, kann hier noch dahinstehen: dazu unten 2. Kap. 3. Abschn. D aE. 260 H. Wechsler, in: Principles, Politics, and Fundamental Law (1961), 3 / 22 konstatiert im Grunde nur eine nicht näher begründete Pflicht: „Does not the special duty of the courts to judge by neutral principles addressed to all the issues make it inapposite to contend, as Judge Hand does, that no court can review the legislative choice – by a standard other than a fixed ,historical meaning‘ of constitutional provisions – without becoming ,a third legislative chamber‘?“ 261 Vgl. dazu auch P. Kahn, Legitimacy and History (1992), 140. 262 Vgl. auch C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung (19312), 9; so bestätigt sich am Ende H. Wechslers Erfahrung: „Though I have learned from past experience that disagreement with Judge Hand is usually nothing but sheerest folly, . . .“, in: Principles, Politics, and Fundamental Law (1961), 3 / 5. 263 The Least Dangerous Branch (1962). 264 The Least Dangerous Branch (1962), 19: „nothing can finally depreciate the central function that is assigned in democratic theory and practice to the electoral process, nor can it be denied that the policy-making power of representative institutions, born of the electoral process, is the distinguishing characteristic of the system. Judicial review works counter to this characteristic.“ 265 The Least Dangerous Branch (1962), 261: „. . . on the supreme occasion, when the system is forced to find ultimate self-consistency, the system of self-rule must prevail.“ 257 258

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tietheorie bestimmt für Bickel also die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit. Gehe es daher um die Frage, ob demokratischer Mehrheitswille vom Gericht konterkarriet werden darf, könne diese Frage nur unter besonderen Umständen (Rechtfertigungen) bejaht werden266. In der Regel müsse der Gerichtshof sich in Tugenden der Passivität (passive virtues) üben, was durch Absehen von einer Entscheidung, durch die Verneinung der Gerichtsbarkeit, der Entscheidungsreife, durch die Annahme einer „political question“ oder dadurch geschehen könne, dass ein Fall nicht zur Entscheidung angenommen wird267. Das ändert aber nach Auffassung von Bickel nichts daran, dass der Supreme Court eine herausragende Rolle im Konzept des amerikanischen Regierungssystems besitzt. Diese herausragende Rolle ergebe sich gerade aus der Tatsache, dass der Gerichtshof in das System der Gewalten nicht hineinpasst268. Der Andersartigkeit des Supreme Court entspreche seine Aufgabe, anders zu entscheiden als politische Institutionen. Erstaunlicherweise führt diese Erkenntnis letzten Endes zu einer nahezu unbeschränkten Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit. Ausschlaggebend dafür ist die Überlegung, dass die Regierung bei ihrem täglichen Geschäft mit unmittelbar praktischen Effekten mehr oder minder unbeabsichtigt auch auf Werte einwirkt, die „wir“269 für grundsätzlich beachtlich oder langfristig bedeutsam erachten und die (nur) verfassungsgerichtlich geschützt werden können. Allein berufen zu einem solchen Schutz seien Verfassungsrichter, weil sie die Muße, die Ausbildung und den Abstand haben, um bei der Verfolgung staatlicher Ziele die Tugenden des Gelehrten zum Tragen zu bringen270. Im Gegensatz zu Learned Hand hat Bickel alles andere als Zweifel an der 266 The Supreme Court and the Idea of Progress (1951), 86; The Least Dangerous Branch (1962), 18. Der Grundgedanke der verfassungsstaatlichen Demokratie – der Schutz von Rechten Einzelner – wird erst nachträglich in die Überlegungen eingeführt. Dass er nur noch als Minderheiten–Schutz thematisiert wird, zeigt die Beschränktheit des Ansatzpunktes. 267 (Verneinung von Certioari), The Least Dangerous Branch (1962), 112. In Furman v. Georgia, 408 U.S. 238 (1972), wurde diese Konzeption im Wesentlichen umgesetzt. Die gleiche Lösung wird im Übrigen schon von L. Hand (The Bill of Rights [1958], 15) – zumindest ansatzweise – entwickelt, wenn er meint, der Judicial Review müsse nicht in allen Fällen ausgeübt werden: „It is always a preliminary question how importunately the occasion demands an answer. It may be better to leave the issue to be worked out without authoritative solution . . .“. 268 The Least Dangerous Branch (1962), 23: „It is that judicial review runs so fundamentally counter to democratic theory that in a society which in all other respects rests on that theory, judicial review cannot ultimately be effective. We pay the price of a grave inner contradiction in the basic principle of our government, which is an inconvenience and a dangerous one; and in the end to no good purpose, for when the great test comes, judicial review will be unequal to it.“ 269 Bei der Darstellung der Konzeption Bickels wird bewusst immer wieder durch Parenthesierung hervorgehoben, dass er auf ein „Wir“ abstellt, das Wertverständnis besitzt und diese der Rspr. zugrunde legt. Die Identität dieses „Wir“ wird nie ganz offen gelegt, ist aber wohl die Gemeinschaft der juristisch Gebildeten. 270 The Least Dangerous Branch (1962), 25 f.: „Judges have, or should have, the leisure, the training, and the insulation to follow the ways of the scholar in pursuing the ends of government“.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Objektivität richterlichen Denkens271. Die Theorie der Praxis von Bickel lässt trotz Beachtung des „demokratischen Arguments“ also dem Verfassungsgericht mehr oder minder freie Hand. Auf festem Boden freilich steht seine Konzeption nicht. Bickel ist im Wesentlichen wieder bei Duncan v. McCall (Re Duncan) angekommen, wo es heißt: Çonstitutions, state and Federal, are limitations on the power of the people as against the impulses of mere majorities“272. Diese beinahe abschätzige Haltung gegenüber „bloßen Mehrheiten“ verkennt aber, dass es in der repräsentativen Demokratie der USA (wie in Deutschland) nie nur eine Mehrheit gibt273, und dass gerade diese Tatsache auch die „bloße Mehrheit“ zur Besonnenheit zwingt274. Bickel geht auf solche demokratietheoretischen Fragen, ungeachtet der zentralen Stellung der Volkssouveränität, in seiner Argumentation allerdings nicht näher ein.275. Eine weitere Unklarheit besteht darin, dass Bickel den Richtern die Aufgabe zuweist, feste Werte zu bewahren, die „wir“ für grundsätzlich beachtenswert oder langfristig bedeutsam erachten276, und ihnen sodann auferlegt, im Übrigen Zurückhaltung zu üben. Es bleibt unerfindlich, welche Werte Bickel meint277. Sollten es die in der Verfassung ausdrücklich verankerten Werte sein, 271 Paul Kahn, Legitimacy and History (1992), 143, fasst die Sicht Bickels prägnant so zusammen: „Principles without consent cannot legitimately govern; but consent without principles cannot govern as well.“ 272 139 U.S. 449 (1891) 458. 273 Alleine auf Bundesebene gibt es in den USA drei Institutionen, die durch direkte Wahlen legitimiert sind und die sich oft (nach dem zweiten Weltkrieg regelmäßig) auf unterschiedliche Mehrheiten stützen. In Deutschland kann man zwar aufgrund des parlamentarischen Regierungssystems formal immer eine Mehrheit ausmachen. Sobald man aber – und dies ist im Rahmen der Bickel’schen Konzeption notwendig – die Mehrheiten in den Ländern und (unter bestimmten politischen Konstellationen) im Bundesrat mit einbezieht, verliert sich auch hier die Mehrheit (als feste Größe). 274 Die – auch in der Zeit – wechselnden Mehrheiten sind ein Garant dafür, dass die begriffliche Abhängigkeit der Mehrheit von der Minderheit (ohne Minderheit keine Mehrheit) zu einer – wenigstens partiell – politischen Abhängigkeit wird. H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (19292), 57, bezeichnet dieses Phänomen als Majoritäts-Minoritätsprinzip und sieht darin die reale Gestalt der Ideologie der Volkssouveränität. 275 In The Least Dangerous Branch (1962), 16 ff., werden Mehrheitsentscheidungen nicht als Ausdruck der Mehrheit als feste Größe gesehen, sondern als Ausdruck der Mehrheit, die nach der Konzeption der amerikanischen Demokratie in einem bestimmten Moment und für ein bestimmtes Sachgebiet den Ausschlag gibt. Damit aber ist das Majoritätsprinzip schon so intensiv in die Staatsorganisation verstrickt, dass es keinen abstrakten (bzw. „theoretischen“) Wert mehr hat. Es ist dann „nur“ noch eine Techne der Entscheidungsfindung nach Maßgabe der Verfassung. Damit lässt sich aber nicht mehr erklären, warum angesichts all der Relativierungen der Mehrheitsherrschaft nicht auch Platz sein soll für einen Judicial Review; ähnlich P. Kahn, Legitimacy and History (1992), 144. 276 The Least Dangerous Branch (1962), 30: „[T]he Court must pronounce only those principles which can gain ,widespread acceptance,‘ that it is at once shaper and prophet of the opinion that will prevail and endure.“ 277 The Least Dangerous Branch (1962), 24. Wie fragwürdig dieser Ansatz ist, zeigt sich auf den Seiten 237 f., wenn er darlegt, sein Ansatz mache deutlich, dass Brown v. Board of Education richtig und Lochner v. New York falsch entschieden wurde (zu beiden Entschei-

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müsste hinreichend erklärt werden, warum eine solche Werte-Bewahrung nicht auch durch die Legislative erfolgen kann. In Wahrheit kann es aber nur darum gehen, dass die Verfassung unbestritten allein mit Zusatzbewertungen zur Anwendung zu bringen ist und Bickel die Forderung erhebt, Verfassungsrechtsprechung auf Moralphilosophie und politische Theorie zu gründen, so dass es nicht nur um das Zählen von erhobenen Händen gehen kann278. Eine Begründung gibt Bickel nicht, will man nicht auf den lakonischen Satz abstellen, der Gerichtshof solle sich oder der Welt nicht erzählen, er leite Entscheidungen aus einem Text ab, der diese nicht bedinge279. Er referiert im Wesentlichen nur Allgemeinplätze, wenn er ausführt: „[T]o seek in historical materials relevant to the framing of the Constitution, or in the language of the constitution itself, specific answers to specific present problems is to ask the wrong questions.“280 Damit kann man zwar eine Forderung nach Texttreue widerlegen, aber keine (andere) Methodik begründen. John Hart Ely281 resümiert die Arbeit Bickels in der These, man könne mit seinen Überlegungen nur zu dem Ergebnis gelangen, dass es letzen Endes darauf ankomme, „das Richtige zu tun“ bzw. die jeweils eigenen Wertvorstellungen durchzusetzen. Demgegenüber sucht Ely einen Einstieg, der sich näher an Learned Hand orientiert. Wie Bickel rechtfertigt zwar auch Ely die Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre kassatorische Funktion mit ihrer Eignung, Mängel im demokratischen System auszugleichen. Diese Mängel werden aber nicht in der (unzulänglichen) Art und Weise gesehen, in der politische Instanzen entscheiden, sondern darin, dass sie „defekt“ sein können. Soweit und solange der politische Prozess ordnungsgemäß verläuft, sind danach die unmittelbar gewählten Organe allein berufen, Werte zu bestimmen, auszuwählen und abzuwägen282. Fehlt es aber an einem solchen ordnungsgemäßen Prozess, dann ist es Sache des Richters, den Defekt zu bedungen oben, und unten D). Wie auch J. Ely, Democracy and Distrust (1980), 65 f., hervorhebt, ist Bickels Sicht zu ergebnisorientiert. Bei M. Klarman, 77 Va.L.Rev. 747 (1991) 823, Fn. 331, findet sich ein Zitat aus dem Memorandum, das der spätere Chief Justice Rehnquist für Justice Jackson verfasste („A Random Thought on the Segregation Cases“) und in dem er argumentiert, dass wenn „this Court, because its members individually are ,liberal‘ and dislike segregation, now chooses to strike it [Segregation in Schools] down, it differs from the McReynolds court [der Lochner v. New York entschied] only in the kinds of litigants it favors and the kind of special claims it protects.“ 278 The Supreme Court and the Idea of Progress (1951), 86. Hier zeigt sich besonders deutlich das materiell-rationale Credo Bickels, das sich an vielen Stellen findet: etwa 27: „The further premise is . . . that the good society . . . will strive to support and maintain enduring general values. I have followed the view that the elected institutions are ill fitted, or not so well fitted as the courts, to perform the latter task.“ 279 The Least Dangerous Branch (1962), 96: „[T]he Court should not tell itself or the world that it draws decisions from a text that is incapable of yielding them.“ 280 The Least Dangerous Branch (1962), 102. 281 Democray and Distrust (1980), 72. 282 Democracy and Distrust (1980), etwa 73 / 87 et passim; 103: „In a representative democracy value determinations are to be made by our elected representatives. . . . malfunction occurs when the process is undeserving of trust.“

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heben283. Defekte sind zum einen Verfahrensmängel. Mehrheit ist für ihn nicht einfach Mehrheit, sondern „Mehrheit-unter-fairen-Bedingungen“. Zum anderen können Defekte seiner Ansicht nach vor allem dort auftreten, wo klar abgegrenzte und insuläre Minderheiten (discrete and insular minorities) betroffen sind, wie sie in Fußnote 4 der Entscheidung United States v. Carolene Products bezeichnet wurden. In der Entscheidung wurde durch den Supreme Court in Aussicht gestellt, dass er sich ungeachtet einer grundsätzlichen Achtung gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber in wirtschaftlichen Angelegenheiten ein Eingreifen vorbehält, wenn Minderheiten betroffen sind, die sich aus eigener Kraft nicht zu helfen vermögen284. Auch bei der Konzeption von Ely lassen sich unsinnige Folgen nicht vermeiden, wenn man sie konsequent zu Ende denkt. Was die fairen Verfahrensbedingungen angeht, müsste der Supreme Court alle Gesetze eines nach partizipatorischen Grundsätzen falsch zusammengesetzten Kongresses für nichtig erklären; und hinsichtlich der Fußnote 4 in der Entscheidung Carolene Products ist zu beachten, dass die betreffenden Aussagen keineswegs entscheidungserheblich, sondern gleichsam als „Test-Ballon“ gemeint waren, und dementsprechend ebenso vorsichtig wie unscharf formuliert sind. Nimmt man sie aber wirklich als strikte Grundsatzaussage, müsste der Supreme Court überdies heute sehr viel eher z.B. zugunsten des Ku-Klux-Klan als zugunsten der afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe eingreifen285. Allgemeiner formuliert: Welche im demokratischen Prozess gewonnene substanzielle Präferenzfeststellung sehen wir als „gut“ an, welche als „schlecht“? – am Ende kommt Ely, wie Bickel, zu rein individuellen Wertvorstellungen286. 283 Democracy and Distrust (1980), 102: A „representation-reinforcing approach assigns judges a role they are conspiciously well situated to fill“. 284 304 U.S. 144 (1938) 152 f., Fn. 4: „It is unnecessary to consider now whether legislation which restricts those political processes which can ordinarily be expected to bring about repeal of undesirable legislation, is to be subjected to more exacting judicial scrutiny under the general prohibitions of the Fourteenth Amendment than are most other types of legislation. . . . Nor need we enquire . . . whether prejudice against discrete and insular minorities may be a special condition, which tends seriously to curtail the operation of those political processes ordinarily to be relied upon to protect minorities, and which may call for a correspondingly more searching judicial inquiry.“ 285 Zudem stellt sich auch die Frage, inwieweit „discrete and insular minorities“ wirklich schutzwürdig sind. B. Ackerman, 98 Harv.L.Rev. 713 (1985) 730 et passim, sieht hier „bad political science“ am Werke, weil klar identifizierbare und solche Gruppen, die auf eine Region beschränkt sind, weitaus stärkeren Einfluss ausüben können als größere Gruppen, die diffus und anonym sind (z.B. die Gruppe der Frauen, die meist sogar eine Mehrheit darstellen). 286 Vgl. J.H. Ely, Democracy and Distrust (1980), 156, Fn. 69: „In addition, it has been the point of this book that unless there is special reason to distrust the democratic process in a given case, substantive review of ist output, no matter how ,weak,‘ is not justified“; Hervorh. v. Verf. Dagegen P. Kahn, Legitimacy and History (1992), 150: „How does a court identify a procedural defect that illegitimately blocks the self-correcting nature of the political process, given that any actual system requires the creation of institutional structures that will inevitably make some possibilities more difficult to obtain than others?“ Besonders eklatant wird

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Gerade im Werk Elys zeigt sich die Ohnmacht der Theorie bei der Steuerung der Praxis, ein Aspekt, der erst dann in seiner vollen Tragweite erkannt wird, wenn man sich bewusst ist, dass auch der Text Praxis darstellt, jedenfalls im Moment der Satzung. Gerade die Diskussion über die countermajoritarian difficulty lässt die von Learned Hand konstatierte Unmöglichkeit einer sicheren Methode und die Zweifel an allgemein überzeugenden inhaltlichen Maßstäben in aller Deutlichkeit sichtbar werden. Seine Skepsis liegt im Übrigen auch ganz auf der Linie der amerikanischen Verfassungsväter, die sich aufwendig Gedanken darüber machten, wie die Ordnung so strukturiert werden kann, dass sie sich von selbst erhält. Für Madison z.B. war die Frage von zentraler Bedeutung, wie man einerseits die Mehrheit daran hindern könne, die Minderheiten zu unterdrücken, und andererseits aber auch vermeiden könne, dass das Gemeinwesen durch einen übermäßigen Einfluss verschiedenster Minderheiten handlungsunfähig wird. Im Federalist287 sieht er die Lösung in der Bildung eines territorial großen Staates mit einer repräsentativen Demokratie. Durch die hinreichende Größe des Staates werde die Wahrscheinlichkeit der Bildung homogener Mehrheiten verringert und durch das repräsentative System eine Distanz zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Willensbildung geschaffen, die am ehesten geeignet sei zu verhindern, dass die Mehrheit die Freiheit oder die Minderheit das Gemeinwesen ruiniert. Die Ursachen dieser Gefahren, auch „Madissonian Dilemma“ genannt, würden damit zwar nicht beseitigt, ihre Verwirklichung aber verhindert288. Ob diese Konzeption auf Dauer Bestand gehabt hätte konnte sich nicht erweisen, weil die Einführung eines Grundrechtskatalogs in die U.S.-Verfassung289 die prozessuale Lösung Madisons entschieden abschwächte, wenn nicht sogar konterkarrierte, zumal sich der Supreme Court schon bald zu einem Bewahrer der Grundrechtsgewährleistungen entwickelte. Die Basis dafür legte Chief Justice John Marshall in Marbury v. Madison290, indem er eine kassatorische Funktion des Supreme die Schwäche der Konzeption von Ely dort, wo er sich zu einer unpopulären Schlussfolgerung durchringt. Zwar folgert er, dass eine Diskriminierung von Frauen heute nicht mehr vom SCt. sanktioniert werden darf, im weiteren Verlauf der Ausführungen wird aber offensichtlich, dass er „Angst vor der eigenen Courage“ bekommt; siehe dazu die Seiten 169 f. „[I]f women don’t protect themselves from sex discrimination in the future, it won’t be because they can’t. It will rather be because . . . they don’t choose to“. Ein relativierendes: „In fact I may be wrong . . .“ folgt auf dem Fuße. Es kommt nicht von ungefähr, dass z.B. O. Fiss, Groups and the Equal Protection Clause, in: Cohen u.a. (Hg.), Equality and Preferential Treatment (1977), 84, ohne in einen fundamentalen Gegensatz zu Ely zu geraten, zu dem Ergebnis kommen kann, dass die Ungerechtigkeiten des politischen Prozesses zwar behoben werden müssen, dass aber die materiellen Ergebnisse nicht alleine über die Verfahrensaspekte ermittelt werden können. 287 Nr. 10 (1787), 56 ff. 288 Vgl. insbesondere The Federalist Nr. 10 (1787), 56 / 60. 289 A. Hamilton, The Federalist Nr. 84 (1788), 575, insbes. 579 f., sprach sich vor allem deshalb gegen einen Grundrechtskatalog aus, weil die Postulierung von Grundrechten den Schluss zulasse, der Staat habe die Kompetenz, in diese Rechte einzugreifen, 579 f. 290 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803).

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Court bei Grundrechtsverstößen begründete. Die Argumentation von Marshall beinhaltet kaum gewichtigere theoretische Überlegungen. Er postuliert – ohne den Versuch einer Ableitung aus der Verfassung, sehr wohl aber in Bezug auf sie – die Grundannahme, dass das Volk das naturgegebene Recht hat, (im Wege der Verfassungsgebung) solche Prinzipien für ihre zukünftige Regierung festzulegen, die es für geeignet hält, sein Glück zu fördern291. Aus dieser Erkenntnis leitet Marshall des Weiteren ab, dass jeder Akt des Staates, der gegen die Verfassung verstößt, nichtig ist, weil ansonsten geschriebene Verfassungen absurd wären292. Insoweit bewegt sich Marshall auf dem Pfad, den Hamilton in den Federalist Papers vorgezeichnet hatte293. Anders als Hamilton sucht Marshall aber – entsprechend seiner richterlichen Rolle – Rückhalt in eben der Verfassung, die er soeben als Ausfluss eines obersten Prinzips der Menschheit „geadelt“ hat294, und beruft sich auf Art. III (Eiderfordernis) und Art. VI (Supremacy Clause): „Thus, the particular phraseology of the constitution of the United States confirms and strengthenes the principle, supposed to be essential to all written constitutions, that a law repugnant to the constitution is void; and that courts, as well as other departments, are bound by that instrument“295. Die Argumentation von Chief Justice Marshall beruht gewiss nicht auf einer Interpretation von Verfassungsbestimmungen. Im wesentlichen steht und fällt sie mit seiner Grundannahme – aber sie steht immer noch, und es lässt sich mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen, dass eine Entscheidung, in der der Supreme Court eine entgegengesetzte Vorstellung entwickeln würde, auch bei größtem Begründungsaufwand keine Akzeptanz fände. Die Charakteristik einer Entscheidung ohne Theorie gewinnt noch schärfere Konturen in McCulloch v. Maryland296. Es geht dabei um die Abgrenzung von Kompetenzen: Art. I Sec. 8 der U.S.-Verfassung enthält eine Aufzählung der dem Kongress zugewiesenen Befugnisse. Gemäß dem X. Amendment bleiben alle Zuständigkeiten, die in Art. I nicht der Union übertragen sind, den Staaten oder dem Volk vorbehalten. Die letzte Ziffer von Art. I Sec. 8 enthält die Necessary-and-Proper-Clause, die dem Kongress das Recht einräumt, alle Gesetze zu erlassen, die zur Wahrnehmung vorrangiger Bundeskompetenzen notwendig und angemessen sind. Im konkreten Fall stellte sich die Frage, ob der Bund eine Nationalbank habe gründen dürfen und ob der Staat, in dem die Bank ihren Sitz hat, diese besteuern darf. Marshall beantwortete beide Fragen zugunsten 291 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803) 179: „That the people have an original right to establish, for their future government, such principles as, in their opinion, shall most conduce to their happiness.“ 292 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803) 177. 293 The Federalist Nr. 78 (1788), 521. 294 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803) 178: „The peculiar expressions of the constitution of the United States furnish additional arguments in favor of its [the doctrine denying of judicial review] rejection“. 295 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803) 180. 296 17 U.S (4 Wheat.) 316 (1819).

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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des Bundes. Auf einer wirklichen Rechtsanwendung beruht das Ergebnis nicht. Hinsichtlich der Kompetenz zur Errichtung einer Bank macht er z.B. Ausführungen zur Volkssouveränität und zum internationalen Privatrecht297, bezüglich der Frage der Besteuerung stützt er sich auf die Vorrangigkeit der Verfassung298. Der Verfassungstext wird erst am Ende jedes Absatzes untersucht, wobei auffällt, dass Marshall dabei durchweg seine vorherigen theoretischen Darlegungen als im Wesentlich für unerheblich erklärt299. Die Kernpassage findet sich am Anfang seiner Ausführungen zur Vorrangigkeit der Union im Rahmen ihrer Zuständigkeit. Er hält dies für eine Selbstverständlichkeit und für eine Annahme, die der „universellen Zustimmung der Menschheit“ sicher sein könne. Er fügt dann hinzu: „But this question is not left to mere reason: the people have, in express terms, decided it, by saying, ,this constitution, and the laws of the United States, which shall be made in pursuance thereof, shall be the supreme law of the land‘“300. Der Gedankengang Marshalls wird erst dann verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass er in der Frühphase einer Verfassung judiziert, an deren Schaffung er selbst als „Mann der ersten Stunde“ mitgewirkt hatte301. Die Streitigkeiten, die vor seine Richterbank kamen, fanden in der Regel unter aktiver Beteiligung der Verfassungsväter statt, die jetzt in politischen Ämtern die Geschicke der Nation steuerten. Damit sah er wohl die Gefahr einer Usurpation der Verfassung durch ihre Autoren. In beiden dargestellten Entscheidungen lässt Marshall keinen Zweifel daran, dass es nun die durch die Verfassung gesetzte Ordnung ist und nicht irgendeine Theorie, die die weitere Entwicklung des Staates bestimmen soll. Die Zeit der Theorie, d.h. die Zeit der Konzeptualisierung eines Verfassungsstaates war verstrichen; angebrochen war die Zeit des Verstehens der (nunmehr geltenden) Verfassung. Marshall argumentiert, wie Paul Kahn302 hervorhebt, als Politikwissenschaftler, „but the role of science in the political life of the nation was being reconceptionalized even as Marshall appealed to science to establish judicial review. The Constitution was no longer understood as an experiment, testing whether a community could make its government 17 U.S (4 Wheat.) 316 (1819) 403 ff. 17 U.S (4 Wheat.) 316 (1819) 426, 429. 299 17 U.S (4 Wheat.) 316 (1819) 411: „[T]he constitution of the United States has not left the right of Congress to employ the necessary means, for the execution of the powers conferred on the government, to general reasoning“; 17 U.S (4 Wheat.) 316 (1819) 430 f.: „We find, then, on just theory, a total failure of this original right to tax the means employed by the government of the Union. . . . But, waiving this theory for the present, let us resume the inquiry, whether this power can be exercised by the respective States, consistently with a fair construction of the constitution?“. 300 17 U.S (4 Wheat.) 316 (1819) 405 f. 301 Marshall war Soldat im Revolutionskrieg und Mitglied eines staatlichen Verfassungskonvents. 302 Legitimacy and History (1992), 30 f. Vgl. zu dieser Funktion der Verfassung als „Absage an die Freiheit utilitaristischer Zwecksuche und Zweckverfolgung durch das Recht“ i.S. einer großen Politik post constitutionem: W. Leisner, in: Der Staat 7 (1968), 137 ff. 297 298

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

according to abstract principles of republican government. Emerging was a view of the Constitution as the internal source of order of a historical community“.

Vor diesem Hintergrund offenbaren die Arbeiten von Bickel und Ely erneut und aus einer zusätzlichen Perspektive die Problematik jeglicher Theorie zur Verfassung oder zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit. Mit der Existenz einer Verfassung entsteht eine Ordnung, die verstanden werden muss. Verfassungstheorie kann in diesem Zusammenhang nichts begründen; sie kann nur noch zu erklären versuchen, auf welchen Grundlagen diese Ordnung ruhen könnte. Marshall verweist die Theorie dementsprechend in die Rolle einer Hilfswissenschaft. Das macht im Übrigen auch verständlich, warum Bickel seine Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit mit einer erkenntnistheoretischen Kritik an Marbury v. Madison beginnt303. Da er neue (verfassungstheoretische) Verhältnisse schaffen will, muss er die in der Geschichte gewachsene verfassungsstaatliche Ordnung dort „angreifen“, wo dieses „Wachstum“ begonnen hat. Und da es ihm um das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und repräsentativer Demokratie geht, wählt er als Ansatz für seinen Hebel Marbury v. Madison, kritisiert die Entscheidung erkenntnistheoretisch und leitet dann aus dem Gedanken der Volkssouveränität eine Konzeption der „richtigen“ Rolle der Verfassungsgerichte her. Bickel war mit dieser Argumentation wissenschaftssoziologisch außerordentlich erfolgreich, weil es ihm dadurch in der Tat gelang, die amerikanische Verfassungsdiskussion für eine lange Zeit auf seine Begriffe und Vorstellungen zu konzentrieren. Auch Elys Konzeption beruht, ungeachtet seiner Kritik an Bickel, auf dessen Vorstellungswelt. Bruce Ackerman304 nutzt dieselbe Technik, er übertrifft Bickel aber noch, indem er das, was bei Bickel unausgesprochen bleibt, dezidiert deutlich macht und ausdrücklich von Revolution spricht. Er interpretiert die Geschichte der Vereinigten Staaten so, dass in ihr verschiedene Revolutionen erkennbar werden, die jedes Mal eine neue Ordnung entstehen ließen, wobei er vor allem die Reconstruction-Era und den New Deal hervorhebt. Diese neuen Ordnungen entstanden – nach Ackerman – in einer durch çivic seriousness“ erzeugten „Meta-Mehrheit“. Von den bisher kritisierten Konzeptionen hebt sich Ackerman vor allem dadurch ab, dass er das demokratische Argument (Rousseau), nämlich die Annahme einer generellen Richtigkeit der Entscheidungen des Parlaments, nicht gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit ausspielt, sondern es so verändert, dass es ohne Verfassungsgerichtsbarkeit nicht mehr auskommt. Damit ist ein zentrales Element der çountermajoritarian difficulty“ neutralisiert: die Frage nämlich nach der demokratischen Legitimation des Verfassungsgerichts. Während für Hand, Bickel und Ely die zentrale Problematik darin besteht zu bestimmen, wieweit man dem Supreme Court zugestehen darf, das demokratische Argument unter Bezugnahme auf die Verfassung zu widerlegen, weist Ackerman dem Supreme Court die Rolle zu, den erklärten Willen des Volkes (in den verschiedenen 303 304

The Least Dangerous Branch (1962), 1 ff. We The People I (1991), II (1998).

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„Revolutionen“) in Einklang zu bringen mit dem repräsentierten Willen des Volkes (in den Entscheidungen des Parlaments). In der Folge gibt es nun nicht mehr alleine die Bereiche, in denen die Mehrheit ausschlaggebend ist, weil sie Mehrheit ist, und die, in denen die Mehrheit gebunden ist, weil es eine Verfassung gibt. Es gibt im Wesentlichen nur noch eine Art Meta-Mehrheit, die alles verändern kann sowie die Gerichte, die feststellen, wann sich eine solche Meta-Mehrheit zusammengefunden hat und was ihr Wille ist. Damit erscheint die Volkssouveränität nicht mehr als etwas vage Vorgegebenes, etwas Ideologisches, sondern das Volk wird als realer Machtfaktor der Verfassungsstaatlichkeit angesehen, das immer wieder seine Souveränität geltend macht und dadurch die Verfasstheit grundlegend verändern kann305. Das „Ackermanian Dilemma“ lautet: Wie verhält sich die (verbindliche) ungeschriebene Verfassung zu der geschriebenen Verfassung und zu einer auf Veränderung eingestellten Staatsform, und welche Rolle spielen neun bzw. achtzehn Verfassungsrichter dabei? Auch diese Konzeption ist alles andere als „spannungsfrei“. Abgesehen von den erheblichen Gefahren, die sich aus dem (möglichen) Aufkommen einer totalitären Meta-Mehrheit ergeben müssten306, drängt sich vor allem die Frage auf, wie die Richter die interpretatorischen Probleme bewältigen sollen, vor die sie durch diese Konzeption Ackermans gestellt werden. Ein Text, eine mehr als 220-jährige Geschichte und mehrere „Meta-Mehrheits“-Entscheidungen lassen sich beim besten Willen und noch so profunder historischer und juristischer Kompetenz kaum auf einmal verarbeiten. Für Ackerman hat der Supreme Court als Verfassungsgericht die Aufgabe, die verschiedenen Verfassungsperioden der amerikanischen Nation in Synthese zu bringen. Brown307 könnte als ein solcher Versuch angesehen werden, als die Synthese nämlich der in der Reconstruction betonten Gleichheit i.S.d. 14. Amendments mit der Idee des aktivistischen Staates während und nach der Periode des New Deal. Und auch wenn der New Deal insoweit keine ausdrückliche Verfassungsänderung mit sich gebracht hat, so wurde die Verfasstheit der Vereinigten Staaten doch tatsächlich so grundlegend geändert, dass der Supreme Court daraus juristische Schlüsse ziehen durfte und darf. Grundlage der Ackerman’schen Konzeption ist also die Annahme einer dualistischen Verfassung mit zwei unterschiedlichen Ebenen: eine, die sich aus Entscheidungen des Volkes, und eine, die sich aus Entscheidungen der Regierung speist308. Während Entscheidungen „des VolZum Unterschied H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (19292), 14 ff. Insofern erscheint es auch verwirrend, wenn B. Ackerman, We the People I (1991), 320 f., eine Ewigkeitsklausel für Grundrechte nach deutschem Muster fordert, nicht nur, weil es im GG keine Ewigkeitsklausel für die Grundrechte, sondern nur für die Art 1 und 20 GG gibt (Art. 79 III GG), sondern auch deswegen, weil eine Ewigkeitsklausel den Dualismus entweder im Wesentlichen abschaffen würde oder keine Auswirkungen hätte. Eine Zusammenfassung weiterer Kritikpunkte findet sich bei P. Kahn, Legitimacy and History (1992), 175 ff., der freilich zu Unrecht fragt, ob Ackerman die countermajoritarian difficulty gelöst habe; denn Ackerman kommt zu dieser Frage gar nicht. 307 347 U.S. 483 (1954) und dazu oben. 305 306

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

kes“ selten und nur unter bestimmten, von Ackerman prozessual bestimmten Voraussetzungen legitim sind309, dafür aber eine verfassungsändernde Wirkung haben, sind Entscheidungen der gewählten Regierung zwar demokratisch legitim, tragen in sich aber nicht die Rechtfertigung, Entscheidungen des Volkes (und damit in erster Linie wohl die Verfassung) zu negieren. Das „Dualistische“ von Ackermans Ansatz liegt also in der Anerkennung eines politischen Bereiches, der sowohl die Textgebundenheit der Verfassung als auch die Gebundenheit der Gerichte an eine geschrieben Verfassung relativiert. Damit antwortet er auf zwei Probleme der amerikanischen Verfassungsstaatlichkeit: Zum einen wird das Problem einer sehr alten und in vielen Bereichen (scheinbar) „aus der Mode gekommenen“ Verfassung durch die Möglichkeit von „Higher Lawmaking“310 entschärft. Es werden die Ergebnisse, die aus politischen Bewegungen (auch ohne formelle Verfassungsänderung) erwachsen, als verfassungsrechtliche Entscheidungen anerkannt, soweit sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Zum anderen wird die countermajoritarian difficulty dadurch abgemildert, dass Gerichte dieses „Higher Lawmaking“ des Volkes zu artikulieren und umzusetzen haben. Damit obliegt dem Supreme Court als Verfassungsgericht die Aufgabe, die Verfassung auf dem neuesten Stand zu halten. Dieser „neueste Stand“ ergibt sich aber nicht aus der höheren Weisheit der Richter, sondern aus bestimmten Ereignissen im Gemeinwesen. Während der „Trick“ von Ely in der Neudefinition von Mehrheit besteht, liegt der „Trick“ von Ackerman in der Neudefinition des Verfassungsstaates. Ackerman ermöglicht auf diese Weise nichts weniger als die permanente Revolution, soweit sie unter den von ihm festgestellten (und aus dem Vorbild der amerikanischen Revolution gewonnenen) Bedingungen stattfindet – im Ansatz und in der Durchführung ist es daher eher eine Schreibtisch-Revolution311.

C. Die Countermajoritarian Difficulty als Bindeglied zwischen Theorie und Praxis der Verfassung Die kontroverse Diskussion darüber, unter welchen Voraussetzungen, Standards und Methoden die kassatorische Funktion der Verfassungsgerichte gerechtfertigt 308 We the People I (1991), 6: „Above all else, a dualist Constitution seeks to distinguish between two different decisions that may be made in a democracy. The first is a decision by the American people; the second, by their government. 309 Siehe die Zusammenfassung in: We the People I (1991), 6: Mobilisierung einer außerordentlich großen Anzahl von Bürgern; Ermöglichung einer Gegenbewegung; intensive und ausführliche öffentliche Diskussion. 310 We the People I (1991), 266 ff. 311 Im Ergebnis wird eine Herren-Signifikante (Badiou) produziert, es wird ein symbolisches Feld über die Bezugnahme auf ein Ereignis als Wahrheitsereignis rekonfiguriert. Einigende Kraft hat eine solche Benennung aber nie, weil man immer entgegenhalten kann, dass das Ereignis eine andere Bedeutung, Benennung oder Bewertung fordert. Vgl. zu dieser Problematik unter Bezugnahme auf Badiou und Lacan: S. Zˇizˇek, Die Tücke des Subjekts (2001), 226 f.

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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werden kann, spiegelt in gebündelter Form die Problematik der richterlichen Tätigkeit in Verfassungsfragen im Besonderen und die Unsicherheit bei der Gesetzesauslegung im Allgemeinen. Sie steht im Kontext mit der Krise der Vernunft. Die Zeit des New Deal in den USA und die Endphase der Weimarer Republik in Deutschland sind gekennzeichnet durch eine nach wie vor autokratische Gesellschaft unter einer staatlichen Führung, die nur der Form nach demokratischer Natur war. Die weitere Entwicklungen in Deutschland und den USA waren in concreto auf drastisch-tragische Weise unterschiedlich, im Prinzip aber doch ähnlicher, als man es auf den ersten Blick erkennen möchte. In beiden Ländern kam es zu einem außerordentlich machtvollen Staat, der sich der Kontrolle durch jegliche oligarchische Vernunft weitgehend entzog. In den USA begann eine Phase, in der die Entscheidungen der unmittelbar gewählten Organe kaum noch kontrolliert wurden. Die Gestaltungsmacht des Wohlfahrtsstaates, verstanden als ein Staat, der die volonté géneral in politischen Machtprozessen definiert und umsetzt, entzog sich der Überprüfung einer auf Wahrheit ausgerichteten Vernunft, personifiziert im Supreme Court. In Deutschland wurden alle Kräfte des Staates im „Führerwillen“ gebündelt, um ihn aus seiner angeblichen Unfreiheit zu führen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich zwar in der Bonner Republik von Anfang an die Idee des starken Wohlfahrtsstaates durchsetzen, dieser war jedoch ebenso von Anfang an eng verbunden mit einem (nach dem „Ermächtigungsgesetz“ verständlichen) Misstrauen gegenüber „rein“-demokratischer Entscheidungsfindung312. Die neue Demokratie wurde mit einem dominant-oligarchischen Element verbunden, einem sehr starken Bundesverfassungsgericht. Allein schon der Gedanke der wehrhaften Demokratie313, die den Schutz der Verfassung gegen Angriffe „von unten“ (s. insbes. Art. 9 II, 18, 21 II GG) und „von oben“ (insbes. Art. 20 IV, 79 III GG) zum Ziele hat und in deren Rahmen das BVerfG eine ganz spezifische Rolle spielt, ist insofern bezeichnend für das tiefe Misstrauen gerade auch gegenüber allem Staatlichen, so dass von einem „demokratischen Misstrauen“ (Adolf Arndt) gesprochen werden kann. Bei aller Kürze dieses (sehr interpretatorischen) Geschichtsabrisses dürfte doch die Bedeutsamkeit der amerikanischen Diskussion für die deutsche Verfassungsproblematik erkennbar werden. Entscheidend erscheint, dass die bundesrepublikanische Verfassungsgeschichte angesichts der Erfahrungen des „Dritten Reiches“ die an sich notwendige Gegenbewegung zum oligarchischen Denken der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nicht in gleicher Konsequenz vollzogen hat, wie dies in den USA geschah. Während man zu Beginn der Bonner Republik – nicht zuletzt auch unter Führung des BVerfG – in einem der Zeit an sich unangemessenen hierarchischen Wertebewusstsein verharrte, kam es in den USA zu einer Rückbesinnung auf die „kühle Distanziertheit“ juristischer Bildung erst in dem Moment, 312 Die Erkenntnis A. Bickels, The Least Dangerous Branch (1962), 21 („Judicial review expresses, of course, a form of distrust of the legislation“), ist in Deutschland historisch eine Banalität. 313 W. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten (1968), insbes. 21 ff.; J. Becker, HStR VII, § 167; K. Stern, Staatsrecht I (19842), § 6 III 2 (195 f.) mzN.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

als man (wieder) erkennen musste, dass die repräsentative Demokratie ohne oligarchische Elemente bestimmte Probleme nicht, oder jedenfalls nicht schnell genug in den Griff bekommen kann314. Aber diese Entwicklung vollzog sich keineswegs von heute auf morgen, und es war ein „sperriger“ Prozess. Während man in Deutschland dem Verfassungsgericht ohne größere Bedenken eine Hüterrolle für die Verfassung zuerkannte, blieb man in den USA auch dann noch skeptisch, als schon längst offenkundig geworden war, dass nur eine Gruppe „platonischer Wächter“ in der Lage war, (beispielsweise) die Apartheid zu beenden. Wir wissen aber auch, dass mit dieser Erkenntnis die Probleme nicht gelöst sind, denn die Anerkennung oligarchischer Elemente geht in keiner Weise mit der Erkenntnis objektiver Maßstäbe einher. Die Darlegungen des Richters Learned Hand315 haben dieses Dilemma exemplarisch deutlich gemacht. Ein Zwischen-Resümee deutet auf eine äußerst schwierige Situation. Die Ausführungen zur Theorie der Praxis zwingen einerseits zu dem Schluss, dass sich eine Verfassungsgerichtsbarkeit, soll sie Gewicht besitzen, doch nur durch eine Verfassungstheorie rechtfertigen lässt, andererseits drängt eine Verfassungstheorie – wie vor allem Ackerman316 zeigt – den Verfassungsinterpreten und damit auch den Verfassungsrichter in die Rolle des Verfassungs(gesetz)gebers und damit in Gegensatz zum unmittelbar gewählten Parlament, jedenfalls wenn die Theorie naturrechtlich oder philosophisch unterlegt ist; Verfassungstheorie hat eben etwas revolutionäres. Schließlich scheint auch die Verfassung selbst keine Lösung zu bringen. Das geschriebene Wort, die „Pergamentgrenze“317, ist schwach im Vergleich zu hehren Ideen über Wahrheit und Gerechtigkeit, wie sie Verfassungstheorien zu bieten haben; schwach nicht nur deswegen, weil die Worte erst in der Interpretation ihre Macht entfalten, sondern noch aus einem anderen Grund, der in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf: Verfassungen sind häufig in Verfahren positiviert worden, die einer Legitimationsprüfung nur bedingt standhalten können. Verfassungsgebung ist – überspitzt formuliert – in vielen Fällen „illegal“, und dies sowohl in Bezug auf die Ordnung, die davor bestand, als auch in Bezug auf die Ordnung, die geschaffen wird. In diesem Sinne sind Verfassungen „seltsames“ Recht. Jedenfalls genügten weder die U.S.-Constitution318 noch das Bonner 314 Zum spannungsreichen Verhältnis von Oligarchie und Demokratie bei Platon: K. Adomeit, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie (1982), 293. 315 Siehe oben B. 316 Siehe oben B aE. 317 James Madison fragte in The Federalist Nr. 48 (1788), 332 / 333, ob es genügt, die Grenzziehung der Befugnisse der Staatsorgane den „parchment barriers“ der Verfassung anzuvertrauen. 318 Vgl. hierzu die Argumentation von J. Story, 1 Commentaries on the Constitution of the United States (1833), §§ 327 ff., gegen eine vertragstheoretische Grundlegung der U.S. Constitution, die er insbesondere auf den Ausschluss von Kindern und Frauen stützt. Dass die Sklaven nicht teilnahmen, ist aus heutiger Sicht mindestens ebenso bedeutsam. – Auch die Anforderungen, die an Verfassungsänderungen gestellt werden, sind keineswegs immer Ausdruck tiefer demokratischer Gesinnung. Wenn J. Ely, Democracy and Distrust (1980), 11,

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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GG319 hinsichtlich ihres ursprünglichen Erlasses den Standards, die sie für die Zulässigkeit ihrer Änderung festgeschrieben haben. Überhaupt scheint alles, was Verfassung im engeren oder weiteren Sinne ist, immer nur mit äußerst knappen Mehrheiten zustande zu kommen – vor allem, wenn eine tiefgreifende Neuordnung der Verhältnisse bewirkt werden soll. Man denke etwa auch an die Entstehung der Verträge der Europäischen Union. In Frankreich stellt man den Vertrag zur Volksabstimmung und lässt es genügen, dass knapp über 50 % der Stimmen dafür votieren – ist das dann „das Volk“? Gerade im Prozess der Verfassungsgebung scheint die Theorie der Volkssouveränität am wenigsten zur Verwirklichung zu kommen. Das von den Alliierten mehr oder minder „verordnete“ GG und die u.a. von wohlhabenden Sklavenhaltern geschaffene, über 200 Jahre alte U.S. Constitution, sind nicht aufgrund eines eindeutig demokratischen Verfahrens legitim320. Sie gelten – ungeachtet anderweitiger Rechtfertigungsversuche – im Wesentlichen kraft Oktroyierung auf Grund einer als legitim geltenden Herrschaft und Fügsamkeit321 – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Anerkennung des Rechts leidet damit freilich unter einer gewissen Willkürlichkeit, die die Kraft notwendiger Allgemeinverbindlichkeit schwächt. Zwar kann der Akt der Oktroyierung (vor allem durch Erziehung, lange Geltung und Gewöhnung) invisibilisiert werden; gerade dann aber, wenn das Verfassungsrecht zur Integration abweichender Meinungen dringend benötigt wird, kann jedermann, der sich einer Integration entziehen will, auf den Oktroy hinweisen. Es kommt daher nicht von ungefähr, wenn Joseph Fn. 1, darauf verweist, dass ein Amendment mit 40 % der Stimmen angenommen werden kann, so ist dies nicht einmal annähernd das größte Problem: Man denke nur an das 27. Amendment, das im Laufe von 203(!) Jahren ratifiziert wurde. Angesichts der 201 Jahre, die zwischen dem ursprünglichen „Umlaufverfahren“ (6 Staaten)) und der Zustimmung der letzten 33 Staaten liegen, wird man mit einiger Rechtfertigung sagen können, dass dieses Amendment von 33 Staaten ohne Teilnahme des Kongresses beschlossen wurde. Das Amendment wurde am 27. 9. 1789 vom ersten Congress vorgeschlagen, die ersten Staaten ratifizierten es in den Jahren 1789 bis 1791, Ohio ratifizierte erst 1873. 319 Gerade auch die massive Einflussnahme der Besatzungsmächte auf Verfahren und Inhalt des GG ist in diesem Zusammenhang von nachhaltiger Bedeutung. Dazu etwa R. Mußgnug, in: HStR I (20033), § 8, etwa Rn. 13 ff., 33 ff., 76 ff. 320 Zu letzterer vgl. nur J. Ely, Democracy and Distrust (1980), 5 ff. Angesichts seiner dortigen Ausführungen verwundert es allerdings, wenn er auf Seite 18 den Ausführungen von T. Cooley, Constitutional Limitations (1871), 66 f., zustimmt, der den Ansatzpunkt für die historische Auslegung der Verfassung bei dem festmachen will, dem das Volk zugestimmt hat: „the intent to be arrived at is that of the people“. 321 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 19. Vgl. auch P. Kahn, Legitimacy and History (1992), 223: „Law exercises authority, even in the absence of a theoretically complete account of the legitimacy of that authority.“ Man kann es nur der nachträglichen, wohl auch unverzichtbaren Mythenbildung zuschreiben, wenn der SCt. in Martin v. Hunter’s Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304 (1816) 324, formuliert: „The Constitution of the United States was ordained and established, not by the states, in their sovereign capacities, but by the people of the United States.“ Die Hypothese einer Oktroyierung eröffnet aber der Rechtswissenschaft einen unverstellten Blick auf die Funktionsweise der Verfassung. Siehe zum Problem auch K. Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit (1971), 74; H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung (1977), 75 f.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Story322 meint: „The constitution . . . was submitted to the whole upon a just survey of its provisions, as . . . they stood in the text itself. . . . Nothing but the text itself was adopted by the people.“ Es handelt sich hier schlicht um den Versuch eines nachkonstitutionellen Verfassungsrechtlers, all die Behauptungen der Verfassungsväter über die Verfassung als Ergebnis eines Einigungsprozesses über zahlreiche Grundfragen endlich loszuwerden und damit zu beginnen, aus der Verfassung etwas Sinnvolles und Brauchbares werden zu lassen. Ob eine solche Prozedur aber sinnvoll und brauchbar ist, muss bezweifelt werden. Sehr viel mehr spricht für die konventionelle Ansicht, dass es in einem demokratischen System mit geschriebener Verfassung unzulässig ist, eine verfassungsrechtliche Behauptung aufzustellen, die sich nicht auf den Text der Verfassung in Bezug setzen lässt323. Überdies muss sich derjenige, der nach erfolgter Verfassungsgebung argumentativ auf den präkonstitutionellen Argumentationsstand zurückgehen und demokratietheoretisch argumentieren will, dem Einwand stellen, dass demokratisch organisierte Staaten zwar in aller Regel als gerechter angesehen werden als andere Staaten, dass sie aber auch tatsächlich ungerechter sein können, und dass diese Ungerechtigkeit nicht dadurch abgemildert werden kann, dass man die bestehende Verfassung durch eigene Verfassungsgedanken ersetzt. Beim Umgang mit der bestehenden verfassten Ordnung sollte man sich folglich nicht durch eine Suche nach ihrer Legitimität ablenken lassen, die im Endergebnis nie zu einem befriedigenden Ergebnis kommen kann324. Zurück zum zentralen Problem: Was heißt es also, es sei problematisch, dass das Verfassungsgericht Entscheidungen trifft, die den demokratischen Gesetzgeber binden? Es bedeutet zuerst einmal, dass es problematisch ist, eine Verfassung zu haben. Und wenn eine Verfassung und ein Verfassungstext existiert, dann lässt sich auch der Erkenntnis nicht ausweichen, dass kein Text ohne Interpretation verstanden werden kann. Ebenso offenkundig ist die Tatsache, dass die Überprüfung bzw. Revidierung von Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht nicht deshalb angegriffen wird, weil irgend jemand ernsthaft behauptet, das Parlament (allein) sei dazu berufen, die Verfassung auszulegen, ja nicht einmal, sie (demokratisch) anzuwenden. Das Parlament macht Politik – das ist seine Aufgabe. Wenn es sich mit der Verfassung beschäftigt, dann entweder rhetorisch-argumentativ oder prognostisch-vorsichtig mit Blick auf das Verfassungsgericht. Die Gerichte dagegen lösen Streitigkeiten, indem sie Rechtssätze an-

322 1 Commentaries on the Constitution of the United States (1833), 388 f.; vgl. auch Faitoute Iron & Steel Co. v. Asbury Park, 316 U.S. 502 (1942) und City of El Paso v. Simmons, Tex., 379 U.S. 497 (1965) 515: „The Constitution is intended to preserve practical and substantial rights, not to maintain theories.“ 323 Ähnlich, aber gerade für die USA meines Erachtens zu weitgehend: C. Sunstein, After the Rights Revolution (1990), 113: „In a democratic system, one with an electorally accountable legislature and separated powers, it is usually thought impermissible for courts to invoke considerations that cannot be traced to an authoritative textual instrument.“ 324 P. Kahn, Legitimacy and History (1992), 8 („and not be distracted by a search for legitimacy that cannot ultimately be satisfied.“).

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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wenden – das ist ihre Aufgabe. Dazu müssen sie Texte lesen und verstehen, sie müssen interpretieren. Und wenn sie die Verfassung in einer bestimmten Art verstehen, dann ist das die „Verfassung in Geltung“ für den konkreten Moment und für die zu entscheidende Streitfrage. Diese „Erkenntnis“ ist nichts Besonderes. Sie besagt lediglich, dass es keine Verfassung per se gibt; sie bringt zum Ausdruck, dass ein Text ohne Leser kaum mehr als Papier ist. Gerade in dieser Selbstverständlichkeit liegt eine wichtige Erkenntnis: nämlich die Notwendigkeit des Textes als Verständnisobjekt und seine Bedeutung als „Anhaltspunkt“ für Verstehen.

D. Die Filterfunktion der Verfassung Damit ist eine neue und nachhaltig weiterführende Perspektive eröffnet: Die kassatorische Funktion der Verfassungsgerichte ist kein Problem demokratischer Mehrheitsentscheidungen (der Parlamente) mehr, es ist auch keine Frage der Vernunft, mit der in den Anfängen des U.S.-amerikanischen Verfassungsstaates das Common Law gleichermaßen identifiziert wurde325. Mit dem Inkrafttreten der U.S.-amerikanischen Verfassung wird die kassatorische Funktion der Verfassungsgerichte mehr und mehr eine Frage dieser Verfassung selbst. Sie beseitigt das Common Law zwar nicht, aber sie tritt als feste Größe neben dieses Recht und drängt seine unbedingte Geltung zurück. Symptomatisch dafür sind die Ausführungen von John Marshall als Anwalt der Verteidigung in Ware v. Hylton326: 325 Roger Sherman, im Continental Congress (1774), zitiert in G. Wood, The Creation of the American Republic 1776 – 1787 (1969), 9: „The Colonies adopt the common law, not as the common law, but as the highest Reason.“ Diese Einschätzung lässt sich am Fall von Dr. Bonham gut darstellen; 1610 postulierte Sir Edward Coke im britischen Court of Common Pleas, dass ein Akt des Parlaments, der gegen Common Law und Vernunft verstößt, geschmacklos oder nicht umsetzbar ist, durch das Common Law kontrolliert und dieses ihn für nichtig befinden wird (Bonham’s Case [1610] 8 Coke’s Reports 114, 118: „when an act of parliament is against common right and reason or repugnant, or impossible to be performed, the common law will control it, and adjudge such act to be void“). In den USA wurde diese Auffassung das erste Mal 1761 im Writs of Assistance Case (Mass. 1761) praktiziert, als Justice Otis entschied, dass britische Offiziere keine Rechtsmacht haben, einen Durchsuchungsbefehl ohne genauere Bezeichnung des gesuchten Objekts zu vollziehen. Der Tatsache, dass dies gesetzlich nicht vorgeschrieben war, hielt er die Argumentation von Coke entgegen. Diese Präzedenzien erleichtern auch ein Verständnis der Entscheidung von John Marshall in Marbury v. Madison. Auf der gleichen Linie liegt K. Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit (1984), 24 ff. Auch für ihn haben die Gerichte die Rolle der Wächter der Verfassungsstaatlichkeit nicht alleine kraft Gesetzes, sondern – gerade angesichts der Causa von Dr. Bonham – ebenso kraft bewährter Tradition. Diese Begründung des Judicial Review hat einen etwas anderen „Klang“ im Argumentationsduktus. Marbury v. Madison erscheint jetzt nicht mehr so sehr als Anmaßung einer Kompetenz auf Judicial Review denn als Beschränkung dessen, was ein Judicial Review unter dem Maßstab des Common Law bedeuten würde: eine Beschränkung uneingeschränkter Überprüfung der Gesetze anhand der Vernunft. 326 3 U.S. 199 (Dall.) (1799) 211; Hervorh. v. Verf.

8 Schmitt Glaeser

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

„The legislative authority of any country can only be restrained by its own municipal constitution; this is a principle that springs from the very nature of society; and the judicial authority can have no right to question the validity of a law, unless such a jurisdiction is expressly given by the constitution.“

Die Forderung nach einer Einschränkung des Anspruches des Common Law kommt damit unmissverständlich zum Ausdruck, gerade auch im Blick auf den Judicial Review unter einer Verfassung. Aus anderer Perspektive verdeutlicht sich hier auch die Grundaussage in Marbury v. Madison327, nämlich dass die Überprüfung staatlichen Handelns unter einer Verfassung nicht mehr am Common Law möglich ist. Mit der Verfassungsgebung ist das Common Law als „höchste Vernunft“328 durch die Verfassung als „oberstes Recht“ abgelöst. Während sich ein unverfasster Staat der Vernunft (und damit allem Vernünftigen) zu stellen hat, um seine Legitimation zu wahren und zu verteidigen, hat ein Staat mit einer (geschriebenen) Verfassung seine Legitimation in der Verfassung, die idealiter gesehen die Vernunft positiviert. Darüber hinaus aber gilt die verfasste Ordnung ungeachtet der allgemeinen Vernunft als legitim. Im Verfassungsstaat kann daher das Problem der countermajoritarian difficulty die Legitimität der Verfassungsgerichte nicht mehr relativieren. Entscheidungen des Parlaments sind in einem Verfassungsstaat weder absolut noch sich selbst legitimierend; Gleiches gilt für Entscheidungen des Volkes in Abstimmungen. Auch parlamentarische Entscheidungen und Volksabstimmungen haben sich vielmehr vor der Verfassung zu legitimieren. Bei Ackerman ist das deutlich hervorgehoben, es liegt aber auch den Konzeptionen Bickels und Elys zugrunde. Gewiss ist die Legitimation dem Parlament durch die Bezugnahme auf „das Volk“ – gleichsam im Wege einer Vermutung – erleichtert. Geht es aber um die Richtigkeit einer konkreten Entscheidung aus verfassungsrechtlicher Sicht, dann kann die Richtigkeitsvermutung der Parlamentsentscheidung auf der Basis der Verfassung durch das Verfassungsgericht widerlegt werden. Selbstverständlich muss die verfassungsrechtliche Prüfung ihrerseits die besondere Rolle des Parlaments wiederum berücksichtigen, z.B. dadurch, dass dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt wird329. Diese besondere Rolle aber hat die Grundlage in der Verfassung und sie folgt weder aus dem allgemeinen Demokratiegedanken noch aus anderen Theorien330. Pointiert formuliert: Die Verfassung eines Staates entmachtet alle staatstheoretischen Konzepte (sei es durch Übernahme oder Ablehnung) und ersetzt sie durch praktische Konzeptionen, wie der verfasste Staat funktionieren soll. Man könnte auch sagen: Die Verfassung „filtert“ die Theorien und lässt lediglich solche Theorien oder Theorien nur insoweit „durchgehen“, als sie diese für praktisch funktionell hält. Das eigentliche Problem Dazu oben B. R. Sherman, a.a.O. (Fn. 321). 329 Vgl. etwa BVerfGE 3, 162 / 182; E 36, 174 / 189; E 54, 11 / 26 u. std. 330 Bei B. Ackerman (dazu oben) wird diese Erkenntnis allerdings „verschleiert“ durch die Möglichkeit von direkten Entscheidungen des Volkes. Denn auch sie müssen ja vom Gericht „verstanden“ und durchgesetzt werden. 327 328

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der Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit ist damit nicht dass, sondern was und wie das Gericht in einer bestimmten Situation entscheidet, d. h. ob die betreffende Entscheidung auf die Verfassung gestützt werden kann oder nicht. Der Gedanke, dass die Verfassung Theorien und Konzepte „filtert“, dass sie aus der unermesslichen Vielzahl von vernünftigen (möglichen) Entscheidungen eine bestimmte Anzahl herausheben und verbindlich machen soll, erscheint angesichts der Vielfalt an denkbaren Interpretationen des Verfassungstextes auf den ersten Blick allerdings wenig hilfreich. Gerade die Frage nach dem Telos der Verfassungsbestimmungen eröffnet nahezu unendliche Ressourcen für Entscheidungsfindungen. Die vielfältigen Möglichkeiten, Entscheidungen zu begründen, findet ihre Grenze allenfalls im Grad der Wahrnehmung des Interpreten331. Der Versuch, dieser Wahrnehmung allgemein verbindliche Grenzen zu setzen, wäre aber wiederum nur dann denkbar, wenn jeder dieselben Wahrnehmungen hätte und sie in identischen Termini ausdrückte. Gerade dies ist nicht der Fall. Es fehlt schon an einem hinreichenden Bewusstsein der Wahrnehmung; im Grunde weiß man gar nicht, was man alles wahrnimmt. Das (wohl früh-aufklärerische) Wunschbild einer blinden Justitia symbolisiert in Wahrheit ihr größtes Problem. Trotz all dieser gewichtigen Einwände lässt sich die Eignung der Verfassung als „Filter“ nicht ganz von der Hand weisen; denn die Verfassung, genauer: der Verfassungstext, ist jedenfalls ein Anknüpfungspunkt, ein erstes „Halteseil“ für den – wenn man so will – freischwebenden Interpreten. Gewiss bietet das Verfassungsgesetz oft kaum mehr als ein Wort oder einen Halbsatz; nicht selten findet sich überhaupt keine Textstelle, die ohne weiteres auf den zu entscheidenden Fall bezogen werden könnte. Die Textanknüpfung erscheint in einem solchen Fall als Ausfluss der Intuition oder des (bloßen) Willens des Rechtsanwenders. Man denke etwa an das Volkszählungsurteil, in dem eine der vorrangigen Aufgaben des BVerfG332 darin bestand, eine die Entscheidung bestimmende Norm erst zu bilden, genauer: zu kreieren. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrecht wird nicht aus dem Text, sondern vornehmlich aus technischen Erkenntnissen und psychologischen, politischen und soziologischen Erwägungen gewonnen333. Vergleicht man die Begründung des BVerfG mit dem Dissent von Justice Brandeis in Olmstead334, dann wird deutlich, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ebenso überzeugend aus Art. 14 GG hätte hergeleitet werden können, wenn das Gericht Art. 14 aus dem 331 L. Wittgenstein, Tractatus (1918), 5.632: „Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist die Grenze der Welt.“ 332 BVerfGE 65, 1. 333 Das Gericht (E 65, 1 / 42 f.) verweist auf die Möglichkeiten moderner Datenverarbeitung, auf den psychischen Druck, den die Möglichkeit von Einsichtnahme in persönliche Daten bewirken kann, auf Folgen für die Interaktionen mit anderen und für die möglicherweise gehemmte Bereitschaft, an politischen Prozessen in der Gesellschaft teilzunehmen. Näher dazu W. Schmitt Glaeser, HStR VI (20012), § 129, insbes. Rn. 76 ff. 334 Oben Kap. 2, 2. Abschn. A.

8*

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rein vermögensrechtlichen Kontext herausgelöst hätte335. Für die verfassungsrechtlichen Fragen bezüglich des Internets entwickelt sich eine ähnliche Problematik; gehören sie in den Bereich des Fernmeldegeheimnisses, der Rundfunk-, oder Meinungsäußerungsfreiheit oder soll man auch hier eine Verfassungsbestimmung „erfinden“? Es lässt sich vermuten, dass die Ergebnisse, ungeachtet der normativen Anknüpfung, ähnlich ausfallen werden. In jedem Fall dürfte die zukünftige Regulierung dieses Bereiches ganz wesentlich davon abhängen, welche Funktionen man dem Internet zuteilen will bzw. welche man in ihm angelegt sieht. Die Bestimmung muss in erster Linie von Kennern der Materie (nicht von Juristen) geformt werden. Damit ist man aber zugleich bei der Frage angelangt, welche Rolle Juristen in der Zukunft spielen werden und welche Rolle sie spielen sollen, wieweit sie sich auf dieses außerjuristische Fachwissen einlassen sollen und inwieweit sie ihm Referenz erweisen dürfen oder müssen. Die prinzipielle Problematik liegt in der Abgrenzung von Verfassung und Umgebung. Dabei kann man dem Grundsatz nach die Tatsache, dass die Praxis – wie geschildert – viele und vielfältige Elemente bei ihren Entscheidungen aus der „Umgebung“ heranzieht, für eine verbindliche oder zumindest überzeugende Methodik keineswegs per se als abträglich bezeichnen. Es kommt – wie oben schon deutlich gemacht wurde336 – vielmehr darauf an, wie die methodische Ausgangsfrage formuliert wird. Je nachdem was man aus der Verfassung herleiten will, erlangen jeweils andere Aspekte ihr je eigenes Gewicht. Es muss also geklärt werden, was Relevanz haben soll bzw. was dem Verstehen der Verfassung dienen darf. Nehmen wir als Beispiel die Relevanz psychologischer Gesetzmäßigkeiten. So arbeitet das BVerfG337 – wie gezeigt – bei der Konstituierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zentral mit den Auswirkungen, die das Wissen um die Möglichkeiten der Datenverarbeitung auf das Verhalten der Menschen hat. Ähnliches gilt hinsichtlich der schlechthin konstituierenden Rolle der Meinungsfreiheit für die Demokratie338 oder die Bedeutung der Wissenschafts- und Kunstfreiheit für die Schaffenskraft der Forscher und Künstler339. Auch die Unverletzlichkeit der Wohnung oder die Vertraulichkeit der Kommunikation wird ganz wesentlich von solchen psychologischen Überlegungen geprägt340. In all diesen Fällen wird zumin335 Und wenn es im Übrigen auf den Sinn abgestellt hätte, dem Einzelnen eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen; vgl. BVerfGE 30, 292 / 334; E 83, 201 / 208. 336 1. Kap. A. 337 E 65, 1 ff. 338 BVerfGE 7, 198 / 208 (Lüth). Gleiches lässt sich für die Presse-, Rundfunk-, und Filmfreiheit (E 20, 56 / 97) sowie die Informationsfreiheit (E 27, 71 / 81; E 35, 202 / 221) feststellen. 339 BVerfGE 35, 79 / 114: „Schlüsselfunktion“ für Selbstverwirklichung und für gesamtgesellschaftliche Entwicklung. 340 Dazu etwa W. Schmitt Glaeser, HStR VI (20012), § 129, Rn. 48 (für Wohnungsfreiheit), Rn. 61 ff. (für Brief-, Post-, u. Fernmeldegeheimnis); sowie G. Hermes, in: Dreier I (1996), Art. 10, Rn. 13 f., 16; Art. 13, Rn. 9 f.

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dest unterschwellig behauptet, dass nur eine bestimmte Selbstbeschränkung des Staates und eine dementsprechende Selbstregulierung den Menschen die notwendige Zuversicht gibt, ein gewünschtes Verhalten oder einen gewünschten Zustand erreichen zu können341. Die Gerichte arbeiten in diesen Fällen so gut wie nie auf der Grundlage psychologischer Gutachten, obwohl dies angesichts der Bedeutung derartiger Erwägungen nahe liegend, vielleicht sogar zwingend wäre. Jedenfalls werden auf diese Weise Gesetzmäßigkeiten fallentscheidend, die keinen erkennbaren Bezug zu dem Text der Verfassung besitzen. Diese Erkenntnis hatte im Übrigen sicherlich einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Strategie, die die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) mit Erfolg wählte, um den Supreme Court von seiner „separate but equal“-Linie abzubringen. Die ersten Verfahren vor Gerichten, die durch die NAACP vorbereitet und unterstützt wurden, hatten überdurchschnittlich oft die separate Ausbildung von Juristen zum Gegenstand342. In allen diesbezüglichen Entscheidungen des Gerichts wird deutlich, dass ihre eigene Sozialisation als Juristen die Bewertung des „separate“ als „un-equal“ beeinflusste. Sie wussten eben aus eigenem Erleben sehr wohl, dass es für die späteren Berufschancen nicht alleine darauf ankommt, wie gut die Ausbildung als solche ist, sondern auch, mit wem und wo man sie absolviert. Und es war ihnen auch aus eigener Erfahrung bekannt, dass ein junger Mensch nicht dieselbe Juristenausbildung wie andere erlangen kann, wenn er die Cafeteria der Universität nicht betreten darf, weil er die „falsche“ Hautfarbe hat. Im Kontext der Bezugnahme von Richtern auf Psychologie, Naturwissenschaften, ökonomische oder soziologische Regelhaftigkeiten, wird immer wieder der Vorwurf erhoben, die Juristen würden hier Sachverhalte beurteilen, für die sie nicht die nötige Sachkompetenz besitzen343. Nehmen wir das (scheinbar) eindeutige 341 Aufschlussreich z.B. der Verweis W. Löwers, in: v.Münch / Kunig I (20005), Art. 10, Rn. 1, auf das Diktum von R. Smend vom „Stück sittlich notwendiger Lebensluft für den einzelnen“ in Bezug auf die Meinungsfreiheit. 342 Missouri ex rel. Gaines v. Canada, 305 U.S. 337 (1938); Sipuel v. Board of Regents, 332 U.S. 631 (1948); Sweatt v. Painter, 339 U.S. 629 (1950); McLaurin v. Oklahoma State Regents, 339 U.S. 637 (1950). Vgl. hierzu auch. M. Tushnet, The NAACP’s Legal Strategy against Segregated Education, 1925 – 1950 (1987). 343 Originell, aber wenig realistisch, ist der Gedanke von B. Ackerman, Reconstructing American Law (1984), diese Problematik durch die Erweiterung des Berufsbildes des Juristen (der „activist lawyer“) aufzulösen. Die Möglichkeit einer Verbindung von Sach- und Rechtsverstand sieht er vor allem in der Informationstechnologie begründet (a.a.O., 66 ff.). Um den nötigen Über- und Einblick zu gewinnen, muss der Jurist nach Ackermans Dafürhalten die Möglichkeiten der Informationstechnologien nutzen, Statistiken analysieren und ökonomisches Wissen verarbeiten können. Diese Forderung nach dem cyber-improved super lawyer ist aber schlicht illusionär, zumindest solange, als der Computer allenfalls als „Fahrrad des Geistes“ bewertet werden kann. Um mit seiner Hilfe zu einem Universal-Juristen aufzusteigen, müsste dieser erst zum „Space Shuttle des Geistes“ entwickelt werden. Und so bleibt es dabei, dass der sachverständige Jurist für die „einfachen“ Juristen unverständlich und für die Sachverständigen in den meisten Fällen eine seltsame Kreatur mit seltsamen Ansichten über ihr Fachgebiet ist; vgl. dazu etwa G. Teubner, 23 Law&Soc.Rev. 727 (1989) 747 f.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Beispiel des § 1671 II Nr. 2 BGB344. Die Vorschrift bestimmt, dass das Familiengericht bei dauerhaft getrennt lebenden Eltern einem Elternteil allein die elterliche Sorge übertragen kann, wenn dies dem Kindeswohl am besten entspricht345. Es spricht viel dafür, dass das Familiengericht bei der Entscheidung einer solchen Fallkonstellation im Wesentlichen auf Kinderpsychologen angewiesen ist. Lässt sich das Gericht nicht entsprechend beraten, so liegt der Vorwurf einer Anmaßung mit entsprechender Fehlentscheidung nahe. Stellt man aber Überlegungen darüber an, was das Gericht eigentlich den Kinderpsychologen überlassen soll, dann entstehen vielfältige Zweifelsfragen. Was ist „Kindeswohl“ i.S.d. Gesetzes. Ist es einfach nur Glück im weitesten und unfassbarsten Sinne des Wortes, ist es primär Gesundheit, ist es Ausbildung, ist es Wohlstand? Welche Rolle spielt der Zusammenhang zwischen Übertragung der elterlichen Sorge an ein Elternteil und der Chance, dass die Eltern wieder zusammenfinden können? Es steht außer Frage, dass ein verantwortungsbewusstes Gericht hier Psychologen und Sozialarbeiter zu Rate ziehen sollte, um einen detaillierteren Eindruck von der Situation des Kindes, der Eltern und der Kind-Eltern-Beziehung zu gewinnen. Die Entscheidung aber darüber, wem die alleinige Sorge zu übertragen ist, bleibt letzen Endes im Wesentlichen von normativen Überlegungen abhängig346. Die Rechtsanwendung findet nun einmal im Kontext der Wirklichkeit statt und lässt sich nicht von der Umgebung des Rechts im formellen Sinn trennen. Wenn Bundesverfassungsrichter das Wissen aus Datenverknüpfungen für schädlich im Blick auf das verfassungsrechtlich angestrebte Freiheitsstreben der Menschen halten, könnte man ihnen nur dann Dilletantismus vorwerfen, wenn und soweit die Normierung der Relevanz solcher Zusammenhänge und die Feststellung des Vorliegens entsprechender Zusammenhänge nicht untrennbar mit „normaler“ Verfassungsanwendung verbunden wäre. Wenn der Staat die Umlenkung eines Flusses anordnet, kann dies ein enteignender Eingriff in die Rechtsposition eines Hafenbetreibers an der Mündung des Flusses sein, weil Wasser von oben nach unten fließt: eine naturwissenschaftlich-geologische Erkenntnis, die unmittelbar mit normativen Erwägungen verbunden ist. Gleiches gilt, wenn man Lügen anders als die Wahrheit beurteilt; dann wird vorausgesetzt, dass Menschen beides unterscheiden können: eine psychologische Frage. Viele „Tatsachen“ werden als normativ relevant angesehen und gehören dann auch zum Normativen als Gegenstand richterlicher Beurteilung. Andere „Tatsachen“ werden fingiert, sind damit normativ relevant, obgleich es sie nicht gibt. Manche Tatsachen schließlich werden negiert, weil es das Gesetz so „will“, und auch das ist rechtlich relevant (z.B. Art. 3 III GG). Auf der anderen Seite sind auch genaueste Kenntnisse zu Unterschieden von Geschlechtern, Rassen oder Kulturen keine GaHierzu H. Eidenmüller, JZ 1999, 43 / 57 f. Vgl. zur Abgrenzung von „natürlicher“ und juristischer Begriffsbildung auch K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (1977), 8 ff. 346 Diese normativen Vorgaben, also die Frage nach dem durch den Rechtssatz nahegelegten Telos der Übertragung der elterlichen Sorge auf ein Elternteil, wird z.B. von H. Eidenmüller, JZ 1999, 43 / 57 f., nicht hinreichend beachtet. 344 345

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rantie dafür, irgendjemand von eventuell sinnvollen Gleichbehandlungen zu überzeugen oder von unsinnigen Unterscheidungen abzuhalten. Die tatsächliche Welt, in der die Verfassung wirkt, ist für ihr Verstehen in jedem Aspekt relevant, vor allem weil das Recht aus der Um-Welt entsteht, weil es diese Um-Welt verändern oder bewahren soll. Überdies fließen die (richtigen oder falschen) Erkenntnisse über die Welt notgedrungen in jedes menschliche Denken und folglich auch in das juristische Arbeiten mit ein. Je nach Sachlage wird eigenes oder fremdes (sachverständiges) Wissen für die Entscheidung herangezogen. Hat man sich geirrt, dann ist es grundsätzlich unproblematisch, neue und andere Erkenntnisse zu berücksichtigen. Dieser Umgang mit der Realität mag fahrlässig erscheinen, er entspricht aber zwei grundlegenden Phänomenen über die Einbindung von Erkenntnissen über die Welt in das juristische Arbeiten. Zum einen ist das Verfallsdatum von Wahrheiten über die Welt nicht übermäßig lang. Realerkenntnisse ändern sich und sind daher nur eingeschränkt autoritativ. Zum anderen fordert das Recht eventuell auch eine Nicht-Beachtung bestimmter Realerkenntnisse347. Außerdem – und dies verbindet beide – sind auch Realerkenntnisse Interpretationen der Welt. Sie sind so gut wie immer Ergebnisse von Bemühungen der Realwissenschaften, die nicht nur Erkenntnisse, sondern immer auch Bekenntnisse generieren. Und gerade diese stehen nicht nur neben dem Recht, sie treten mit ihm in Konkurrenz. Eine Balance zwischen der notwendigen Einbeziehung von Wissen über die Welt und einer übermäßigen Ausrichtung der Rechtsarbeit an derartigem Wissen ist schwer herzustellen und zu halten. Welche Er- und Bekenntnisse dürfen für die Verfassung relevant sein und wann hat der Verfassungsjurist ihnen gegenüber Abstand zu wahren? In der Praxis tritt an dieser Stelle oft die Argumentationsfigur der Neutralität in Erscheinung. Die Praxis aktiviert den Gedanken der Neutralität vor allem bei umfassenden Ordnungen, insbesondere Religionen, politischen Gesamtkonzepten (vornehmlich Weltanschauungen) und Wirtschaftslehren. Die wirtschaftspolitische Neutralität stand z.B. im Mittelpunkt des Apotheken347 Es ist zwar richtig, wenn G. Teubner, 23 Law&Soc.Rev. 727 (1989) 745, feststellt: „In the world of nonlegal communication, legal constructs inevitably lose in this epistemic competition“. Diese Beurteilung hat aber kaum Relevanz, weil es in der „world of non-legal communication“ keine Konstruktion gibt, die nicht in irgendeiner anderen Kommunikation notwendig unterliegt. Dreht man den Satz um, dann ist er ebenso richtig: „In der Welt der rechtlichen Kommunikation unterliegen nicht-rechtliche Konstruktionen immer in diesem Wettbewerb“. Das jeweilige Gewinnen ist kein Gewinn. Setzt man für die Lösung eines Problems bei Erkenntnissen der Realwissenschaften an (etwa bei der Feststellung, dass Kernkraftwerke statistisch alle  Jahre in die Luft fliegen), dann ist kein rechtliches Argument in der Lage, den Bau eines Kernkraftwerkes als „richtig“ zu bezeichnen. Argumentiert man aber von Anfang an juristisch, dann kann man jedes Argument auf der Supraebene durch das Festlegen der Bedingungen seiner Relevanz und Tragweite „besiegen“. Damit sind wir aber beim Kern: Gerade darum kann es im Recht nicht gehen. Es ist für das Recht schlicht zu einfach, „jedes Spiel zu gewinnen“. Während alle nicht-normativen Wissenschaften durch die Notwendigkeit eines abschließenden „Ist-Satzes“ zum epistemischen Wettbewerb gezwungen sind, braucht die Jurisprudenz am Ende kein abschließendes „So ist es“ vorzuweisen; es genügt ein: „So soll es sein“.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Urteils348. Dort ging es um die in Art. 3 I Bay. Apothekengesetz (a.F.) normierte Beschränkung der Zahl von Apotheken, die in einer örtlichen Gemeinschaft zugelassen werden können; und es ging darum, ob man einen solchen Eingriff in die Gewerbefreiheit auf seine wirtschaftliche Richtigkeit überprüfen muss. Das Gericht verneinte; wegen der wirtschaftspolitischen Neutralität der Verfassung sei weder die wirtschaftspolitische Kohärenz, noch die Beachtung volkswirtschaftlicher Lehrmeinungen, noch die wirtschaftspolitische Auffassungen der Richter relevant. Das weite Ermessen des Gesetzgebers sei „nur aus Gründen des Grundrechtsschutzes“ einengbar349. Die Forderung nach Neutralität ist materiell-rechtlicher Natur. Der Verfassung wird entnommen, dass sie kein bestimmtes Wirtschaftssystem fordert350. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings bald, dass der Gedanke der Neutralität eher ein methodischer ist: Bestimmte Wirtschaftslehren sollen keine alleinverbindlichen Maßstäbe für das Verstehen der Verfassung sein. Gerade aus der Apothekenentscheidung ergibt sich aber auch eindeutig, dass die Grundrechte nicht jede Wirtschaftspolitik zulassen. Erkennbar wird dies etwa, wenn das BVerfG einen Konkurrentenschutz der bereits im Beruf Tätigen für ausgeschlossen hält351. Man kann noch weiter gehen und feststellen, dass sich mit den Grundrechten des GG nur bestimmte Arten von Wirtschaftspolitiken realisieren lassen. Auch Verfassungsprinzipien wie Sozialstaatsprinzip, Gewaltenteilung und Föderalismus schließen bestimmte Formen der Wirtschaftslenkung, insbesondere eine zentrale Planwirtschaft, ebenso aber auch eine rein liberale Wirtschaftsordnung aus. Wenn also die Forderung nach wirtschaftspolitischer Neutralität kein Lippenbekenntnis sein soll, dann muss dahinter der Gedanke stehen, dass Wirtschaftspolitik nur in bestimmten Aspekten eine Rolle beim Verstehen der einschlägigen Bestimmungen spielen darf. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Dissent von Justice Oliver Wendell Holmes in Lochner v. New York352, in dem die Forderung nach einer wirtschaftspolitischen Neutralität der Verfassung erstmals für die USA erhoben wurde. Für nichtig erklärt wurde eine New Yorker Verordnung, die die Arbeitszeit in Bäckereien auf 10 Stunden pro Tag oder 60 Stunden pro Woche begrenzte. Es ging um ein Bußgeld, das gegen den Bäcker Joseph Lochner verhängt worden war, weil dieser einen seiner Angestellten entgegen der Verordnung länger als 60 Stunden in der Woche arbeiten ließ. Lochner machte geltend, die Verordnung verstoße gegen das 14. Amendment, wonach es verboten ist, das Leben, die Freiheit oder das Eigentum ohne ein angemessenes Rechtsverfahren einzuschränken. In seinem Dissent in den Slaughterhouse Cases hatte Justice Field 348 BVerfGE 7, 377. Vgl. auch schon grundlegend die Entscheidung zum Investitionshilfegesetz: BVerfGE 4, 7, sowie E 50, 290 (Mitbestimmungsurteil). 349 BVerfGE 7, 377 / 400. 350 P. Badura, JuS 1976, 205; H. Hablitzel, BayVBl. 1981, 65, 100; E.R. Huber, DÖV 1956, 97, 137, 172, 200; R. Schmidt, in: HStR III (1988), § 83; ders., Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht (1998), § 2, 35 ff., insbes. 37 ff. mwN. 351 BVerfGE 7, 377 / 408. 352 198 U.S. 45 (1905).

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aus diesem Amendment das Recht hergeleitet, dass jedermann einem normalen Gewerbe oder einem normalen Beruf nachgehen und Verträge abschließen darf353. Justice Peckham führte für die Mehrheit in Lochner aus, dass der Versuch New Yorks, die Arbeitszeit für Bäckereien einzuschränken, notwendigerweise mit diesem Recht kollidiert. Folglich müsse es einen vernünftigen Grund dafür geben, hier die Vertragsfreiheit einzuschränken354. In Betracht gezogen wird eine mögliche gesundheitliche Schädigung als Rechtfertigung einer Begrenzung355, was aber im Ergebnis verneint wird, weil es keinen Grund gebe, Menschen (er nennt vor allem Ärzte, Juristen, Wissenschaftler, Athleten und Künstler) zu verbieten, „ihre Gehirne und Körper durch lange Stunden der Übung zu ermüden“356. Weil Lochner im Kontext einer Rechtsprechung steht, die durchaus Beschränkungen der Vertragsfreiheit kennt357, kann die Entscheidung nur so verstanden werden, dass die Arbeit in einer Bäckerei im Allgemeinen für nicht gesundheitsschädlich gehalten wird und daher der Gesetzgeber darlegen muss, dass im speziellen Fall eine solche Gefährdung gegeben ist358.

Oliver Wendell Holmes formuliert in seinem Dissent in Lochner359 ein Konzept, das in den Dreißiger Jahren zur Zerreißprobe zwischen dem Supreme Court unter Hughes und der Roosevelt-Administration führen sollte. Er meint, die Entscheidung des Gerichtshofes beruhe auf einer Wirtschaftstheorie, der ein großer Teil der Vereinigten Staaten nicht anhänge. Und er fuhr fort: „If it were a question whether I agreed with that theory, I should desire to study it further and long before making up my mind. But I do not conceive that to be my duty, because I strongly believe that my agreement or disagreement has nothing to do with the right of a majority to embody their opinions in law.“360 Für ihn ist es nicht der Sinn einer Verfassung, eine bestimmte Wirtschaftstheorie zu verkörpern, sei es Paternalismus und die organische Beziehung der Bürger zum Staat oder sei es ein laissez faire. Sowohl das Apotheken-Urteil als auch der Holmes-Dissent stützen sich dabei auf die Notwendigkeit, den demokratischen Repräsentativorganen Spielräume offenzuhalten. Deutlicher als beim BVerfG wird indes bei Holmes die methodische Problematik einer der Verfassung zugrunde gelegten Wirtschaftstheorie. Auch wenn er es in der oben zitierten Passage nur umschreibt – sein „starker Glaube“ ist Methode. Deutlich wird dies vor allem dann, wenn er sagt, es könne nicht der Sinn der Verfassung sein, eine bestimmte Wirtschaftslehre zu verkörpern. Prononciert ausgedrückt: die Verfassung darf nicht an die Interpreten der Wirklichkeit delegiert werden.

83 U.S. 36 (1872) 91 und passim. 198 U.S. 45 (1905) 57. 355 198 U.S. 45 (1905) 58 ff. 356 198 U.S. 45 (1905) 60. 357 Vgl. Holden v. Hardy, 169 U.S. 366 (1898) 391: „The right of contract, however, is itself subject to certain limitations which the state may lawfully impose in the exercise of its police powers.“ 358 198 U.S. 45 (1905) 53. 359 198 U.S. 45 (1905) 74 ff. 360 198 U.S. 45 (1905) 75. 353 354

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Neutralitätsüberlegungen gelten auch für andere Bereiche. In einer Passage der Kriegsdienstverweigerungs-Entscheidung des BVerfG von 1960361 heißt es: „Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an. So hat es folgegerecht in Art. 4 Abs. 1 die Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspricht, als ,unverletzlich‘ anerkannt. Auf diesem Grundsatz beruht auch Art. 4 Abs. 3 GG. Er hat die Gewissensfreiheit nicht nur zur allgemeinen (ideologischen) Voraussetzung. Er nimmt den Begriff des freien Gewissens wieder auf, erhebt ihn also zum eigenen normativen Bestandteil; . . .“

Hier wird der methodische Gedanke in Bezug auf die religiöse oder weltanschauliche Neutralität formuliert. Die Bestimmung von Bedeutung und (gutem) Gehalt des freien Gewissens wird aus denkbaren Ursprungskonzepten gelöst und auf die Verfassung bezogen bzw. in sie „eingebaut“. Der damit zum Ausdruck kommende methodische Vorgang hat seinen Ausgangspunkt in der Tatsache, dass die Verfassung im Kontext der Wirklichkeit steht und nur in diesem Kontext verstanden werden kann. Daher hat Art. 4 die Gewissensfreiheit nicht nur zur allgemeinen Voraussetzung. Die Gewissensfreiheit wird durch eine Rückführung auf das dahinter stehende Phänomen (das BVerfG spricht unglücklich von „Begriff“) neu vermittelt. Diese Neu-Vermittlung findet ihre Notwendigkeit darin, dass die Wirklichkeit den Kontext für viele Normsysteme darstellt, für Wirtschaftstheorie, Philosophie, Soziologie, Politik ebenso wie z.B. für Religion. Alle ziehen aus der Wirklichkeit ihre Erkenntnisse und Bekenntnisse. Wer die Verfassung interpretiert, der ermittelt auf der Grundlage der Wirklichkeit die Er- und Bekenntnisse der Verfassung. Dabei ist es grundsätzlich zwar hilfreich, die Erkenntnisse anderer Disziplinen zu berücksichtigen und die aus diesem fachspezifischen Wissen abgeleiteten Bekenntnisse wahrzunehmen, wobei es nicht darauf ankommt, ob die verschiedenen Denksysteme per se normative Ansprüche erheben oder ob sie solche nur nahe legen. Sobald sie aber in die Verfassungsinterpretation eingebunden werden, werden sie normativ aufgeladen. So enthält z.B. die Evolutionstheorie keine Handlungsorientierungen; beurteilt man aber auf ihrer Grundlage die Zulässigkeit von Einsparungen im öffentlichen Gesundheitswesen bei Blutern oder Geisteskranken, dann wird sie zu einem Rechtsbekenntnis. Dass man diese Ideologie so im Verfassungsrecht nicht wirken lassen darf, wird heute kaum Widerspruch finden. Ein Grund für diese Abweisung lässt sich freilich schwer finden; schließlich wird die Evolutionstheorie ja nach wie vor als richtig angesehen. Dagegen wird die Genesistheorie der jüdisch-christlichen Religionen als unwissenschaftlich (und daher überwiegend als falsch) eingeschätzt; gleichwohl entspricht es dem heutigen Verfassungsbekenntnis weit mehr, das daraus hergeleitete Bekenntnis zum Wert jedes Menschen kraft seiner Gottgewolltheit der Verfassungsinterpretation zugrunde zu legen. Welche Elemente des Verfassungs-Umfeldes362 also in das Verstehen der E 12, 45 / 53 f. Bei D. Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur (19503), 92 ff., findet sich in diesem Zusammenhang der Begriff der sozialen Ambiance. 361 362

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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Verfassung einfließen können, scheint kaum von der „Richtigkeit“ der betreffenden Elemente abzuhängen363. Die Problematik der Berücksichtigung von Umfeld-Erkenntnissen wird besonders deutlich bei der schon angeführten Entscheidung des Supreme Court in Plessy v. Fergusson. Justice Brown argumentiert, es liege in der „Natur der Sache“, dass Unterscheidungen nach der Hautfarbe nicht verboten sind, dass es nicht das Ziel der Bürgerkrieg-Amendments ist, die soziale Gleichheit der Angehörigen verschiedener Rassen zu verwirklichen. Ganz wesentlich erscheint ihm die Tatsache, dass viele Menschen nicht mit Menschen anderer Hautfarben zusammen leben wollen364. Hier wird eine Erkenntnis über die amerikanische Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts formuliert, die man kaum bestreiten kann. Mehr noch muss – bei allen Bedenken – zugestanden werden, dass es eine Erkenntnis ist, die ein Richter zu dieser Zeit berücksichtigen konnte. Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts hätte eine erzwungene Desegregation sicherlich zu großen Spannungen in einer Gesellschaft geführt, in der bestimmte Ethnien von der unbeschränkt dominierenden „weißen“ Bevölkerung als minderwertig betrachtetet wurden. Noch 1957 sah sich Präsident Eisenhower genötigt, Bundestruppen einzusetzen, um die Desegregation in der Central High School von Little Rock (Arkansas) durchzusetzen. Ähnliches kann man über ein wirtschaftsliberales Ordnungsmodell, über die Überzeugung von der Richtigkeit einer Orientierung des Staates an den Glaubenssätzen einer bestimmten Religion oder über die Wertigkeit der Umwelt sagen. Manche dieser Bewertungen haben sich heute aufgrund von tatsächlichen Entwicklungen geändert. Soziale Modifikationen einer freien Wirtschaft erscheinen angesichts des gewandelten Anspruchsdenkens der Menschen als unabdingbar, die Profanisierung der westlichen Industriegesellschaften lässt an der Geeignetheit einer christlichen Orientierung des Staates zweifeln, und die Zunahme der Umweltzerstörung erzwingt eine neue Einstellung gegenüber den natürlichen Lebensgrundlagen. Man weiß heute auch, dass Frauen immer auch Juristen hätten sein können und dass ein Arbeitsloser einen Vertrag kaum frei verhandeln kann, ein neues Wissen, das die alten Überzeugung als Irrtum erscheinen lässt. Die vielen Irrtümer und die vielen Veränderungen zwingender Bedingungen machen es für die Methodik der Verfassungsinterpretation erforderlich, den gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, politischen und den vielfältigen anderen Kontexten des Rechts einen Platz zuzuweisen, gleichzeitig aber die Verfassung vor einer dauerhaften Beeinflussung durch diese Bedingungen zu schützen, d. h. eine zu enge Ideologisierung zu verhindern. Gerade hier liegt das Problem der Argumentation von Justice Brown. Er beschränkt sich nicht darauf, der Legislative die Kompetenz zuzugestehen, aus der Erkenntnis, dass viele „Weiße“ nicht mit 363 Vgl. F. Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches (1878), Bd. I, IX, Aph. 517: „Es gibt keine prästabilisierte Harmonie zwischen der Förderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit“. 364 163 U.S. 537 (1895) 544.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

„Schwarzen“ im selben Abteil sitzen wollen, politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Darüber hinaus konstatiert er, dass die unterschiedlichen Rassen nur dann unter den Bedingungen sozialer Gleichheit leben können, wenn sie es wollen, wenn sie gegenseitig ihre Verdienste anerkennen365. Hier wird eine mögliche und auch durchaus vernünftige soziologische Schlussfolgerung aus den sozialen Tatsachen einer rassistischen Gesellschaft gezogen. Eine soziale Organisation könnte auf diesem Bekenntnis aufbauen und entweder auf eine bessere Ausbildung von ehemaligen Sklaven oder Einwanderern hinwirken oder in weißen Country Clubs Vorlesungen über die Errungenschaften afrikanischer Kultur organisieren. Problematisch wird es aber, wenn die Verfassung selbst einem derart eng gefassten soziologischen Bekenntnis unterworfen wird. John Marshall Harlans Dissent legt den Finger auf diesen Schwachpunkt der Argumentation, wenn er fragt, was gelten solle, wenn ein Schwarzer und ein Weißer zusammen reisen wollen366. Die Möglichkeit einer solchen Durchbrechung der sozialen Gesetzmäßigkeit wird von Brown nicht in die Verfassungsauslegung einbezogen. Harlan zeigt, dass mit dem Verbot des gemeinsamen Reisens eben nicht nur eine soziale Erkenntnis (Abneigung der Rassen untereinander) umgesetzt, sondern ein soziales Bekenntnis (Apartheid) von staatlicher Seite her sanktioniert wird. Fragt man überdies, warum ein schwarzer und ein weißer Passagier zusammen reisen wollen, dann kommen viele Möglichkeiten in Betracht: ökonomische (Geschäftsbesprechung), psychologische (Liebe), biologische (sexuelle Anziehung), religiöse (Alle sind Gottes Kinder und folglich gleich), philosophisch-politische (Demonstration für die Gleichheit der Rassen). Alle diese Gründe für gemeinsames Reisen hätten Justice Brown wohl ebenso zur Leitschnur dienen können wie der soziale Grund, den er wählte. Nur vordergründig ist die soziale Betrachtung objektiver als eine schon von vorneherein normative367. Die Problematik einer Anknüpfung an soziologische Bekenntnisse wird schließlich auch in der Entscheidung des Supreme Court Brown v. Board of Education368 offenkundig. Das Gericht meint in diesem Fall, dass eine getrennte Erziehung nicht „gut“ ist. Es hat (wahrscheinlich369) Recht, aber warum ist sie nicht gut? Und 163 U.S. 537 (1895) 551. 163 U.S. 537 (1895) 557. Dass Justice Harlan die Wahl der Menschen gegen eine soziologische Grundlegung der Interpretation der Verfassung anführt, verweist auch auf seine Neigung zu einer ökonomischen Sicht des Rechts, in der die rationale Auswahl von Handlungsalternativen große Bedeutung hat. 367 Vgl. P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft I (1983), 130: „In allen Naturalismen stecken Ansätze zu Ordnungsideologien. Jeder Naturalismus beginnt als unfreiwillige Naivität und endet als gewollte.“ Man darf die Ordnungsstruktur des Verstandes für die Natur der Sache nicht ausblenden, um nicht engstirnig zu werden. Gerade die „modernen Naturalismen“ (Sloterdijk) wie Rassismus und Sexismus können hier der Anschauung dienen. 368 347 U.S. 483 (1954). 369 Es sei nur am Rande vermerkt, dass die getrennte Erziehung von afroamerikanischen und „weißen“ Kindern (wie die von jungen Frauen und Männern) immer wieder auch von gutwilligen Stimmen gefordert wird, um der jeweils benachteiligten Gruppe die Möglichkeit zu geben, „unter sich“ eine Identität zu bilden, die es ihnen ermöglicht, in der größeren (rassistischen oder sexistischen) Gemeinschaft ihren Eigenwert zu behaupten. 365 366

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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warum soll sie von Verfassung wegen nicht gut sein? Weil sie religiösen, soziologischen, ökonomischen, psychologischen oder anderen Erkenntnissen nicht entspricht oder gar widerspricht? All diese Erwägungen können Entscheidungen tragen; mehr noch: es ist notwendig, solche Erkenntnisse bei Entscheidungen heranzuziehen, um dem mehr oder minder alten Verfassungstext einen Sinn zu geben, der den Menschen, die heute „unter“ ihm leben, die Aneignung und Akzeptanz zu ermöglichen. Die Berücksichtigung wird umso notwendiger, je mehr Betätigungsfelder der moderne Verfassungsstaat sich erschließt und je intensiver er sich in der planenden Gestaltung sozialer Gegebenheiten engagiert. Die wachsende Notwendigkeit der Berücksichtigung ökonomischer, psychologischer, soziologischer oder ökologischer Erkenntnisse entsteht dabei auch aus der Tatsache, dass der Verfassungstext in Relation zu einer vielgestaltig-überbordenden Umwelt immer knapper wird. Überdies entstehen mit zunehmendem Alter der Verfassung immer mehr Bereiche, die die Verfassung nicht „bedacht“ hat. Als Beispiele sei hier nur wieder auf die moderne Datenverarbeitung oder das Internet verwiesen. Ohne Zweifel bedarf es also einer erweiterten Sicht des Verfassungsrechts. Gerade Plessy v. Ferguson zeigt aber auch die Gefahr, dass eine solche erweiterte Verfassungssicht falsche (oder allein aktuell richtige) Erkenntnisse integriert, d. h. den Zeitgeist verabsolutiert370. Aus der „Aneignung“ der Verfassung durch die gegenwärtige Verfassungs-Generation darf keine „Enteignung“ der nächsten werden. Daher ist es nicht ausreichend, Erkenntnisse und Bekenntnisse, die dem aktuellen Verstehen der Verfassung dienen sollen, nur auf ihre (gegenwärtige) Richtigkeit und Gerechtigkeit zu überprüfen; sie müssen vielmehr in die Interpretation der Verfassung und ihren Text eingebunden und damit relativiert werden371. Hier greift der Gedanke der Neutralität, der das eigentliche Anliegen freilich nur im Ansatz und damit unzureichend erkennen lässt. Es geht nicht allein und nicht in erster Linie darum, gegenüber Er- und Bekenntnissen der „Umgebung“ neutral zu sein, sondern es geht vor allem darum, ihnen gegenüber (verfassungs-)parteiisch zu sein, sie so auf den Verfassungstext auszurichten, dass die konkreten Schlussfolgerungen als Interpretation, als derzeitiges Verstehen der Verfassung erscheinen und damit gewährleistet ist, dass es den Menschen in einer anderen Zeit und unter anderen Umständen immer wieder möglich wird, ihre eigenen und neuen und vielleicht ganz anderen Erkenntnisse und Bekenntnisse beim Verstehen ihrer Verfassung fruchtbar werden zu lassen.

370 In diesen Fällen kann man mit Adolf Menzel, Naturrecht und Soziologie (1912), davon sprechen, dass die Soziologie eine Funktion übernimmt, die im 17. und 18. Jahrhundert das Naturrecht ausübte. 371 Hier kann auf den Grundgedanken F. C. v. Savignys, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (18403), 30, verwiesen werden, der vor der großen Gefahr warnt, die besteht, „wenn der Zustand einer sehr mangelhaften unbegründeten Kenntniß durch äußere Autorität fixiert wird“, und die mit der Bedeutsamkeit der Entscheidung wächst.

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2. Kap.: Praxis und Verstehen der Verfassung

Hier liegt auch die Problematik der „neutral principles“, die Herbert Wechsler372 als allein-gültige Standards verfassungsgerichtlichen Entscheidens propagiert: „A principled decision, in the sense I have in mind, is one that rests on reasons with respect to all the issues in the case, reasons that in their generality and their neutrality transcend any immediate result that is involved. When no sufficient reasons of this kind can be assigned for overturning value choices of the other branches of government or of a state, those choices must, of course, survive“373. Betrachtet man seine Kritik an Brown v. Board of Education374, dann fällt zunächst auf, dass er „separate, but equal“ als ein neutrales Prinzip ansehen würde (er sagt dies aber nicht ausdrücklich). Und er sieht auch das Argument des Supreme Court in Plessy v. Ferguson375 keineswegs als völlig abwegig an, Separation sei nur dann ein Mal der Unterlegenheit (badge of inferiority), wenn die Afroamerikaner dies so empfinden. Damit wird zunächst deutlich, dass es Wechsler nicht darum geht, generell richtige Entscheidungen zu gewährleisten. Wenn dem aber so ist, dann fragt man sich, warum neutrale Prinzipien besser sein sollen als willkürlich bestimmte, ganz und gar auf den Einzelfall bezogene „Aspekte“. Hinzu kommt noch, dass es in der Logik von Wechsler liegen würde, es gutzuheißen, wenn der Supreme Court heute wieder auf die „separate, but equal“-Formel zurückschwenkte. Denn bis zum heutigen Tage hat sich kein „neutrales Prinzip“ durchgesetzt, das auf Rassenfragen Anwendung finden würde; denn die Anerkennung von affirmative action und Gleichbehandlung lässt sich wohl nie auf ein neutrales Prinzip zurückführen. Wechsler schlägt vor, in Bezug auf Rassen-Fragen das Prinzip freier Vereinigung zu wählen, ein Prinzip, das Harlan schon in seinem Dissent zu Plessy anführte. Als Begründung führt Wechsler an, mit diesem Prinzip könne man auch das Verbot rassisch getrennter Wohngebiete und die Gestattung von Mischehen argumentativ befriedigend lösen. Dieses Prinzip passt aber nicht für den Ausgleich von traditionellen Benachteiligungen. Im Ergebnis erklärt Wechsler seine Konzeption selbst für ungeeignet, wenn er eingesteht, dass seine Interpretation der Verfassung im Wesentlichen rückblickend erfolgt376: Damit wird deutlich, dass seine neutralen Prinzipien am Ende nur argumentative Verallgemeinerungen willkürlich in Zusammenhang gebrachter konkreter Zeitgeistbetrachtungen sind. Man kommt hier wieder zum Grad der Wahrnehmung, der oben als einzig verlässliche Grenze der Interpretation bezeichnet wurde377. Eine „Anekdote“ in der Schrift von Herbert Wechsler, die wohl der Unterstützung seines Prinzips der freien Vereinigung dienen soll, In: Principles, Politics, and Fundamental Law (1961), 3. Ebda., 27. 374 347 U.S. 483 (1954). 375 163 U.S. 537 (1896) 551. 376 A.a.O., 26 f. 377 Vgl. dazu auch Chr. Gößwein, Allgemeines Verwaltungs(verfahrens)recht der administrativen Normsetzung (2001), 1: „Gegenstand und Kreationsmöglichkeiten . . . finden in der Zeit eine logische Beschränkung ihrer Wahrnehmbarkeit; aber auch Grenzen ihrer Mitteilbarkeit“. 372 373

3. Abschn.: Theorie der Praxis

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ist insoweit besonders bezeichnend. Er berichtet, dass er im Verlaufe einer Verhandlung vor dem Supreme Court in Washington D.C. (dessen Gebäude in einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Stadtteil liegt) darunter litt, dass er in der Verhandlungspause bis zur Union Station laufen musste, um essen zu können, weil es nur dort Restaurants „für Weiße“ gab. Ein Anwalt des 19. Jahrhunderts hätte aber wahrscheinlich nicht darunter gelitten, sondern darunter, dass er zur Verhandlung in einen überwiegend von Schwarzen bewohnten Stadtteil gehen muss. Und es gab Zeiten in der jüngeren Geschichte der USA, in denen Teile der afroamerikanische Bevölkerung darunter „gelitten“ hätten, dass weiße Anwälte durch „ihre“ Stadtteile laufen. Die „Wahrheiten“ ändern sich. Die Filterfunktion der Verfassung stellt sich nach alledem nicht als ein „Sieb der Auslese“ dar. Es kann nicht darum gehen, bestimmte Resultate der Vernunft des Menschen auszuschließen und andere in Verfassungsrang zu erheben. Vielmehr müssen alle vernünftigen Überlegungen, die im Zusammenhang mit realen Problemen angestellt werden, auf die Verfassung bezogen und damit eingebunden werden. Die Problematik von Verfassung und Umgebung ist damit keine Frage der Abgrenzung, sondern eine Aufgabe der Zuordnung, und zwar einer Zuordnung in der Zeit. Diese Aufgabe fordert ein gedankliches Verfahren, und das heißt: eine Methodik.

3. Kapitel

Die Eignung methodischen Vorgehens für die Rechtsanwendung Vom Wortursprung her ist Methodik die Lehre von einem planmäßigen und folgerichtigen Verfahren. Vorhersehbarkeit und Nachvollziehbarkeit sind seine zentralen Elemente. Wie schwierig es ist, diesen Geboten Rechnung zu tragen, hat sich in den vorstehenden Kapiteln unter den verschiedensten Perspektiven erwiesen. Auch die Canones der Auslegung, wie sie Savigny als Klassifikationen der möglichen Auslegungsprozesse erarbeitet hat1, können kaum weiterhelfen. Eine gewisse „Verbindlichkeit“ der einzelnen Auslegungsmethoden lässt sich zwar nicht leugnen. In ihrer Gesamtheit führen sie dem Rechtsanwender die möglichen Aspekte einer gewissenhaften Rechtsinterpretation vor Augen und helfen, einer Vermengung unterschiedlicher Aspekte vorzubeugen. Die Wortauslegung richtet sich vor allem auf den Rechtssatz als Text, die historische Auslegung sowohl auf historische Präzedenzen als auch auf die Ideen, die der Textwahl zugrunde gelegt werden könnten, die systematische Auslegung soll den Sinn ermitteln helfen, die die Textumgebung nahe legt, und die teleologische Auslegung schließlich richtet sich auf die Erkenntnis von Ideen hinter der Textwahl, auf Ideen, die sich aus dem Text herleiten lassen sowie auf verschiedene Erkenntnisse und Bekenntnisse, die für die Auslegung von Relevanz sein könnten. Aber schon das Verhältnis der verschiedenen Methoden zueinander bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Sowohl die Theorie als auch die Praxis des Verstehens der Verfassung haben diese Schwierigkeiten sehr deutlich erkennen lassen. Soweit überhaupt nach einer Rangfolge der Canones gefragt wird, ist eine h.M. in dieser Frage nicht auszumachen2. Die Diskussion befasst sich meist nicht mit der Rang-, sondern mit der Reihenfolge. Dies ist angesichts des klassifikatorischen Charakters des Auslegungskanons auch naheliegend. Der Begriff der Reihenfolge legt die Vorstellung nahe, es gehe darum festzulegen, in welchem Ablauf man stufenweise zur Erkenntnis des geltenden Rechts für einen konkreten Fall gelangt. Eine derartige Aufgabenstellung wirft freilich mehr Fragen auf als sie zu beantworten vermag. Denn die Suche nach dem geltenden Recht kann nicht sinnvoll vorgenommen werden, bevor man nicht weiß, was das geltende 1 System des heutigen römischen Rechts I (1840), 212 ff. Er unterschied grammatische, logische, historische und systematische Methode. Savigny wollte seine Methodik nicht auf das Staatsrecht angewendet wissen (69). 2 Vgl. dazu M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (19762), 85 ff.; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 124 ff.; K. Larenz, Methodenlehre (19916), 345; Chr. Graf v. Pestalozza, in: Der Staat 2 (1963), 425 / 433.

3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

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Recht sein soll. Karl Engisch3 fordert daher, dass es „tiefer gehender Gesichtspunkte [bedarf], um jeder Auslegungsmethode ihr relatives Recht und ihren besonderen logischen Ort zuzuweisen“. Damit wird nicht mehr, aber auch nicht weniger gesagt, als dass die Methoden des Rechts erst dann verbindlich werden, wenn Klarheit darüber besteht, was mit ihnen erreicht werden soll. Ist also der tiefer gehende Gesichtspunkt das eigentlich Verbindliche oder doch jedenfalls der Maßstab der Auslegung, und sind die Auslegungsmethoden dagegen eher Techniken, um diese tiefer gehenden Gesichtspunkte zur Entfaltung zu bringen? Tatsächlich haben unsere bisherigen Analysen und Überlegungen deutlich werden lassen, dass die Diskussion über den Maßstab der Interpretation zwar im Rahmen der verschiedenen Auslegungsmethoden geführt wird, diese Methoden aber wenig eigenständige Bedeutung gewinnen, sondern mehr zur Bestätigung des vorher schon festgelegten Maßstabs benutzt werden. Allerdings scheint es auf den ersten Blick immerhin einen Fixpunkt jeglicher Auslegung zu geben, der wie ein Fels aus der Brandung ragt: die Verbindlichkeit des Wortlautes. Zwar ist auch diese Verbindlichkeit keineswegs absolut4, sie dürfte aber doch eine weithin strikte Verbindlichkeit sein. Die Methode der Wortlautauslegung dient dem Zweck, den Wortsinn zu ermitteln. Wortsinn ist nach Karl Larenz5 die „Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Wortverbindung im allgemeinen Sprachgebrauch oder, falls ein solcher feststellbar ist, im besonderen Sprachgebrauch des jeweils Redenden, hier in dem des betreffenden Gesetzes“. Die Auslegung nach dem Wortlaut vereint zwei Anforderungen: Erstens, dass jede Auslegung mit der Ermittlung des Wortsinns zu beginnen hat6; zweitens, dass der Wortsinn als (freilich permeable) Grenze der Interpretation festgelegt wird. „Der Wortlaut . . . ist Ausgangspunkt für die richterliche Sinnermittlung und steckt zugleich die Grenzen seiner Auslegungstätigkeit ab.“7 Mit diesen beiden Konkretisierungen ist der normative Gehalt aber noch nicht erschöpft. Weitere Normen, die in der Positivierung ihre Grundlage finden, sind die Maßgeblichkeit des Sprachgebrauchs zur Zeit der Entstehung des Gesetzes8 und die vorrangige MaßgeblichEinführung in das juristische Denken (1977), 104. Jedenfalls in Fällen, in denen eine Fixierung auf den Wortlaut zu eklatanten Ungerechtigkeiten oder Unsinnigkeiten führen würde, muss der Wortlaut zurücktreten. Vgl. etwa Sturges v. Crowninshield, 17 U.S. (4 Wheat.), 122 (1819) 202 f.: „. . . if, in any case, the plain meaning of a provision, not contradicted by any other provision in the same instrument, is to be disregarded, . . . it must be one in which the absurdity and injustice of applying the provision to the case would be so monstrous that all mankind would, without hesitation, unite in rejecting the application“. Vgl. auch Dartmouth College v. Woodward, 17 U.S. (4 Wheat.), 518 (1819) 644 f.: „The case being within the words of the rule, must be within its operation likewise, unless there be something in the literal construction, so obviously absurd or mischievous, or repugnant to the general spirit of the instrument, as to justify . . . an exception“. 5 Methodenlehre (19916), 320. 6 K. Larenz, Methodenlehre (19916), 321. 7 A. Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber (1951), 42. 8 K. Larenz, Methodenlehre (19916), 323. 3 4

9 Schmitt Glaeser

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

keit eines besonderen Sprachgebrauchs, insbesondere des juristischen Sprachgebrauchs9. Maßgeblichkeit soll hier allerdings nicht als Verbindlichkeit verstanden werden. Wenn der Wortlaut als vorrangiger Bezugspunkt der Interpretation bezeichnet wird, dann läge es eigentlich nahe, die Canones insgesamt einer Hierarchie zu unterstellen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass man „das Wort so hoch unmöglich schätzen“ kann, dass die Frage nach dem Wortsinn vielmehr in jedem Canon aufscheint, die Canones also verschiedene Aspekte des Verstehens von Sätzen ansprechen. Dazu gehört immer das Verstehen des Kontextes. So, wie man Sätze des täglichen Gebrauchs zunächst auf ihren Charakter als Frage, Aussage oder Forderung untersucht, so muss man einen Rechtssatz zunächst als normativen Satz verstehen, also einen Satz, der besagt, dass etwas sein soll. Was sein soll, ergibt sich aus einem Bezug des Rechtssatzes auf andere Rechtssätze und das Anwendungsgebiet. Damit hat man die Ebenen der Systematik, der Historie und der Teleologie erreicht. Diese „Labilisierung“ des Textes wird auch erkennbar, wenn das BVerfG10 für die „Offenheit“ des Verfassungstextes eintritt und diese aus dem Sinn der Verfassung herleitet. Damit wird vor allem dem Telos eine Schneise geschlagen: der Sinn, der in die Verfassung hineingelegt wird, ist der Maßstab ihres Verständnisses; es wird konstruiert, nicht interpretiert11. Dies sind freilich zunächst nur Worthülsen. Wenn im Englischen „interpretation“ und çonstruction“ synonym verwendet werden, dann wird damit deutlich, dass es nicht darauf ankommt, ob man interpretiert oder konstruiert – entscheidend ist vielmehr, dass man versteht; und verstehen kann immer nur die einzelne Person. Hierin ist auch der tiefere Grund dafür zu sehen, dass es – jedenfalls bei der Verfassungsinterpretation – nicht mehr darum gehen kann, die einzig richtige Entscheidung zu finden. Tatsächlich gibt es sie nicht, so dass Rechtsanwendung notwendigerweise mit Gestaltungsspielraum einhergeht. Recht kann nicht in der Art eines Computerprogramms funktionieren. Die Anordnungen bedürfen der Interpretation durch Menschen und die vielfältigen Unbestimmtheiten, die jeder Rechtssatz beinhaltet, bedürfen der kreativen Arbeit der Juristen. Ungeachtet dessen muss Recht gerade auch durch die Personen befolgt werden, die es anwenden. Daher darf die Anerkennung von interpretatorischen Freiräumen nicht dazu führen, dass das Recht seine steuernde Wirkung verliert. Damit spitzt sich alles auf die Frage zu, wie sich die zur materiellen Rationalität neigende Rechtsarbeit an das Recht anbinden lässt. Das radikalste, dabei aber auch „logischste“ Mittel ist das Interpretationsverbot, der Versuch also, den Juristen auf die Rolle zu reduzieren, „que la bouche de la loi“ zu sein. In dieselbe Richtung K. Larenz, Methodenlehre (19916), 324. E 62, 1 / 45 (Bundestagsauflösung): „. . . [D]ie . . . [Interpretation] der Verfassung [hat] mit dem Problem der Offenheit des Normtextes zu tun, weil die Verfassung der aufgegebenen politischen Einheit des Staates zu dienen bestimmt ist . . .“; Hervorh. v. Verf. 11 Im Englischen dient das Wort çonstrue“ der Bezeichnung von Auslegung juristischer Texte. Vgl. auch R. Posner, 72 Va.L.Rev. 1351 (1986) 1360. 9

10

1. Abschn.: Aufgabe einer juristischen Methodik

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geht der Rechtspositivismus. Das Anliegen der Neutralisierung des Interpreten teilt sich der puristische Demokrat12 mit dem Herrscher von Gottes Gnaden; beiden geht es darum, der legitimen Herrschaft auch dort Geltung zu verschaffen, wo sie nicht mehr wirken kann: in der alltäglichen Ausübung von Macht. Denn genauso wie der Wille des Herrschers in der tagtäglichen Verwaltung des Staates nicht mehr exakt umgesetzt werden kann, sich gleichsam natürlicherweise auflöst, werden auch die Gesetze in der alltäglichen Rechtsarbeit mit neuen Inhalten angereichert und verändert. Der Rechtspositivismus kann daher sein Ziel nicht erreichen. Der „Mund des Gesetzes“ lässt sich vom „Mund des Interpreten“ nicht trennen, und letztlich geht es doch allemal um Sinnermittlung, die gewiss auf das Gesetz bezogen sein muss, aber in diesem Bezug vom Sinnverständnis des Interpretierenden nicht gelöst werden kann. Die Frage ist nur, inwieweit es gelingt, dieses Sinnverständnis des Rechtsanwenders zu disziplinieren, und das ist eben die Frage nach der Rolle der Methodik und danach, was ihre Aufgabe ist, was man von ihr erwarten kann, was sie zu leisten vermag.

1. Abschnitt

Aufgabe einer juristischen Methodik Die juristische Methodik befasst sich mit Rechtssätzen. Sie muss erkennen helfen, welche Aussagen über das Recht für juristische Operationen anwendbar sind und welchen Inhalt sie haben. Ausgangspunkt der Methodik ist damit dem Grundsatz nach alles, was dem Rechtsanwender an Behauptungen über das Recht angeboten wird und was er selbst als Behauptungen in die Überlegungen einstellen kann. Darunter fällt vieles: Aussagen in Gesetzbüchern, in anwaltlichen Schriftsätzen, in früheren Urteilen, in juristischen, historischen, soziologischen und anderen Büchern, nicht zuletzt auch das Verhalten von Menschen, soweit konkludent behauptet wird, dass es rechtsrelevant ist. Auswahl und Inhaltsbestimmung lassen sich dabei kaum voneinander trennen. In dem Moment, in dem eine bestimmte Rechtsfrage entschieden werden muss, wird auch Alltägliches rechtlich relevant. Schon der Ausschluss von möglichen Elementen des Erkennens ist ein Gegenstand der Methodik. Wenn ein Richter bei der Rechtsfindung an ein Gedicht oder an eine Erfahrung mit seinen Kindern denkt, dann denkt er etwas rechtliches und wird dabei auf die Aspekte abstellen, die für die konkrete Streitigkeit erheblich sind. Diese Auswahl bestimmt den Inhalt des ausgewählten Textes oder des herangezogenen Verhaltens. Ein solcher Ansatz mag „unjuristisch“ weit oder gar diffus erscheinen, anders aber dürfte es nicht möglich sein, die ju12 Besonders deutlich ist der demokratische Impetus des Rechtspositivismus bei H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (19292), 69 ff. Dabei erscheint interessant, dass Kelsen den Bereich der reinen (aber oft notwendigen) Dezision in der Rechtsanwendung weitestgehend aus dem Bereich der Rechts-Anwendung ausschließt.

9*

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

ristische Methodik auf die Herausforderungen auszurichten, die die Vorverständnisse der Menschen an das Recht stellen. Im Gegensatz zum „klassischen“ Ansatz, etwa bei Karl Larenz, wird hier mehr Gewicht auf die Frage der Auswahl des Rechts-Materials, das Augenmerk stärker auf die Bestimmung des Materialobjekts und weniger des Formalobjekts der Rechtswissenschaft gelegt13. Die Notwendigkeit einer solchen Erweiterung des Blickfeldes ergibt sich aus der inzwischen wohl einhellig akzeptierten Anschauung, dass Rechtsanwendung nicht auf die Schlussfolgerung aus einem Rechtssatz beschränkt werden kann. Die juristische Methodik muss erklären, wie sie die Grundlagen ihrer Entscheidungen ermittelt und wie sie auf dieser Grundlage zu bestimmten Entscheidungen kommt. Wenn das BVerfG14 meint, das Einkommen der Bürger dürfe nur bis zu etwa 50 % durch Steuern und Abgaben belastet werden, dann ist es unmöglich, diese Entscheidung alleine aus dem Text der Verfassung herzuleiten. Das heißt aber nicht, dass sie deswegen per se falsch wäre. Ausschlaggebend erscheint vielmehr, ob das Ergebnis methodisch abgestützt und richtig ermittelt wurde. Denn wenn es gerechtfertigt ist, eine Verfassungsstreitigkeit unter Berücksichtigung ökonomischer oder allgemein philosophischer Erwägungen zu entscheiden, dann lässt sich ihre Richtigkeit nicht mit dem Hinweis verneinen, die Grenzziehung bei 50% könne aus der Verfassung nicht eindeutig hergeleitet werden. Die Erkenntnis, dass Rechtsanwendung nicht alleine auf dem Rechtssatz beruht, kann allerdings keinesfalls dazu führen, Maßstäbe für die Rechtsanwendung aus der Realität herzuleiten, denn von Tatsachen kann man nie zu Normen kommen15. Bei einer derart realistischen Sicht wird man entweder am Ende nicht mehr wissen, wie man als Rechtsanwender verfahren soll, oder der Rechtssatz als der „Anker“ jeder Auslegung wird von der Realität und ihrem Maßstab so sehr überdeckt, dass die Rechtsfolgeergebnisse beliebig und nicht mehr nachvollziehbar erscheinen. Diese Gefahr sehen auch jene, die grundsätzlich einer „realistischen“ Sicht des Rechts anhängen; gerade bei den Vertretern dieser Sichtweise erlebt man aber oft, 13 Wissenschaftstheoretisch unterscheidet man Materialobjekt und Formalobjekt, wobei Materialobjekt den Gegenstand bezeichnet, auf den eine Wissenschaft ausgerichtet ist, während Formalobjekt der Gegenstand ist, den eine Wissenschaft als Gegenstand definiert (z.B. Recht als Materialobjekt der Rechtswissenschaft, aber auch z.B. der „Rechts“-Soziologie, „Rechts“-Philosophie etc.; dagegen z.B. Zivilrecht als Formalobjekt der Zivilrechtler). Wenn A. Kaufmann, in: ders. / Hassemer (Hg.), Rechtsphilosophie (19946), 4, daraus herleitet, dass kraft des „Wesens“ der Einzelwissenschaften diese, „wie ihr Name schon sagt“, die Ausrichtung auf das Materialobjekt verlieren, so ist das ein Mangel der Einzelwissenschaften und kein Grund, schon deshalb in der Rechtsphilosophie Zuflucht zu nehmen. 14 BVerfGE 93, 121 / 136 ff., insbes. 138. Zum Existenzminimum E 87, 153 / 169 ff. 15 D. Hume, Human Nature (1739), Book II, Part III, Sec. 1 f.; Book III, Part I, Sec. 1 f. Eine der unmittelbarsten und heute auch sehr einsichtigen Folgerungen ist, dass das Unnormale nicht per se Unrecht ist. Radikal wird diese Erkenntnis in der Reinen Rechtslehre H. Kelsens umgesetzt (19672), 19. Kritisch gerade bezüglich der Radikalität der Umsetzung: C. Schmitt, Politische Theologie (19342), 55 f.

1. Abschn.: Aufgabe einer juristischen Methodik

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dass sie irgendwann das „Standbein“ wechseln16. Es ist zwar richtig, dass Methodik nichts bringt, wenn sie nicht mit dem übereinstimmt, was geschieht (und daher das auf diese Weise gefundene Ergebnis auch nicht akzeptiert wird); dies bedeutet aber nicht, dass alles, was geschieht, von der Methodik aufgenommen werden muss. Eine Methodik, die die Realität vollständig einfangen will, wird von der Realität eingefangen, sie verliert die Verbindlichkeit und damit ihre Relevanz. Die juristische Methodik ist die Kunst, eine vertretbare Auswahl unter möglichen Rechtssätzen zu treffen und in den ausgewählten Rechtsätzen das zu erkennen, was für eine „richtige“ Rechtsanwendung notwendig ist. Die Komplexität der Aufgabe, aus einer Anzahl von Rechtssätzen die anwendbaren herauszuarbeiten und sie anwendbar zu machen, ist unabhängig davon, ob die Materialauswahl klein oder groß ist. Die Entscheidung „schlummert“ nie im Gesetz, „wie die Marmorstatue im Marmorblock“ (Gustav Radbruch). Wer Entscheidungen der höchsten Gerichte in Deutschland und den USA analysiert, erkennt rasch, dass viele Erkenntnisse und Aussagen verwendet werden, die in keinem Gesetzbuch stehen. Ungeachtet dessen scheint man aber – um im Bild zu bleiben – immer im Voraus zu wissen, wie groß die Statue höchstens sein und dass sie aus Marmor bestehen wird17. Die juristische Methodik beginnt – pointiert formuliert – lange vor dem Lesen oder Hören des ersten Rechtssatzes. Sie hat auch die Aufgabe, das Lesen zu lehren; sie ist die Fibel des Juristen, indem sie rechtliche Sensibilität entwickelt und die Fragen formuliert. Dies ist der hermeneutische Vorrang der Frage: „Der Sinn der Frage ist mithin die Richtung, in der die Antwort allein erfolgen kann, wenn sie sinnvolle, sinngemäße Antwort sein will“18. Und hier ist man wieder an dem Punkt angelangt, der im Hintergrund aller Überlegungen steht, die bislang angestellt wurden: Wo muss man die Suche nach der Verfassung und ihrem Inhalt 16 So beginnt z. B. Hans-Martin Pawlowski seine Methodenlehre (1981), Rn. 311 ff. (nach einer philosophisch-epistemologischen Einleitung) mit einer Darstellung der in der juristischen Praxis anerkannten Arbeitsmittel. Diese Darstellung hält er für geeignet, um zu ermitteln, was Recht ist. Die Frage nach der Funktion der Rechtsnorm ist für ihn keine selbstverständliche Frage; richtig beantworten lässt sie sich seiner Ansicht nach nur, wenn man davor geklärt hat, was in dem Bereich, den man Rechtsanwendung nennt, tatsächlich geschieht. Insgesamt erscheint es so, als ob er die Normativität des Rechts und die konkrete Bedeutung der Rechtssätze aus dem realen Phänomen „Recht“ bestimmen will. Freilich führt er Begründungen für sein Vorgehen an, die der Art seines Vorgehens widersprechen. So prüft er z.B., ob seine Sichtweise der Gewaltenteilung widerspricht und zieht als Maßstäbe Art. 20 III und 97 GG heran. Die daraus herzuleitenden Zweifel räumt er sodann u.a. durch einen Verweis auf das Common Law aus, dem nach seinen Worten die demokratische Legitimation auch nicht fehle – eine fragwürdige Behauptung, die ihn zu der überaus problematischen Stellung der Gesetze im Common Law hätte führen müssen; vgl. aber Rn. 328. Im Ergebnis begründet Pawlowski die Normbindung mit der erwünschten Entpersonalisierung der Rspr. (Rn. 329) und dem Gleichbehandlungsgebot (Rn. 330). Beide Maßstäbe (vgl. aber Rn. 278: „man beginnt nicht mit Maßstäben“) sind jedoch kaum induktiv ermittelt, sie sind für Juristen nur so selbstverständlich, dass ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen invisibilisiert sind. 17 Siehe auch H. J. Strauch, Rechtstheorie 32 (2001), 197 / 201. 18 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode I (19906), 368 et passim; vgl. u.a. auch S. Fish, Is there a Text in this Class (1980), 1.

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

beginnen? An welcher Stelle steigt man in den Zirkel des Verstehens ein? Was ist die Frage, auf die die juristische Methodik die Antwort gibt und geben soll? Fragen an die juristische Methodik könnte sein: „Wie erkenne ich das Richtige, das Gerechte?“, oder: „Wie erkenne ich, was durch Rechtssätze gesollt ist?“, oder: „Wie erkenne ich, was durch Rechtssätze gewollt war?“, oder ganz allgemein: „Wie erkenne ich, was Recht ist?“. All diese Fragen (und noch manche mehr) zielen auf die Aufgabe der juristischen Methodik, und alle sind in dem einen oder anderen Umfang Gegenstand dieser Methodik. Wenn juristische Methodik als Kunst bezeichnet wird, Rechtssätze auszuwählen und auszulegen, so wird damit – neben der Problematik der Auswahl – auch vorausgesetzt, dass Rechtssätze nicht immer schon alles enthalten, was man zur Anwendung braucht. Mit der Auslegung muss auch herausgefunden werden, was im Rechtssatz nicht steht. Damit erscheint es grundsätzlich als sinnvoll, Rechtssatz und Norm zu trennen, wobei Norm dabei als das rechtliche Gebilde insgesamt verstanden wird, aus dem die Entscheidung herzuleiten ist. Rechtssätze sind also die Texte oder Äußerungen, aus denen die Norm gewonnen wird. Hans-Martin Pawlowski19 verdeutlicht dies anhand des § 823 I BGB. Die Aussage „Wer . . . das Leben . . . eines anderen . . . verletzt . . .“, könne nur zusammen mit dem Text des § 1 BGB („Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt“) zu einer Norm führen, weil erst in der Kombination beider Rechtssätze zu ermitteln ist, was ein „Wer“ bzw. „ein anderer“ sein kann20. Die Unterscheidung zwischen Rechtssatz und Norm ist freilich inzwischen in der Rechtstheorie so oft und so unterschiedlich vorgenommen worden, dass man sie nur noch unter großen definitorischen Mühen verwenden kann. Zudem schwingt bei der Unterscheidung immer die Behauptung mit, Rechtssätze seien im Gegensatz zu Normen nur sprachliche bzw. textliche Äußerungen; aber auch Normen sind textliche Äußerungen, andernfalls könnte man nicht mit ihnen arbeiten. Überdies – und dies liegt ebenso der Unterscheidung von Pawlowski zugrunde – wird durch eine solche Abgrenzung die Vorstellung befördert, Entscheidungen beruhten immer nur auf einer Norm. Hier ist man schnell im Bann des Credos einer Logik, die meint, man brauche nur den Obersatz zu bilden, alles andere würde sich dann gleichsam von selbst ergeben. Wie sollte aber etwa für die Entscheidung über die Genehmigung eines Kernkraftwerkes ein Obersatz gebildet werden, aus dem sich die Entscheidung ohne weiteres herleiten ließe?21 Man kann die Unterscheidung am Ende nur als Methodenlehre (1981), Rn. 66. Gerade hier findet man auch ein gutes Beispiel dafür, wie weit Text und Norm auseinanderfallen können: dazu H. Sprau, in: Palandt [200463], § 823, Rn. 4 f. Mit der Heranziehung des § 1 BGB sind aber bei weitem noch nicht alle „Rechtssätze“ erfasst. Hinzu tritt z.B. das Wissen darum, wie eine Geburt vor sich geht bzw. wann das Leben beginnt. Damit ist es auch zu einfach, wenn A. Kaufmann, in: ders. / Hassemer (Hg.), Rechtsphilosophie (19946), 6, meint, der Jurist könne „ohne weiteres“ aus dem jeweiligen Formalobjekt ersehen, welches Problem ihm gestellt sei. 21 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen formaler Logik in der Jurisprudenz kann hier nicht geleistet werden. Entscheidend ist, dass sich die „Logik“ 19 20

1. Abschn.: Aufgabe einer juristischen Methodik

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eine terminologische Verflachung22 bezeichnen, die das Reden über Recht und das Verstehen untereinander erschwert. Wenig sinnvoll erscheint es schließlich, die Methodik mit der Aufgabe zu belasten, ein Instrument der Abgrenzung von zulässiger Rechtsanwendung oder -fortbildung und unzulässiger Rechtsschöpfung zu sein23. Unterscheiden kann man nur zwischen einer Auslegung, die methodisch richtig und einer, die methodisch falsch ist. Dabei spielt es dann keine Rolle, ob eine methodisch falsche Operation als Rechtsanwendung, Rechtsschöpfung oder Rechtsfortbildung bezeichnet wird; ein „höherer Unrechtsgehalt“ ergibt sich daraus nicht. Problematisch erscheint allenfalls der Fall der (so bezeichneten) zulässigen Rechtsfortbildung, eine Konstellation, in der man das Abweichen von grundsätzlich zu beachtenden Auslegungsmethoden zulassen will, weil bestimmte Gegebenheiten dies unabdingbar zu fordern scheinen. Das klassische Anwendungsfeld der Rechtsfortbildung wird in der Ausfüllung von planwidrigen Gesetzeslücken gesehen24. Die „Problematik der Lücke“25 muss hier im Einzelnen nicht erörtert werden. Tatsächlich handelt es sich dabei auch gar nicht um einen methodischen Ausnahmefall. Selbst Befürworter einer Beibehaltung dieser Denkfigur räumen ein, dass die Ausfüllung der „Lücke“ nicht wesensverschieden ist von der Auslegung eines „lücken“-losen Gesetzes, zumal die Feststellung der Lückenhaftigkeit mit der Notwendigkeit und der Art und Weise der Ausfüllung der Lücke identisch ist26. des Juristen nicht auf Begriffe, sondern auf Verständniszusammenhänge bezieht; dazu J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 106 ff. Zwar erscheint die Möglichkeit bestechend, juristische Schlüsse mit Mitteln der formalen Logik zu überprüfen. Dies setzt aber voraus, dass man die Elemente der Rechtsfindung in Zeichen übersetzt, in eine andere Sprache, die meist eine mindere Komplexität aufweist und so Verfälschungen enthalten kann. Man wird immer zu der Frage gedrängt, ob nicht „der Wille zur logischen Wahrheit“ sich erst vollziehen kann, „nachdem eine grundsätzliche Fälschung allen Geschehens vorgenommen ist“ (F. Nietzsche, Der Wille zur Macht [1833 – 1888], 3. Buch, I, e Aph. 512). Man möchte nicht selten hinter dem Hang zur Logik auch das Motiv der Einschüchterung vermuten; vgl. dazu F. Nietzsche über Spinoza, Jenseits von Gut und Böse (1886), I Aph. 5. 22 Vgl. E. Ehrlich, Grundlegung (1912), 117, der dies speziell auf die Verbindung des Begriffes „Norm“ mit den Maßstäben der Entscheidung von Gerichten bezieht; K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (1977), 27 (siehe auch Fn. 24) verwendet Norm als „Bewertungsnorm“, um damit deutlich zu machen, dass „Bewertungen, Billigungen und Missbilligungen“ die Wurzeln des Rechts sind. Vgl. auch R. Stammler, Die Lehre vom Richtigen Recht (1926), 111 ff.; R. Jhering, Der Zweck im Recht (19044), Einleitung; B. Cardozo, Judicial Process (1921), 125. 23 Wenn im folgenden die Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung bzw. Rechtsschöpfung aus dem Aufgabenbereich der Methodik herausgenommen wird, dann soll damit die Unterscheidung nicht als generell unbedeutend verworfen werden. Es bleibt problematisch, wenn z. B. R. Dworkin (Law’s Empire [1986], 9) für seine Rechtstheorie von der Frage ausgeht: „What should judges do in the absence of law?“. Die Berechtigung, eine solche Frage an den Anfang zu stellen, muss auch vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Anwendung und Schöpfung erörtert werden. 24 Siehe K. Larenz, Methodenlehre (19916) 366, 370 ff. 25 Dazu sehr überzeugend und an sich erschöpfend J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 177 ff.

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

Darüber hinaus ist es zwar sicher geboten, Auslegung und Gesetzgebung als rechtliche Operationen zu identifizieren. Ein Erkenntnisgewinn lässt sich für die Methodik der Rechtsanwendung daraus aber kaum gewinnen. Immerhin ist eine echte Gesetzgebung des Rechtsanwenders nur dann denkbar, wenn ein Gesetz ihm diese Kompetenz einräumt. Im übrigen ergibt sich die Unmöglichkeit der Gesetzgebung für den Interpreten nicht daraus, dass Juristen kein (eventuell auch vorzügliches) Urteil über die Gegenstände der Gesetzgebung fällen könnten27 oder weil Rechtsanwendung begrifflich etwas anderes als Rechtssetzung wäre28; ebenso wenig daraus, dass Rechtsanwender an das Recht gebunden sind; dies ist auch der (einfache) Gesetzgeber. Der eigentliche Grund liegt vielmehr darin, dass der Rechtsanwender so gut wie nie Gelegenheit zur Rechtsetzung erhält. Seine Entscheidungen sind fast immer Entscheidungen von Einzelfällen. Das Problem erledigt sich also insoweit funktionell. In den Fällen aber, in denen Gerichten die Entscheidung über Gesetze zuerkannt wird, sind sie (funktionell) gesetzgeberische Organe. Die zentrale Frage, die der Diskussion über Rechtsschöpfung von Gerichten zugrunde liegt, ist die Loslösung der Gerichtsbarkeit durch Selbstreferenz. Denn auch wenn das einzelne Gericht qua beschränkter Rechtsetzungsmacht nicht in der Lage ist, sich an die Stelle des (parlamentarischen) Gesetzgebers zu setzen, so kann es doch immerhin Präjudizien schaffen; und wenn diese sich zu einer herrschenden Rechtsprechung herausbilden, dann wird das Problem virulent29. Der Vorwurf, das Gericht betreibe Rechtsschöpfung, muss daher eher so verstanden werden, dass die Gefahr besteht, eine Gerichtsentscheidung könne Rechtssetzung werden. Damit verlagert sich das Problem der Rechtsfortbildung jedoch auf das Gericht, das die nächste entsprechende Entscheidung zu treffen hat. Für dieses Gericht bringt es aber keinen Erkenntnisgewinn, dass sein Urteil zusammen mit dem Urteil des vorentscheidenden Gerichts eine Rechtsfortbildung darstellt. Das immer wiederkehrende Argument, eine bestimmte Rechtsanwendung sei Rechtsschöpfung, also in Wahrheit Gesetzgebung und daher falsch oder rechtswidrig30, ist demnach kein Argument für oder gegen eine methodische Operation. Die Methodik muss zu Ergebnissen führen und wenn die Methodik gut ist, dann ist jedes Ergebnis richtige Interpretation. Wenn ein Problem nur durch Rechtsschöpfung angemessen gelöst werden kann und wenn diese durch eine „richtige“ Methodik getragen ist, dann kann gegen Rechtsfortbildung oder -umbildung nichts eingewendet 26 Vgl. K. Larenz, Methodenlehre (19916) 366 f, 370, Fn. 9. Vgl. zum Lückenbegriff O. Schweizer, Freie richterliche Rechtsfindung inter legem als Methodenproblem (1959), 25 ff. 27 So aber B. Windscheid, in: Gesammelte Reden und Abhandlungen (1904), 100 / 111. Dabei geht er freilich von der Vorstellung aus, dass Rechtsentscheidungen nicht durch politische Entscheidungen (mit-)bedingt sind. 28 Dies erkannte schon Fr. C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I (1840), 330, der es für unbedenklich hielt, eine „Interpretationskommission“ einzurichten. 29 Vgl. insoweit K. Larenz, Methodenlehre (19916), 367. 30 Vgl. etwa B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (19975), xii; er bemüht sogar Art. 20 IV GG (S. xiii).

1. Abschn.: Aufgabe einer juristischen Methodik

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werden; denn im Ergebnis ist es dann eben doch Rechtsanwendung. Das NegativArgument der Rechtsschöpfung (es ist nicht selten auch ein Totschlag-Argument) muss zunächst erst einmal belegen, dass es ein methodisch besser ermittelbares Ergebnis gäbe. Schließlich bedarf es im Blick auf die Aufgabe einer juristischen Methodik noch der Überlegung, ob zu dieser Aufgabe auch eine Bewertung bzw. Wertungsauswahl gehört. Für Bernd Rüthers31 bestätigt die „Eignung der herkömmlichen Methodeninstrumente zur weitgehend methodisch fachgerechten Beherrschung sozialer und politischer Ausnahmelagen bei einschneidend gewandelter Wertgrundlage . . . die Neutralität der juristischen Methodenlehre gegenüber gewandelten Wertanschauungen“. In der Tat kann man konstatieren, dass die Canones von v. Savigny bei der Auslegung des Art. 1 I GG ebenso Verwendung finden können wie bei der Auslegung eines Führerbefehls. Damit erscheint es so, als ob auch die Methodik allenfalls auf die Qualität der Rechtsanwendung, nicht aber auf die Qualität des Rechts ausgerichtet ist32. Wäre dies richtig, ermöglichte die Methodik nicht nur die Umformung von Rechtsordnungen in Zeiten des Wertewandels33, sie liefe dann auch Gefahr, „wertlos“ zu werden (im doppelten Sinne des Wortes). Grundsätzlich ist die Wertungsauswahl sicherlich nur Gegenstand der Methodik, nicht Bestandteil ihrer Aufgabe. Mit anderen Worten: Methodik kann unterschiedliche Wertvorstellungen in der Rechtsanwendung sichtbar werden lassen und Maßstäbe entwickeln, die geeignet sind, den Einfluss von Wertvorstellungen auf das Rechtsverständnis zu steuern. Sobald eine Methodik aber Instrumente einbezieht, die unmittelbar zum Ausschluss oder zur Dominanz konkreter Wertüberzeugungen führen, verliert sie ihre Legitimation, die im Grunde alleine in der Distanz zum Materialobjekt, also in dem Bemühen besteht, Objektivität bezüglich der (erst noch festzustellenden) Inhalte des Rechts zu wahren. In dieser Beschränkung der Aufgabe spiegelt sich auch die Erkenntnis, dass methodische Forderungen eine Perversion des Rechts nie verhindern können (und wohl nie verhindert haben). Die Vorstellung, man könne über die Methodik Unrecht verhindern, kann unter Umständen sogar – im Gegenteil – dazu führen, dass man eine an sich gerechte Rechtsordnung beeinträchtigt oder gar vernichtet34. Das Thema ist mit dieser Überlegung indes nicht erschöpft. Es kann nur dann angemessen behandelt werden, wenn es in einer Dreifächerung begriffen wird. Zunächst muss man sich bewusst werden, dass die Methodik, genauer: die Anforderung, methodisch vorzugehen, einen Wert an sich darstellt. Dieser Wert liegt vorDie unbegrenzte Auslegung(19975), 432. 32 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (19975), 489. 33 Dazu B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (19975), 481 ff. 34 Eine ähnliche Gefahr bringt die Vorstellung mit sich, man könne das Instrument der Sprache dazu nutzen, Vergehen einer früheren Generation dadurch für die Zukunft auszuschließen, dass man deren Sprachgewohnheiten insofern ächtet, als sie deren Vergehen „zur Sprache bringen“. Allgemein zum Letztbegründungsstreben gerade der deutschen NormDenker, H. Wagner, in: Fs Esser (1995), 215. 31

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

nehmlich in der Ergebnisoffenheit, also darin, dass sich methodisches Vorgehen von der Idee her nicht vereinbaren lässt mit einer Vorbestimmtheit des Ergebnisses, eine Eigenart, die die Verwandtschaft der Methodik mit Verfahren offenbart. Verfahren sind „Aushilfe für (zunächst) inhaltlich nicht Formulierbares“, ein „Entscheidungsmodus zur Bewältigung komplexer Interessenkonstellationen“ 35. Dementsprechend wird die Partizipation in Verfahren grundsätzlich nicht inhaltlich vorbestimmt, Partizipationsverfahren sollen Wertungsprozesse sein36. Wie für die Methodik kann man von den Verfahren sagen, dass die Wertungsauswahl im Kern ihr Gegenstand, nicht ihre Aufgabe ist. Des weiteren besitzen Verfahren – und dies wäre die zweite Dimension – durchaus ebenso inhaltliche Bezüge, indem Forderungen an sie gestellt werden: sie müssen fair sein37, ihre Ordentlichkeit, ihre Akzeptanz, ihre befriedende Funktion wird hervorgehoben38. Die Notwendigkeit solcher Anforderungen wird besonders bei Verfahren zur Grundrechtsverwirklichung greifbar39, in denen die Positionen der Betroffenen „verfahrensmäßig in Form gebracht“ und damit beschränkt werden. Die grundsätzlich gleiche Wertbezogenheit zeigt sich bei der Methodik. Auch Methoden dienen der Verarbeitung von Individualpositionen, sie sollen die Anschauungen der Beteiligten (auch der Betroffenen) in Bahnen lenken, die zu einer kohärenten Lösung befähigen. So lässt sich die Aufgabe der Methodik mit der Formulierung von Eberhard Schmidt-Aßmann40 benennen, die dieser dem Verfahren zuweist: „Um Zuordnung geht es, nicht um distanzlose Unordnung“. Der Wert, der hier befördert werden soll, ist die gleiche Bindung aller Beteiligten, die die Vorhersehbarkeit der Ergebnisse der Verfahren / Methodik befördert. Schließlich offenbart sich (als dritte Dimension) in der Forderung nach methodischem Vorgehen auch eine Anerkennung des Menschen als Wesen mit freiem Willen. So wie Verfahren nur einen Sinn haben, wenn man die Teilnehmer für befähigt hält, etwas beizutragen, so setzt die Forderung nach einer Methodik des Rechts voraus, dass Menschen nicht zu „Mündern des Gesetzes“ denaturiert werden können, dass in ihnen das Gestaltungspotential zu finden ist, das – in Form gebracht – das Recht aus einer amorphen Masse von Sätzen und Vorstellungen41 in ein wirksames Steuerungsinstrument verwandelt. Für die Methodik der Auslegung freiheitlicher Verfassungen demokratischer Staaten erscheint es folglich nahe lie35 E. Schmidt-Aßmann, in: Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie (1984), 3 / 5, 4. 36 W. Schmitt Glaeser, in: Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie (1984), 35 / 89; H. Schulze-Fielitz, Sozialplan im Städtebaurecht (1979), 311 ff. mwN. 37 Dazu etwa Chr. Degenhart, in: HStR III (1988), § 76, Rn. 28 ff. mwN. 38 Vgl. etwa P. Kirchhof, in: HStR III (1988), § 59, Rn. 45 ff. 39 Dazu allgemein P. Lerche, in: Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie (1984), 97, zum folgenden 104 f. sowie etwa P. Kirchhof, in: HStR III (1988), § 59, Rn. 48; E. Denninger, in: HStR V (1992), § 113, Rn. 5 ff. 40 E. Schmidt-Aßmann, in: Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie (1984), 3 / 8. 41 Zu der Reduktion auf Sätze bei R. Alexy, Theorie der Grundrechte (19963), unten 4. Kap. Teil 2 B III 2.

2. Abschn.: Der Begriff der Methodik

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gend, dass sich in ihren einzelnen Methoden Befindlichkeiten des freien Menschen42 nicht nur kaschiert verwirklichen; es erscheint zwingend, diese Befindlichkeiten aufzuspüren und ihnen zur Wirksamkeit zu verhelfen.

2. Abschnitt

Der Begriff der Methodik Um die Aufgabe der Methodik angehen zu können, bedarf es einiger begrifflicher Klärungen, was mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden ist. So sind gerade Methodik, Methodenlehre, Methode, Interpretation und Hermeneutik Termini, über deren spezifischen Gehalt man streiten kann und deren Beziehungen untereinander durchaus verschieden gesehen werden43. Man sollte es allerdings auch hier mit den gegenseitigen Kontrastierungen und Differenzierungen nicht zu weit treiben, weil darunter letzten Endes nur die Möglichkeit der Verständigung leidet44. Daher sollen im weiteren Verlauf nur Begriffsbildungen und -beschreibungen verwendet werden, die im Rahmen des Üblichen liegen und in diesem Sinne auf einem hinreichenden Konsens beruhen. Als juristische Methodik soll die „systematisch reflektierende Gesamtkonzeption ( . . . ) juristischer Arbeitsweisen“ verstanden werden45; dass dieser Begriff kaum Abgrenzungscharakter hat, schadet nicht: er bestimmt sich aus der Aufgabe, die man ihm stellt. Dieser Oberbegriff steht neben der Hermeneutik, die sich umfassend mit dem menschlichen Vermögen des Verstehens und einer entsprechenden Methodologie beschäftigt und so gleichzeitig Element als auch Maßstab der Methodik ist46. Die allgemeine Hermeneutik wurde insbesondere von Martin Heideg42 In den nüchternen Analysen von Rüthers (bei Fn. 30) mögen auch Assoziationen zur naturwissenschaftlichen Methodik Einfluss genommen haben. Gerade diese Methodik war aber (auch) eine Kampfansage an die religiöse „Gefangenschaft“ des menschlichen Geistes vor der Aufklärung. Sie sind Verfahren, die nur ein Individuum nutzt, das an eine (prinzipiell) „gottlose“ Natur glaubt. 43 Siehe insbes. die Darstellung von F. Müller, Juristische Methodik (19977), 29 ff. 44 Nach F. Müller ist die Methodik als „systematisch reflektierende Gesamtkonzeption“ juristischer Arbeitsweisen ein Oberbegriff, der die Methodenlehre (die Gesamtheit der interpretatorischen Regeln im Umgang mit Rechtsnormen), die Hermeneutik, die Interpretation und die Auslegungsmethoden umfasst. Eine solche Unterscheidung erschwert – so sinnvoll sie auch sein mag – den Zugang des Lesers zu einer Arbeit über „Methoden“, weil sie zu ständiger Reflexion über die Bedeutung eines verwendeten Begriffes zwingt. Diese Problematik zeigt sich schon an der relativ aufwendigen Erläuterung zu seiner Begriffswahl bei „Hermeneutik“. 45 F. Müller, Juristische Methodik (19977), 29. Auf die Fragen und Fragwürdigkeiten des Systemdenkens im Recht wird an späterer Stelle noch einzugehen sein. Daher soll „systematisch“ hier nur als „ordentlich“ verstanden werden. 46 Zu spezifisch m.E. F. Müller, Juristische Methodik (19977), 29, der von einer unzutreffend engen traditionellen Verwendung des Begriffs „Hermeneutik“ ausgeht („traditionelle

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

ger, Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey ausgearbeitet47. Emilio Betti, Chaim Perelman und Hans-Georg Gadamer haben dagegen die hermeneutische Methodologie stärker in den Vordergrund gerückt48. Diese besitzt intensive Bezüge zur Epistomologie, genauer: sie muss deren Auffassungen bezüglich der Schwäche menschlichen Erkenntnisvermögens aufnehmen. Für die juristische Methodik ist dabei bedeutsam, dass sie Verhaltensanforderungen für Juristen aufstellt, also nicht nur eine „Selbstbeobachtung der Programmierung“49 darstellt. Die juristische Methodenlehre befasst sich mit der Lehre vom Rechtssatz, der Auslegung der Gesetze, der Sachverhaltsbeurteilung, der richterlichen Rechtsfortbildung sowie mit Begriffs- und Systemfragen50. Rechtliche Methoden sind die unterschiedlichen intellektuellen Prozeduren, die erkennen helfen sollen, was das Recht besagt. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass ein Weg gegangen wird, dem jeder folgen kann („methodos“ als Weg des Nachgehens), es sei denn, er befindet sich im Zustand prinzipieller Verweigerung oder – ansprechender formuliert – prinzipieller Skepsis51. Angesichts der notwendigen Weite der Definition von Methodik, Methodenlehre und Methode ist es schwer, die herkömmlicherweise davon getrennten Begriffe der Dogmatik52 und des Präjudizes abzugrenzen; denn auch sie bezeichnen juristische Arbeitsmittel, die auf ein Verstehen des Rechts ausgerichtet sind. Es wird sich im Verlauf der Untersuchung immer wieder die Frage stellen, ob bzw. inwieweit Dogmatik und Präjudiz integrale Bestandteile der juristischen Methodik sind. Grundsätzlich gilt: Rechtsdogmatik ist im herkömmlichen Verständnis die „wissenschaftliche Behandlung des Rechtsstoffes“53. Damit steht Dogmatik nicht im Gegensatz zu Methodik. Vielmehr ist Dogmatik als Stadium zwischen Gesetz und Anwendung zu rhetorische Kunstlehre“). Er hält sie im Übrigen auch nicht ganz durch (s. 30 f.). – Eine Auseinandersetzung mit dem Hermeneutikbegriff Müllers ist in unserem Zusammenhang nicht weiterführend; wichtig sind aber die Aspekte, die er untere diesem Begriff in die Methodik eingeführt hat. 47 Vgl. vor allem die Arbeiten M. Heidegger, Sein und Zeit (199317), F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik (19997) und W. Dilthey, Das Wesen der Philosophie (1984). 48 Vgl. vor allem die Arbeiten E. Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften (1967), Ch. Perelmann, Die Idee der Gerechtigkeit und die Probleme der Argumentation (1963) und H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode I (19906). 49 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, 413 ff. 50 G. Köbler, Stichwort „Methodenlehre“, in: Deutsches Rechts-Lexikon II (20013), 2849. 51 Vgl. G. Peller (1 Lizard 4 f.) über die Irrationalisten in der Critical Legal Studies-Bewegung: „The irrationalist finds legal rules too marginal in their effects and too indeterminate and incoherent in their content to be instrumentally necessary for any particular social formation. . . . [He or she] wants to unfreeze the social structure of meaning, to free up the possibilities for new ways to think and act in the world.“ 52 Dazu A. Podlech, JfRuR 2 (1972), 491; W. Krawietz, Juristische Entscheidung (1978), 181 ff. 53 Zum folgenden R. Streinz, in: Ph. Schäfer (Hg.), Eigenart, Möglichkeiten und Grenzen der Methoden in den Wissenschaften (1987), 87 / 90 f. mN.

2. Abschn.: Der Begriff der Methodik

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betrachten, in der die einschlägigen Rechtssätze für ein bestimmtes Sachgebiet festgestellt und die gefundenen Ergebnisse zueinander in Bezug gesetzt werden54. Die zentrale Aufgabe der juristischen Dogmatik ist die „Erkenntnis des in einer Rechtsgesellschaft rechtlich geltenden . . . Rechts“55. Dabei ist Dogmatik stark auf die durch kompetente Organe gefundenen Lösungen ausgerichtet. Sie beinhaltet daneben aber auch eine schöpferische Aufgabe, die sich vor allem als Neu- und Umbewertung dieser Lösungen bestimmen lässt. In jedem Fall kann man die Dogmatik als ein sekundäres Erkenntnisstadium ansehen. Und da eine „Kritik ihres eigenen Vermögens“56 nicht erforderlich ist, ist sie ein zwar immens bedeutsamer, aber partiell auch „blinder“ Teilbereich des Rechts, wiewohl sie durch die Orientierung an Erkanntem ohne In-Frage-Stellung der Grundlage des Erkennens eine wohl größere Aussagekraft hat als z.B. die Rechtstheorie. Betrachtet man den Gebrauch des Wortes in der Fachwelt, so fällt auf, dass die Dogmatik nicht (mehr) den Anspruch erhebt, befolgt werden zu müssen57. Dogmatisches Argumentieren hat durchaus etwas fatalistisches. Es erinnert an das, was Ludwig Wittgenstein58 als Grund der Befolgung von Regeln angibt: „How am I able to obey a rule?‘ – if this is not a question about causes, then it is about the justification for my following the rule in the way I do. If I have exhausted the justifications I have reached bed-rock, and my spade is turned. Then I am inclined to say: ,This is simply what I do.‘“

Dagegen erscheint Methodik in autoritärem Gewande. Wer die Methodik nicht beachtet, kann nur zufällig zu richtigen Ergebnissen kommen. So ist auch die Charakterisierung eines gedanklichen Vorganges als undogmatisch selbst in der Jurisprudenz nicht (mehr) eo ipso negativ; manche verwenden ihn sogar synonym mit originell. Dagegen ist die Charakterisierung einer Gedankenführung als „nicht meF. Müller, Juristische Methodik (19977), 274, bezeichnet Dogmatik als „Reservoir der sich zur Zeit durchsetzenden juristischen Bedeutungsfestsetzungen und Referenzfixierungen; also der Positionen zur Bedeutung und zur Art des Wirklichkeitsbezugs des ,geltenden Rechts‘ (der Gesamtmenge der in Kraft befindlichen Normtexte)“. 55 R. Dreier, in: Recht-Moral-Ideologie (1981), 106 / 111: das Hen-dia-dioyn, das in diesem Satz steckt, ist ein Problem des Denkens über das Recht; dazu unten 4. Kap. Teil 2 A I. Vgl. aber ders., ebda., 48 / 51: hier wird Dogmatik als Jurisprudenz weiter gefasst. Eine „großzügigere“ Definition der Dogmatik findet sich auch bei A. Kaufmann, in: ders. / Hassemer (Hg.), Rechtsphilosophie (19946), 2. 56 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), B xxxvi. 57 Im Vergleich zu früher steht eben nicht nur die philosophische Dogmatik „mit betrübter und muthloser Haltung da. Wenn sie überhaupt noch steht!“ (F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse [1886], Vorrede.) Vgl. zum Anspruch der Dogmatik zur Jahrhundertwende: J. Esser, AcP 172 (1972), 97 / 98 ff.; ders., Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 90 ff.; hier definiert er Dogmatik als unveränderliche Autorität gegenüber „vordogmatischen Einsichten und Prämissen“; ebenso R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (19963), 310 ff. Die Wahrheit dürfte wohl auch hier dazwischen liegen. Darauf wird noch einzugehen sein. 58 Philosophical Investigations (1953), 85e. 54

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

thodisch“ gleichzusetzen mit dem Verdikt „falsch“59. Gleichwohl muss zumindest die Reflexion der Dogmatik und die Art ihrer Einordnung in den juristischen Erkenntnisprozess als Teil der Methodik angesehen werden. Schließlich enthält die Dogmatik eine unerschöpfliche Vielzahl von Sätzen über das Recht60. Das Präjudiz ist zunächst eine Behauptung, wie eine rechtliche Frage zu entscheiden war: eine Sentenz (im praktischen Sinne: Urteilsspruch). Es hat in aller Regel einen höheren Konkretisierungsgrad als der dogmatische Erkenntnissatz. Wie bei der Dogmatik wird auch beim Präjudiz ein Abweichen nicht als per se falsch angesehen. Dies gilt selbst im Common Law für das Präzedens (precedent). Dort freilich werden (zumindest noch in England) hohe Anforderungen an das Abweichen von vorangegangenen Entscheidungen gestellt. Anders als im kontinentalen Recht wird das Präzedens im Common Law durch das „stare decisis et non quieta movere“ gefestigt61. Dies besagt vor allem, dass eine gerichtliche Entscheidung – über den konkreten Fall hinaus – nicht nur Normbehauptung, sondern Norm, also bindendes Präjudiz ist. Freilich ist die Qualität dieser Norm nicht unbestritten. Es genügt hier der Hinweis darauf, dass die Anforderungen an ein Abweichen vom Grundsatz des „stare decisis“ unterschiedlich hoch sind, je nachdem, ob man die Rechtfertigung in der Gerechtigkeit des verbindlichen Präzedens oder allein in seiner Existenz sieht62. Insofern kann man ohne Übertreibung sagen, dass sich die Bedeutung des zu beachtenden Präjudizes und des Präzedens unter der stare decisis-Regel für die weitere Spruchpraxis in der praktischen Arbeit der Gerichte weitestgehend angenähert haben. Für Präjudiz und Common Law-Präzedens lässt sich daher im Wesentlichen dasselbe feststellen wie für die Dogmatik. Die Rechtsprechung der Gerichte ist ein wichtiger Teil des Rechts und die Reflexion über ihre Bedeutung muss Teil der Methodik sein. Eine andere belangvolle Unterscheidung – wenn auch keine Abgrenzung – ist die zwischen juristischer Methode und juristischer Argumentation. Auf den ersten Blick erscheint die juristische Argumentationslehre als die Lehre, die aufzeigen soll, wie sich methodische Operationen am besten darstellen lassen. Sie wäre dann nach Karl Larenz63 mit der Methode im Kern wesensgleich. Diese (durch zwei essentialistische Begriffe stark relativierte) Annäherung unterschätzt aber die Grundlage der Argumentationslehre. Denn im Hintergrund dieses Ansatzes steht vor allem der Zweifel daran, dass Gesetze den Rechtsanwender in seiner Entscheidung determinieren können; wenn dagegen juristisches Entscheiden allenfalls am Gesetz orientiert sein kann64, dann wäre die juristische Argumentation ein eigen59 Zu den historischen Gründen dieser Sichtweise J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 123 f. 60 Dazu ausführlich unten im 4. und 5. Kapitel. 61 Zum Stand der stare decisis-Lehre in den USA bereits oben 2. Kap. 1. Abschn. B. 62 Dazu Chr. Peters, 105 Yale L.J. 2031 (1996), insbes. 2037 und oben 2. Kap. bei Fn. 32. 63 Methodenlehre (19916), 145 ff., 153. 64 U. Neumann, Juristische Argumentationslehre (1986), 6 f. und in Rechtstheorie 32 (2001), 239 / 255.

3. Abschn.: Die Freiheit des Interpreten

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ständiges juristisches Hilfsmittel, das die juristische Methodik nicht nur begleitet, sondern über sie hinaus eigenständige Funktionen erfüllt65. In der Argumentation, in der begründenden Sprache, wird nach Josef Esser66 der „Schlüssel für die Richtigkeitsgewähr von Entscheidungen“ gesehen. Nun könnte man mit Rudolf Streinz67 den Unterschied beider Hilfsmittel dadurch auflösen, dass man die Aufgaben einer „richtigen“ Methode auch in der Bewältigung der Bereiche der Rechtsanwendung sieht, die über die bloße Subsumption hinausgehen. Aber auch wenn das richtig ist, lässt sich darin keine Möglichkeit der Integration der Argumentationslehren erkennen. In der Ausrichtung auf die Begründung von Entscheidungen offenbart sich ein tiefgreifender Perspektivenwechsel gegenüber der juristischen Methodik. Denn die Begründung wird nicht mehr als Erklärung der Rechtsanwendung, sondern selbst als Rechtsanwendung gesehen68.

3. Abschnitt

Die Freiheit des Interpreten und die Methodik des Rechts Mit der Freiheit des Interpreten einerseits und der Methodik des Rechts andererseits wird ein Spannungsverhältnis angesprochen, das sich in viele Relationen auffächert. Beide ergänzen sich, schränken sich gegenseitig aber auch ein; ohne die interpretatorische Freiheit wäre Rechtsmethodik überflüssig und ohne Methodik liefe die Freiheit des Interpreten Gefahr, zur Willkür auszuarten. Das Spannungsverhältnis ist nicht aufzulösen, aber es muss so strukturiert werden, dass es zu einem erträglichen und für die Findung des Rechts möglichst fruchtbaren Verhältnis wird. Die Strukturierung hat bei einer Zielsetzung für die Methodik anzusetzen: es muss ein tiefer gehender Gesichtspunkt gefunden werden, ein Einstieg in das Verstehen, der die Methodik „auf die Schienen setzt“. Bevor wir uns (in Teil 4 und 5) an diese Aufgabe wagen, ist aber zu klären, ob die Rechtsanwender einer solchen Aufgabe überhaupt gewachsen sind bzw. ob sie die Mittel besitzen, die Aufgabe anzugehen. Es muss gefragt werden, ob oder inwieweit Interpreten ihr Vorgehen frei bestimmen (A) und ob sie sich bei diesem Unterfangen wirksam verständigen können (B und C).

So J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 134. 66 Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 134. 67 In: Schäfer (Hg.), Eigenart, Möglichkeiten und Grenzen der Methoden in den Wissenschaften (1987), 87 / 93 f. 68 Zu dem Problemkomplex näher unten 4. Kap. 2. Abschn. B III 2. 65

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

A. Die Verantwortlichkeit Vor allem bei der Analyse der Praxis und den Ausführungen zur Theorie der Praxis wurde immer wieder deutlich, dass es ein zentrales Anliegen der Methodik sein muss, die Subjektivität der Rechtsanwender einzufangen und ihre Tätigkeit in vorhersehbare Bahnen zu lenken. Insoweit soll die Methodik des Rechts die Freiheit der Interpreten beschränken. Eine solche Beschränkung ist aber nur sinnvoll, wenn der Interpret auch wirklich frei ist. Mit dieser paradox anmutenden Feststellung eröffnet sich ein gänzlich neuer Aspekt der Thematik. Denn die „Freiheit der Interpreten“ könnte ja in einer Subjektivität bestehen, die auch unter größten Willensanstrengungen nicht zu überwinden ist. Methodik als begrenzendes und disziplinierendes Instrument wäre dann nicht möglich. Tatsächlich sind Freiheit und Methodik aber zwei Takte, die zusammenklingen und sehr wohl nebeneinander bestehen können. Ausgegangen werden muss von einer vernünftigen und verantwortlichen Freiheit des Interpreten, der auf Grund dieser Vernunft und Verantwortlichkeit auch gegen eigene Interessen, Vorstellungen, Vorverständnisse und Überzeugungen entscheiden kann. Der Glaube an die Freiheit des Willens muss der Jurisprudenz vorangehen, sie ist ihre Existenzbedingung, freilich aber auch ihre größte Herausforderung69. Dazu meint Immanuel Kant70, bezogen auf das sittliche Handeln, die Freiheit gelte nur „als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d.i. eines vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen Vermögens (nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach Gesetzen der Vernunft, unabhängig von Naturinstinkten zu bestimmen), bewusst zu sein glaubt.“ Diese Fiktion reicht zwar zur Begründung der Freiheit des Interpreten (als abstrakter Person) nicht aus. Sie genügt aber dazu, die Selbständigkeit des konkreten Rechtsanwenders (ungeachtet aller psychologischen und sozialen Vorbestimmtheiten) anzunehmen. Alles andere würde jegliches Gespräch unter Juristen zu einer sehr komplizierten und letztlich wenig fruchtbaren Diskussion „von Couch zu Couch“ über Prägungen und Sozialisation und vielleicht am Rande noch über das Recht werden lassen. Ungeachtet der Bedeutung epistemologischer Fragestellungen und Erkenntnisse darf man das menschliche Wirken nicht theoretisch unmöglich machen, vor allem dann nicht, wenn es – wie im Recht – um eine praktisch zu erfüllende Aufgabe geht.

69 Für F. Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches (1878), Bd. I, I. Aph. 18, ist der freie Wille sogar ein ursprünglicher Irrtum alles Organischen“. Vgl. auch Th. Hobbes über die Menschen, Leviathan (1651), Part I, Chap. 11: „because grown strong, and stubborn, they appeale from custome to reason, and from reason to custome, as it serves their turn; receding from custome when their interest requires it, and setting themselves against reason, as oft as reason is against them: . . .“. Zur Rolle des Willens im Recht grds. R. Stammler, Rechtsphilosophie (19283), 56 ff. Vgl. auch E. Picker, JZ 1988, 62 / 72, der davor warnt, „wegen der Gefahr einer Voreingenommenheit diese selbst zur legitimen Grundlage der Entscheidung zu machen“. 70 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785 / 1786), BA 120 f.; Hervorh. v. Verf.

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Das soll nicht bedeuten, dass die Epistemologie für den Juristen in jeder Hinsicht uninteressant wäre. Es muss aber auch von Anfang an klar erkannt werden, dass epistemologische (und im Gefolge oft auch semantische) Fragestellungen meist Widerlegungen anderer Ansichten dienen71, ohne dadurch irgendetwas zu gewinnen. Es handelt sich um einen Diskussionsansatz, der ähnlich einer oft zu beobachtenden einleitenden Behauptung, die faktische Situation habe sich grundlegend geändert, nur dazu dient, es dem Behauptenden zu ermöglichen, die eigene Konzeption mit der Autorität des aufgeklärten Denkers – unangefochten von altmodischen Konzepten – „unters Volk“ zu bringen und Menschen mit anderen Ansichten unglaubwürdig zu machen; nicht selten geht es auch alleine um das letztere. Das Problem dieser Fundamentalkritiken liegt vor allem darin, dass sie sich gegen den Kritiker selbst wenden, sobald dieser versucht, seine eigene Konzeption vorzustellen72. Werden Vorprägungen des Juristen ins Feld geführt, geschieht dies regelmäßig zu dem Zwecke, die Argumente „der Anderen“ auf einer Subebene zu erschüttern73. Eine Widerlegung ist dann für den Angegriffenen als „Gezeichneten“ so gut wie unmöglich74. Eine solche Vorgehensweise ist fatal. Sie ist nur dem Schein nach Argumentation, der Sache nach ist es verbaler Totschlag und das Gegenbild vernünftigen Denkens. Darauf kommt es aber an, und es kommt darauf an, wenigstens vernünftiges Denkvermögen des Menschen zu bejahen. Freilich darf vernünftiges Denkvermögen nicht mit dem Vermögen der Wahrheitserkenntnis verwechselt werden. „Der letzte Schritt der Vernunft ist die Erkenntnis, dass es eine Unendlichkeit von Dingen gibt, die sie übersteigen. Es gibt nichts, was der Vernunft so sehr entspricht, wie diese Verleugnung der 71 Im Grunde sind es nur Variationen der Widerlegung des freien Willens. Dazu F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), I, Aph. 18: „Es scheint, dass die hundertfach widerlegte Theorie vom ,freien Willen‘ ihre Fortdauer nur noch . . . [dem] Reiz verdankt . . .“, „dass sie widerlegbar ist“. 72 Ähnlich J. Boyle, 133 U.Pa.L.Rev. 685 (1985) 729. Vgl. zur Problematik auch O. Marquard, Hermeneutik (1979), in: Abschied vom Prinzipiellen, 117 / 123 f.: „Dabei . . . ist der interpretatorische Loswerdensversuch des entlarvenden Interpretierens – die Ideologiekritik – stets nur begrenzt möglich: Jede globale Entlarvung wird bezahlt durch eine Regression des Entlarvenden; die totalverdächtigende Kritik wird leicht zur sekundären Naivisierung: sozusagen zur Fortsetzung der Dummheit unter Verwendung der Intelligenz als Mittel.“ 73 Dies ist m.E. die „Strategie“ der Critical Legal Studies, aber z. B. auch die marxistische „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“-Argumentation ist aus diesem Holz geschnitzt. Beide Ansätze lassen sich wohl nur so zu Ende bringen, dass man einen „neuen Menschen“ nicht nur fordert, sondern „schafft“, was dann – wie die Erfahrung lehrt – für viele Menschen zur Folge hat, dass sie abge-„schafft“ werden; die „humane“ Form des „Abbaus von Personal“ durch Zeitablauf liegt dem oft ungeduldigen Kritiker menschlichen „So-Seins“ nicht. 74 Vgl. nur den Disput Unger – Ewald – West (R.M. Unger, Knowledge and Politics (1975); 96 Harv.L.Rev. 563 (1983); W. Ewald, Unger’s Philosophy, 97 Yale L.J. 665 (1988); C. West, 97 Yale L.J. 757 (1988). West überschreibt seine „Erwiderung“ auf Ewald mit „A Liberal Critic“ und setzt sich mit den Argumenten Ewalds so gut wie nicht auseinander. Das „braucht“ er auch nicht: sein wesentliches Argument liegt im Titel und eben darin, dass er mit einem solchen Titel den Gegner als „liberal“ (im U.S.-amerikanischen Verständnis, das in Deutschland etwa dem Begriff „wirtschaftsliberal“ entspricht) brandmarkt..

10 Schmitt Glaeser

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Vernunft“75. Die Vorstellung des Einzelnen als mit autonomem Verstand und Willen begabte „Einheit“, dessen Aufgabe es ist, die Welt zu verstehen und sie unter die Kontrolle der Vernunft zu bringen76, mag vielleicht als illusionär erscheinen. In einer normativen Wissenschaft aber, wie es die Jurisprudenz ist, kann diese Vorstellung durchaus eine legitime Stellung einnehmen. Man muss sie fordern, auch wenn sie illusionär ist.

B. Die Fähigkeit, sich über Beobachtungen zu verständigen Die Tatsache, dass die Vernunft in der normativen Wissenschaft ihren legitimen Platz haben kann (und muss), ändert nichts daran, dass die Interpretation, das Verstehen der Rechtsätze und der Wirklichkeit in dem Moment notwendig und weitgehend unkontrollierbar mit Vorverständnissen belastet sein könnte, in dem das Verstehen in Worte gefasst wird. Diese Tatsache darf man nicht negieren, sondern sie muss beachtet und verarbeitet werden. Von zentraler Bedeutung ist die In-Frage-Stellung der Existenz einer wortwörtlichen Bedeutung eines Satzes77. Dabei kann man zwei Ebenen trennen. Die eine ist die Beobachtung, die andere ist die Verständigung über das Beobachtete. Diese Ebenen lassen sich aber nicht hartleibig voneinander scheiden, denn sie sind wechselbezüglich verbunden durch die Sprache. Erst durch den sprachlichen Ausdruck werden Beobachtungen für den Einzelnen (be-)greifbar. Mit dem sprachlichen Ausdruck der Beobachtungen ist der Bezug zur Verständigung aber schon hergestellt, weil Sprache im Gespräch gelernt und auf Kommunikation ausgerichtet ist. Gespräch und Kommunikation sind allerdings nie universell, weil sie in bestimmten Sprachgemeinschaften bzw. Fachgemeinschaften stattfinden. Es kann kaum bestritten werden, dass z.B. ein Arzt und ein Jurist die Verletzung eines Menschen unter verschiedenen Aspekten sehen und auch beschreiben werden. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass in den verschiedenen fachlichen (aber auch z.B. regionalen) Sprachgemeinschaften unterschiedliche Anforderungen an die Beschreibung von Beobachtungen gestellt 75 B. Pascal, Gedanken, Aph. 55 f., 267, 272. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz (1967), 88 f., liest dies auch im cartesianischen cogito: „Nicht nur weist Descartes dem Wahnsinn nicht mehr in der Phase des radikalen Zweifels die Tür, nicht nur installiert er dessen bedrohliche Möglichkeit im Zentrum des Intelligiblen, sondern er gestattet keiner determinierten Erkenntnis, ihm juristisch zu entgehen“. 76 J. Derrida, Diacritics XIX (1983), 7, bezeichnet es als die Imperative der modernen Welt, für alles eine vernünftige Erklärung zu geben. Zum Versprechen der Gerechtigkeit für das Individuum im liberalen Staat: J.-L. Lyotard, Cultural Critique 5 (Winter 1986 / 87), 209 / 215. 77 Vgl. dazu u.a. S. Fish, Introduction: Going Down the Anti-Formalist Road, in: Doing what Comes Naturally (1989), 1 / 7, der mit einigem Recht geltend macht, dass die Suche nach dem Willen des Gesetzgebers oder die Suche nach Zwecken schon eine Abkehr vom „Formalism“ bedeutet.

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werden, und dass die verwendeten Begriffe in der Regel als Fachbegriffe eine umfangreiche Begriffsgeschichte, verbunden mit den verschiedenartigsten Assoziationen aufweisen. So gesehen entstehen schwerwiegende Probleme für eine „objektive“ Abbildung von Wirklichkeit in der Sprache. Die einzelnen Begriffe sind beladen mit Theorien über das Beobachtete. Willard Quine konstatiert: It „has now become fashionable to question the notions [of observation terms and sentences], and to claim that the purportedly observable is theory-laden in varying degrees“78. Diese Probleme erschweren aber zunächst nur die Verständigung zwischen verschiedenen Gruppen. Innerhalb von Gruppen sind die unterschiedlichen Perspektiven in der Regel sehr viel schwächer ausgeprägt. So ist es für den Chemiker ausreichend, festzustellen, „Hydrogen-Sulfat ist flüchtig“ oder für den Juristen „X hat den Y heimtückisch getötet“. Zwar bestehen einzelne Elemente dieser Sätze aus komplexen Begriffen, die auf eine beinahe unendliche Problemgeschichte verweisen. Gleichwohl können sie zur Verständigung führen, wenn man sie nicht allzu prinzipiell hinterfragt, sondern sich darauf beschränkt, ihren erlernten Sinn zugrunde zu legen79. Wenn Jurist A zu Jurist B sagt, „X hat Y heimtückisch getötet“80, dann können beide damit etwas anfangen und sie können weiterarbeiten, und zwar in beide Richtungen: – Sie können den Satz als theoretischen Satz ansehen und sich über den Begriff „heimtückisch“ oder „getötet“ streiten; dies wäre dann eine rückblickende Betrachtung des Satzes, der die Theorieabhängigkeit von „heimtückisch“ oder „getötet“ zum Thema macht. Dieses Thema kann behandelt werden, indem man mit Ereignissätzen arbeitet, die die Problematik der Begriffe zu verstehen und zu lösen helfen. Solche Ereignissätze können hier z.B. sein: X ist der Leibwächter von Y. X hat Y während seiner Dienstzeit von hinten erdolcht etc. (heimtückisch) oder: Der Dolch hat das Herz von Y schwer verletzt. Im Gehirn von Y passiert nichts mehr etc. (getötet). – Sie können den Satz aber auch als Beobachtungssatz ansehen und nun über die Bedeutung der Beobachtung für die Einschlägigkeit eines Gesetzes streiten, das z.B. besagt: „Wenn jemand einen anderen heimtückisch tötet, dann wird er mit dem Tod bestraft“. Hier liegt das eigentliche Problem, wie sich noch zeigen wird81. Nur weil der Begriff „getötet“ theorie-beladen ist, ist der Satz, der ihn enthält, noch nicht per se ein theorie-beladener Satz. Er kann, wie Quine betont, „holophrasistisch mit einem festen Spektrum sensueller Stimulationen assoziiert Pursuit of Truth (1992), 6. W. Quine, Pursuit of Truth (1992), 6 f. 80 Die Wahl eines strafrechtlichen Beispiels für die Darstellung bietet sich an, weil, wie auch K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (1977), 48, in seinen Überlegungen betont, die „Eingriffe des strafenden Staates zu den härtesten zählen“ und daher den „Vorgang der Rechtsanwendung . . . in Reinkultur darbietet“. 81 Sogleich unter C. 78 79

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sein“82. Führt eine Aussage über die Welt zur Verständigung, dann bedarf sie keiner Erklärung und keines Brückenschlages. Der betreffende Satz ist dann ein Beobachtungs-Satz, dessen Bedeutung diejenigen, die sich mit ihm verständigen, kennen.83. Solche Überlegungen alleine können indes nicht zu der Gewissheit führen, dass das, was man sagt, dem Wesen dessen entspricht, über das man etwas sagt, womit zweierlei ausgeschlossen ist: Zum einen besagt es nichts darüber, ob man über „das Wesen“ der Dinge der tatsächliche Welt etwas ausgesagt hat; zum anderen besagt es aber auch nichts darüber, ob man über „das Wesen“ der Worte der möglicherweise anzuwendenden Rechtssätze etwas ausgesagt hat. Das ist (vorerst) aber auch nicht nötig. Es genügt, dass man sich verständigen kann84. Mehr zu verlangen, hieße menschliche Verständigung unmöglich zu machen – Skepsis als Selbstzweck. Wir wissen aus Erfahrung, dass es Menschen oft ohne weiteres gelingt, ihr Verhalten durch Sprache so zu koordinieren, dass sie arbeitsteilig auf Anforderungen der Realität reagieren können. Für die juristische Methodik stellt sich aber eine noch darüber hinausgehende Aufgabe der Verständigung: es geht darum, dass Rechtsätze in einer nachvollziehbaren Weise angewendet und in diesem Sinne „verstanden“ werden können.

C. Die Fähigkeit, einen Rechtssatz zu einem Beobachtungssatz in Beziehung zu setzen – die Versuchung der Dudeninterpretation Rechtssätze sind keine Beobachtungssätze85, sie sind Anweisungen zum Handeln, genauer zu einem Verhalten. Das Problem der Anwendung ist dabei weniger ein Problem der Erkenntnis als ein Problem der Verantwortung. Denn jeder Rechtssatz ist – schon im Moment der Satzung – mit einer Vielzahl von Anknüpfungen an die Vergangenheit verbunden. Wendet man den Rechtssatz „einfach so“ an, stellt man ihn also neben einen Beobachtungssatz und vergleicht dann die Wörter, dann ist dies unverständig i.S.v. unjuristisch. Beachtet man bei der Anwendung nur die bisher erfolgten Anknüpfungen (an die Vergangenheit), dann ist dies zwar nicht unjuristisch, es kann aber unverantwortlich in dem Sinne sein, dass unberücksichtigt bleibt, dass man selbst es ist, der aus dem Rechtssatz Folgerungen zieht. So 82 W. Quine, Pursuit of Truth (1992), 8: „holophrastic association with fixed ranges of sensory stimulation“, und er fährt fort: „however that association be acquired“. 83 So sagt L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1971), Ziff. 381: „Wie erkenne ich, daß diese Farbe Rot ist? – Eine Antwort wäre: ,Ich habe Deutsch gelernt.‘“ 84 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1971), 88 E: „Dies ist keine Übereinstimmung in der Meinung sondern in der Lebensform.“ 85 Zur Unterscheidung von Normsätzen und Aussagesätzen vgl. Chr. Weinberger / O. Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik (1979), 20 f., 97 ff., 108 ff.

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lässt sich Chief Justice Taft in Olmstead 86 vorwerfen, er habe nicht nach dem Sinn des 4. und 5. Amendments gesucht; und man kann Justice Taney vorwerfen, er habe sich in Dred Scott87 den Anforderungen seiner Zeit nicht gestellt. Die Frage nach der richtigen Anwendung von Rechtssätzen ist folglich nur am Rande ein Problem des Textverstehens. Die eigentliche Gefahr liegt darin, dass dem Text zu viel oder zu wenig Gewicht gegeben wird. Wichtig ist überdies, in welchem funktionalen Kontext der Text angewendet wird. Für den Polizeibeamten ist der Text des Gesetzes nicht von vorrangiger Beachtlichkeit. Ob er Gesetzeshüter oder Unterdrückungsorgan ist, bestimmt sich im wesentlichen nach Dienstanweisungen, Amtskodex und Selbstverständnis. Und für einen Staatsminister ist es entscheidend, dass seine Rechtsanwendungen vor der Bevölkerung und dem Parlament als Vollzug deren Willens erscheinen. Anders als Beobachtungssätze sind Rechtssätze auf Anwendung88 im Sinne einer qualifizierten Verständigung ausgerichtet. Man kann sie zwar wie Beobachtungssätze verstehen, dieses Verstehen ist aber nur ein Bruchteil dessen, was für die Rechtsanwendung Bedeutung hat. Ihr normativer Gehalt kann nicht dadurch ermittelt werden, dass man den Rechtssatz lediglich liest oder sich über seine Bedeutung verständigt. Sobald er auf Sachverhalte bezogen werden soll, müssen andere zugehörige Rechtssätze gefunden und ausgewählt werden, man muss Wertungen hinzuziehen und unter den möglichen Beobachtungen der Umwelt diejenigen auswählen, die für die Anwendung des Rechtssatzes Relevanz erlangen können. Der Unterschied des Rechtssatzes zum Beobachtungssatz in Struktur und Gebrauch ist bei finalen Rechtsätzen, wie sie vor allem im Planungsrecht Verwendung finden, offensichtlich, weil der Rechtssatz so gut wie immer normative Begriffe („soll“, „hat die Aufgabe“ u.ä.) enthält89. Bei konditionalen Rechtssätzen ist der Unterschied nicht so offensichtlich; gerade bei diesen Sätzen lässt sich aber der Unterschied genauer herausarbeiten: Zwei Beobachtungssätze können in einem räumlich-zeitlichen Zusammenhang kombiniert werden, in dem bei demselben Gegenstand immer zwei Beobachtungen zusammen gemacht werden. Willard Quine90 bezeichnet solche Sätze als focal observations categorical. Ein Beispiel für eine solche Satzkombination wäre: „Wenn es regnet, dann wird der Boden nass“. Eine solche Satzkombination wird widerlegt, wenn man die erste Beobachtung macht, die zweite aber nicht. Auf den ersten Oben 2. Kap. 2. Abschn. A. Oben 2. Kap. 2. Abschn. C. 88 Dass auch Verständigung mit Sätzen eine Anwendung von Sätzen ist, braucht hier nicht erörtert zu werden. Die folgenden Überlegungen befinden sich in weitgehender Übereinstimmung mit K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (1977), 35 ff. 89 S. z.B. § 1 BauGB: Abs. 1 („Aufgabe der Bauleitplanung ist es . . .“); Abs. 5 („Die Bauleitpläne sollen eine . . . Entwicklung . . . gewährleisten . . .“); § 1a BauGB: Abs. 1 („Mit Grund und Boden soll sparsam und schonend umgegangen werden . . .“); usw. – Allgemein dazu Werner Hoppe, in: HStR III (1988), § 71 mwN. 90 Pursuit of Truth (1992), 11. 86 87

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Blick erscheint auch der konditionale Rechtssatz als eine focal observation categorical: Das Vorliegen des ersten Elements soll das zweite bedingen, wenn das Subjekt identisch ist. Dass dieser Schein dem Rechtssatz und seiner Bedeutung nicht annähernd gerecht wird, ist inzwischen immer wieder und hinreichend belegt worden91. Der Satz „Wer einen anderen heimtückisch tötet, wird mit dem Tod bestraft“, soll keineswegs zum Ausdruck bringen, dass beide Beobachtungen stets zusammen gemacht werden können. Denn auch wenn ein Mensch einen anderen getötet hat und daraufhin nicht mit dem Tode bestraft wird, ist der Satz nicht widerlegt. Das Gleiche gilt, wenn ein Mensch mit dem Tode bestraft wird und keinen Menschen getötet hat; auch dies macht den Rechtssatz nicht falsch. Man kann also die insoweit triviale Feststellung treffen, dass ein Rechtssatz keine Kombination von Beobachtungen ist,92 vielmehr dass die Zuordnung einer Beobachtung zu einem Rechtssatz stets den normativen Charakter des Rechtssatzes im Auge behalten muss93. Wiewohl man sich ohne weiteres darüber verständigen kann, dass sich weder die Sätze „X hat Y von hinten erdolcht“ und „X hat Y heimtückisch getötet“, noch die Sätze „X hat Y von hinten erdolcht“ und „X wird mit dem Tode bestraft“, ohne normative Erwägungen in Beziehung setzen lassen, so wird dies doch vor allem für die erste Kombination leicht aus den Augen verloren94. Das zeigt sich sehr deutlich an der immer wieder aufgeworfenen Frage, welche Sprachkonvention für die grammatikalische Auslegung eines Rechtssatzes herangezogen werden soll. Die Frage ist von legitimem Interesse, wenn man nur den Rechtssatz betrachtet, also fragt, was z.B. „heimtückische Tötung“ besagt. So wird die Frage aber kaum je gestellt. Sie wird erst dann bedeutsam, wenn es darum geht, den Rechtssatz anzuwenden. Zu nahe liegt der (Kurz-)Schluss, ein Rechtssatz werde dann richtig angewendet, wenn die sprachliche Übereinstimmung des Tatbestandteils des Rechtssatzes mit der Beschreibung des Sachverhaltes hergestellt ist. Lässt sich (im Sinne des Rechtssatzes!) behaupten: „X hat Y heimtückisch getötet“, wenn feststeht, dass der „Mann auf der Straße“ das Erdolchen von hinten als heimtückisches Morden ansieht, oder wenn die akademische Gemeinde dies so sieht, oder wenn im Duden steht, dass „heimtückisch“ identisch ist mit „hinterrücks“ und „hinterrücks“ identisch ist mit „von hinten“? Rechtfertigt diese Dudeninterpretation die Verurteilung des X zum Tode? Die Möglichkeit, beide Sätze als Eins-zu-Eins darVgl. nur M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (19762), 47 ff. mN. Der (insofern normative) Charakter des Satzes erfasst auch jede weitere Verwendung seiner Teile in Verbindung mit einem Beobachtungssatz. Weder der Satz „Wenn ein Mensch einen anderen von hinten erdolcht, dann begeht er einen heimtückischen Totschlag“, noch der Satz „Wenn ein Mensch einen anderen von hinten erdolcht, dann wird er mit dem Tode bestraft“, sind „focal observations categorical“. Der erste Satz wäre als Kombination von Beobachtungssätzen eine Tautologie; sinnvoll ist er nur, wenn der zweite Teil normativ verstanden, also das betreffende Verhalten unter den Tatbestandsteil des Rechtssatzes subsumiert wird. Auch der zweiten Satz lässt sich nur normativ verstehen. 93 Vgl. nur K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (1977), 35, insbes. 51 f. 94 Vgl. K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (1977), 43 ff. und seine Verweise auf die „juristische Kausalität“ bei Zirelmann und v. Thur. 91 92

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zustellen95, besagt für sich noch nichts darüber, ob beide Sätze im Sinne des Rechtssatzes identisch sind96. Martin Kriele97 folgert daraus: „Das Postulat, der Richter solle richtig subsumieren, ist zwar zu billigen, aber es ist völlig nichtssagend.“ Dem kann nicht zugestimmt werden. Denn ohne die im Rechtssatz vorgestellte Rechtsfolge ist der Richter nicht autorisiert, irgendeine Entscheidung zu treffen. Damit aber muss sich der Richter auf den Satz beziehen, er muss den Rechtssatz anwenden. Der Rechtssatz ist schon deswegen nicht nichtssagend, weil er festlegt, dass der Richter etwas anordnen, untersagen oder feststellen darf. Da diese Folgen aber an Vorbedingungen geknüpft sind, muss sich das, was der Richter denkt, dem unterordnen, was der Rechtssatz bestimmt. Damit ist man freilich noch nicht weitergekommen, weil das Denken des Richters erst im Sprechen wieder sichtbar wird – und dann wäre man wieder bei der Unmöglichkeit der Subsumption. Eine Lösung dieser Spannung zwischen Subsumptionsnotwendigkeit und Subsumptionsunmöglichkeit sieht Karl Engisch98 in der Kommunikation der Juristen über Rechtssätze, d.h. darin, dass man in der juristischen Arbeit über die Rechtssätze nicht so spricht, als wären sie Beobachtungssätze, sondern dass man in Beobachtungssätzen über sie spricht. Hier öffnet sich aber eine weitere Problematik, die darin liegt, dass Rechtssätze, anders als Beobachtungssätze, keine Verständigung zwischen zwei (oder mehreren) Beteiligten herbeiführen können. Verständigung ist ein kommunikatives Verhalten, das grundsätzlich sowohl ein Zwiegespräch als auch eine Nähe im Kontext voraussetzt. Rechtssätze haben aber nichts mit einem derartigen kommunikativen Verhalten zu tun. Bei ihnen handelt es sich 95 Besonders deutlich wird dieses Problem bei M. Moore, 58 Cal.L.Rev. 277 (1985) 287, wenn er versucht, die Worte des Gesetzes an die Realität zu binden. Nach Moore ist es immer vorzuziehen, sich „by the real nature of the things to which the words refer and not by the conventions governing the ordinary usage of those words“ leiten zu lassen. Er sieht dies als eine realistische, im Gegensatz zu einer konventionalistischen Sicht. Das Problem wird deutlich, wenn er fragt, wie man das Wort „dead“ auslegen sollte. Er meint, man solle sich nicht leiten lassen „by some set of conventions we have agreed upon as to when someone will be said to be dead; rather, we will seek to apply ,dead‘ only to people who are really dead, which we determine by applying the best scientific theory we can muster about what death really is“ (a.a.O., 294). S. Fish, in: Doing What Comes Naturally (1989), 372 / 381, hält dem zu Recht entgegen, der Satz „kannibalisiere“ sich selbst. Denn was Moore verlangt, ist, dass wir einen Konventionalismus durch einen anderen ersetzen. Wir haben nur nicht mehr die Auswahl zwischen zwei juristischen Ansichten zum Tod, sondern zwischen Deutschem Ärzteblatt und New England Journal of Medicine. Was Fish aber (wie immer) übersieht, ist, dass Moore eben keine Autorität sucht, sondern eine Kompetenz. Dahinter steckt m.E. das Problem, dass juristische Entscheidungen immer als autoritative Entscheidungen verstanden werden. 96 Der Weg zur „Dudeninterpretation“ verläuft dabei nicht selten über das, was K. Gräfin von Schlieffen, Rechtstheorie 32 (2001), 175, 189, sehr plastisch als „virtuose Zauberkunst“ bezeichnet: Erst stellt man einen juristisch konstruierten (i.e. auf den Rechtssatz bezogenen) Sachverhalt als Repräsentanten des realen Konfliktes dar und dann erst wendet man den Rechtssatz auf ihn an. Das eigentliche Problem der Rechtsanwendung liegt aber im ersten Schritt: hier genügt keine bloße Darstellung, erforderlich ist schon hier eine Anwendung. 97 Theorie der Rechtsgewinnung (19762), 51. 98 K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (1977), 52 ff., Fn. 13.

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um Regeln, die in einer anderen Zeit und fast immer unter gänzlich anderen Umständen entstanden sind: Sie wurden in der Vergangenheit verfasst, meist von mehreren Personen formuliert, und sie wenden sich an eine Vielzahl von Personen. Mit dem Versuch, dem Rechtssatz einen Sinn zu entnehmen oder ihn, in welcher Weise auch immer, als Willensäußerung zu begreifen, eröffnet sich eine Reihe von Vorurteilen und Kontexten, die die Aussage des Satzes in unterschiedlichste Gehalte aufspaltet und so seinen Bezug zu irgendeinem Sachverhalt in der Zukunft aus jeder Eins-zu-Eins-Relation herausheben99. Sogar ein scheinbar so unverfänglicher Rechtssatz wie Art. 38 II 1. Hs. GG lässt sich nicht ohne weiteres zu dem Beobachtungssatz „A ist 18 Jahre alt“ in Beziehung setzen. Selbst hier bedarf es einer Interpretation: „A meaning that seems to leap off the page, propelled by its own self-sufficiency, is a meaning that flows from interpretative assumptions so deeply embedded that they have become ,invisible‘“100. Fragt man sich nämlich, ob eine sechzehn Jahre alte Frau wählen darf, die vorzeitig ihr Abitur gemacht, ein Informatikstudium begonnen hat und in der Jugendorganisation einer Partei federführend für die Vorbereitung der Parteitagsbeschlüsse ist, dann bedarf es mehr als der Feststellung „18 = 18“ [oder: 16 6ˆ 18]. Zumindest muss man die Begründung hinzuziehen, dass die Verfassung hier eine rein formale Festlegung trifft, also weder auf persönliche Reife noch auf Verdienst oder politische Erfahrung abstellt. Anders gesagt: Bedeutung darf nicht mit Benennung verwechselt werden101. Weil aus einem Rechtssatz letzten Endes immer eine rechtliche Erkenntnis gezogen werden muss, hilft es auch nicht weiter, den Sachverhalt genauer zu betrachten, exakt zu prüfen, welche (rechtlichen) Wertungen man in ihn legen muss oder wie man ihn zu strukturieren hat. Man kann auch Gesetzmäßigkeiten in ihm suchen, man kann die Folgen verschiedener Rechtsanwendungen hypothetisch prüfen, man kann mit einem Sachverhalt sehr viel machen: soziologisch, ökonomisch, psychologisch, politologisch, philosophisch. Da aber im Endergebnis etwas Rechtliches mit ihm gemacht werden muss, hilft diese Prozedur – zumindest für sich allein – noch nicht weiter. Auch wenn aus erkenntnistheoretischer Sicht Ereignisse und Sätze über Ereignisse nicht in eins zu setzen sind und auch, wenn Sätze über Ereignisse und normative Sätze über Ereignisse nicht in eine Eins-zu-Eins Beziehung gebracht werden können, so ist damit noch nicht gesagt, dass man Sätze über Ereignisse und Rechts99 Vgl. dazu R. Kempson, Presuppositions and the Delimitation of Semantics (1975), 60: Eine semantische Theorie, die die Vorurteile der Verfasser von Äußerungen einbezieht, kann nicht funktionieren. Sie kommt daher zu der Schlussfolgerungen, dass eine semantische Theorie Vorurteile nicht berücksichtigen darf. 100 Vgl. S. Fish, in: Doing What Comes Naturally (1989), 356 / 358. 101 W. Quine, From a Logical Point of View (19802), 21. Wenn K. Larenz, Methodenlehre (19916), 204 f., bei „Zahlen, Eigennamen und bestimmten technischen Ausdrücken“ keinen Bedeutungsspielraum sieht, verkennt er, dass Rechtssätze und Beobachtungssätze immer einer bewussten Zuordnung bedürfen. Vgl. auch M. Schwabe, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft I (1936), 130: „Alle Rechtsbegriffe werden durch die Sprache vermittelt. Alle Worte aber enthalten Anschauung . . . , Wort, Bild und Begriff hängen zusammen“.

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sätze nicht aus rechtswissenschaftlicher Sicht in ein solches Verhältnis setzen soll. Ein derartiges Gebot bedarf allerdings einer normativen Begründung, die aber ernsthaft nicht gesucht wird und die m.E. auch nicht gelingen kann. Weiter führt dagegen auf den ersten Blick die mehr oder minder explizit geltend gemachte und unter bestimmten Voraussetzungen auch legitime Forderung, bei dem Verstehen des Rechts auf Konsens (oder Meinungsumfragen) Rücksicht zu nehmen102. Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, dass er demokratisch erscheint. Das Problem liegt aber in der Schwierigkeit, Konsens festzustellen. Konsens kann in vielen Formen und Abstufungen definiert werden und er ist allenfalls über sprachkonventionalistische Übereinstimmung definierbar, damit aber „demoskopische Auslegung“ und zirkulär, denn die sprachkonventionalistische Übereinstimmung setzt wiederum selbst Konsens voraus. Gerade diese Zirkularität eröffnet allerdings u.U. eine Rechtfertigung des Vergleichs von Rechts- und Ereignissätzen. Recht soll Wirklichkeit bewerten und gestalten. Um dies zu erreichen werden Sätze formuliert, die den Rechtsanwendern ermöglichen sollen, die Bewertungs- und Gestaltungsentscheidung des Gesetzgebers zu verstehen und umzusetzen. Geht man davon aus, dass der Gesetzgeber den Willen des Volkes verwirklichen will, wie es vor allem in der Demokratie die Vorstellung ist103, dann kann über den Wandel der sprachkonventionellen Übereinstimmung der Konsens der Sprachgemeinschaft das Recht verändern. Diese Überlegung dürfte im Hintergrund vieler Ansätze stehen, die die Methodik des Rechts an Demoskopie oder Sprach-Usancen anzukoppeln versuchen104. Und diese Ansätze sind insoweit vielversprechend, als sich im Konsens über Sprache wesentliche Veränderungen des Bewusstseins einer Gemeinschaft vollziehen. Anders formuliert: Weil der Konsens in der Sprache den Volkswillen reflektiert und Politik über Sprache gemacht wird, muss das Recht als Ergebnis von Politik so ausgelegt werden, dass seine Sprache als Umgangssprache gilt. Damit soll nicht der recht wenig inspirierten Sicht des „Lebens als Text“ gefolgt werden, nach der Veränderung nur noch als Wechsel der Sprechgewohnheiten erscheint105. Man kann aber durchaus konstatieren, dass die Veränderung von Sprache mächtige Bewusstseinsveränderungen bewirkt und erkennbar macht. So stellen sich z.B. im Bezug auf einen Vergewaltigungsfall ganz neue Perspektiven, wenn bei erzwungenem Beischlaf in der Ehe von „rape in ordinary circumstances“ (Catherine MacKinnon) gesprochen würde. Es bedeutet auch eine ganz erhebliche Veränderung, dass man immer weniger Menschen findet, die bei einer Sitzblockade von „Gewalt“ sprechen. Allerdings kann Sprachkonvention nur dann als eine geeignete Form der Fortentwicklung des Rechts angesehen werVgl. dazu E. Benda, in: JZ 1972, 497. Eine Annahme, die eine bestimmte Demokratietheorie voraussetzt, die aber hier nicht hinterfragt werden soll, weil sie die weiteren Ausführungen nicht beeinflusst. 104 Vgl. jüngst N. Rowe, Recht und sprachlicher Wandel (2003) und die kritischen Fragen zur Möglichkeit des Nachweises von Änderungen der Sprachusancen von G. Roellecke, Sexualmoral, frisch abgepackt, FAZ Nr. 220 vom 22. 9. 2003, 39. 105 S. Fish, in: Doing What Comes Naturally (1989), 1 / 24. 102 103

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den106, wenn erstens sich diese wirklich und innerhalb eines kurzen Zeitabschnittes eindeutig ändert, wenn zweitens alle Gruppen der Gesellschaft gleichmäßig an der Veränderung Teil haben, und wenn sie drittens auf das Recht ausgerichtet ist. Keine dieser Voraussetzungen wird aber erfüllt. Zunächst ist der Wandel von Sprachkonventionen durchweg ein sehr langsamer Prozess, der viele Variationen entwickelt, bevor man davon sprechen kann (wenn man je davon sprechen kann), dass er vollzogen ist. Er vollzieht sich überdies unterschiedlich in unterschiedlichen ethnischen, sozialen und Altersgruppen, ein Aspekt, der zu Benachteiligungen gerade der kleineren Gruppen (etwa kulturellen Minderheiten) führt. Und schließlich ist er nicht hinreichend auf das Recht ausgerichtet. Dies zeigte sich etwa in Bezug auf die Diskussion um die Anwendung des Nötigungsparagraphen107 auf Sitzblockaden. Es erschien hier oft so, als ginge es alleine darum, ob man Hinsetzen, Sitzen oder Sitzenbleiben als Gewalt bezeichnen kann. Nun ist Gewalt sicherlich ein Tatbestandsmerkmal des § 240 StGB; für das Verstehen des Normgehaltes ist der Begriff der Gewalt aber allenfalls auch bedeutsam. Denn nicht Gewalt als solche wird unter Strafe gestellt, sondern die Nötigung. Und diese Nötigung kann neben Gewalt auch durch „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ begangen werden, wie Abs. 1 von § 240 StGB zeigt. Darüber hinaus macht Abs. 2 der Bestimmung deutlich, dass (für das Tatbestandsmerkmal der Rechtswidrigkeit) auch noch bedeutsam ist, ob die Tat als verwerflich anzusehen ist. Der unbezweifelbare (aber keineswegs umfassende oder abgeschlossene) Wandel der Sprachkonvention in Bezug auf Gewalt vollzog sich nicht im Lichte des § 240. Juristische Arbeit stellt sich unter anderem dar als die – möglichst reflektierte – Abwehr der Möglichkeit, dass Sätze keine oder zu viele rechtliche Bedeutungen haben können. Letztlich geht es um die Macht der Interpreten und die Beschränkung dieser Macht durch Interpretation108. Der Richter interpretiert, aber die Interpretation muss Regeln folgen, die verhindern, dass das Recht allzu sehr den Wertvorstellungen des Richters ausgeliefert wird, so dass Recht lediglich als maskierte Macht erscheint109. Die Erkenntnis nämlich, dass Rechtssätze eine Vielzahl von Bedeutungen haben können, sagt noch nichts darüber aus, ob sie auch eine Viel106 Vgl. dagegen nur Stanford v. Kentucky, 492 U.S. 361 (1989) 373: „[T]he primary and most reliable indication of [a national] consensus is . . . the pattern of enacted laws“. Und selbst wenn man den theoretischen Ansatz teilt – es bleibt das Problem, was man unter Verfassungsstaatlichkeit versteht. Denn ungeachtet aller Fraglichkeit einer Trennung von Sprache und Realität: Verfassungen normieren Dinge, nicht Namen (Craig v. Missouri, 29 U.S. [4 Pet.] 410 [1830] 433: es ging um die Einführung von Papiergeld auf Landesebene. Chief Justice Marshall erklärte dies für verfassungswidrig). 107 Vgl. BVerfGE 73, 206 und E 92, 1 und dazu ausführlich H. Tröndle, Strafgesetzbuch (199748), § 240, Rn. 2 ff. mzN. 108 S. Fish, in: Doing what Comes Naturally (1989), 1 / 5: „It is first and last a question of power in relation to the putting in place of constraints.“ 109 O. Fiss, 34 Stan.L.Rev. 739 (1982) 741: „there are any number of possible meanings, that interpretations consists of choosing one of those meanings and that in this selection process the judge will inevitably express his own values. All law is masked power.“

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zahl von rechtlichen Bedeutungen besitzen. Man verkennt das Normative, den Sinn des Tatbestandsteils eines Rechtssatzes, den er in der Verbindung mit der Rechtsfolge erhält, den rechtlichen Sinn, wenn man ihn einfach nur mit Beobachtungssätzen und ihrer sprachkonventionalistischen (Duden-) Bedeutung vergleicht. Anwendung ist nicht Vergleich mit irgendetwas, sondern Urteil über das Sein. Ob man nun sagt: Vergewaltigung in der Ehe ist rechtlich keine Vergewaltigung, z.B. weil der unverzichtbare sichere Beweis in den meisten Fällen nicht erbracht werden kann, oder ob man sagt: Eine Sitzblockade ist rechtlich keine Gewalt, z.B. weil Gewalt nur als unmittelbare Einwirkung verstanden wird: in keinem Fall erhält diese Äußerung ihre Legitimation aus der Wirklichkeit oder aus einer in Sprache gefassten Wahrnehmung der Wirklichkeit110. Das Problem der Dudeninterpretation ist vergleichbar mit dem Problem der Orientierung an Präzedenzen. In beiden Fällen wird der Rechtssatz verstanden, bevor er als normativer Satz interpretiert wird. In beiden Fällen orientiert man sich zur Beurteilung eines Lebenssachverhaltes nicht an dem Gehalt des Rechtssatzes, sondern an formalen Begleitumständen. Präzedenzen, beispielhafte Fälle, gewinnen ihre Überzeugungsmacht aus der Nähe entweder zum Positivierungsakt (typisch Marsh v. Chambers111) oder zu geschichtlichen Umständen der Rechtssetzung (Bundestagsauflösung112). In diesen Fällen kommt man schnell zu der „auf der Hand liegenden“ Lösung; die Bedeutung des Rechtssatzes erscheint nahe liegend. Daher ist diese Form des Rechtsverstehens auch so verleitend. Die Dudeninterpretation gewinnt ihre Überzeugungskraft aus den kommunikativen Begleitumständen des Normierungsaktes, i.e. der Fassung in Worte. Die normalsprachliche Bedeutung der gewählten Vokabeln kann aber kaum mehr als eine erste Orientierung sein. Die juristische Methodik muss den Text nachgerade aus der normalsprachlichen Umgebung befreien und ihn in die Normativität rezipieren, sie muss aus der Benennung eine Bedeutung entwickeln.

4. Abschnitt

Schwierigkeit der Zielsetzung einer juristischen Methodik Unter welchen Vorzeichen hat eine solche Transformation von der Normal- zur Rechtssprache zu stehen? Welche Aspekte des Phänomens Recht bieten den geeigneten Ansatzpunkt, Beobachtungen über die Welt in rechtlichen Überlegungen 110 J. Isensee (Vom Stil der Verfassung [1999], 7) sieht die Differenz, die in der literarischen Sprache zwischen dem Wort als Zeichen und der Sprache, die es repräsentiert, klafft, in der Gesetzessprache aufgehoben. Das besondere der Gesetzessprache liege darin, dass sie sich nicht auf einen Gegenstand bezieht, der außerhalb ihrer selbst liegt. Ihr Gegenstand sei die Rechtsnorm und sie inkarniere diesen Gegenstand, weil er nur im Wort existiere. 111 463 U.S. 783 (1983). 112 BVerfGE 62, 1.

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bewertbar zu machen? Verschiedene Theorien befassen sich mit der Bewältigung dieser Aufgabe. Zwei Grundrichtungen lassen sich unterscheiden. Sie sollen als konsequentialistisch und deterministisch bezeichnet werden. Ein im Wesentlichen konsequentialistischer Ansatz findet sich bei Ronald Dworkin: „. . . for us, legal argument takes place on a plateau of rough consensus that if law exists it provides a justification for the use of collective power against individual citizens or groups“113. Der deterministische Ansatz wird beispielhaft von H.L.A. Hart vertreten: „The most prominent general feature of law at all times and places is that its existence means that certain kinds of human conduct are no longer optional, but in some sense obligatory.“114 Beide Theorien gehen sinngemäß von der selbstverständlichen Tatsache aus, dass es Recht gibt. Ihr Unterschied liegt in der Perspektive, von der aus eine Rechtsordnung betrachtet werden kann. Für Hart ist Recht etwas Existentes und muss von anderen Erscheinungsformen menschlicher Kultur unterschieden werden. Recht ist für ihn eine notwendige Folge des Zusammenlebens von Menschen und entspricht ihrer „Natur“. Auch Dworkin stellt nicht in Frage, dass Recht ein Aspekt der Kultur ist; die Notwendigkeit des Rechts wird von ihm aber nicht völlig fraglos hingenommen. Recht müsse vielmehr etwas „beweisen“, will es wirklich Recht sein. Es entspricht diesen unterschiedlichen Perspektiven, dass sich für den Deterministen vorrangig die Frage stellt, wie Recht als ordnendes Element einer Gesellschaft funktioniert und was zum Recht gezählt werden kann, während den Konsequentialisten primär die Frage beschäftigt, warum Menschen über andere Menschen richten dürfen und wie Recht – angesichts seiner notwendigen Rechtfertigungen – „richtig“ angewendet wird. Dabei ist Recht für beide Konzeptionen Grundlage und Rechtfertigung für jegliche Rechtsarbeit; das, was man als Rechtsanwendung bezeichnet, ist auch vom Wesen her Anwendung von Recht. In dieser dezidiert normativen Sicht nehmen beide Konzeptionen einen internen Standpunkt ein: Ihre Vertreter verstehen sich als Teilnehmer des Prozesses, den sie erklären und strukturieren wollen. Diese interne Sicht alleine reicht allerdings nicht aus, um Ansatzpunkte zu finden, anhand derer Beobachtungen über die Welt in rechtlichen Überlegungen bewertbar gemacht werden können. Deutlich wird das vor allem aus Sicht eines externen Standpunkts, also anhand einer realistischen Sicht dessen, was in der Rechtswelt tatsächlich geschieht. Von diesem Standpunkt aus lässt sich erkennen, dass dieselben Rechtssätze ganz unterschiedliche Rechtsanwendungen generieren, dass viele Entscheidungen nur erklärbar sind, wenn auf soziale, politische oder – ganz allgemein – faktische Gründe abgestellt wird. So gelangt man zu einer Sollenskritik, die die Rechtsrealisten dazu führt, das Recht als das zu bezeichnen, was Law’s Empire (1986), 108 f. Vgl. auch die Fragestellung auf Seite 48. The Concept of Law (1961), 6. Dworkin und Hart bieten sich als gleichsam beispielhafte Vertreter der beiden Konzepte an, weil Dworkin seinen Ansatz in ständiger Abgrenzung zu Hart entfaltet und so die Gegensätzlichkeiten besonders einsichtig herausgearbeitet werden. 113 114

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beim sog. Rechtsanwendungsprozess am Ende herauskommt115. Bei dieser Betrachtungsweise werden die Rechtssätze zu einem Faktor unter vielen. Und auch die verschiedenen normativen Theorien über den richtigen Umgang mit dem Recht, sei es Traditionalismus, Historizismus, Begriffsjurisprudenz, Naturrecht, Positivismus, Interessenjurisprudenz, Prinzipienlehre, Law and Economics, Feminismus and Law, Critical Race Theory oder Critical Legal Studies – alle diese Theorien erscheinen nicht mehr zu sein als Elemente eines Phänomens, das sich einer allgemeingültigen Erklärung entzieht. Die Fundamentalkritik, die der Rechtsrealismus gegen eine normative Sicht des Rechts erhebt, hat tatsächlich auch viel für sich. Denen aber, die als Rechtsanwender agieren sollen, denen, die juristische Entscheidungen zu treffen haben, hilft er wiederum alleine auch nicht weiter116. Dies wird besonders deutlich, wenn man die „realistischen“ Rechtstheorien befragt, die Theorien also, die die Sollenskritik des Rechtsrealismus zum Ausgangspunkt einer Orientierung der Rechtsarbeit an der Wirklichkeit nehmen. Diese Ansätze lassen sich aufgliedern in einen sprachlichen und einen realistischen Zweig. Während der sprachliche Zweig in Topik, Logik, Diskurs oder Argumentation die Lösungen sucht (dieser Zweig hat vor allem in Deutschland Anhänger gefunden – auch ein Ausfluss der stärkeren Vergesetzlichung und damit Versprachlichung des Rechts), konzentriert sich der realistische Zweig vor allem auf Soziologie, Wirtschaft und Psychologie (dieser Zweig findet sich vor allem in den USA, in denen die Richter als Common LawJuristen ohnehin schwächeren Normierungen unterliegen). Alle diese Ansätze – als Beispiel soll nur die Rechtsökonomie genannt werden – nehmen zum Recht eine externe Position ein und versuchen, aus Erkenntnissen über die Wirklichkeit Lösungen für juristische Probleme zu entwickeln. Als Kritik an der „überkommenen“ normativen juristischen Arbeit sind diese Theorien – wie schon betont – überzeugend. Sie teilen die Stärke des Rechtsrealismus, der nur auf die Realität der Geschehnisse im Rechtlichen verweisen muss, um jede Hypothese zur richtigen Anwendung des Rechts als „unrealistisch“ zu verwerfen. Dadurch aber, dass sie aus der Wirklichkeit Maßstäbe für das Recht entwickeln, setzen sie sich in jeder juristischen Diskussion einem Fundamentaleinwand aus, der sich nicht bewältigen lässt, dem Einwand nämlich, dass die Rechtsnormen etwas anderes fordern. Und überdies haben sie auch die Schwierigkeit, dass gerade das Sein, die Realität also, die die „Realisten“ als neue Sicherheit in Anspruch nehmen, durch die Erkenntnis115 Ohne sie beim Namen zu nennen, beschreibt Dworkin, Law’s Empire (1986), 78 ff., die Sicht als external scepticism, als ein: „Ihr mögt ja recht haben, man kann es aber auch anders sehen“. Dabei konzentriert er sich aber zu stark auf die „Ableger“ dieser Schule (z. B. CLS), die den äußeren zur Grundlage eines generellen inneren Skeptizismus machen. Gegen diese Ansätze argumentiert er sehr überzeugend auf den Seiten 80 ff. 116 In seltener Einmütigkeit H. L. A. Hart, The Concept of Law (1961), 136 und R. Dworkin, Law’s Empire (1986), 13. Vgl. auch J. Habermas (Faktizität und Geltung [19944], 90), der davor warnt, dass sich die Rechtssoziologie auf einen objektivierenden Blick von außen versteift und so blind bleibt für den nur intern zugänglichen Sinn der symbolischen Dimension des Rechts.

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

kritik nicht weniger entwertet wurde als die Rechtsrealisten das Sollen entwertet haben. Zutreffend resümiert Gunther Teubner: „They have not moved legal concepts closer to social reality ,out there‘. They have just replaced one conceptual jurisprudence with another conceptual jurisprudence.“117 Dieses „Scheitern“ der realistischen Ansätze geht natürlich nur soweit, soweit der realistische Ansatz als ein, die praktische rechtliche Arbeit steuernder Ansatz gelten will. Soweit es um die Erklärung des Phänomens des Rechts geht, ist der Realismus (und ebenso die „realistischen“ Theorien) weiterhin von zentraler Relevanz118. Seine bedeutsamste Erkenntnis liegt darin, dass es keine notwendige Verbindung von Rechtssatz und konkreter Rechtsentscheidung gibt, dass alle Auslegungsmethoden „stets nur zu einem möglichen, niemals zu einem einzig richtigen Resultat“ führen119. So wie der Kopf des Esels nicht die Ursache seines Schwanzes ist, so wenig ist das Gesetz die Ursache des Richterspruches. Der Rechtsrealismus „entlarvt“ also die Schwächen normativer Rechtlehren, aber er kann den Juristen nicht helfen, ihre Aufgabe zu bewältigen; und diese Aufgabe ist und bleibt es, Recht richtig anzuwenden. Auch wenn es stimmen sollte, dass der Mensch auf hoher See und vor Gericht allein in Gottes Hand ist – die Gerichte haben die Aufgabe, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Dieser Boden wird nur dann Festigkeit gewinnen, wenn die Juristen auf der einen Seite die Kritik der Rechtsrealisten mit ihrer externen Sicht nicht einfach negieren, auf der anderen Seite aber auch die Notwendigkeit in Rechnung stellen, dass Fälle auf der Grundlage von Recht entschieden werden müssen. Weder Determinismus noch Konsequentialismus werden sich allerdings dieser Spannung voll bewusst. Die Erklärung liegt darin, dass sich beide Konzeptionen, jede auf ihre Art, zu sehr auf die Frage der Richtigkeit konzentrieren und damit einen Teil des Rechtssatzes ausblenden, d.h. Recht und Rechtsfolge nicht mehr voll im Blick behalten und diese sektorale Sicht mehr oder minder unbewusst durch Kausalitätsdenken ergänzen und abrunden. Mit anderen Worten: Die Frage nach der Richtigkeit einer Entscheidung muss zwangsläufig dazu führen, dass jener Teil des Normativen bei der Entscheidung ausgeblendet wird, der diese angestrebte Richtigkeit stören würde. Determinismus und Konsequentialismus sind in diesem Sinne nur partiell auf den Rechtssatz als Ganzes bezogen. Weil aber die Entscheidung im Rechtssatz ihre formelle Begründetheit finden muss, wird der ausgeblendete Aspekt ersetzt durch eine (unterschwellig) behauptete kausale Beziehung zwischen Norm und Ergebnis. Exemplarisch lässt sich dies anhand der Entscheidung des BVerfG zum Besitzrecht des Mieters als Eigentum120 und der Kritik durch Otto Depenheuer121 dar23 Law&Soc.Rev. 727 (1989) 743. Wiewohl der Unterschied oft nicht klar erkannt oder klar gemacht wird; anders z.B. O. Williamson, in: Coasean Economics (1998), 119 ff. 119 H. Kelsen, Rechtslehre (1934), 96. 120 BVerfGE 89, 1 ff. 121 In: v. Mangoldt / Klein / Starck, BK I (19994), Art. 14. 117 118

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stellen. Das BVerfG begründet den eigentumsrechtlichen Schutz des Mieters vorrangig aus einer Bewertung des Mietbesitzes in der Lebenswirklichkeit, insbesondere damit, dass er der Erfüllung elementarer und existenzieller Lebensbedürfnisse dient122. Die richtige Anwendung des Art. 14 GG bestimmt sich damit primär aus dem Sach- bzw. Anwendungsbereich des Rechtssatzes, nämlich den Wohnbedingungen der Bevölkerung. Nach Feststellung der „Richtigkeit“ der Bewertung dieser Situation123 bleibt für die weiteren Fragen, die sich aus Art. 14 GG ergeben können, nur noch eine einzige Schlussfolgerung: Daher muss Art. 14 hier einschlägig sein. Die Charakterisierung des Urteils als konsequentialistisch lässt sich noch präzisieren und verdeutlichen, wenn man die Kritik von Depenheuer124 hinzunimmt. Seine Entgegnung auf das zentrale Begründungsargument des BVerfG konzentriert sich darauf, die Funktion des Besitzes vermöge „die derivative Rechtsstellung des Mieters nicht zu überbrücken“. Im folgenden begründet Depenheuer im Wesentlichen nur, dass diese Feststellung angesichts des Schutzbereiches der Norm „richtig“ ist. Damit bestimmt sich die richtige Anwendung des Art. 14 GG primär aus dem Normbereich des Rechtssatzes, der allgemeinen Bedeutung, die man den Voraussetzungs-Begriffen (insbes.: Eigentum) des Art. 14 GG geben kann. Das Problem beider Argumentationen liegt darin, dass ihre jeweilige (und konträr unterschiedlich verstandene) Richtigkeit nur auf der Grundlage des Art. 14 GG relevant bestimmt werden kann. Art. 14 ist auch nur ein Satz, dessen Benennungen in sehr unterschiedliche Bedeutungen überführt werden können. Es gilt, – wie Hans Kelsen125 deutlich macht – sich vor der Fiktion zu hüten, „daß das Gesetz . . . stets nur eine richtige Entscheidung liefern könne“. Hinter dieser Fiktion steht die Vorstellung, dass die Bejahung der generellen Anwendbarkeit eines Rechtssatzes und die konkrete Anwendung des Rechtssatzes in einer kausalen Beziehung stehen. Dass der Einwand von Depenheuer gegen die Entscheidung des BVerfG keinen „Biss“ hat, liegt im Wesentlichen daran, dass er „nur“ sagt, dass das, was nach der Entscheidung des BVerfG Eigentum ist, kein Eigentum sein kann, weil Eigentum etwas anderes ist126. Und dass das Argument des BVerfG so 122 BVerfGE 89, 1 / 6: Das BVerfG stellt vorrangig darauf ab, dass die Wohnung für jedermann Mittelpunkt der privaten Existenz sei und dass der Großteil der Bevölkerung nicht in eigenen Wohnungen lebt. 123 Es wurde schon oben (2. Kap. 2. Abschn. E, F; 3. Abschn. D) angedeutet, dass gerade Gerichte immer auch auf die konkrete Lebenswirklichkeit und auf die Gesetzmäßigkeiten abstellen, die in dieser Wirklichkeit (zurzeit) zu gelten scheinen. Diese Orientierung bedingt auch eine Neigung zum Konsequentialismus. Dies wird gerade in den USA von politischen Gruppen genutzt, um ihre eigenen Interessen in Gerichtsentscheidungen durchzusetzen; für Musterprozesse sucht man sich den „plaintif from hell“. Ein typische Beispiel ist der Streit um ein Gesetz, wonach die Armee Mitglieder entlassen kann, wenn sie HIV-positiv sind. Hier erschien der „plaintif from hell“ in Gestalt einer 40 Jahre alten Kartographin – verheiratet mit Kindern und HIV-positiv. 124 A.a.O., Rn. 160. 125 Rechtslehre (1934), 95. 126 Ähnlich problematisch erscheint es, wenn O. Depenheuer (a.a.O., Rn. 53) formuliert: „Unter dem Gesichtspunkt der Wahrung eines einheitlichen Verständnisses von Eigentum im

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

willkürlich erscheint, liegt daran, dass die Richter im Wesentlichen nur darlegen, wie wichtig die Wohnung für Menschen ist127. Das Urteil lässt sich kurz damit charakterisieren, dass aus einer vertretbaren Sicht und Bewertung der Realität „ohne weiteres“ die Anwendbarkeit des Art. 14 GG gefolgert wird128. Und Depenheuers Beurteilung lässt sich kurz damit charakterisieren, dass aus seiner Erkenntnis des richtigen Anwendungsbereiches „ohne weiteres“ die Unrichtigkeit der Anwendung des Art. 14 GG gefolgert wird. Diese behauptete Eindeutigkeit eines kausalen Bezugs ist im Übrigen nicht weniger gefährlich als die Behauptung, es gebe die „eine richtige Auslegung“ eines Rechtssatzes. Denn die Verbindung zwischen der Erkenntnis des Anwendungsbereiches und der Erkenntnis der Anwendungsmöglichkeit einer Norm ist eine, wenn nicht die zentrale Aussage des Rechtssatzes. Sie muss verstanden, sie muss interpretiert werden. Hier erweist sich, ob das Recht herrscht – oder der Rechtsanwender.

A. Kausalität und Recht Die deterministische Sicht konzentriert sich vorrangig auf die Ermittlung einer richtigen Entsprechung von Tatbestand und Sachverhalt; die Rechtfertigung der konkreten Rechtsfolge gründet in dieser Richtigkeit, sie ergibt sich aus der Tatbestand-Sachverhalt-Entsprechung129. Dementsprechend erlangen Wortlaut, systematische Stellung und Geschichte des Rechtssatzes vorrangige Bedeutung. Aus einer konsequentialistischen Perspektive dagegen steht die Ermittlung einer richtigen Zuordnung von Rechtsfolge und Sachverhalt im Mittelpunkt des Interesses; die Richtigkeit der Anwendung der Norm ergibt sich aus der Rechtsfolge-SachverhaltEntsprechung. Besonders der Sinn des Rechtssatzes hat hier zentrale Relevanz130. Sinne des Grundgesetzes erscheint es bedenklich, wenn das Bundesverfassungsgericht . . .“; man fragt unwillkürlich, welchen Wert die Wahrung eines einheitlichen Verständnisses hat – und zwar auch dann, wenn man „emotional“ sehr viel von einer „Wahrung einheitlicher Verständnisse“ hält. 127 Mit derselben Überlegung könnte man das Eigentum an vielen Miet- oder Leasingsachen begründen: einem Auto, einem Computer oder einer Wohnungseinrichtung. Dass die Entscheidung für Miete statt Kauf oft auch Ergebnis einer bewussten wirtschaftlichen Abwägung ist, wird nicht in Betracht gezogen. Hier zeigt sich ganz grds. die Schwäche solcher, auf die „Realität“ bezogenen normativen Aussagen – sie können die Komplexität des Lebens nicht erfassen. Die Soziologie des BVerfG ist „schlechte“ Soziologie. 128 Dass das BVerfG im konkreten Fall (es ging um eine Eigenbedarfskündigung) zu Gunsten des Vermieters entschied, ist hier ohne Relevanz. 129 Vgl. etwa H.L.A. Hart, The Concept of Law (1961), 11: „So we say that we reprove or punish a man because he has broken the rule: and not merely that it was probable that we would reprove or punish him.“. 130 Diese unterschiedliche Betrachtungsweise gibt es naturgemäß nicht nur in der Jurisprudenz. Man denke etwa an die Kontroverse, ob Gott nur will, was gut ist, oder ob gut ist, was Gott will.

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Beide Konzeptionen formulieren eine wichtige Fragestellung, sie können aber nicht begründen, warum sie vom Rechtssatz zum Ergebnis kommen. Dies ließe sich nur erreichen, wenn im Recht eine Gesetzmäßigkeit wirkte, in die man Einblick erlangt, wenn man etwas Richtiges zum Recht feststellt. Gesetzlichkeit und Gesetzmäßigkeit sind aber zwei Paar Dinge131. Trotzdem lässt sich nach wie vor ein gewisses Bedürfnis nach einer Gesetzmäßigkeit im Recht feststellen, was ganz schlicht in der Tatsache seinen Grund hat, dass wir nicht nur nach wie vor in einer Vorstellung von Ursache und Wirkung denken132, sondern in einer solchen Vorstellungswelt auch leben133. Es ist insoweit auch erhellend, dass die griechische Philosophie zu einer teleologischen Sicht des Seins neigte134, eine Sicht, die es erlaubte, Sinn und Wesens des Baumsprösslings im ausgewachsenen Baum zu sehen; daraus lässt sich dann auch ein Recht der Natur entwickeln, das zwischen Gesetzmäßigkeit und Gesetz kaum unterscheidet. Dass das kausale Denken in allen Wissenschaften allenfalls ein Axiom ist, hat die Wissenschaftstheorie inzwischen hinreichend belegt. Dass wir dieses Axiom trotzdem auch weiterhin als gültig zugrunde legen, findet seinen Anlass darin, dass wir auf dieser Basis sehr viel von dem erklären können, wofür Erklärungsbedarf besteht. Die Verbindung zwischen der Einnahme von Zyankali und dem Tod, der Zusammenhang zwischen dem Geschlechtsakt und der Geburt oder die Abhängigkeit der Lebensdauer von der Lebensführung: all diese Erkenntnisse sind ohne Kausalität kaum darstellbar. Auch in der Sozialisation des Menschen wird erfahren, dass Recht und Rechtsfolge in Zusammenhang stehen135. Die Kausalität erklärt freilich nicht die tieferen Gründe für diese Zusammenhänge, und in den meisten Fällen interessieren sie uns auch nicht mehr. War es für Menschen im Mittelalter noch von zentralem Interesse, ob die Pest eine Strafe Gottes ist und welche Sündhaftigkeit des Menschen Gott erzürnt hat, so fragen wir heute nur noch danach, welche Rolle z.B. Ratten bei den Pestepidemien spielten.

131 Vgl. dazu auch K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (1977), 36 ff., insbes. 39 und H. Rottleuthner, Richterliches Handeln (1972), 11 ff. 132 Die Kausalität ist gerade wegen ihrer allgegenwärtigen Beobachtung eine Fiktion, die schon Kleinkinder begreifen. Um ein von Quine behandeltes Beispiel zu nehmen: Wenn ein Ball rechts hinter einen Sichtschirm rollt, dann erwartet man, dass er links wieder zum Vorschein kommt. 133 Dazu grds. F. Vester, Neuland des Denkens, (199911). Bezogen auf die Jurisprudenz: M. Bangemann, Bilder und Fiktionen (1963) mzN. 134 Die fortbestehende Aktualität dieser Philosophie dürfte darin liegen, dass sie Recht hatte; dass es nicht die – inzwischen auch schon wieder so gut wie exkommunizierte – Kausalität ist, die alles steuert, sondern der Sinn. Die Ozonschicht wird nicht zerstört „wegen“, sondern „weil“. Und darin liegt wahrscheinlich auch die Unfähigkeit der Menschen, große Katastrophen abzuwenden. Sie können ihr Verhalten nur nach in Kausalität begreifbaren Mittel-Zweck-Relationen ausrichten. Dräuende Groß-Katastrophen fordern aber Sinn-Ausrichtungen des Lebens (z.B. Geist statt Konsum). 135 Eine Erfahrung, die man durchaus als ein bedeutsames Element „ordentlicher“ Kindererziehung sehen kann.

11 Schmitt Glaeser

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

Angesichts dieser grundsätzlich ursachenorientierten Denkweise der modernen Menschen ist es nahe liegend, dass die Rechtstheorien bei der Frage ansetzen, was Recht ist, bevor sie fragen, was es bewirkt. Die geisteswissenschaftliche Perspektive aber verlangt den gegenteiligen Ansatz. Als erstes steht die Überlegung, was das Recht bewirken soll, bevor Klarheit darüber geschaffen ist, welche Instrumente hierfür geeignet sind. Um diese Aufgabe bewältigen zu können, bedarf es der Erarbeitung einer spezifisch rechtswissenschaftlichen Fragestellung, eine Notwendigkeit im Übrigen, die auch beinhaltet, dass man sich von naturwissenschaftlichen Vorstellungen emanzipiert. Morton Horwitz hat die Bezüge des naturwissenschaftlichen und des rechtlichen Denkens für die U.S.-Constitution, so beschrieben: „[T]he issue is sometimes described by historians as an argument between an eigteenth century Newtonian Constitution and a nineteenth century Darwinian Constitution. The Newtonian view of the universe was of a perfect machine set in motion by a deist God at the beginning of time. Everything subsequent was determined by the operation of physical laws, present at the beginning and themselves never changing. The Newtonian Constitution corresponded to these physical laws, and like them was meant to last for all time. The Newtonian world view of the framers certainly encouraged this sort of imagery. By contrast, the Darwinian ideal of the nineteenth century, the idea of evolution, supposed the unfolding of gradual but inevitable change in the Constitution. As society changed, the Constitution would also change, adapting to the environment in which it functioned“136.

In dieser Beschreibung offenbart sich vor allem die Interdependenz zwischen juristischem Denken und dem Denken allgemein, das ganz wesentlich durch die Naturwissenschaften geprägt ist137. Ungeachtet der vielen Anregungen, die ein solchermaßen vergleichendes Denken in der Jurisprudenz geben kann, ist die Emanzipation der Rechtswissenschaft aber insoweit im Wesentlichen vollzogen. Niemand würde es z.B. heute noch als Ziel der Rechtswissenschaft bezeichnen, eine übersichtlichen Zahl einfacher Körper zu gewinnen, „aus denen sie auf Verlangen die einzelnen Rechtssätze wieder zusammensetzen kann“138. Auch die Naturwissenschaften selbst sind sich inzwischen bewusst geworden, dass sie keine Wahrheiten (mehr) verkünden, sondern sich allenfalls der Wahrheit an136 50 U.Pitt.L.Rev. 655 (1989) 657. Vgl. auch z. B. A. Hamilton, The Federalist Nr. 22 (1787), 135 / 145: „. . . ; and either the machine, from the intrinsic feebleness of its structure, will moulder into pieces in spite of our ill-judged efforts to prop it; or by successive augmentation of its force and energy, as necessity might prompt, we shall finally accumulate a single body, all the most important prerogatives of sovereignty; and thus entail upon our posterity one of the most execrable forms of government that human infatuation ever contrieved.“ 137 Für die hier angestellten Überlegungen kann diese Parallelität nicht weiter verfolgt werden; sie eröffnet aber faszinierende Perspektiven, die einer vertieften Untersuchung wert sind. Vergegenwärtigt man sich z. B. den Wandel der demokratischen Idee in der Neuzeit und setzt ihn in Bezug zu der Heisenberg’schen Unschärferelation oder der Chaostheorie, so ergeben sich erstaunliche Parallelen zu dem Vertrauensschwund hinsichtlich der Verlässlichkeit von gesetzten Ordnungen. Einer der ersten, der sich dieser Fragestellung angenommen hat, ist L. Tribe, 103 Harv.L.Rev. 1 (1989). 138 R. v. Jhering, Geist des römischen Rechts I (1852), 29.

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nähern können139. Sie sind daher auch nicht in der Lage, ein Leitbild für andere Wissenschaften abzugeben. Nicht richtig ist es freilich, wenn Ralf Dreier140 meint, die Jurisprudenz könne in Selbstbeschränkung ihre wissenschaftlichen Credentials ausbauen, etwa indem sie sich „auf die Deskription und Prognostik des Richterverhaltens einerseits und die Ermittlung und Explikation des Gesetzgeberwillens andererseits“ beschränke. Hilfreich wäre dies nur, wenn die Rechtswissenschaft solcher Credentials überhaupt bedürfte, was aber nicht der Fall ist. Überdies sind keine längeren Überlegungen notwendig, um zu erkennen, dass beide Ziele von Dreier nicht erreichbar sind. Kein noch so unbescheidener Soziologe oder Psychologe würde sich anheischig machen, den Willen einer Gruppe (Gesetzgeber) beschreiben zu wollen. Und bei der Prognostik des Verhaltens von Richtern wäre man wohl in erster Linie bei Astrologen an der rechten Adresse. Es kann der Rechtswissenschaft nicht um den Nachweis von Kausalitäten oder die Beschreibung von Zuständen gehen. Die Wissenschaft des Rechts muss sich eine normative Hypothese wählen und ihre Wissenschaftlichkeit in der normativen Denkweise entwickeln141; darin liegt ihre spezifische Bedeutung, eine Bedeutung, die auch von anderen Wissenschaftszweigen anerkannt ist142. Ein entscheidender Unterschied zwischen der herkömmlichen naturwissenschaftlichen und der rechtswissenschaftlichen Sicht liegt darin, dass der Naturwissenschaftler eine Gesetzmäßigkeit feststellt143, während der Jurist eine Gesetzmäßigkeit herstellt144. Um zu einem brauchbaren Ansatzpunkt für die juristische Methodik zu kommen, muss zunächst bestimmt werden, was man am Ende 139 Zentral sind hier u.a. die Arbeiten von K. Popper, z. B. Logik der Forschung (199410), der die Denk-Unmöglichkeit von echten Allsätzen belegt hat. 140 In: Recht-Moral-Ideologie (1981), 48 / 55. 141 Zur Autonomie der Jurisprudenz als normative Fachwissenschaft vgl. die verschiedenen Ansätze etwa bei R. v. Jhering, Der Kampf ums Recht. Ausgewählte Schriften (1965), 162, insbes. 165 und 175 ff. oder U. Diederichsen, in: Fs Flume I (1978), 283 ff. 142 Dass z.B. die Rechtswissenschaft immer auch fragt, wie Juristen entscheiden sollten, wird von naturwissenschaftlichen Autoren als Vorteil der normativen gegenüber der empirischen Wissenschaften angesehen. Zur Entstehung des Wortes „Geisteswissenschaften“ aus „Naturwissenschaft“ s. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode I (19906), 9 ff. Die Anerkennung geht aber weit über das hinaus: Siehe nur die Sollenskritik Hegels, die hermeneutischen Orientierungen Gadamers oder die Deduktionskritik bei Popper. 143 Dabei meint er, durch Beobachtungen Zusammenhänge aufdecken zu können, die sich wiederholen werden. Das dürfte aber eine Fiktion sein. Möglicherweise werden Wiederholungen und damit Gesetzmäßigkeiten nur deshalb beobachtet, weil der einmal konstatierte Zusammenhang die Sichtweise verändert. 144 Um die Unvergleichbarkeit durch einen relativ einsichtigen Vergleich darzustellen: Wenn ein Naturwissenschaftler immer wieder beobachtet, dass eine Trauerweide am Wasser über das Wasser gebeugt ist, dann bestätigt dies eventuell seine angenommene Gesetzmäßigkeit und er wird Gärtnern sagen, dass sie Trauerweiden am Wasser pflanzen sollten, wenn sie „traurige“ Trauerweiden wollen. Der Jurist dagegen liest, dass Trauerweiden „traurig“ aussehen sollten (stellt fest, was das Recht ist), geht von Trauerweide zu Trauerweide und bindet Gewichte an die Äste auf einer Seite (er wendet das Recht an), und stellt dann fest, dass Trauerweiden „traurig“ aussehen (dass dem Recht Genüge getan wurde).

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juristischer Operationen erfahren haben will. Die verschiedenen Theorien des Rechts werfen einander immer wieder vor, dass sie die Welt oder das Recht falsch sehen, dass sie die Welt oder das Recht „hinbiegen“. In Wahrheit aber ist das gar kein Fehler, sondern eine Eigenart, mit der wir uns nicht nur abzufinden haben: darin besteht nachgerade die Qualität der Jurisprudenz. Dass das Recht oder gar die Gerechtigkeit eine vorgegebene, erkennbare Sache ist, kann niemand behaupten. Das soll aber nicht davon abhalten, danach zu suchen. In seiner Abschiedsrede als aktives Mitglied der Universität von Berkeley am 27. Mai 1952 führt Hans Kelsen145 dazu aus: „It seems that it is one of those questions [What is Justice] to which the resigned wisdom applies that man cannot find a definite answer, but can only try to improve the question.“ Und sieht man Methodik als System von Fragestellungen, dann liegt darin der Versuch, auch die Fragen nach der Gerechtigkeit zu verbessern. Nach allen diesen Überlegungen ließe sich vielleicht behaupten, die Jurisprudenz müsse in Bezug auf die Philosophie ein intellektuelles Opfer bringen. Zwar gleichen sich die Probleme des Rechts und die der Philosophie in vielerlei Hinsicht146. Anders als in der Philosophie sind in der Jurisprudenz die Antworten aber in einem gewissen Umfange als vorgegeben zu betrachten, was auch das Philosophieren im Recht unergiebig macht. Das Recht setzt etwas Normatives voraus, und die Normativitäten, die es schafft, sind mehr oder weniger vorgegeben147. Das intellektuelle Opfer bedeutet aber nicht notwendig einen Verlust. Es ist vielmehr eine vernünftige Selbstbeschränkung angesichts der Aufgaben, die der Jurisprudenz gestellt werden können. Von den Naturwissenschaften wollen wir nicht (mehr) erklärt bekommen, ob es einen Gott gibt. Denn wenn sie das erklären könnten, dann könnten sie nichts mehr von dem erklären, was uns auch noch – und in den modernen Zeiten vorrangig – interessiert. Deshalb ist z.B. Kausalität (nach wie vor) eine sinnvolle Leit-Hypothese der Naturwissenschaften. In der Theologie ist die „Existenz eines allmächtigen Gottes“ ebenfalls eine sinnvolle Leit-Hypothese. Auch für die juristische Arbeit muss sich eine Leit-Hypothese finden lassen, die sich in der Begrifflichkeit der (Juris-)prudentia (sittliche Einsicht) spiegelt, die nach Aristoteles148 etwas anderes ist als scientia, verstanden als methodische Einsicht des Seien145 In: What is Justice (1957), 1. Zum Bezug von Recht und Gerechtigkeit vgl. auch J. Derrida, Gesetzeskraft (1990), 30 f., der es der Dekonstruierbarkeit der Struktur des Rechts zuschreibt, dass dem Recht Gerechtigkeit zuwachsen kann. 146 Vgl. A. Kronman, in: 99 Yale L.J. 1029 (1990) 1030 f.; er nennt den Gehalt und die Vorrangigkeit von Menschenrechten und die größeren Zielsetzungen der Gesellschaft. 147 A. Kronman, in: 99 Yale L.J. 1029 (1990) 1031 f., verengt die Unterschiedlichkeit zu stark, wenn er alleine auf die Regel des „stare decisis“ abstellt (auch wenn er sie im folgenden durch eine zweifelhafte Verallgemeinerung der Regel wieder ausdehnt). In einem weiteren Sinne kann man die Vorgegebenheiten auch als empirische Handelssysteme begreifen und dann mit J. Habermas (Faktizität und Geltung [19944], 90) philosophische Begriffe in diesem Zusammenhang als „leer“ bezeichnen. 148 Nicomachische Ethik VI, 1139b ff. Zu dem Problemkreis R. Dreier, in: Recht-MoralIdeologie (1981), 48.

4. Abschn.: Schwierigkeit der Zielsetzung einer juristischen Methodik

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den aus seinen Prinzipien. Schon in der Möglichkeit, der Jurisprudenz als Ganzem eine Hypothese voranzustellen, unterscheidet sie sich von der Philosophie. Denn diese kann keine übergreifende Hypothese akzeptieren, sie muss vielmehr alle möglichen Hypothesen hinterfragen149. Daher ist sie auch grundlegend, daher gibt es unter ihrem Dach auch so viele Richtungen, und daher hat sie auch immer Recht: sie ist Ausdruck der Zirkularität allen menschlichen Denkens. Sie ist Theologie ohne Gott150, aber jeder Philosoph nimmt trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) für sich in Anspruch, das „Alpha und das Omega“ zu sein. Das ist wohl eine der grundlegenden Erkenntnis Nietzsches – nicht, dass Gott tot ist, sondern dass Philosophie keinen Gott haben kann, wenn sie (nur) Philosophie sein will: daher „Der Wille zur Macht“, der Wille zum Setzten der eigenen Maßstäbe aus Notwendigkeit151. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Ein befriedigendes methodisches Verfahren der Rechtsanwendung kann nur dann ermittelt werden, wenn man sich von der Vorstellung befreit, es gebe im Recht Gesetzmäßigkeiten, das Recht bewege sich von selbst, wenn man es nur richtig „anstößt“. Solche Gesetzmäßigkeiten gibt es nicht, das Recht ist bis in den letzten Winkel der (möglichen) Willkür der Rechtsanwender ausgesetzt. Daher muss die Methodik so tief wie möglich ansetzen, will sie in den Zirkel des Verstehens in einer Weise hineingelangen, dass der Zirkel kein „vitiosum“ (Heidegger) mehr ist. Dazu ist es nötig, das Recht sowohl kritisch bzw. realistisch, d.h. aus der externen Perspektive, wie auch juristisch, d.h. aus der internen Perspektive heraus zu betrachten.

B. Zwischen zwei Polen: Alles, was Recht ist und alles, was richtig ist Der changierende Blick aus der externen und internen Perspektive wird nur möglich, wenn man jeweils Opfer bringt. Notwendig ist vor allem das Eingeständnis, dass sich praktisch arbeitende Juristen in erster Linie auf die staatliche Macht stützen, um die Vorstellungen vom Recht, die (durch Sozialisation oder Ausbildung) erlernt wurden, nach willkürlich eigenen Maßstäbe umzusetzen. Recht wird erst dann zu Recht, wenn man es Recht nennt und als Recht anwendet oder erzwingt152. Die Orientierung an der Sachverhalts-Rechtsfolge-Entsprechung, wie Vgl. aber A. Kaufmann, in: ders. / Hassemer (Hg.), Rechtsphilosophie (19946), 30, zu dessen Ansatz ich hier aber im Wesentlichen nur terminologische Differenzen ausmache, die aus seinem anderen Verständnis der Abgrenzung der Disziplinen entsteht. 150 Vgl. auch D. Hume, Human Nature (1739), Book I Part V a.E: „There is only one occasion, when philosophy will think it necessary and even honorable to justify herself, and that is, when religion may seem to be in the least offended“. 151 „Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft“, Der Wille zur Macht (1883 bis 1888), 3. Buch, I, a), Aph. 466. 149

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

sie der konsequentialistischen Sicht eigen ist, findet in dieser Einschätzung der juristischen Arbeit ihren tieferen Grund und auch eine Rechtfertigung. Gerade in dieser Entsprechung scheint ein Weg zu liegen, die den Rechtsanwendern verliehenen Gestaltungsmöglichkeiten so einsetzen, dass die entstehende Ordnung gerecht oder richtig wird. Im gleichen Atemzug muss aber auch die Vorstellung aufgegeben werden, dass es überindividuelle Gerechtigkeitserkenntnisse oder Wahrheiten gibt, an denen sich die Rechtsanwender orientieren könnten – auch Gerechtigkeit ist nur das, was als Gerechtigkeit bezeichnet wird. Es gibt nichts Richtiges, das die konkreten Ausübungen der staatlichen Machtkompetenzen besser begründen könnte als das Recht. Nur das Recht ermöglicht eine Orientierung bei der Auswahl der verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten des Staates (Rechtsfolgen). In diesem „Rettungs-Anker“ gewinnt die Orientierung an der Sachverhalts-Tatbestands-Entsprechung, die die deterministischen Konzeptionen prägt, ihre Rechtfertigung. In dieser Entsprechung erscheint es möglich, das tägliche Rechtsgeschehen auf die konkrete Ordnung zu justieren und damit zu gewährleisten, dass die Ordnungsvorstellungen konkreter Gemeinschaften (Verfassungen und Gesetze) im Rechtsgeschehen Realität erlangen. Beide Konzeptionen, sowohl die deterministische als auch die konsequentialistische, können aber das Problem des Rechts nicht in den Griff bekommen. Denkt man sie konsequent zuende, werden sie entweder vollständig impraktikabel oder sie verfallen in Praktiken, die ihren Kernanliegen widersprechen. Die Orientierung an der Sachverhalts-Tatbestand-Entsprechung scheitern im Wesentlichen an der Unmöglichkeit, einen Beobachtungssatz mit einer Tatbestandsformulierung in eine zwingende Beziehung zu setzen, ein Problem, das im 3. Abschnitt unter C schon dargestellt wurde. Wer den Tatbestand eines Rechtssatzes als den Ansatzpunkt seiner Rechtsanwendung sieht, der dürfte den „feststehenden“ Bezugspunkt – den Sachverhalt – nur dann in der Rechtsanwendung verwenden, wenn alle möglichen Beobachtungssätze, die diesen Sachverhalt betreffen können, aufgeführt wurden und begründet werden kann, warum bei der Rechtsanwendung bestimmte Beobachtungssätze herangezogen werden und andere nicht. Gerade eine solche Begründung ist aber nur möglich, wenn die Rechtsfolge mit einbezogen wird, wenn man also konsequentialistisch fragt, wie die Folgen in ein angemessenes Verhältnis zum (zu beurteilenden) Sachverhalt gebracht werden können. Es liegt auf dieser Linie, wenn z.B. das BVerfG im Elfes-Urteil den Schutzbereich des Art. 2 I GG auch durch Überlegungen zu den Schranken des Grundrechts bestimmt153. Denn die allgemeine Handlungsfreiheit hat einen immens weiten Tatbestand, manche meinen sogar, sie hätte überhaupt keinen154. De152 Dem widerspricht es nicht, wenn E. Ehrlich, Grundlegung (1912), 31, konstatiert: „Die Ordnung in der menschlichen Gesellschaft beruht darauf, daß Rechtspflichten im Allgemeinen erfüllt werden, nicht darauf, daß sie klagbar sind.“ 153 E 6, 32 / 36 f. Vgl. dazu etwa auch H. Dreier, in: ders. (Hg.), GG I (20042), Art. 2 I, Rn. 27, 32. 154 Z. B. W. Schmidt, in: AöR 91 (1966), 47 / 48.

4. Abschn.: Schwierigkeit der Zielsetzung einer juristischen Methodik

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terministische Ansätze behelfen sich hier mit dem Instrument der Referenzermittlung, d. h. mit dem Verweis auf frühere Entscheidungen155, die Beobachtungssätze über vergleichbare Sachverhalte in Bezug zu dem in Frage stehenden Tatbestand gebracht haben. In den Möglichkeiten der Referenzermittlung gründet die Verbreitung der deterministischen Sicht unter Vertretern der Praxis. Wenn es darum geht, ob ein bestimmter Sachverhalt unter eine Rechtsnorm zu subsumieren ist, dann nutzen Praktiker oft (und gerne) bestehende und gefestigte BeobachtungssatzRechtssatz-Kombinationen. Diese können in vielfältiger Weise entstanden sein. Sie können sich aus historischen Reaktionen der Gesetzgeber auf bestimmte Sachverhalte ergeben (historische Auslegung), sie können auch von Gerichten postuliert worden sein (Präjudizien). Von besonderer Bedeutung sind die Präjudizienabstrahierungen in Kommentaren. Der deterministisch geprägte Jurist sieht auch in der Gliederung des Gesetzes nach Sachbereichen eine weitaus größere Hilfe als es der Konsequentialist anerkennen könnte156. Aus all dem entsteht – fast zwangsläufig – das Konservative dieses Ansatzes. Getragen wird er von dem verständlichen, aber auch etwas übersteigerten Verlangen nach Sicherheit und Vorhersehbarkeit des Rechts. Die Annahme der generellen Gerechtigkeit des Seins führt zu dem Wunsch nach einer kausalen Struktur des Rechts. Dabei wird keineswegs geleugnet, dass es auch ungerechte Entscheidungen geben kann. In der Regel aber – so meint man – werde der Gerechtigkeit genüge getan, so dass vor allem Gesetze und (im Common law-Bereich) Präzedenzen grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden157. Der Rückgriff auf bereits Entschiedenes kommt auch der Tatsache entgegen, dass „Feldstudien“ über aktuelle Gegebenheiten und Entwicklungen regelmäßig so aufwendig wären, dass sie weder zeitlich noch finanziell zu leisten sind. Diese Techne der temporalen Arbeitsteilung unter Juristen bringt freilich nur zum Ausdruck, was oben als Opfer bezeichnet wurde: die Anerkennung, dass Recht erst dann zu Recht wird, wenn man es Recht nennt und als Recht anwendet oder erzwingt. Die Konsequentialisten sehen dieses Problem sehr deutlich, sind aber auch mit ihrer Orientierung an einer Sachverhalt-Rechtsfolge-Entsprechung nicht in der Lage, überzeugende Lösungen zu bieten. Denn die Frage, wie man die Richtigkeit der Entscheidungen gewährleistet, führt notgedrungen zu den Problemen, in denen die Gesellschaft gespalten ist, in denen, um an die Skepsis v. Savignys zu erinnern, die Institutionen keine Kraft mehr haben, eine allgemeine Gesetzgebung zu generieren. Wenn das Sein aber keine Gesetzmäßigkeiten (mehr) hat bzw. gelten lassen 155 Hier erst – bei der praktischen Schwierigkeit des Dezisionismus – setzt die Bezeichnung an, die R. Dworkin, Law’s Empire (1986), 114 ff., wählt, wenn er vom çonventionalism“ spricht. 156 Dass Deterministen dabei oft – zu Unrecht – auf ein inneres System abstellen, ist an sich wieder nur Referenzermittlung. 157 H. L. A. Hart, The Concept of Law (1961), 8: „So the assertion that ,an unjust law is not a law‘ has the same ring of exaggeration and paradox, if not falsity, as ,statutes are not laws‘ or çonstitutional law is not law‘.“ Der gleiche Tenor findet sich in der Äußerung von Justice Scalia in Stanford v. Kentucky, 492 U.S. 361 (1989) 373: „[T]he primary and most reliable indication of [a national] consensus is . . . the pattern of enacted laws“.

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3. Kap.: Die Eignung methodischen Vorgehens

will, dann muss man Prinzipien formulieren, die die Gesetzgebung beachten muss, um gerechtes Recht werden zu können. Selbst wenn sich solche – notwendigerweise allerdings sehr allgemein gehaltenen – Prinzipien finden ließen und auch formulierbar wären, so bleibt doch die Frage, ob Richter Sachverhalte gleich beurteilen und ob sie die möglichen Folgen bestimmter Entscheidungen abschätzen können, ob also die menschliche Prognosefähigkeit auch nur annähernd geeignet ist, die Vorhersagen zu treffen, die notwendig sind, um die Geschicke der Menschen anhand von (sehr allgemeinen) Prinzipien zu regeln. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass sich konsequentialistische Ansätze oft in theoretischen Arbeiten und in Verfassungsgerichtsentscheidungen finden, die keiner höherinstanzlichen Überprüfung mehr gewahr sein müssen. Wollte man dieses Vorhaben ernsthaft angehen, dann bedürfte man in der Tat – und hier ist Ronald Dworkin158 erstaunlich aufrichtig – eines Richters mit den Qualitäten eines Herkules. Halbgötter in Richterzimmern lassen sich bekanntlich aber nur äußerst selten finden.

158 Law’s Empire (1986), 245 ff. Die Anerkennung der Aufrichtigkeit verflüchtigt sich allerdings, wenn Dworkin daran geht, als „Herkules“ Verfassungsfragen zu beantworten, vor allem, wenn man nachliest, welche „herkulischen“ Ergebnisse seine Konzeption nach sich ziehen würde. Die in den letzten Abschnitten seiner Untersuchung vorgestellten Lösungen umstrittener Entscheidungen bezeichnen im Kern nur das, was die akademische Elite der USA von den dort behandelten Fällen denkt. Dass Dworkin keine aktuellen, noch nicht entschiedenen Fälle wählt (etwa für die USA die Frage der Todesstrafe), ist bezeichnend.

4. Kapitel

Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung Das richtige Verstehen des Rechts einer konkreten geschichtlichen Gemeinschaft hat vor allem mit zwei Problemen zu kämpfen: Zum einen sind es die vielfältigen und einander oft widersprechenden Behauptungen darüber, welches Recht gilt und auf welche Zwecke sich dieses Recht (als Ganzes) bezieht. Die unterschiedlichen Behauptungen speisen sich vor allem aus den unterschiedlichen individuellen Erwartungen an die konkreten Machtausübungen und die unterschiedlichen Vorstellungen von der ideologischen Grundausrichtung des Staates (i.S.v. sozial, liberal, egalitär, laizistisch, christlich uvm.). Zum anderen ist es die Herausforderung, die de facto unbeschränkte Verfügungsgewalt, welche die Rechtsanwender über das Recht haben, auf Standards auszurichten, die die Rechtsanwendung vorhersehbar, richtig (i.S.v. dem Recht entsprechend) und nachvollziehbar machen1. Beide Probleme müssen zusammen bewältigt werden, indem man die primären Entwürfe dessen, was richtiges Recht ist, nämlich die individuellen Vorstellungen von der richtigen Gestaltung des Seins (im folgenden: die Individualpositivierung des Rechts) in Einklang bringt mit dem, was die Gestaltung des Seins erst ermöglicht, nämlich die Zuweisung von Kompetenz zur Gestaltung des Seins an staatliche Organe (im folgenden: die Vermachtung des Rechts). Wie bzw. inwieweit dieser Einklang hergestellt werden kann, ist die Frage, auf die die Methodik die Antwort sein soll. Wenn juristische Methodik ein Verfahren zur Erkenntnis des Inhalts des Rechts ist, ein gedanklicher Prozess, Auslegung, dann muss vor allem geklärt werden, wie sich die Vorstellungen des Einzelnen zu den Vorstellungen Aller verhalten, mit anderen Worten: Wie „Du und Ich“ das Recht verstehen. „Wir“ arbeiten allerdings nicht nur am und mit Recht, wir arbeiten ebenso unter dem Recht. Das Recht drückt auch uns gegenüber ein Sollen aus. Speziell das Verfassungs-Recht bestimmt darüber hinaus, in welcher „Verfassung“ wir uns befinden, d.h. welche unserer Vorstellungen in welchen Aspekten rechts-richtig und in welchen sie rechtsfalsch sind. Schon mit dieser Unterscheidung ist man im Zirkel des Verstehens, die Schwierigkeiten beginnen. Hier stellen die Theorien des Rechts die Frage: „Was 1 Hier kann auf die Überlegungen zur Verfassungspraxis verwiesen werden (oben 2. Kap.), in denen immer wieder deutlich wurde, dass Verfassungsrichter ungeachtet ihrer (gesetzlichen) Entscheidungs-Kompetenz de facto zweifeln können und müssen, ob sie die Fähigkeit haben, richtige Entscheidungen zu treffen.

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

ist Recht“. Hier beginnen auch die Methodenlehren, entweder mit Hypothesen, die eine Frage als Verständnis formulieren, etwa „Methodenfragen sind Sachfragen“2 oder mit Beschreibungen des bisherigen Verstehens von Recht und Methode, aus denen sich Hypothesen entwickeln3. Bei der Ausbildung von Juristen4 beginnt der Rechtslehrer gerne mit einer Darstellung der spezifisch juristischen Art, einen Text (Rechtstext) zu lesen, um die Unterschiede zur „laienhaften“ Art des Text-Lesens aufzuzeigen. Diese Einführung ist auch sehr gerechtfertigt, weil man damit den Anfängern verdeutlicht, was von nun an „auf sie zukommt“. Was auf den Juristen zukommt, ist ein höchst durchdachtes und in unzähligen Generationen entwickeltes Kulturgut: Das Recht der Gesellschaft5. In diesem Recht ist im Wesentlichen schon alles erwogen worden, was zum Problem des Sollens erwogen werden kann. Anders als in den Naturwissenschaften gibt es hier so gut wie nichts mehr, was zu entdecken wäre. Es gibt keine noch unentdeckten Sterne am Firmament oder unbekannte Fossilien im Sediment der Meere: Alles wurde schon gedacht, weil das Problem des Sollens seit Urzeiten bekannt ist. Das was man noch entdecken kann, sind Wertungs- und Verständnis-Perspektiven in dem Sinne, in dem Goethe Eckerman mitteilte6: „Ich will Ihnen etwas entdecken und sie werden es in Ihrem Leben vielfach bestätigt finden. Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung“. Diese „Entdeckung“ ist, sofern man von ihrer (Be-)Wertung abstrahiert, für das Recht und seine Anwendung aufschlussreich. In der Formulierung von Gesetzen liegt immer eine objektivierende, in der Anwendung eine subjektivierende Tendenz. Man formuliert einen Satz, der für viele Menschen und viele Probleme anleitend sein soll. In der Anwendung wird dieser Satz dann aber zu einer Vielzahl von Einzelaussagen. Und weil jeder den Satz mehr oder wendiger anders verstehen kann, werden die Einzelaussagen entsprechend unterschiedlich sein. Hier findet die Methodik ihren Zweck und ihre Aufgabe, die Unterschiede dieser Einzelaussagen „im Rahmen“ zu halten. Gelingen wird das nur, wenn die Methoden nicht alleine auf den Einzelnen abstellen; denn auch die Methoden sind für den Einzelnen wieder nur Sollenssätze, an die er mit eben der Befangenheit herantritt, die sie ausmerzen sollen.

F. Müller, Juristische Methodik (19977), Rn. 5. Etwa K. Larenz, Methodenlehre (19916), der nach einem historisch-kritischen Teil (189 ff.) in einem systematischen Teil daran geht, die Aufgabenstellung zu entwickeln und sodann (195) die m.E. nach entscheidende Festlegung trifft: Der „Jurisprudenz . . . geht es nicht nur um Klarheit und Rechtssicherheit, sondern auch um ,mehr Gerechtigkeit‘ in der schrittweisen Arbeit am Detail“. 4 Vgl. etwa die Einführung in das juristische Denken von Karl Engisch (19979). Das folgende bezieht sich vor allem auf die „erste Einführungsvorlesung“. 5 So der Titel der letzen „Rechtssoziologie“ von Niklas Luhmann (1985); dazu näher unten Teil 2 B II. 6 Brief an Eckermann vom 29. 1. 1826. 2 3

1. Abschn.: Die Individualpositivierung des Rechts

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1. Abschnitt

Die Individualpositivierung des Rechts Der Grund für die unterschiedlichen Behauptungen darüber, was Recht und was (ge-)recht ist, liegt im nicht weniger unterschiedlichen individuellen Rechtsempfinden der Menschen. Dieses Rechtsempfinden ist mehr als nur ein Gefühl. Es ist, in leichter Abwandlung einer Formulierung Immanuel Kants7, die Wirkung des Rechts auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden. Das Rechtsempfinden erzeugt keine reinen Urteile, es generiert lediglich Urteile a priori8, und es ist kein minderes Erkenntnisinstrument. In allen Wissenschaften wird die Unmöglichkeit der Verifizierung von Erkenntnissen gesehen. Schon Kant9 betont: „Erfahrung lehrt uns zwar, daß etwas so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein könnte“. Dies entspricht im Wesentlichen dem, was Karl Popper10 als die Unmöglichkeit von Allsätzen bezeichnet. Mit diesen Erkenntnissen wird die Aussage Kants11 über die Metaphysik, wonach diese „im Anfange dogmatisch ist, i.e. ohne vorhergehende Prüfung des Vermögens oder Unvermögens der Vernunft zu einer so großen Unternehmung zuversichtlich die Ausführung übernimmt“, zu einer Aussage, die sich alle Wissenschaften aneignen müssen12. Auch ihre Erkenntnisse sind in diesem Sinne nur Glaubenssätze, die durch die „Maxime der möglichst geringfügigen Verstümmelung“ stabilisiert werden13. Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), B 33 / A 19 – B 35. Das a priori ergibt sich im Wesentlichen aus der menschlichen Fähigkeit, soziale Einseitigkeiten aufzuspüren, sog. „Wason selection tasks“, L. Cosmides / J. Tooby, in: The Adapted Mind, 163. Nach A. Chasiotis, in: Gestalt Theory 17 (2), 88, gehört ein differenziertes Empfinden von Gegenseitigkeit zur „menschlichen Grundausstattung“. Zum prima-facie Urteil als Ausgangspunkt der Rechtserkenntnis vgl. auch F. v. Hippel, Recht und Unrecht, in: Rechtstheorie und Rechtsdogmatik (1964), 264 / 272. 9 Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), B 3. 10 Logik der Forschung (199410), insbes. 60 ff. Sein Grund für diese Methodik ist die Unmöglichkeit des induktiven Beweises von „All-Sätzen“ (z. B. Es gibt keine weißen Raben). All-Sätze können zwar (durch Vorzeigen eines weißen Raben) falsifiziert, nicht aber (durch Vorzeigen aller Raben) verifiziert werden. Vgl. allerdings K. Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft (19863), insbes. 273 ff., der auf die Theorieabhängigkeit der Falsifikationsvoraussetzungen verweist. 11 Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), A 4 / B 7. 12 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), B 4 f.: „Daß es nun dergleichen notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile a priori, im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen. . . . ; will man ein solches aus dem gemeinsten Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache haben müsse, dazu dienen“. 13 W. Quine, Pursuit of Truth (1992), 14 f.: „maxim of minimum mutiliation“; dass Kant und Quine so weit nicht auseinander liegen, zeigt sich darin, dass Kant (Kritik der reinen Vernunft [1781 / 87], AB 3) selbst die „Urteile schlechterdings a priori“ nur als notwendig gedachte und nicht abgeleitete Sätze bezeichnet. Vgl. auch M. Arbits / M. Hesse, The Construction of Reality (1986), 10: „Science is in a literal sense construction of new facts.“ 7 8

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

Um etwas über das Recht zu erfahren, muss man anerkennen, dass es in jeder Behauptung über seinen Inhalt eine Positivierung gewinnt, eine Festlegung im Sinne einer gültigen und geltenden Aussage über unmittelbar Wahrgenommenes. Solche Festlegungen gründen im Rechtsempfinden der Menschen. Sie werden in Dogmatik und Theorie verdichtet und raffiniert, wobei sie aber im Grunde genommen subjektiv bleiben. Trotz dieser Subjektivität, oder vielleicht gerade deswegen, ist dieses Rechtsempfinden für den Einzelnen kaum verrückbar; deswegen wird hier auch ganz bewusst in Parallelität zum positiven Recht von Individualpositivierungen gesprochen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Recht und die Bemühungen, die eigenen Individualpositivierungen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Tragen zu bringen, beruhen keineswegs auf einer individuellen Ideologie, die „durch psychische Mechanismen gegen kritische Prüfung immunisiert“14 ist. Sie beruhen vielmehr auf der unterschiedlichen Vorstellungsfähigkeit derer, die sich mit dem Recht beschäftigen15. Die Bedeutung der Individualpositivierung wird auch in der Forderung des audiatur et altera pars anerkannt, die wie kaum eine andere als hergebrachter Grundsatz des spezifisch Rechtlichen gelten kann. Die Individualpositivierung ist nicht nur eine in Worte gefasste Vorstellung eines Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen über eine richtige Gestaltung des Seins, sondern sie ist ebenso eine Individualpositivierung des Rechtlichen und muss daher als Element des Rechts be- und verarbeitet werden16. Daraus kann allerdings nicht gefolgert werden, dass damit im Recht alles subjektiv ist, dass man alles so oder so sehen kann. Gefolgert werden kann daraus aber sehr wohl die Erkenntnis, dass das Rechtsempfinden das originäre Instrument der Rechtsanwendung ist17. Damit ergibt sich allerdings ein grundlegendes Problem: Dieses RechtsR. Dreier, in: Recht-Moral-Ideologie (1981), 146 / 160. Insofern kann man diesen Ausgangspunkt auch auf die Lehren G. Vicos, Neue Wissenschaft (1744), § 359, stützen, der als „fundamentum inconcussum“ die Vorstellung der menschlichen Fähigkeit bezeichnet, Situationen zu erkennen und einzuordnen: Über die Geschichte kann man nie mehr Gewissheit erlangen als dann, wenn der, der Dinge schafft auch über sie berichtet. – Es soll hier im weiteren davon abgesehen werden, eine philosophische Absicherung des Gedankens der Individualpositivierung zu versuchen. Sie gründet jedenfalls in einem nach-metaphysischen Denken und besonders in der darin enthaltenen Erkenntnis der (selbst-)zentrierten Weltsicht, die die „Wendung zum Gespräch“ (Gadamer) bedingt. Eine philosophische „Absicherung“ widerspräche aber auch gerade dieser Vorstellung. Vgl. dazu den Gedanken des Vollzugs des Sinns im Wort und Gegenwort (écriture) bei J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, (1967) und die Vorstellung in ders., Gesetzeskraft (1990), 34, dass es die Gerechtigkeit „erfordert, daß man mit dem Unberechenbaren rechnet. Die aporetischen Erfahrungen sind ebenso unwahrscheinliche wie notwendige Erfahrungen der Gerechtigkeit, das heißt jener Augenblicke, da die Entscheidung zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten von keiner Regel verbürgt und abgesichert wird.“ 16 Zur Verwurzelung der Rechtsgemeinschaft in ihren Mitgliedern G. Husserl, in: Recht und Welt (1964), 67 / 77 ff.; wie hier aber mit anderer Tendenz: Chr. Graf v. Pestalozza, in: Der Staat 2 (1963), 425. 17 Gerade in den USA finden sich viele Ansätze, die die rechtliche Relevanz des Rechtsempfindens Einzelner besonders hervorheben, um das Recht auf die besonderen Interessenlagen von Frauen, ethnischen Minderheiten und anderen historisch benachteiligten Gruppen 14 15

1. Abschn.: Die Individualpositivierung des Rechts

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empfinden hat nicht nur der Bundesverfassungsrichter, sondern auch der sogenannte Mann auf der Straße. Tatsächlich ist Recht, und gerade auch Verfassungsrecht, nicht nur – wie Peter Häberle18 überzeugend hervorhebt – „rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren“; vielmehr wirkt es „wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger“. Freilich muss man mit solchen Feststellungen vorsichtig umgehen, weil sie dazu verleiten können, die faktische Weite und Offenheit der möglichen Verständnisse des Rechts zur maßgeblichen Leitlinie seines Verstehens zu machen. Mit einer „kulturellen Unterfütterung“ dieses Verständnisses will Häberle einer solchen Gefahr begegnen, wenn er fortfährt, die Verfassung sei „Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes“. An der Offenheit aber will er nicht rütteln: Als lebende Verfassung müsse die Verfassung „als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft“ verstanden werden. So wollen aber viele Menschen ihre Verfassung gerade nicht sehen. Während Häberle die – aus externer Perspektive – zutreffend konstatierte Offenheit für gut erachtet und sie daher zum Maßstab einer internen Sicht des Rechts macht19, werden viele diese Offenheit als Gefahr sehen und Wege suchen, um zu verhindern, dass jeder nun glaubt, „tun und lassen zu können, was er will“. Tatsächlich ist die Offenheit der Wahrnehmung des Rechtlichen nicht notwendig und per se gut oder richtig; sie ist lediglich ein Element, das dem Umgang mit auszurichten. J. Shklar, 98 Yale L.J. 1135 (1989) 1135, will dabei vor allem die Erfahrung von Ungerechtigkeit nutzbar machen: „Why should we not think of those experiences that we call unjust directly, as independent phenomena in their own right? Common sense and history tell us that these are primary experiences and have an immediate claim on our attention. Indeed, most of us in all likelihood have said, ,this is unfair or unjust,‘ a lot more often than ,this is just.‘ Is there nothing much to be said about the sense of injustice that we know so well when we feel it? Why then do philosophers refuse to think about injustice as deeply or as subtly as about justice?“ Problematisch ist freilich, dass Shklar im Folgenden nur noch die Ungerechtigkeit zum zentralen Objekt des Interesses macht. Die Implikationen dieser Fixierung zeigt S. White, Political Theory (1991), 125, wenn er Shklar’s Unterscheidung nach aktiver und passiver Ungerechtigkeit (nach Cicero) untersucht. Er verweist hier auf die Gefahren eines Rousseau’schen Menschen, der die passive Ungerechtigkeit ausmerzen will. Seine daran anschließenden Überlegungen sind aber rechtlich schwer fassbar: „As an alternative, one might think of the problem of passive injustice from the perspective of postmodern care. Here the sense of injustice would be . . . tuned . . . by a subtle grieving for all those who bear the added burden of a life of needless suffering and injustice. . . . Given these qualities, it would be expected that the most appropriate sites for the expression of this enhanced sense of public obligations are local ones. There the possibilities for understanding and effective citizen action are maximized.“ Hier entstehen Assoziationen zu Gemeinden als Selbsthilfegruppen mit Zwangsmitgliedschaft. 18 Vgl. etwa Der Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates, in: Rechtsvergleichung (1992), 739 / 740; siehe auch ders., in: Verfassung als öffentlicher Prozeß (19952), 155. 19 Zur Weiterentwicklung des Gedankens der „Offenen Gesellschaft“ und zur „Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß“ vgl. P. Häberle, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß (19952), 182; kritisch wie hier statt vieler E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 53 / 67 f.

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

Recht zugrunde gelegt werden kann. Zugleich ist vor allem die Frage zu stellen, welche anderen Eigenarten das Recht darüber hinaus noch hat. Für sich allein gesehen hilft das Rechtsempfinden und die in ihm angelegte Offenheit des Rechts nicht weiter. Gerade die Problematik der Offenheit des Rechts20 ist auch der eigentliche Bezugspunkt für die Vorstellung, dass man Maßstäbe und Verfahren braucht, die die Rechtsarbeit vorhersehbar und sicher machen. Für die Postulierung von Verfahrensregeln, die eine gute Rechtsfindung sichern sollen, steht z.B. die Habermas’sche Idee der diskursiven Wahrheit, die im Kern (auch) deterministisch ist. Grob vereinfacht könnte ihr Inhalt so beschrieben werden: man bestimmt das Umfeld und das, was herauskommt, ist Wahrheit. Maßstäbe zur Bewältigung der Offenheit des Rechts ließen sich des Weiteren durch die Berücksichtigung von Gesetzlichkeiten menschlichen Lebens gewinnen, die in nicht juristischen Wissenschaftsdisziplinen entwickelt wurden21 oder man könnte sich der Meinung von H.L.A. Hart anschließen, dass grundsätzlich nur gesellschaftliche Verhaltensregeln primary order rules sein können22. Das Problematische dieser eher formalen, d.h. nicht auf die konkreten Ergebnisse ausgerichteten Kriterien zur Bewältigung der Offenheit des Rechts, findet sich sehr pointiert in der Kritik Kants23 an empirischen Rechtslehren: „Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat“. Die Quintessenz dieser Kritik ist darin zu sehen, dass die Festlegung von Regeln zur Identifikation von Recht oder die Bestimmung von (Verfahren-)Standards für die Entscheidungsfindung erst dann überzeugen könnte, wenn damit sichergestellt wäre, dass die Ergebnisse gerecht, richtig, moralisch, mit einem Wort gut sein werden. Offenheit lässt sich also weder mit Inhalt noch mit Verfahren füllen, wenn sie ihren Charakter behalten soll. Tatsächlich sind die dekretierten Inhalte des Rechts und inzwischen auch bestimmte Verfahrensprinzipien zudem mit nachhaltigen Fragwürdigkeiten verbunden, so dass sie als „Füllstoff“ von Offenheit die erzielten Ergebnisse eher diskreditieren, als dass sie sie richtig oder richtiger machen könnten. So wird in der 20 Dazu grundlegend H. Triepel, Staatsrecht und Politik (1927); R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 119 ff.; E. Kaufmann, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 19 (1952), 1; H. Heller, Staatslehre (1934). 21 So beziehen sich z.B. die Rechtsökonomen auf verschiedenste Aspekte effizienten Wirtschaftens, H.-B. Schäfer / C. Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, (19952), 1. 22 In Bezug zum bindenden Recht verwendet er auch den Begriff der Çustom“, The Concept of Law (1961), 48. 23 Metaphysik der Sitten, Rechtslehre (1797 / 98), AB 32 f. Dazu auch ebenda: „Was Rechtens sei (quid sit iuris), d.i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er [der Rechtsgelehrte] noch wohl angeben; aber, ob das, was sie wollen, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht ( . . . ) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeitlang jene empirischen Prinzipien verläßt, die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft sucht (wiewohl ihm dazu die Gesetze vortrefflich zum Leitfaden dienen können), um zu einer möglichst positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten“.

1. Abschn.: Die Individualpositivierung des Rechts

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Rechtsökonomie zwischenzeitlich eine Diskussion über nahezu alle Werte geführt, die für diese Disziplin leitend waren, so dass im Grunde alle „Sicherheiten“, die diesen Ansatz so verlockend gemacht hatten, entschieden relativiert sind24. Auch die Verfahrensidee kann – jedenfalls in Deutschland – inzwischen kaum noch überzeugen, weil auch ein noch so akribisch ausgeformtes Prozedere mit reichhaltig bürgerschaftlicher Partizipation nur in Ausnahmefällen zu Akzeptanz und Befriedung geführt hat und zudem vor allem auch die erhoffte Entlastung der Gerichte ausblieb25. Hier zeigt sich im Übrigen besonders deutlich die oben betonte prinzipielle Unverrückbarkeit individuellen Rechtempfindens und die Richtigkeit des Begriffs „Individualpositivierung“: Als richtig wird – Verfahren hin, Verfahren her – am Ende doch nur empfunden, was im Ergebnis als richtig, als gerecht empfunden wird. Was des Weiteren den Positivismus betrifft, so kämpft er nach wie vor mit der Gerechtigkeitsfrage. Besonders eindrucksvoll wird der problematische Bezug von Rechtsempfinden zur sozialen Ordnung von Kelsen26 verdeutlicht, wenn er ausführt, dass der Gedanke der Gerechtigkeit im Glück des Einzelnen gründet, dass dieses Glück des Einzelnen aber im Übergang zu einer sozialen Kategorie einer radikalen Veränderung unterworfen werden muss. Aus methodischer Perspektive kann man die Individualpositivierung in Bezug setzen zum Vorverständnis des Rechtsanwenders. Es wurde schon in der Einführung darauf hingewiesen, dass ein Jurist Vorstellungen davon haben muss, was das Recht leisten soll und von dem, was es nicht leisten kann. Diese Notwendigkeit realisiert sich gerade darin, dass man einen Berufstand der Juristen hat, also Menschen darin ausbildet, das Recht zu kennen und Vorstellungen davon zu entwickeln, was rechtens und was gerecht ist27. In der Anerkennung der Individualpositivierung als Element des Rechts kann der Rechtsanwender das eigene Vorverständnis unterstützt sehen, er muss allerdings gleichzeitig auch die Vorverständnisse der anderen (Juristen und Laien) akzeptieren. Die Frage, welches Rechtsempfinden richtig ist, welche Individualpositivierung der Gerechtigkeit näher kommt, spielt hier noch keine Rolle. Daher ist es zunächst Vgl. nur H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995). Symptomatisch ist auch die in den letzten Jahren immer stärker erweiterten Möglichkeiten einer Heilung von Verfahrensfehlern im Verwaltungsrecht (dazu prägnant: H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (199912), § 10 Rdnr. 39 f.) sowie z. B. die partielle Unbeachtlichkeit einer Verletzung von Verfahrensvorschriften für die Rechtswirksamkeit des Flächennutzungsplans und der Satzungen nach dem BBauG (§ 214; vgl. auch §§ 215, 215a). 26 Vgl. etwa in: What is Justice (1957), 1 / 4: „In order to become a social category – the happiness of justice – the idea of happiness must radically change its significance.“ 27 Wenn Rechtswissenschaftler das wenige, was sie vom richtigen Recht „wissen“, nicht mehr sagen und nicht mehr damit arbeiten dürfen, dann ist die Rechtswissenschaft irgendeine Wissenschaft, aber keine Rechts-Wissenschaft mehr. Man sollte den Common Sense nicht wie einen Regenschirm benutzen, der vor der Tür abgestellt wird, wenn man einen Raum zum Philosophieren betritt (Wittgenstein). Eine sehr eindrucksvolle Erörterung dieses Problembereichs findet sich in dem von Justice Scalia verfassten Mehrheitsvotum des Urteils vom 27. 6. 2002, Republican Party of Minnesota v. White, No. 01 – 521. 24 25

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

auch gleich-gültig, ob jemand meint: Es soll Recht sein, dass ich einen Luftballon bekomme28, oder ob eine tausendköpfige Menge auf der Straße die Abschaffung einer bestimmten Waffengattung fordert. Das soll keineswegs bedeuten, dass jede Aussage über das Recht gleichwertig ist. Die Unterschiede spielen aber erst dann eine Rolle, wenn man an die Prüfung der verschiedenen Individualpositivierungen geht. Die Reflexion des Juristen muss dabei Selbstbewusstsein (im doppelten Sinne des Wortes) bewirken. Sie darf nicht danach streben, das Selbst auszuschließen und sie muss zu dem Bewusstsein führen, dass Rechtsgefühl, dass Gerechtigkeitsempfinden mehr bedeutet als bloße Subjektivität. Sie bieten die Möglichkeit der Selbstbehauptung und den Transport des Vorwissens in das Recht29. Die Arbeit am Recht hat dieses Vorwissen zu reflektieren.

2. Abschnitt

Die Vermachtung des Rechts Individualpositivierung stellt kein reines Internum dar. Bereits von dem Augenblick an, in dem die jeweilige Position in Worte gefasst wird30, steht sie im Kontext der Sprache und damit der Wirklichkeit. In der Wirklichkeit aber geraten die verschiedenen Individualpositivierungen wegen ihrer Unterschiedlichkeit notwendigerweise miteinander in Konflikt, der nur solange keiner Lösung bedarf, solange er theoretisch bleibt, also der jeweiligen Vorstellung keine konkrete Umsetzung, keine Gestaltung folgt. Wird das Wort aber zur Tat, genügt es nicht mehr, prinzipiell in der Lage zu sein, etwas Richtiges über das Recht zu äußern31; nun bedarf es überdies der Kompetenz zur Gestaltung. Wer diese Kompetenz besitzen soll, ist die Kernfrage des Konflikts32 und die Problematik des Rechts als einem sozialen Ein Satz, der für Kinder im Übrigen einen zentralen Gerechtigkeitsgehalt hat. Vgl. S. Zˇizˇek, Die Tücke des Subjekts (2001), 41, zu Heidegger und der transzendentalen Einbildungskraft: „Der einzigartige Charakter der Einbildungskraft liegt in der Tatsache, dass sie die Opposition zwischen Rezeptivität / Endlichkeit (des Menschen als eines empirischen, in einem phänomenalen kausalen Netzwerk gefangenen Wesens) und der Spontanität (das heißt der selbstbestimmenden Aktivität des Menschen als frei Handelnder und Träger noumenaler Freiheit) untergräbt: Einbildungskraft ist gleichzeitig aufnehmend und setzend, ,passiv‘ (wir werden von sinnlichen Bildern affiziert) und ,aktiv‘ (das Subjekt selbst gebiert diese Bilder aus freien Stücken, so dass diese Affektion eine Selbstaffektion darstellt)“. 30 Und damit: in dem das Rechtsempfinden rationalisiert wurde; vgl. H. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929), 87: „Nur für rationalisierte Empfindungen hat die Sprache ein Wort.“ 31 An diesem Punkt erschöpft sich m.E. auch die Topik hinsichtlich ihrer Eignung für die juristische Methodik, weil sie das Recht als Gestaltungsinstrument nicht hinreichend in ihre Überlegungen mit einbezieht und bei der allgemeinen Gerechtigkeitsfrage „hängen bleibt“; siehe etwa die Fragestellung bei A. Launhardt, Rechtstheorie 32 (2001), 141 / 142 f. mN. 32 Man mag schnell bereit sein, anderen Menschen zuzugestehen, dass sie vorzügliche Ansichten vom richtigen Recht haben, und dies auch dann, wenn sie von den eigenen Vorstel28 29

2. Abschn.: Die Vermachtung des Rechts

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Steuerungsinstrument. Des objektiven Rechts bedarf es, um den Konflikt zu entscheiden. Dabei muss in der Regel ein (praktikabler) Kompromiss gefunden werden, der – bezogen auf die unterschiedlichen Individualpositivierungen und ihre Vertreter – Macht zuteilt und Macht vorenthält, wobei natürlich auch die „richtigeren“ Vorstellungen übergangen werden können33. Immanuel Kant34 beantwortet die Frage nach dem objektiven Recht mit dem berühmten Satz: „Das Recht ist . . . der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“. Die Willkür des Individuums, die Individualpositivierung, wird im Begriff des Rechts ebenso – selbstverständlich – anerkannt wie das allgemeine Gesetz der Freiheit, unter das diese unterschiedlichen Individualpositivierungen vereinigt werden. In diesem Gebot des Vereinigt-Werdens muss der Kern des Rechts gesehen werden, das, was Kant35 als „striktes (enges) Recht“ bezeichnet, das „völlig äußere“, das Recht, das mit Sanktionen bewehrt ist36. Bei Hans Kelsen finden sich ähnliche Überlegungen37. In seinem Werk „Vom Wesen und Wert der Demokratie“38 wird dieser Grundgedanke der notwendigen Sanktionierung durch Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Gesellschaft untermauert. Das Ziel der Freiheit, sowohl von den Naturgesetzlichkeiten als auch von den sozialen Gesetzlichkeiten befreit zu werden, lasse sich nur durch ein „Hinauf zur Gesellschaft“ verwirklichen. Sei das „Hinauf“ erreicht und die Gesellschaft konstituiert, dann werde die Freiheit indes sogleich „unter Herrschaft“ gestellt39. Herrschaft aber be-

lungen abweichen. Sobald es aber um die Durchsetzung geht, d. h., sobald die Anderen beginnen, das Sein nach ihren Vorstellungen zu gestalten, beginnt der Streit darüber, wer die Kompetenz zur Gestaltung hat. 33 Vgl. in Bezug auf die Möglichkeiten der postmodernen „responsibility to otherness“ und der dem entgegenstehenden „responsibility to act“ bei S. White, Political Theory and Postmodernism (1991), 20 f.; ähnlich, mit schärferer Kritik R. Rorty, Achieving Our Country (1998), 78 ff. Vgl. auch S. Zˇizˇek, Die Tücke des Subjekts, 29: „Es muss etwas ausgeschlossen werden, damit wir Wesen werden, die Entscheidungen treffen“. 34 Metaphysik der Sitten, Rechtslehre (1797 / 98), A 33 / B 34. 35 Ebda., AB 36. 36 Vgl. auch J.M. Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), 249. Unter Bezugnahme auf die englische Wendung „to enforce the law“ bemerkt J. Derrida, Gesetzeskraft (1990), 21 f.: „Sie erinnert uns daran, daß die Gerechtigkeit, die vielleicht nicht dasselbe ist wie das Recht oder das Gesetz, nur dann rechtens zur Gerechtigkeit, nur dann zur Gerechtigkeit des Rechts werden kann, wenn sie über Kraft verfügt und Gewalt in sich birgt; nur dann, wenn sie von Anbeginn an, mit ihrem ersten Wort bereits nach Gewalt rufen, die Kraft anrufen kann.“ 37 Freilich beschränkt Kelsen das Recht weitestgehend auf diesen Kern, vgl. nur: Rechtslehre (1934), 25 f. Wichtige Aspekte dazu finden sich bei H. Schambeck, Möglichkeit und Grenzen der Rechtslehre Hans Kelsens (1982), in: ders., Der Staat und seine Ordnung. Ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht (2002), 765 ff. 38 Insbes. 4 ff. 39 Daraus lässt sich erklären, warum Verfassungsgebung meist nur dann gelingt, wenn die Gemeinschaft eine schwere Krise zu bewältigen hat. Hierfür exemplarisch die Präambel der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. 12. 1946, die mit den Worten beginnt: „Angesichts 12 Schmitt Glaeser

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

deutet nichts anderes als die Zuweisung von Gestaltungs-Kompetenzen und damit die Vermachtung des Rechts. Gewiss ist das objektive Recht auf diese Weise keineswegs erschöpfend beschrieben. Im Recht und im rechtlichen Diskurs geht es nicht allein um Koordination mittels positiver und negativer Sanktionen. Aber es geht auch und es geht vor allem um Koordination. Dementsprechend ist zentrales Thema aller Verfassungen, der Gemeinschaft eine Grund-Koordinierung (Grundordnung) zu geben, die Staats- und Regierungsform zu schaffen, Verfahren zur Ausübung öffentlicher Gewalt zu konstituieren, das Verhältnis von Hoheitsunterworfenen und Staat zu bestimmen u.Ä.m.40. Für den Einstieg in das Verstehens des Rechts genügt es zwar sicher nicht, alleine das ius strictum zu verstehen. Zunächst ist es aber notwendig, sich zu vergegenwärtigen, dass das allgemeine Gesetz der Freiheit, unter der die Willkür der Einzelnen vereinigt werden soll, nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern – pointiert ausgedrückt – die Freiheit des Staates, die Freiheit der Gemeinschaft ist. Unabhängig davon, unter welchen Prinzipien sich die Menschen vereinigen, die erkennen, dass nicht jeder seine Vorstellung von der richtigen Ordnung verwirklichen kann, unabhängig davon, ob sie diese Probleme in demokratischen, diktatorischen, rechtsstaatlichen, arkanen, öffentlichen, gerechten, ungerechten, sozialstaatlichen oder liberalen Ordnungen und Strukturen lösen wollen – sie schaffen in jedem Fall eine Ordnung, auf Grund derer Entscheidungen gefällt werden, die der Vorstellung Einzelner nicht entsprechen: das Recht ist (auch) der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Vorstellungen der Einzelnen von Richtigkeit / Gerechtigkeit, die Individualpositivierungen, keine eigenständige Bedeutung mehr haben. Darin besteht sogar der Kern des objektiven Rechts. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass Thomas Jefferson in „naiver“ (im Ergebnis jakobinischer41) Sicht forderte, jede Generation müsse die Verfassung neu bestätigen42. Darin spiegelt des Trümmerfelds, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat . . .“. In Krisen treten oft einzelne Probleme in den Vordergrund und alle Beteiligten empfinden die Erfüllung der einen Forderung (Unabhängigkeit, Frieden, Ende eines Bürgerkriegs u.Ä.) als die eine Notwendigkeit (Gestaltung). In diesen Situationen wird dem Individuum oft nicht mehr bewusst, dass sich in der Verfassung nicht nur seine Freiheit verwirklicht, sondern auch die der Anderen. Dieses Bewusstsein ist wohl auch der tiefere Grund dafür, warum – worauf schon hingewiesen wurde (2. Kap. 3. Abschn. C) – A. Hamilton, The Federalist Nr. 84 (1788), 575 / 579 die Positivierung von Grundrechten in der Verfassung mit dem Argument ablehnte, als Teil der Verfassung wären sie der Macht des Staates unterworfen. Zu dem liberalen Grundverständnis einer Trennung von Staat und Gesellschaft unten B III 1. 40 Vgl. nur E. de Vattel, Le Droit des Gens ou Principes de la loi naturelle (1758), Ausgabe Paris 1820, Buch I, Kap. III., § 27. 41 Vgl. Constitution de la Republique Française vom 24. 6. 1793, Art. 28 der Declaration des Droits de l’Homme et du Citoyen: „Das Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu verbessern und zu ändern. Eine Generation kann ihren Gesetze nicht die zukünftigen Generationen unterwerfen.“

2. Abschn.: Die Vermachtung des Rechts

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sich die Erkenntnis, dass man mit der Statuierung einer Verfassung die unterschiedlichen individuellen Vorstellungen von einem richtigen / gerechten Gemeinwesen für grundsätzlich unbeachtlich erklärt. Wie unrealistisch die Forderung Jeffersons war, zeigte sich jüngst sehr eindrucksvoll in Deutschland, das mit Art. 146 GG einen, vom Grundgedanken her ähnlichen Revisionsgedanken in der Verfassung ausdrücklich statuiert hatte. Nach der Wiedervereinigung erwies sich jedoch, dass ein funktionierender Staat dem Volk nicht ohne Not die Macht zurück gibt43. Die rechtlich verfasste Gemeinschaft erhält sich gleichsam selbst. Nun gibt es in dieser Verfasstheit, wenn sie von erfahrenen Persönlichkeiten konzipiert wurde, immer interne Mechanismen, die sie nicht nur erhalten, sondern ebenso darauf abzielen, sie für jeden erträglich zu machen – für die große Mehrheit möglichst gut erträglich. Abbé Siéyès44 bezeichnete es 1789 als notwendigen Teil der Verfassung, politische Vorsichtsmaßnahmen zu normieren, „mit denen man die Gewalten klugerweise umgibt, damit sie stets Nutzen hervorbringen und niemals gefährlich werden können“. Eine dieser Maßnahmen ist die Teilung der Gewalten45, eine andere etwa die Beschränkung der Gestaltungsmacht der staatlichen Organe in (enumerierten) Kompetenzen. Freilich: Alle diese Mechanismen sind hilfreich, sicher sind sie aber nicht. Die Zweifel von James Madison46 erscheinen angebracht: „Will it be sufficient to mark with precision the boundaries of these departments [Legislative, Exekutive and Judikative] in the Constitution of the government, and to trust these parchment barriers against the encroaching spirit of power?“ Spätestens seit den Erfahrungen, die man in Deutschland bei der Machtübernahme Adolf Hitlers sammeln musste, wurden die Zweifel zur Gewissheit. Die „parchment barriers“ halten sich im Ernstfall nur dort, wo es mächtige staatliche Organe gibt, die nachhaltig und effektiv für diese Barrieren eintreten. Die „Freiheit des Staates“ – als Produkt des „allgemeinen Gesetzes der Freiheit“ i.S. Kants – ist, dogmatisch korrekt formuliert, seine Kompetenz. In einem freiheitlichen Staat aber ist diese Kompetenz insofern wirklich ebenso eine Freiheit des Staates im Sinne einer Freistaatlichkeit, als sie auf die Freiheit der Bürger bezogen ist und dabei nicht nur deren Einschränkung darstellt, sondern sich gleichzeitig auch vor dieser bürgerlichen Freiheit, die sie begrenzt, zu rechtfertigen hat. Die Kompetenz des freiheitlichen Staates muss also nicht nur beschrieben und dekretiert werden, sie bedarf auch der Vermittlung. Hier zeigt sich zunächst die Stärke 42 2. Kap. 3. Abschn. B. Hier liegt m.E. auch eine wesentliche Dichotomie der amerikanischen wissenschaftlichen Diskussion begründet. Während Madison das Problem in der Verfassung zu lösen sucht, verweist Jefferson zurück auf die revolutionäre Phase; er glaubt, das Problem von Madison nicht lösen zu müssen. 43 Dazu allgemein W. Schmitt Glaeser, Die Stellung der Bundesländer bei einer Vereinigung Deutschlands (1990) sowie K. Stern / B. Schmidt-Bleibtreu, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit I (1990), insbes. 26 ff. mwN. 44 Préliminaire de la Constitution, Politische Schriften 1788 – 1790, 1975, 239 / 250. 45 The Federalist Nr. 48 (1788), 332. 46 The Federalist Nr. 48 (1788), 332 / 333.

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

des deterministischen Anliegens, die Rechtsfolgen so weit wie möglich zu „automatisieren“, das soll heißen: das Recht so zu beschreiben und so zu strukturieren, dass die Folgen als zwingend erscheinen. Gelänge dies tatsächlich, könnte man also das deterministische Anliegen idealiter umsetzen, dann könnte man auch mit dem Gedanken leben, dass das Recht ein Machtinstrument ist, das der Herrschaft von Menschen über Menschen dient – soweit es ein „gutes“ Recht ist. Einer solchen idealen Konstruktion steht aber die Offenheit des Rechts entgegen, d.h. die Erkenntnis, dass Jedermann gültige Aussagen über das richtige Recht machen kann. Entgegen steht ihm auch die Unmöglichkeit, eindeutige und allgemein anerkannte Lösungen zu finden. Es sei hier nur an Richter Learned Hand erinnert47, der seine Konzeption vor allem auf der Grundlage entwickelt, dass man keine objektiven Maßstäbe für Wert-Fragen erkennen kann. Auf dieser Linie liegen auch die opinions von Justice Scalia48, der es den Richtern so weit wie möglich verwehren will, Sinndeutungen des Rechts vorzunehmen. In der Konzentration auf die Offenheit des Rechts wird freilich die Problematik ausgeblendet, wie der Staat mit seinen Kompetenzen rechtlich richtige Ergebnisse erreichen soll. Die Ausblendung geschieht – wie schon in anderem Zusammenhang gezeigt49 – auf unterschiedliche Art und Weise. Die Positivisten reduzieren Recht weitestgehend auf das vom Staate gesatzte Recht, realistische Ansätze ziehen dagegen Maßstäbe einer als wahr angenommenen Gesetzlichkeit des Seins heran, diskursive Ansätze schließlich postulieren Entscheidungsmechanismen. Am Ende steht aber immer wieder ein handgreifliches Ergebnis, nämlich eine Machtausübung; und diese wird nie unstrittig sein. Man kann und darf50 sie immer mit Argumenten des (angeblich) Richtigen, Gerechten oder Wahren in Zweifel ziehen. Und eben hier liegt die Stärke der konsequentialistischen Perspektive, die sich bemüht, Ansätze einer rechtlich richtigen Machtausübung zu gewährleisten. Konsequentialisten stellen sich der Machtfrage. Diese Frage lässt sich aber nicht im Wege einer Postulation der Notwendigkeit überzeugend beantworten, dass der Richter ein „Herkules“ (Dworkin) sei51. Und so zutreffend es im Übrigen unter mancherlei Gesichtspunkt auch sein mag, dass Staat und staatliche Gewalt nicht vor-, sondern aufgegeben sind, und die angestrebte Einheit des Staates Wirklichkeit nur gewinnen könne, sofern – wie Konrad Hesse52 formuliert – „es gelingt, die in der Wirklichkeit menschlichen Lebens bestehende Vielheit der Interessen, Bestrebungen und Verhaltensweisen zu einheitliOben 2. Kap. 3. Abschn. B. Oben 2. Kap. 2. Abschn. D. 49 Oben 3. Kap. 4. Abschn. B. 50 Zu den, den deutschen Romantikern eigentümliche Vorstellung des ewigen Gesprächs und der damit verbundenen moralischen Passivität: C. Schmitt, Politische Theologie (19342), 69 ff. Ähnliches lässt sich freilich auch über die soziologischen Rechtsdenker feststellen (ders., ebenda, 82 f.). Auch sie umgehen anspruchsvolle moralische Entscheidungen durch „Delegation an die Zeit“. 51 Dazu oben 3. Kap. 4. Abschn. B. 52 Grundzüge (199520), Rn. 6. 47 48

2. Abschn.: Die Vermachtung des Rechts

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chem Handeln und Wirken zu verbinden“, so wenig lässt sich die Machtfrage durch solche Erkenntnisse einvernehmlich lösen. Die Offenheit des Rechts ist damit nicht bewältigt. Denn für den Einzelnen widerspricht jedes von seiner Anschauung abweichende Handeln und Wirken der Richtigkeit; damit erlebt er Staat und staatliche Gewalt durchaus als etwas Vorfindliches, gleichgültig wie sehr der Staat sich auch bemühen wird, seine Interessen, Bestrebungen und Verhaltensweisen zu berücksichtigen. Die Spannung zwischen der Offenheit des Rechts und der Notwendigkeit, Entscheidungskompetenzen festzulegen, entsteht vor allem in einem Staat, der sich bemüht, die Individualpositivierungen zu berücksichtigen, dem freiheitlichen Verfassungsstaat also. Die Machtbefugnisse, die er (wie jeder Staat) besitzt, stehen strikt in Bezug zu denen, von denen er sie zu haben deklariert: den Bürgern. Und wenn er sie richtig ausüben will, so muss das heißen: richtig im Sinne der Bürger. Eine solche Vorgabe lässt sich jedoch – es sei wiederholt – in der individuell gewünschten Stringenz nicht erfüllen, weil die Einzigen, die etwas Fundiertes über das richtige Recht sagen können, die einzelnen Individuen sind. Die Antworten aber, die man von ihnen erhalten kann, sind – naturgemäß – ebenso subjektiv wie unterschiedlich und widersprüchlich. Die subjektiven Bewertung und das Fehlen einer objektiven Rationalität53 lassen sich weder durch den Gedanken einer „Einheit der Verfassung“ (Konrad Hesse) oder einer „Integrität“ (Ronald Dworkin) noch durch Prinzipien wie Nicht-Widersprüchlichkeit, Konsequenz oder Effektivität zu objektiven Erkenntnissen umschmieden. Diese Gedanken und Prinzipien haben keinen Bezug zu einem bestimmten Inhalt, bleiben ergebnisoffen, können also im Grunde genommen jedem Ziel dienen54. 53 H. Kelsen, in: What is Justice (1957), 1 ff., insbesondere 4: „Where there is no conflict of interests, there is no need for justice. A conflict of interests exists when one interest can be satisfied only at the expense of the other; or, what amounts to the same, when there is a conflict between two values, and when it is not possible to realize both at the same time; when the one can be realized only if the other is neglected; when it is necessary to prefer the realization of the one to that of the other; to decide which one is more important, or in other terms, to decide which is the higher value, and finally: which is the highest value. The problem of values is in the first place the problem of conflicts of values, and this problem cannot be solved by means of rational cognition. The answer to these questions is a judgement of value, determined by emotional factors, and therefore, subjective in character – valid only for the judging subject, and therefore relative only“; Hervorh. v. Verf. Als Beispiele führt er an den Konflikt zwischen dem Tötungsverbot und der Ehre der Nation, zwischen Suizidverbot und dem Todeswunsch eines KZ-Insassen und zwischen Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, a.a.O. 5 f. 54 Damit ist nicht gesagt, dass sie wertlos sind. Aber derartige Prinzipien sind ohne Bezug auf einen Inhalt nicht nur ergebnisoffen, sie sind auch indifferent in Bezug auf Inhalte. Besonders eindrücklich findet sich diese Problematik in der Rede des Prinzen von Berg aus Arthur Miller’s „Incident at Vichy“, der erklärt, warum Juden in den Konzentrationslagern getötet werden, obwohl das den Deutschen keinerlei Vorteil bringt: „They do these things not because they are German but because they are nothing. It is the hallmark of the age – the less you exist the more important it is to make a clear impression. I can see them discussing it as a kind of . . . truthfulness. After all, what is self-restraint but hypocrisy? If you despise Jews

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

Zusammenfassend lässt sich die Schwierigkeit des Verstehens von Recht so beschreiben: Das, was „wir“ über das „richtige Recht“ wissen, ist alleine das, was jeder Einzelne von uns über das Recht weiß. Das, was als Recht geschieht, hat zunächst keinen Bezug zu dem, was richtig ist – es ist zuallererst ein Ausdruck der Macht, die Menschen über Menschen in einer Gemeinschaft ausüben. Beide Phänomene stehen in Bezug zum Verfassungstext, der als Dokument der Staatsbildung ihr „körperlicher“ Ausdruck und damit Ausdruck der Vermachtung des Rechts ist. Anders als in der Krönung oder der Weihe eines Herrschers werden mit der feierlichen Unterzeichnung des Verfassungsdokuments überdies vergleichsweise detaillierte Formulierungen vor-geschrieben, die eine Aussage darüber enthalten sollen, unter welchen Bedingungen die Vermachtung des Rechts zulässig ist und welchen Zielen sie dienen soll. In dieser Kombination liegt die besondere Eigenart des Verfassungstextes. Der „Gehorsam“ des Bürgers im Verfassungsstaat ist nicht mehr der eines Untertanen gegenüber einem Herrscher, sondern der des Lesers gegenüber einem Text. Nun würde kein Bürger Deutschlands oder der USA auf die Frage, wer in seinem Land herrscht, schlicht auf den Text des GG oder der U.S.-Constitution verweisen. Gleichwohl ist der Verfassungstext in der Vorstellung vom Staat als legitimen Staat, in den Vorstellungen der Bürger, der „autorisierten Leser“55, präsent. Dabei ist es zunächst egal, ob der Text tatsächlich gelesen wird oder nicht. Es ist auch irrelevant, wie der Text gelesen wird, ob als Gesetz, Roman, technische Instruktionsanweisung oder ob er „zur Laute gesungen wird“ (wovon Dürig56 nachdrücklich abrät). In jedem Fall werden der Verfassung unterschiedliche Verständnisse beigestellt, Verständnisse, die eine Verfassungsmethodik „irgendwie“ bewältigen muss. Denn die Verfassung ist weit davon entfernt, nur gute Literatur zu sein. Sie ist Recht und daher Machtbegründung. Damit ist offenbar, dass es neben bzw. unter den Textlesern auch Textanwender geben muss. Dies sind die Inhaber staatlicher Gewalt, d.h. die Staatsorgane, die eine vorgestellte politische Einheit verwalten müssen. Diese Textanwender sind keine reinen Funktionäre der staatlichen Macht, sie sollen vielmehr qua Geltung der Texte und der vorgestellten Verbindlichkeit der Texte autorisierte Textanwender sein, die die Realität einem Text unterwerfen. Die Autorität, die ihnen in dieser Tätigkeit beigestellt ist, ist eine Kompetenz, die sie nur in dem Maße haben sollen, in dem sie zwischen Text und Realität eine Normativität herstellen, d.h. indem sie ihre Macht an den Verfassungstext und an die in der Folge und in Übereinstimmung mit diesem Text erlassenen Rechtsakte (Gesetze, Verordnungen, Gerichtsentscheidungen, u.a.) anbinden. Das geordnete Zusammenspiel der autorisierten Textanwender führt zur the most honest thing is to burn them up. And the fact that it costs money, and uses up trains and personnel – this only guarantees the integrity, the purity, the existence of their feelings.“ 55 Vgl. zum folgenden grundlegend, aber auch grds. anders: P. Häberle, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß (19962), 155 ff. Häberle bezeichnet das „Lesen“ der Verfassung von vorneherein als „Interpretation“. Nun ist zwar jedes Lesen auch Interpretation, die Interpretation unterscheidet sich aber ganz wesentlich nach dem jeweiligen „Wozu“. 56 GG-Textausgabe (199633), VII.

2. Abschn.: Die Vermachtung des Rechts

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Herstellung der Normativität der Verfassung. Der Begriff des „geordneten Zusammenspiels“ verdeutlicht die Elemente dieses Vorganges: Ein dynamisches Element, das sich im (argumentativen) Zusammenspiel der Textanwender entwickelt und ständig verändert, sowie ein eher festes Element, das den Rahmen abgibt, das „Spiel“ zusammenhält und in Struktur bringt. Beide Elemente bilden die „Intrastruktur des Rechts“57.

A. Die Intrastruktur des Rechts und das Ideal des Rechts I. Die Intrastruktur und die Herausforderung an die Dogmatik Die Realität des staatlichen Rechtswirkens ist ein kontinuierlicher Prozess in der Zeit58. Dieser Prozess beruht im Kern auf dem Recht als ius strictum, auf der Eigenart des Rechts, Wirklichkeit gestaltbar zu machen. Die leitenden Elemente des Rechts sind in diesem Kontext die Ergebnisse der Gestaltung, also die Rechtsfolgen, die den autorisierten Textanwendern zur Verfügung gestellt werden, eine AnLeitung, die freilich überaus offen ist und am Ende nur die Grenzen des (rechtsethisch, politisch und faktisch) Machbaren paraphrasiert59. In der Formulierung und Durchsetzung von Rechtsfolgen bildet sich eine unermessliche Fülle von Ergebnissen, für deren Geltung zunächst der Rechtsschein spricht, selbst wenn später rechtskräftig ihre Fehlerhaftigkeit oder gar Nichtigkeit festgestellt wird. Die jeweilige Gültigkeit und Nachhaltigkeit bestimmt sich danach, ob sie als rechtmäßig anerkannt, ob die Ergebnisse als Teil der Rechtsordnung oder als Verstöße gegen die Rechtsordnung angesehen werden. Die Anerkennung oder die Aussteuerung der Ergebnisse der Rechtsanwendung erfolgt vordergründig über rechtliche Argu57 B. Pascal, Pensees (bis 1662), 257: „Es ist gerecht, daß das, was gerecht ist, befolgt wird, und es ist notwendig, daß das, was am mächtigsten ist, befolgt wird. Die Gerechtigkeit ist ohnmächtig ohne die Macht; die Macht ist tyrannisch ohne die Gerechtigkeit.“ Zu diesem Gedanken vergleiche die ausführlichere Analyse von J. Derrida, Gesetzeskraft (1990), 22 ff. 58 Der Bezug von „Realität“ und „Zeit“ dient vor allem der Zurichtung des Gegenstandes für das Verstehen des Gegenstandes, weil die einzelnen Aspekte der „Realität des staatlichen Rechtwirkens“ erst dann als etwas Sinnhaftes (Sinn als „zu welchem Ende“) gesehen werden können, wenn man ihr Ziel ausmacht, und dieses Ziel liegt in der Zukunft. Vgl. dazu auch H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung (1977), 72: Verfassung als Versuch des Richtigen, der durch die Qualität der Überlieferung ausgewiesen ist und in die Zukunft weist. Zum Bezug von materialem Verfassungsbegriff und Zeit (auch: Geschichte): Chr. Graf v. Pestalozza, in: Der Staat 2 (1963), 425 / 426. Grundlegend Aristoteles, Kleine Schriften (1924), 33 (448b): „Ferner gäbe es weder eine Zeit, in der man wahrnimmt, noch ein Ding, das man wahrnimmt, außer dadurch, dass man in einem Teil der Zeit . . . wahrnimmt . . .“. 59 Besonders deutlich wurde dies in Brown v. Board of Education, s. oben 2. Kap. 3. Abschn. B und der dadurch hervorgerufenen Diskussion über die counter-majoritarian difficulty.

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mente; hinter diesen Argumenten steht aber eine autoritative Ordnung, die bestimmt, wer die „schlagenden Argumente“ vorbringen kann bzw. vorgebracht hat. Die Autorität hinter dieser Ordnung ist ein kaum fassbares Phänomen, dessen Grundlage zwischen Macht und Vernunft oszilliert. Man findet Autorität kraft hierarchischer Stellung (z.B. Letztentscheidungsmacht des BVerfG in Verfassungsfragen, Art. 93, 100 GG) und Autorität kraft Argumentation und Persönlichkeit (z.B. das von Konrad Hesse formulierte Gebot der Herstellung praktischer Konkordanz). Die Ordnung, die diese Autorität errichtet, ist nicht statisch, sondern in ständiger Entwicklung begriffen. Als autoritative Interpretationsordnung ist sie nur insoweit fixiert, als es die staatlichen Hierarchien betrifft. Sie bilden den Rahmen, von dem schon die Rede war60. Im übrigen ist sie lediglich interpretationsbezogen und damit abhängig von dem jeweilig anerkannten Gewicht eines Arguments. Die Verbindung zwischen Hierarchiefixierung und Argumentsbezogenheit ergibt eine Interpretationsordnung in der Zeit, die hier Intrastruktur genannt wird. Ihre Aufgabe als hierarchie- und interpretationsbezogene Struktur liegt in der kohärenten Lösung der Konflikte, die entstehen, weil Recht nicht von selbst funktioniert. In Ermangelung einer zwingenden (selbstausführenden) Klassifikations-Ordnung muss die Normativität des Rechts hergestellt werden, indem die Ergebnisse, die die autorisierten Textanwender „produzieren“, auf ihre Gültigkeit und ihre Geltung überprüft werden. Nur im Rahmen dieser Intrastruktur erweist sich, was rechtens ist, was Normativität entfaltet. Die existierenden Hierarchien (im Rahmen von Organisation und Verfahren, einschließlich Rechtswege) allein können diese Aufgaben nicht erfüllen, denn auch sie bedürfen einer Steuerung. So werden z.B. für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer baubehördlichen Abrissverfügung allgemein nur die Ergebnisse der Intrastruktur herangezogen, die als rechtlich geltend anerkannt sind, und speziell nur die, die für eine solche Frage als erheblich angesehen werden. Ob also eine Verwaltungsvorschrift oder eine früher erteilte Baugenehmigung in derselben Gegend für die in Streit stehende Abrissverfügung in Betracht kommt, ergibt sich daraus, ob man sie im konkreten Fall als geltend wahrnimmt 61. Die Steuerung dieser Wahrnehmung von Ergebnissen als etwas Geltendes erfolgt im Wesentlichen über die juristische Dogmatik62. Juristische Dogmatik (oder Rechtsdogmatik), die mit Gustav Radbruch63 als die von den Juristen tatsächlich betriebene Rechtswissenschaft bezeichnet werden kann, präzisiert die im Recht 3. Kap., 1. Abschn. a.E. vor A. Auch wenn manche der hier verwendeten Formulierungen Assoziationen zu Luhmanns operativer Geschlossenheit des Rechtssystems erwecken mögen, so unterscheidet sich die vorliegende Konzeption davon doch grundlegend. Zu Luhmann unten B II. Allerdings hat Luhmanns Arbeit einige der hier entwickelten Gedanken befördert. 62 Von großer Bedeutung sind im Übrigen vor allem die Veröffentlichungs-Bestimmungen für Rechtsakte (Bundesanzeiger u.Ä.). Auch diese sind allerdings nicht „selbstausführend“. Sie bedürfen ebenso einer unterstützenden Dogmatik, die z.B. festlegt, wann eine Veröffentlichung hinreichend wahrgenommen werden kann. 63 Rechtsphilosophie (19707), 209. 60 61

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zum Teil vorgegebenen hierarchischen Steuerungsinstrumente, sie entwickelt Maßstäbe für die hinreichend überzeugende Begründung von Entscheidungen, sammelt normative Lehrsätze (als richtig entwickelte Aussagen über das Recht) und ordnet sie in (systematische64) Zusammenhänge65. Mit ihrer Hilfe entwickeln und bestimmen sich, vor allem auch in der Ausbildung der Juristen66, die Strukturen und Grenzen der Wahrnehmung der Rechtsanwender. Für diese Wahrnehmung kommt es entscheidend darauf an, wer zu dem jeweils aktuellen Zeitpunkt in einer bestimmten Konstellation eine Aussage über das Recht machen darf und wessen Auffassung über das Recht sich durchsetzt67. Verfassungstexte sind daher zwar wesentliche Bezugspunkte für die Dogmatik, aber sie sind nicht Ausgangspunkt der Steuerung, auch wenn sie Steuerungsvorgaben enthalten (Art. 20 III, 28, 31, 70 ff., 92 ff. GG u.a.). Denn die Vorgaben sind durchweg nur rudimentär und ermöglichen für sich alleine keine eindeutigen Kriterien für die Wahrnehmung von Ergebnissen als etwas Geltendes. Die Ausarbeitung dieser Kriterien ist Aufgabe und Leistung der Dogmatik. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe stützt sie sich nicht nur auf die Inhalte des geltenden Rechts, sondern auch auf formale Konfliktlösungsregeln, die zum Teil in der Verfassung grundgelegt sind, zum Teil aber auch einer Logik der Macht folgen. Es handelt sich um eine Steuerungsklimax „Zeit-Nähe-Macht“: Entscheidungen werden dann grundsätzlich eher wahrgenommen als andere, wenn sie später ergangen sind: Zeitfaktor (vgl. lex posterior derogat legi priori); Entscheidungen mit größerer SachZum Systemdenken näher unten B II. Allerdings hat Dogmatik unterschiedliche Begriffsbedeutungen und ist zudem als Begriff weitestgehend offen für neue Deutungen. Eine begriffsgeschichtliche Darstellung findet sich bei U. Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein? (1973), 7 ff. (neuere Bedeutungsgehalte werden auf den Seiten 14 ff. dargestellt) sowie bei D. de Lazzer, in: Fs Esser (1975), 85 / 87. Zur wissenschaftstheoretischen Dimension der juristischen Dogmatik vgl. die Beiträge in: v. Savigny u.a. (Hg.), Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976. Meyer-Cording (a.a.O.) hält das Festhalten an Dogmatik im juristischen Kontext für falsch, weil die von ihm herausgearbeitete erste Phase der dogmatischen Methode, die Feststellung von Dogmen als unanfechtbare Prämissen, dem modernen Verständnis der Jurisprudenz nicht entspräche. Entscheidend erscheint mir aber für die „Brauchbarkeit“ der dogmatischen Methode zuallererst die von ihm dargestellte zweite Phase: die Auslegung der Dogmen und die Systembildung, mit anderen Worten, die Durchdringung und Bewertung des dem Juristen bei seiner Arbeit vorgegebenen Bestandes von zur Zeit verbindlichen Verständnissen des Rechts. 66 Vgl. dazu W. Richter, Zur Bedeutung des Richters für die Entscheidungsbildung (1973), der die Bedeutung der Ausbildung größer einschätzt als die der sozialen Herkunft. 67 In diesem Sinne verwirklicht Dogmatik das Rechtsverständnis des Thukydides in der Deutung von E. Wolf, Griechisches Rechtsdenken III (1956), 2. HalbBd., Kap. 4, 139 ff., für den „Recht nur als konkrete Ordnung existierte“ und „dessen rechtsphilosophischer Logos keine ,Stellungnahme‘ im Ringen um die darin aufgewiesenen Lebens- und Denkgesetze, sondern ihre Erkenntnis lehrte. Diese wollte nichts anderes als erst sehen, dann zeigen, wo der Mensch in der Welt steht und in welcher ,Lage‘ sein geschichtliches Dasein ist.“ Vgl. auch die Gleichstellung von juristischer Auseinandersetzung mit Kämpfen um Zertitätswerte (Wert des Grades der faktischen Anerkennung) bei K. Adomeit, Rechtstheorie für Studenten (19984), 24. 64 65

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verhaltsnähe gehen solchen mit geringerer Sachverhaltsnähe vor: Nähefaktor (vgl. lex specialis derogat legi generali)68; schließlich orientiert sich die Dogmatik an dem Stufenbau der staatlichen Hierarchie und ordnet ihnen die der Geltungshierarchie der Rechtsquellen entsprechenden Handlungsformen zu: Machtfaktor (Gesetz, Rechtsverordnung, Satzung, Verwaltungsakt, Urteil, Beschluss etc.: lex superior derogat legi infreriori)69. Diese Steuerungsklimax kann man insoweit auch als Ausfluss der Logik der Macht bezeichnen, weil keine der Kriterien auf die materiellen Gehalte des Rechts bezogen sind. Sie haben meist weder einen Richtigkeitsgehalt in Bezug auf positiviertes Recht noch in Bezug auf andere Richtigkeitsmaßstäbe. Bejaht man nämlich die (allgemeine oder rechtliche) Richtigkeit einer Entscheidung, dann müsste es eigentlich irrelevant70 sein, wann sie getroffen wurde, wie konkret sie auf einen Sachverhalt eingeht oder wer sie gefunden hat. Bezieht man diese Instrumente aber auf das Kriterium der effektiven Machtausübung, dann sind sie in aller Regel zwingend. Befiehlt z.B. ein absoluter Herrscher heute etwas anderes als gestern, dann sollte man sich an dem Heute orientieren. Gibt er eine konkrete Anordnung, dann sollte man ihn nicht auf seine Prinzipien ansprechen. Gibt sein Kanzler eine Anweisung, die der seinen widerspricht, dann ist es klüger, dem Herrscher zu gehorchen (es sei denn, der Kanzler hieße Richelieu). Die Steuerungsklimax ist zunächst eine Klassifikation des effektiven Gehorsams, eine Orientierungshilfe, um bei gegebenem Anlass eine sichere Autorisation für eine vorgestellte Entscheidung zu finden. Freilich lässt es die Dogmatik dabei nicht bewenden. Auch wenn sie diese Steuerungsklimax der Macht nicht negiert und nicht negieren kann, schon weil sie zum Teil auch im gesatzten Recht vorgesehen ist, so wird doch keines dieser Instrumente prinzipiell, geschweige denn absolut als gültig angesehen. Die Arbeit mit den Klassifikationen des effektiven Gehorsams kann die Intrastruktur der Verfassung zwar als eine normative Struktur erscheinen lassen, in der im konkreten Fall immer etwas Bestimmtes gilt. Grundsätzlich geht es aber in der Intrastruktur nicht darum, dass irgendetwas gilt, sondern dass das gilt, was rechtmäßig und rechtsgültig ist. Die verschiedenen Ergebnisse der autorisierten Textanwender sollen nur dann gelten, wenn sie das Ergebnis einer richtigen Rechtsanwendung sind71. Bei der Erreichung dieses Ziels steht die Dogmatik allerdings vor vielfältiAber: lex posterior generalis non derogat legi priori speciali. Wie schwierig diese Zuordnung ist, zeigt sich besonders in der Tatsache, dass man sich noch immer nicht darauf verständigt hat, welche Rechtsnatur die Geschäftordnung des Bundestages (Art. 40 I GG) hat. Vgl. dazu den Überblick bei N. Achterberg / M. Schulte, in: BK (20004), Art. 40, Rn. 34 ff. mN. Gleichwohl hat die Dogmatik (vorläufig) „festgelegt“, dass die Geschäftsordnung nur als unter dem einfachen förmlichen Gesetzen stehend wahrgenommen wird; kritisch dazu dies., a.a.O., Rn. 40 ff. mN. 70 Diese Klassifikation basiert freilich auch in vielen Aspekten unmittelbar auf der Verfassung: etwa in der Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung oder des Verordnungsgebers an die Gesetze (Art. 20 III, 80 I GG). 71 Vgl. R. Dreier, in: Recht-Moral-Ideologie (1981), 48 / 51, der Jurisprudenz als Kernstück der Rechtswissenschaft mit Dogmatik gleichsetzt. Man kann diese Zielsetzung der 68 69

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gen Problemen, die im Wesentlichen auf zwei Aspekte reduziert werden können. Zum einen können die Texte, in denen das geltende Recht niedergelegt wurde, unterschiedlich verstanden werden. Damit aber ist die schlichte Berufung auf ein Gesetz nicht ausreichend, um mehr zu gewährleisten als einen Schein von Normativität. Zum anderen kann auch die Realität, die unter Anwendung der Gesetze normiert werden soll, nur als verstandene, als „zugerichtete“ Realität (Sachverhalt) in der Rechtsanwendung beurteilt werden. Und auch hier kann jeder Rechtsanwender etwas anderes „sehen“. Die aus diesen Unsicherheiten entstehenden Probleme lassen sich zwar mit der Steuerungsklimax Zeit-Nähe-Macht bewältigen, die so gesteuerte Intrastruktur hätte aber nur eine „Irgendwie-Normativität“, die an den Zufälligkeiten der jeweiligen Machtkonstellationen haftet. Der Verfassungsstaat fordert jedoch mehr, und zwar gerade deshalb, weil er seine Legitimität aus der Existenz einer geschriebenen Verfassung herleitet, in der alle Bürger nachlesen können, inwieweit und wie sich ihre Individualpositivierungen in der Vermachtung des Rechts zu einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinen. Die Intrastruktur muss normative Struktur besitzen, in der das Recht herrscht: Lex statt Rex72. Es genügt nicht, den Schein der Normativität zu wahren. Die Verfassung hat in der Intrastruktur effektive Normativität zu entfalten73, eine Aufgabe, die, wie im folgenden geDogmatik auch im Sinne von H.L.A. Hart, The Concept of Law (1961), als Herstellung einer „union of primary and secondary rules“ bezeichnen. Diese Verbindung steht aber nicht am Anfang des Denkens über Recht, sie muss als vorgestelltes Ende begriffen werden. Die Schwierigkeiten, die Hart mit der Begründung seiner secondary order rules hat, wird exemplarisch deutlich, wenn er die Verfassung nur dann als „rule of recognition“ anerkennen will, wenn und soweit sie keine Verfassungsänderung ermöglicht (106). Als Auswahlkriterium könnte die Verfassung aber nur wirken, wenn sie eindeutig wäre, wenn sie ihre eigene Gültigkeit bewirkte (107). Dies kann sie aber als Text nie. Hart erkennt zwar auch, dass die rule of recognition ihre Existenz nur in der Praxis haben kann (111); ungeachtet der Vielgestaltigkeit der Praxis hält er sie aber weiterhin für eine verlässliche Regel. 72 Der Begriff „Rex“ wird sowohl von H.L.A. Hart, The Concept of Law (1961), als auch von C. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (19932), verwendet. Hart stellt diesen Begriff in den Kontext eines primitiven Rechtssystems, in dem Geltung, Gültigkeit und Zwang noch in einer Person zusammenfallen; Schmitt verwendet den Begriff als Idealbegriff einer (nationalsozialistischen) Referenzbildung für das Recht: „Rex statt Lex“. Er entwickelt aus dieser Perspektive in bewusster Abgrenzung zum Regel-, Gesetzes – oder Entscheidungsdenken ein „konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken“, in dem nicht mehr der Grundsatz gilt, dass „die Verfassung und das öffentliche Leben . . . so zu regeln [sind], dass man ein government of law, not of men habe“ (12), sondern dass „die Regel nur ein Bestandteil und ein Mittel der Ordnung“ ist (11). Es wird noch zu zeigen sein, dass sich dieses Schmitt’sche Denken in vielen Aspekten (wenn auch sicherlich nicht in der Motivation) der objektiven (Wert-)Ordnung wiederfinden lässt und in dem Spiegelkabinett der Deduktion, Widerspruchslosigkeit oder Abwägung von Werten / Prinzipien aufscheint. Mit der Rückführung dieses Denkens auf Schmitt ist selbstverständlich keine Diskreditierung verbunden. Der historische Ursprung oder die Autorenschaft ist kein Kriterium für die Bewertung; so aber tendenziell B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (19975), XVII f. 73 Zu anderen Verwendungen des Begriffs der Effektivität im Kontext des Verfassungsrechts, insbes. als „Grundrechtseffektivität“, siehe Chr. Graf v. Pestalozza, in: Der Staat 2 (1963), 425 / 443 ff. mwN. Effektivität wird hier nicht als Extensität verstanden. Vgl. zur

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zeigt werden soll, von der Dogmatik nicht nur begriffen, sondern von ihr auch – so weit als möglich – verwirklicht werden muss. Die Forderung nach Gesetzesbeachtung ist durch Kriterien zu verdichten, anhand derer die juristische Wahrnehmung zu verfassungs-gültigen Ergebnisse gelangt. Die Herstellung effektiver Normativität als Herstellung verfassungs-gültiger Ergebnisse ist die zentrale Aufgabe der Dogmatik eines Verfassungsstaates. Die Dogmatik ist hierfür vor allem deshalb besonders geeignet, weil sie sich nicht idealistisch und macht-blind der Tatsache verschließt und verschließen kann, dass Ergebnisse auch dann gelten können, wenn sie nicht verfassungs-gültig sind. Gerade angesichts der vielfältigen Vermittlungsleistungen der Dogmatik als Steuerungsinstrument der Intrastruktur des Rechts ist sie in der Lage, die Wirkweise des Rechts in der historischen Realität der Verfassung zu reflektieren. Die Ergebnisse, die die Dogmatik in einem bestimmten Moment der „gelebten Verfassung“ formuliert, sind Ausdruck einer „verstandenen Verfassung“: die gerade herrschende Meinung74 ist die herrschende Interpretation der Verfassung. Sie ist aber, wohlgemerkt, herrschende Interpretation, nicht Text. Dies zeigt sich gerade in Bezug auf die Wahrnehmung gerichtlicher Entscheidungen. Spätere, konkretere und höherinstanzliche Urteile, die eine neue Rechtsanwendung enthalten, werden so gut wie immer mit ihrer Verkündung als Geltendes wahrgenommen; frühere, abweichende Urteile werden dagegen nach einer gewissen Zeit75 regelmäßig aussortiert. Gerade hier zeigt sich, dass die materielle Verfassungsgemäßheit einer Entscheidung nicht das alleinige Kriterium dafür ist, ob sie in der Intrastruktur als geltend wahrgenommen wird. In dieser „Hinnahme“ von Ergebnissen realisiert die Dogmatik ihre Funktion als sekundäres Erkenntnisstadium der Richtigkeit und damit auch als wirksamer Steuerungsmechanismus der Intrastruktur. Nur durch diese Hinnahme kann sie die vielfältigen Ergebnisse aussteuern, die die kompetenziell ermächtigten Akteure (Richter, Anwälte, Beamte, Parlamentarier) als etwas (angeblich) Verstandenes in die Intrastruktur einbringen76. Dabei kann sie es zwar nicht bewenden lassen, diese Funktion ist aber gleichwohl auch im Hinblick auf die effektive Normativität der Verfassung bedeutsam. Denn erst in der Umsetzung der Ergebnisse der Rechtsanwendungen, dies wird noch näher dargelegt werden77, kann sich erSteuerungsfunktion der Dogmatik im hier akzentuierten Sinn auch D. de Lazzer, in: Fs Esser (1975), 85 / 106 (These 5). 74 Der Begriff ist freilich für eine differenzierte Nutzung der Dogmatik ungenau. Im folgenden wird nur noch der Begriff der „herrschende Rechtsanwendung“ verwendet. vgl. zum Problem der „herrschenden Meinung“ als Argument: F. Müller, Juristische Methodik (19977), Rn. 412. 75 Hier gilt der „klassische“ Dreisprung: „anders aber noch-a.A.-vgl. aber“. 76 Auf die Bedeutung der reflektierenden Befassung mit Rechtsanwendungen weist auch M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), 5, 279 ff, 328 ff. hin, wenn er der Rechtstheorie, als „Gesamtheit rechtswissenschaftlicher Bemühungen . . . ohne . . . (unmittelbaren) Anwendungsbezug“, eine „Scharnierfunktion“ zwischen Methodik und Dogmatik zuerkennt. 77 Unten B III 2.

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weisen, ob das Ergebnis rechts-richtig oder rechts-falsch ist. Damit gehört zur Aufgabe der Herstellung der effektiven Normativität auch die Herstellung und die kritische Analyse der bestehenden Intrastruktur. Diese Analyse kann aber nur gelingen, wenn man sie als normativ begreift und ihre Normativität sicherstellt. Schließlich: Mit der Methodik der Verfassungsinterpretation steht die Dogmatik in enger Beziehung. Jedenfalls kann sie die Methodik nicht negieren, soll diese doch die individuellen Rechtsanwender in ihren Erkenntnisprozessen anleiten. Diese Rechtsanwender sind aber mit der Dogmatik und ihren Lehrsätzen immer (mehr oder weniger) vertraut, auch ihre Ausbildung erfolgt vor allem anhand der Dogmatik. Dogmatik ist damit ein zentraler Aspekt des Verstehens des Rechts. Auf welche Weise aber die Verfassungsmethodik die Verfassungsdogmatik als Erkenntnisobjekt nutzen kann, ist nicht einfach auszumachen. Denn eine Verfassungsmethodik soll eine objektive Anleitung zur Ermittlung des richtigen Gehalts der Verfassung sein. Ob die Dogmatik diese objektive Anleitung stützen oder gar befördern kann, erscheint fragwürdig, folgt sie mit ihrer Steuerungsklimax doch zu sehr der Logik der Macht, der staatlichen Hierarchisierung, der „herrschenden Rechtsanwendung“, der „Gewichtigkeit“ der Interpreten. Um die Dogmatik als Gegenstand einer Methodik nutzen zu können, muss sie daher einer Differenzierung und damit einer Kritik unterzogen werden. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage nach ihrem Bezug zum (Verfassungs-)Gesetz und zum richtigen Recht. Dabei wird es vor allem von Bedeutung sein, das Verhältnis von dogmatischem zu rationalem und systematischem Denken genauer zu bestimmen. Denn die Dogmatik erhob einst den Anspruch, Abbildung eines rationalen Rechts zu sein, und sie erhebt wohl immer noch den Anspruch, eine systematische Durchdringung des Rechts bieten zu können78. In beiden Ansprüchen offenbart sich die Vorstellung, dass das geltende Recht (im Sinne eines richtigen Rechts) mit dem Mittel der Vernunft in einem methodischen Verfahren erkannt werden kann. Diese Vorstellung ist vor allem deshalb so wirkmächtig, weil die Dogmatik auch einen Lehranspruch erhebt, der über die Vermittlung des „nur Seienden“ hinausgeht. Dieser Lehranspruch zielt auf die Vermittlung richtigen juristischen Denkens. Dogmatik soll juristische Bildung sein79. Vgl. dazu (in Abgrenzung zu Esser): K. Larenz, Methodenlehre (19916), 224 ff. 79 Vgl. hierzu auch F. Müller, Juristische Methodik (19977), Rn. 402 Fn. 603, der das didaktische Element der Dogmatik jedoch m.E. zu gering veranschlagt. Die juristische Dogmatik ist juristische Bildung in dem doppelten Sinne des mittel-hochdeutschen „bilden“, das das althochdeutsche „biliden“, „einer Sache Gestalt und Wesen geben“ mit „bilidôn“, „eine Gestalt nachbilden“, verbindet, vgl. Duden Herkunftswörterbuch (19972). Gerade hier liegt auch die Rechtfertigung und Notwendigkeit der vor allem in Deutschland entwickelten integralen Verbindung von Forschung und Lehre. Diese wurde z.B. auch in der Gründung der University of Chicago Law School 1902 angestrebt, die sich dabei stark am deutschen Universitätsmodell orientierte. Ebenso beruht das Harvard Modell der juristischen (Aus-)Bildung, das ab 1870 vor allem von Christopher Columbus Langdell entwickelt wurde, und das in der Nachfolge von vielen Law Schools rezipiert wurde, auf der Notwendigkeit dieses Zusammenhangs; vgl. hierzu (unter besonderer Berücksichtigung der Chicago Law School) mzN.: 78

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II. Die Abdankung des rationalen Rechts Es wurde schon dargestellt, dass die Dogmatik zwar einerseits auf Ergebnisse der Rechtsanwendung ausgerichtet ist, dass sie diese aber auch auf ihre RechtsGültigkeit überprüfen soll. Die Maßstäbe für eine solche Überprüfung sind in dem Maße unsicherer geworden, in dem das Gesetz, wie schon Max Weber80 konstatiert, nicht mehr „als solches kraft seiner immanenten Qualitäten mit einer überempirischen Würde“ ausgestattet werden kann. Durch die Auflösung des Zusammenhangs von Gesetz und formalem Naturrecht, der dem Gedanken einer rationalen Gesetzgebung (und damit einem formal gültigen Recht) zugrunde lag, und der im Wesentlichen auf der Homogenität der Wertvorstellungen einer geschlossenen Gesellschaft beruhte81, kann sich die juristische Vernunft nicht mehr im Gesetz verwirklicht sehen; sie steht nun vor der Aufgabe, das Gesetz zu unterstützen. Dabei kann sie sich zwar immer noch auf allgemeine Forderungen (Gerechtigkeit, Widerspruchsfreiheit, Fairness u.Ä.m.) verständigen, diese allgemeinen Forderungen können aber prinzipiell von jedem anders verstanden und von jedem mit anderen Inhalten gefüllt werden. Dies gilt gerade auch im Blick auf das Verfassungsgesetz82. Es hat zwar als Grundgesetz des Staates „Würde“, diese Würde besitzt aber keine überempirische Qualität, sie muss in der Anwendung und im Ringen um Akzeptanz erarbeitet werden83. Werte oder (methaphysische) Wahrheiten können in diesen Prozess nur noch einfließen, indem man ein Wertebewusstsein der Akteure im Rechtssystem annimmt, dieses formuliert und im Übrigen auf die Steuerungsklimax vertraut – mit anderen Worten: indem man die Vielfalt der Werte und Wertsysteme durch (vorübergehende) Übereinkommen verdeckt. In diese Richtung zielt auch Josef Esser84, wenn er die (notwendigerweise85) wertende Rechtsfindung auf die „herrschenden Wertvorstellungen als anerkannte Entscheidungsgesichtspunkte“ verweist86. Für ihn ist „das gemeinsame WertungsbewußtO. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law (1997), 218 ff. Vor diesem Hintergrund erlangt die in Deutschland stattfindende, immer wieder auf das U.S.-amerikanische Vorbild Bezug nehmende Diskussion einer Universitätsreform eine beinahe komische Note. 80 Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 502. Siehe dazu schon oben Einl. B. 81 Dazu M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 496 ff.; vgl. auch jüngst die Darstellung des gegenwärtigen Zustandes der Rationalität bei D. Lucke, Rechtstheorie 32 (2001), 159 / 164 f. 82 Dazu K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 9. Zum verwandten Phänomen des Wandels des Gesetzgebungsbegriffes gerade auch im Kontext der Wesentlichkeitstheorie: H.-D. Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung (1999), 55 ff. mzN. 83 „There is nothing either good or bad, but thinking makes it so.“, W. Shakespeare, Hamlet, Act II, Scene II. 84 Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 165. 85 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 162 ff. et passim: Wertung ist ein Teil der Rechtsfindung – dies zu verleugnen heißt verdrängen. 86 Dabei bezieht sich J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 164, zwar nur auf das Zivilrecht, was bedeutet, dass die herrschenden Wertvorstellungen zum Teil auch die in der Verfassung positivierten „Werte mit allen Spekulationen über sogenannte ,Wert-

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sein die Ebene . . . , in welcher auch ein systemprogrammiertes Rechtsfinden seine Richtigkeitskontrolle vollziehen muß“87. Dass Esser88 im Anschluss an die Ausführungen zum Wertbewusstsein die Arbeit mit Evidenzen behandelt, zeigt den eigentlichen Hintergrund seines Zutrauens zur Möglichkeit der richterlichen Bewältigung von Willkür, Vorverständnis und Ideologie: es ist die Möglichkeit überzeugender Argumentation. Dabei wird freilich schnell deutlich – und es liegt auch in der Natur der Sache –, dass er dieses Vertrauen in überzeugende Argumentation aus der Möglichkeit argumentativer Vermittlung von Wahrheiten schöpft. Im Ergebnis ist die Esser’sche Evidenz der bekannte Anfangs- und Endpunkt jeder materiellen Wahrheitsphilosophie, der (willkürliche) Abbruch des infiniten Regresses, der „Punkt, der weitere Argumentation erübrigen lässt“89. Esser90 sucht in seiner Arbeit nach einer Art von Sicherheit des Rechts, die er freilich schon in dem Moment aufgegeben hat, in dem er Max Weber folgt und (an-)erkennt, dass dem Gesetzesbegriff als solchem substanzielle Maßstäbe einer rational erfassbaren Veritas nicht mehr immanent sind, in dem er den formalen Aspekt des Rechtssatzes als irrelevant bezeichnet. Er macht zwar geltend, das Gesetz impliziere weiterhin Vernunftgarantien des juristischen Denkens, insbesondere einen Vorrat an Begriffen, Grundsätzen, Maximen und Leitgedanken; diese „Behauptung“ leuchtet aber nicht mehr ein, weil sie sich auf nichts anderes verlässlich stützen könnte als auf den formalen Aspekt des Rechtssatzes91. Gerade dies erkennt Hans Kelsen, wenn er den formalen Aspekt des Rechtssatzes in den Mittelpunkt stellt und seine überempirische Würde darauf stützt, dass er gesatzt ist. Gegen Kelsens Konzeption wird oft vorgebracht, die Beschränkung der Rechtswissenschaft auf das reine Recht sei hierarchie‘“ sind. Er sieht aber in diesen „positivierten Werten“ – dies wird vor allem in seiner Wortwahl deutlich – nichts „sicheres“. Überhaupt erscheint die Verfassung bei Esser eher als Bezugspunkt eines aporetisch auf „irgendwelche“ Werte ausgerichteten Nachdenkens über Recht. Dementsprechend bleibt auch etwas undeutlich, wie die verschiedenen Wertebereiche in Abstimmung gebracht werden sollen (166). Er macht in diesem Zusammenhang lediglich deutlich, dass es ihm hier nur um die konkrete Entscheidungspraxis geht, deren Urteile in ihrer Wirkung beschränkt sind, weil sich die richterlichen Tätigkeit auf Einzelfälle bezieht; vgl. dazu schon M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 508. 87 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 168. Das Erfordernis einer Richtigkeitskontrolle wird im weiteren Fortgang seiner Überlegungen zwar relativiert, indem er darauf besteht, dass die Entscheidungen nicht aus den Wertungen entnommen werden können. Er bleibt aber dabei, dass die Wertungen den Hintergrund der Entscheidungen darstellen. 88 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 171 ff. 89 An dieser Stelle (Vorverständnis und Methodenwahl [19722], 173, 176), verweist Esser auf die Topik: „wegen ihrer Brückenwirkung zum Konsens“. 90 Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 38; zu Weber oben Einl. B. 91 Um mit S. Fish, in: Doing What Comes Naturally (1989), 1, zu sprechen: In dem Moment, in dem man den anti-formalistischen Pfad betritt, geht es nur noch in eine Richtung weiter. R. Unger, Knowledge and Politics (1975), 92, beschreibt das Dilemma besonders deutlich: „Those who dismiss formalism as a naive illusion . . . do not know what they are in for . . . they fail to understand what the classic liberal thinkers saw earlier: the destruction of formalism brings in its wake the ruin of all other liberal doctrines of adjudication.“

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das Ende allen rationalen rechtlichen Denkens92. In gewissem Sinne ist diese Kritik aber nichts anderes als eine Bestrafung des Überbringers schlechter Nachrichten. Dabei war Kelsen schon „gestraft genug“, weil er das formale Naturrecht durch eine „Grundnorm“ ersetzen wollte. So sehr man Kelsens rechtstheoretische Lauterkeit auch bewundern muss: mit dem Eingeständnis, dass nur eine Grundnorm ein formal wirksames Gesetz tragen kann, stand er vor einer unlösbaren – und am Ende auch nicht gelösten – Aufgabe93.

B. Die Wertoffenheit des Gesetzes und das Problem der Autorität I. Immanente Qualität des Verfassungsgesetzes ohne überempirische Würde? Die Ansicht, das gesatzte Recht verkörpere ein formal rationales Recht, das Gesetz des Staates entspreche in Gestalt und Inhalt einer Wahrheit94, kann also nicht mehr aufrechterhalten werden, weil in einer pluralistischen Gesellschaft die Vorstellungen über das Recht in all ihrer Vielfalt an das Recht herangetragen werden, ohne dass „die Gesellschaft“ die Individualpositivierungen im Vorfeld aussteuert. Gerade für den freiheitlichen Verfassungsstaat ist daher zu konstatieren, dass einerseits nicht alle „ihr Wissen und Wollen“ in ihm befriedigt sehen95, dass sie aber andererseits eine solche Befriedigung fordern und diese Forderung auch als legitim anerkannt werden muss. In dieser Anerkennung der Wertigkeit der Individualpositivierungen liegt ein Gewinn für die Menschen im Staat, es liegt darin aber auch Vgl. z. B. K. Zweigert / H.-J. Puttfarken, 44 Tul.L.Rev. 704 (1970) 705. H. Kelsen (Diskussionsbeitrag, in: Österreichische Zeitschrift für öff. Recht N.F. 13, 119) bekannte sein „Scheitern“ in dem Zugeständnis, dass es kein Sollen ohne ein Wollen gibt; siehe auch in: Verhandlungen des Zweiten Österreichischen Juristentages Wien 1964, Bd. II, 7. Teil, 65 / 74. Anders noch in: Rechtslehre (19672), 206 f. Zu den wissenschaftssoziologischen Hintergründen des Bemühens von Kelsen: M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 508 f. und H. Schambeck, Möglichkeit und Grenzen der Rechtslehre Hans Kelsens (1982), in: ders., Der Staat und seine Ordnung. Ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht (2002), 765 / 772 ff. mN. 94 Besonders ausdrucksstark findet sich diese Vorstellung in der Rechtsphilosophie von G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Vorrede, ix: „Von der Natur gibt man zu, dass die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist, daß der Stein der Weisen irgendwo, aber in der Natur selbst verborgen liege, daß sie in sich vernünftig sei und das Wissen diese in ihr gegenwärtige, wirkliche Vernunft, nicht die auf der Oberfläche sich zeigenden Gestaltungen und Zufälligkeiten, sondern ihre ewige Harmonie, aber als ihr immanentes Gesetz und Wesen zu erforschen und begreifend zu fassen habe. Die sittliche Welt dagegen, der Staat, sie, die Vernunft, wie sie sich im Elemente des Selbstbewußtseins verwirklicht, soll nicht des Glücks genießen, daß es die Vernunft ist, welche in der Tat in diesem Elemente sich zu Kraft und Gewalt gebracht habe, darin behaupte und innewohne.“ 95 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Vorrede, x. 92 93

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ein Verlust für die Fähigkeit des Staates, Konflikte zu lösen, für seine Fähigkeit, Entscheidungskompetenz „ohne weiteres“ mit guter, d. h. anerkannter Autorität zu verbinden; die Autorität der Textanwender ruht nicht mehr in einer Verbindung von materieller und kompetenzieller Einheit im ius strictum. Es ist offensichtlich geworden: „Kompetenzfragen damit zu beantworten, daß auf das materielle hingewiesen wird, heißt, einen zum Narren halten“96. Das ius strictum kann nicht (mehr) damit gerechtfertigt werden, dass sich in ihm die Willkür des einen mit der Willkür des anderen zu einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereint – das ius strictum ist zuerst und zuletzt alleine abhängig von der Macht desjenigen, der die Kompetenz hat, einen Konflikt zu lösen: Das Gesetz der Freiheit läuft Gefahr zu der Willkür eines Einzelnen oder einer bestimmten Gruppe zu werden. Damit ist offensichtlich, dass sich das Recht nicht aller Vorteile eines als wahr angenommenen Rechts entledigen kann. Auch das Gesetz des freiheitlichen Verfassungsstaates bedarf einer immanenten Qualität. Widerspruchsfreiheit, systematische Geschlossenheit, Einheit – all diese Forderungen, die im Grunde nur in Bezug auf „Etwas“, auf einen Wert, zu rechtfertigen sind97 – müssen bewahrt werden, um zu verhindern, dass jeder im Recht tun und lassen kann, was er will. Der im deutschen Rechtsdenken immer wieder erkennbare Versuch, diese Gefahr unter Hinweis auf die Stabilität des anglo-amerikanischen Common Law gering zu achten oder dessen Rechtsfortbildungs-Methodik zu übernehmen, ist freilich nicht der richtige Weg; es wird dabei übersehen, dass sich dieses Recht in einer jahrhundertelangen Tradition entwickelt hat, die alles Neue in einem tiefverwurzelten pragmatischen Konservativismus aussteuert98. Die damit gewonnene Stabilität und Konstanz allein ist es, die verhindert, dass die rechts-methodische Unschärfe des Common Law99 offenbar wird. Eine deutsche Tradition dieser Art gibt es nicht, und es ist auch sehr fraglich, ob es erstrebenswert wäre, eine solche Tradition zu entwickeln, zumal auch in den USA erkannt wird, dass viele Gemeinschaftsprobleme nur über Gesetze angemessen gesteuert werden können und dass das Common Law prinzipiell reformhindernd wirkt100. In Deutschland wurde das Vakuum, das die Abdankung des formal rationalen Rechts hinterlassen hat, vornehmlich durch die Postulierung einer Wertordnung C. Schmitt, Politische Theologie (19342), 38 f.; S. Fish, in: Doing What Comes Naturally (1989), 1 / 5 bringt dieses Problem unter die treffende Formulierung: „authority becomes structurally unstable, embodied not in some abiding core but in the words of whatever person or persons happens to have sway ,at the time being‘“. 97 E. Schmidt-Aßmann, Grundfragen des Verwaltungsrechts (2000), 1 spricht von einem „archimedischen Punkt“. 98 Vgl. ähnlich M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (19762), 17. 99 Dazu oben 2. Kap. 1. Abschn. 100 Vgl. dazu R. Unger, What should legal analysis become (1996) passim. Seine Überlegungen setzten an mit: „The conflict over the basic terms of social life, having fled from the ancient arenas of politics and philosophy, lives under disguise and under constraint in the narrower and more arcane debates of the specialized professions. There we must find this conflict, and bring it back, transformed, to the larger life of society.“ 96

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gefüllt, die das BVerfG zuvörderst im Lüth-Urteil „entdeckt“101 und in der weiteren Praxis entfaltet und ausdifferenziert hat102. Wenn Konrad Hesse103 die Einheit der Verfassung, die praktische Konkordanz, die funktionelle Richtigkeit, die integrierende Wirkung und die normative Kraft der Verfassung als Prinzipien bzw. Maßstäbe der Verfassungsinterpretation bezeichnet, dann zeugt dies von der Vorstellung, dass das Verfassungsrecht nicht nur ein Gesetz ist, sondern dass sich in der Anwendung der Verfassung und in der Ausrichtung auf sie die Rechtsordnung als richtiges Recht erweisen kann und muss. Es ist gewiss vertretbar, alle diese Kriterien unter das Gebot der Herstellung der politischen Einheit des Staates104 zu fassen, im Grunde aber ist es doch der Gedanke der Wertordnung, in der sich das „Wissen und Wollen“ der Menschen unter dem GG verwirklicht sieht. Der Gedanke der Wertordnung ist Dreh- und Angelpunkt des Verstehens des Rechts in der Intrastruktur des GG. Er ermöglicht eine argumentative Herstellung effektiver Normativität, weil er Maßstäbe bietet, anhand derer die jeweilige Gültigkeit aller Ergebnisse der Intrastruktur ihre Begründung findet; dies gilt vor allem auch für die Gültigkeit von Verfassungsentscheidungen. Hinzu tritt, dass die Wertordnung eine Anpassung an die europäische Rechtsordnung ermöglicht, weil man über sie die internationale Ausrichtung der Verfassungsordnung ohne tiefgreifende Verfassungstextänderungen verwirklichen kann. Überdies wird eine prinzipielle Anerkennung aller Individualpositivierungen ermöglicht, weil jeder seine Vorstellungen in dem einen oder anderen Wert repräsentiert sehen kann. Damit ist der freiheitliche Verfassungsstaat in der Lage, und hier ist der Gedanke Peter Häberles von der offenen Gesellschaft (auch) der Verfassungsinterpreten leitend, eine flexible Gemeinschaft der Verfassungsinterpreten vorzustellen. Auf diese Weise kann jeder seine jeweiligen Vorstellungen von einem gerechten Staat begründen und es besteht die fundierte Hoffnung, dass er sich entweder in den demokratischen Entscheidungsverfahren oder in der dogmatischen Steuerung der Intrastruktur qua besserem Argument (irgendwann oder irgendwie) durchsetzt. In einem gewissen Sinne führt die Wertordnung auch dazu, dass die Staatsorgane ihre Machtausübung gegenüber den Bürgern immer auf irgendeine Weise begründen und rechtfertigen können. Schließlich ermöglicht es die Postulierung der Wertordnung auch, auf Veränderungen des Zeitgeistes flexibel und schnell einzugehen, ohne auf das potentiell immer krisenhafte Verfassungsänderungsverfahren angewiesen zu sein. Der Gedanke der Wertordnung gibt dem Verfassungsgesetz also ohne Zweifel eine immanente Qualität.

101 BVerfGE 7, 198 / 205. So ausdrücklich auch E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 159 / 163. 102 Vgl. etwa noch BVerfGE 35, 79 / 114 mwN. Zur Entwicklung in Österreich vgl. H. Schambeck, JBl. 1980, 225, insbes. 233 ff., der die „Erfindung“ der Werte fordernd begleitet; siehe schließlich: ders., in: Machaceck / Pahr / Stadler (1991), 83 / 93. 103 Grundzüge (199520), Rn. 70 ff. 104 K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 6.

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Damit ist aber nur die eine, die positive Seite der Wertordnung beleuchtet. Es gibt auch eine andere, die viele Nachteile erkennen lässt. Das wird schon in der ersten Formulierung und Konkretisierung der Wertordnung bei Günter Dürig deutlich. Allerdings kann gerade im Blick auf die besonderen Umstände der Entwicklungszeit, nämlich das erste Nachkriegsjahrzehnt, nicht genügend betont werden, dass es Dürig wie kaum ein anderer verstand, durch die am GG ausgerichtete Wertordnung die verständliche Angst vor einem Nichtgelingen der Ablösung von der Vergangenheit aufzufangen und zugleich für die zukünftige Entfaltung des Rechts in einem freiheitlichen Verfassungsstaat fruchtbar zu machen. Ausgehend von Art. 79 III GG stellt Dürig105 neben die Prinzipien des Art. 20 GG das oberste Konstitutionsprinzip des Art 1 I GG und entwickelt auf dieser Grundlage ein lückenloses Wert- und Anspruchsystem der Grundrechte. Dieses System kann ohne Schwierigkeiten als architektonische Einheit i.S. von Kant106 gesehen werden: unter der „Idee“ des Art. 1 GG107, können im „Schema“ der Art. 2 I und 3 I GG108 die Erkenntnisse über die Grundrechtsgewährleistungen eingeordnet werden. Gerade bei seiner Behandlung der grundrechtlichen Drittwirkung wird freilich deutlich, dass die (mannigfaltigen) Erkenntnisse über das einfache Recht in dieses System nicht eingeordnet werden sollen109. Art 1 I GG soll eine ethische Unruhe im Recht schaffen, das (einfache) Recht darf aber nicht vom Verfassungsrecht „überwuchert“ werden. Dürig110 lehnt jede direkte Systemüberschreitung und -vermengung ab. Selbst Art. 1 I GG wird im Privatrechtsverkehr nur „durch Einbeziehung seines Wertgehalts in die überkommenen wertausfüllungsfähigen und -bedürftigen Begriffe und Klauseln des Privatrechts“ realisiert. Wenn Konrad Hesse111 meint, das BVerfG habe sich in der Ausgestaltung der Grundrechte nicht eigentlich von systematischen Erwägungen, sondern von dem Bestreben leiten lassen, möglichst umfassenden und wirksamen Grundrechtsschutz sicherzustellen, und kritisiert, dass die Auslegung des Art. 2 I GG durch das BVerfG zu einer unbegrenzten Verfassungsbeschwerde führt112, dann kann er sich der Gefolgschaft Dürigs113 sicher sein. Freilich haben sowohl Dürig als auch, und zwar noch sehr viel nachhaltiger, Hesse die Grundlagen dieser Entwicklung selbst gelegt. Dürig ging aber – im Ge105 In: Maunz / Dürig, Art. 1 I GG, Rn. 4 ff., 13. Vgl. dazu vor allem die Kritik von U. Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 1 / 42 ff. 106 Dazu näher unten B II 1. 107 „Art. 1 I als oberste Norm des objektiven Verfassungsrechts“: G. Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1 I, Rn. 4. 108 G. Dürig, in: Maunz / Dürig, Art 1 I, Rn. 10 ff; Zum Systemdenken und zur Rolle von Idee und Schema (vor allem bei Kant) siehe unten B II. 109 G. Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1 I, Rn. 4, 16; gegen H. C. Nipperdey, in: Die Grundrechte II (1954), 1. 110 In: Maunz / Dürig, Art. 1 I, Rn. 16; Art. 1 III, Rn. 127 ff. 111 Grundzüge (199520), Rn. 302. 112 Grundzüge (199520), Rn. 427. 113 In: Ges. Schriften, 215 / 216 Fn. 3: Dürig warnt davor, Art. 2 I GG werde zur çrux“ unseres Verfassungsstaates.

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gensatz zu Hesse114 – nie soweit, die rechtliche Ordnung als „in einem umfassenderen Sinne aufgegeben“ zu bezeichnen. Dürig betonte stets die Notwendigkeit einer Differenzierung der Wertungsebenen. Diese Differenzierung wurde allerdings in dem Moment auch von Dürig115 aufgegeben, als er Art. 1 I GG über Art. 19 II GG aus dem Reich der Idee in das System-Schema hineinzog. In diesem Augenblick wurden die Werte zu überpositiven Werten. Dass Dürig glauben konnte, die Grundrechte als Werte würden nicht zu einer „Überwucherung“ (der Privatrechtsordnung) führen, kann nur vor dem Hintergrund verstanden werden, dass man in der Bundesrepublik der 50er Jahre eine Einheit der Wertvorstellungen zu haben glaubte, die sich spätestens Ende der 60er Jahren als Illusion entpuppte116. Mit der Einsicht, dass sich Werte nur in einer geschlossenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten scharf konturiert und fassbar halten, zeigt sich auch die Problematik, die darin besteht, Werte an gesatzte Normen zu binden. Dies führt nicht nur dazu, dass die gesatzten Normen dadurch der Wertungsfreiheit der Interpreten anheim gegeben werden; es führt letzten Endes auch dazu, dass Verfassungsbestimmungen den Staat nicht mehr wirksam binden können. Denn selbst wenn man darauf verzichtet, überpositive Werte anzunehmen und sie lediglich als Ausfluss positiver Normen dekretiert: Werte lassen sich ihrer Natur nach kaum formal begrenzen. Sie stellen eine Art Generalermächtigung für denjenigen dar, der den jeweiligen Zeitgeist exekutieren kann, also im Moment das „Sagen“ hat. Die kompetenzielle Sprengkraft der Werte wurde in jüngerer Zeit besonders eindringlich von Ernst-Wolfgang Böckenförde117 beschrieben. Die Verbindung der Grundrechte mit Werten, d. h. das Verständnis der Grundrechte als Grundsatznormen, ermächtige die Anwender der Verfassung dazu, jeden Bereich des Lebens immer wieder neu und immer wieder anders gestaltend zu normieren. Böckenförde kritisiert diese Entwicklung vor allem vor dem Hintergrund des Bedeutungsverlustes des demokratischen politischen Prozesses118. Dies ist heute sicher ein bedeutsames Problem. Nicht weniger bedeutsam aber ist die Tatsache, dass auch der demokratische politische Prozess selbst die sich aus der Wertesicht ergebende Generalermächtigung nützen könnte, wenn der politische Wille dazu stark genug ist. Die Ära des New Deal in den USA ist dafür ein aufschlussreiGrundzüge (199520), Rn. 13. 115 In: Maunz / Dürig, Art. 1 I, Rn. 8 ff. 116 Dazu oben Einl. B. Gerade im „Geheimkommentar“ Dürigs (in: Gesammelte Schriften (1984), 419 ff.) wird immer wieder deutlich, dass er von der Notwendigkeit eines geschlossenen Wertbewusstsein unter Juristen (gerade der „gelernten Öffentlich-Rechtler“) ausging; siehe etwa Stichwort: „Pflichtenverhältnis besonderer Art“ (421 f.); vgl. ders., VVDStRL 20 (1963), Diskussionsbeitrag, 115. 117 In: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 159 / 195 ff. 118 In: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 159 / 197; dementsprechend versteht man in der Schweiz unter der objektiv-rechtlichen Deutung der Grundrechte den Bereich, in dem die Grundrechte nicht einklagbar sind; der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte wird als programmatisch verstanden, vgl. J. Müller, in: Der Staat 29 (1990), 33 / 33 f., 42 ff. 114

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ches Beispiel119. Wenn die demokratisch gewählten Organe ihre Wertsicht gegen die Wertsicht eines Gerichts in Konfrontation setzten wollen, dann werden sie sich im Zweifel auch durchsetzten. Es geht eben – um Nietzsche120 zu paraphrasieren – um Interpretation, nicht um Text, und es könnte Jemand kommen, der mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst aus den gleichen Werten eigene Kompetenzansprüchen herauszulesen verstünde. Die Wertordnungskonzeption eröffnet für alle Textanwender Kompetenzen, und zwar egal welche relative Position sie in der Intrastruktur der Verfassung einnehmen. Wer sich auf einen „geltenden“ Wert beruft, bedarf daneben kaum weiterer kompetenziellen Absicherung. Damit aber steht die Wertordnungskonzeption in Spannung zur Errichtung einer Intrastruktur, die der Vermachtung des Rechts Struktur und damit Begrenzung geben soll. Die Intrastruktur der Verfassung beruht im Kern auf der Macht des Staates. Diese Macht wird durch Wahl der Staatsform (rechtsstaatliche Demokratie) und die Grundlage der Verfassung (Volkssouveränität) autorisiert. Die Autorisierung erfolgt über die Anknüpfung an den Verfassungstext und die Entscheidungen der Parlamente. Die Kompetenz der staatlichen Organe beruht damit idealiter auf Machtbeschränkungen: Machtbeschränkung des Staates als Gesamtheit durch Verpflichtung auf Inhalte der Verfassung und Machtbeschränkungen der Gesetzgeber durch Wahlerfordernis. Durch die Unterfütterung der Verfassung mit Werten und der Errichtung einer Wertordnung wird diese Machtbeschränkung insofern fragwürdig, als damit die Vorstellung befördert wird, das Urteil des Textanwenders beruhe auf einem idealen Sein, das Objektivität ermögliche und das per se gelte und gültig sei121. Wenn Machtausübung unter VorSicht auf die möglichen Gehalte des in der Verfassung Niedergelegten erfolgen soll, dann ist die Vorstellung objektiver Werte, einer objektiven Wertordnung, eine Blankettvollmacht an den Textanwender. Nun wird zwar immer wieder ins Feld geführt, die „objektive (Wert-)Ordnung“ ergänze lediglich die subjektive, insbesondere die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte. Damit erlangen die Oben Einl. B; 2. Kap. 3. Abschn. C. Jenseits von Gut und Böse (1886), I, Aph. 22: „,Ni dieu, ni maître‘ – so wollt auch ihr’s: und darum ,hoch das Naturgesetz‘! – nicht wahr? Aber, wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es könnte Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtslose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde, – ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem ,Willen zur Macht‘ dermaassen euch vor Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort ,Tyrannei‘ schliesslich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde Metapher – als zu menschlich – erschiene; und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, nämlich dass sie einen ,nothwendigen‘ und ,berechenbaren‘ Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Konsequenz zieht.“ 121 M. Heidegger, Sein und Zeit (199317), 156: „,Gelten‘, als Weise des Seins von Idealem, als Objektivität und als Verbindlichkeit sind nicht nur an sich undurchsichtig, sondern sie verwirren sich ständig unter ihnen selbst. Methodische Vorsicht verlangt, dergleichend schillernde Begriffe nicht zum Leitfaden der Interpretation zu wählen.“ 119 120

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Werte aber allenfalls rudimentäre inhaltliche Strukturen122. Betrachtet man die synonym verwendeten Begriffe wie „verfassungsrechtliche Grundentscheidung“, „wertentscheidende Grundsatznorm“, „Wertentscheidung“ oder „das Grundgesetz beherrschende Gedanken“123, und berücksichtigt außerdem, dass der Begriff dazu dienen soll, die Geltungskraft der Grundrechte zu verstärken und individuelle Rechte zu begründen124, dann kann man in den Werten und der Wertordnung keinen Bezug mehr zu einer notwendigen Machtbegrenzung erkennen. Vielmehr sind sie ein Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden, mit anderen Worten: Sie sind „Recht“ i.S.v. ius strictum125. Dass aus der objektiven Wertordnung auch subjektive Rechte hergeleitet werden, ist folglich nicht verwunderlich; schließlich ist das Recht auf jegliche Willkür ausgerichtet, es kann also auch jegliche Willkür anerkennen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Wertordnung ist ein Synonym für eine Verfassungsordnung, in der theoretisch alles ebenso verfassungsgemäß wie verfassungswidrig sein könnte. Robert Alexy126, dem das Verdienst zukommt, die Argumentation mit Grundrechten vor dem Hintergrund einer Wertordnung als Argumentation mit Prinzipien-Normen durchschaubar gemacht zu haben und auf diese Weise zu rationalisieren, gelangt (beinahe nebenbei) zum zentralen Problem der Wertordnung, wenn er fragt, wie die Drittwirkung der Grundrechte konstruktiv zu erfassen sei127. Er meint, die drei bisher vertretenen Konstruktionen zur Drittwirkung der Grundrechte: die mittelbare (insbes. Dürig) und unmittelbare Drittwirkung (insbes. Nipperdey) sowie die unmittelbare Wirkung (Schwabe), seien „als rechtsprechungsbezogene Konstruktionen ergebnis-äquivalent“, weil „jedes Ergebnis, das im Rahmen der einen erzielt werden kann, auch im Rahmen der anderen erzielt werden kann“. Denn für alle „ist das Maß der grundrechtlichen Wirkung auf die Bürger / Bürger-Relation letztlich eine Frage der Abwägung“.

122 Vgl. BVerfGE 39, 1 / 41: „Nach der ständigen Rechtsprechung . . . enthalten die Grundrechtsnormen nicht nur subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, sondern sie verkörpern zugleich eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt“. 123 BVerfGE 39, 1 / 41; zum ersten Synonym auch E 7, 198 / 205; der zweite Begriff findet sich in E 30, 173 / 188, der dritte in E 42, 64 / 73, der letzte in E 42, 64 / 74. Vgl. zu den Fragen, die die Postulierung einer „Wertordnung“ aufwirft: K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 3. 124 BVerfGE7, 198 / 205; E 50, 290 / 337 und E 35, 79 / 116. 125 Vgl. dazu oben 2. Abschn. Einl. Im Ergebnis befördert die Argumentation mit der objektiven Wertordnung das Verfassungsgericht in die Position des Verfassungsgebers. 126 Theorie der Grundrechte (19963). 127 Theorie der Grundrechte (19963), 483 f.

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II. Dogmatische Orientierungen: System und Grundsatz So sehr also die Wertordnung dem Verfassungsgesetz immanente Qualität verleiht, so wenig kann diese Qualität an die Stelle einer Wahrheit treten, die es nicht (mehr) gibt. Der schlichte Befund ist: Das Recht wird in Gesetzen „gesetzt“ und dieses „Gesetzt-Werden“ führt zu einem Recht, ohne dass damit eine Aussage über seine Richtigkeit oder Unrichtigkeit getroffen wäre. In dieser Frage gibt das Gesetzt-Werden keine Antwort, so dass das staatliche Recht immer wieder auf seine Richtigkeit hinterfragt werden kann. In dieser Hinterfragbarkeit steht das Recht der Vernunft und allem Vernünftigen gegenüber offen. Soll das Recht, dem kein Wahrheitsgehalt (mehr) zuerkannt wird, doch irgendetwas „besagen“ und Verbindlichkeit gewinnen, dann darf es sich nicht mit Werten, es muss sich mit Autorität verbinden, Autorität sowohl in Bezug auf seine Geltung als auch in Bezug auf seine Anwendung128. Die Autorität der Geltung begründet sich in der Schaffung des Staates. Dabei wird, wie schon dargestellt129, die Autorität der Geltung der einfachen Gesetze in der Demokratie besonders wirksam begründet, weil sich demokratische Satzungsverfahren als Mehrheitsentscheidungen schon im Ansatz gegenüber rationalen Einwänden schützen, ohne – anders etwa als das Gottesgnadentum – selbst irrational zu sein. Abgesehen von diesen immanenten Schutzmechanismen bleibt aber auch das demokratische Gesetz hinterfragbar, weniger in Bezug auf die Geltung als auf die vernünftige Anwendung. Die Geltung lässt sich mit der Veröffentlichung des Gesetzes im Bundesanzeiger begründen, die konkrete Anwendung aber bedarf der inhaltlichen Begründung; es genügt nicht, sich darauf zu berufen, dass das Gesetz, das man anwendet, gilt. Es lässt sich jedoch in der Tatsache, dass ein Gesetz demokratisch, also insbesondere im Weg der Mehrheitsentscheidung zustande gekommen ist, auch eine gewisse legitimatorische Hilfestellung für die konkrete Anwendung findet. Denn Gesetze werden in aller Regel erlassen, um ein aktuelles Problem des Staates zu lösen, und der gewählten Problemlösung steht dabei meist eine Alternative entgegen. Die Geltung des schließlich erlassenen Gesetzes bezieht sich damit auf die Argumente, die die Mehrheit für ihre Lösung formuliert hat. „Positiv gilt Recht nicht schon dann, wenn dem Rechtserleben eine historische Rechtsstiftung, ein vergangener Rechtsetzungsakt bewußt ist, sondern nur, wenn das Recht als kraft dieser Entscheidung geltend, als Auswahl aus anderen Möglichkeiten und damit als jederzeit änderbar erlebt wird“130. Mit anderen Worten: Die Entscheidung in der Demokratie hat zwar nichts mit Wahrheit zu tun, aber sie besitzt „demokratische Weihen“, sie hat eine Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 19; P. Kahn, Legitimacy and History (1992), 223; F. Müller, Juristische Methodik (19977), Rn. 17: Was . . . die Normtexte auszeichnet ist ihre „Geltung“. 129 Oben Einl. B und zum „demokratischen Argument 2. Kap. 3. Abschn. B. Vgl. zum folgenden und insbesondere zur Rationalität des Verfahrens: H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis demokratischer Gesetzgebung (1988), 154. 130 N. Luhmann, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie I (1970), 176 / 183. 128

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Mehrheitsqualität, die eine zusätzliche Dimension dadurch gewinnt, dass das Gesetz mit anderen Mehrheiten wieder aufgehoben oder geändert werden kann, so dass auch Minderheitsinteressen, vor allem dem Interesse, nicht ewig Minderheit sein zu müssen, Rechnung getragen ist131. Zumindest für eine gewisse Zeit wird man folglich auch bei der Anwendung der Gesetze auf die Hintergründe der Satzung verweisen können. Insoweit ist das demokratische Gesetz qua Geltung inhaltsreicher als die Verfassung, die nicht in demokratischen Verfahren erlassen wurde132, denn sie setzt diese ja erst ein. Dazu kommt noch, dass die Verfassung nur schwer geändert werden kann (Art. 79 II GG). Für bestimmte grundlegende Bestimmungen ist eine Änderung durch den Gesetzgeber gänzlich ausgeschlossen (Art. 79 III GG). Überdies ist das nachkonstitutionelle Verfassungsrecht immer schwer einzuordnen, weil es mit dem konstituierenden Akt der Staatsgründung nichts mehr zu tun hat133. Einen sinnfälligen Ausdruck findet dies in der Tatsache, dass Verfassungsänderungen in den USA als „Amendments“ bezeichnet werden, die in der juristischen Fachsprache auch als Änderungs-, Zusatzanträge und Nachtragsgesetze bezeichnet werden. Zumindest nach einer gewissen Zeit lässt sich also konstatieren, dass die Geltung der Verfassung einen geringeren historisch-materiellen 134 Aussagegehalt hat als die Geltung des Gesetzes. Während die Geltung des Gesetzes die Problemeinschätzungen und die Kriterien, anhand derer die Lösung entwickelt wurden, zumindest im Ansatz erfasst (das BVerfG erkennt dies in der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers auch an135), kann und muss der Interpret bei der Anwendung der Verfassung diese Kriterien selbst (immer wieder) neu entwickeln. Diese Möglichkeit der Kriterienentwicklung ist interpretatorische Machtentfaltung. Besonders illustrativ lässt sich die Notwendigkeit, aber auch die Problematik einer „Selbstsuche“ von Kriterien in Bezug auf die Rundfunkfreiheit (Art. 5 I 2 GG) darstellen. Angesichts der Beschränkungen der terrestrischen Frequenzen in den 60er Jahren musste das BVerfG klären, in welcher tatsächlichen Situation die Rundfunkfreiheit Wirklichkeit erlangen kann136. In den 70er und 80er Jahren wanVgl. dazu auch oben 2. Abschn. Einl. Dazu oben 2. Kap. 3. Abschn. C. Zur Neigung des Juristenstandes, die Bedeutung der gesetzgeberischen Fixierung eines Rechtsgebots auf ein bloßes „Symptom“ der Geltung herabzusetzen: M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (19805), 508. 133 Vgl. dazu oben 2. Kap. 3. Abschn. C. 134 Zum Inhaltsgewinn der Geltung in der Zeit siehe unten III 3. 135 BVerfGE 50, 290 / 332 f. (mit wichtigen Differenzierungen, 333 mN.). Auch diese Grundlage der Geltung der Gesetze wird aber zunehmend problematisch; die Gesetzgebung befindet sich hier in einer Krise, H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung (1989), 16 ff. mzN. Das Gesetz wird immer mehr zum Experiment, ders., ebenda, 21 unter Verweis auf P. Noll, Gesetzgebungslehre (1973), 76. 136 Dazu BVerfGE 12, 205 / 262 (1. Rundfunkurteil): „. . . unter den gegenwärtigen technischen Gegebenheiten“. Sehr deutlich auch E 31, 314 / 326 (2. Rundfunkurteil): „Im Bereich des Rundfunks ist – jedenfalls vorerst – sowohl aus technischen Gründen als auch wegen der 131 132

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delte sich die tatsächliche Situation so grundlegend, dass „eine dem Pressewesen entsprechende Vielfalt von miteinander konkurrierenden Darbietungen“ (BVerfG) nicht nur denkbar, sondern auch konkret machbar wurde. Von vielen wurde daher erwartet, dass das Gericht die Rundfunkfreiheit nunmehr an die Pressefreiheit angleichen würde137. Diese Erwartung verkannte freilich die inhaltliche Aussagekraft der Geltung der Verfassung. Denn weder die Feststellung der Beschränkung terrestrischer Frequenzen noch die darauf aufbauenden Lösungsargumente des BVerfG hatten irgendeinen Bezug zur „Geltung der Verfassung“, auch wenn sie überzeugend waren. Sie waren „nur“ rationale Überlegungen, die der Anwendung der Verfassung dienten. Tatsächlich hatte das BVerfG in der Folge auch ganz andere Überlegungen. Zunächst wurden in der FRAG-Entscheidung (3. Rundfunkurteil) die Probleme der Knappheit der Sendefrequenzen und der hohen finanziellen Aufwendungen für Sendeveranstaltungen als nicht mehr für entscheidend erklärt und die zunächst hieraus abgeleiteten Anforderungen an eine positive Ordnung des Rundfunks für die Zeit nach Wegfall der rundfunkrechtlichen Sondersituation fortgeschrieben138. In der Grundversorgungs-Entscheidung139 wurde schließlich ein neues Prinzip, eben dieses Prinzip der „Grundversorgung“ als vornehmliche Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eingeführt, das es ermöglichte, die Rundfunkfreiheit von der Pressefreiheit kategorial zu unterscheiden und damit die unbegrenzten Möglichkeiten der Telekomunikation einerseits in einem dualen System anzuerkennen, andererseits aber die „gewünschte“ Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu dekretieren und gleichzeitig entsprechende Beschränkungen für den privat-rechtlichen Rundfunk zu verordnen. Beide Anwendungen der Verfassung durch das Verfassungsgericht sind für sich genommen begründbar und nachvollziehbar. Man kann dem Verfassungsgericht zwar den Vorwurf machen, es habe sich nicht an seine eigenen Vorgaben gehalten; ein solcher Vorwurf ist aber in einer Rechtsordnung, die sich vorrangig an den Gesetzen ausrichten soll, nur mit Schwierigkeiten zu begründen. Er steht immer vor der Duplik, man haben den Text jetzt eben besser verstanden. Warum die ursprüngliche Lesart der Verfassung durch das BVerfG vorzugswürdig ist, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Entscheidend ist, dass gerade die Verfassungsgeschichte der Rundfunkfreiheit in Deutschland exemplarisch deutlich werden lässt, dass die Verfassung keinen zwingenden Bezug zu einer bestimmten, rational fassbaren veritas hat. Ohne eine bewusste und gewollte Herstellung ihrer effektiven Normativität, in der auch Veränderungen der Sichtweise der Verfassung unter verlässliche Kriterien gestellt werden, besteht ihre Geltung auch in der Praxis im hohen finanziellen Anforderungen . . . eine dem Pressewesen entsprechende Vielfalt von miteinander konkurrierenden Darbietungen nicht möglich“. 137 Vgl. etwa H.H. Klein, Die Rundfunkfreiheit (1978), W. Schmitt Glaeser, Kabelkommunikation und Verfassung (1979), M. Bullinger, Rundfunkfreiheit (1980). 138 BVerfGE 57, 295 / 322 f. und dazu kritisch Chr. Degenhart, DÖV 1981, 960 / 960 f. 139 BVerfGE 74, 297 (5. Rundfunkurteil); vgl. auch schon E 73, 118 (4. Rundfunkurteil). Dazu kritisch etwa E. Kull, AfP 1987, 462.

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Wesentlichen nur – in ihrer Geltung. Angesichts dessen kann die Geltungsgrundlage der Verfassung im Wesentlichen allein noch als akzeptierte Oktroyierung140 charakterisiert werden. Nach der Errichtung der Intrastruktur wirkt die Verfassung lediglich als Hierarchisierungstechne weiter. Bewusst provokant formuliert: Wer qua Organisation Entscheidungen auf Verfassungsebene treffen kann, kann seine eigene Rationalität zu einem allgemeinen Gesetze der Freiheit machen141. Die Macht als Orientierungskriterium wird damit für die Dogmatik per se zum Problem. Will sie mehr sein als nur Protokollführer der hierarchisch an oberster Stelle stehenden Textanwender, will sie die Intrastruktur als Intrastruktur der Verfassung steuern, dann kann sie sich nicht darauf beschränken, die effektive Machtausübung zu rationalisieren, um damit eine „Irgendwie-Normativität“ der Verfassung herzustellen. Sie muss daneben immer auch verlässliche argumentative Autoritätsstrukturen installieren, die den Machtstrukturen entgegengesetzt werden können. Diese Argumentationsstrukturen sind angesichts der Abdankung des formal rationalen Rechts allerdings schwer fassbar. Gerade anhand des Umgangs des BVerfG mit der Rundfunkfreiheit lässt sich erkennen, dass man nicht mehr davon ausgehen kann, dass hinter dem Gesetz eine Rationalität liegt, die man vor dem Gesetz wiederfinden kann. Im Gegenteil: Gerade weil Menschen die Verfassung rational anwenden, werden immer wieder andere und immer wieder neue Entscheidungen aus ihr hergeleitet. Dies wäre unproblematisch, wenn man sagen könnte, dass sich das Verstehen der Verfassung in dem Maße ändert, in dem sich die Gesellschaft und die in ihr herrschenden Vorstellungen ändern. So einfach ist es aber nicht. Denn das Verstehen der Verfassung folgt nicht unbedingt der herrschenden Auffassung; es ändert sich vielmehr nach der Auffassung derer, die in der Intrastruktur herrschen. So sehr man es begrüßen muss, dass die Vorstellung eines formal richtigen Rechts, das ja am Ende nur deshalb „richtig“ war, weil die herrschende Gesellschaftsschicht es allgemein als richtig ansah, abgedankt hat, so sehr muss auch in aller Klarheit gesehen und erkannt werden, dass mit der geschlossenen Gesellschaft nicht zugleich der Staat verschwand. Auch als demokratischer Staat wird in ihm weiterhin Macht ausgeübt und diese Macht weist Menschen die Kompetenz zu, anderen Menschen zu sagen, was (im konkreten Fall) richtig und was falsch ist. Die verschiedenen Forderungen an juristisches Arbeiten, die Forderung nach methodischer Rechtsanwendung, nach Widerspruchslosigkeit, nach Schlüssigkeit – all diese Forderungen sind Ausdruck der sehr realistischen Befürchtung, dass Kompetenzen durch Einzelne missbraucht werden, durch die, die in einem jeweiligen Zeitabschnitt das „Sagen“ haben. Auch wenn es „plausibel und sympathisch nüchtern“ klingt, den einzelnen Textanwender auf Pragmatik und Einzelfallgerechtigkeit zu verpflichten, das Recht Vgl. schon oben 2. Kap. 3. Abschn. C. Hier liegt auch das zentrale Problem der Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen in Verfassungsgerichten – man muss diese Willkür nicht mehr allen Kollegen vermitteln, man muss sie nur noch mit anderen „abstimmen“. 140 141

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eines Verfassungsstaates kann sich damit nicht begnügen142. Was dieses Recht genau fordert, ist allerdings fraglich, weil mit der Abdankung des formal richtigen Rechts die Autorität des Rechts als Maßstab instabil geworden ist. Dies zeigt sich gerade darin, dass die Dogmatik in Bezug auf die Rechtsprechung der Bundesgerichte, vor allem aber des BVerfG, kaum mehr tun kann, als die Entscheidungen hinzunehmen. Angesichts des Fehlens verlässlicher Interpretationsmaßstäbe für die Gesetzestexte und angesichts fehlender Fähigkeit zum Erkennen von Gesetzmäßigkeiten in der Wirklichkeit, hat Kritik beinahe immer etwas Querulatorisches, jedenfalls dann, wenn sie grundsätzlich ausfällt. Ohne die Möglichkeit, den Verfassungstext als Fundament für die Autorisierung abweichender Vorstellungen zu nutzen, scheint die Dogmatik dazu verurteilt, den jeweils aktuellsten und konkretesten Entscheidungen der jeweils mächtigsten Rechtsanwender „hinterherzuschreiben“ oder an das Gericht zu „appellieren“, sich von bestimmten Begründungspraktiken zu distanzieren oder funktionelle Grenzen einzuhalten143. So wird aus dem Verfassungsstaat der Verfassungsrichterstaat, aus dem Rechtsstaat der Richterstaat144. Diese Entwicklung erscheint dann als gänzlich untragbar, wenn man von der Vorstellung ausgeht, dass der Verfassung die Qualität zu bewahren ist, die das einfache Gesetz, vor allem die großen Kodifikationen, wie z.B. das BGB, einst hatten; anders gewendet: wenn man von der Vorstellung ausgeht, dass die Verfassung immer noch ein formal richtiges Gesetz ist. Diese Vorstellung ist tatsächlich auch weiterhin wirkmächtig145; sie äußert sich positiv in der Postulierung einer „objektiven (Wert-)Ordnung“, negativ in der beinahe paternitären Anrufung des Verfassungsgerichts zu Fragen, die das Parlament nicht selbst beantworten kann oder will146. Dass sich viele immer wieder (freilich immer wieder andere) vom Verfassungsgericht und seinen Entscheidungen enttäuscht sehen, ist vor diesem Hintergrund verständlich. Diese Enttäuschung ist immer auch eine Ent-Täuschung im strikt verstandenen Sinn des Wortes; denn sie kann nur entstehen, wenn man glaubt, das eigene Verstehen der Verfassung sei eindeutig richtig. In der Kritik am BVerfG drückt sich allerdings in vielen Fällen auch die berechtigte Sorge aus, dass das Gericht die Verfassung nur noch als irgendwie normativ versteht, sich also nicht (mehr) ernsthaft darum bemüht, eine zuverlässige Leitlinie des Rechts in der Verfassung zu finden. Zu entdecken wäre eine solche Leitlinie jedenfalls dann, E. Schmidt-Aßmann, in: Grundfragen des Verwaltungsrechts (2000), 1 ff. Vgl. insbesondere die vielfältigen Problematisierungen der Abwägungs-Rspr. bei B. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976); K. A. Bettermann, JZ 1964, 601 oder aus jüngerer Zeit E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 159; W. Brohm, NJW 2001, 1; F. Ossenbühl, in: Fs Lerche (1993), 151. 144 Oben 2. Kap. 3. Abschn. A. Eine solche Entwicklung ist ambivalent. Anders: R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat (1957), der sie im Wesentlichen als positiv einschätzt. 145 In diese Richtung weist z. B. der Beitrag von H. Sodan, JZ 1999, 864, der von einem vorpositiven Prinzip der Rechtseinheit her argumentiert. 146 Vgl. dazu nur W. Brohm, NJW 2001, 1 / 2. 142 143

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wenn man eine zwingende Methodik hätte, die die Anwendung lenkt, vorhersehbar und nachvollziehbar macht. Die Vorstellung, es könne eine Methodik dieser Art geben, also eine Methodik, die eine bestimmte Rechtsanwendung erzwingt, ist freilich ebenfalls Ausfluss der Vorstellung eines formal rationalen Rechts; nicht zu Unrecht spricht man von den Methoden des v. Savigny. Denn sie beginnen beim Text (als Ausdruck des Rechts) und enden beim Sinn (Volksgeist), und sie vollziehen im Rückwärtsgang nach, was nach Ansicht v. Savignys in der Entstehung des Rechts geschieht. Die Verfassung entsteht aber nicht (mehr) aus einem Volksgeist und es gibt in der pluralen Gesellschaft auch keinen solchen Geist (mehr), auf den hin man ihren Sinn bestimmen könnte. Was es gibt, ist die Macht des Staates, die unter einen Text gestellt wurde, um die staatliche Gemeinschaft vor der Staatsmacht zu schützen. Die „parchment barriers“ (Madison) müssen Autorität haben. Autorität gewinnen sie aber noch nicht dadurch, dass ihnen eine „Irgendwie-Normativität“ verliehen wird. Denn auch wenn man realisiert, dass der Text in vielen Deutungen Maßstab sein kann, dass die Verfassung auf der Grundlage vieler Deutungen der Realität zur Anwendung gebracht werden kann: Die Verfassung bezieht ihre normative Bedeutung, ihre Autorität nicht aus der Satzung oder der Satzung in einem bestimmten Verfahren oder der Satzung nach Maßgabe eines anderen Gesetzestextes. Die Verfassung bezieht ihre Autorität nicht aus etwas, sondern in etwas: in der Anwendung nämlich. Ob eine Interpretation der Verfassung sachliche Autorität erlangt, entscheidet sich nicht in erster Linie daraus, ob sie sich als Deduktion aus dem Text (begründend) darstellen lässt; ausschlaggebend ist, ob sich die Entscheidung im Kontext der vielfältigen anderen Verfassungsentscheidungen induktiv auf den Text der Verfassung als normativen Text beziehen lässt, ob also das Gesamtbild der Intrastruktur als Verfassungsordnung erscheint oder nur als bloße Machtstruktur. Als Verfassungsordnung erscheint das Gesamtbild der Intrastruktur, wenn es gelingt, die prinzipielle Aufgabe der Rechtsordnung zu bewältigen, die darin besteht, Rechtmäßiges von Rechtswidrigem zu unterscheiden147. Bezieht die Verfassung ihre Autorität aus der Anwendung, kann die Intrastruktur diese Unterscheidung zwischen Rechtmäßigem und Rechtswidrigem nicht alleine dadurch bewältigen, dass sie sich am materiellen Recht orientiert; daraus lässt sich – wie schon betont – keine Autorität gewinnen, weil jeder den Gesetzestext anders verstehen kann. Anwendungsbezogenheit verlangt Ergebnisorientierung, indem die Ergebnisse der Rechtsanwendung in eine systematische Ordnung gebracht werden. Passt eine aktuelle Rechtsanwendung in ein aus zahlreichen anderen Rechtsanwendungen gebildetes System, dann wird deutlich, dass der Textanwender nicht aus eigener Machtvollkommenheit entschieden, sondern dass er seine Entscheidungen im Kontext der Rechtsordnung gefunden hat148. Hinter der Forderung nach systematischer 147 Vgl. P. Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten (1978), 8: „Das Prinzip der Einheit und Ordnung des Rechts begründet die Erwartung, die Rechtsordnung nehme zu einem realen Vorgang stets mit der schlichten Aussage des ,rechtmäßig‘ oder ,rechtswidrig‘ Stellung“.

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Rechtsanwendung steht der (auf das Sollen bezogene) kategorische Imperativ ebenso wie die (auf das Sein bezogene) Vorstellung, dass nur das richtig sein kann, was nicht im Widerspruch zu anderem Richtigen steht149. In Bezug auf die Vorstellung eines richtigen Rechts sind beide Forderungen allerdings nur von sekundärer Autorität, weil sie sich nicht auf ein existierendes, sondern auf ein auf der Basis des Systems vorgestelltes richtiges Recht beziehen. Die „Zweitrangigkeit“ der Autorität wird vor allem dann augenscheinlich, wenn man den Ausschlusseffekt des Systemdenkens in den Blick nimmt, also erkennt, dass ein System immer auch die Möglichkeit bietet, bestimmte Vorstellungen dadurch zu entmachten, dass sie im System nicht denkbar oder nicht ausdrückbar sind. Die daraus folgende Unwiderlegbarkeit eines Systems von außen150 ist äußerst problematisch, insbesondere kann eine solche Unwiderlegbarkeit mit einem freiheitlichen Verfassungsstaat kaum vereinbart werden. Ein solcher Staat kann zwar sehr wohl Instrumente ausbilden, mit denen in einem bewussten Entscheidungsprozess bestimmte Gegner abgewehrt werden (Art. 9 II, 18, 21 II GG); die von ihm errichtete Rechtsordnung aber muss immer als potentiell offen für Neues begriffen werden. Die erhebliche Spannung zwischen Pluralismus und Systemdenken zeigt sich besonders deutlich in der Konzeption der operativen Geschlossenheit des Rechtssystems von Niklas Luhmann151. Operativ geschlossene Systeme (autopoietischen Systeme152) sind autonome Systeme, die „zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen angewiesen sind und in diesem Sinne sich selber reproduzieren“153. Luhmann stellt hier vor allem auf die Sprachcodes des Systems ab. Maßgebliches Kriterium der Abgrenzung des juristischen Systems ist vor allem die Zuordnung von „Recht“ und „Unrecht“ zur Kommunikation, weil nur eine solche Kommunikation „eine rekurrente Vernetzung im Rechtssystem“ behauptet154. Entscheidend sei dabei nicht, was die Beobachter erster Ordnung (Handelnde und Opfer) annehmen, sondern ob die Beobachter zweiter Ordnung (Beobachter der Beobachter) den Wert „Recht“ oder „Unrecht“ applizieren155. Ausschlaggebend sind also die spezifischen Merkmale juristischer Operationen, und diese entwickeln sich aus einer Tautologie: „Um eigene Operationen als rechtliche qualifizieren zu kön148 Die entsprechenden „systematischen“ Forderungen an das Recht entstehen freilich nur, wenn System als Teil einer verbindlichen Dogmatik verstanden wird, vgl. dazu F.-J. Peine, Das Recht als System (1984), 12 f. 149 Zu verschiedenen Hintergründen der Widerspruchsfreiheit vgl. jüngst H. Sodan, JZ 1999, 864 / 866 ff. 150 Vgl. dazu, insbesondere auch zur Geometrie, G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik (1812–1816), 520 ff. 151 Jüngst: Das Recht der Gesellschaft (1995). 152 Vgl. auch The Unity of the Legal System, in: Teubner (Hg.), Autopoietic Law (1988), 12 / 18: An autopoietic system is „recursively“ closed insofar as it çan neither derive its operations from its environment nor pass them on to that environment.“ 153 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), 44. 154 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), 67. 155 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), 70.

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nen, muß es [das System] herausfinden, was es bisher schon getan hat oder weiterhin tun wird, um eigene Operationen als rechtliche zu qualifizieren“156. Auch wenn man Luhmann bis hierhin folgen will, so wird spätestens im Bereich der Verfassung die „Sinn-Losigkeit“ seiner Konstruktion erkennbar. Wie Luhmann157 selbst konstatiert, kann im Bezug auf das Verfassungsrecht der Code Recht / Unrecht und der Code Moral / Unmoral nicht „entdifferenziert“ werden. Angesichts der Tatsache aber, dass die Verfassung den gesamten Rechtskreis der Gemeinschaft als höchstes Recht umspannt und dementsprechend auch auf jeder Ebene des Rechts eine Bezugnahme auf die Verfassung eine „akzeptable“ Behauptung über das Recht darstellt, ist der „Nichteintritt einer Entdifferenzierung der Codes“ im Verfassungs-„System“ gleichzeitig Ausdruck dafür, dass das Recht operativ nicht geschlossen ist. Dementsprechend konstatiert Josef Esser158: „Für die Befriedigung des Rechtsbedürfnisses bedarf es in jedem Fall zusätzlicher Entscheidungsüberlegungen und auch -mitteilungen. Die Systemanalyse als Theorie des Rechtsganges bietet zwar gleichfalls ,Platz für Wandel und Konflikte‘ innerhalb eines Systems, aber sie kann von sich aus den Sinn eines Wandlungsprozesses nicht erfassen, weil sie von dem positiven System her die Kriterien einer befriedigenden oder unbefriedigenden Wirkung nicht zu beurteilen vermag. Insofern bleibt die Systemanalyse in einem positivistischen Sinne auf ihre eigenen Prämissen angewiesen“. Gerade aus Sicht der Verfassung wird deutlich, dass die Menschen weit mehr sind als Elemente der Luhmann’schen sozialen Systeme; sie sind Teil der Umwelt dieser Systeme und selbst „Systeme“. Der Vorwurf des „methodologischen Antihumanismus“ (Jürgen Habermas159) ist insoweit treffend. Gerade in Abgrenzung zu Luhmann wird deutlich, dass Systemdenken immer in der Gefahr steht, die Sprache als Ausschlussinstrument des nicht definierbaren „Anderen“ zu instrumentalisieren160, eine Gefahr, die das operativ geschlosseneres Rechtssystem des BGB zu Zeiten der Begriffsjurisprudenz so sinn-los und irgendwann unerträglich machte. Ungeachtet dessen: Das juristische Denken ist systematisches Denken – so oder ähnlich kann man das Selbstverständnis der deutschen Juristen und die Vorgabe an die juristische Ausbildung beschreiben161. Das argumentum e contrario, ab maiore N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), 56 f. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1995), 97. Die weiteren Erörterungen Luhmanns sind hier zwar sehr interessant, für sein Konzept aber irrelevant. Vor allem widerspricht die Art der Argumentation seinem Grundansatz. So stellt er z. B. fest (95 f.), man müsse immer auf „höhere, zum Beispiel moralische oder gar ethische Standards verweisen, weil man anders (also textimmanent) nicht zur Entscheidung kommen könne“. Der Code der Verfassungsanwender entspricht dieser Feststellung aber in keiner Weise. 158 Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 28. 159 Der philosophische Diskurs der Moderne (1985), 436. 160 Vgl. dazu H.-G. Gadamer, in: Wahrheit und Methode II (19932), 361; zur Bezogenheit der „positivistischen Dogmatik“ auf Sprachdaten: F. Müller, Juristische Methodik (19977), Rn. 403. 161 Vgl. die differenzierten Ausführungen bei K. Larenz, Methodenlehre (19916) 437 ff.; kritisch: F. J. Peine, Das Recht als System (1984), 13. 156 157

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ad minus – diese und andere Sätze erscheinen als unschlagbare Argumente im epistemischen Wettbewerb unter Juristen. Die Kunst der Systembildung macht aus Recht Rechtswissenschaft, die systematische Auslegung wird dementsprechend auch die „logische“ Auslegung genannt. Was genau unter System zu verstehen ist, kann allerdings kaum ausgemacht werden; das Wort wird meist in Kombinationen (Systembildung, Systemdenken, u.Ä.) verwendet. Die Idee des System ist dabei historisch eng mit der Idee der Kodifikation verbunden, der Idee also, das bisher Geltende müsse geordnet und in logische Zusammenhänge gebracht werden, um eine widerspruchsfreie und lückenlose Rechtsordnung zu gewährleisten. Die Anforderung an das System liegt idealiter darin, dass sich für alle denkbaren Tatbestände in dem System eine Norm finden lässt, unter die sie subsumiert werden können. Gleichzeitig muss jede Norm in einer logischen Beziehung zu allen anderen Normen stehen. Hintergrund des Systemsdenken ist die Forderung nach Rationalität im Recht. „Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie162, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können“163. 1. Architektonische Systembildung Kant versteht unter einem System die „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ Und Claus-Wilhelm Canaris164 konstatiert: „Wer die Möglichkeit eines teleologischen Systems verneint, leugnet damit zugleich ganz allgemein die Möglichkeit, Jurisprudenz in ihrem entscheidenden Bereich [der Rechtsanwendung] überhaupt rational zu betreiben“. In der Forderung nach einem teleologischen System liegt indes die Grundproblematik des systematischen Denkens im Recht, weil damit die Frage nach dem „Wozu“ der (systematischen) Ordnung gestellt ist, also die Frage nach der Idee, woraufhin das Schema entworfen wird. Welche Idee soll das sein, nachdem es eine Qualität mit überempirischer Würde nicht (mehr) gibt? Kant165 meint dazu: „Die Idee bedarf zur Ausführung ein Schema, d.i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile. Das Schema, welches nicht nach einer Idee, d.i. aus dem Hauptzwecke der Vernunft, sondern empirisch, nach zufällig sich darbietenden Absichten (deren Menge man nicht im Voraus wissen kann), entworfen wird, gibt technische, dasjenige aber, was nur zu Folge einer Idee entspringt (wo die Vernunft die Zwecke a priori aufgibt, und nicht empirisch erwartet), gründet architektonische Einheit“ und damit ein System. Schon hier wird deutlich, dass das juristische Systemdenken jedenfalls keine architektonische Einheit vorstellen kann, zu162 163 164 165

Darunter versteht Kant wohl die bedachte Anordnung i.S.e. Komposition. Auch zum folgenden: I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), A 832 f. / B 860 f. Systemdenken (1969), 43. Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), A 833 / B 861.

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mal auch Kant166 das Problem des Systemdenkens darin sieht, dass eine Idee erst dann in hellerem Lichte erscheint, wenn man die sich darauf beziehenden Erkenntnisse technisch zusammengesetzt hat. Auch für ihn gilt die Idee aber nur subjektiv (unter Vorbehalt); auch Philosophie sei „eine bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft“. Für die Rechtswissenschaft, die immer wieder neue Gesetze „bewältigen“ muss167, erscheint es danach nicht einmal denkbar, eine Architektonik des Rechts anzustreben. Man kommt folglich nicht umhin, zumal in der pluralistischen Demokratie, eine „Götterdämmerung des Systems“168 zu konstatieren, es sei denn, man hält es für möglich, dass „das ,System‘ je mit seinem Neuverständnis und der darauf fußenden dogmatischen Erweiterung ein neues ist“169.

2. Kompositorische Systembildungen Kann das juristische System nicht als Schema unter einer Idee gesehen werden, dann ist es allenfalls ein Schema unter Gesichtspunkten, ein bewusst konstruierter Zusammenhang. Als Zusammenhang verliert es freilich an (sekundärer) Autorität, weil sich aus ihm weder zwingende Maßstäbe für die Ausgliederung noch für die Eingliederung von Ergebnissen der Rechtsanwendung ergeben. Ein Beispiel von Claus-Wilhelm Canaris170 kann dies verdeutlichen: Nach § 172 I BGB (Vollmachtsurkunde) tritt die Rechtsscheinhaftung für die Ausstellung einer Vollmachtsurkunde dann ein, wenn der Aussteller die Urkunde dem Bevollmächtigten ausgehändigt hat. Das „Telos“, die „Wertung“ bzw. der „Grundsatz“ des § 172 I 166 Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), A 834 ff. / B 862 ff. Das Zitat findet sich bei A 838 / B 866. In der Forderung nach einem System und der Darstellung seiner Unmöglichkeit liegt wohl das, was F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft (1882), Aph. 193, als Kants Witz bezeichnet: „Kant wollte auf eine ,alle Welt‘ vor den Kopf stoßende Art beweisen, daß „alle Welt“ recht habe: das war der heimliche Witz dieser Seele“. 167 Vgl. B. Ackerman, Reconstructing American Law (1984), 11: „If, after determined effort, lawyers could place an especially problematic provison in the context of something as large as a single statute, they deserved congratulations for their heroic labors“; P. Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten (1978), 30 ff. Im Grunde sind die immer neuen Gesetze, die das System bewältigen muss, nur ein Aspekt der Emergenz (Niklas Luhmann), der Tatsache, dass im Recht immer wieder Intuitionen und Lösungen aufscheinen, die alleine auf Grund ihrer Plausibilität (bei Gesetzen ist dies die demokratische Herkunft) Wirksamkeit gewinnen; zur Emergenz im Rahmen der Produktion von Wissen: Hans Ulrich Gumbrecht, Die Emergenz der Emergenz, FAZ 19. 4. 2003, Nr. 92, S. 38. 168 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 85: „Man kann freilich nicht leugnen, daß seit der Durchsetzung des formalen Gesetzesbegriffs jene Elemente der veritas, die dem substanziellen Gleichheits- und Gerechtigkeitsgebot entsprechen, nur in kleinen Schritten gegenüber der weiter zur Technokratie tendierenden regulativen Gesetzgebung Erfolg haben.“ Siehe auch Seite 86. Richard Wagner, Das Rheingold, 4. Szene: „Ein düstrer Tag dämmert den Göttern: dir rat‘ ich, meide den Ring!“ 169 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 178; E. Schmidt-Aßmann, Grundfragen des Verwaltungsrechts (2000), 1 / 3. 170 Systemdenken (1969), 117 f.

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BGB kann mit Canaris darin gesehen werden, dass man für einen Schein nur haftet, wenn man ihn verursacht hat. Die §§ 370 (Leistung an den Überbringer einer Quittung) und 405 BGB (Abtretung unter Urkundenvorlegung) verlangen nicht die Aushändigung durch den Aussteller der Quittung bzw. Urkunde. Canaris meint nun, die in den §§ 370, 405 BGB grundgelegte Rechtsscheinhaftung sei zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs (im Wege systemkonformer Auslegung bzw. Lückenfüllung) durch den Grundsatz des § 172 I BGB zu ergänzen, weil ein vernünftiger Grund für die Differenzierung nicht erkennbar ist und weil zudem § 935 I BGB (abhanden gekommene Sachen) in dieselbe Richtung weise. Diese Überlegungen sind einleuchtend, wenn man als Richter unter dem § 370 BGB einen Fall zu entscheiden hat, der eine außergewöhnliche Konstellation beinhaltet, die eine Ähnlichkeit zu der aufweist, in der eine Vollmachtsurkunde ausgestellt wird. Man könnte dann daran denken, das Telos des § 172 I BGB heranzuziehen. Als Systemargument lässt es sich dagegen nur verwenden, wenn man in der Ausstellung von Vollmacht, Urkunde und Quittung keine Unterschiede sehen will. Allein unter dieser Voraussetzung kann in § 172 I BGB ein allgemeiner Grundsatz der „Haftung nur für einen in zurechenbarer Weise gesetzten Rechtsschein“ angenommen werden. Um die Argumentation Canaris’ noch einmal im Rücklauf zu verdeutlichen: Man stellt sich eine gerechte Ordnung der Rechtscheintatbestände vor, sucht sodann nach einer Regelung, die als Emanation eines solchen Ordnungsgedankens verstanden werden kann und unterstellt ihrem Telos schließlich einen verallgemeinerungsfähigen Grundsatz. Überzeugend ist die Argumentation also lediglich dann, wenn die Rechtsscheintatbestände in der Schematik des BGB als zusammenhängender Regelungsbereich zu bewerten sind. Sieht man die §§ 172, 370 und 405 BGB dagegen als jeweils eigenständige Bestimmungen, die in unterschiedlichen Bereichen des Rechtsverkehrs das Vertrauen der Verkehrsteilnehmer sachangemessen regeln, dann erscheint der Wertungswiderspruch als Regelungsunterschied und die Heranziehung des Telos des § 172 BGB als systemwidrig. Welche Auffassung nun richtig oder falsch ist, bestimmt sich in der Intrastruktur des Rechts danach, wie die Gerichte die §§ 172, 370 und 405 BGB anwenden, ob sie also das Telos des § 172 BGB als Grundsatz des BGB auf die §§ 370, 405 BGB erstrecken oder ob sie in den §§ 370, 405 BGB einen eigenständigen Telos entdecken. Entscheiden sie sich im Sinne von Canaris, dann bildet sich eine Zusammenstellung unterschiedlicher Bereiche des Rechts, ein rechtlicher „Gesichtspunkt“, ein dogmatischer Lehrsatz. Solange dieser Lehrsatz als grundsätzlich sachrichtig angesehen wird, wird er die Anwendung der §§ 172, 370 und 405 BGB leiten, abweichende Entscheidungen können als systemwidrig bezeichnet werden. So verstanden ist der systematische Grundsatz von Canaris Teil eines äußeren System i.S.v. Philipp Heck171. Ein solches System strebt eine möglichst klare und übersichtliche Darstellung und Gliederung des Rechtsstoffes an, ohne eine innere Sinneinheit aufdecken zu wollen. Es ist ein rhapsodisches System, das Widersprü-

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Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (1932), 139 ff.

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che vermeiden will (nicht widerspruchslos ist)172 und das auf durch „die mannigfachsten Zusammenhänge und Übereinstimmungen“ verbundenen „Teile[n] des Lebens“ beruht173. Im Gedanken des äußeren System liegt die eigentliche Herausforderung der heute noch vertretenen „klassischen“ Systemkonzeptionen, wie sie beispielhaft von Canaris erarbeitet wurde174, zumal ihre Vertreter selbst erkennen, dass eine logische Geschlossenheit nicht realisierbar, und eine teleologische Geschlossenheit bare Utopie ist175. Eine solche Konzeption stünde daher auch nicht im Widerspruch zur Rechtsordnung der offenen Gesellschaft. Der Versuch, die Dogmatik durch Denknotwendigkeiten zu stabilisieren, hängt auch heute noch eng mit der Kodifikationsidee und der nachfolgenden Begriffsund Systemjurisprudenz zusammen. Auch wenn sie ihren Ausgang in der Effektivierung der Macht absoluter Herrscher hatte (der Code Civil wurde von Napoleon nicht nur geschrieben, sondern von ihm auch durchgesetzt), so war sie doch in der Nachfolge ebenso von dem Bestreben der Verrechtlichung der Macht getragen176. Das Systemdenken trägt bis heute dieses Anliegen fort. Freilich liegt auch dem äußeren System Hecks eine Idee zugrunde, die Idee nämlich, dass sich die Ordnung des Rechts auf eine „lebensrichtige Ordnung“ bezieht: „An die Stelle des deduktiven Systems tritt ein induktives“177. Auch wenn man nicht weiß, und vielleicht nie wissen kann, anhand welcher Idee das Schema des Systems errichtet wird: jedenfalls kann es sich auf die tatsächlichen Geschehnisse des Lebens stützen, weil dieses Leben eine Eigengesetzlichkeit in sich birgt. Damit bleibt das pragmatisch-inkrementelle Denken freilich die Antwort schuldig, ob diese „Rhapsodie“ der normativen Effektivität des Rechts dienlich ist oder ob sie nur einer „Irgendwie-Normativität“ dient. Wenn die Ergebnisse der Rechtsanwendung nicht in einer (vorgestellten) architektonischen Einheit stehen, d.h. in ein logisch geschlossenes Schema eingeordnet werden können, dann erscheint die Einordnung der verschiedenen Ergebnisse notwendig willkürlich. Damit aber geht Ph. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (1932), 87 f. Ph. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (1932), 149 f; ähnlich wohl die Konzeption der „Bereichsdogmatik“ von F. Müller, Juristische Methodik (19977), Rn. 404; ders., Normstruktur und Normativität (1966), 181 f., 210 ff. 174 Die Befürworter von Systemen „reiner“ Grundbegriffe – vgl. etwa R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft (19232); ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, (19283); H. Kelsen, Rechtslehre (1934); H. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre (19482) – werden von Canaris, Systemdenken (1969), 20, zu Unrecht als „Gegenspieler“ gesehen. Sie sind eher „Mannschaftskollegen“, die systematisches Denken lediglich philosophischer bzw. theoretischer (und damit erfolgversprechender) betreiben wollen. Denn auf diese Weise müssen sie sich nicht auf die konkret bestehende und sich ständig verändernde Rechtsordnung beziehen und gewinnen damit wenigstens die (wenn auch sehr flüchtige) Chance, ein architektonisches System zu entwerfen. 175 C.W. Canaris, Systemdenken (1969), 29, 41 ff.. 176 Schon G.F. Puchta, Cursus der Institutionen I (189310), 35, sieht das Recht – freilich ganz undemokratisch – als auf den Geist des Volkes bezogen. 177 Ph. Heck, in: Recht und Staat 97 (1933), 7 / 27, 29. 172 173

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gerade die Autorisierungsfunktion des Systems verloren, die oben als Ausgangspunkt des Systemdenkens bezeichnet wurde. Mit anderen Worten: Wenn Nicht-Widersprüchlichkeit auf keine Wahrheit mehr bezogen, wenn sie nur noch auf ein eingefahrenes Verständnis des Rechts ausgerichtet ist, dann steht sie immer unter dem dictum von Robert Jackson178: „. . . to be right is a better way of maintaining respect than to be stable in the wrong“. Dementsprechend steht äußeres Systemdenken stets vor der Gefahr, in ein aporetisches Denken abzugleiten, ein Denken, das sich die Existenz eines Systems vorstellt und glaubt, die verschiedenen Rechtsanwendungen würden ein im Hintergrund existentes System „ansteuern“. Dementsprechend setzten sich beispielsweise im Verwaltungsrecht zunehmend „weiche Leitbegriffe“ wie Organadäquanz, Funktionsfähigkeit, Geeignetheit oder Effizienz durch, die „in aller Regel jenseits des positiven Rechts und seiner Systematisierung angesiedelt“ sind179. Das Problem solcher weicher Ordnungsprinzipien liegt in ihrer Tendenz, nur deshalb gebildet zu werden, um noch irgendeine (Rest-)Systematisierung herbeiführen zu können. Dies erinnert an die Metaphysik von Molieres Arzt, der die Tatsache, dass Opium in Schlaf versetzt, damit erklärt, dass es ein einschläferndes Prinzip enthält. Allgemein kommt es zu einer „Vergrundsätzlichung“ des Rechts. Weil die verschiedenen Ergebnisse der Rechtsanwendung weder am Text, noch an der Realität, noch – systematisch – an einem Schema unter einer Idee des Rechts festgemacht werden können, wirkt das Recht zerrissen und: „Die Zerrissenheit hält den Weg offen in das Metaphysische“180. Ob dieses Metaphysische nun die Vorstellung des Seins von Idealem, eine wie auch immer begründeten „Wertordnung“, ist oder ob es sich als die Vorstellung von einer möglichen Sachrichtigkeit i.S.d. soziologischen Rechtswissenschaft darstellt – in jedem Fall läuft man Gefahr, vom Systemdenken ins aporetische Denken181 zu wechseln, in ein juristisches Denken, das glaubt, in der (wie auch immer) rationalen Rechtsanwendung könne man weiterhin systematisch arbeiten. Dieses Denken hat Vorläufer in der amerikanischen Jurisprudenz des ausklingenden 19. Jahrhunderts, als vor allem Christopher Columbus Langdell einen Weg suchte, der zunehmenden In-EfThe Struggle for Judicial Supremacy (1941), 44; siehe schon oben 2. Kap. Teil 1 B. H. Schulze-Fielitz, in: Fs Vogel (2000), 311 / 316. 180 M. Heidegger, Was heißt Denken? (1951 / 52), 53. Vgl. auch J. Derrida, Die Schrift und die Differenz (1967), 237: „Und kommt man sogar dazu, die Öffnung der Struktur als ,struktural‘, das heißt als wesentlich zu denken, ist man schon zu einer Ordnung übergegangen, die der ersteren gegenüber heterogen ist: die Differenz zwischen der minderen – notwendig geschlossenen – Struktur und der Strukturalität einer Öffnung ist vielleicht der nicht zu ortende Ort, in dem die Philosophie wurzelt.“ 181 Dazu N. Hartmann, Kantstudien XXIX (1924), 163 f.: „Systematische Denkweise geht vom Ganzen aus. Die Konzeption ist hier das erste und bleibt das Beherrschende. Nach dem Standpunkt wird hier nicht gesucht, er wird zu allererst eingenommen. Und von ihm aus werden die Probleme ausgelesen. Problemgehalte, die sich mit dem Standpunkt nicht vertragen, werden abgewiesen. Sie gelten als falsch gestellte Fragen.“ . . . „Aporetische Denkweise verfährt in allem umgekehrt. . . . Sie zweifelt nicht daran, daß es das System gibt, und daß es vielleicht in ihrem eigenen Denken latent das Bestimmende ist. Darum ist sie seiner gewiß, auch wenn sie es nicht erfaßt.“ 178 179

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fektivität des Common Law zu begegnen182, indem er die Case Method einführte, die Oliver Lepsius183 wie folgt charakterisiert: „Gerichtsurteile verkörpern zwar die Quintessenz des geltenden Rechts. Zum Leitbild wird aber die Fähigkeit, aus den Entscheidungen induktiv einen Gesamtzusammenhang des Rechts zu gewinnen und zukünftige Entscheidungen auf der Grundlage des bereitstehenden Präjudizienfundus prognostizieren zu können. Langdells Wissenschaft ist eine induktive Empirie. Das empirische Material ist reduziert auf Gerichtsentscheidungen“. Dadurch, dass Langdell in seiner Case Method die Festlegung auf bestimmte Rechtsanwendungen (Gerichtsurteile) und die Anforderung an die Behandlung dieser Quellen verbindet, begründet er eine formalistische Methodik. Als (rechtfertigender) Hintergrund dient die Vorstellung, dass sich bei der Beachtung dieser Methodik das Recht in ein System einstellen wird. Auch wenn man heute nicht mehr glaubt, dass eine Case Method vor dem Ende der Menschheit ein System enthüllen wird, die Ausrichtung jedenfalls ist mit dem in Deutschland durch das Kodifikationsbestreben geprägte Systemdenken vergleichbar. Der systematische Ansatz Langdells unterscheidet sich aber zum einen perspektivisch von dem Systemdenken, das sich in Deutschland entwickelt hat, denn es ist nicht deduktiv, sondern induktiv. Und ein weiterer Unterschied beruht darauf, dass sich das Systemdenken hierzulande einst in einer Kodifikation aufgehoben fühlen konnte, während Langdell nicht von einer Kodifikation ausgeht, auch nicht von der Verfassung, sondern von der Vorstellung, dass das Recht kodifiziert werden könnte. Gerade hier liegt der Grund für das Scheitern (auch) des Anliegens von Langdell. Denn eine Kodifikation wird nur dann möglich, wenn sie sich – und dies hat vor allem v. Savigny184 in seinen Überlegungen zur Kraft der Institutionen belegt – auf eine gefestigte gesellschaftliche Grundlage stützen kann, wenn man sich also in der Gesellschaft (bzw. in den herrschenden Schichten der Gesellschaft) weitestgehend einig darüber glaubt, welches Recht man will. Gerade auch in den USA zeigt sich deutlich, dass eine solche Einigkeit immer ein Irrtum war, weil sie meist durch Ausschluss derjenigen hergestellt wurde, die u.U. eine andere Gesellschaft wollen (Frauen, ethnische Minderheiten, Katholiken uvm.). In den USA findet man inzwischen beinahe für jede bislang tatsächlich oder vorgeblich marginalisierte Gruppe eine eigene Rechtstheorie, die im Wesentlichen darum bemüht ist, die eigene Stellung in der Rechtsordnung zu beleuchten und eigene Methoden der Rechtsanwendung zu erarbeiten, die die eigene Gruppe und die eigenen Interessen zum Leitbild juristischen Denkens macht (feminist jurisprudence, critical race theory u.a.m.). Dementsprechend findet sich eine nahezu unüberschaubare Zahl an Rechtstheorien, die aus politischen Forderungen erwachsen und die sich – mehr 182 Mit ausführlichen Nachweisen: O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law (1997), 221 ff., vgl. insbes. Fn. 20, in der Pound im Text zitiert wird. Dessen erste Kritik am Common Law geht dahin, dass im damaligen Common Law (um 1900) ein individualistischer Geist herrscht, der sich schlecht mit einem kollektivistischen Zeitalter vertrage. 183 Verwaltungsrecht unter dem Common Law (1997), 224. 184 Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814).

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oder weniger – fundamental widersprechen. Alle unterstellen eine je unterschiedliche Wertordnung, die dem Recht der USA zugrunde liegen sollte und orientieren dementsprechend das Recht auch an unterschiedlichen Zielen und Ideen. So konstatiert Ernest Weinrib185: „Most of the sophisticated writing in the United States assumes that law is a manifestation of political purposes; dispute centers on the question of what those purposes should properly be and how they should be woven into the fabric of law“. Wenn man das Recht architektonisch-systematisch denkt und gleichzeitig keine einheitliche Idee hinter diesem System postulieren kann, dann entsteht ein Wertungsvakuum an der Spitze des Systems – eben das Vakuum, das jedes fomal-rationale Rechtsdenken hinterlässt, nachdem man erkannt hat, dass Formal-Rationales nur durch Herrschaft gestützt werden kann. Die Postulierung einer Wertordnung erscheint angesichts dessen prima facie als eine rechtspolitische Großtat des BVerfG: sie verbindet das positivierte Verfassungsgesetz mit Ideen vom Recht und knüpft auf diese Weise weiche Leitbegriffe (Werte) an harte Normen (Artikel des GG). Sie ermöglicht eine flexible Ausarbeitung und Handhabung des Schemas der Verfassung, ohne eine fest umrissene Idee an die Spitze zu stellen. Freilich bedarf dieses Vorgehen auch eines gehörigen Maßes an Augenmaß und Selbstbeschränkung. Denn gerade weil die (erfundenen) Werte undeutlich grundgelegt und inhaltlich diffus sind, stellen sie den Rechtsanwender vor die Frage, welche (und vor allem auch wessen) Werte im jeweiligen Fall verwirklicht werden (sollen). Weil sich jeder darum bemühen wird, die eigenen Individualpositivierungen in die Werte und die durch sie geschaffene „Ordnung“ einzustellen, kann es nicht ausbleiben, dass die Werte immer mehr Inhalte aufsaugen, was wiederum dazu führen muss, dass die Werte ihre Anker, die gesatzten Grundrechtsbestimmungen, überlasten. Das Grundproblem des Systemdenkens liegt – wegen des Fehlens eines formal richtigen Rechts – in der Schwäche jeglicher Deduktion. Wenn man hinter dem gesatzten Recht kein „richtiges Recht“ mehr erkennen oder vermuten kann, dann lassen sich aus dem gesatzten Recht auch keine richtigen Ergebnisse mehr herleiten. Selbst wenn man die Verfassung als Grundgesetz der staatlichen Gemeinschaft als autoritativen Text verstehen will: eine Bibel, in der die Glaubenssätze der Verfassungsordnung (Werte) niedergelegt wurden, ist sie nicht. Dementsprechend kann es auch nicht gelingen, aus der Verfassung ein System oder eine Ordnung zu entwickeln, die die Intrastruktur des Rechts ein-deutig steuert. In diesem Zusammenhang sollte man sich vergegenwärtigen, dass das Systemdenken, wie Otto Ritschl186 herausgearbeitet hat, einen Ursprung in dem Impetus der reformatorischen Theologie hatte, keine enzyklopädische Verarbeitung der dogmatischen Tradition der Kirche mehr sein zu wollen, sondern die christliche Lehre von den loci 185 97 Yale L.J. 949 (1988) 950 f., der ein Systemdenken propagiert, dabei aber nicht erkennt, dass gerade die Missstände, die er in diesem Satz anprangern will, eine beinahe notwendige Folge der Case Method ist. 186 System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und in der philosophischen Methodologie (1906).

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communes (entscheidende Stellen der Bibel) her neu zu organisieren. Für einen profanen (Gesetzes-)Text steht das Verstehen der loci communes nun aber immer unter dem Vorbehalt der Angemessenheit in der Sache. Der Text hat keine Bedeutung, sie wird ihm beigestellt. Dementsprechend kann eine überzeugende Systembildung nur gelingen, wenn sie sich daran orientiert, was bisher als vertretbare Anwendung des Textes begriffen wurde, und wenn sie Möglichkeiten offen hält, das überkommene Verständnis zu hinterfragen und zu ändern. Dieses Vorgehen ist im Ansatz allerdings dogmatisch und es muss daher ein Weg gefunden werden, die Spannung zwischen systematischem und dogmatischem Denken zu bewältigen. Ein solcher Weg führt zu einem kompositorischen System, weil nur ein solches System in der Lage ist, das, was in der Intrastruktur geschieht, immer wieder neu auf den Verfassungstext auszurichten und so eine wirksame rechtliche Steuerung der Intrastruktur zu unterstützen. Ein derartiges Systemdenken gründet zwar immer noch in der Vorstellung der Widerspruchsfreiheit unter einer Idee, diese Idee beinhaltet aber „nur“ die Aufgabe des Rechts, die effektive Normativität der Verfassungsbestimmungen herzustellen, indem alles, was in der Rechtsordnung geschieht, an den „loci communes“ des GG angeknüpft wird. Dies ist keine Architektonik unter dem Grundsatz der Gerechtigkeit oder der Rechtsidee (Canaris187), unter dem ein Schema allgemeiner Ordnungsprinzipien formuliert und den verschiedenen Bereichen des Rechts zugeordnet wird. Eine solche Systembildung läuft immer Gefahr, entweder den Text aus den Augen zu verlieren oder an den verschiedenen rechtstatsächlichen Geschehnissen zu zerbrechen. Eine kompositorische Systembildung ist nicht mehr als ein Gerüst oder Gestell, in welches das Nachdenken über das Recht eingerückt werden kann, indem man die verschiedenen Ergebnisse der Intrastruktur in ihm ordnet und Grundsätze entwirft, die diese verschiedenen Ergebnisse verständlich und neue Ergebnisse vorhersehbar macht. So wird, im Spannungsfeld von Konstuktion und Tradition, dem Recht Form und Ausdruck, m.a.W. Gestalt gegeben. Auch in einer solchermaßen vorsichtigen Systembildung kann das System Einzelentscheidungen als systemfremd unter Rechtfertigungsdruck stellen oder Einzelentscheidungen nahe legen, weil sie ins System passen würden188. All diese Konsequenzen des Systems bleiben aber quasi-deduktiv, sie folgen nicht zwingend aus der Logik des Systems, sie haben keinen unbedingten Vorrang vor einem jeweils unmittelbaren und erneuten Anstellen kasuistischer Richtigkeitsüberlegungen189.

Systemdenken (1969), 18, versteht darunter den Inbegriff der obersten Rechtswerte. Dieses „Vordenken“ lässt sich auch in den sog. Verfassungserwartungen (insbes. an einem „idealen“ Gebrauch von Grundrechten) festmachen. Zu diesen Verfassungserwartungen s. H. Krüger, in: Fs Scheuner (1973), 285 ff. sowie J. Isensee, HStR V (20002), § 115, Rn. 165, 170 ff., 202, 227 ff. Vgl. auch W. Schmitt Glaeser, Ethik (1999), 28 ff. 189 Die Formulierung ist J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 99, entlehnt, der der „quasi-deduktiven“ Argumentation (als systematisch) aber in jedem Fall den Vorrang einräumen will. 187 188

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Auch wenn die Folgerungen aus einem derart kompositorischen System weitaus schwächer sind als die, die ein architektonisches System ermöglicht, so führen sie doch weiter, weil sie das Dilemma der neuzeitlichen systematischen Jurisprudenz zwischen einer Geschlossenheit des Systems und der Offenheit einer freiheitlichen Rechtsordnung vermeiden190. Wenn Esser191 das System, das je mit seinem Neuverständnis und der darauf fußenden dogmatischen Erweiterung ein neues ist, als Begriff nur unter Anführungszeichen verwendet, dann drückt sich darin aus, dass eine Einheit der rechtlichen Erkenntnisse in Ermangelung eines formal richtigen Rechts nicht mehr herzustellen ist. Wenn sich die mannigfaltigen Erkenntnisse nicht mehr unter ein, von einer Idee vorgegebenes Schema bringen lassen, sondern das Schema aus dem bisher Erfahrenen gebildet wird und dabei für neue Erkenntnisse offen bleiben soll, dann muss man akzeptieren, dass neue Erkenntnisse gefunden werden können, ohne dass sie sich als deduzierte Ergebnisse darstellen lassen; man muss aber auch akzeptieren, dass Ergebnisse als systemfremd unter Rechtfertigungsdruck gestellt werden, obwohl das System nicht zwingend ist. Um mit Antoine de Saint Exupéry (Nachtflug) zu sprechen: „Die Erfahrung schafft die Grundsätze. . . ; die Grundsätze gehen niemals der Erfahrung voraus“. Im kompositorischen System lassen sich keine fertigen Konzepte von ewiger Dauer gewinnen, aber man gewinnt einen Rahmen, wie sich „die Dinge“ entwickelt haben und weiterentwickeln könnten. Freilich besteht auch in einer solchen Systembildung immer die Gefahr der falschen Widerspruchslosigkeit, weil durchweg eine starke Neigung besteht, Grundsätze aufzustellen, die die Widersprüche und Ungereimtheiten verdecken. Die Verbindung der Verfassungsartikel mit vorgeblich geltenden Werten hält zwar die Illusion aufrecht, man deduziere Ergebnisse – Ausgangspunkt der Deduktion ist aber nichts inhaltlich Bestimmtes, sondern etwas Allumfassendes.

III. Werte und Prinzipien oder: Die Invisibilisierung des Verfassungstextes 1. Drittwirkungsproblematik als Verfassungsproblematik Besonders deutlich wird die Problematik der Werte bzw. der normativen Inhalte192 der Grundrechte im Kontext der Drittwirkungsdiskussion. Die Anwendung der Grundrechte im Zivilrecht durch deutsche Gerichte wird im Grundsatz nicht mehr bestritten193. Die Begründung dieser Drittwirkung geht davon aus, dass die Grundrechte eine objektive (Wert-)Ordnung errichten, die auch auf privatrechtliche 190 Siehe hierzu die treffende Analyse der Reaktionen der „klassischen“ (i.e. systematischen) Jurisprudenz auf die permanent neu erzeugten Rationalitäten bei D. Lucke, Rechtstheorie 32 (2001), 159, 167. 191 Oben (Fn. 168). 192 K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 299. 193 Seit BVerfGE 7, 198 (Lüth); umfassend dazu K. Stern, Staatsrecht III / 1 (1988), § 76.

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Rechtsverhältnisse Einfluss nehmen kann. Strittig ist, ob dieser Einfluss mittelbar194 (über ausfüllungsbedürftige und ausfüllungswürdige Begriffe, insbes. Generalklauseln) bei der Konkretisierung bzw. Auslegung privatrechtlicher Rechtssätze wirksam wird, oder ob er unmittelbar195 auf vom Privatrecht erfasste Sachbereiche wirkt. Aus der Sicht eines Rechtsanwenders, der einen zivilrechtlichen Sachverhalt nach Bestimmungen des BGB beurteilen soll, scheint diese Unterscheidung darauf hinauszulaufen, dass er das GG entweder immer oder nur bei der Anwendung bestimmter Vorschriften (ausfüllungsbedürftige und ausfüllungswürdige Begriffe) beachten muss. Dagegen spricht aber, dass auch Zivilgerichte an die Grundrechte gebunden sind (Art. 1 III GG)196. Vor diesem Hintergrund wird die Grundsatzkontroverse mittelbare – unmittelbare Drittwirkung fragwürdig197, weil die unmittelbare Geltung der Grundrechte nie so verstanden wurde, dass Bürger A von Bürger B verlangen kann, sich mit ihm zu versammeln oder sich nicht zu versammeln (Art. 8 I GG). Und auch Günter Dürig198 macht in seiner Argumentation gegen Nipperdey deutlich, dass es im Kern darum geht, die eigenen Sachgesetze der Zivilrechtsordnung weiterhin beachten zu können und einer „Verstaatlichung“ des Privatrechts entgegenzuwirken. Die Frage, ob die Grundrechte mittelbar oder unmittelbar im Zivilrecht Wirkung entfalten, kann man insofern als Randproblem199 bezeichnen. Entscheidend ist die Frage, in welchem Verhältnis die „objektive (Wert-)Ordnung“ des GG zu den Grundrechtsvorschriften steht. Werden die Werte dieser Ordnung als normativer Inhalt der Grundrechte angesehen, dann haben sie an deren Verbindlichkeit gemäß Art. 1 III GG in vollem Umfange teil200. Angesichts der Tatsache, dass die objektive Wertordnung auch als eine Umschreibung des ius strictum angesehen werden kann201, ist die Denkfigur der „mit194 BVerfGE 7, 198 / 206; E 18, 85 / 92 f.; E 30, 173 / 187 f., 196 f.; st. Rspr. Grundlegend zur mittelbaren Drittwirkung: G. Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1 III, Rn. 27 ff.; Dürig begründet die Drittwirkung indes nicht aus einer „Ordnung“; dazu sogleich. 195 So dezidiert H.C. Nipperdey, in: Fs Molitor (1962), 17 / 24 und 26. 196 Zu diesem Problem differenziert: B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, (199915), Rn. 178 ff. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch H.H. Rupp, JZ 2001, 271 / 275 ff. 197 Das BVerfG hat zwischenzeitlich schon oft festgestellt, dass Zivilgerichte die Grundrechte „verletzen“. In E 7, 198 / 230 (Lüth) hatte das BVerfG noch formuliert, das Urteil des Landgerichts beruhe auf der Verfehlung grundrechtlicher Maßstäbe und verletzte „so“ das Grundrecht; in E 25, 256 / 269 (Blinkfuer) spricht es nur noch von Verstoß bzw. einer Verletzung des Grundrechts; dazu auch R. Alexy, Theorie der Grundrechte (19963), 490 f. 198 In: Gesammelte Schriften (1984), 215 / 239 f. 199 E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 159 / 166: Jedes Grundrecht ist „objektive Grundsatznorm / Wertentscheidung im Hinblick auf alle Bereiche des Rechts“; und 170: „Der Streit um die Drittwirkung „entpuppt sich . . . als ein Sekundär-, wenn nicht gar Randproblem“. 200 Wie Robert Alexy, Theorie der Grundrechte (19963), 484 ff., deutlich herausgearbeitet hat, leiten beide Konstruktionen aus der Verfassung Werte her, die im Zivilrecht, nach einer Abwägung mit anderen Werten, gelten. 201 Oben I.

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telbaren Drittwirkung“ keine Lösung, sondern eine Thematisierung des Problems „objektive (Wert-)Ordnung“. Dies wird besonders bei Günter Dürig202 deutlich, wenn er gerade im Blick auf die Drittwirkung entschieden auf die grundsätzlich gewährleistete individuelle Gestaltungsfreiheit abhebt. Robert Alexy203 hält der Argumentation Dürigs entgegen, es sei leicht zu widerlegen, „daß jede unmittelbare Drittwirkung zu einer unzulässigen Beseitigung oder Beschränkung der Privatautonomie führe“, „weil die Privatautonomie selbst Gegenstand grundrechtlicher Garantien und damit der Drittwirkung sei“. Abgesehen davon, dass Dürig nie leicht zu widerlegen ist, stellt Alexy lediglich auf die Schlussfolgerung von Dürig ab, nicht auf seine Begründung. Die Begründung liegt nicht in der Privatautonomie, sondern in den Grundrechten selbst, d.h. in der „grundsätzlichen Freiheit zur Gestaltung des rechtlichen Miteinander“204, die im Privatrecht angemessen geregelt wird, indem es die „Werte“ der Verfassung „nach eigenen Sachgesetzen“ mediatisiert205. Mit der letztgenannten Begründung bezeichnet Dürig das, worum es ihm letztlich geht: um eine differenzierte Dogmatisierung der Grundrechte, durch die es gelingt, eine Ordnung zu schaffen, in der die Werte, die in den Grundrechten verankert sind, Wirklichkeit erlangen. Die unmittelbare Drittwirkung sieht er dementsprechend als „Zerstörungswerk in systematischer Hinsicht“206. Dieses Zerstörungswerk wird aber erst dann in seiner tiefgreifenden Wirkung offenkundig, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Probleme sich aus der unmittelbaren Drittwirkung für die Intrastruktur ergeben. Es wurde schon wiederholt darauf hingewiesen, dass die Intrastruktur immer dazu neigt, in der Steuerungsklimax Zeit-Nähe-Macht ihre Koordination zu finden. Dementsprechend wird in der Bildung freiheitlicher demokratischer Staaten auch besonderes Augenmerk auf die Organisation der Hierarchien gelegt, in Besonderheit auf die Organisation einer Teilung der Gewalten. Inwieweit aber gerade diese Gewaltenteilung angesichts der Argumentationsfigur der „objektiven Wertordnung“ noch leisten kann, was sie leisten soll, ist zweifelhaft, so dass die Frage Madisons zur Befürchtung wird. Sie soll hier noch einmal in voller Länge zitiert werden207: „Will it be sufficient to mark with precision the boundaries of these departments [legislative, executive and judiciary] in the Constitution of the government, and to trust these parchment barriers against the encroaching spirit of power?“ Die Befürchtung wird zur Gewissheit einer Gefahr, wenn man sich vor Augen hält, dass das BVerfG (anders als der Supreme Court in den USA) immer noch als reines Verfassungsgericht gilt, In: Gesammelte Schriften (1984), 215 / 216 ff. Theorie der Grundrechte (19963), 491. 204 G. Dürig, in: Gesammelte Schriften (1984), 215 / 217. 205 G. Dürig, in: Gesammelte Schriften (1984), 215 / 239. Vgl. auch ders., in: Maunz / Dürig, Art. 1 III, Rn. 129 f. 206 In Bezug auf H.C. Nipperdey: G. Dürig, in: Gesammelte Schriften (1984), 215 / 222; ähnlich H. Ehmke, VVDStRL20 (1963), 53 / 70, der diesbezüglich von einer weder kleinen noch guten „Revolution“ spricht. 207 Der Nachweis findet sich oben: 2. Abschn. Einl. 202 203

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also nicht als Berufungs- bzw. Revisionsinstanz und daher in keinen funktionalen Zusammenhang eines Instanzenweges eingeordnet ist208, so dass es auch ohne weiteres als „oberinstanzliches Amtsgericht“209 tätig werden kann. Mit der „Behauptung“, die Grundrechte konstituierten eine „objektive (Wert-)Ordnung“, wird es vom „Hüter der Verfassung“ zum „Hüter des ius strictum“ und damit zum hierarchisch unbeschränkt höchsten autorisierten Rechtssprecher: die Intrastruktur kollabiert in der Spitze. Denn mit der Postulierung einer solchen Wertordnung kann die Verfassung unmittelbar auf jeder Ebene des Rechts durchgreifen und Rechtsanwendungen autorisieren, gleichgültig, ob man die Grundrechte selbst im Zivilrecht „mittelbar“ oder „unmittelbar“ gelten lassen will. Die Frage, wer besser entscheiden kann (eine Frage, die Dürig noch ausdrücklich stellt), wird irrelevant und die Drittwirkungsproblematik weitet sich zu einer allgemeinen Verfassungsproblematik, die im Spannungsfeld zwischen einer metarechtlichen und einer positiv-rechtlichen Sicht der Intrastruktur steht. Carl Schmitt210 brachte die metarechtliche Perspektive unter den Begriff des konkreten Ordnungsdenkens: „Für das konkrete Ordnungsdenken ist ,Ordnung‘ auch juristisch nicht in erster Linie Regel oder eine Summe von Regeln, sondern umgekehrt, die Regel nur ein Bestandteil und ein Mittel der Ordnung.“ Dagegen meint Hans Kelsen211: „Der metarechtliche Staatsbegriff bietet . . . die Möglichkeit, in oder unter seinem Namen dem positiven Recht ein System widersprechender ethisch-politischer Postulate entgegenzustellen.“ Aus diesen gegensätzlichen Positionen entwickelt sich die für uns entscheidende Grundsatzfrage: Kann man den Rechtssätzen einer Verfassung effektive Normativität verleihen und dabei zugleich der Forderung nach werterfülltem (damit aber auch eventuell rein ideologischem) Denken Raum geben? Hans Kelsen versuchte die positive Rechtsordnung gegen die Autokratie212 dadurch zu schützen, dass er der Charakterisierung des Staates als werthafte Ordnung eine klare Absage erteilte213. Dies mag in einer konstitutionellen Monarchie mit einer entsprechenden Verfassung214 auch gerechtfertigt, angesichts der heraufdämmernden faschistischen Bewegungen in Europa sogar notwendig gewesen 208 Zum SCt. vgl. W. Haller, Supreme Court und Politik in den U.S.A. (1972), 5 f.; zum BVerfG vgl. nur E 7, 198 / 207. 209 Besonders deutlich wurde dies in den „Soldaten sind Mörder“-Entscheidungen: s. etwa BVerfG v. 10. 7. 1992, NJW 1992, 2750 („Alle Soldaten sind potentielle Mörder“) oder BVerfG (Kammerbeschluss), NJW 1994, 2943 („Soldaten sind Mörder“); dazu etwa die Kritik von M. Herdegen, NJW 1994, 2933.; H. Sendler, ZRP 1994, 343; A. Steinkamm, NZWehrR 1994, 45; R. Stark, JuS 1995, 689; H. Tröndle, Strafgesetzbuch (199748), § 193, Rn. 14c, 14n. – Allgemein dazu W. Schmitt Glaeser, Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und Toleranzgebot, NJW 1996, 873. 210 Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (19932), 11. 211 In: Klecatsky / Marcic / Schambeck (Hg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule I (1968), 149 / 164 f. 212 Vgl. H. Dreier, Rechtslehre (1886), 249 ff. 213 Dazu auch O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung (1994), 159. 214 Siehe dazu E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 29 / 33 ff.

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sein215. In einer freiheitlichen Verfassungsordnung wie dem GG oder auch der U.S.-Constitution, in der Grundrechte als einklagbare subjektive Rechte verankert sind, kann die Rechtsordnung aber Werte nie völlig ausklammern. Dass Alexander Hamilton216 die Aufnahme von Grundrechten in die Verfassung mit dem Argument ablehnte, die Kodifizierung von Grundrechten postuliere eine Ausnahme von einer Macht des Staates, die dieser gar nicht haben solle, entspricht eine Sicht des Gemeinwesens, nach der die Gesellschaft dem Staat vorausgeht217. Unter einer Verfassung, die den Mitgliedern der Gesellschaft Rechte gegen den Staat einräumt, ist diese Idee einer Vor-Staatlichkeit der Gesellschaft nicht haltbar. Lassen sich Werte in einer freiheitlichen Verfassungsordnung nicht ausklammern und gibt es für das jeweilige Wertverständnis der Textanwender weder Maßstab noch Rechtssystemgrenzen, führt das zwangsläufig zur Dominanz der an der Hierarchiespitze stehenden autorisierten Textanwender. Diese Dominanz bringt die Intrastruktur stets in Gefahr, in hierarchischen Prozessen zu veröden. Das zu verhindern, ist eine zentrale Aufgabe der Dogmatik, und diese Aufgabe lässt sich nur bewältigen, wenn die Rechtssystemgrenzen beachtet und die Wertungsebenen dementsprechend differenziert werden. Werte auf Verfassungsebene können ihrer Grundaussage nach zwar keine anderen Werte sein als auf der Ebene des einfachen Rechts. Ihrem Wesen nach aber sind sie allgemein gehalten und sie werden von großen und zeitübergreifenden Gedanken geprägt. Werden sie in dieser Form, also gleichsam ungefiltert, auf die Ebene des einfachen Rechts und damit auch des konkreten Entscheidungsfalles heruntergezont, können sie allzu leicht das mannigfaltige Geflecht gewachsener Rechtsbereiche zerstören, und sie werden es in der Regel auch tun. Das Gebot der Wertungsdifferenzierung nach Rechtsebenen soll dem „Dualismus der Konstruktion“ keineswegs einem „Dualismus der Rechtsmoral“ das Wort reden218. Das Gebot soll aber erreichen, dass ideale und praktische Vernunft aufeinander bezogen bleiben und die Intrastruktur, die ihre Ausformung im GG, aber ebenso in Gesetzen, Rechtsverordnungen, Satzungen, Verwaltungsvorschriften, staatlichen Entscheidungen und praktischen Handhabungen ihre Gestalt findet, nicht abgezogen wird vom konkret Begreifbaren, vom Überschaubaren und Sachnahen. Je mehr die Werte auf den verschiedenen Ebenen und in Bezug auf konkrete Entscheidungssituationen entwickelt und angewandt werden, desto stärker wirkt die Wirklichkeit des konkreten Falles und desto wirklichkeitsgerechter 215 Es ist erstaunlich, dass man den Positivismus immer wieder als Wegbereiter des Nationalsozialismus diffamiert, obwohl es wohl nichts gibt, was einer totalitären Staatssicht ferner steht als ein wertneutrales Recht. Insofern nachgerade prophetisch F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), 3. Buch, I, Aph. 22. Das Zitat findet sich oben in Fn. 119. 216 The Federalist Nr. 84 (1788), 575 / 579. 217 Nach dieser Sicht sollten die Volksvertretungen die Rechte der Bürger gegenüber dem Souverän schützen; E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 29 / 36: „Die Volksvertretung selbst galt als Organ zur Wahrung der Freiheitsrechte und hatte weithin auch ein entsprechendes politisches Bewußtsein“. 218 Vgl. auch G. Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1 III, Rn. 131.

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wird die Entscheidung. Die Fallbezogenheit von Wertungsmaßstäben verhindert allzu theoretische Festlegungen und damit auch wirklichkeitsfremde Vorstellungen. Der Textanwender hat die Lebenssituation vor sich, er kann den konkreten Streit für die Beteiligten transparent und zufriedenstellend lösen. Werte allein genügen hierfür nicht. Es bedarf dazu vor allem auch der Beachtung von Rechtserkenntnissen, die sich in einer Reihe anderer praktischer Streitfälle bewährt haben, kurz: Es bedarf der Dogmatik als Steuerungsinstrument der Intrastruktur. Dass derartige Entscheidungen, z.B. im Zivilrecht, auch in ihrer wesentlichen Ausgestaltung im Bereich des Zivilrechts und durch Zivilrichter gefällt werden sollen, ergibt sich danach von selbst, so dass auch die Gefahr eines Kollaps der Intrastruktur an der Spitze gebannt wäre.

2. Grundsätze als Argumente Angesichts der Weite und „Allmacht“ von Werten im Kontext der juristischen Arbeit erscheint es notwendig, die Werte juristisch „einzufangen“, ihre Struktur zu erklären und ihre Verwendung zu reglementieren. Die Gefahr einer solchen Rationalisierung der Verwendung von Werten liegt allerdings darin, dass aus der dadurch bewirkten „ethischen Unruhe“ (Dürig unter Bezug auf Art. 1 GG) eine rechtliche Unruhe wird und dass es schließlich ganz unproblematisch erscheint, sie als Recht zu behandeln. In diese Richtung geht die Arbeit von Robert Alexy in seiner „Theorie der Grundrechte“219. Aus der Perspektive der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit dessen, was das BVerfG in seiner Werterechtsprechung tatsächlich unternimmt, ist dieses Vorhaben zunächst vielversprechend. Es gelingt Alexy auch, die Vielfalt der rechtlichen Argumentationsmuster und Begrifflichkeiten in eine einheitliche normtheoretischen Klassifizierung nach Regeln und Prinzipien zu fassen. Fragt man aber, warum die Werte gelten und wieweit sie zu Recht in Verfassungsargumentationen verwendet werden, dann findet sich dazu bei Alexy keine Antwort. Gerade dies aber ist die entscheidende Frage, weil sich nur aus ihrer Beantwortung das relative Gewicht der Werte untereinander und in Bezug auf den Verfassungstext bestimmen lässt. Alexys Grundrechtstheorie orientiert sich nach seinen Worten an dem, was tatsächlich als Rechtswissenschaft betrieben wird, also nicht am positiven Recht, sondern am „positiven Recht einer bestimmten Rechtsordnung“220, es ist eine „bloß empirische Rechtslehre“ i.S.v. Kant221. Nun erkannte Kant den bloß empirischen Rechtslehren (neben dem fehlenden Gehirn) noch zu, dass ihnen die Gesetze „vortrefflich zum Leitfaden dienen können“222. Dies kann 219 Vgl. insbesondere seine Ausführungen 32 ff. Zu den Problemen der juristischen Rationalisierung vgl. R. Unger, What Should Legal Analysis Become? (1996), 26 ff. 220 Theorie der Grundrechte (19963), 22. 221 R. Alexy, Theorie der Grundrechte (19963), 24, Fn. 10. Vgl. zu dieser Kategorie bei Kant oben 1. Abschn. 222 Metaphysik der Sitten, Rechtslehre (1797 / 98), AB 32 f.

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man von der Theorie Alexys aber nicht mehr sagen. Der Grund für diese Schwäche liegt darin, dass Alexy nicht nur erklärt, wie das BVerfG mit den Werten „hantiert“, sondern zu erklären sucht, wie man Werte als Recht begreifen kann, wie man also die Werte von ihren ethischen Wurzeln lösen und im spezifisch Rechtlichen verankern kann. Zu diesem Zwecke führt er Recht auf den Begriff des „Normsatzes“ zurück, auf das sprachliche Phänomen, „daß etwas der Fall sein soll“223. Der Normsatz ist nach Alexy das Grundelement des Rechtlichen, es ist der kleinste gemeinsame Nenner. In dieser Reduktion wird freilich viel verloren, unter anderem auch der geltungstheoretische Aspekt der Norm. Dieser Verlust wird spätestens dort erkennbar, wo Alexy versucht, einen überzeugenden Begriff der „Grundrechtsnorm“ zu bilden. Angesicht seines Ausgangspunktes in dem Satz „Grundrechtsnormen sind Normen“ und angesichts der Weite des Normbegriffs kann diese Bestimmung nicht sehr trennscharf sein – und sie ist es auch nicht224. Damit müsste der Titel seiner Abhandlung eigentlich lauten: „Normtheorie, dargestellt anhand grundrechtlicher Argumentationen“. Dementsprechend wird die folgende Unterscheidung von Regeln und Prinzipien auch ohne Bezug auf irgendeine besondere Eigenart von Grundrechten entwickelt225. Es wird im Wesentlichen lediglich festgestellt, dass man Normen nach Regeln und Prinzipien unterteilen kann und sollte226. Entscheidend dabei sei das Prinzip, eine Norm, die gebietet, dass etwas in Bezug auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in möglichst hohen Maße realisiert wird227. Ein Beispiel für ein Prinzip wäre die „Erhaltung und Förderung des Handwerks“228. Regeln können dagegen nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden. Eine Regel wäre z.B. „Eingriffe des Staates in Betätigungen, die zum Kunstbereich gehören, sind verboten“229. Dass Alexy im weiteren von einer „Prinzipientheorie“230 spricht, ist nicht verwunderlich, weil Regeln angesichts dieser Unterscheidung so gut wie nie dieselbe Nachhaltigkeit der Geltung erlangen können wie Prinzipien. Dies zeigt sich für die Frage der Geltung im Kollisionsfall, wenn also ein Prinzip auf ein Prinzip, eine Regel auf eine Regel oder ein Prinzip auf eine Regel trifft231. Während die „Erhaltung und Förderung des Handwerks“ als Prinzip Theorie der Grundrechte (19963), 46. Theorie der Grundrechte (19963), 40 und die Versuche auf den Seiten 53. 225 Theorie der Grundrechte (19963), 71 ff. 226 Theorie der Grundrechte (19963), 71. Diese Unterscheidung wurde im Wesentlichen von R. Dworkin, The Model of Rules I (1967) und II (1972), in: Taking Rights Seriously (1978), 14 und 46 entwickelt und von R. Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips (1979), in: Recht, Vernunft, Diskurs (1995), rezipiert. 227 Theorie der Grundrechte (19963), 75. Auf die verschiedenen Abgrenzungen von Regeln und Prinzipien soll hier nicht weiter eingegangen werden, weil das Problem der Prinzipien in unserem Zusammenhang nur in ihrer Begründung gesehen wird; vgl. zu möglichen Abgrenzungen: a.a.O., 73 ff. 228 Theorie der Grundrechte (19963), 119 mit Verweis auf BVerfGE 13, 97 / 110. 229 Theorie der Grundrechte (19963), 123. 230 Theorie der Grundrechte (19963), 100 ff. 223 224

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

auch weitergilt, wenn eine Schmiede geschlossen wird, weil ihre Lärmemissionen die Nachbarschaft stören, ist das wirksame Verbot der künstlerischen Verhüllung einer Verkehrsampel mit einer Stoffbahn das Ende der Geltung der Regel „Eingriffe des Staates in Betätigungen, die zum Kunstbereich gehören, sind verboten“. Zieht man die Geltung hinzu, dann unterscheiden sich Regeln und Prinzipien in ihrer normativen Qualität, d.h. in ihrer Art232. Und hier wird der Ansatz von Alexy fragwürdig, hier zeigt sich aber auch, dass seine Theorie im Wesentlichen nur als Rationalisierung einer durch Gesetze nicht mehr eindeutig zu determinierenden Rechtsprechung verstanden werden kann. Denn im Ergebnis sind Regeln nur noch als Rechtsanwendungsergebnisse von nachhaltiger Bedeutung, zum einen für die Rechtsunterworfenen, zum anderen als Sätze in Präjudizien233. Daneben aber, d.h. als Gesetz i.S.d. Art. 20 III GG, kann es kaum noch Regeln geben, die ein bindender Maßstab für die Rechtsanwendung sind. Als Beispiele für gesetzliche Regeln werden von Alexy insoweit immer nur Vorschriften wie das Rechtsfahrgebot oder Ladenöffnungszeiten234 genannt. Freilich spiegelt sich darin exakt das, was es der Dogmatik so schwer macht, eine kritisch-überprüfende Darstellung des Rechts zu bieten. Jeder auszulegende Rechtssatz führt zu Argumenten, die immer auch Grundsätze formulieren. Die juristische Denkfigur des Grundsatzes (sei es Prinzip, Leitbild, Wertung, Richtlinie, Impuls, Maßstab oder auch Wert) spielt in der Rechtsanwendung eine entscheidende Rolle235, wenn zum Ausdruck gebracht werden soll, dass das zu behandelnde Rechtsproblem eine gewisse rechtliche Tendenz aufweist. Ob man nun auf (verfassungs-)gesetzliche Formulierungen oder auf Vorstellungen von der Beschaffenheit des Vorgegebenen ausgeht – all diese Argumente (Gewerbefreiheit236, geregelter Strafvollzug237, Selbstverwaltung und Autonomie238 oder Grundversorgung239, die Liste ließe sich unbeschränkt fortsetzen) werden zu kurz- oder langfristig prägenden Vorstellungen der Rechtsordnung. Damit werden sie in der Tat zu „Normsätzen“ in dem Sinne, dass sie etwas Gesolltes Wenn R. Alexy, Theorie der Grundrechte (19963), 77, ausführt, der Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien zeige sich am deutlichsten bei Kollisionen, so mag das aus normtheoretischer Sicht richtig sein. Rechtlich ist es der Unterschied schlechthin. 232 In Theorie der Grundrechte (19963), 76, spricht R. Alexy selbst davon, dass Regeln und Prinzipien einen qualitativen Unterschied aufweisen. Die Zuweisung von Eigenschaften als qualitativ, graduell oder der Art nach, erscheint ihm freilich bedeutend, vgl. in: Recht, Vernunft, Diskurs (1995), 177 / 183 f.; wenige Seiten später (213 / 216) spielen solche Bewertungen dann aber keine Rolle mehr. 233 Dazu näher: Theorie der Grundrechte (19963), 504 ff. 234 Theorie der Grundrechte (19963), 76, Fn. 25, 78 (hier allerdings in der Einschränkung: „nach der Interpretation des Gerichts“). 235 Vgl. die Darstellung bei R. Alexy, Theorie der Grundrechte (19963), 33 f. 236 Vgl. dazu etwa BVerfGE 7, 377 / 399 (Apothekenurteil). 237 BVerfGE 33, 1 / 13 (Strafgefangene). 238 BVerfGE 33, 125 / 159 (Facharzt) 239 Siehe oben I. 231

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zum Ausdruck bringen. Die Ermittlung dieser Grundsätze erfolgt aber in unterschiedlichen zeitlichen und sachlichen Kontexten und unter Zugrundelegung unterschiedlicher Rechtssätze und Sachgesetzlichkeiten. In jeder Rechtsanwendung werden neue Überlegungen dazu angestellt, was das Recht vom Rechtsanwender in Bezug auf das rechtlich richtige Ergebnis verlangt. Also auch, wenn das BVerfG in verschiedenen Entscheidungen einen Grundsatz in immer derselben Formulierung verwendet, so ist doch die normative Bedeutung des Grundsatzes immer wieder unterschiedlich. Man denke hier nur an die Grundsätze „Schutz des ungeborenen Lebens“240 und „Recht auf Schwangerschaftsabbruch“241 in den Abtreibungs-Entscheidungen. Beide Grundsätze haben im Laufe der Zeit eine völlige Umwandlung ihrer relativen Geltung erfahren, obwohl sich das Verfassungsgesetz um kein Jota bewegt hat. Was also gilt? Begreift man Grundsätze in ihrer konkreten Funktion, die sie in Entscheidungen von Gerichten ausfüllen, dann sind es nichts anderes als Argumente242. Ihre Verwendung in einer juristischen Entwicklung des im konkreten Fall Ge- oder Verbotenen formuliert eine Tendenz der vorgestellten Entscheidung. Bei näherer Betrachtung der Argumente lässt sich erkennen, dass die Tendenzgebung zwischen repräsentativ und exklusiv oszilliert243. Beinahe in Reinform findet man die erste Alternative in den Schwangerschaftsabbruch-Entscheidungen, in denen sich das Verfassungsgericht darum bemüht, keine der beiden Grundsätze, weder den „Schutz des ungeborenen Lebens“ noch das „Recht auf Abtreibung“ ein für allemal für ungültig zu erklären. Das Gegenbild, die exklusive Tendenzgebung, wird (spätestens) seit der Elfes-Entscheidung244 bewusst vermieden. Es wird argumentativ alles getan, um den Eindruck zu vermeiden, für die endgültigen Entscheidung sei nur ein Grundsatz ausschlaggebend. Ungeachtet der beiden Idealtypen der argumentativen Tendenzgebung (Repräsentation, Exklusion) fordert die ganz überwiegende Meinung bei der Anwendung von Grundrechtsartikeln eine verhältnismäßige Zuordnung von Grundrecht und grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern, eine Ausrichtung auf den konkreten Fall. Diese Forderung findet in der Argumentation der Rechtsanwender Ausdruck in administrativen Tendenzgebungen. So formuliert das BVerfG in der Zweiten Schwangerschaftsabbruch-Entscheidung245: BVerfGE 39, 1 / 42 passim; E 88, 203 / 251 passim. Obgleich das BVerfG hier sehr vorsichtig formuliert, wird immer wieder das Recht auf Schwangerschaftsabbruch als „Verfassungswert“ (E 39, 1 / 43) oder „Rechtsgut“ (E 88, 203 / 255 f.) bezeichnet. 242 Mehr sagt auch R. Alexy, Theorie der Grundrechte (19963), 90 ff., nicht. Das Problem liegt – wie schon oben ausgeführt – nicht in seiner Konzeption, es liegt im Ansatz und der daraus ermittelten Rechtfertigung der Abwägung. 243 Das folgende geht im Grundsatz und in der Terminologie zurück auf Überlegungen von P. Kahn, 97 Yale L.J. 1 (1987) 3. Er unterscheidet Abwägungen nach „representative“, administrative“ and „zero-sum“. 244 BVerfGE 6, 32, vgl. insbes. 40 f. 245 BVerfGE 88, 203 / 255 f. 240 241

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„Ein Ausgleich, der sowohl den Lebensschutz des nasciturus gewährleistet als auch der schwangeren Frau ein Recht zum Schwangerschaftsabbruch einräumt, ist nicht möglich, weil Schwangerschaftsabbruch immer Tötung ungeborenen Lebens ist“. Die administrative Tendenz entspricht der Tatsache, dass die autorisierten Textanwender, die Inhaber staatlicher Gewalt, die Konflikte „verwalten“ müssen. Fragt man nun, ob die Entscheidungen des BVerfG administrativ-repräsentativ oder administrativ-exklusiv entwickelt werden, dann ist zu konstatieren, dass die meisten Argumentationen administrativ-exklusiv sind246. Grundsätze werden nicht gewogen – sie werden ab-gewogen. Das „Wiegen“ von Gründen, das Nicht-Eingestehen des administrativen Endzweckes, wird dabei auch von den Kommentatoren des BVerfG, zu Recht, als Spiegelfechterei verurteilt247. Paul Kahn248 bringt dies für Richter auf die prägnante Forderung: „He represents the Constitution to the community, not the community to the Constitution“.

3. Die Geltung des Textes Sind Werte, auch in einer Form als Grundsätze oder Prinzipien, nur Argumente und keine normativen Sollenssätze, dann können sie keine Geltung beanspruchen. Allenfalls soziologisch ließe sich ins Feld führen, dass sie von Richtern regelmäßig verwendet werden, dass Richter sich an sie gebunden fühlen; juristisch aber – und darauf kommt es an – sind sie weder Teil des Tenors noch gehören sie als Argumente zu den tragenden Gründen, sie sind immer nur bei-tragend. Auch eine ethische Geltungsbegründung scheidet aus. Sie widerspräche schon der Tatsache, dass 246 Vgl. etwa BVerfGE 7, 198 / 229 (Lüth: „Der Schutz des privaten Rechtsguts kann und muß um so mehr zurücktreten, je mehr es sich . . . um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf . . . handelt. Hier spricht die Vermutung für die freie Rede“); E 33, 303 / 333 f. (Numerus Clausus: Verweise auf „Haushaltswirtschaft“, „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“, „Funktionsfähigkeit . . . des Ganzen“); E 39, 334 / 349 (Extremisten: „Aus der dargelegten verfassungsrechtlichen Lage folgt zwingend: . . . ); E 69, 315 / 345 ff. (Brockdorf: Hier macht das Gericht zunächst – 345 f. – lange Ausführungen zur Bedeutung der Versammlungsfreiheit und setzt ihre Bedeutung gleich mit der der Meinungsfreiheit, die „seit langem zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen“ zu zählen ist. Für Versammlungsfreiheit „kann . . . nichts grundsätzlich anderes gelten“. In Bezug auf eine ausnahmsweise mögliche Anmeldepflicht wird nur vage auf mögliche zugrunde liegende Rechtsgüter verwiesen – 348 ff. –, ohne auch nur ein einziges zu benennen). Vgl. aus Sicht der Frage nach Gerechtigkeit U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten (1998), 155: „Gerechtigkeit ist auf lange Sicht weder universell noch statisch, die Gerechtigkeitsauffassungen einer Gesellschaft entwickeln sich gleichsam am Fall.“ 247 Hier dürfte sich zwischenzeitlich der Anti-Begriff „Güterabwägung“ durchgesetzt haben. Vgl. K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 72 und Fn. 31; Chr. Graf v. Pestalozza, in: Der Staat 2 (1963), 425 / 448; F. Müller, Juristische Methodik (19977), 71 ff. Vgl. auch die treffende Kritik von J. Habermas, Faktizität und Geltung (19944), 317: „Die Rechtsgeltung des Urteils hat den deontologischen Sinn eines Gebots, nicht den teleologischen Sinn des im Horizont unserer Wünsche unter gegebenen Umständen Erreichbaren“. 248 97 Yale L.J. 1 (1987) 5.

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das Verfassungsgericht die Argumente – selbstverständlich – durchweg als aus der Verfassung herstammend bezeichnet249. Es bleibt dabei: Prinzipien sind nur Argumente, die sich um den Text der Verfassung ranken und gegenwärtige Meinungen, Ansichten und Tendenzen zum Ausdruck bringen; und sie geben den Grundrechtsinhabern Hinweise darauf, wie das BVerfG zurzeit wohl argumentieren wird. Normatives wird erst erkennbar nach der administrativen Zurichtung, in der Entscheidung also250. Hier wird die Verantwortung der Richter greifbar, hier werden sie Staat: Die Entscheidungen binden (§ 31 BVerfGG). Dies alles soll freilich nicht so verstanden werden, als hätten die Gründe der Entscheidung keine Bedeutung. Ausschlaggebende Bedeutung aber haben nur tragende Gründe bzw. Gründe, die das Gericht für streitentscheidend erachtet. Es kommt also auf die administrative Zurichtung der Grundsätze an; erst in dieser Zurichtung werden sie zu Aussagen über das, was die Verfassung nach Ansicht des Gerichts fordert. Erklärt man z.B. die in den Abtreibungsentscheidungen vom BVerfG verwendeten Argumente „Recht auf Leben“ und „Recht auf Schwangerschaftsabbruch“ zu geltenden Grundrechtsnormen, dann ist damit zwar ein Maßstab für die Begründung strittiger Fälle gewonnen, keinerlei Maßstab aber ist gewonnen für die rationale Überprüfung der konkreten Entscheidung: das primäre Ziel der Prinzipienbildung, nämlich konzeptionell und strukturell greifbare Verfassungsanwendungen zu schaffen, verschwindet hinter dem diffusen Anliegen, Argumentationen für irgendwie akzeptable Lösungen zu finden251. Nun werden Grundsätze in juristischen Konzeptionen so gut wie ausschließlich nicht für sich allein, sondern im Kontext von Systemerwägungen als geltend angesehen. Dabei wird behauptet, dass die verschiedenen Erkenntnisse der Intrastruktur über eine abgestufte Struktur in eine mehr oder minder widerspruchslose Einheit gestellt werden können, indem man (induktiv) Grundsätze aus den Ergebnissen der Praxis oder (deduktiv) aus den (Verfassungs-)Gesetzen herleitet. Auch Robert Alexy252 stellt seine Prinzipien in ein System, freilich ein rein äußerliches Regelsystem. Ziel ist es, die Entscheidungen des BVerfG den jeweiligen Grundrechtsartikeln zuzuordnen und so zu zeigen, welche Erkenntnisse bisher gefunden wurden. Auf der Grundlage dieser Sammlung der Ergebnisse soll dann eine wissenschaftliche Überprüfung der Argumentationsschemata und ein vernünftiger(er) Diskurs über die Inhalte stattfinden. Dieses Anliegen ist vielversprechend, es be

249 Daher wehrt sich R. Alexy (Theorie der Grundrechte [19963], 152) auch gegen die Charakterisierung des Grundsatzes der Güterabwägung als „Leerformel“ durch Chr. Graf v. Pestalozza (in: Der Staat 2 [1963], 425 / 448) mit der Feststellung: „Das Abwägungsgesetz sagt, was rational begründet werden muß. Damit sagt es nicht nichts und ist deshalb keine Leerformel“. 250 Hier scheint die auf Kelsen bezogene Kritik von C. Schmitt, Politische Theologie (19342), 30, einschlägig: „Die Werte, auf die sich der Jurist bezieht, werden ihm zwar gegeben, aber er verhält sich ihnen gegenüber mit relativistischer Überlegenheit. Denn er kann aus allem eine Einheit konstruieren, wofür er sich juristisch interessiert“. 251 J. Berkemann, ARSP, Beiheft 45 (1992), 7 / 13. 252 Theorie der Grundrechte (19963), 498 ff.

15 Schmitt Glaeser

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dürfte dazu aber einer nachhaltig wirkenden wissenschaftlichen Schule, die bislang nicht entstanden ist und vermutlich auch nicht entstehen wird. Denn auch bei Alexys Forschungsprogramm steht am Anfang die „Unterwerfung“ unter die Argumentationen des BVerfG: letztlich geht es nur um eine Rationalisierung von Machtausübung. Auch bei noch so umstrittenen Entscheidungen des BVerfG findet sich kaum je eine Kritik am Ergebnis. Es wird immer wieder nur gezeigt, wie viel besser man das (gleiche) Ergebnis mit der Prinzipienlehre hätte begründen können253. Ein solch rationalisierender, wenngleich sicherlich auch kritischer Gehorsam kann aber selbst in einem Common Law-System nicht mehr akzeptiert werden, sofern es unter einer geschriebenen Verfassung steht. Hat ein Text den Monarchen ersetzt, dann steht Rechtsanwendung immer unter dem Vorbehalt des Verfassungstextes. Es geht dann nicht darum, das Interpretierte zu verstehen, sondern es geht darum, das Interpretieren zu verstehen. Text fordert methodischen Umgang mit dem Text. Und eine Dogmatik, die in einem Verfassungsstaat die Wahrnehmung der Ergebnisse der Intrastruktur „als etwas Geltendes“ steuern soll, muss der Macht der Intrastruktur entgegenwirken, weil andernfalls die Bürger, die autorisierten Textleser, ihr „Grundgesetz“ tatsächlich auch ebenso gut zur Laute singen könnten. Grundsätze dienen der Wahrnehmungssteuerung, nicht mehr, freilich auch nicht weniger. Die Dogmatik gibt Auskunft darüber, welche Grundsätze hinter den bisherigen Rechtsentscheidungen stehen. Die Tatsache aber, dass die Praxis, gesteuert durch die Dogmatik, in ihren argumentativen Begründungen Grundsätze heranzieht, um Tendenzgebungen rational nachvollziehbar und Entscheidungen vorhersehbar zu machen, kann nicht dazu führen, Grundsätze als Normen zu werten. Zur Verdeutlichung: Das Spannungsfeld von Grundrechten und Zivilrecht war in den Anfängen ein Streit zwischen zwei Lehren: der Günter Dürigs und der Hans Karl Nipperdeys254. Beide hatten unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man die in Art. 1 III GG vorgeschriebene Bindungswirkung der Grundrechte dogmatisch konkretisiert. Diese Konkretisierung erfolgte vor allem auch über das Formulieren von Grundsätzen: „absolute Wirkung der Grundrechte“ (Nipperdey), „unmittelbare Bedeutung“ (BAG), „sozialgebundene Freiheit“ (Dürig), „kein Zwang zur Freiheit“ (Dürig). Sowohl Nipperdey als auch Dürig bemühten sich um eine dogmatische Steuerungsleistung, eine Steuerung der Wahrnehmung der Rechtsanwender, wenn sie zivilrechtliche Probleme mit Grundrechtsbezug entscheiden müssen. Es ging um die Frage, welche Sätze des gesatzten Rechts wie wahrgenommen werden sollen. Dürigs Steuerungsvorschlag setzte sich in der BVerfG-Rechtsprechung im AnBeispielhaft die Stellungnahme R. Alexys (Theorie der Grundrechte [19963], 115 f.) zu BVerfGE 32, 54 (dazu auch oben 2. Kap. Teil 2 B): Er konstatiert zunächst, dass das BVerfG bei der Postulierung eines Betretungs- und Besichtigungsrechts in Räumen von Schnellreinigungen „Schwierigkeiten“ hatte. Sein Anliegen scheint sodann alleine darin zu bestehen, zu zeigen, „wie diese Schwierigkeiten durch Berücksichtigung des Prinzipiencharakters vermieden werden können“, dass es vom Standpunkt der Prinzipientheorie „nicht zu derartigen Problemen auf der Schrankenseite“ kommen kann; Hervorh. v. Verf. 254 Dazu näher oben I. 253

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satz durch, und damit war eine dogmatische Steuerungsleistung vollbracht. Die bisher getroffenen Entscheidungen und die Vielfalt der in der Zukunft möglichen Rechtsfragen, die im Spannungsfeld zwischen Grundrechten und Zivilrecht entstehen können, wurden durch einen grundsätzlichen Orientierungsvorschlag (einen dogmatischen Lehrsatz) allgemein vorhersehbar und (proskriptiv) nachvollziehbar. Dies bedeutete aber nicht, dass die Grundsätze „Freiheit zur Gestaltung des rechtlichen Miteinander“ oder „mittelbare Drittwirkung“ Verfassungsgrundsätze geworden wären. Es waren weiterhin lediglich (inzwischen stark modifizierte255) Orientierungstechnen der Rechtsanwendung. Dass das BVerfG in seinen Begründungen immer wieder auf diese Grundsätze zurückgriff, um eine administrative Tendenzgebung zu ermöglichen, macht sie noch nicht zu geltenden Normen, die in irgendeiner Form an die Geltung des Verfassungstextes heranreichen: Es war Interpretation, nicht Verfassungs-Text, der alleine Geltung besitzt. Die Feststellung, Geltung habe alleine der Text, bedeutet nicht, ein Text könne ohne Interpretation und Anwendung Folgen haben. Es bleibt bei der Erkenntnis, dass gerade der Verfassungstext ohne Intrastruktur nichts von dem bewirken kann, wozu er verfasst wurde. Aber die in der Dogmatik als Steuerungsinstrument der Intrastruktur gesammelten Erfahrungen, Rechtserkenntnisse, Lehrsätze etc. können Gültigkeit nur erlangen in Bezug auf den Verfassungstext, sie müssen Bestand haben vor der Verfassung. Dieser Bestand zeigt sich in der Zeit und nur im Blick auf die Zeit und durch die Erkenntnis der Vergänglichkeit von Erkenntnissen lässt sich eine Methodik der Verfassungsinterpretation entwickeln. Nichts blockiert dieses dynamische Zusammenwirken von Verfassungstext, Intrastruktur und Dogmatik so sehr wie die vergänglichkeitsnegierende Illusion der normativen Geltung von Grundsätzen. Hier liegt im Übrigen auch das Grundproblem des Gedankens der „Einheit der Verfassung“256, wonach „alle Verfassungsnormen . . . so zu interpretieren [sind], daß Widersprüche zu anderen Verfassungsnormen vermieden werden“. Diese Forderung ist nicht umzusetzen. Selbst wenn man alle Verfassungsnormen zu allgemeinen Grundsätze erhebt und wenn es dann noch gelänge, sie in der Theorie zu harmonisieren: irgendwann müssen sie angewendet werden und dann treten sie notwendigerweise in Widerspruch zueinander. Die Mannigfaltigkeit der praktischen Streitfälle lässt sich nicht in das Korsett harmonisierender Grundsätze zwingen. Das Leben ist keine geschlossene Einheit, sondern ein offenes Wechselspiel verschiedenster Elemente von unterschiedlicher Bedeutung in der Zeit. Auch die Verfassungsnormen sind in der praktischen Anwendung nicht widerspruchsfrei und ihre (relative) Bedeutung nehmen von Fall zu Fall ab oder zu. Was sie im Gleichgewicht hält ist nicht die Interpretation, es ist ihre Geltung qua verbindlichem Text. Diese Verbindlichkeit des Textes ist dabei kein Fakt, es ist eine Heraus255 So könnten neuere Entscheidungen des BVerfG Signale für die Konzeption einer mehr „unmittelbaren Drittwirkung“ sein: so etwa E 89, 1 zum „Mietereigentum“ (zulässige Kündigung wegen Eigenbedarfes); NJW 1994, 41 (zur Unzulässigkeit einer Kündigung wegen Überbelegung); NJW 2000, 2658 (zur Pflicht auf Duldung eines Treppenhauslift-Einbaus). 256 K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 71.

15*

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forderung an die Dogmatik. Sie muss den Text als anzuwendenden Text ernst nehmen und ihm gleichzeitig Selbststand lassen. Diese Herausforderung ähnelt – in aller Nüchternheit und ganz profan betrachtet – der Herausforderung, vor der die katholische Kirche seit etwa 1900 Jahren steht: Jesus von Nazaret ist die Quelle der Glaubenssätze des Neuen Testaments, er ist aber, nach dem Verständnis der römisch-katholischen Kirche, auch Kirchengründer. Er ernannte die Apostel als Interpreten seiner Worte und nannte den Gründervater der Kirche „Fels“ (Petrus). Betrachtet man die Worte Jesu als Verfassung der Menschheit und die Apostel (später vor allem die Bischöfe) als autorisierte Textanwender, dann lässt sich die Funktion der Dogmatik als Bewahrer eines Textes sehr deutlich erkennen. Dass sich die Kirche oft, nicht selten auch tragisch, geirrt hat, kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie den „Text Jesu’“ über Zeiten gerettet hat, die – mit Ausnahme der Thora257 – kein anderer Text (man denke etwa an die griechischen Philosophen) in dieser Vollständigkeit und Autorität überstehen konnte. Diese „Rettung“ war so effektiv, dass Martin Luther glauben konnte, der „Text Jesu’“ ermächtige ihn zur Reformation eines bedeutsamen Zweiges der Intrastruktur, die diesen Text etwa 1500 Jahre (wohl seit der Zeit des Ignatius von Antiochia) in „ihrer Gewalt“ hatte. Angesichts dessen nimmt es nicht Wunder, dass Luther bis zu seinem Lebensende Katholik blieb. Er musste der Intrastruktur vertrauen, wenn er an seinen Text als Grundlage seiner Revolution glauben wollte258. Gerade in der Verbindung von Text und Kirche kann man auch den Grund dafür sehen, dass eine menschliche Organisation – auch die katholische Kirche ist von Menschen organisiert – 2000 Jahre existieren konnte, ohne dass die Kontinuität ihrer Identität 257 Hier ist besonders interessant, dass sich auf der Grundlage der Thora spätestens seit dem letzten vorchristlichen Jahrhundert auch eine schulmäßige Behandlung rechtlicher Fragen entwickelte. Grundlage war teils die Thora, teils eine Tradition, die auf die Unterrichtung Moses durch Gott auf dem Berg Sinai gestützt wurde. Dominanz gewannen vor allem die Interpreten der Thora, die Amoräer, die die hebräische Schrift ins Amoräische übersetzten. In Palästina wurden sie „rabbî“ genannt. Ein entscheidender Aspekt der jüdischen Text-Konstanz (trotz fehlender Intrastruktur) liegt wahrscheinlich in der Tatsache, dass Minderheits-Interpretationen auch Teil der Tradition werden (müssen). Damit stabilisiert sich der Text als einzige „Wahrheit“. Gerade vor dem Hintergrund der tragischen Geschichte des jüdischen Volkes erlangt die Relativität der Auslegung in Bezug auf den Text eine weitere Dimension. Denn eine bestimmte Auslegung gefährdet die Theodizee als „die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt“. Dazu I. Kant, Theodizee (1791). Mit anderen Worten: Woody Allen kann in seiner Theodizee aus dem text-orientierten Glauben seiner Väter keine Antwort gewinnen, wenn er seine jüdische Mutter mit der Frage konfrontiert: „Warum gab es Nazis?“ (Hannah und ihre Schwestern, United Artists 1985). 258 Hier liegt wahrscheinlich auch der tiefere Grund der Akzeptanz einer Nicht-Revision des GG nach der Wiedervereinigung Deutschlands: Man sah die geschaffene freiheitliche demokratische Ordnung überwiegend als gelungen an. Dazu schon oben 2. Abschn. Einl. 259 Augenfälligen Ausdruck findet dies in den Namensänderungen der Päpste bei ihrer Wahl. Sie trennen sich damit einerseits von ihrer weltlichen Identität, andererseits ist die Wahl des Namens immer auch Ausdruck einer Traditionsakzentuierung. Besonders deutlich wurde dies in jüngerer Zeit bei der Namenswahl „Johannes Paul II“. Karol Jozef Wojtyla

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durchbrochen wurde259; und man kann es auch darauf zurückführen, dass die Vergehen, die durch, vor allem aber auch im Namen der Kirche begangen wurden, in der Kirche ohne konstitutionellen Bruch eingestanden und bewältigt werden können. Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, wie das Reden von Werten oder das Postulieren von Prinzipien „als geltend“ den Text der Verfassung relativieren. Jede dieser Formulierungen ist so „geltend“ wie das „Prinzip“ Papst Sixtus VI, Attentate in Kirchen sollten von Priestern begangen werden260, oder das „Prinzip“ des „allgemeinen Persönlichkeitsrechts“, das das BVerfG in der Soraya-Entscheidung formuliert261 – tatsächlich „gelten“ sie eben nicht. Was allgemein gilt ist das erste Gebot Mose bzw. Art. 1 ff. GG. Die Ermordung von Giuliano di Medici durch einen gedungenen Priester in einer Kirche bzw. die Schadensersatzpflicht einer bestimmten Zeitung, die ein unechtes Interview mit einer bestimmten Person abdruckt, mag ja auf einen Grundsatz gestützt werden können. Aber die Gültigkeit der Entscheidung bestimmt sich nach dem Text. Und hier hat auch die Kritik an der Unfehlbarkeit des Papstes ihren tieferen Grund: Wer höchster Interpret eines gültigen Textes ist, sollte nie Unfehlbarkeit beanspruchen. Die zentrale Geltungsbedeutung des Textes wird in einem besonderen Maße anschaulich, wenn sich um ihn unterschiedliche Interpretationen ranken oder seine Auslegung in der Zeit gar zu völlig gegensätzlichen Positionen führt. Mit jeder abweichenden Interpretation gewinnt er an Macht. Er gewinnt diese Macht, weil er selbst gleich bleibt und damit einen dauerhaften Anknüpfungspunkt für spätere Interpretationsveränderungen bildet. Er ist wie eine feste Schiene, auf der sich das Vehikel der Dogmatik als Steuerungsinstrument der Intrastruktur in der Zeit vorwärtsbewegen kann, um den Veränderungen Schritt für Schritt (fort-schrittlich) gerecht werden zu können – wobei ein Fortschritt auch einmal ein Schritt zurück sein kann; die „Schiene“ verweigert sich auch solchen „Rückschritten“ nicht. Der Text ermächtigt in diesem Rahmen der beweglichen Dogmatik nicht nur den autorisierten Textleser zur Mitwirkung an der Verfassungsdiskussion, er liefert auch den autorisierten Textanwendern die Textgehalte, die sie brauchen, um sich der Hierarchie und einer herrschenden Rechtsanwendung entgegenstellen zu können, um über die Verfassung mit Autorität zu diskutieren und gegebenenfalls auch auf der Basis der Verfassung zu entscheiden. Das 14. Amendment der U.S.-Constitution etwa wurde einmal als Grundlage einer Apartheid-Ordnung (miss-)verstanden. Das ist gründlich korrigiert worden, ohne dass sich der Text des 14. Amendments auch nur um einen Buchstaben verändert hätte. Hinter einer Berufung auf diese Verfassungsbestimmung steht heute die ganze Autorität des neuen Textlesers gegenüber einer Intrastruktur, die so oft zu einem „Missverstehen“ des Textes geführt hat. Für Deutschland gibt es ein – weniger spektakuläres – Beispiel anhand der grundrechtbezog sich damit wohl bewusst auf die Tradition der Ent-Distanzierung von Pontifex Johannes Paul I, ein Bezug, der u.a. in seinen umfangreichen Auslandsreisen Niederschlag fand. 260 Dazu H. Diwald, Anspruch auf Mündigkeit (1975), 124 ff. zum Attentat auf Giuliano und Lorenco di Medici in Florenz, 1478. 261 BVerfGE 34, 269 / 281 f.

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lichen Gewährleistung des Art. 14 GG, nachdem das BVerfG den Mietbesitz zu Eigentum erklärte262. Was immer hier als Missverständnis angesehen werden mag, die frühere oder die derzeitige Interpretation, der Rechts-Text ist fest, er hält – solange er nicht aufgehoben wird – auch die frühere Lesart in Wirkung und ermöglicht selbstverständlich auch eine Rückkehr zu ihr. Ob eine Interpretation richtig oder falsch ist, hat keine Bedeutung für den zentralen Stellenwert des Textes. Das ändert aber nichts daran, dass alle Bemühungen darauf zu richten sind, den Text (möglichst) richtig zu verstehen. Die Dogmatik muss daher die Ergebnisse der Intrastruktur auf ihre Widersprüche und auf ihre Textentsprechung hin analysieren; es geht um eine verfassungstexttreue Steuerung der Wahrnehmung der autorisierten Textanwender. Eine Dogmatik, die die Ergebnisse der Intrastruktur auf ihre Widersprüche und auf ihre Textentsprechung analysieren will, und die anstrebt, eine richtige, d. h. eine verfassungstreue Steuerung der Wahrnehmung der autorisierten Textanwender zu sein, darf sich nicht von den „großen Worten“ blenden lassen, die die autorisierten Textanwender verwenden, um ihre Ergebnisse als richtige Ergebnisse zu präsentieren. Entscheidend ist, wie sich im konkreten Fall das „vermachtete“ Recht in der Konfliktlösung ausgewirkt hat. Die Grundsätze (Argumente), die von dem Organ des Staates für die Entscheidung herangezogen wurden, sind vor diesem Hintergrund nur in ihrer administrativen Zurichtung von Bedeutung, d. h. in ihrem kontextualen und ihrem relativen Gewicht. Liest man die Schwangerschaftsabbruch-Entscheidungen oberflächlich, dann möchte man ihnen entnehmen, sie behandelten die Frage, wie man das Recht auf Leben mit dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung in Einklang bringen kann. Betrachtet man dagegen ganz nüchtern die Ergebnisse, dann bleibt davon nicht sehr viel übrig. Im ersten Urteil entschied das BVerfG, dass Ärzte, die mit Einwilligung der Schwangeren eine Abtreibung vor der zwölften Woche vornehmen, nicht generell straffrei gestellt werden dürften263. Im zweiten Urteil hieß es, dass man Abtreibungen ohne Notlagenindikation gesetzlich als rechtswidrig bezeichnen und dass der Staat die Beratung der Schwangeren so gestalten muss, dass sie ermutigt werden, ihre ungeborenen Kinder auszutragen264. Diese Ergebnisse erscheinen recht karg, und sie sind es auch. Fragt man danach, auf was sie im Wesentlichen gestützt sind, dann gelangt man schnell zu dem zwar kaum besonders herausgearbeiteten aber immer an zentraler Stelle formulierte Prinzip der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit bei der Erfüllung von Schutzaufgaben.265. Wenn die Dogmatik die Ergebnisse der Rechtsanwendung in diesen beiden Entscheidungen also in einen Grundsatz fassen wollte, dann könnte er so formuliert werden: Der Staat muss den Schwangerschaftsabbruch regulieren und dabei die Frauen vor überhasteten Entscheidungen schützen. Angesichts dieser „Rechtslage“ ist die Pos262 263 264 265

BVerfGE 89, 1 / 5 ff. Dazu etwa G. Roellecke, JZ 1995, 74 und näher unten C II. BVerfGE 39, 1 / 54 ff., 68. BVerfGE 88, 203 / 281 f. BVerfGE 39, 1 / 44; E 88, 203 / 254.

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tulierung einer Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs durch BVerfGE 88, 203 widersprüchlich und willkürlich, zumal auch kein Grund ersichtlich ist, warum die Sozialversicherung die Kosten von Abtreibungen übernehmen soll, die gesetzlichen Krankenversicherungen aber nicht. Vor dem Hintergrund dieses Standes der Intrastruktur sind die Grundsätze, die das BVerfG in seinen Entscheidungen formuliert, weitestgehend ohne Bedeutung. Ihre ständige Wiederholung führt lediglich dazu, dass man die sehr bedeutsame Frage des Schutzes des ungeborenen Lebens und der Situation der Frau oder werdender Eltern in einer Arbeitswelt, die z.B. die Unterbrechung der Karriere wegen Schwangerschaft immer noch als „Schwangerschaftsurlaub“ bezeichnet, nicht vor dem Hintergrund des Verfassungstextes diskutiert, sondern vor der Kulisse von Recht auf Leben und Recht auf Abtreibung „abwägt“. Gerade in derartigen Grundsatzfragen des Gemeinwesens bestätigt sich die, vor allem in den Anfängen der Bundesrepublik noch klar formulierten Sorge, der objektiven Gehalt der Grundrechte beseitige ihre Abwehrfunktion. Wird das Tötungsverbot als Nicht-Tötungs-Grundsatz verstanden, dann muss die Sorge bestehen, dass man viele Menschen töten kann, ohne an der Geltung des Art. 2 II 1 GG zu rütteln. Diese Sorge ist nach wie vor aktuell. Man kann und muss aber noch eine andere Sorge haben, die Sorge nämlich, dass man vor lauter Grundsatzfragen die praktischen Problem vergisst und bei jeder rechtlichen Frage, die die Schwangerschaft betrifft, sofort die juristischen Sturmgewehre aus dem Schrank zieht. Mit anderen Worten: Je grundsätzlicher das BVerfG in seinen Entscheidungen argumentiert, umso größer wird die Verpflichtung, gerade auch der religiösen Organisationen, Stellung zu nehmen. Wenn das BVerfG meint, es gebe ein „grundsätzliches Recht auf Leben“ und ein „grundsätzliches Recht auf Schwangerschaftsabbruch“, dann argumentiert es auf einem Niveau, das dem einer Kirche entspricht – daher muss die katholische Kirche (schon qua Missionierungsauftrag) widersprechen, wenn das Gericht in der Folge den Lebensgrundsatz einschränkt. Würde das Gericht dagegen nicht als Werte-Künder auftreten, könnte man die anstehenden Fragen weitaus gelassener (wenn auch mit dem natürlich nötigen Ernst) erörtern. Auch deshalb gibt es in Texte gefasste Gesetze, die mit Tatbestand und Rechtsfolge Normen statuieren. Gerade in diesen schwierigen Fragen der Verfassungsgemeinschaft zeigt sich die Invisibilisierung des Textes, die das Hantieren mit Werten, Grundsätzen und Prinzipien mit sich bringt. Wenn das Verfassungsgericht dies in seinen Begründungen tut, ist dies angesichts des politischen Drucks nachvollziehbar, aber keineswegs annehmbar266. Das „Nachschreiben“ solcher Begründungen durch die verfassungsrechtliche Dogmatik ist nicht nur wenig sinnvoll, es gefährdet auch die Intrastruktur der Verfassung, die darauf angewiesen ist, dass ihre Ergebnisse auf den Verfassungs266 Und hier hat das BVerfG wahrscheinlich schon großen Schaden an seiner eigenen Glaubwürdigkeit angerichtet. Man kommt nicht umhin festzuhalten, dass sich ein Gericht selbst die Autorität entzieht, wenn es vom Grundsatz des Lebensschutzes spricht und dann zu dem kargen Ergebnis kommt, dass folglich die gesetzlichen Krankenversicherungen (und nur diese) die „Tötung“ nicht bezahlen (dürfen).

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text ausgerichtet bleiben. Eine Methodik des Verfassungsrechts muss daher auch eine dogmatische Methodik sein. Dazu bedarf es vor allem eines Instrumentariums der Grundsatz-Analyse, d. h. es muss eine Methode eingeführt werden, die das bisherige Verstehen des Textes festlegen kann. Dabei muss es sich um eine entwicklungsgeschichtliche Methode handeln, mit deren Hilfe herausgefunden werden kann, welche Grundsätze bei dem Verstehen des Textes bisher ermittelt und welche Ergebnisse gefunden wurden. Eine solche Methode kann, ja muss auch Wissenschaftskritik, Lehrbuchkritik und Kommentarkritik sein. Sie muss die Wahrnehmung in Bezug auf die dogmatischen Steuerungsleistungen führen und so die Vorverständnisse des Verfassungstextes aufdecken. In diesem Vorverständnis sind alle Fehler, vorgeblichen Erkenntnisse und richtigen Aussagen enthalten, die etwa 60, in den USA über 200 Jahre Arbeit an der Intrastruktur der Verfassung enthalten. Hier liegt ein Schatz von Erfahrungen mit dem Text, es finden sich aber auch Missverständnisse, die erst in unserer Zeit entschlüsselt werden können, im Rückblick, aber auch im Vorblick auf die Zukunft, die unsere Erkenntnisse zum Teil wieder als Missverständnisse erkennen wird. Dabei ist es besonders bedeutsam, dass die Auswirkungen der Entscheidungen der Spitze der Hierarchie im Sediment der Intrastruktur, dort also verstanden werden, wo die Intrastruktur auf die Menschen trifft, deren Individualpositivierungen in dem Machtgefüge Staat zu einem Gesetz der Freiheit vereinigt werden sollten. Ohne die dogmatische Überprüfung dieser Auswirkungen wird der rechtlich geordnete Staat zu einem aristokratischen Staat, einem Staat, der im Ergebnis höhere Position mit höherer Weisheit gleichsetzt. Auch wenn es für die Steuerung der Intrastruktur unerlässlich ist, Ergebnisse durch Grundsatz-Bildung immer wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so müssen Grundsätze doch stets auch als sekundäres Rechtsinstrumentarium begriffen werden, weil sie ansonsten eine klare Sicht auf das rechtliche Geschehen in der Intrastruktur verwischen. Das Problem der Grundsätze ist dabei vor allem ihre „Allerwelts-Geltung“. Wenn aus einem Verfassungsrechtssatz ein Grundsatz hergeleitet (oder ihm vorgestellt) wird, dann gilt er (potentiell) in der gesamten Rechtsordnung, die „Plurivalenz der Wertungsgehalte“267 ergießt sich über die gesamte Rechtsordnung, eine Überwucherung (Dürig) ist unvermeidlich, nicht zuletzt deswegen, weil es die PluriJ. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 100. 268 Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass der Rechtsanwender immer auch einen Willen zur Gestaltung hat und eine Vorstellung von dem, was in dem konkreten Fall geschehen sollte. Grundsätze sind in ihrer Sollensstruktur auf diesen Willen nicht eingestellt, sie können auch – anders als ein Gesetzestext – nicht als Willen „eines anderen“ begriffen werden. Die Vorstellung, dem Willen „eines anderen“ zu gehorchen, wenn man als Jurist Recht anwendet, ist aber notwendig, um die (gerade auch Richtern) zugeteilte Amtsgewalt nicht als Freiheit i.S.v. Willkür zu missdeuten. All diese Fragen können hier nicht vertieft erörtert werden. Der folgende Ausschnitt der Überlegungen F. Nietzsches, Jenseits von Gut und Böse (1886), I, Aph. 19, erscheint dem Verf. als anschauliche Beschreibung der möglichen Gestalt des Willens in Entscheidungssituationen: (1) In „jedem Wollen ist . . . eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl eines Zustandes, von dem weg. Das Gefühl des Zustandes zu dem hin, das Gefühl von diesem „weg“ und „hin“ selbst . . . 267

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valenz unmöglich macht, einen Grundsatz ohne Willkür anzuwenden268. Um Bruce Ackerman269 zu zitieren: „One person’s ,prejudice‘ is, notoriously, another’s ,principle‘.“ Und dreht man den Satz um, dann stimmt er auch: Das Prinzip des einen ist das Vorurteil des anderen.

4. Grundsätze als Einbruchstellen der Ideologie der Anderen Der Grundsatz „hinter“ einer Gesetzesvorschrift ist in aller Regel das als verbindlich angesehene Telos einer Norm270, der über einen „Grundsatz der Grundsatztreue“ verallgemeinert wird. Mit anderen Worten: Ein Grundsatz ist die Behauptung, dass ein Rechtssatz einen bestimmten Sinn hat und dass dieser bestimmte Sinn für ein bestimmtes Rechtsgebiet oder für das ganze Recht Bedeutung besitzt. Um noch einmal das oben271 angeführte Beispiel von Canaris heranzuziehen: Die „Haftung nur für einen in zurechenbarer Weise gesetzten Rechtsschein“ ist das Telos des § 172 I BGB. Damit ist der Gesetzestext Telos-Vermittler und aus dem Telos wird ein Grundsatz und der Text ent-schwindet. Die einzige Begründung für ein solches Vorgehen ist die Vermeidung von Wertungswidersprüchen, eine Begründung die vor allem deshalb so erstaunlich ist, weil die §§ 172, 370 und 405 BGB unterschiedlich formuliert sind und ganz unterschiedliche Rechtsscheinträger betreffen (Vollmachtsurkunde, Quittung, Beweisurkunde). In der Verfassung ist die Neigung zur Verallgemeinerung des Telos einer Vorschrift in aller Regeln noch größer als im Zivilrecht, weil viele Verfassungsvorschriften ungemein weite Sachverhaltsfelder abdecken. Besonders deutlich wird dies in Art. 20 I GG, der die Staatsform normiert und an dessen Telos über die Begriffe Bundesstaat, Demokratie, Rechtsstaat, Republik und Sozialstaat jeder nur denkbare rechtliche Grundsatz angeknüpft werden kann. Dies ist im Kern auch die Techne, die das BVerfG nutzt, (2) „in jedem Willensakt gibt es einen commandierenden Gedanken; – und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem ,Wollen‘ abschneiden zu können, als ob dann nur noch Wille übrig bliebe! . . . (3) Drittens ist der Wille nicht nur ein Komplex von Fühlen und Denken, sondern vor allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando’s. Das, was ,Freiheit des Willens‘ genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss: ,ich bin frei, ,er‘ muss gehorchen‘ – dies Bewusstsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixiert, jene unbedingte Werthschätzung ,jetzt thut dies und nichts anderes Noth‘, jene innere Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum Zustande des Befehlenden gehört.“ 269 98 Harv.L.Rev. 713 (1985) 737. 270 Diese „Prinzipienermittlung“ wird von J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 41, wie folgt beschrieben: „Der vermeintlich eigene Zeichenwert der Begriffe ist . . . abhängig von der Rückinformation aus dem vorgestellten Ergebnis, welche den Rechtsanwender in die Lage setzt, die Begriffsbedeutung des Tatbestandes ,befriedigend‘ zu verstehen“. 271 Unter II 2.

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wenn es die Meinungsfreiheit als für die freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend und als „für die moderne Demokratie unentbehrlich“272 bezeichnet. Damit wird (unterschwellig) die Freiheit der Meinungsäußerung als Grundsatz des Art. 20 I GG etabliert und eine administrativ-exklusive Tendenzgebung zugunsten der Meinungsfreiheit vorbereitet. In der methodischen Problematik unterscheidet sich dieses Vorgehen nicht wesentlich von der Verallgemeinerung des Telos von § 172 I BGB. Denn auch der Argumentation des BVerfG lagen oft Sachverhalte zugrunde, in denen man das Telos des Art. 20 I GG durchaus mit guten Gründen hinzuziehen konnte. Gerade der Fall Lüth273 bot solche Gründe, weil sich in ihm die Frage stellte, unter welche rechtlichen Kautelen der öffentliche Meinungskampf gestellt werden darf. Dass hierbei der Demokratiegedanke eine wichtige Rolle spielt, wird sich nicht bestreiten lassen. Es wäre aber doch einer gründlichen Überlegung Wert gewesen, ob gerade Boykottaufrufe zum Arsenal demokratischer Meinungsäußerungen gehören kann. Tatsächlich kommt das Gericht dann schon in seiner Blinkfüer-Entscheidung274 mit dieser rechtlichen Charakterisierung von Boykottaufrufen nicht mehr zurecht. Das Problem aber liegt darin, dass die Dogmatik inzwischen die Freiheit der Meinungsäußerung immer auch als Grundsatz des Art. 20 I GG versteht275. Damit wird die Wahrnehmung der Textanwender in der Intrastruktur der Verfassung so gesteuert, dass der Meinungsäußernde dem Status des Parlamentsabgeordneter (mit entsprechender Immunität) nahe kommt. Dass man die Funktion der Meinungsfreiheit und ihr Verhältnis zur Demokratie gerade unter dem Text des GG (siehe nur Art. 5 II GG) auch anders sehen kann, wird in der Dogmatik so gut wie nicht mehr erörtert276. In beiden Beispielen wird deutlich, dass die Verbindung von Telos und Grundsatz den Text der Verfassung gleichsam aus der Methodik der Rechtsanwendung entfernt. Für das BVerfG ist allein entscheidend, dass die Meinungsfreiheit für die Demokratie konstituierend ist. In dieser Deutung eines Bezuges von Art. 5 und Art. 20 I GG liegt alle Weisheit und sie bestimmt die Problemlösung. Für Canaris ist die von ihm vorgestellte Allgemeingültigkeit des behaupteten Telos von § 172 I BGB entscheidend. Die allen zugängliche Grundlage des Rechts der Rechtsscheinträger und die von allen erlebte Wirklichkeit der Verwendung von Vollmachten, Quittungen und Beweisurkunden haben in seiner Deutung der Zusammenhänge 272 Vgl. nur BVerfGE 7, 198 / 208; E 12, 205 / 259 ff.; E 20, 162 / 174; E 27, 71 / 81; E 52, 283 / 296; E 85, 1 / 16. 273 BVerfGE 7, 198 ff. 274 Zur Problematik des Lüth-Falles in Bezug auf Boykottaufrufe und zu den BlinkfuerKriterien unten C II. 275 So z. B. K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 387: „konstituierende Elemente objektiver demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnung“. 276 Die Kritik wendet sich meist (nur) gegen die Ergebnisse: M. Kiesel, NVwZ 1992, 1129; M. Kriele, NJW 1994, 1897, wobei, die Argumentationen oft in einer Art von Evidenz-Vorführung besteht: Man schildert die Ergebnisse und appelliert an die Evidenz der Unrichtigkeit. Vgl. auch W. Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873.

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aufzugehen. Damit kommt es, um eine pointierte Formulierung von Odo Marquard277 aufzugreifen, zum hermeneutischen Totschlag durch Eindeutigkeit. In der konkreten Fallentscheidung ist ein solcher „Totschlag“ sehr wohl nicht nur notwendig, er ist auch erwünscht: das Recht soll schließlich Konflikte lösen. In der Verallgemeinerung dieses „Totschlagens“ zur Konstituierung einer Ordnung aber, einer Prinzipienordnung, einer „objektiven (Wert-)Ordnung“, werden die Grundsätze zu Glaubenssätzen, der Vorwurf der Ideologie wird sichtbar. Der Vorwurf der Ideologie trifft eine Rechtsanwendung in aller Regel dann, wenn sie eine falsche Sicht der Wirklichkeit zugrunde legt und / oder einen nichtrechtlichen Maßstab verwendet. Die „klassische Formenreihe des falschen Bewußtseins: Lüge, Irrtum, Ideologie“278 kann als Testverfahren für falsche Rechtsanwendung im post-formalistischen offenen Verfassungsstaat dienen. Denn – wie schon gesagt – was dem Einen sein Prinzip ist dem Anderen dessen Vorurteil279. Was Canaris selbst als richtige Gestaltung des wirtschaftlichen Verkehrs sieht, sehen andere als falsche Sicht. Was Canaris als Prinzip aus § 172 BGB herausliest, sehen andere als Überinterpretation einer engen Ausnahme des Prinzips, das in den §§ 370, 405 BGB aufscheint. Dieser Widerspruch muss in der konkreten Rechtsanwendung durch Judiz entschieden werden. Bezogen auf den konkreten Fall kann man eine falsche Sicht der Wirklichkeit und ein falsches Verstehen des Rechts praktizieren, ohne dass die Entscheidung damit schon ideologisch wäre. Wer dies behauptet, muss darüber aufgeklärt werden, dass niemand eine wahre Sicht der Wirklichkeit oder ein wahres Verständnis des Rechts für sich in Anspruch nehmen kann. Ideologisch aber wird die Entscheidung im Moment der Allgemeinsetzung, in der Verallgemeinerung, in der Verobjektivierung der eigenen beschränkten Sicht. Was dem einen seine Wertordnung, ist dem anderen dessen Ideologie: Ideologie ist immer die „Ideologie der Anderen“280. Gerade die Abtreibungs-Entscheidungen zeigen, dass das BVerfG in seinen Begründungen eigentlich nur noch ideologische Gegensätze repräsentativ formuliert, die trotz des Textes der Verfassung Gesellschaft und Staat in Konflikt halten. Das Verfassungsgericht ist offenbar der irrigen Meinung, die Gesellschaft gegenüber der Verfassung repräsentieren zu sollen. Nur so ist es erklärlich, dass ein Recht auf Leben des nasciturus und ein Recht auf Abtreibung „aus“ der Verfassung „hergeleitet“ werden, obwohl sich beide Rechte, streng genommen, deckungsgleich ausschließen281. Gerade in dieser GeApologie des Zufälligen (1986), 98 / 108 f. P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft I (1983), 54. 279 B. Ackerman, 98 Harv.L.Rev. 713 (1985) 737. Vgl. auch N. Poulantzas (Political Power and Social Classes [1973], 203) bezeichnet es als Eigenschaft der Ideologie, dass sie die tatsächlichen Widersprüche verbirgt, um auf einer vorgestellten Ebene einen relativ widerspruchslosen Diskurs wiederherzustellen, der als Horizont der Erfahrungen des Handelnden dient. 280 Vgl. z.B. die treffende Kritik bei F. Kübler, in: Fs Esser (1995), 91 / 97 f. an den Widersprüchen in der Behandlung der Ideologie bei Bernd Rüthers. 281 Auch nach der Abdankung des rationalen Gesetzes: so widersprüchlich wie dieser Repräsentationsversuch sind ansonsten allenfalls Steuergesetze. 277 278

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gensätzlichkeit zeigt sich aber auch, dass das BVerfG in dem Recht auf Leben des nasciturus und dem Recht auf Abtreibung an sich nur zwei Vorstellungen von der Wirklichkeit zu Verfassungsgrundsätzen stilisiert, die beide nicht den Gegebenheiten entsprechen, die Wirklichkeit überfordern und auch in diesem Sinne als Ideologien bezeichnet werden können282. Beide Grundsätze sind keine möglichen Normierungen der Wirklichkeit, sie normieren vielmehr lediglich die Vorstellung von einer idealen Wirklichkeit, die man so beschreiben könnte: Hinter dem Recht auf Leben des nasciturus offenbart sich die Vorstellung einer idealen Welt, in der das Leben von Anfang bis Ende als gottgewollt begriffen und geachtet wird. In dieser Welt gibt es keine Abtreibung, keine Euthanasie, keinen Mord oder Totschlag und keine Todesstrafe. Hinter dem Recht auf Abtreibung steht die Vorstellung einer Welt, in der der Mensch seine Geschicke ohne die Beeinträchtigung durch Zufälle, Fremdbestimmung und Entmachtung selbst bestimmt und zu jeder Zeit alle Möglichkeiten des Lebens neu ergreifen und ausschöpfen kann. Beide Idealvorstellungen schließen sich nicht aus, sie sind nicht einmal thematisch aufeinander bezogen; in keinem Fall aber kann man sie auf das Recht beziehen, weil sie als Recht der Wirklichkeit zu viel, zu wenig oder eine zu ihr beziehungslose Funktion zuordnen würden283. Man kann von diesen Perspektiven her berechtigte politische Forderungen stellen und man kann versuchen, sie in Verfassungen oder Gesetzen festschreiben zu lassen. In homogenen Gesellschaften oder Zeiten revolutionärer Umstürze können solche Forderungen auch (zumindest mittelfristig) verwirklicht werden. In pluralistischen Gesellschaften aber ist ein solches Unterfangen notwendigerweise zum Scheitern verurteilt.

C. Die Aufgabe der Dogmatik Die Postulierung von Grundsätzen ist verführerisch. In ihrer hehren Unbestimmtheit erscheinen sie besonders geeignet, eine Vermittlerrolle einzunehmen zwischen dem Recht, insbesondere dem Verfassungsrecht einer pluralistischen Gesellschaft und den vielfältigen und unterschiedlichen Vorstellungen (Individualpositivierungen) über das richtige Recht in der staatlichen Gemeinschaft. Tatsächlich ist die Vermittlung aber nichts anderes als schöner Schein und herbe Täuschung. Mit der administrativen Zurichtung der Grundsätze als Argumente 282 O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 42, Fn. 23: „,Ideologisierung‘ besteht nicht in der Bestimmung, sondern in der Verfälschung der Funktion einer Wirklichkeit (darin, daß ihr zu viel, zu wenig oder zu ihr beziehungslose Funktion zugemutet wird [sic]), d.h. nicht in ihrer Zweckbeziehung, sondern in ihrer Zweckentfremdung“. 283 Hier kann das Völkerrecht als Referenzgebiet dem Verständnis dienen. Wenn sich einige Staaten in einer bestimmten Weise verhalten (etwa Grundrechte schützen), dann finden sich sehr rasch Interpreten, die dieser Wirklichkeit rechtlich zu viel zumuten und die völkerrechtliche Grundrechtsgeltung ausrufen. Damit ist sie aber weder geschaffen, noch „gilt“ sie deshalb. Der einzige Effekt sind Pressemitteilungen wie: „In seinen Gesprächen hat der Bundeskanzler auch die Frage der Menschenrechte angesprochen“.

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brechen alle unterschiedlichen Ansichten und Widersprüchlichkeiten in voller Schärfe aus. Hinzu kommt noch, dass die Maßstäbe der Kritik und Diskussion nach der Vergrundsätzlichung des Rechts noch diffuser werden, als sie es davor schon waren. Gerade für die Steuerung der Intrastruktur ergeben sich in der Folge kaum überwindbare Probleme. Denn jede Vergrundsätzlichung des Rechts führt dazu, dass die Abschichtung des Rechts in den verschiedenen Konkretisierungsebenen der Intrastruktur ausgehebelt wird; es folgt, was Günter Dürig mit „Überwucherung des Rechts“ bezeichnet hat. Jede Frage – und sei sie noch so konkret und sachbezogen – wird zum Grundsatzproblem. Freilich darf man nicht aus den Augen verlieren, dass die Intrastruktur und damit auch die Dogmatik die Verfassung und den Verfassungstext zu ihrer Grundlagen haben: Und eine Verfassung ist nicht so sachnah und anwendungsbezogen wie ein Milchgesetz, und sie soll es auch nicht sein. Sie ist – wie schon betont284 – der Ort für große und zeitübergreifende Gedanken. Diese Spannung muss bewältigt oder wenigstens ausgehalten werden, will man beides bewahren: Die Information über die AusWirkung des Rechts ebenso wie die übergreifenden Ideen und zukunftsweisenden Vorstellungen.

I. Die Geltung des gesatzten Rechts – eine Weichenstellung Um Texte anzuwenden muss man den Text auf die Realität und die Realität auf den Text zurichten (Josef Esser). Die Bedeutung der Realität wird damit ebenso erkennbar wie die des Textes. Sie sind gleichsam die beiden Pole, die in ein fruchtbares Verhältnis zueinander gebracht werden müssen, indem ein Ergebnis, eine Entscheidung erzielt wird, die beiden gerecht wird, dem Text und der Realität. Erkennbar aber wird noch etwas anderes, signalisiert in dem Wort vom „Zurichten“: Es ist ein durchaus subjektiver Vorgang, denn es sind die Rechtsanwender, die ihn zu bewältigen haben, und sie werden – naturgemäß – von ihren Vorverständnissen entscheidend mit-geleitet. Auch der Rechtsanwender hängt an seinen Individualpositivierungen und diese Crux lässt sich auch nicht dadurch entschärfen, dass man den autorisierten Textanwendern höhere Einsicht unterstellt. Das Unbehagen des Richters Learned Hand gegenüber „platonischen Wächtern“ ist – wie schon betont285 – sehr wohl begründet. Nicht überzeugend ist dagegen seine daraus gezogene Folgerung, die Verfassungsinterpreten mögen sich auf die organisatorischen Bestimmungen der Verfassung beschränken und die Grundrechte der Politik überB III 1. Dazu oben B. 286 Vgl. dazu in Deutschland M. Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, NJW 1976, 777; Learned Hands Forderung nach Zurückhaltung ergibt sich sicherlich auch aus langer richterlicher Tätigkeit; vgl. dazu auch die Überlegungen von Bundesverfassungsrichter a.D. K. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht (1988), 24 ff. 284 285

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lassen. Richterliche Zurückhaltung286 bzw. Zuweisung von Grundsatzfragen an die Parlamente287 lösen das Problem nicht; denn es gibt immer wieder Fragestellungen, in denen ein Verfassungsgericht gefordert ist, vor allem aber, in denen es sich gefordert sehen wird288. Das Vorverständnis der autorisierten Textanwender lässt sich also nicht wegretuschieren und daher ist es auch unmöglich, mit dem Text (allein) zu zwingenden Folgerungen und Ergebnissen zu kommen, denn es ist nicht – wie Friedrich Müller289 überzeugend ausführt – der „Normtext . . ., der einen konkreten Rechtsfall regelt, sondern die gesetzgebende Körperschaft, das Regierungsorgan, der Verwaltungsbeamte, der gerichtliche Spruchkörper, die . . . die den Fall regelnde Entscheidung fällen, bekanntgeben, begründen und die gegebenenfalls für ihre faktische Durchsetzung sorgen“. Ist es danach einerseits nicht der Text alleine, der den Rechtsfall regelt, so sind es andererseits aber ebenso wenig nur die Vorverständnisse, die den Textanwender bei seiner Entscheidung bestimmen. Inwieweit und auf welche Weise Vorverständnisse wirken, hängt von der Dogmatik bzw. davon ab, was der Textanwender in seiner Ausbildung, in der praktischen Berufstätigkeit und in anderen (juristischen) Bildungskontexten gelernt hat. Mit anderen Worten: Die effektive Normativität des Verfassungstextes steht in einem unmittelbaren Bezug zur Dogmatik und dazu, was die Dogmatik zur effektiven Normativität beiträgt290. Von besonderer Bedeutung für die Zuordnung von Text und Realität ist dabei, dass die Textanwender bei diesen Zuordnungsbemühungen miteinander im „Gespräch“ stehen. Dabei kann dieses Gespräch in einer mündlichen Diskussion (z.B. zwischen Richtern bei Urteilsberatungen, in einer Beteiligung von Textanwendern an wissenschaftlichen Symposien) oder auch im Lesen eines Kommentars oder in der Beteiligung an schriftlichem Gedankenaustausch bestehen. Entscheidend ist, dass in diesem Gedankenaustausch die unterschiedlichen Vorverständnisse in Bezug auf den Verfassungstext verglichen und auch abgeglichen werden können. Ein 287 Für Deutschland: G. Folke Schuppert, Funktionellrechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation (1980); K. Hesse, in: Fs Huber (1981), 261; W. Brohm, NJW 2001, 1 / 9. 288 K. Hesse, in: Fs Huber (1981), 261 / 264. 289 Juristische Methodik (19977), Rn. 162. 290 In diesem Sinne beendet Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 159 / 198 f., seine Überlegungen zum Verständnis der Grundrechte als Grundsatznormen (Prinzipien / Werte) mit der Feststellung: „Die Alternativen sind damit hinreichend entfaltet. . . . Die Grundrechtsdogmatik entscheidet, je nach dem Weg, den sie geht, über diese Frage. Sie sollte sich das auch bewußt machen.“ 291 Der Diskurs über das Recht kann kein Rechtsgespräch sein, wenn er freier Diskurs sein will. Der freie Diskurs ist ein revolutionäres Phänomen (vgl. P. Kahn, Legitimacy and History [1992], 2), man kann ihn daher nicht als konkretes Rechtserkenntnisverfahren einsetzen, ohne dass er die Offenheit als seine wesentliche Charaktereigenschaft verliert. Herrschaftsfreier Diskurs ist auch alles andere als ein dogmatisches Verfahren. Dogmatik widerspricht in jedem Aspekt der Diskursidee, denn sie bezieht sich auf eine Rechtsordnung (auf getroffene Entscheidungen), auf Weiterentwicklung (nicht freie Entwicklung), auf Entscheidungs-

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herrschaftsfreier Diskurs mit entsprechenden Regeln ist dieses Gespräch nicht291. Der Hierarchie und der unterschiedlichen Bedeutung der Gesprächsteilnehmer gemäß gibt es Machtstrukturen, die sich in der Zeit ändern (können). Darauf kommt es aber nicht so sehr an. Entscheidend ist, dass ein Gespräch stattfindet, nicht so sehr, wie es im Einzelnen geführt wird. Und wichtig ist, dass dieses Vergleichen und Abgleichen der unterschiedlichen Vorverständnisse im Blick auf den Verfassungstext einem intrastrukturellen Hin- und Herwandern des Blickes (Engisch) entspricht und eine – wenn auch nur rudimentäre – Verstehensstruktur schafft, die mit den laufenden Gesprächen sich stetig verändert, so wie auch das Gespräch nie einen endgültigen Abschluss finden kann. Jeder Stillstand des Gesprächs und jede Zementierung des Vorverständnisses führt in ernsthafte Krisensituationen. Die Entscheidungen Plessy v. Fergusson und Lochner v. New York sind dafür (abschreckende) Beispiele292. Durch diese Entscheidungen wurde die Intrastruktur qua Steuerungsklimax auf ein dogmatisches Verständnis des Textes und des Rechts fixiert, das über kurz (Lochner) oder lang (Plessy) zu einem Aufbrechen der dadurch geschaffenen Verstehensstruktur, zu einer revolutionären Veränderung der Intrastruktur führen musste. Es war der reine Machtkampf, der Veränderung erzwang, bei Lochner die Drohung Roosevelts gegen die neun Richter am Supreme Court293, bei Plessy die Durchsetzung der Supreme Court-Entscheidung mit Hilfe von Bundestruppen. Dass Bruce Ackerman294 beide Vorgänge unter den Begriff des çonstitutional moment“ bringt, ist ein Euphemismus, der allenfalls im Rückblick vertretbar ist; zum Zeitpunkt dieser Geschehnisse waren es ausgewachsene Verfassungskrisen. Keine dieser Krisen hätte durch inhaltlich bessere juristische Lehrsätze vermieden werden können, weil Lehrsätze nicht zwingend sind. Beide Krisen hätten aber eventuell verfassungs-juristisch ausgeschlossen bzw. abgemildert werden können, wenn die Intrastruktur des Rechts durch eine vorsichtigere juristische Dogmatik gesteuert worden wäre. Dabei offenbaren sich – rückblickend – in Lochner und Plessy zwei unterschiedliche Fehlleistungen, die am Ende freilich auf dasselbe hinausliefen. In Lochner295 war es – wie Justice Holmes in seinem Dissent deutlich macht – die Vorstellung einer in der Verfassung festgeschriebenen liberalen Wirtschaftsordnung, die Justice Peckhams den „Überblick“ verlieren ließ. Der Text der Verfassung wurde abstrakt verstanden, ein Vorverständnis, das sich dann in dem vom realen Problem abwegigen Argument niederschlug, dass Bäcker länger als 60 Stunden arbeiten können, weil ja auch niemand Wissenschaftlern verbieten will, ihre Gehirne mehr als 60 Stunden in der Woche zu beanspruchen. In Plessy296 ist es – wie Justice Cardozo in seinem Dissent darlegt – die Verabsolutierung begründung (nicht „Findung“), auf Kontrolle von Entscheidungen (d.h. auf Kontrolle von existierender Kompetenz) und auf Interpretation (von existierendem Recht!). 292 Siehe oben 2. Kap. 2. Abschn. E und 3. Abschn. D. 293 Dazu näher bereits oben Einl. B. 294 Oben 2. Kap. 3. Abschn. C. 295 Oben 2. Kap. 3. Abschn. D. 296 Siehe oben 2. Kap. 2. Abschn. E.

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einer in der Realität existierenden Gesetzmäßigkeit, die Justice Brown dazu brachte, die Verurteilung Plessys damit zu rechtfertigen, dass die Ungleichbehandlung von Afroamerikanern nur dann als Diskriminierung angesehen werden könne, wenn sie dies so empfänden. In beiden Entscheidungen wurde ein allgemeiner Grundsatz formuliert, der die konkrete Dezision als die allein mögliche und richtige erscheinen ließ. Auch wenn beide Entscheidungen für die damalige Zeit verständlich erscheinen, die Grundsätze, die sie postulieren und die Werte, die in den Entscheidungen zum Ausdruck kommen, erkennen wir heute als eindeutig textwidrig und in der Rückschau als Überbewertung eines zeitbezogenen und daher vergänglichen Kulturstatus. Es gibt eben keinen „archimedischen Punkt“, von dem aus sich alles, speziell auch die Interpretation des Textes, widerspruchsfrei und für jedermann überzeugend betreiben ließe297. Auch der Verfassungstext ist kein archimedischer Punkt, aber er ist sehr wohl ein Angelpunkt, der von der staatlichen Gemeinschaft gesetzt, verankert wurde, und von dem aus nun diese staatliche Gemeinschaft gelenkt und willkürliche Staatsmacht abgewendet werden soll. Insofern steht der Text durchaus im Mittelpunkt jeglichen Bemühens um seine Auslegung und Anwendung. Dieses Bemühen ist auf die Intrastruktur bezogen und von der Dogmatik gesteuert, wobei – wie geschildert – die Ausbildung, die praktische Erfahrung der Juristen und das Gespräch zwischen den Rechtsanwendern eine wichtige Rolle spielen. Hinzu treten die Vorgaben, die Vorprägungen und die in der Zeit gewonnenen Erfahrungen im jeweiligen Rechtsgebiet. So einprägsam aber auch diese Vorprägungen sein und so wertvoll auch diese Erfahrungen erscheinen mögen: Dogmatik muss zwar steuern, und insofern bedarf es auch immer einer gewissen Kontinuität; Dogmatik muss aber ebenso dafür sorgen, dass die Vermachtung des Rechts nicht die – gleichsam endgültige – Entmachtung der Individualpositionen nach sich zieht. Die Dogmatik hat festzulegen, was angesichts des Verfassungstextes gelten soll und als gültig anerkannt werden muss, aber sie unternimmt diese Festlegung nur für eine konkrete geschichtliche Situation und nicht für alle Zeit. Sie ist daher auf Flexibilität angelegt, passt Maßstäbe früherer Zeiten an und verändert Maßstäbe für die Zukunft, sorgt also für eine praktikable, effektive Normativität der Verfassung in jeder Zeit. Aber, um es noch einmal zu betonen: Damit wird das gesatzte Recht keinesfalls zum „Spielball“ der Dogmatik. Der Text ist und bleibt der Punkt, um den sich die Dogmatik dreht. Verändert wird nur die Wahrnehmung des Textes in seiner Zurichtung auf die Realität.

II. Effektive Normativität als Ziel der Dogmatik

297 Vgl. in diesem Zusammenhang auch E. Schmidt-Aßmann, Grundfragen des Verwaltungsrechts (2000), 1. 298 Oben A I.

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Von effektiver Normativität kann – wie bereits dargelegt298 – gesprochen werden, wenn es sich bei den gefundenen Rechtsergebnissen um verfassungsgültige, also nicht nur geltende, sondern mit der Verfassung übereinstimmende Ergebnisse handelt. Effektive Normativität ist also nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Zielvorstellung, deren vollständige Realisierung stets ungewiss bleiben muss. Es kann nur um den Versuch einer optimalen Zielannäherung gehen, deren Grundanliegen darin besteht, den Text auf die Realität und die Realität auf den Text zuzurichten299. Dabei muss von Anfang an klar sein, dass nicht nur die Textinterpretation keine objektiven Ergebnisse zu liefern vermag. Es gibt auch keine Wahrheit im Blick auf die Realität. Sie bedarf ebenso der Interpretation, unterliegt also gleichermaßen subjektiver Bestimmung. Daraus folgt zum einen, dass es unerheblich ist, ob ein autorisierter Textanwender das gefundene Ergebnis tatsächlich oder – wenn dies in der Begründung formuliert wird – vorgeblich unter Einsatz juristischer Methoden gefunden hat. Denn dies impliziert weder die Gültigkeit noch die Ungültigkeit des Ergebnisses300. So wie niemand z.B. bei der Überprüfung einer Baugenehmigung auf die Idee käme, zu fragen, ob der zuständige Beamte in seinem Erkenntnisprozess Wortlaut, System, Geschichte und Telos des BauGB tatsächlich berücksichtigt hat, sondern allenfalls geprüft wird, ob seine Entscheidung nach diesen Kriterien auf der Grundlage des BauGB gültig ist, sowenig sagt eine solche Berücksichtigung irgendetwas darüber aus, ob z.B. das BVerfG richtig entschieden hat301. Zum anderen ist zu folgern, dass es unerheblich für die Bewertung einer Rechtsanwendung ist, ob sie auf einer richtigen oder falschen Bewertung der Wirklichkeit beruht. So ist es für eine Entscheidung unerheblich, ob etwa die Einschätzung der psychologischen Auswirkungen von Datenverknüpfungen302 oder der soziologischen Bedeutung der Wohnung303 richtig oder falsch ist. Denn man kann die Richtigkeit dieser Einschätzungen mit juristischen Mitteln weder belegen noch widerlegen304. Entscheidend ist, ob die rechtlichen Folgen, die aus der gegenseitigen Zurichtung von Text und Realität gewonnen werden, dem Verstehen des Textes dienen, dabei also wirklich am Text gearbeitet wird, oder ob der Text lediglich für die Ausübung von Macht instrumentalisiert wird. Des weiteren erscheint ausschlaggebend, ob die rechtlichen Folgen, die aus der Textinterpretation und der Realitätsbewertung gewonnen werden, die Normativität des Rechts fördern, ob z.B. die aus der Bewertung der ReaOben C I. Zu der Zufälligkeit und Willkürlichkeit des Einsatzes der juristischen Methoden in der Praxis oben 2. Kap. 2. Abschn. Einl. und F. Müller, Juristische Methodik (19977), Rn. 27 ff. 301 Alleine schon die immer wieder repetierte Feststellung der mangelhaften Methodentreue des BVerfG zeigt, wie unbedeutend diese Kriterien für die Bewertung der Judize des BVerfG sind. Insoweit versagt die klassische Methodenlehre, vgl. M. Kriele, in: HStR V (1992), § 110, Rn. 27. 302 BVerfGE 65, 1. 303 BVerfGE 89, 1. 304 Vgl. zur „Soziologie“ des SCt. in Plessy v. Fergusson, oben 2. Kap. 2. Abschn. E. 305 Dazu oben 2. Kap. 3. Abschn. D und unten 5. Kap. C. 299 300

16 Schmitt Glaeser

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

lität entwickelten Maßstäbe für das Rechtsverstehen dienlich sind305. Textarbeit und Normativitätsförderung sind zentrale Orientierungspunkte für die Dogmatik, die letztlich auch die Maßstabsbildung leiten. Einen Ansatz für eine mögliche Maßstabsbildung der Dogmatik wurde im Verwaltungsrecht in dem Gedanken der Referenzgebiete (Schmidt-Aßmann306) entwickelt, der eine Umstrukturierung des allgemeinen Verwaltungsrechts vor allem auch über neue Leitbegriffe ermöglicht307. Das Nutzbarmachen der Erkenntnisse von Referenzgebieten ist eine rationale Reaktion auf die zunehmende Komplexität der Intrastruktur des modernen Staates, eine Folge wachsenden staatlichen Regelungsumfangs und zunehmender Regelungsintensität. Mit jedem neuen Sachbereich, den sich der Staat erschließt, schafft er neue „Referenzgebiete“ seines überwölbenden politischen und rechtlichen Geltungsanspruchs. Konnte er früher noch, vereinfacht ausgedrückt, am Leitbild des Verkehrspolizisten ein (freilich sehr) Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz formulieren, so ist es heute schon so gut wie ausgeschlossen, ein allgemeines Recht der administrativen Rechtsetzung zu schaffen308. Was sich in dieser „neuen“ Problematik offenbart, ist das alte, freilich durch einen irrationalen „rationalen Gesetzesbegriff“ verdeckte Phänomen, dass allgemeine Aussagen über das Recht aus der Praxis erwachsen, nicht an sie, qua Willen des Gesetzgebers, herangetragen werden309. Gewiss ist es der Gesetzgeber (auch der Verfassungsgeber), der Rechtsanwendungen initiiert und ihnen Richtung gibt. Das aber, was in den Rechtsanwendungen geschieht, die konkreten Umsetzungen der (verfassungs-)gesetzlichen Vorgaben, sind so vielen und so unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt (Gesetzestext, Sachverstand, Gewöhnung, Verantwortungsscheu, Parteilichkeit uvm.), dass man sie nur in induktiven Erkenntnisprozessen auf gemeinsame Nenner bringen kann. Dass man heute den Begriff des „Referenzgebietes“ wählt, um neue Vorstellungen vom Allgemeinen zu befördern310, zeigt in aller Deutlichkeit, dass unsere Vorstellung von einem allgemein Geltenden nur durch eiDas allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee (1998), Rn. 12 ff. Vgl. dazu die strukturierende Darstellung von E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee (1998), 105 ff. mwN und insbesondere auch seine (kritischen) Ausführungen zur Gesetzgebungskritik, 161, Rn. 9, die „oft vom idealistischen Bild einer sich selbst steuernden Vernunftgesetzgebung“ ausgehe. Grundlegend zur Gesetzgebung: H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung (1988). 308 Dazu Chr. Gößwein, Allgemeines Verwaltungs(verfahrens)recht der administrativen Normsetzung, 217 ff. 309 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), I, Aph. 19. Das „Wunderlichste am Willen“ ist, „dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt, Wollen genüge zur Aktion. Weil in den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der Anschein in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit von Wirkung gäbe“. 310 Vgl. zur Aufgabenstellung der Reformdiskussion im Verwaltungsrecht z.B.: W. Hoffmann-Riem, in: Reform, 115. 311 So wenig das „Reale“ auch außerhalb unserer Vorstellung existiert. Es ist in diesem Kontext von Bedeutung, wenn gerade F. Nietzsche in Götzendämmerung (1889) konstatiert, 306 307

2. Abschn.: Die Vermachtung des Rechts

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nen Blick auf die normierend-interpretierte Realität entstehen kann311. So können wir die Geltung der Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik nicht verstehen, wenn wir uns nicht anhand von konkreten Anwendungen des Art. 5 GG darüber informieren, was für Folgen diese Geltung in einzelnen Fällen hat, ob also z.B. der Abdruck eines erfundenen Interviews in einer Zeitung eine Schadensersatzpflicht auslöst oder ein Auto-Aufkleber mit einem Tucholsky-Zitat strafrechtliche Sanktionen nach sich zieht. Alleine aus diesen „Ansichten“ entstehen freilich noch keine „Anschauungen“, aus denen man Maßstäbe für die Anwendung der Meinungsfreiheit ermitteln kann312. Anschaulich wird die Meinungsfreiheit erst, wenn wir die einzelnen Fälle als Anwendungen des Art. 5 I GG verstehen und die Zusammenhänge dogmatisch dahingehend überprüfen, wie sie sich in der heute existierenden Intrastruktur auf Gesetze, Gerichtsentscheidungen und sonstige Entscheidungen auswirken, in welchem Bezug sie zur davor existierenden Intrastruktur stehen und welche Auswirkungen sie auf die weitere Entwicklung der Intrastruktur haben werden313. Die Überprüfung dieser Effekte konkreter Entscheidungen anhand anderer, zeitlich und hierarchisch vor- und nachgeordneter konkreter Entscheidungen im Recht ist nicht nur eine „interessante“ Untersuchung. Mit ihr lässt sich bestimmen, ob eine Entscheidung die bestehende Intrastruktur nur anreichert, also in sie integriert werden kann, oder ob sie die Intrastruktur ändert, und damit die Dogmatik dazu zwingt, die Wahrnehmung der autorisierten Textanwender umzubilden, d.h. ihre Interpretation des Textes und der Realität auf neue Grundverständnisse auszurichten. Wenn man die Dogmatik als Kontext versteht, in dem die effektive Normativität der Verfassung verwirklicht werden muss, dann ist diese Analyse der Normativität zwar nur vorbereitender Natur, man gewinnt in ihr „normative Orientierungen“314. Sie hilft aber immerhin, den Stand der Verfassung in der Realität der Verfassung zu ermitteln, also zu klären, welche Vorstellungen in der Dogmatik heute als das angesehen werden müssen, was als „herrschende Rechtsanwendung“ bezeichnet werden kann. Die herrschende Rechtsanwendung ist nur ein mögliches Verständnis des (Verfassungs-)Gesetzes, sie hat aber auch einen legitimen Selbststand, weil eine Rechtsordnung immer – ungeachtet ihrer Verfassungsgültigkeit, d.h. ihrer effektiven Normativität – auf vorübergehenden Konsens bzw. vorübergehende Orientierung der Machtausübung angewiesen ist.

dass Gesetze als Rezeptionen und Bewertungen der Realität gewiss der letzte Rand der verdunstenden Realität sind. Dieser letzte Rand der verdunstenden Realität wird über den Willen zur Geltung bewahrt. 312 Wie G.F.W. Hegel, Wissenschaft der Logik (1812 – 1816), 535, pointiert formuliert: „. . . durch das Anschauen [kommt] keine Wissenschaft [zustande], sondern allein durchs Denken.“ 313 Vgl. schon den fordernden Titel von P. Lerche: „,Funktionsfähigkeit‘ – Richtschnur verfassungsrechtlicher Auslegung“, BayVBl. 1991, 517. 314 W. Hoffmann-Riem, in: Reform, 115 / 130 ff.; in diese können Rechtmäßigkeitsmaßstäbe ebenso einfließen wie praktische und vernünftige Erkenntnisse. 16*

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

Eine Entscheidung, die die Intrastruktur verändert hat, ist die in neuerer Zeit ergangene Überbelegungs-Entscheidung315. Sie überprüft anhand des Art. 14 I GG eine Kündigung nach § 553 BGB wegen Überbelegung und verweist die Sache an das LG, das die Kündigung aufrechterhalten hatte, mit der Begründung zurück, das Fachgericht habe Bedeutung und Tragweite der Art. 14 I 1 und Art. 6 I GG grundsätzlich verkannt. Dabei ist zu beachten, dass das BVerfG zwar schon in BVerfGE 89, 1 – es ging um eine Eigenbedarfskündigung – in der Begründung Miet-Besitz mit Eigentum gleichgestellt hatte. Aus dogmatischer Sicht war dies aber allenfalls eine „Ankündigung“, weil die Verfassungsbeschwerde als unbegründet abgewiesen wurde und folglich keine Veränderung der Rechtsordnung bewirkt worden war. Natürlich konnte jeder erkennen, dass das BVerfG „etwas vorhatte“; dementsprechend intensiv und notwendig erschien auch die nachfolgende Debatte in der Presse316 und im juristischen Schrifttum317. Die Entscheidung in Band 89 enthielt aber im Wesentlichen nur die Begründung für eine Umdeutung von Mietbesitz in Eigentum. So konnte auch Peter Derleder318 nach der Entscheidung lediglich eine „leicht verbesserte Argumentationsbasis“ für den Mieter konstatieren. Denn die Begründung in der Eigenbedarfs-Entscheidung enthielt kaum Aussagen darüber, was denn nun „neu“ sei. Sie bezogen sich auf den Text des Art. 14 GG und die Wirklichkeit der Situation von Mietern allgemein319. Das Gericht brachte dabei durchweg eigene Bewertungen der Wirklichkeit zum Ausdruck, nämlich die „Tatsachen“, dass die Wohnung für jedermann Mittelpunkt seiner privaten Existenz ist, er also auf sie zur Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse angewiesen sei (dabei werden Freiheitssicherung und Persönlichkeitsentfaltung betont), und dass der Großteil der Bevölkerung gezwungen ist, Wohnraum zu mieten. Das Gericht lässt auch erkennen, dass es sich bei diesen Feststellungen um eine normative Interpretation der Wirklichkeit handelt, wenn es die Tatsachen als Beleg dafür anführt, das Besitzrecht des Mieters erfülle unter diesen Umständen typische Funktionen des Sacheigentums. Dass es die Tatsachen unter einem bestimmten 315 BVerfG v. 18. 10. 1993, NJW 1994, 41. Eine ähnliche Problematik wie diese Entscheidung ergibt sich aus der Entscheidung des BVerfG (E 89, 214) zur Bürgschaft einer erst kurzzeitig Volljährigen; vgl. hierzu die Analyse bei D. Medikus, in: Fs MJG (1996), 9. U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten (1998), 156, bemerkt in diesem Zusammenhang, dass aus der Billigkeit im Einzelfall schöpfende Entscheidungen Ausgangspunkt für dogmatische Weiterentwicklung sein können. Er sieht es als Aufgabe der Dogmatik an, durch Verallgemeinerung des Besonderen des Falles neue Fallgruppen bzw. neue dogmatische Kategorien zu bilden. Dem ist sicherlich zuzustimmen; es soll hier und im Folgenden aber deutlich gemacht werden, dass es aus methodischer Sicht unerlässlich ist, mit der reflektierenden Durchdringung des Entscheidungsmaterials (Di Fabio, a.a.O.) schon in der Entscheidung selbst zu beginnen. 316 Vgl. P. Finger, ZMR 1993, 545 mN. 317 Vgl. nur: O. Depenheuer, NJW 1993, 2561; P. Derleder, WuM 1993, 514; V. Emmerich, DWW 1993, 313; G. Roellecke, JZ 1995, 74; B. Rüthers, NJW 1993, 2587; F. Sternel, MDR 1993, 729. 318 WuM 1993, 514 / 523. 319 BVerfGE 89, 1, vor allem 6 passim.

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Gesichtspunkt sieht, wird schon in den Formulierung selbst deutlich. Die interpretative Betrachtung der Wirklichkeit zeigt sich aber auch darin, dass das BVerfG dieselben Tatsachen augenscheinlich ganz anders hätte verstehen können, z.B. als Beleg für die Bedeutung der Privatautonomie als Steuerungselement der effektiven Verteilung von Wohnraum oder als Beleg für die Bedeutung des gesetzlichen Mieterschutzes als Ausgleichselement für die mangelhafte Effektivität dieser Verteilung. Die zuletzt genannte Interpretation hätte dann zu Art. 14 II GG geführt320. Gerade in den Alternativen offenbart sich die oben angesprochene Problematik einer Ausrichtung der Rechtsanwendung an der Realität. Man kommt von Tatsachen nicht zu Normen, es sei denn, die Tatsachen werden erst auf das Recht zugerichtet. Dass sich das BVerfG in der Entscheidung auf den allgemein als gültig angesehenen Lehrsatz bezog, wonach es dem Zivilrechtsgesetzgeber überlassen ist, die Grundzüge des Eigentums- und Erbrechts auszugestalten (Art. 14 I GG als Institutsgarantie), stützt seine „Zurichtung der Realität“ freilich insoweit, als der stark entwickelte Mieterschutz in den auch von der Zivilrechtsdogmatik in dieser Richtung ausdifferenzierten §§ 535 1, 536, 571, 823 I, 858 I, 861 I, 862 I BGB321 ein Verständnis des Mietbesitzes als Eigentum nahe legt. Dem widerspricht aber wiederum, dass das BVerfG es für notwendig ansieht, den Gesetzgeber zu einer Änderung der Gesetze aufzufordern, die seine vorgestellte Neugestaltung der Intrastruktur für die Grundbuch-Eigentümer tragbar322 macht. Das Gericht verweist vor allem auf die Notwendigkeit einer Ausgestaltung der verbleibenden Rechtspositionen des Vermieters323. Die Differenzen zum zivilrechtlichen Eigentumsbegriff werden auch darin deutlich, dass das Gericht die fehlende Verfügungsbefugnis in Bezug auf die Überlassung an Dritte (§ 553 BGB) und das Kündigungsrecht des Vermieters als Aspekte bezeichnet, die für den grundgesetzlichen Eigentumsbegriff nicht ausschlaggebend sind; weder unbeschränkte Verfügungsbefugnis noch Fortbestand eines einmal entstandenen Rechts seien Bedingung einer Subsumption unter Art. 14 GG324.

320 So noch J.F. Henschel, NJW 1989, 937 / 938, der in Art. 14 II GG (als Schranke und Gesetzgebungsauftrag) auch die Mieterinteressen als objektivrechtliche Gemeinwohlbelange geschützt sieht. 321 BVerfGE 89, 1 / 7. 322 Inwieweit die Änderungen der Mietrechtsreform 2001 eine entsprechende Tragbarkeit herstellte, kann hier nicht erörtert werden. In jedem Fall wird man im Zweifel grundrechtskonforme Auslegungen finden müssen. 323 BVerfGE 89, 1 / 8. 324 BVerfGE 89, 1 / 7 passim. Dass „unbeschränkte Verfügungsbefugnis“ auch nach dem zivilrechtlichen Eigentumsbegriff nicht Merkmal des Eigentums ist, soll hier nur angemerkt sein. – In der Begründung des BVerfG finden sich viele „Schwächen“, eine Tatsache, die zwar kritisiert werden kann, die aber kaum weiterführende juristische Erkenntnisse bringt. Unzureichende Begründungen indizieren zwar Willkür i.S.v. Wille zur Veränderung ohne Rücksicht auf Akzeptanz, sie sind aber keine Grundlage für eine rechtliche Bewertung. Mit anderen Worten: Es führt nicht weiter, Entscheidungen eines Gerichts wie eine Klausur im juristischen Examen zu zensieren.

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Die Argumentation in BVerfGE 89, 1 ist zwar nicht zwingend, man kann sie mit guten Gründen kritisieren, sie ist aber auch unwiderlegbar, weil es im Wesentlichen darauf ankommt, unter welchem normativen Aspekt man die Realität des Mietens und des Nutzens von Wohnraum zurichtet. Die Auswahl des normativen Aspekt wird am Ende immer auf juristisch nicht fassbaren Wertungen beruhen, seien sie nun soziologisch, ökonomisch, politisch oder psychologisch. Die Problematik dieser Wertungen, die oben schon als nicht relevant bezeichnet wurden325, wird noch eingehenden zu behandeln sein. Aus dogmatischer Perspektive soll es hier erst einmal darum gehen, zu bestimmen, ob die Entscheidung eine Änderung der Intrastruktur der Verfassung bewirkt hat und die Dogmatik zwingt, die Wahrnehmung der autorisierten Textanwender umzubilden. Grundsätzlich wird man dies zwar bejahen können. Die Verfassungsbeschwerde wurde aber als unbegründet zurückgewiesen326, so dass offen bleibt, welchen Anlass das BVerfG hatte, Mietbesitz als Eigentum zu begreifen; verwendet wurde eigentlich nur eine neue Sprache, konkret: Mietbesitz ist Eigentum. Unter diesen Umständen ist die Dogmatik als Steuerungsinstrument der Intrastruktur zu Herstellung effektiver Normativität des Verfassungstextes nicht gefragt und sie ist auch nicht verpflichtet, sich eines vorauseilenden Gehorsams zu befleißigen. Dies ist zum einen deshalb von Bedeutung, weil die Annahme einer Veränderung der Intrastruktur – und diese wurde erst in der nachfolgenden Überbelegungsentscheidung-Entscheidung327 vollzogen – weit reichende Folgen für die Normativität innerhalb der Intrastruktur der Verfassung hat. Zum anderen kann eine Ankündigungs-Entscheidung wie BVerfGE 89, 1 ja auch eine rechtswissenschaftliche Diskussion auslösen, deren Ergebnisse zu einem „Rückzieher“ des Gerichts führt. Es wurde schon erörtert328, was die Dogmatik bei Entscheidungen gerade des Verfassungsgerichts wahrnehmen und für wahr nehmen muss, wenn sie auch ein Gespräch über den Verfassungstext sein will. Hier ist zunächst festzuhalten, dass es erst mit der ÜberbelegungsEntscheidung zwingend wurde, die Wahrnehmung der autorisierten Textanwender umzubilden, d.h. ihre Interpretation des Textes und der Realität auf neue Grundverständnisse auszurichten, konkret: von nun an alle Mieter in Mietstreitigkeiten als Inhaber des Grundrechts aus Art. 14 I GG anzuerkennen. Damit ist die Intrastruktur geändert: eine (funktional definierte) Gruppe der Bewohner Deutschlands (Mieter) kann sich von nun an auf eine Verfassungsvorschrift berufen, auf die sie sich bisher nicht berufen konnten. In der Überbelegungs-Entscheidung wurde dies in einem Einzelfall konkret normiert. Die Beschwerdeführer (5 Personen) bewohnten eine 70 qm große Wohnung, in der tagsüber auch der Ehemann einer der Töchter und ihre drei Kindern lebten. Den Entscheidungen der Untergerichte329, wonach 2. Kap. 3. Abschn. D. BVerfGE 89, 1 / 10 f. Die Begründung der konkreten Entscheidung fällt im Vergleich zu der umfangreichen theoretischen Ausführung relativ kurz aus. 327 BVerfG v. 18. 10. 1993, NJW 1994, 41. 328 Oben B III. 329 Vgl. BGH, NJW 1993, 2528. 325 326

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dies einen Kündigungsgrund wegen Überbelegung (§ 553 I 2 BGB) darstelle, hält das BVerfG entgegen, sie hätten die Bedeutung des Art. 14 nicht hinreichend gewürdigt330. Vor allem das LG habe nicht ausreichend in Rechnung gestellt, dass die verheiratete Tochter mit Familie nachts nicht in der Wohnung schlafe und sich erst nachmittags dort aufhalte. Damit sei das Eigentumsrecht des Vermieters nicht schwerwiegend genug eingeschränkt, um eine Kündigung zu rechtfertigen. Zudem verdiene das Verhalten der Mieter gegenüber der Familie der Tochter auf der Grundlage des Art. 6 GG eine Achtung, die das Gericht ebenfalls nicht entsprechend gewürdigt habe. In dieser „Anweisung“ an das Fachgericht wird deutlich, dass die Beschränkung der Rechte aus Eigentum des Vermieters nicht mehr aus einem abgeleiteten Besitzrecht des Mieters und damit primär aus dem Mietvertrag hergeleitet wird, sondern aus einem originären Besitzrecht und damit unmittelbar aus Gesetz und Verfassung331. Man mag nun zu dieser Veränderung der Intrastruktur unter der Verfassung stehen wie man will. Aus dogmatischer Sicht geht es nicht darum, ob man die Entscheidung begrüßt oder verdammt, sondern allein darum, ihr kritisch zu folgen. Um es vorweg zu nehmen: Eine fundierte Kritik an der Entscheidung ist möglich, wenn methodische Regeln Anhaltspunkte dafür liefern, dass die Entscheidung dem Text nicht entspricht. Gerade die konträren Meinungen im juristischen Schrifttum zu dieser Frage332 machen offenbar, dass die Methodik bei bedeutsamen Problemen keine Steuerungsfunktion mehr entfaltet. Darauf wird noch im folgenden Kapitel einzugehen sein. An dieser Stelle bedarf es einer Konzentration auf WerBVerfG v. 18. 10. 1993, NJW 1994, 41 / 42. Vgl. C. Dallemand / F. Balsam, ZMR 1997, 621 / 622: „ausdrückliche Gleichstellung der Wohnungsbefugnisse des Mieters mit denjenigen des Wohnungseigentümers“. Noch deutlicher wird die Veränderung der Rechtsstellung des Grundbuch-Eigentümers in BVerfG v. 28. 03. 2000, NJW 2000, 2658, in der ein Vermieters als verpflichtet angesehen wurde, den Einbau eines Treppenhauslifts zu gestatten, den ein Mieter für seine querschnittsgelähmte Lebensgefährtin einbauen wollte, mit der er in die Wohnung im zweiten Stock eingezogen war, die aber nicht Partei des schuldrechtlichen Mietverhältnisses war. Der Vermieter hatte sich darauf berufen, dass er die aus dem Lifteinbau entstehenden Verkehrssicherungspflichten nicht eingehen und die Haftungsrisiken vermeiden wolle, die die folgende Verengung des begehbaren Treppenbereichs nach sich ziehen. Das Verfassungsgericht hielt die Prüfung der Untergerichte anhand des Schikane-Verbots für nicht ausreichend, erforderlich sei eine Abwägung zwischen den Bedürfnissen beider Eigentümer (ebenda, 2659). 332 Im wesentlichen zustimmend: B.-O. Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG-Kommentar, (20005), , Art. 14, Rn. 14; P. Derleder, WuM 1993, 514; M. Ibler, AcP 197 (1997), 565; H. Jarass / B. Pieroth, GG, (20005), Art. 14, Rn. 9; C. Möller, AcP 197 (1997), 537 / 552 ff.; H.-J. Papier, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 14, Rn. 200; J. Wieland, in: Dreier (Hg.), GG I (20042), Art. 14, Rn. 32; R. Wendt, in: Sachs (Hg.), GG (20033), Art. 14, Rn. 24; G. Glos, Der Schutz obligatorischer Rechte durch die Eigentumsgarantie (1998), 107 ff. Im wesentlichen ablehnend: O. Depenheuer, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. I, (19994), Art. 14, Rn. 157; ders., NJW 1993, 2561; ders., in: Fs Leisner (1999), 277 / 296 ff.; U. Diederichsen, Jura 1997, 57 / 61 ff.; V. Emmerich, DWW 1993, 313 / 320; ders., in: Fs Gitter (1995), 241; P. Finger, ZMR 1993, 545; G. Roellecke, JZ 1995, 74; B. Rüthers, NJW 1993, 2587; H. Sendler, NJW 1994, 709; J.-R. Sieckmann, Modelle des Eigentumsschutzes (1998), 157 ff.; F. Sternel, MDR 1993, 729 / 731. 333 Oben B III. 330 331

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tungsfragen und ihre mögliche Disziplinierung. Die Problematik der Verbindung von Recht und Wert wurde schon angesprochen333. Die Mietrechts-Rechtsprechung des BVerfG wirft gerade in dieser Hinsicht weitere Probleme auf, die mit der effektiven Normativität in Zusammenhang stehen. Die dogmatische Überprüfung einer Verfassungsänderung, wie sie das BVerfG in seiner Mietrechts-Rechtsprechung vorgenommen hat, muss in einem ersten Schritt daraufhin untersucht werden, ob diese Veränderung der Normativität der Intrastruktur dienlich oder ob sie ihr abträglich ist. Positive oder negative Auswirkungen auf die Intrastruktur besagen dabei in der Regel noch nichts über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Entscheidung selbst. So war z.B. Brown v. Board of Education334 der Normativität der Intrastruktur in erheblichem Maße „abträglich“: die dadurch verursachte Umwälzung der Rechtsordnung kann als tiefgreifend bewertet werden und sie führte auch wiederholt zu erheblichen Zwangseingriffen der Staatsgewalt. Es besteht aber heute Einigkeit darüber, dass der Supreme Court in Brown eine sehr gute Entscheidung gefällt hat, ohne die den zunehmenden Spannungen der multikulturellen Gesellschaft der USA nicht hätte begegnet werden können. Wenn sich die Intrastruktur ändert, dann ist es unerheblich, ob sie nur peripher oder ob sie radikal verändert wird. Der erste Schritt der Überprüfung erlaubt noch keine abschließende Bewertung einer Entscheidung als gut oder schlecht. Freilich kann eine Veränderung dann per se eine Kritik begründen, wenn die durch die Entscheidung bewirkte Verringerung der Normativität des Rechts völlig außer Verhältnis steht zu der Veränderung der Rechtssituation im konkreten Fall. In einem solchen Fall kann durchweg davon ausgegangen werden, dass Einbußen bei der Normativität der Intrastruktur auch zu einer negativen Bewertung der Entscheidung führen, wenn die Folgen auch meist nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit und oft im Gegenlicht zu späteren Entscheidungen erkennbar werden. Das Lüth-Urteil des BVerfG335 ist hierfür ein besonders einleuchtendes Beispiel. Lüth, Senatsdirektor und Leiter der Staatlichen Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg, hatte (1950) anlässlich der Eröffnung der „Woche des deutschen Films“ als Vorsitzender des Hamburger Presseklubs in einer Ansprache vor Filmverleihern und Filmproduzenten die Verleiher und Theaterbesitzer aufgefordert, Charakter zu zeigen und den Film „Unsterbliche Geliebte“ des Regisseurs Veit Harlan, der unter den Nationalsozialisten den Propagandafilm „Jud Süß“ als Drehbuchverfasser und Regisseur zu verantworten hatte, zu boykottieren. Lüth wurde daraufhin wegen Erfüllung des Tatbestandes einer unerlaubten Handlung nach § 826 BGB zur Unterlassung solcher Boykottaufrufe verurteilt336. Die dagegen von Lüth eingelegte Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Das BVerfG hob das zivilrechtliche Urteil mit der Begründung auf, das Gericht habe bei seiner Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers die besondere Bedeu334 335 336

Oben 2. Kap. 3. Abschn. C. BVerfGE 7, 198. BVerfGE 7, 198 / 199 ff.

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tung verkannt, die dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung auch dort zukäme, wo es mit privaten Interessen anderer in Konflikt tritt. Nach Auffassung des BVerfG ist die Sittenwidrigkeit eines Boykottaufrufs im Zivilrecht (§ 826 BGB) nach Maßgabe des Art. 5 I 1 GG zu bewerten, und die grundrechtliche Gewährleistung sei im Zweifel (Vermutung) immer dann vorrangig gegenüber dem Schutz eines privaten Rechtsgutes, wenn es sich „um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten handelt“337. Auf der Basis des Verständnisses des Grundrechtsabschnitts als objektive Wertordnung und der Grundrechte als (auch) objektive Normen338 handelt es sich bei der Deklarierung von Boykottaufrufen als gegenüber zivilrechtlichen Schutzgütern vorrangige Meinungsäußerung zweifellos um eine gewichtige Änderung der Normativität der Intrastruktur. Bezogen auf den Sachverhalt des Lüth-Urteils wird man die konkrete Entscheidung im Ergebnis als zutreffend bewerten können. Günter Dürig339 erkennt ihr sogar das Prädikat „besonders wertvoll“ zu. Gleichzeitig warnt er aber auch davor, die Entscheidung in allen Bezügen, vor allem im Blick auf die Abwägung, zu verallgemeinern. Tatsächlich liegt hier auch das Problem, das etwa 10 Jahre später mit dem Blinkfüer-Beschluss des BVerfG340 virulent wird. Auch in diesem Fall ging es um einen Boykottaufruf, ebenso in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten. Aufrufer waren die Verlagshäuser Axel Springer & Sohn KG, Hammerich & Lesser KG u.a., die verhindern wollten, dass Rundfunk- und Fernsehprogramme der mitteldeutschen Sender (später DDR) in der westdeutschen Presse verbreitet werden. In einem Schreiben an sämtliche Zeitungsund Zeitschriftenhändler in Hamburg wiesen sie u.a. darauf hin, dass sie prüfen werden, ob sie zu Händlern, die durch den Verkauf solcher Blätter der „Ulbricht-Propaganda Vorschub leisten“, die Geschäftsbeziehungen fortsetzen341. Die Klage des Herausgebers der Wochenzeitung Blinkfuer, die in einer Beilage die Rundfunk- und Fernsehprogramme auch der mitteldeutschen Sender abdruckte, wurde in letzter Instanz vom BGH als unbegründet abgewiesen, wobei das Gericht dem Art. 5 I 1 GG den Vorrang vor der gewerblichen Betätigung zuerkannte. Der BGH hatte damit die im Lüth-Urteil vorgenommene Veränderung der Normativität der Intrastruktur aufgegriffen und dementsprechend entschieden. Er konnte sich dabei auf die Tatsache eines im Wesentlichen vergleichbaren Sachverhalts berufen: auch die Verlagshäuser verfolgten keine eigennützigen Zwecke342 und es handelte sich auch bei den Verlagen in besonderem Maße um Einrichtungen, die zu einem entsprechenden Beitrag zum geistigen Meinungskampf legitimiert waren. Gleichwohl wurde der VerfasBVerfGE 7, 198 / 212. Dazu etwa E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie (19922), 159 / 161 ff. 339 In: Gesammelte Schriften (1984), 319 / 327. 340 BVerfGE 25, 256. 341 Vgl. BVerfGE 25, 256 / 257 f. 342 Anders dagegen z.B. BVerfGE 62, 230 / 243, 246 f., wo die Boykottmaßnahmen der Förderung eigener Interessen wirtschaftlicher Art dienten. 337 338

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

sungsbeschwerde von „Blinkfüer“ gegen die BGH-Entscheidung stattgegeben. Das BVerfG ging zwar wie beim Lüth-Urteil davon aus, dass die im Grundrechtsabschnitt aufgerichtete Wertordnung auf die Privatrechtsordnung, hier konkret auf die „Feststellung der Widerrechtlichkeit“ in § 823 I BGB343, einwirke. Die Besonderheit des „Blinkfüer“-Sachverhalts sah es aber darin, dass infolge der wirtschaftlichen Machtstellung der Verlagshäuser die Boykottaufforderung geeignet gewesen sei, den Zeitungshändlern „die Möglichkeit einer freien Entscheidung zu nehmen“; die „Gleichheit der Chancen beim Prozess der Meinungsbildung“ sei damit verletzt, beim Boykottaufruf der Verlagshäuser handle es sich nicht um ein „Mittel des geistigen Meinungskampfes“344. Demgegenüber habe dem Senatsdirektor Lüth keinerlei Zwangsmittel zu Gebote gestanden, er habe lediglich an die moralische und politische Verantwortung appelliert, was „die künstlerische und menschliche Entfaltungsmöglichkeit des Filmregisseurs Harlan unmittelbar und wirksam überhaupt nicht beschränken“ konnte345. Abgesehen davon, dass es bei dem Boykottaufruf Lüths zwar um Veit Harlan ging, die Adressaten des Aufrufs aber die Filmverleiher und Theaterbesitzer waren, es also ausschließlich um die Boykottwirkung diesen gegenüber ging, ist es schlicht realitätsblind, im Lüth-Aufruf einen nur moralischen und politischen Appell zu sehen. Immerhin hatte Lüth als Senatsdirektor und Leiter der staatlichen Pressestelle eine gerade für Filmverleiher und Theaterbesitzer zentrale amtliche Position; überdies war er auch noch Vorsitzender des Hamburger Presseklubs. Faktisch konnte er, zumal in einer Zeit, in der Amtspersonen noch gewichtige Autorität besaßen, mit seinem öffentlich geäußerten, vernichtenden Urteil eine quasistaatliche Machtwirkung erzeugen, die einem wirtschaftlichen Druck zumindest gleichkommt, wenn nicht sogar an Intensität übertrifft. Mit der Blinkfüer-Entscheidung ist also deutlich geworden, dass das Lüth-Urteil sub specie Normativität der Intrastruktur eher irritiert als orientiert. Anders wäre es nur, wenn auch der Blinkfüer-Beschluss zu einem Vorrang der Meinungsäußerungsfreiheit gekommen oder aber sich vom Lüth-Urteil distanziert und Boykottaufrufe gegen Vertriebsapparate generell als verfassungswidrig deklariert hätte. So aber besteht eine gewichtige Diskrepanz der verfassungsrechtlichen Beurteilung zweier wesentlich gleicher Sachverhalte. Weder Lüth noch Blinkfüer haben der effektiven Normativität der Verfassungsordnung in Bezug auf Boykottappelle im Rahmen eines Meinungskampfes klare Strukturen gegeben, die konkrete EntscheiBVerfGE 25, 256 / 263. BVerfGE 25, 256 / 264 f. 345 BVerfGE 25, 256 / 267. 346 Darüber kann auch die in BVerfGE 62, 230 / 244 f. vorgenommene Formulierung von Grundsätzen zur Boykott-Rspr. nicht hinwegtäuschen, weil der Schlüsselbegriff „Mittel des geistigen Meinungskampfes“ unterschiedlich definiert bzw. gewertet wird. In dieselbe Richtung wie hier geht die Kritik von F. Kübler, KritV, 131 / 319 f., unter Verweis auf die amerikanische Rspr. zum 1. Amendment. Freilich stellt Kübler m.E. zu stark auf den politischen Gehalt der geschützten Meinungsäußerung ab. 343 344

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dungen hinreichend verlässlich, voraussehbar und nachvollziehbar zu steuern vermöchten346. Anstelle eines generellen Schutzes der Vertriebsapparate von Meinungsäußerungen gegen Boykottaufrufe tritt im Wege einer Aufladung privatrechtlicher Bestimmungen (§§ 826, 823 I BGB) mittels verfassungsrechtlicher Werte eine normative Gemengelage, die nur noch durch eine mehr oder minder im Ergebnis überzeugende, zuweilen aber auch willkürlich erscheinende Abwägung zu lösen ist. Jedenfalls: Hinsichtlich des Boykotts von Vertriebsapparaten für Meinungsäußerungen ist die Intrastruktur von Art. 5 GG normativ unzureichend ausgestaltet. Die Herstellung effektiver Normativität bedarf eines Neuansatzes. Anhand solcher Bewertungsmaßstäbe kann man auch das Überbelegungs-Urteil des BVerfG einer Überprüfung unterziehen. Ohne Übertreibung wird man feststellen können, dass die Rechtsprechung zum Besitzrechts-Eigentum des Mieters bei der Normativität der Intrastruktur des Art. 14 GG kaum noch einen Stein auf dem anderen belassen hat. Auch ohne eine vertiefte Auseinandersetzung mit zivilrechtlichen Funktionsstrukturen lässt sich dies anhand einiger weniger Fragen eindrücklich illustrieren347: Zunächst ist zu klären, ob der possesorische Besitzschutz (§§ 858 ff. BGB) weiterhin so verstanden werden kann, dass er nicht in erster Linie den Interessen des Besitzers dient, sondern der Prävention gegen Beeinträchtigungen der Friedenserhaltung348. Sodann ist zu fragen, ob der Besitz nun allgemein als sonstiges Recht im Sinne des § 823 I BGB gesehen werden muss. Schließlich stellt sich die Frage, ob sich Mieter auch nach einer wirksamer Kündigung noch auf ihr Miet-Eigentum berufen können, solange sie in der Wohnung verbleiben. Denn einerseits entschied das BVerfG, dass das Besitzrechts-Eigentum des Mieters mit der wirksamen Kündigung des Vermieters endet, andererseits betont es aber ebenso, Rechte aus Art. 14 GG hätten grundrechtlichen Bestandsschutz. Dies würde die Entwicklung einer neuen zivilrechtlichen Denkfigur, eine ,Nachwirkung von Besitzrechten‘, erfordern349. Aus Sicht des Eigentumsschutzes des Vermieters ergeben sich weitere Probleme. Zum einen ganz generell daraus, dass die mietrechtlichen Vorschriften im Wesentlichen auf eine derivative Besitzstellung des Mieter ausgerichtet sind. Die den Mieter schützenden Vorschriften sind damit im Wesentlichen auf eine Argumentationsposition des Grundbuch-Eigentümers eingestellt, die nunmehr entfällt. Damit könnte die Rückkehr350 zur umfassenden GüterVgl. zum folgenden: O. Sosnitza, Besitz und Besitzschutz (2003), 135 ff. Vgl. H. M. Pawlowski, Der Rechtsbesitz im geltenden Sachen- und Immaterial-Güterrecht (1961), 16; a.A. F. Baur, Sachenrecht (199216), II, § 9 I 3. 349 Diese Aussage ist allerdings wieder nur eine Ankündigung, sie wurde noch nicht in einer Entscheidung konkret. 350 In diesem Sinne R. Beuermann, GE 1993, 781 / 782 f.; V. Emmerich, in: Fs Mestmäcker (1996), 989 / 993. 351 RGBl. I, 353 / 354. 352 Eine solche sieht z.B. § 554 a BGB vor, der die Zustimmung des Vermieters zu baulichen Veränderungen regelt. 353 BVerfG v. 28. 03. 2000, NJW 2000, 2658. 347 348

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

abwägung nach dem Vorbild des früheren § 4 des Mieterschutzgesetzes (1923)351 erforderlich werden352. Zum anderen wäre nach der Treppenlift-Entscheidung353 zu klären, auf welche baulichen Änderungswünsche sich Vermieter einzustellen haben, vor allem aber, inwieweit Vermieter bauliche Veränderungen der Wohnung in Zukunft vertraglich ausschließen können354. Ähnliche Überlegungen ergeben sich in Bezug auf die Haltung von Tieren in der Wohnung355. In einem größeren Kontext verstärkt sich die schon länger drängende Frage, ob es nicht dogmatisch richtiger wäre, das BVerfG – jedenfalls auch – als das zu sehen, was es tatsächlich in vielen Fällen ist, nämlich als eine Superrevisionsinstanz356, und dementsprechend die Bewertung seiner Kompetenzen in Art. 93 GG neu auszurichten. Dies hätte dann selbstverständlich nachhaltige Wirkungen für Entscheidungsmaßstäbe von Fachgerichten, soweit sie im „Revisionsbereich“ des BVerfG judizieren. Zivilgerichte beispielsweise müssten, unabhängig von entsprechenden Rügen der Prozessparteien, in jedem Fall auch grundrechtliche Erörterungen anstellen, um dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes zu genügen. Sicherlich wird man hier differenzierte Lösungen zu finden haben. Weitere Probleme könnten dann entstehen, wenn sich die Grundbuch-Eigentümer mit der Umdeutung der Miet-Rechtsverhältnisse nicht abfinden und neue Vertragsformen entwickeln. Jedenfalls dürften Begriffe wie „Institutsgarantie“ 357 keine Aussagekraft mehr für die Dogmatik haben, weil sie im Wesentlichen eine juristisch unvermittelte Verbindung von Recht und Wirklichkeitsbewertung unter einen Begriff bringen. Die „Institutsgarantie“ bezeichnete dabei eine geschichtliche Vorstellung, wonach das Eigentum „als Voraussetzung freier und selbstverantwortlicher Lebensgestaltung“ im kodifizierten Zivilrecht beschrieben ist. In dem Moment, in dem die Vorstellung von Eigentum von einem nicht dem Zivilrecht unterstehenden Gericht umgesetzt wird, gibt es kein „Institut“ mehr. Und insofern kann man in der Tat die Kritik einiger Zivilrechtler an der Drittwirkung der Grundrechte als einen Aufruf zur „Grundrechtsfreiheit des Privatrechts“358 sehen. Die darauf gerichtete (Gegen-) Kritik an zivilrechtlicher „Grundrechts-Renitenz“ ist insoweit berechtigt, als darin der Vorwurf liegt, die Zivilrechtler würden in den Vorverständnissen ihres Referenzgebietes befangen bleiben, sich also alleine an normativer Effektivität des Zivilrechts ausrichten.

Aus § 554 a BGB lässt sich insoweit sicherlich keine Planungssicherheit erlangen. Vgl. AG Dortmund, WuM 1989, 495; F. Sternel, Mietrecht (19883), II, Rn. 164. 356 J. Isensee, JZ 1996, 1085 / 1090; ausführlich dazu K. Stern, Das Staatsrecht der BRDeutschland, Bd. III / 2 (1994), § 91 V 2, 1338 ff. mwN. Vgl. insbes. 1341: „Die dabei im Einzelfall entstehende Gefahr eines Abrutschens in eine Superrevisionsinstanz ist im Interesse eines umfassenden Grundrechtsschutzes hinzunehmen.“. 357 Vgl. dazu und zum folgenden nur die Ausführungen von K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 442 ff. 358 J. Limbach, in: Fg Zivilrechtslehrer 1934 / 35 (1999), 383 / 387; V. Schmidt, in: Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages Karlsruhe, Band II 1, O 43 / 44. 359 Vorverständnis und Methodenwahl (19722). 354 355

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Eine solche „Befangenheit“ liegt der Konzeption von Josef Esser359 zugrunde, der die Vorverständnisse „seines“ Rechtsgebietes, des Zivilrechts, nicht als etwas zu Bewältigendes, sondern als etwas Hinzunehmendes zu begreifen scheint. Er erkennt zwar sehr wohl, dass die Errungenschaften der Vernunft des juristischen Denkens, insbesondere sein Vorrat an Begriffen, Grundsätzen, Maximen und Leitgedanken, vor dem Hintergrund eines formal richtigen Rechts entwickelt wurden, will sie aber doch – auch nach Abdankung der „Wahrheit“ – erhalten wissen. Allerdings wird nie in ganzer Klarheit erkennbar, auf welcher Grundlage diese Errungenschaften ruhen sollen. Er lässt zwar immer erkennen, dass ihm an einer vernünftigen, praktischen Arbeit mit dem Recht gelegen ist, dass er, mit anderen Worten, die Problematik der „idola fori“ jenen der „idola theatri“ (Francis Bacon360) vorzieht. Eine solche praktische Arbeit mit dem Recht kann aber in der deutschen Rechtskultur, die Rechtsanwendung vor allem als Gesetzesanwendung begreift, kaum gerechtfertigt werden. Die Errungenschaften der juristischen Vernunft auch in einer realistischen Sicht der Gesetze gleichsam immanent zu erkennen, scheitert daran, dass man Gesetze nicht realistisch sehen kann. Sie können nur normativ verstanden werden. Die „realistische Sicht“ ist eine Sicht aus zivilistisch-vernünftiger Perspektive, einer Sicht, die das, was im Zivilrecht erarbeitet wurde, als gesatzt versteht. Im Grunde stützt Esser seine Konzeption auf ein Common Law-Verständnis des Rechts. Dies zeigt sich besonders deutlich bei seiner Kritik an Maßnahmegesetzen. Seine Versuche, sie aus dem Zivilrecht „herauszuhalten“, spiegeln im Wesentlichen die Doktrin der „statute in derogation of the Common Law“361. Maßnahmegesetze vertragen sich nicht mit dem „Mutterboden der allgemeinen Gerechtigkeitsabwägung“, dem „Vorrat jener Dogmatik . . . , mit dem der Richter bisher im bürgerlichen und im Strafrecht Erfolg haben konnte“362. „Mutterboden“ lässt sich dabei ohne weiteres nominell gleichsetzen mit „brooding omnipresence in the sky“ (Holmes) oder „dies herrliche System“ (Baron de Montesquieu)363. Dieser „Mutterboden“ – so Esser364 – werde dadurch grundsätzlich in Frage gestellt, „daß im Reich von Maßnahmegesetzen und Zweck-Regulationen weder eine

360 Neues Organon, 1. Buch, Aph. 43 f., vgl. auch Aph. 61 ff.: idola fori: „Die Menschen gesellen sich . . . mit Hilfe der Rede zueinander; aber die Worte werden den Dingen nach den Auffassungen der Menge beigelegt. Daher knebelt die schlechte und törichte Zuordnung der Worte den Geist auf merkwürdige Art und Weise . . . die Worte tun dem Verstand offensichtlich Gewalt an und verwirren alles“; idola theatri: „Es gibt endlich Idole, welche in den Geist der Menschen aus den verschiedenen dogmatischen Behauptungen philosophischer Lehrmeinungen wie auch aus den verkehrten Gesetzen der Beweisführung eingedrungen sind; . . . ; denn soviele Philosophien angenommen oder erfunden worden sind, so viele Fabeln sind nach meiner Auffassung damit geschaffen worden, welche die Welt als unwirklich und erdichtet haben erscheinen lassen“. 361 Dazu oben 2. Kap. 1. Abschn. C. 362 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 88. 363 Vom Geist der Gesetze (1748), Buch xi, Kap. 6. Vgl. nur den Wortlaut der Declaration of Independence. 364 Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 85.

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

dogmatisierte Systematik von Sachbezügen noch der Vorrat an jurisprudentiellen Wahrheiten in dem Sinne wirksam bleiben, wie dies in den großen Kodifikationen der Fall war – und noch ist. Nur diese klassische Form der Kodifikation ist dem theoretischen Verständnis im Sinne der systematischen und dogmatischen Durchdringung voll geöffnet, da seine Wertungszusammenhänge selbst auf rationalen Verbindungsversuchen aufgebaut sind.“ Esser365 sieht nun freilich die Derogation of the Common Law-Doktrin selbst als Ausfluss der Dominanz des Common Law, in dem Gesetze nur insoweit als „Enklaven politischer Ordnungsmacht“ Bestand haben konnten, als sie in das Common Law „passten“. Beachtet man nun, dass er Gesetze ganz allgemein „nur“ als „Autoritätsäußerung des politischen Willens in Bezug auf regulative Zielsetzungen und Maßnahmen“366 sieht, dann wird deutlich, dass er die fehlende Relevanz des formalen Aspekts des Rechtssatzes auf die Gesetze beziehen will, die außerhalb der Kodifikation des BGB oder anderer „rationaler“ Gesetze erlassen werden. Ein solches Selbst-Verständnis des Zivilrechts kann die Spannungen zur übrigen Rechtsordnung nicht befriedigend bewältigen. Wenn sich das Zivilrecht für die Rechtsordnung im Übrigen nicht öffnet, kann es nicht verwundern, dass es durch die anderen Ebenen und Bereiche der grundgesetzlichen Intrastruktur immer nur „irritiert“ wird und auf die Veränderungen dieser Ebenen und Bereiche immer nur reagieren kann.

III. Maßstabsbildung in der Intrastruktur Gerade im Umgang mit dem Zivilrecht unter der Verfassung zeigen sich Gefahren und Möglichkeiten einer Maßstabsbildung in der Dogmatik. So bedeutsam das Verstehen der Rechtsanwendung in den „engeren“ Referenzgebieten für ein Verständnis der „großen“ Rechtsfragen sein kann, so nahe liegt auch die Gefahr, im fachbereichsbezogenen Blick etwa des Zivilrechtlers das Gesamte aus dem Auge zu verlieren. Nicht weniger groß ist aber auch die Gefahr, aus dem allgemein-übergreifenden Blick des Verfassungsrechts den notwendigen Einblick in die spezifischen Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Rechtsbereiche zu verlieren, also die naturgemäß zerklüfteten Landschaften der Referenzgebiete platt zu walzen. Maßstabsbildung in der Intrastruktur unter dem Gebot der effektiven Normativität der Verfassung muss die Intrastruktur als eine Gesamtheit begreifen, zu der die Referenzgebiete mit ihren spezifischen Gesetzlichkeiten ebenso gehören wie die großen, übergreifenden und in die Zukunft weisenden Gedanken auf Verfassungsebene, in der problembezogen-alltägliche Sachgerechtigkeiten ebenso wirken wie Gesamtvorstellungen von einer rechtlichen, einer gerechten Ordnung. Diese Ordnung ist – wie Konrad Hesse367 betont – „in einem umfassenden Sinne aufgegeben“: 365 366 367

Grundsatz und Norm (1956), 129 ff. mN. Genaue Nachweise oben 2. Kap. 1. Abschn. C. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 83 passim. K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 13.

2. Abschn.: Die Vermachtung des Rechts

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„Wie der Staat ist diese Ordnung nicht in einem von menschlichem Sein und menschlichem Wirken losgelösten, in sich und für sich bestehenden übergeschichtlichen Recht oder in den Objektivierungen einer vorfindlichen ,Wertordnung‘ vorgegeben; sondern sie muss als geschichtliche Ordnung durch menschliches Wirken geschaffen, in Geltung gesetzt, bewahrt und fortgebildet werden.“ Der Verfassungstext scheint in diesem Kontext zunächst keine nennenswerte Rolle zu spielen, und es lässt sich auch nicht bestreiten, dass „die Regelungen der Verfassung . . . weder vollständig noch vollkommen“ sind368. Das ändert aber nichts daran, dass der Verfassungstext die Grundorientierung vermittelt, auf deren Basis und in deren Rahmen die rechtliche Ordnung als geschichtliche Ordnung durch menschliches Wirken geschaffen, in Geltung gesetzt, bewahrt und fortgebildet wird. Angesichts der Unvollständigkeit und Unvollkommenheit bedarf es mancher Überbrückung und Ergänzung, die vom einzelnen Verfassungsinterpreten zwar versucht, aber regelmäßig nicht geleistet werden kann, weil die verschiedenartigen Vielfältigkeiten denkbarer und möglicher Überbrückungen und Ergänzungen die solchermaßen hergestellte „Einheit“ als willkürlich erscheinen lassen müsste. Als „Gesamtheit“ im eben angesprochenen Sinn wird sich die Intrastruktur der Verfassung nur begreifen lassen, wenn sie ihre Grundimpulse von den Vorverständnissen der Gesamtheit jener empfängt, die das Recht anwenden und vom Recht geleitet werden sollen. In der Verarbeitung dieses Vorverständnisses muss die Verfassung „reifen“. Diese Verarbeitung kann die Dogmatik leisten, wenn sie sich nicht gefangen nehmen lässt von Wertordnungen, Abwägungsmechanismen und bestimmten Gerechtigkeitsidealen, sondern ermittelt, wie die Vorverständnisse der Bürger, ihre Individualpositivierungen, im täglichen Streit vor und mit den autorisierten Textanwendern umgesetzt, welche Argumente dabei gefunden und für welche Gebiete des gesellschaftlich-staatlichen Lebens welche Möglichkeiten erarbeitet werden. Will man die endgültig überkommene autoritative Vorstellung eines formal richtigen Rechts nicht durch die aristokratische Vorstellung eines sachlich richtigen Rechts qua höherer Stellung in der Hierarchie ersetzen, dann muss gerade auch die alltägliche Einzelproblembewältigung einen hohen Stellenwert einnehmen. Denn die effektive Normativität der Verfassung zeigt sich nicht nur in Entscheidungen des BVerfG, sie zeigt sich gleichermaßen, in vielen Fällen sogar noch deutlicher, in Entscheidungen eines AG Reutlingen oder VG Berlin, deren Richter im Zweifel dem Bürger, dem Alltag und den konkreten Problemlagen sehr viel näher stehen als Entscheidungsträger höherer Ebene. Natürlich versteht der Richter eines AG oder VG nicht mehr von der Verfassung als ein Verfassungsrichter. Aber auch in den Entscheidungen der Untergerichte wird die Verfassungsordnung der BR Deutschland verwirklicht, und die Besonderheit dieser Verwirklichung besteht darin, dass sie zeitlich näher ist an der Entstehung des betreffenden Konflikts, näher ist am Ort und vor allem auch näher an der Sache, am Streitgegenstand. Bei aller Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung für die Intrastruktur, das Verstehen der Verfassung muss von unten her wachsen und als verstandene Verfassung nach un368

K. Hesse, Grundzüge (199520), Rn. 19.

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

ten wirken. Ob Menschen ihre Auffassungen über die sie interessierenden Fragen äußern können, ob Steuerzahler ihren steuerlichen Beitrag zu den Leistungen der Gesellschaft als noch angemessen empfinden, ob Menschen sich in ihren gemieteten Wohnungen „zu Hause“ fühlen können, ob die Vermieter sich faktisch enteignet fühlen – alle diese Fragen werden auf der unteren Ebene der Intrastruktur beantwortet. In diesen Fragen wird neben den Gesetzestexten immer auch die Vernünftigkeit eine Rolle spielen. Das „im Rahmen des Rechts Vernünftige“ ist ein bedeutsamer Faktor, bedeutsam vor allem auch insoweit, als ein Verstehen des Rechts als normativ nur im Ansehen der Einzelwirkungen und als Anschauung der Zusammenhänge gelingen kann. Hier liegt auch der besondere Wert einer Steuerungsdiskussion im Verwaltungsrecht, die sich der Frage stellt, wie ein Transfer von sachgerechten Erkenntnissen in allgemeine Grundsätze (und vice versa) gelingen kann. Ein solcher Transfer kann jedenfalls nicht gelingen, wenn man den Text immer wieder von neuem (und immer wieder anders) gegen die Realität hält und fragt, was er wohl sagen mag. Auf diese Weise wird das Hin- und Herwandern des Blicks bald zum bloßen Kopfschütteln, weil der Text und auch die Realität in jedem konkreten Fall immer wieder anders erscheinen wird. Diese konkreten Fälle sind es aber, die die Jurisprudenz ausmachen369. Hier befindet sich der Grundstock, auf dem sie sich entwickelt. Es sind die vielen Entscheidungen von Juristen, vor denen Menschen Recht gesucht haben: Mieter, die von Vermietern und Vermieter, die von Mietern schikaniert wurden; ein Grundstückskäufer, der sich vom Makler übervorteilt sieht; ein Verleumdeter, der Schmerzensgeld beansprucht. In den vielfältigen Entscheidungen über zahlreiche Streitfälle wird erkennbar, wie sich die Rechtsakte der verschiedenen Ebenen der Intrastruktur auswirken. Hier zeigt sich, welche Folgen das Recht tatsächlich hat. Eine Methodik des Rechts muss diese Folgen des Rechts in den Blick nehmen. Dabei ist die konkrete Anwendungsebene der Intrastruktur vor allem deshalb für ihre Stabilisierung geeignet, weil bei der Bewältigung der konkreten Fälle die Abdankung einer als verbindlich angesehenen überempirischen Vernunft nicht mehr von Bedeutung ist; es gelten vor allem die Gebote einer praktischen Vernünftigkeit. Müssen bei konkreten und überschaubaren Problemlagen Lösungen gefunden werden, dann entstehen Entscheidungskriterien 370. Ob diese Entscheidungskriterien weiterführend oder irreleitend sind, kann sich zwar meist erst nach gewisser Zeit erweisen; aber es sind immerhin Kriterien, die sich bei konkreten Streitschlichtungen schon einmal als relevant für die Lösung erwiesen haben und daher bei anderen Streitschlichtungen in der Regel wiederum zumindest 369 W. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (19793), 296: „Alles rechtliche Denken ist Problemdenken, und jede rechtliche Regelung ist eine solche eines Problems“. 370 Vgl. dazu O. Ballweg, Natur der Sache (1960), 43 ff., freilich vor dem Hintergrund eines Verständnisses von der „Natur der Sache“, der hier nicht gefolgt werden soll; dazu unten 5. Kap. C. Die hier erörterte Entwicklung von Entscheidungskriterien in der Praxis steht dem von R. Alexy, VVDStRL 61 (2002), 7 / 27 f., herausgearbeiteten empirischen „Erkenntnisspielraum“ nahe.

2. Abschn.: Die Vermachtung des Rechts

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Beachtung verdienen. Angesichts der Vielzahl von Entscheidungsvorgängen und der Kontinuität des rechtlichen Wirkens wird es unter der Perspektive verschiedenartigster Lösungen auch immer mehr unterschiedliche Kriterien für immer mehr neue Entscheidungsfälle geben. Und diese Kriterienvielfalt wird notwendigerweise die Vielfalt der möglichen Entscheidungsvarianten zumindest soweit einschränken, dass man eine fundierte Prognose über zukünftige Entscheidungen und auch über die praktische Vernünftigkeit von Entscheidung anstellen kann. Das Hin- und Herwandern des Blicks kann danach in der einzelnen Rechtsanwendung nur dann als Anwendung von Recht bezeichnet werden, wenn es die Erkenntnisse anderer Rechtsanwender einbezieht371. Als Methodik der Rechtsanwendung ist dieses so verstandene „Hin- und Herwandern des Blicks“ rechtspraktisch sinnvoll; rechts-theoretisch mag es willkürlich erscheinen, auch wenn es text-theoretisch dem verstehenden Anwenden von Texten nahe kommen sollte372. Als Funktionsmodus der Dogmatik aber, im Sinne eines Gesprächskontextes, in dem über das Recht diskutiert wird, ist es jedenfalls eine angemessene Vorgabe. Als Ergebnis ist festzuhalten: Die Dogmatik, auch jede „höhere Einsicht“, hat sich der empirischen juristischen Vernunft zu stellen und damit vor allem den Erkenntnissen aus konkreten Alltags-Entscheidungen, die im sachlich, zeitlich und örtlich Überschaubaren gründen. Von hier aus könnte auch ein Weg führen, auf dem die Dogmatik in die Lage versetzt wird, der Entrationalisierung von Gesetzen durch rationale Behandlung des Rechts entgegenzuwirken. Wenn Kant373 ein dogmatisches Vorgehen als zuversichtliche Ausführung eines Vorhabens „ohne vorhergehende Prüfung des Vermögens oder Unvermögens der Vernunft“ bezeichnet, dann könnte die juristische Dogmatik der Weg sein, die Intrastruktur zu stabilisieren und ihre Ergebnisse vorhersehbar zu machen, ohne sich an überempirischer Vernunft orientieren zu müssen. In einer Orientierung am „Überschaubaren“ kann sie die Erfahrungen der tagtäglichen Rechtsanwendung sammeln, ihre Grundlinien aufzeigen, diese Grundlinien als Leitlinien für folgendes Entscheiden formulieren und sich dabei um eine Abgleichung mit den Texten der geltenden (Verfassungs-)Gesetze bemühen. Vor dem Hintergrund der Vermachtung des Rechts, des ius strictum, ist dieser Prozess zunächst nur assoziativ mit dem Inhalt des gelten371 Dazu auch H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 / 75, der fragt, ob das Verfassungsgericht nicht zumindest an eine feststehende Gesetzesauslegung der oberen Bundesgerichte gebunden sein soll. Vgl. auch E. Picker, JZ 1988, 1 / 3, der vor allem die umfassende Dogmatikkritik dafür verantwortlich macht, dass Rechtsprechung in Dezisionismus abgleitet, zu einem „volitiven, intersubjektiv nicht mehr vermittelbaren Geschehen“ wird. 372 Zur Begründung bei F. Müller, oben C II a.A. 373 In Bezug auf die Metaphysik: Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), A 4 / B 7. 374 Weil sich die autorisierten Anwender der Verfassung auf die Geltung der Verfassung berufen, steht ihr Handeln immer in Bezug zum Verfassungstext; weil dieser Text aber als Verfassungsrecht vorgestellt wird, hat er eine Funktion im Miteinandersein der Rechtsanwender; es entwickeln sich Vorstellungen über dieses Recht. Diese Vorstellungen erscheinen dem einzelnen Anwender selbst dann als eine bestimmte Auslegbarkeit des Textes, wenn er sich von diesen Vorstellungen lösen will.

17 Schmitt Glaeser

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4. Kap.: Der Einstieg in das Verstehen der Verfassung

den Rechtssatzes verbunden, in dieser Assoziation liegt freilich auch eine „VorSicht“ auf das geltende Recht374. In der zunehmenden Verdichtung entstehen Begriffe, Grundsätze, Maximen und Leitgedanken, die einer effizienten Umsetzung der Rechts-Macht des Staates dienen. Es geht dabei – nota bene – nicht einfach um die effiziente Erfüllung der Aufgaben des Staates. Die Rechts-Macht des Staates ist eine rechtlich beschränkte Macht und damit nicht (nur) an Effektivität der Aufgabenerfüllung orientiert. Aus dieser Verdichtung des Rechtsgeschehens entsteht nicht unbedingt richtiges Recht. In diesem Prozess könnte aber ein Teil dessen entschlüsselt und formuliert werden, was der Methodik die größten Schwierigkeiten bereitet: das nicht reflektierte Vorverständnis.

5. Kapitel

Juristische Methoden im freiheitlichen Verfassungsstaat Rechtssätze werden in der „Gültigkeitsversion“, die ihnen die Rechtspraxis beilegt, normativ. Diese Gültigkeitsversion muss zwar nicht richtig, gerecht oder sachangemessen sein, aber sie ist gleichwohl für den Juristen eine Orientierung des Verstehens. Weil das Recht auf Befolgung angelegt ist, ist das, was aus ihm bislang hergeleitet wurde, ein bedeutsamer Ansatzpunkt für das Verstehen des Rechts; und zwar für das Thema Recht ebenso wie für die Probleme, die das Verstehen des Rechts im Einzelfall aufwirft1. Exemplarisch scheint dieser Gedanke in dem Diktum von Rudolf Smend2 auf: „Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe“. Rechtstexte arbeiten in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich, sie „sind“ dementsprechend auch unterschiedlich. Smend versagt sich eine über das „ist“ hinausgehende Charakterisierung des Unterschiedes. Für Rechts-Texte stellt er zunächst nur fest, dass sie in verschiedenen Kontexten ein unterschiedliches „Sein“ erlangen. Das unterschiedliche Sein des Rechts beruht auf der zeitlichen Variabilität der Gültigkeitsversionen des Rechts3. Juristen müssen mit dem aktuellen Sein des Rechts vertraut sein. Anwälte müssen wissen, wie sie ihre Klienten effektiv beraten und Richter müssen wissen, wie höhere Gerichte (wahrscheinlich) entscheiden werden, um zu vermeiden, dass die Parteien im Laufe des Instanzenweg immer wieder gegensätzliche Urteile über sich ergehen lassen müssen. Der Rechtsanwender hat sich dementsprechend gedanklich und argumentativ in die Intrastruktur des Rechts einzugliedern, er hat sich an den Funktionsmechanismen der Intrastruktur, an ihren Überlieferungen des Rechtlichen zu orientieren. In Bezug auf das richtige Verstehen des Rechts bietet die Intrastruktur des Rechts indes eine ambivalente Orientierung. Wie schon ausgeführt4. ist die Orien1 So meint K. Larenz (Methoden der Rechtswissenschaft (19916), 204 ff.), das Verstehen des Rechts müsse immer bestimmte Indizien berücksichtigen, die schon vorhanden sind. Diese „Indizien“ beziehen sich alle mehr oder weniger auf bereits Verstandenes: „Vergegenwärtigung der verschiedenen möglichen Bedeutungen“, „Textzusammenhang“, „eigene Kenntnis von der Sache der Texte“. 2 In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943), 410. 3 Z.B. zur Veränderung des grundgesetzlichen Menschenbildes bei gleichbleibendem Verfassungstext vgl. W. Schmitt Glaeser, in: Fs Maurer (2001), 1213. 4 Oben 4. Kap. 2. Abschn. A I.

17*

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tierung an der aktuellen Gültigkeitsversion des Rechts einerseits unumgänglich, um sich für das Gespräch mit den zurzeit autorisierten Rechtsanwendern zu qualifizieren, andererseits steht das Verständnis des Rechts hier und jetzt immer unter dem Vorbehalt eines anderen, „besseren“ oder „richtigeren“ Verständnisses. Wer z.B. die Beeinträchtigung der Substanz einer Sache unter § 823 I BGB subsumieren will, braucht kaum nach einer Begründung zu suchen5. Die Überlieferung des Rechtlichen stützt dieses Verständnis und so erübrigt sich eine (weitere) methodische Analyse der textlichen Vorgaben in dieser Bestimmung. Die Überlieferung kann aber niemanden davon abhalten zu fragen, wie denn durch eine Beeinträchtigung der Sachsubstanz das Eigentum an der Sache (i.S. eines Eigentumsrechts) eingeschränkt oder verletzt werden kann. Gleichermaßen kann das herkömmliche Verständnis des Rechts der unerlaubten Handlungen niemanden davon abhalten zu fragen, ob ein Rechtsentzug bei gutgläubigem Erwerb eines Dritten unter § 823 BGB fällt. Dies wird von der h.M. zwar (mit durchaus guten Gründen) abgelehnt, und im juristischen Tagesgeschäft wäre ein Rechtsanwender auch schlecht beraten, das herrschende Verständnis nicht weitestgehend zu befolgen; ungeachtet dessen bleibt es aber dabei, dass der einzelne Rechtsanwender jederzeit § 823 BGB auch anders verstehen kann, wenn er vor einer Situation steht, die ein neues Verständnis der Vorschrift nahe legt. Keine der beiden Herangehensweisen an das Recht ist per se vorzugswürdig. Die Orientierung am herrschenden (Vor-)Verständnis lässt sich ebenso gut rechtfertigen wie die Hinterfragung des Überlieferten. Mag uns auch die Tradition zu dem machen, was wir sind6, sie kann uns nicht davon abhalten, sie abzulehnen und etwas anderes werden zu wollen. Gerade in dieser Spannung liegt auch das Problem der vielfältigen Abstraktionsformen der Überlieferung, seien es nun Begriffe, seien es systematischen Zusammenfassungen, seien es Grundsätze. Wie Josef Esser7 deutlich gemacht hat, besitzen vor allem die Ordnungsbegriffe (subjektives Recht, Aufopferungsanspruch etc.) den wertlogischen Faktor, dass sie dogmatische Vorstellungen vermitteln, „die auch ohne legislative Tätigkeit ihren Ordnungswert entfalten und in der Normsetzung wie auch außerhalb derselben zutage treten“. Er fährt fort, dass auch dort, „wo bestimmte Begriffsbildungen sich erst anhand gegebener gesetzlicher Lösungen vollziehen, . . . die von ihnen verkörperten – d.h. aber doch: unter ihrer Terminologie zunächst einmal entwickelten – Bewertungsgrundsätze und Vorstellungen alsbald selbständig wirksam [werden] und . . . nicht mehr 5 Vgl. hierzu und zum folgenden F. Laudenklos, Rechtsarbeit ist Textarbeit, KJ 1997, 142 / 149 f. mN., der m.E. aber das zum Eigentum gehörende Recht des Eigentümers, andere von der Einwirkung auszuschließen, nicht hinreichend berücksichtigt; dass Laudenklos (150) die Erörterung zu diesem Problem bei der Frage der Wortlautgrenze ansiedelt, erklärt sich nur aus einer (fahrlässigen) Umformulierung des in § 823 verwendeten Wortes „Eigentum“ in „Eigentumsrecht“. 6 A. Kronman, 99 Yale L.J. 1029 (1990) 1066: „the distinctiveness of our humanity is tied to our participation in the world of culture“. 7 Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 41.

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Diener, sondern Meister des Gesetzes [sind]“. Diese „Herrschaft“ der Überlieferung ist freilich keine notwendige Herrschaft, sie kann es auch nicht sein, weil es weiterhin der Text der Rechtssätze ist, aus dem sich diese Herrschaft herleitet8, und weil die Bedeutung des Textes immer von dem Verständnis des jeweiligen Lesers in seiner Zeit abhängt. Für eine Methodik der Rechtsanwendung, die nachvollziehbare rechtliche Operationen erzeugt, ist es daher unabdingbar, dass der individuelle Rechtsanwender das überlieferte Verständnis zunächst wahrnimmt; und zwar auch dann, wenn er ihm nicht folgen will. Nur so lässt sich ein Bezug zum juristischen Verstehen der anderen Rechtsanwender herstellen. Ohne die Orientierung an der Überlieferung kann es nicht gelingen, den Text zu vermitteln9. Zudem lässt sich beim „unbefangenen“ Lesen des Textes nicht vermeiden, dass sich dieser mit den Individualpositivierungen verbindet und ebenso mit dem, was er bisher vom Recht weiß, d.h. auch und vor allem mit dem, was bisher (von anderen) verstanden wurde. Diese Situation ist nicht zu verändern, sie ist etwas Existenzielles. Eine Methodik muss sich der Frage stellen, wie sie sich auf diese Situation einstellt; mehr noch: Die Methodik ist die Auseinandersetzung mit diesem Existenziellen. Sie steht im Spannungsfeld der mannigfaltigen Vorprägungen der juristischen Arbeit.

A. Intersubjektivität statt Objektivität Angesichts der Variabilität der Gültigkeitsversionen des Rechts und der existenziellen Subjektivität der Rechtsanwendung ist es abwegig, Interpretationen des Rechts anzustreben, die objektiv richtig sind10. Dies kann allerdings auch nicht zur Folge haben, dass man sich nun alleine mit dem jeweiligen individuellen Verstehen begnügt. Für Rechtsanwender an der Spitze der Hierarchien lässt sich zwar die Subjektivität kurzfristig zur Stabilisierung nutzen, indem man auf die Notwendigkeit einer verbindlichen Streitentscheidung „wie auch immer“ abstellt. Eine solche Einstellung führt jedoch langfristig zu dem oben11 angesprochenen Kollaps der Intrastruktur in der Spitze. Auch die Spitzen der Hierarchie sind – zumindest auf Dauer – darauf angewiesen, inhaltlich Akzeptanz (sachliche Autorität) zu erreichen. Denn die Überantwortung der richtigen Rechtsanwendung an Hierarchien führt zu einer Entmachtung der in diesen Hierarchien untergeordneten (oder der 8 Vgl. A. Blankenagel, Tradition und Verfassung (1987), 43: „Über die stille Selbstverständlichkeit der historischen Vorgegebenheit von Wortbedeutungen hinaus deutet das [Verfassungs-] Gericht Begriffe, auf die es in der jeweiligen Entscheidung gerade ankommt, traditional . . . und inkorporiert auf diese Weise einen vor-verfassungsmäßigen Unterbau in die Verfassung“. 9 H.-G. Gadamer, Vorwort zur 2. Auflage (1965), in: Wahrheit und Methode II (19932), 437 / 442 f. 10 Zum formal richtigen Recht siehe oben 4. Kap. 2. Abschn. A II. 11 4. Kap. 2. Abschn. B III 1.

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Hierarchie nicht angehörigen) Interpreten, was über kurz oder lang zur Folge haben wird, dass sich diese von der größeren Gemeinschaft der Interpreten verabschieden und neue sektorale Gemeinschaften bilden, in denen sie Bedeutung und Selbstwert gewinnen können. Vermehren sich solche sektoralen Interpretationszirkel, dann wird das Recht insgesamt gespalten und kann am Ende keine gemeinschaftliche Orientierung mehr bieten. Diese Situation wird nicht dadurch besser, dass Alternativmeinungen sich durchsetzen und die vorher herrschende Rechtsanwendung nunmehr zur Alternative wird. Der einzelne Interpret darf nicht gezwungen werden, zwischen verschiedenen (geschlossenen) Interpretationsgemeinschaften zu wählen. Nur eine Wahl zwischen unterschiedlichen Interpretationen in einer offenen Gemeinschaft der Interpreten ermöglicht die fruchtbare Auseinandersetzung um die richtige Auslegung und damit die Herstellung einer Bindung an das geltende Recht. Sektoralisierungen der Rechtsgemeinschaft erfolgen vor allem über unterschiedliche Zwecke des Rechts, genauer: über ein unterschiedliches Verständnis dessen, welche Zwecke das Gesetz verfolgt oder welche Zwecke mit der Interpretation verfolgt werden sollten. Das zentrale Problem der Methodik liegt dementsprechend in der Auslegung der Norm nach Sinn und Zweck. Unterschiedlich werden insbesondere die Zwecke gesehen, die die Einzelnen dem individuellen Leben oder der Gemeinschaft zugrunde legen; sie sind es vor allem, die die Individualpositivierungen prägen. Dies kann auch nicht verwundern, weil wir uns zuallererst auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat verstehen und dort unsere Identität finden. Dementsprechend „sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins“12. Vernunft funktioniert nur unter den Bedingungen der Erfahrungserkenntnis – das Vernünftige ist in diesem Sinne Ansichtssache. Eine Diskussion über Zwecke ist folglich auch immer grundlegend, sie ist aber durchweg nie zu einem alle befriedigenden Ergebnis zu bringen. Ob z.B. der Zweck des Rechts in der Gewährleistung der Freiheit des Einzelnen oder in der Herstellung der Gleichheit zu sehen ist, kann zwar lange diskutiert werden, ein Konsens aber oder zumindest ein tragfähiger und aussagekräftiger Kompromiss kann insoweit kaum hergestellt werden. Ein Formelkompromiss, wie etwa „gleiche Freiheit“, der in dem oft apostrophierten „Spannungsverhältnis“ zwischen Art. 2 I GG und Art. 3 I GG eingegangen wird, bietet keine Handlungsanleitungen für Rechtsanwender. Auf diese Subjektivität der Zwecke ist die herkömmliche juristische Methodik nicht ausgerichtet, weil alle Methoden sich im Wesentlichen auf die Frage beschränken, wie denn der Gesetzestext zu verstehen sei und was aus ihm herzuleiten ist. Zwar soll (richtiges) methodisches Vorgehen nicht statthafte Einflüsse auf die Rechtsanwendung ausschließen, gerade die Vorverständnisse werden aber methodisch nicht thematisiert, sie bleiben im vor-methodischen Bereich der Reflektion über Recht und Wirklichkeit den Rechtslehren oder Rechtstheorien über12

Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode I (19906), 281.

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lassen13. Der Gedanke, es könne eine wie auch immer beschaffene Konsens-Gemeinschaft von Interpreten oder eine verbindliche Verfassungstheorie geben, zielt zwar auf eine Bewältigung dieser Grundproblematik der Interpretation ab, er kann aber kaum Lösungen bringen, weil es eine solche Gemeinschaftlichkeit nicht gibt. Gerade die fehlende Gemeinschaftlichkeit in politischen, ideologischen und weltanschaulichen Überzeugungen ist es, die der Rechtsanwendung die größten Probleme bereitet. Dementsprechend betont z.B. Reinhold Zippelius14, die Schwierigkeit sei nicht, übereinstimmende Werterfahrungen als Fundament einer Gerechtigkeitserkenntnis anzuerkennen, sondern eine breite Basis übereinstimmender Werterfahrungen tatsächlich zu gewinnen15. Der Erfolg eines solchen Vorhaben wäre zwar für die Orientierung im Recht ein unschätzbarer Gewinn, er ist aber so gut wie nicht erreichbar. Tatsächlich gehört es auch gerade zum Wesen des freiheitlichen Verfassungsstaates, eine Vielfalt unterschiedlicher Werte und Werterfahrungen anzuerkennen und zu praktizieren. Angesichts der diversen Gesellschafts- und Gerechtigkeitsmodelle muss eine Verfassung für verschiedene Modelle der Werterfahrung und Wertverwirklichung offen sein16. Ob man es nun gerne möchte oder nicht: Die bestehende „Gemeinschaft der Interpreten“ ist de facto ein „heterogener Haufen“, und so hat richtige Rechtsanwendung eine Methodik zugrunde zu legen, die unterschiedliche vertretbare Rechtsanwendungen aufeinander zurichtet und vermittelt. Denn im Endergebnis muss die Rechtsanwendung als allgemein nachvollziehbar erscheinen und dies kann nur gelingen, wenn man die Rechtsarbeit des Einzelnen aus der existenziellen Subjektivität herausführt bzw. wenn es dem Einzelnen gelingt, seine Subjektivität in der Rechtsanwendung zu transzendieren17. Dies bedeutet nichts anderes als die Suche nach Intersubjektivität18, also eine Vermittlung des Wissens, des Meinens und der Erfahrungen des einzelnen Interpreten mit anderen (bisher gefundenen) Interpretationen. Das Vorverständnis des Einzelnen muss in Bezug gesetzt werden zu den Erwartungen der anderen Rechtsanwender, die aus dem bisher Verstandenen erwachsenen. Ein solches Bezugssystem bietet die Intrastruktur des Rechts. Denn jegliche Intersubjektivität bei der Rechtsanwendung hat sich (ungeachtet aller Vorstellungen zum richtigen Recht) zumindest auch daran auszurichten, was unter den gegenwärtigen Machtverhältnissen das geltende Recht beZu den Verfassungslehren vgl. oben 1. Kap. Das Wesen des Rechts (19784), 116. 15 Richtmaß für die Wertungen des Richters haben für R. Zippelius (Wertungsprobleme im System der Grundrechte [1962], 131 ff.) der „in der Gemeinschaft herrschende Rechtsethos“, die „herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen“ zu sein. 16 E.-W. Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie, 53 / 86 ff.; vgl. auch P. Häberle, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß (19962), 59. 17 Vgl. zu der folgenden Problematik P. Schlag, 69 Tex.L.Rev. 1629 (1991). Es geht im folgenden freilich nicht darum, eine „transcendental subject strategy“ (1645) zu verwirklichen, wonach das Recht als Subjekt vorgestellt wird. 18 Vgl. K. Popper, Logik der Forschung (199410), 18: „Die Objektivität der wissenschaftlichen Sätze liegt darin, daß sie intersubjektiv nachprüfbar sein müssen.“ 13 14

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stimmt19. Diese Eckpunkte des juristischen Diskurses können revidiert werden, sie sind aber vorgegeben; auch wenn man sie ändern will, muss man ihre Grundlagen erkennen und ihre Strukturen durchschauen.

B. Die entwicklungsgeschichtliche Auslegung – der Einstieg in die methodische Rechtsanwendung Der Gesetzgeber verfolgt mit einem Gesetz bestimmte Zwecke und Ziele. Diese lassen sich formaliter auch im Gesetzestext fixieren (z.B. Erziehungsziele, Art. 131 BV). Für sich betrachtet können aus diesen Fixierungen aber kaum normative Gehalte hergeleitet werden. Entscheidend sind die Mittel, die der Gesetzgeber zur Herbeiführung seiner Ziele bereitstellt; sie bestimmen Möglichkeiten und Strategien der Zielverfolgung und sie geben Aufschluss über die Zwecke, die die Gesetzesanwendung (mittelfristig) verfolgen soll. Jedenfalls in die Zeit hinein bedeutet dies, dass der Interpret bei der Auslegung der Mittelnormierungen die ursprünglichen Zweckvorstellungen des Gesetzgebers nicht beibehalten kann, weil jede Anwendung des Gesetzes die strategische Ausgangslage im Hinblick auf die Ziele des Gesetzes verändert. So hat z.B. die Gründung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und später die Zulassung privaten Rundfunks das (verfassungsrechtliche) Verständnis der Rundfunkfreiheit verändert, weil durch sie jeweils neue Mittel zu ihrer Bewahrung geschaffen wurden und damit auch neue Zweckvorstellungen entstanden. Die Variabilität der Zwecke, die einer Norm zugeordnet werden können, garantiert die notwendige Flexibilität bzw. Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten zum Zeitpunkt der Gesetzesanwendung. Das ist der Kern der objektiven Gesetzesauslegung, wie sie vom BVerfG und von der h.M. vertreten wird. Nicht der Wille des Gesetzgebers ist entscheidend, sondern der verobjektivierte Wille des Gesetzes. In diesen Veränderungen der Rechtslage liegt regelmäßig auch eine Festschreibung politischer Grundentscheidungen, die sich in der Dogmatik mit der Umsetzung der Rechtssätze in Begriffen und Systemen fortsetzt. So konstatiert z.B. Bernhard Schlink20, dass manche Grundrechtskonzeptionen deutlich von politischen Absichten getragen sind; das Verständnis etwa der Grundrechte als institutionelle Garantien habe das Ziel, die Ausgestaltungen bestimmter Lebensbereiche abzusichern und das klassische Eingriffs- und Schrankendenken weise dezidiert konservative Grundzüge auf, indem es nicht dem status quo, sondern der Veränderung eine Rechtfertigungsnotwendigkeit auferlegt. Derartige Erkenntnisse sind kein Anlass zur Kritik der entsprechenden Grundrechtskonzeptionen, weil diese als dog19 Denn „das brüderliche Andere ist nicht zunächst in der Eintracht dessen, was man Intersubjektivität nennt, sondern in der Arbeit und in der Gefahr der Inter-rogation“, J. Derrida, Die Schrift und die Differenz (1967), 52. 20 EuGRZ 1984, 457 / 462 ff. mN.

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matische Verallgemeinerungen des zurzeit geltenden Rechts ihre Funktion verfehlen würden, wenn sie (nicht auch) politische Grundausrichtungen verkörperten. Eine Kritik kann allenfalls daran ansetzen, wie mit diesen Konzeptionen in der Dogmatik gearbeitet wird, z.B. wenn sie nicht problematisiert werden oder wenn man ihre (auch) politische Speicherfunktion nicht mehr wahrnimmt. Es kann nicht oft genug betont werden: Die Methodik muss, wenn sie Intersubjektivität herstellen und dadurch die Kommunikation der Juristen aufrechterhalten soll, der Tatsache gerecht werden, dass in der staatlichen Rechtsgemeinschaft nicht nur unterschiedliche Meinungen, Einschätzungen, Wertvorstellungen und Weltanschauungen existieren, sondern auch Beachtung zu finden haben. Das breite Spektrum der möglichen Auslegungen ist Folge und Garant des freiheitlichen Verfassungsstaates. Noch problematischer als die Invisibilisierung der Herleitung dogmatischer Konzepte ist die Dogmatisierung des Rechts, d.h. die Beschränkung des Nachdenkens über das Recht auf die einmal gegebene dogmatische Ausgangssituation. Zwar bietet die jeweils herrschende Dogmatik aussagekräftiges Material für die Bewältigung neuer oder für die Umgestaltung bestehender Problemlösungen; aus methodischer Sicht muss einer kritiklosen Hinnahme dieser Materialien indes dezidiert entgegengesteuert werden. Wie verleitend ein Beharren auf einmal gefundenen dogmatischen Positionen gerade für die Praxis ist, wurde im 2. Kapitel ausführlich dargestellt. Vor allem die Ausführungen zur Methodik von Justice Scalia21 sollten auch zeigen, dass diese Gefahr gerade dann besteht, wenn man sich der Subjektivität des Meinens bewusst ist. Und das Beispiel der Supreme Court-Entscheidung im Dred Scott-Fall22 hat überdies eine mögliche Motivation für eine derartige Überbewertung der Dogmatik deutlich werden lassen. Der Rechtsanwender wird immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass die Vorgaben des Souveräns, also vor allem die Gesetze, kaum Anhaltspunkte für eine hinreichend bestimmte (geschweige denn: eindeutige) Dezision bieten. Und selbst die Anhaltspunkte, die man hat, wandeln sich, wie gerade ausgeführt, mit den Anwendungen, die das Gesetz in der Zeit erfährt. Das ändert aber nichts daran, dass der Rechtsanwender in der Verantwortung vor allem gegenüber dem Gesetz steht. Orientiert er sich zu sehr oder gar alleine an der historischen Ausgangslage der Rechtsgebung oder an der Tradition, die sich unter dem Rechtssatz entwickelt hat, dann wird er dieser Verantwortung nicht gerecht. Im Ergebnis muss jede Anwendung des Gesetzes mit einer Bestätigung seines Wertes einhergehen, mit einer Zustimmung zum Gesetz23.

2. Kap. 2. Abschn. D. 2. Kap. 2. Abschn. C. 23 Vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft (1990), 47. Eben in der Verweigerung einer Zustimmung und einer Bestätigung des Wertes der US-Verfassung gründet der oben (2. Kap. 2. Abschn. C) formulierte Vorwurf gegen den Supreme Court in Dred Scott v. Sandford. Vgl. zur rein subjektiven Interpretation als „Feind jeder Entwicklung“ durch Schaffung der „Einheit von Gestern und Heute“ auch W. Leisner, Der Staat 8 (1969), 273 / 283. 21 22

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Die Verantwortung folgt vor allem aus der Macht, die dem Rechtsanwender dadurch zugewiesen ist, dass er über den Einsatz der gesetzlich vorgesehenen Mittel befinden kann. Zugleich wird diese Macht dadurch begrenzt. dass der Umgang mit den Mitteln verantwortlich zu geschehen hat. Anders und präziser formuliert: Auch wenn man die Zwecke des Gesetzes je nach Problemlage umformen und anpassen kann, die im Gesetzestext vorgesehenen Mittel sind nicht einfach austauschbar, können auch nicht weggelassen oder durch andere Mittel ersetzt werden24. Eine solche Vorgehensweise wäre contra legem. Die Grenze des Rechts sind die vorgesehenen Mittel, die in ihrer Gesamtheit eine sinnfällige Ausrichtung des Rechtssatzes strukturieren und eine völlige Umakzentuierung der ursprünglichen Gewichtung ausschließen. Dementsprechend richten sich die Forderungen des Recht in aller Regel auf ein bestimmtes Verhalten und nicht darauf, dass die Adressaten bestimmte Zwecke verfolgen sollten. Anders könnte das Recht auch nicht durchgesetzt werden: „Ein anderer kann mich zwar zwingen, etwas zu tun, was nicht mein Zweck (sondern nur Mittel zum Zweck eines anderen) ist, aber nicht dazu, dass ich es mir zum Zweck mache . . .“25. Das Recht hebt von den Zielen der Anwender und Betroffenen ab26, weil es dem Recht in letzter Konsequenz nicht genügt, zu überzeugen, es muss seine Vorgaben auch erzwingen können. Anders gewendet: Das Recht muss nicht überzeugen – es kann zwingen. Dementsprechend sieht Georg Jellinek27 den Unterschied zwischen politischen Normen und Rechtsnormen darin, dass politische Normen keine Geltung haben, dass sie nur kraft freier Anerkennung Beachtung finden und anders als Rechtsnormen niemandem aufgedrängt werden können. Im Vorgang der Rechtsanwendung ist die Erzwingungsmöglichkeit des Rechts indes stark eingeschränkt. Denn wiewohl die Rechtsanwender an das Recht gebunden sind und gezwungen werden können, es zu befolgen: letztlich sind sie es, die feststellen, was es besagt28. Gerade dies macht die Orientierung an den Mitteln so bedeutsam. Allein sie geben dem Gesetzestext eine Konsistenz, die auch die denkbaren Zwecke einschränkt. An dieser Stelle zeigt sich wiederum die Gefahr 24 Dies ist das grds. Problem sowohl der Entscheidung des BVerfG zur Bundestags-Selbstauflösung (E 62, 1) als auch der Entscheidung zu NATO-Einsätzen der Bundeswehr (E 90, 286). Während man im ersten Fall (mit erheblichen Bedenken) noch davon sprechen kann, dass das Gericht die Zwecke des Art. 68 GG neu definiert hat, muss man im zweiten Fall eine fehlende Anknüpfung an der Verfassung konstatieren, weil das Gericht hier den Art. 59 II 1 GG teleologisch im Wesentlichen nicht antastet und seine Rechtsfolge schlicht in einen anderen Sachbereich transplantiert (vgl. vor allem die Argumentation auf Seite 377, die vielleicht noch den ersten Einsatz der Bundeswehr im Rahmen einer neuen Nato-Konzeption tragen mag, nicht aber den zweiten). 25 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797 / 98), A 6. 26 Vgl. G. Struck, in: Fs Esser (1995), 167, der politische Justiz als eine Justiz benennt, in der das angestrebte Ziel prägend ist. 27 Allgemeine Staatslehre (19143), 20 f. 28 Die Diskussion über die Steuerungsfähigkeit insbes. des Verwaltungsrechts hat hierin ihre Basis. Und hier liegt auch die Ursache für die Schwierigkeiten einer Bewertung der Tätigkeit von Richtern im Unrechtsstaat.

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der Rechtsprinzipien, weil sie dazu neigen, Zwecke von den gesetzlich vorgesehenen Mitteln zu abstrahieren. Der Gesetzestext ist also einerseits sehr weit angelegt und für viele Interpretationen offen, andererseits aber gibt es eine Grenze, die nicht überschritten werden kann, ohne den Gesetzestext völlig aufzulösen und damit als Gegenstand einer Interpretation unbrauchbar zu machen. Insofern zeigt sich im Gesetzestext gleichsam eine Ablichtung der verfassungstheoretischen Grundlage freiheitlicher staatlicher Gemeinschaften. Auch im freiheitlichen Staat ist die Bandbreite der Meinungen, die existieren und Beachtung finden, sehr groß, aber doch insofern begrenzt, als die Gemeinschaft noch Gemeinschaft bleiben muss. In der Bandbreite des Gesetzestextes finden die verschiedenartigsten Individualpositivierungen ihre Entfaltung und ihre Bedeutung im Gesamtvorgang der Interpretation. Beachtung aber werden diese Individualpositivierungen nur erfahren können, wenn sie die Verbindung herstellen zu den unverrückbaren Positionen des Textes. Erst dadurch gewinnen sie Autorität. Auf dieser Stufe schlägt die induktive Verarbeitung des Vorverständnisses um in die deduktive Arbeit der Methoden, wobei alle herkömmlichen Interpretationsarten Verwendung finden können. „Umschlagen“ bedeutet aber keineswegs Distanzierung oder gar hartleibige Trennung der induktiven von der deduktiven Verarbeitung. Es ist vielmehr ein flexibles Stufendenken, ein Hin- und Herwandern des Blickes, weil andernfalls der deduktive Prozess wieder in bloße Subjektivität zurückfällt. Deduktion und Induktion stehen in einem Verhältnis der Wechselbezüglichkeit. Für die verständige Interpretation eines Rechtssatzes ist die Dogmatik von entscheidender Bedeutung. Sie leistet die Verknüpfung der textlichen Vorgaben an die Rechtsanwendung mit der Entwicklungsgeschichte bzw. der herkömmlichen Verwirklichung dieser Vorgaben als eine Darstellung dessen, wie das Recht bisher verstanden wurde29. In diesem Sinne ist sie die Grundlage, der Ausgangspunkt des Verstehens des Rechts30. Die Vermittlung zwischen Dogmatik und Text erfolgt weitestgehend über systematische Zuordnungen, Begrifflichkeiten und Rechtsgrundsätze. Idealtypisch werden dabei die Mittel beschrieben und klassifiziert, die tatsächlich zur Verwirklichung des Rechts eingesetzt wurden. Orientiert sich die Dogmatik zu stark an bestimmten Zwecken des Rechts, dann läuft sie Gefahr, politische Orientierungen des Rechts und der gegenwärtigen Rechtskultur zu zementieren. Auf mittlere Sicht kann dies in einem pluralistischen Gemeinwesen nur dazu 29 J. Habermas, Philos. Rundschau, Beiheft 5 (1967), 149 / 157: „Hermeneutisches Verstehen ist die Auslegung von Texten in Kenntnis schon verstandener Texte; es führt zu neuen Bildungsprozessen aus dem Horizont bereits vollzogener Bildungsprozesse; es ist ein neues Stück Sozialisation, angeknüpft an eine schon durchlaufene Sozialisation – indem es Tradition aneignet, setzt es sie fort“. Diese Anknüpfung bietet den Grund für eine Freiheit des Interpreten, die nicht nur Willkür ist; vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz (1967), 104: „die Freiheit [muss] erd- und wurzelgebunden sein . . . , sollte sie nicht bloßer Wind sein“. 30 O.W. Holmes, The Common Law (1881), 5: „In order to know what it [the law] is, we must know what it has been, and what it tends to become“.

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führen, dass die Dogmatik von vielen als parteiisch angesehen wird und damit ihre Funktion verliert, die Wahrnehmung aller Rechtsanwender zu steuern31. Die Dogmatik muss daher die Wahrnehmung der Rechtsanwender auf die maßgeblichen Entscheidungen ausrichten und nicht auf die, die bei der Verfolgung bestimmter Zwecke ergangen sind. Die methodische Einbeziehung der Vor-Urteile, die die Rechtskultur entwickelt hat, ist zu trennen von der Entstehungsgeschichte der Rechtstexte. Die Unterscheidung von prä- und postlegislativem Vorverständnis ist insofern bedeutsam, als Rechtssätze kreativ sind. Sie sollen nichts beschreiben, sondern etwas schaffen. Kreation ist aber immer Anwendung hin auf einen Zweck. Man kann Rechtssätze nicht schlicht als Ausdruck von etwas Bestehenden auffassen, denn sie sollen Bestehendes ändern oder darüber urteilen. Die historische Auslegung richtet sich in erster Linie darauf, zu bestimmen, welche Zwecke die (maßgeblichen) Autoren der Rechtstexte in welcher Weise erreichen wollten. Die so gewonnenen Ergebnisse sind keinesfalls unerheblich für das weitergehende Verständnis des Rechtstextes. Aber sie können nur einen sehr beschränkten Anhaltspunkt für ein umfassenderes Verständnis bieten, weil schon mit der ersten Umsetzung dieses historischen Willens der Rechtsanwender den Rechtssatz an die aktuelle bzw. nunmehr geänderte Situation angleichen muss. Und dies ist eben gerade die Eigenart des geschriebenen Rechts, dass der Rechtssatz selbst die Bedingungen für seine Veränderung schafft. Insofern kann man auch davon sprechen, dass das Gesetz „klüger“ ist als der Gesetzgeber, was nicht bedeutet, dass der Text im aktuellen Verständnis der ursprünglichen Produktion durchweg überlegen wäre. Wie Hans-Georg Gadamer32 zeigt, ist der Text im aktuellen Verständnis nur insofern aussagekräftiger, als er durch die Zeit „geläutert“ ist. Gadamer illustriert dies anhand eines Vergleiches zum Urteil über Kunst. „So ist das Urteil über Kunst für das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit. Offenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche Schöpfungen herangehen, Voraussetzungen, die uns viel zu sehr einnehmen, als dass wir sie wissen könnten und die der zeitgenössischen Schöpfung eine Überresonanz zu verleihen mögen, die ihrem wahren Gehalt, ihrer wahren Bedeutung nicht entspricht“33. Der unbefangene Blick auf einen Gegenstand kann nur den Gegenstand, nicht aber seine Funktion bzw. seine kulturelle Bedeutung enthüllen. Weil nun ein Rechtssatz die Funktion hat, die Rechtsunterworfenen in ihrem Verhalten zu steuern, kann die Bedeutung des Rechtssatzes, sein „Sinn“, nur ermittelt werden, wenn man sich verdeutlicht, welche Konsequenzen bisher aus ihm gezogen wurden. Dies hilft beim Verstehen der Rechtssätze, es gibt eine Orientierung, die die kreative Eigenart des Rechts – und damit ihre Zweckorientierung – handhabbar macht. Man mag zwar beim ersten Lesen des Rechtssatzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ schnell zu 31 32 33

Dazu oben 4. Kap. 2. Abschn. A I. Wahrheit und Methode I (19906), 301 ff. Wahrheit und Methode I (19906), 302 f.

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dem Sponti-Spruch gelangen: „Die Würde des Menschen ist unfassbar“. So liest ein Jurist den Satz aber nicht. Er liest ihn vor dem Hintergrund einer mehr als 50-jährigen Entwicklungsgeschichte, in dem der Satz viele Bedeutungen erlangt und Verhaltenssteuerungen in zahlreichen Einzelfällen geleistet hat34; er liest ihn also mit Vor-Urteilen. Diese Vorurteile erleichtern das Verstehen. Sie genügt aber nicht, den Rechtssatz vollständig zu begreifen, weil das bisherige Verständnis nicht notwendig auch das richtige ist. Die Trennung von entstehungs- und entwicklungsgeschichtlichem bzw. prä- und postlegislativem Vorverständnis ist des Weiteren notwendig, um der unterschiedlichen Art des Vorverständnisses gerecht zu werden. Wenn Josef Esser diese Trennung vermeidet, dann deshalb, weil er sich darum bemüht, die postlegislativen Vorverständnisse durch ihre evolutive Anknüpfung an die prälegislativen Vorverständnisse zu legitimieren. Diese Verknüpfung ist indes nicht notwendig und der Legitimationsstrang hängt auch gleichsam in der Luft; denn die Arbeit mit postlegislativen Vorverständnissen bedarf keiner Legitimation, weil sie unumgänglich ist. Rechtsanwender können gar nicht vermeiden, diese Vorverständnisse zu berücksichtigen, weil sie einerseits ihre eigene Gedankenwelt (bewusst oder unbewusst) prägen35, zum anderen aber auch, und dies ist von zentraler Bedeutung, weil sie ebenso Teil der Vorstellungswelt der anderen Rechtsanwender sind. Und hier liegt ebenso der Grund, warum die Beschäftigung mit dem postlegislativen Vorverständnis, also der Entwicklungsgeschichte des Rechts, unumgängliche Voraussetzung für einen methodischen Umgang mit Recht ist. In der Beschäftigung mit der Entwicklungsgeschichte erlangt man die Möglichkeit für ein informiertes Gespräch mit anderen Juristen, und nur auf diese Weise lässt sich Intersubjektivität herstellen. Dass von Juristen immer wieder ein vorurteil-freies Vorgehen gefordert wird, ist angesichts dessen abwegig. Der Grund für eine solche Forderung könnte auf den Glauben zurückzuführen sein, Vorurteile ließen sich mit Objektivität nicht vereinbaren. Sehr viel mehr aber beruht sie wohl auf dem Vorurteil gegen die Überlieferung36. Wenn das Recht aber nur mit Überlieferungen funktionieren kann, dann braucht das Recht auch Vorurteile, weil es anders nicht zu verstehen ist. Mehr noch: gerade der Text selbst ist eine Überlieferung, ein Vor-Urteil. Wenn man sich also als Jurist von Vor-Urteilen fernhalten soll, dann sollte man sich auch von Rechtssätzen fernhalten37. Die Ermittlung der Bedeutung dieser (qua Anwendungsbefehl zu beachtenden) Vorurteile ist die Aufgabe der juristischen Arbeit. 34 B. Cardozo, Judicial Process (1921), 51: „The tendency of a principle to expand itself to the limit of its logic may be counteracted by the tendency to confine itself within the limits of history.“ 35 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (19722), 32: Das Vorurteil der Juristen wird „weitgehend durch Ausbildung erworben und durch Kenntnis der typischen Interessenkonflikte und ihrer dogmatisch oder kasuistisch anerkannten Beurteilung weitgehend koordiniert“. 36 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode I (19906), 275. 37 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode I (19906), 276 ff.

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Der Anwendungsbereich des Rechts, das zu regulierende Sein, wird für den Juristen vor allem als bereits reguliertes Sein sichtbar, als Ansammlung von Entscheidungen über dieses Sein, das in systematischen Aussagen über das geltende Recht geordnet, in rechtlichen Begriffen vereinfacht und in Grundsätzen verallgemeinert wurde. Eine substantiierte Auseinandersetzung über das richtige Recht, das richtig verstandene Recht, erfolgt freilich in erster Linie im Vorfeld der Systematisierung, vor der Fassung in Begriffe also, und vor der Verallgemeinerung in Grundsätzen. Es erfolgt in den Auseinandersetzungen darüber, ob eine konkrete Entscheidung richtig war, ob eine konkrete Entscheidung auf einen neuen Sachverhalt übertragbar ist, ob die früher eingesetzten Mittel auch heute noch zum Erfolg führen können. Dabei ist es wenig sinnvoll, darüber zu streiten, inwieweit der eine oder der andere Interpret richtige oder falsche Zwecke verfolgt. Die Einbeziehung der Zwecke kann der Herstellung von Intersubjektivität nur hinderlich sein. Außerdem sind die ursprünglichen gesetzlichen Zwecke im Zeitpunkt der Anwendung immer neu zu formulieren, weil erst geklärt werden muss, in welcher normativen Ausgangslage man sich befindet. Einfacher und vor allem sehr viel erfolgversprechender ist dagegen eine Erörterung darüber, ob bestimmte bislang eingesetzte Mittel zu guten oder schlechten Ergebnissen geführt haben; einer solchen Diskussion kann man sich kaum entziehen38, weil Ergebnisse, Folgen von Entscheidungen, nicht negiert werden können. Man muss sich ihnen stellen. Hier regiert die praktische Vernunft. Überschaubar werden diese eingesetzten Mittel, wenn man sie wie Mosaiksteine zu einem Bild fügt. Nichts anderes ist das, was oben39 als kompositorische Systembildung bezeichnet wurde. Dabei besteht allerdings immer die Gefahr, dass das so zusammengefügte Bild erstarrt, sich den Individuen entfremdet, und dies umso mehr, je länger das System unverändert bleibt. In diesem Spannungsfeld steht jegliche Systembildung und ebenso jegliche Herausbildung von Begriffen oder Grundsätzen. Die Spannung muss sich verstärken, wenn – was nur allzu leicht geschehen kann – in den systemischen Zusammenhängen, Begriffen und Grundsätzen die Grundlage dieser Arbeitsmittel – nämlich die konkreten Entscheidungen – aus den Augen verloren und damit eine „Dogmatisierung“ des Rechts bewirkt wird, gegen die sich vor allem jene wenden, deren Individualpositivierung eine andere Ausrichtung der Entscheidung nahe legt. Auf der einen Seite sind Systeme, Grundsätze und Begrifflichkeiten notwendig, um das „kollektive Gedächtnis“ zum eigenen Ich in Relation zu stellen. Andererseits muss sich das Individuum in diesem Bild positionieren, es muss seinen Eigenstand substantiiert behaupten können. Dazu dient in erster Linie der Text. Er ermöglicht es den einzelnen Interpreten, ihre Überzeugungen und Kenntnisse geltend zu machen. Damit konkretisiert sich die bereits oben40 der Methodik zugewiesene Aufgabe, die Befindlichkeiten des freien 38 Vgl. dazu die Gegenüberstellung von Methodik und Akzeptanz bei H.-J. Strauch, Rechtstheorie 32 (2001), 197 / 199, der darin ein wesentliches Element der Bruchstelle zwischen Theorie und Praxis sieht. 39 4. Kap. 2. Abschn. B II 2. 40 3. Kap. 1. Abschn. a.E.

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Menschen aufzuspüren, ihnen zur Wirksamkeit zu verhelfen und dem methodischen Verfahren eine Funktion für die fortlaufende Verbesserung des geltenden Rechts (hin auf eine effektive Normativität) zu geben. Für den Einzelnen stellt sich nach der Ermittlung der aktuellen Gültigkeitsversion des Rechts die Aufgabe, dem Text zur Geltung zu verhelfen. Soweit sich der Rechtsanwender dem bisherigen Verständnis anschließt, bedarf es keiner über die entwicklungsgeschichtliche Auslegung hinausgehender Überlegungen. Problematisch ist die Erst- und die Neu-Interpretation, also das von der Überlieferung nicht präjudizierte oder von der Überlieferung abweichende Verständnis des Rechtstextes. Hier liegt die zentrale Verantwortung des individuellen Rechtsanwenders. Diese Verantwortung gründet darin, dass der Rechtstext auf den einzelnen Leser angewiesen ist, um Gestalt zu erlangen und sich in der Rechtsentwicklung immer wieder von neuem behaupten zu können. Das unterschiedliche „Sein“ des Gesetzes, von dem Rudolf Smend spricht, ist nichts anderes als die Unterschiedlichkeit der jeweils aktuellen Interpreten. Nur sie können den Rechtstext heute lesen und ihn zum Jetzt in Bezug setzen. Weder die Erstnoch die Neu-Interpretation eines Rechtstextes kann alleine auf der Ebene der herkömmlichen Methodik überzeugend begründet werden, weil diese keine Hilfsmittel dafür bereitstellt, ein neues Verstehen des Rechtstextes zum überlieferten Verständnis des Rechts in Bezug zu setzen. Dies gilt auch für die erste Interpretation eines neuen Rechtssatzes. Gerade hier ist es von besonderem Interesse, in welchem Bezug der neue Text zum bisherigen Verständnis des rechtlichen Umfeldes, zur verwendeten Terminologie oder zur Sinnausrichtung der entsprechenden Kodifikation steht. Auch hier ist die Ermittlung des intrastrukturellen Kontextes der neuen Norm der einzige Weg, Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, welche Vor-Verständnisse die Rechtsordnung den Interpreten zur Verfügung stellt. Entsprechendes gilt selbstverständlich, wenn ein Rechtsanwender eine Neu-Interpretation eines Rechtssatzes für geboten erachtet. Auch in diesem Fall bedarf es einer Klärung des bisher Verstandenen, um deutlich werden zu lassen, welche Gültigkeitsversion des Rechts der Rechtsanwender im Auge hat und welche Veränderungen er vornehmen will. Eine Auseinandersetzung um die Richtigkeit der aktuellen Gültigkeitsversion des Rechts erlangt mit der entwicklungsgeschichtlichen Auslegung eine bedeutsame Vorprägung. Zum einen kann man vor diesem Hintergrund klären, ob eine abweichende Rechtsanwendung die bisherigen Erkenntnisse der Intrastruktur hinreichend zur Kenntnis genommen hat. Hinsichtlich des Überbelegungs-Urteils des BVerfG wurde oben41 ausführlicher dargestellt, welche Aspekte der mietrechtlichen Intrastruktur durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berührt und welche Aspekte durch das Gericht nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Zum anderen lässt sich in diesem Rahmen erörtern, ob eine Veränderung der Gültigkeitsversion des Rechts der Normativität des Rechts dienlich ist oder ob sie diese ohne hinreichende Notwendigkeit 41

4. Kap. 2. Abschn. C II.

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übermäßig beeinträchtigt. Verwiesen sei hier auf die Ausführungen zu den Entscheidungen in Lüth und Blinkfüer42. Diese Überlegungen allein reichen aber nicht aus, um eine neue Interpretation des Rechts zu begründen oder abzulehnen. Gerade in der Auseinandersetzung mit Josef Esser43 sollte deutlich gemacht werden, dass eine zu starke Orientierung an der Überlieferung der Bedeutung der Rechtstexte nicht genügen kann. In jedem neuen Anwendungsfall des Rechts steht der Leser in einer neuen Zeit und unter neuen Perspektiven. Die Frage danach, welche Bedeutung der Rechtstext aktuell hat, ist immer wieder neu zu stellen und sie kann potentiell immer wieder neu beantwortet werden. Auch hier helfen die überkommenen Canones der Auslegung kaum weiter, um zu begründen, warum die neue Lesart besser ist als die bisherige. Gewiss könnte behauptet werden, dass die Worte sich auch anders verstehen lassen, dass man den Rechtstext auch in einen anderen systematischen Bezug setzen könnte oder dass es in den Materialien Hinweise für einen anderen, abweichenden Willen des Normgebers gibt: all diese Instrumente der Interpretation wurden aber schon für die Ermittlung der aktuellen Gültigkeitsversion eingesetzt. Eine erneute methodische Textanalyse allein ist daher nicht in der Lage, hinreichend schlüssig eine größere Richtigkeit der entsprechenden Interpretation zu begründen44. Besser könnte sie nur dann sein, wenn der, der sie jetzt einsetzt, klüger wäre als die, die sie bisher verwendet haben. Darüber wird sich aber – selbst wenn es denn so wäre – kaum ein Konsens herstellen lassen, wenn auch ein solcher Begründungsansatz nicht von vorneherein ausgeschossen werden kann. Ein Neuansatz bei der Interpretation eines Rechtssatzes im Sinne einer Fortschreibung der Entwicklungsgeschichte lässt sich in der Regel nur mit der Begründung plausibel vermitteln, die Wirklichkeit habe sich geändert oder sie sei auf eine andere Weise als bisher zu bewerten. Eine solche Argumentation ermöglicht am besten substantiierte Kritik des überlieferten Verständnisses des Textes, weil Rechtsätze auf die Wirklichkeit bezogen sind, die sich nicht nur objektiv fortlaufend ändert, sondern auch immer wieder neuen subjektiven Interpretationen unterliegt. Gerade die Argumentation des Supreme Court im Fall Brown v. Board of Education45 macht eindrucksvoll deutlich, dass man nur dann zu einer anderen Auslegung des gleich lautenden Textes gelangen kann, wenn man ihn auf eine veränderte Wirklichkeit bezieht, die nun den Text in einem anderen Licht erscheinen lässt. Der Bezug von Text und Wirklichkeit ermöglicht es, den Text gegenüber der Überlieferung zu behaupten und aktuell zu halten. Die Herstellung dieses Bezuges, die Vermittlung des Textes, ist die zentrale Aufgabe des Rechtsanwenders. Dabei fließt notwendig die Individualität des Inter4. Kap. 2. Abschn. C II. Insbes. 4. Kap. 2. Abschn. C III. 44 Es wurde schon oben, 4. Kap. 2. Abschn. C II, darauf hingewiesen, dass die methodische Anwendung des Rechts kein Kriterium für die Rechtmäßigkeit der daraus folgenden Entscheidung ist. 45 Dazu näher oben 2. Kap. 3. Abschn. C. 42 43

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preten in die Überlegungen ein, weil der Bezug von Text und Wirklichkeit auf beiden Seiten interpretatorische Stellungnahmen erfordert.

C. Die Suche nach der Bedeutung des Textes in der Wirklichkeit Um den Text aktuell zu verstehen, bedarf es einer Berücksichtigung der Wirklichkeit, in der der Text im Augenblick der Auslegung Bedeutung gewinnen soll. Rechtssätze sind allerdings nicht in der Lage, die Wirklichkeit in ihrer vollen Konkretion abzubilden46. Text und Wirklichkeit müssen aufeinander zugerichtet werden. Entscheidend ist dabei vor allem, welche Aspekte der Wirklichkeit auf welche Weise für das Verstehen des Textes genutzt werden. Für Friedrich Müller47 ist es der Normbereich, der auf die Norm bezogene Ausschnitt sozialer Wirklichkeit, der den Fall (mit-)entscheidet. Arthur Kaufmann48 bringt Sollen und Sein durch eine Analogie „in die Entsprechung“, für Wolfgang Fikentscher49 ergibt sich die gerechte Entscheidung aus einer Zusammenschau von Sach- und Gleichwertung. Freilich scheint es in all diesen Ansätzen die Gesetzmäßigkeit des zu normierenden Gegenstandes zu sein, die die Konkretisierung leitet. Grundlegend ist immer die „Entdeckung der Wirklichkeit“ (Franz Wieacker), die „Natur der Sache“50 oder die „geistige Wirklichkeit“ (Rudolf Smend51). Die Diskussion über die Rolle der (Verfassungs-)Wirklichkeit bei der Analyse der Verfassung hat in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Vitalität verloren52. 46 Aristoteles, Nicomachische Ethik, V, 1137b f. Anders im Ansatz R. Jhering, Der Zweck im Recht (19044), der die Sachgerechtigkeit vorrangig aus dem Recht selbst deduzierte, ohne dabei einen transzendenten Bezug herzustellen. 47 Juristische Methodik (19977). 48 Natur der Sache (19822), 18 ff., 37 ff. 49 Methoden des Rechts IV (1977), 190: Die Gleichwertung ist das eigentliche Anliegen der Norm. Sie legt den Sachverhalt, auf den diese anzuwenden ist, fest und bestimmt daher, was rechtlich als gleich anzusehen ist. 50 Die wirkliche Verfassung eines Landes sind die in dem Land bestehenden tatsächliche Machtverhältnisse; dazu K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (1959), 3 ff. 51 In: Staatsrechtliche Abhandlungen (19943), 119 / 136: Staat als Teil der „geistigen Wirklichkeit“ in den – integrierenden – Lebensäußerungen; ähnlich C. Schmitt, Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), dessen Ausführungen (und Motivation) auch die Gefährlichkeit dieses Ansatzes verdeutlichen. 52 Vgl. demgegenüber noch H. Heller, Staatslehre (19704), 249 ff. („korrelative Zuordnungen“); H. Schambeck, Natur der Sache (1964); K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (1959), 16; G Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie (19743), 277 ff.; W. Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit (1968); M. Diesselhors, Natur der Sache (1968), 218 ff.; K. Grimmer, Die Rechtsfiguren einer „Normativität des Faktischen“ (1971); F. Müller, Juristische Methodik (19977); M. Heckel, in: HdbStKiR I (1974), 445 / 501; R. Schmid, Unser aller Grundgesetz? (1971), 13.

18 Schmitt Glaeser

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Die Relevanz des Wirklichkeitsdenkens wurde dabei nicht abgeschwächt oder gar negiert; es wurde nur „in den Untergrund abgedrängt“. Eine Erklärung kann darin gefunden werden, dass sich die Normativität des Faktischen den Angriffen aus der notwendigen Normativität der Verfassung nicht erwehren konnte und sich daher dorthin zurückzog, wo sie „frei“ wirken kann, nämlich in der Teleologie oder im „Kosmos der Verfassungsprinzipien“. Ihre neuen Namen sind „Folgenbetrachtung“ und „Normbereich“ oder eben „Prinzipien der Verfassung“53. Im Ergebnis fragen all diese Konzepte aber weiter nach der „Natur der Sache“54. Hinter diesem Gedanken steht die Idee, dass die causa, also die Streitsache, unter Umständen dadurch dem Parteienstreit entzogen werden kann, dass man das ermittelt, was sich aus ihr, aus ihrer „Natur“ selbst ergibt. Dabei wird auch grundsätzlich eine festlegende Kompetenz des Gesetzgebers in Frage gestellt: Die Natur der Sache ist primär eine Grenzenziehung gegen menschlichen Einfluss55 (ex post), pointiert ausgedrückt: das Sein dirigiert das Sollen. Für eine Methodik der Rechtsanwendung ist dieser über- bzw. nebenpositive Gehalt aber unbeachtlich. Erheblich ist allein die Grundüberlegung, dass die Rechtsregeln auf die zu beurteilende Lebenswirklichkeit „passen“ (müssen). So führt der Supreme Court in South Carolina v. U.S.56 aus: „[W]hile the powers granted [by the Constitution] do not change, they apply from generation to generation to all things to which they are in their nature applicable.“ Ob die Rechtsregeln auf die „Dinge“ anwendbar sind, hängt von den Entscheidungen über den Inhalt der Regeln und über die Bedeutsamkeit bestimmter Eigenarten der „Dinge“ ab, und dieses Urteil ist von dem Vorverständnis sowohl der Regelungsbedürftigkeit als auch des Regelungszieles abhängig. In der praktischen Arbeit der Juristen ist die Zuordnung beider Aspekte vor allem eine Frage, wie man die spezifischen Aussagen über die Wirklichkeit auf die allgemeinen Aussagen in den Gesetzen ausrichten kann, ob und gegebenenfalls wie man das Sein der Wirklichkeit in dem Sollen der Rechtssätze einzuordnen hat. Diese Frage steht in engem Bezug57 zum Universalienproblem58, das hier wertvolle Erkenntnisse vermittelt.

53 P. Häberle, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 17 / 33, sieht das Wirklichkeitsdenken in der Rechtspraxis der Verfassungsinterpretation in Verfassungsprinzipien wie „Parteienstaat“, „Öffentlichkeit“, „rechtliche Stellung der parlamentarischen Opposition“, „Entwicklung vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat“. 54 Dazu auch K. Larenz, Methodenlehre (19916), 334. 55 Vgl. H.-G. Gadamer, Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: Wahrheit und Methode II (19932), 66 / 67. 56 199 U.S. 437 (1905) 449. 57 Gerade K. Popper, Logik der Forschung (199410), 35 ff., hat den engen Zusammenhang deutlich gemacht, der zwischen der Unterscheidung nach allgemeinen und besonderen Sätzen (Ober- und Untersätzen) und der Unterscheidung nach Universal- und Individualbegriffen besteht. 58 Dazu näher die Beiträge in: Stegmüller (Hg.), Das Universalien-Problem, 1978; bezogen auf die Natur der Sache: A. Kaufmann, Natur der Sache (19822), 58 ff.

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Universalien sind z.B. „Staat“, „Gerechtigkeit“, „Privatsphäre“, „Staatsmann“; Individualbegriffe sind „Hans Meier“, „Kurfürstendamm“ oder „White House“, „Bismarck“. Der Universalienstreit nun betrifft die Frage, ob z.B. das „White House“ ein Regierungsgebäude ist, weil es zu einer Gruppe von Dingen gehört (also „Downing Street # 10“, „Elysee-Palast“, „Bundeskanzleramt am Spreebogen“), die als Regierungsgebäude bezeichnet werden (Position der Nominalisten), oder ob es als Regierungsgebäude bezeichnet wird, weil es eine bestimmte Wesenseigenschaft hat, z.B. zumindest einem Teil der Regierung als Arbeitsgebäude zu dienen (Position der Essentialisten59). Karl Popper hat den Universalienstreit für die Methoden der Wissenschaften folgendermaßen übersetzt: Eine essentialistische Methode fragt nach dem Wesen der Universalien, eine nominalistische Methode nach dem Verhalten der einzelnen Dinge und Individuen. Dabei können Nominalisten problemlos neue Begriffe einführen oder alte Termini neu definieren, während Essentialisten – dies wird von Popper nicht betont, es soll aber der Vollständigkeit halber angeführt werden – den Begriffen nur solche Erweiterungen oder Veränderungen zugestehen, die sich aus Eigenarten der Dinge, des Verhaltens und der Individuen rechtfertigen lassen, die bisher unter eine Universalie gefasst wurden. Die Frage des Universalienstreits besagt: Gibt es ein Wesen der Dinge, das sie vereint? Ist dieses Wesen der Dinge existent? Kann es erkannt werden? Ist es der Reflexion überhaupt zugänglich? Und diese Fragen lassen sich nicht nur bei einzelnen Begriffen stellen; auch für komplexere Strukturen, die in Universalien- und Individualbegriffs-Kombinationen zusammengefasst werden, können diese Fragen sinnvoll sein. Ein Beispiel dafür ist der Art. 13 I GG und eine diesbezügliche Entscheidung des BVerfG60. Bezeichnen die Begriffe und Begriffskombinationen „Wohnung“, „Verletzung“ oder „Verletzung der Wohnung“ (Art. 13 GG) Wesenseigenschaften, die in der „Betriebsstätte des Handwerkers X“, dem „Betreten und der Überprüfung auf Sicherheitsmängel durch den Bediensteten Y der Behörde X“ enthalten sind? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es der Klärung des Anliegens von Rechtssetzung. Entweder bedeutet Rechtssetzung die Entscheidung, dass von nun an alle Dinge, Individuen und Verhalten, die die in dem Rechtssatz genannten Wesenseigenschaften haben, von diesem Rechtssatz erfasst werden sollen; oder es sollen nur die Erscheinungen unter das Recht fallen, die zum Zeitpunkt der Rechtssetzung mit den dort verwendeten Universalien bezeichnet wurden; oder es sollen nur die Erscheinungen unter das Recht fallen, die zum Zeitpunkt der Anwendung des Rechts mit den dort verwendeten Universalien bezeichnet werden. In der zweiten Alternative können neue Elemente der Wirklichkeit nicht normativ erfasst werden61. Art. 13 I GG z.B. könnte dann ein Ausspähen einer Wohnung durch Satelliten nicht erfassen, weil eine „Verletzung der Wohnung“ vom Weltall 59 Man bezeichnet diese Position auch als Realismus. Der Begriff Essentialismus wird von K. Popper verwendet: Das Elend des Historizismus (19795), 22. Ich halte ihn für treffend. 60 Dazu ausführlicher oben 2. Kap. 2. Abschn. B. 61 Vgl. dazu Olmstead v. U.S., 277 U.S. 438 (1928) und oben 2. Kap. 2. Abschn. A.

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aus zum Zeitpunkt der Rechtssetzung undenkbar war. In der dritten Alternative wird das Anliegen des Gesetzes insoweit unerheblich, als es nur noch auf den gegenwärtigen Sprachgebrauch ankommt. Damit können auch hier neue Entwicklungen normativ nicht eingebunden werden. So wäre es dann z.B. kaum noch möglich, die Einschaltung der Polizei in Çhat-Rooms“ des Internet unter Art. 10 GG zu subsumieren. In beiden Alternativen wird das Recht alleine durch den Sprachgebrauch gesteuert. Die Sprache wird zum Verfassungsgeber und damit gleichzeitig zum Gefängnis der Verfassung. Angesichts dieses Befundes ist nur eine essentialistische Betrachtung möglich, was auch dadurch unterstrichen wird, dass das Recht im Kontext des Sittlichen steht. Ob und welche Wesenseigenschaften der verschiedenen Aspekte der Wirklichkeit für das Recht von Bedeutung sind, wirft die Frage nach dem Bezug von Sein und Sollen auf. Folgt man dabei Heraklit, Platon, Aristoteles und Hegel, dann wird der Schwerpunkt auf das Sein zu legen sein. Denn das Sein ist das Erscheinungsbild eines Wesens, das wahr und ewig und dementsprechend dem Recht überlegen ist. Folgt man dagegen den Denkern der Aufklärung, so ist das Gesetz als Produkt des Verstandes nicht nur in der Lage, das Sein zu gestalten, sondern es ist auch dazu berechtigt: Der „Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten“62. Bei der Zuordnung von Rechtstext und Wirklichkeit sind beide Perspektiven wichtig. Der Ausgangspunkt aber muss darin liegen, dass man dem Gesetzestext eine Aussage darüber entnehmen kann, wie die Wirklichkeit sein soll. Das Sein darf das Sollen nicht beherrschen, weil man sonst der Vernunft die Möglichkeit nimmt, die Welt zu gestalten, vor allem aber: sie zu verbessern63. Freilich kann es dabei nicht sein Bewenden haben, weil es ohne die Anerkennung einer determinierenden Macht der Wirklichkeit keine ernsthafte Möglichkeit gäbe, die Veränderungen der bestehenden Interpretation eines gegebenen Textes zu begründen. Eine Veränderung des Sollens ohne die Berücksichtigung des Seins könnte kaum begründen, warum von der bisherigen (begründeten) Intrastrukturausrichtung abgewichen werden soll. Beide Aspekte des Rechtsverstehens sind unverzichtbar, um die Kluft zu überwinden, die die klassische Metaphysik durch die vorgängige Entsprechung in der Schöpfung überbrückte. Für die säkularisierte Philosophie ist angesichts des Verlusts normativer Vorgaben ein Bezug auf einen einigenden Geist nicht mehr denkbar64. Und so stellt sich dem Juristen die Aufgabe, den Konnex will-kürlich herzustellen. Die Gesetze, die er verstehen und anwenden muss, sind in ihrer Entstehung auf die Welt ausgerichtet. Sie haben den Willen zur Macht; die Erkenntnis des M. Horkheimer / Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1944), 10. Dazu ausführlich: 2. Kap. 3. Abschn. D. 64 So meint F. Nietzsche, Der Wille zur Macht (1883 bis 1888), 3. Buch, I, b, Aph. 474: „Daß zwischen Subjekt und Objekt eine Art adäquater Relation stattfinde; daß das Objekt etwas ist, das von innen gesehn Subjekt wäre, ist eine gutmütige Erfindung, die, wie ich denke, ihre Zeit gehabt hat.“ 62 63

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Gesetzes, seine Interpretation, ist das Werkzeug dieser Macht65. Die Gesetzgeber maßen sich an, die Welt verstehend zu begreifen. Diese „Anmaßung“ ist in der Notwendigkeit der Normierung des Lebens begründet und gerechtfertigt und so kommt der Jurist nicht umhin, dem Gesetz die Fähigkeit für die Bewältigung der Kluft zuzusprechen. Vor allem eine objektiv-teleologische Auslegung kann nur dann vorgenommen werden, wenn man unterstellt, dass die im Gesetz verwendeten Universalien Wesenseigenschaften und nicht nur Etiketten sind, die den Erscheinungen der Welt qua Rechtssetzung angeheftet wurden oder qua Rechtsanwendung angeheftet werden. Nur dann kann es einen Sinn und Zweck des Rechts geben, der dem Sinn des Wortlauts und den verfolgten Zwecken des Normgebers entspricht und beide in der Welt entfaltet. Der Gegenstand der teleologischen Auslegung ist also nicht alleine die Norm, sondern auch die Wirklichkeit, auf die die Norm angewendet wird. Es geht um die Ermittlung der rechtlichen Natur der Sache66. Für die Jurisprudenz gilt, was Immanuel Kant auch für die Naturwissenschaften festgestellt hat, nämlich dass der Verstand seine Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern sie dieser vorschreibt. Diese Haltung ist die einzige, die dem Recht angemessen erscheint und dies vor allem deshalb, weil es dem Recht nicht um Wahrheit geht, sondern um Rechtlichkeit. Während man noch sagen könnte, dass die Natur die mit ihr befassten Wissenschaften nötigt, ihre Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, kann das Recht in der Tat vom Leben fordern, dass es seine Forderungen erfüllt. Damit kann der Jurist das Sein so zu erkennen suchen, wie es das Gesetz will. Die gesetzliche Sprache ist die Mitte des Bewusstseins67 des Juristen. Der Einwand der kritischen Rationalisten, so würden Worte, so würde Sprache nicht „funktionieren“68, ist zutreffend, er trifft nur nicht. Denn auch wenn das Recht keine andere Sprache verwendet als „der Mensch auf der Straße“ oder andere „Spezialisten“, die Aufgabe der Sprache im Recht ist eine andere. Dies zeigt sich gerade im Gegenbild zur Verwendung von Sprache in den Naturwissenschaften. Für die Naturwissenschaften ist der Universalienstreit zugunsten des Nominalismus entschieden. „Fragen wie ,Was ist das Leben?‘ oder ,Was ist die Schwere?‘ spielen in der Wissenschaft keine Rolle.“69 In den Naturwissenschaften werden Definitionen nur genutzt, um Darstellungen knapp zu halten. Die Jurisprudenz befasst sich dagegen gerade und im Wesentlichen damit, Definitionen zu Vgl. F. Nietzsche, Der Wille zur Macht (1883 bis 1888), 3. Buch, I, b, Aph. 480. Dies ist nicht die „Natur der Sache“, die z.B. O. Ballweg, Natur der Sache (1960), zur Aufdeckung seiender Ordnungen verwendet, die unabhängig von der Normsetzung existieren: „Natur der Sache ist die objektiv feststellbare, sachlogische Strukturiertheit der Wirklichkeit, deren seinsmäßiger Ordnungscharakter das Recht maßgebend strukturiert.“ Vgl. auch A. Kaufmann, Natur der Sache (19822), 57, der die Zuordnung der Natur der Sache zum Recht aber wohl nicht volitional-essentialistisch versteht. Eine stärkere Betonung des Willenselements bei der Bestimmung der Natur der Sache findet sich bei G. Sprenger, Naturrecht und Natur der Sache (1976), 146. 67 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), VI C c (479). 68 Vgl. den Überblick bei J. Boyle, 133 U.Pa.L.Rev. 685 (1985) 708 ff. 69 K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II (19927), 21. 65 66

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schaffen. Dies mag als eine befremdliche Beschreibung der Jurisprudenz erscheinen. Verdeutlicht man sich indes die Struktur von Definitionen, so verliert sich die Irritation. Eine Definition besteht aus Definiendum (das zu Definierende) und Definiens (Definitionsformel). Das Definiendum ist das, um dessen Beschreibung es uns geht, das Definiens ist die Beschreibung. Für die Jurisprudenz übersetzt ist das Definiendum der Rechtssatz und das Definiens das Urteil (Beschreibung der Wirklichkeit wie sie sein soll). In den Naturwissenschaften sind die Begriffe, die im Definiendum verwendet werden, nicht ausschlaggebend; die dort verwendeten Begriffe können beliebig gebraucht werden. In der Jurisprudenz dagegen ist das Definiendum erheblich; denn es enthält eine Norm oder mehrere Normen. Die Aussage der naturwissenschaftlichen Definition ist, dass man eine bestimmte Konstellation (ausgedrückt durch das Definiens) mit dem Definiendum verbinden will. Die Aussage der juristischen Definition ist, dass ein Definiendum eine bestimmte Konstellation erfassen muss. Karl Popper70 bezeichnet es als Eigenart der (natur-) wissenschaftlichen Definition, dass man sie von rechts nach links lesen muss (erst Definiens, dann Definiendum) und zeigt damit den Unterschied zu einer essentialistischen Interpretation auf. „Für alle Oszillatoren gilt, dass ihre Energie niemals unter einen gewissen Betrag (nämlich hv:2) sinkt“. Entscheidend ist der zweite Halbsatz, denn ob man das Definiendum „Oszillator“ oder „Mäusebalg“ nennt, ist unerheblich. Der Jurist muss Definitionen dagegen von links nach rechts lesen, denn links steht das, was zu erkennen seine Aufgabe ist: Eine Meinungsäußerung (i.S.d. Art. 5 I GG) liegt vor, wenn nicht nur eine Tatsache festgestellt wird. Entscheidend ist der erste Halbsatz, denn ob der Gehalt des zweiten Halbsatzes zutreffend ist, bestimmt sich aus dem Definiendum. Der Jurist muss das Definiendum, die Norm, als Essenz dessen sehen, was er ihr zuordnen will; der Jurist interpretiert Definitionen essentialistisch. Ist er mit der Frage konfrontiert, ob ein zwei Monate alter Fötus ein Recht auf Leben hat, dann muss er ansetzen bei dem „Recht jedermanns auf Leben“ und fragen, ob dieses Lebensrecht auch für den Fötus gilt. Dabei wird er sich vor allem fragen, ob der Fötus Anteil hat an dem, was Leben wesentlich ausmacht: „Was ist Leben?“ oder „Was ist der Sinn des Satzes: Jeder hat ein Recht auf Leben?“. Damit kommt man zu dem, was Immanuel Kant71 als den Unterschied in der Rolle der Definitionen in Philosophie und Mathematik bezeichnet. Für ihn muss in der Philosophie „die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließen, als anfangen“72. Dies liegt daran, dass empirische Begriffe nur genau dargelegt (expliziert) werden können. Eine Explikation fordert aber nicht, dass jedes Merkmal, das in jeder Situation maßgeblich sein könnte, angegeben wird73. Anders bei der Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II (19927), 20 f. Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), A 727 ff. / B 755 ff. 72 Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), A 731 / B 759. Vgl. dazu auch G.F.W. Hegel, Wissenschaft der Logik (1812–1816), 537 ff.: zum Ungenügen der synthetischen Methode für die Philosophie. 73 Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), A 728 / B 756. Kant geht noch weiter und möchte nur von der vorbereitenden Darlegung (Exposition) sprechen. 70 71

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Mathematik: Dort wird „der Begriff durch die Definition zuerst gegeben“, und „so enthält er gerade nur das, was die Definition durch ihn gedacht haben will“74. In der Naturwissenschaft kann es nicht gelingen, Universalien mit Hilfe von Individualien zu definieren75. Der Jurisprudenz muss dies gelingen, sie muss qua gesetzlicher Forderung durch Abstraktion von den Individualien zu den im Rechtssatz enthaltenen Universalien aufsteigen, auch wenn es logisch undurchführbar ist76: Jede Weltvereinfachung hat ihre Lebenslüge77. Des Rechts „successful operation over vast areas of social life depends on a widely diffused capacity to recognize particular acts, things, and circumstances as instances of the general classifications which the law makes“78. Ist folglich die Verbrennung der dem Agierenden gehörenden amerikanischen Fahne auf dem Gelände der Dokumenta in Kassel Gegenstand der verfassungsrechtlichen Bewertung einer Verurteilung aufgrund des § 103 I StGB, weil eine amerikanische Delegation dabei stand, so ist zunächst zu fragen, ob die Universalie Meinungsäußerung (Art. 5 I GG), Kunst (Art. 5 III GG) oder Eigentum (Art. 14 IGG) das Wesen dieses Vorganges erfasst. Eine Antwort lässt sich nur finden, wenn der Vorgang selbst vor dem Hintergrund der zu Gebote stehenden Rechtssätzen gesehen wird. Dies gelingt wiederum nur, wenn die Norm vor dem Hintergrund der durch sie normierten Wirklichkeit verstanden wird. Es geht also nicht um die nominalistische Bezeichnung eines Vorganges als „Meinung“, „Kunst“ oder „Eigentum“, sondern um die essentialistische Erkenntnis des Wesens des Vorganges. Gerade in einem essentialistischen Verständnis der Teleologie des Rechts lassen sich auch zwei Arten der Rechts – „Erkenntnis“ besser verstehen. Zum einen ist dies die „intellektuelle Intuition“, die von Aristoteles als Fähigkeit des Menschen bezeichnet wird, das Wesen eines Dings zu schauen. Diese „intellektuelle Intuition“ begegnet uns in juristischen Begründungen oft in Begleitung von Wörtern wie „natürlich“, „offensichtlich“ oder „evident“. In vielen Fällen wird eine solche Argumentation auch überzeugen können. Daraus indes die Methode der Erkenntnis zu machen, wie dies vor allem Georg F.W. Hegel und Gerhart Husserl unternehmen, ist nicht zulässig. Die Intuition bleibt für die juristische Methodik aber gerade in der Zeit nach Friedrich Nietzsche durchaus unerlässlich, weil angesichts des Perspektivenverlusts nur noch die „Empfindsamkeit“ bleibt79. Zum anderen ist dies der Weg über die Begriffe. Eine Vorstellung, die eng mit dem Essentialismus verbunden ist, ist die Forderung nach einer Enzyklopädie der Essentialia. Für die Jurisprudenz ist dies die Rückführung des corpus iuris auf Grundbegriffe. Ein solcher Hang zur Begriffsschöpfung ist eng mit der essentialistischen Natur der Jurispru74 75 76 77 78 79

Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87), A 732 / B 760. K. Popper, Logik der Forschung (199410), 37. K. Popper, Logik der Forschung (199410), 37. O. Marquard, Zeitalter der Weltfremdheit?, in: Apologie des Zufälligen, 76 / 85. H.L.A. Hart, The Concept of Law (1961), 124. Vgl. P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft I (1983), 20.

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denz verknüpft; sie ist aber weitestgehend kontraproduktiv. Denn sie kompliziert das ohnehin schon komplexe Recht weiter und führt auf dem Weg zum „Geist des Rechts“ doch nur aus ihm hinaus. Durch die notwendig essentialistische Sicht der Rechtsgelehrsamkeit werden die Juristen versucht, das Wesen nicht nur in den normierten Sachverhalten zu erkennen, sondern das Wesen von Recht selbst zu erkennen. Die Jurisprudenz richtet ihren Blick damit in die falsche Richtung. Dass man in Sachverhalten nach dem „Wesentlichen“ sucht, das eine Verbindung zu der anzuwendenden Norm herstellt, ist unumgänglich und folgt aus dem Geltungsund Normierungsanspruch des Rechts. Das Recht fordert Anwendung und damit Erkenntnis des rechtlich Wesentlichen in der Wirklichkeit. Die Erkenntnis des Wesens im Recht ist demgegenüber nicht hilfreich. Das Rechtsgeschäft z.B. kann zwar induktiv erklärt werden, die so entwickelten Grundzüge haben aber keine normative Wirkung auf Normsätze, die Rechtsgeschäfte zum Gegenstand haben. Der Normgeber unterliegt auch nicht der Verpflichtung, das Wort „Rechtsgeschäft“ nur dann zu verwenden, wenn die zu normierende Konstellation mit einem Rechtsgeschäft im herkömmlichen Sinn verbunden ist. Die Verwendung eines Begriffes hat folglich nur Folgen für eine entstehungs- und entwicklungsgeschichtliche Auslegung in dem Sinne, dass eine Vermutung aufgestellt werden kann: „Dort, wo Rechtsgeschäft draufsteht, ist auch Rechtsgeschäft drin“. Die essentialistische Sicht der Universalien in den Rechtssätzen rechtfertigt sich auch aus der Entstehung von Recht. Rechtssetzung soll Realitätssteuerung sein80. Idealiter begreift der Gesetzgeber die Realität vollständig, erkennt ihre Gesetzmäßigkeiten, blickt in die Zukunft, erfasst die anzustrebenden Verhältnisse und schreibt im Rechtssatz nieder, was geschehen soll. Dabei findet er – wiederum idealiter – Formulierungen, die jeder sofort begreift, deren Bedeutung offensichtlich ist. Tatsächlich begreift der Gesetzgeber die Realität nicht wirklich, sondern meist nur so, wie sie ihm von Sachverständigen oder z.B. Interessenverbänden geschildert oder auch vorgegaukelt wird; er weiß kaum etwas von der Zukunft, hat keine oder nur eine sehr vage Vorstellung davon, wie die Welt ist und aussehen sollte („gut“, „gerecht“); er schreibt im Rechtssatz in oft recht allgemein gehaltenen, zuweilen auch etwas vagen Ausdrücken nieder, was geschehen soll. Rechtssätze sind so immer aus Beobachtungen gewonnene Hypothesen, nie induktive Schlüsse. Wollte man aus dieser Situation eine extrem-konsequente Folgerung ziehen, dann müsste man provokant fordern, der Gesetzgeber sollte sich legislativer Aufgaben enthalten. Solange man dies nicht tut, müssen sich die Rechtsanwender auf die ideale Sicht stützen und das Recht so gut wie möglich umsetzen. Die verschiedenen Aspekte der Ermittlung des Wesens der rechtlichen Universalie ergeben sich also zum einen aus einem Rückblick auf den „abstrakten Begriff“81, die Systematik und Entstehungsgeschichte, zum anderen aber auch aus dem, was die Sprache des Gesetzes mit der Wirklichkeit verbinden soll, das „We80 81

Vgl. zum folgenden auch H.L.A. Hart, The Concept of Law (1961), 128. G.F.W. Hegel, Kleine Logik (1830), § 163, Zusatz 1.

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sen“ der konkreten Wirklichkeit, wie sie auf den Rechtstext bezogen werden kann. Dabei darf man allerdings nicht so weit gehen, die Begriffe des Gesetzes als „konkrete Begriffe“ i.S. Georg F.W. Hegels82 aufzufassen, nämlich als das „wahrhaft Erste“, als das, was die Dinge „durch die Tätigkeit des ihnen innewohnenden und in ihnen sich offenbarenden Begriffs“ sind. Denn so verstanden wären die konkreten Begriffe dem Gesetzgeber vorgegeben, die Definition würde von rechts nach links und nicht von links nach rechts gelesen. Die Zuordnung der Begriffe und Begriffskombinationen zum Sachverhalt würde die Frage ausblenden, ob das Gesetz eine solche Zuordnung auch „will“83. Gleichzeitig darf man bei der Suche nach der rechtlichen Natur der Sache nicht unterstellen, die Wirklichkeit sei für sich selbst genommen zweckfrei. Auch wenn die Wirklichkeit dem Recht prinzipiell unterworfen wird, so finden sich in ihr doch immer auch Eigengesetzlichkeiten, die Einfluss auf den Rechtsfindungsprozess nehmen werden. Gerade die Postulierung einer Zweckfreiheit der Wirklichkeit macht sie anfällig für Zweckentfremdungen84. Auch wenn man also grundsätzlich davon ausgehen muss, dass die Wirklichkeit dem Recht „will-kürlich“ zugeordnet wird, so kann das Recht die Wirklichkeit nicht vollständig beherrschen. So wenig wie der Gesetzgeber beliebig Wirklichkeiten kreieren kann, so wenig kann es der Interpret negieren, wenn sich die Wirklichkeit verändert oder wenn sich die Rezeption der Wirklichkeit durch die Menschen verändert.

D. Entwicklungsgeschichte und Text Die entwicklungsgeschichtliche Auslegung ermittelt die bestehende Gültigkeitsversion des Rechts und kann für sich – ohne Hinzuziehung anderer Methoden – jede Rechtsanwendung begründen, die an dieser bestehenden Gültigkeitsversion festhält. Durch die Anknüpfung an dem bislang Verstandenen wird auf das intrastrukturelle (systemische) Vorverständnis Bezug genommen. Der Text des Rechtssatzes wird erst von dem Augenblick an bedeutsam, wenn die eigene Individualpositivierung mit dem intrastrukturellen Vorverständnis nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Jegliche innovative, d. h. die aktuelle Gültigkeitsversion des Rechts modifizierende Rechtsarbeit muss sich auf den Text berufen, weil nur dieser dem Rechtsanwender Autorität gegenüber den anderen Rechtsanwendern in der HieKleine Logik, Sämtliche Werke, Bd. 8, 360 (§ 163, Zusatz 2). Dies vernachlässigt C.-W. Canaris in seiner Kritik an K. Larenz, wenn er das System des konkret-allgemeinen Begriffs als philosophisch bezeichnet (Systemdenken [1969], 49, Fn. 141. Die „Vernachlässigung“ ist freilich vor dem Hintergrund von Canaris’ Gesamtkonzeption sehr verständlich, weil er ein überpositives System errichtet, ein System, welches den Text transzendiert, welcher in der Konzeption von Larenz eine zentrale Rolle spielt). Zum konkret-allgemeinen Begriff vgl. B. Russell, Our Knowledge of the External World (1926), 48, Fn. 1. 84 O. Marquard, Hegel und das Sollen (1964), in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 42, Fn. 23. 82 83

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rarchie der Intrastruktur vermittelt. Der „angerufene“ Text steht immer in Verbindung mit der zu normierenden Wirklichkeit. Ändert sich die Wirklichkeit oder wird sie durch einen Rechtsanwender anders (also verändert) wahrgenommen, dann kann sich auch das Verständnis des Rechtstextes ändern85. Die Annahme einer solchen Änderung und ihre Auswirkung auf das Verstehen des Textes ist zunächst eine Frage der Intuition des individuellen Rechtsanwenders. Diese Intuition ist ein Vorverständnis, das eine entscheidende Rolle in der Weiterentwicklung des Rechts spielt. Als Methode lässt sich dieses Vorverständnis dann einsetzen, wenn es eingebettet wird in das Vorverständnis der anderen Rechtsanwender, was voraussetzt, dass die Entwicklungsgeschichte des zu verstehenden Rechtssatzes aufgezeigt und die eigene Interpretation darauf bezogen wird. Nur auf diese Weise lässt sich das subjektive Gefühl als Vorverständnis einer neuen Wirklichkeit so schlüssig darlegen, dass die veränderte Zuordnung von Norm und Wirklichkeit allgemein bzw. intersubjektiv vermittelbar wird. Hierfür stehen die herkömmlichen Methoden zur Verfügung, freilich nicht alle. Keine Hilfe bietet die Entstehungsgeschichte, weil sie nur Antworten auf Fragen geben kann, die in der Vergangenheit unter den Bedingungen einer nicht in gleicher Weise existierenden und verstandenen Wirklichkeit gegeben wurden. Auch eine Wortlautauslegung, verstanden als rein grammatikalische Auslegung, kann nicht weiterhelfen, weil der Text für sich gleich bleibt, so dass sich auf dieser Basis allein neue Interpretationen nicht begründen lassen. Damit stehen von den herkömmlichen Canones noch zwei zur Verfügung: Systematik und Telos. Die Berücksichtigung des Systems kann Hilfestellungen geben, wenn sich die normative Umgebung der Vorschrift geändert hat. Ist dies der Fall, bietet die systematische Auslegung einen ersten Ansatz der Neuinterpretation und führt bereits über das rein Subjektive, sprich: über das bloße Vorverständnis des Interpreten, hinaus; dies gilt jedenfalls dann, wenn sich die Kontext-Normen im Text oder in der Gültigkeitsversion gewandelt haben. In beiden Fällen kann man sich – zumindest für das Ob einer Neuinterpretation – schon auf die Meinungen anderer berufen, sei es (bei einer textlichen Änderung) auf den Gesetzgeber, sei es (bei veränderten Gültigkeitsversionen) auf die Intrastruktur. Stets von zentraler Bedeutung ist das Telos der Norm. Dabei bedeutet teleologische Auslegung nicht Auslegung nach Sinn und Zweck des Rechtssatzes. Entscheidend ist die Frage, ob die Mittel, die in der Norm zur Verfügung gestellt werden, in der neuen Lesart des Gesetzes zu einem gerechteren oder besseren Ergebnis oder doch zu einem besser nachvollziehbaren Ergebnis führen. Es geht also – negativ – darum zu zeigen, dass bei gleichbleibender Interpretation das Ergebnis kaum oder gar nicht mehr nachvollziehbar wäre und – positiv – darum, dass bei einer NeuInterpretation das Ergebnis einleuchtender, schlüssiger, nachvollziehbarer würde. 85 Jeder materiellen Rechtsnorm haftet der „Vorbehalt“ nicht nur einer inhaltlichen Konkretisierung, sondern auch der Ergänzung, Um- und Neubildung an; vgl. dazu K. Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht (1969), 45.

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Die Bedeutung einer dergestalt wirklichkeitsbezogenen Neuinterpretation lässt sich anhand der in den vorstehenden Kapiteln besprochenen Entscheidungen des Supreme Court und des BVerfG beispielhaft illustrieren: Exemplarisch ist die Entscheidung Olmstead v. U.S.86. Durch die Erfindung des Telefons wurde eine neue Kommunikationsmöglichkeit eröffnet, die u.a. auch dem Staat eine neue Möglichkeit der Beobachtung von bestimmten Verhaltensweisen der Bürger verschaffte. Zunächst ist offensichtlich, dass man es hier mit einer Veränderung der Wirklichkeit zu tun hat. Chief Justice Taft sah gleichwohl keine Notwendigkeit, die Bestimmungen des 4. Amendments anders zu verstehen wie bisher. Entscheidend war und blieb für ihn der Wortlaut und das am Wortlaut orientierte überlieferte Verständnis der Verfassung. Die neue Wirklichkeit löste bei ihm keine Sinn-Frage aus. Anders Justice Brandeis: Seine rechtliche Intuition wird durch die Veränderung der Wirklichkeit angesprochen und damit ist für ihn die Frage nach dem Sinn des Textes neu gestellt. Entscheidend sind nach seiner Auffassung nicht die Gegenstände, die wortwörtlich unter die Schutznorm fallen. Er sieht das Anliegen der Bestimmung darin, die Privatsphäre der Menschen vor bestimmten staatlichen Beeinträchtigungen zu schützen. Und die rechtliche Natur der Sache liegt nach Brandeis Dafürhalten eben in der Privatheit der Telefongespräche. Zur Begründung dieser intuitiven Verknüpfung von Telefongesprächen mit dem Text des 4. Amendments führt er vor allem das teleologische Argument an, dass nur ein Verwertungsverbot die Verwaltung effektiv daran hindert, illegale Überwachungen durchzuführen. Seine Argumentation ist vor allem deswegen auch für andere anschaulich und nachvollziehbar, weil er den Verständniskontext der bisherigen Gültigkeitsversion des Rechts durch die Bezugnahme auf den Schutz der Privatsphäre vermittelt und so an Vor-Verstandenes anknüpft. Gerade in der Gegenüberstellung zu dieser Argumentation von Justice Brandeis lässt sich nun auch besser darstellen, warum die Betriebsbetretungs-Entscheidung des BVerfG87 nicht zu überzeugen vermag. Dem Gericht geht es um den Sinnbezug zwischen Art. 13 GG und dem Betreten von Geschäftsräumen durch Staatsorgane. Dieser Sinnbezug, diese rechtliche Natur der Sache, die sich auf die Universalie „Wohnung“ beziehen soll, wird dadurch erläutert, dass das Gericht detailliert zeigt, wie die „Formel“ des Art. 13 GG in (zeitlich und national) anderen Rechtsgemeinschaften verstanden wurde und noch verwendet wird. Insoweit geht es im ersten Schritt methodisch zutreffend davon aus, welche Vorverständnisse der Text anspricht und welche Erkenntnisansätze daraus gewonnen werden können. Was fehlt ist der zweite Schritt, der in jeder innovativen Rechtsanwendung unverzichtbar ist: die rechtliche Konstruktion einer Natur der Sache, die in Bezug zum Text der Verfassungsbestimmung gesetzt werden kann. Zwar gewinnt das Gericht durch die entwicklungsgeschichtliche Interpretation Indizien für eine Einbeziehung von Geschäftsräumen in den Schutzbereich des Art. 13 GG. Nachvollziehbar 86 87

2. Kap. 2. Abschn. A. 2. Kap. 2. Abschn. B.

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wird die Entscheidung dadurch aber nicht. Es fehlt eine überzeugende Begründung dafür, dass Geschäftsräume Eigenarten aufweisen, die für eine „Wohnung“ i.S.d. Art. 13 GG typisch sind. Ein solcher Nachweis kann nur geführt werden, indem detailliert dargestellt wird, dass Geschäftsräume an der rechtlichen Natur der Sache teilhaben, die in Art. 13 GG durch den Begriff „Wohnung“ bezeichnet wird. Jedenfalls bei reinen Geschäftsräumen (Fabrikations- und Lagerhallen, Warenhäuser u.Ä.) ist keineswegs einsichtig, warum solche Räumlichkeiten grundrechtlich wie eine Wohnung vor staatlicher Überwachung geschützt werden sollen88. Schließlich halten sich in diesen Geschäftsräumen in aller Regel bestimmungsgemäß Menschen auf, für die die Räumlichkeiten keinen Bezug zu ihrer Privatsphäre haben und für die eine staatlicher Überwachung von nicht selten existenziellem Interesse ist. Für Kunden, Arbeiter und Angestellte ist z.B. eine erleichterte Überwachung der Schadstoffbelastung, der Arbeitsbedingungen oder der Hygiene von großer Bedeutung. Natürlich erkennt auch das BVerfG diese Problematik und im Ergebnis führt die Erkenntnis dazu, dass das Gericht die Beschränkungsmöglichkeiten des Grundrechts bei Geschäfts- und Betriebsräumen weiter fasst89. Seine (Selbst-)Zweifel werden auch dadurch offenkundig, dass es dem Gesetzgeber nahe legt, die Problematik durch eine Verfassungsänderung zu lösen90. Spätestens an dieser Stelle hätte der Senat darüber nachdenken müssen, ob ihm in seinen bisherigen Überlegungen nicht etwas entgangen ist. Aus methodischer Sicht ist die Schwäche der Betriebsbetretungs-Entscheidung vor allem darin sehen, dass das Verfassungsgericht das in Art 13 GG vorgesehene Mittel (Schutz vor staatlichen Eingriffen) in keinen hinreichenden Bezug bringt zu der Wirklichkeit, in der die Vorschrift normative Kraft entfalten soll. Die Zuordnung von Text und Wirklichkeit ist dann besonders schwierig, wenn von einer bestehenden Zuordnung abgewichen werden soll, wenn sich also in der Überlieferung schon bestimmte Zuordnungen gebildet haben, die dem Interpreten nicht mehr akzeptabel erscheinen. Dafür beispielhaft sind insbesondere Brown v. Board of Education91 des Supreme Court und die „Mieteigentums“-Entscheidung92 des BVerfG. In beiden Fällen wird offenkundig, dass Rechtsanwendungen ohne entwicklungsgeschichtliche Methode kaum „nachgehbar“ (methodisch) sind. In Brown begründete das Gericht die Verfassungswidrigkeit der Rassentrennung im Bildungssektor vor allem damit, dass die Bildung eine entscheidende Rolle für die Lebenschancen der Menschen spielt. Dies ist aber nichts Neues und dementsprechend erscheint Brown – bei aller Sympathie, die man der Entscheidung entgegenbringen mag – als wenig überzeugend. Bei näherem Hinsehen wird freilich deutlich, worin das veränderte Verständnis der Wirklichkeit besteht. Wenn der Gerichtshof 88 89 90 91 92

Dazu überzeugend E. Stein, Die Wirtschaftsaufsicht (1967), 121 ff. E 32, 54 / 76 f. E 32, 54 / 76. 2. Kap. 3. Abschn. B. 4. Kap. 2. Abschn. C II.

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ausführt, dass „viele Neger herausragende Erfolge sowohl in den Geistes- und Naturwissenschaften als auch in der Geschäfts- und Berufswelt erreicht haben“93, dann wird damit angedeutet, dass die bisher vorherrschende Sicht, wonach Afroamerikaner minderwertige Menschen sind, falsch ist und dass daher das Verfassungsrecht von einer Gleichwertigkeit der Menschen aller Hautfarben auszugehen hat94. Wenn der Supreme Court sich nicht deutlicher artikuliert, dann wohl deswegen, weil er davor zurückscheute, seine bisherige Rechtsprechung zu desavouieren. Gerade dies aber hätte er sich nicht ersparen dürfen. Um eine nachvollziehbare Herleitung anzubieten – und damit: um methodisch vorzugehen – hätte er in aller Deutlichkeit herausarbeiten müssen, auf welchen Überzeugungen die rechtliche Intrastruktur des Rassenrechts beruht und wie seine Entscheidung hier verändernd eingreift. In der Folge wird daher auch die „separate but equal“-Formel des Gerichtes in Plessy95 nicht widerlegt; denn der Supreme Court versäumt es darzulegen, dass die Verfassung in seinem Verständnis zu besser nachvollziehbaren Entscheidungen ermächtigt, wenn davon ausgegangen wird, dass die Menschen nicht nach Hautfarbe getrennt behandelt werden dürfen. Justice Harlan, der den dissent in Plessy verfasst hatte, berief sich demgegenüber auch explizit auf neue (und – nach heutigen Maßstäben – bessere) Einsichten. Nur vordergründig berief er sich dabei auf die Geschichte der neuen Verfassungsbestimmungen zur Abschaffung der Sklaverei. An zentraler Stelle wird deutlich, dass er vor allem die Konsequenzen der Entscheidung in Plessy für ungerecht erachtete. Sie erhalte ein Gesetz aufrecht, dessen Grundaussage darin besteht, dass „farbige“ Bürger so minderwertig sind, dass man sie nicht in Zugabteilen sitzen lassen dürfe, in denen sich auch weiße Bürger aufhalten. Seine Argumentation gründete in einer von der Mehrheit des Gerichts abweichenden Analyse der Natur der Sache, die das überlieferte Verfassungsverständnis der Wirklichkeit zugewiesen hatte: der Überlegenheit der weißen Rasse. Die Schwächen der Mietbesitz-Entscheidung des BVerfG beruhen auf ähnlichen Mängeln bei der Kontextualisierung des Vorverständnisses. Das Gericht musste sich bei seiner Entscheidung nicht auf eine veränderte bzw. eine neue Sicht der Wirklichkeit berufen, weil es bis dahin die Frage, ob der Mietbesitz von Art. 14 GG geschützt wird, offen gelassen hatte96. Genügt hätte daher der Hinweis, dass der Großteil der Bevölkerung zur Deckung des Wohnbedarfs nicht auf Eigentum zurückgreifen könne, dass aber die Menschen auf den Gebrauch der Wohnung zur Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse sowie zur Freiheitssicherung und Entfaltung der Persönlichkeit angewiesen sind97. Diese Situation bestand zwar schon seit Jahrzehnten, sie wurde aber bis zu dieser Entscheidung vom Verfassungsgericht eben noch nicht in Bezug gesetzt zu der Frage einer Einordnung des 347 U.S. 483 (1953), 490. Vgl. dazu auch 2. Kap. 2. Abschn. D. 95 2. Kap. 2. Abschn. E. 96 Vgl. E 14, 121 / 131 f. 97 E 89, 1 / 6. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: J. Wieland, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I (20042), Art. 14, Rn. 27. 93 94

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Mietbesitzes unter den Schutzbereich des Art. 14 GG. Warum diese Zuordnung allerdings eine „gute“ Zuordnung sein soll, diese Frage bleibt unerörtert, und eben hier ist auch die methodische Schwäche der Entscheidung zu verorten. Zwar kann die Sicht der Wirklichkeit, die BVerfGE 89, 1 präsentiert, nicht widerlegt werden. Die Entscheidung ist aber in den aus dieser Wirklichkeit gezogenen Folgen intersubjektiv nicht nachvollziehbar. Was fehlt, ist ein Beleg dafür, dass diese intuitive Auswahl der möglichen Aspekte der Wirklichkeit in der Anwendung des Art. 14 GG zu besseren Ergebnissen führt. Wer durch seine Intuition auf einen anderen Aspekt der Wirklichkeit gelenkt wird, etwa, dass ein großer Teil der Bevölkerung zur Deckung des Wohnbedarfs nicht auf Eigentum zurückgreifen will, den kann die Entscheidung des BVerfG weder überzeugen noch wird sie ihm als akzeptabel erscheinen. Um nachvollziehbar zu sein, hätte das BVerfG in seiner Entscheidung, die – ungeachtet der Tatsache, dass die Frage einer Einordnung des Mietbesitzes unter Art. 14 GG zuvor noch nicht entschieden wurde – die bestehende Intrastruktur des Mietrechts verändert, deutlich machen müssen, auf welchem Vorverständnis sie aufbaut oder gegen welches Vorverständnis sie argumentiert. Durch das Fehlen einer entwicklungsgeschichtlichen Interpretation bleibt das Vorverstandene damit methodisch unklar. Dadurch erscheint die Entscheidung alleine als Individualpositivierung des Rechts, ohne dass der Kontext deutlich wird, durch den andere Rechtsanwender Anknüpfungspunkte für die Aneignung oder zumindest das Verstehen dieser Individualpositivierung gewinnen und sie damit zu den eigenen Individualpositivierungen in Bezug setzen können. Das Vorverständnis wird methodisch nicht genutzt und erscheint so als bloßes Vorurteil. Auch bei richtigem methodischem Vorgehen bleibt natürlich immer die Frage offen, ob sich die Wirklichkeit tatsächlich so verändert hat bzw. ob die Wirklichkeit wirklich besser so gesehen wird, wie es der neuen Interpretation zugrunde gelegt ist. Ein entsprechender Nachweis dürfte auch – von einigen Ausnahmen abgesehen – kaum geführt werden können. Wenn aber die Mittel, die das Recht zur Verfügung stellt, unter den Bedingungen einer neuen rechtlichen Zuordnung der Wirklichkeit zum Text nachvollziehbare Ergebnisse bringt, dann ist es auch unerheblich, ob sich die Wirklichkeit tatsächlich verändert hat oder nicht. Beweisen lässt sich in diesem Bereich nichts, aber weisen manches98. Der Nachweis des „besseren Rechts“ ist in der sich weiter entwickelnden Praxis zu führen99. M. Heidegger, Identität und Differenz, 19572, 10. 99 Ein prägnantes Beispiel ist hier der Badewannenfall des Reichsgerichts (RGSt 74, 84; vgl. dazu und zum Folgenden F. Hartung, JZ 1954, 430). Besonders interessant ist dabei vor allem die Tatsache, dass der entscheidende Strafsenat offenbar erwogen hatte, das Urteil in der amtlichen Sammlung wegzulassen (so F. Hartung, a.a.O., 431), eine Überlegung, die sich mit der hier vertretenen methodischen Konzeption nicht verträgt. Es hat sich auch in der Entwicklungsgeschichte des § 211 StGB gezeigt, wie wertvoll die Entscheidung für die weitere Diskussion der Bestimmung und des Strafrechts insgesamt war. – Mit anderer Bewertung vgl. M. Hochhut, Rechtstheorie 32 (2001), 227 / 236 f., der alleine die Notwendigkeit der Entscheidung im gegebenen Fall anerkennt, deren befruchtende Wirkung darüber hinaus aber unterschätzt. 98

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Gelingt dieser Nachweis, dann geht die neue Interpretation in die Intrastruktur ein und steht in der neuen Fassung für weitere Interpretationen als Vorverstandenes zur Verfügung. Damit wird sie zugleich Teil des richtigen Einstiegs in die methodische Rechtsanwendung.

Zusammenfassung in Thesen I. Das Ziel einer juristischen Methodik ist es, eine vorhersehbare und nachvollziehbare Anwendung des Rechts zu fördern. Erreichen lässt sich das Ziel nur, wenn die Methodik zu einer Verständigung darüber beiträgt, welche Vorverständnisse einen legitimen Bezug zum als geltend anerkannten Recht aufweisen und wenn sie einen Rahmen für die Diskussion und Koordination der Vorverständnisse bietet.

II. Verfassungstheorien geben insoweit kaum Hilfestellung, obwohl sie nahezu immer in einen engen Zusammenhang mit der Verfassungsmethodik gestellt werden. Durch ihren Bezug auf die Verfassung als Gegenstand der Betrachtung kommen sie nicht umhin, zu den unterschiedlichen Inhaltsbestimmungen Stellung zu nehmen und sich für ein bestimmtes Inhaltskonzept zu entscheiden. Inhaltsbestimmung ist aber nichts anderes als Sinngebung auf der Basis eines bestimmten Vorverständnisses, so dass Verfassungstheorien für eine objektive Leitfunktion ungeeignet sind. Verfassungstheorien sind als Hilfsmittel der Methodik nur insofern von Bedeutung, als sie eine Rationalisierung von Vorverständnissen leisten und geeignet sind, den Blick für mögliche Gesamtdeutungen zu schärfen.

III. Aussichtsreicher ist es, die verfassungsgerichtliche Praxis der Verfassungsinterpretation als Ausgangspunkt zu wählen, weil sie viele Aspekte der Realität berücksichtigt, in der die Verfassung sich etabliert. Dabei wird die Praxis des US-amerikanischen Supreme Court und des deutschen Bundesverfassungsgerichts vergleichend herangezogen. Vor allem wegen der sehr unterschiedlichen Erkenntnisobjekte der beiden Gerichte lässt sich jedenfalls bei Parallelen im methodischen Umgang mit der Verfassung vermuten, dass es sich um Eigenarten in der verfassungsgerichtlichen Praxis „als solcher“ handelt. Der Vergleich bietet sich auch an, weil die deutsche Methodendiskussion im Verfassungsrecht erheblich durch die amerikanische beeinflusst ist und der Su-

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preme Court nach wie vor stark vom Common Law als juristisches Denkmodell geleitet wird, das weniger als Rechtsquelle denn als Methode im Umgang mit Verfassung, Gesetz und rechtlicher Erfahrung fungiert. 1. Eine Weichenstellung für die Funktionsweise von Methodik in der Praxis sowohl des Supreme Court als auch des Bundesverfassungsgerichts liegt darin, ob und inwieweit das Gericht Verantwortung für die Entscheidung übernimmt. Dabei kommt es nicht darauf an, wie präzise der Gesetzestext ist; denn mit der Interpretation wird jeder, auch der präziseste Text, mehrdeutig und zwingt zur Sinnsuche. 2. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob sich das Gericht für Rekonstruktion eines vorgegebenen oder Konstruktion eines möglichen Sinnes des Gesetzestextes entscheidet. Im ersten Fall identifiziert es sich mit dem Verfassungsgeber und versetzt sich in die Situation der Personen, die den Text entworfen haben. Auch in einem solchen Vorgehen lässt sich eine Sinnsuche erkennen, es geht aber nicht um das Telos im eigentlichen Sinne; denn die Interpretation orientiert sich ausschließlich an den Materialien und vermeidet damit in großem Ausmaß Eigenverantwortung. Anders ist es bei der Konstruktion eines möglichen (historischen oder gegenwärtigen) Sinnes. Hier übernimmt das Gericht Verantwortung für seine Entscheidung, gleich ob der subjekiv- oder der objektiv-teleologischen Auslegungsmethode der Vorzug gegeben wird. 3. Auch die Orientierung an der Tradition ist – im Gegensatz zur Orientierung an den Gesetzesmaterialien – eine Methode teleologischer Auslegung. Sie hat den Vorzug, die Subjektivität des richterlichen Meinens dadurch zu relativieren, dass auch früher gefundene Erkenntnisse mit in die Entscheidung einfließen. 4. Im Gegensatz zu den Verfassungstheorien versteht die „Praxis“ die Verfassung weder als Ordnung noch als Prozess. Sie erscheint vielmehr als ein Phänomen, das sich in Texten, historischen Bezügen, Präjudizien, Traditionen und Ideen problembezogen verdichtet. Eine „richtige“ Methodik hat sich vor diesem Hintergrund vor allem der Frage zu stellen, wie viel Verantwortung sie dem Interpreten auferlegen will und welche Rolle in diesem Zusammenhang Materialien und Tradition spielen dürfen und wie eine teleologische Interpretation die Subjektivität des Meinens in den Griff bekommen kann. 5. Die Subjektivität des Meinens erhält bei der Verfassungsinterpretation dadurch eine besondere Note, dass beide Gerichte die legitimste Emanation des demokratischen Staates, nämlich das Gesetz, nicht nur überprüfen, sondern auch kassieren können. Dabei lässt sich eine sehr unterschiedliche Grundhaltung in den beiden Ländern ausmachen. Während sich in Deutschland ein latentes Misstrauen gegenüber demokratischen Mehrheitsentscheidungen gebildet hat, so dass die kassatorische Funktion als notwendig anerkannt wird, ist diese in einem Common Law System schon traditionell äußerst problematisch. 6. Tatsächlich besitzt die Judikative auch keine Erkenntnisquellen oder Methoden, die es ihr ermöglichen würden, zentrale Fragen des Gemeinwesens besser zu 19 Schmitt Glaeser

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beantworten als ein Parlament. Es tritt hinzu, dass der kassatorischen Kompetenz eines Gerichts kaum plausible Grenzen gesetzt werden können; denn jede Beschränkung dieser Macht verlangt eine theoretische Grundlegung, die vor allem in Krisenzeiten regelmäßig nicht wird überzeugen können. 7. Die sehr grundsätzlich geführte Auseinandersetzung um die kassatorische Funktion des Supreme Court geht weit über das Problem selbst hinaus und eröffnet eine prinzipielle Perspektive für die Methodik, indem sie den Verfassungstext als Verständnisobjekt und „Anhaltspunkt“ für das Verstehen der Verfassung in den Mittelpunkt rückt: Die Verfassung entmachtet alle staatstheoretischen Konzepte (sei es durch Übernahme oder Ablehnung) und ersetzt sie durch – in ihrem Text enthaltene – praktische Konzeptionen, wie der verfasste Staat funktionieren soll. 8. Die Bedeutung des Textes der Verfassung im Kontext der Wirklichkeit ist aus der Erkenntnis heraus zu bestimmen, dass die Richtigkeit von Erkenntnissen über die Welt die Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung bei dem Verstehen des Textes nicht indiziert. Das Recht kann auch falsche Erkenntnisse über die Welt heranziehen, um den Sinn seiner Vorschriften richtig zu bestimmen.

IV. Die verschiedenen Canones der Auslegung stellen die möglichen Ausgangspunkte des Verstehens normativer Vorgaben dar; sie sind aber alle auf den möglichen Sinn des Rechtssatzes gerichtet, Mittel also zur Enthüllung des Sinns. Eine Hierarchisierung der Methoden, etwa die Behauptung eines Primats der Auslegung nach dem Wortlaut, lässt sich nicht vornehmen. Es bedarf tiefer gehender Gesichtspunkte, um jeder Auslegungsmethode ihr relatives Recht und ihren besonderen logischen Ort zuzuweisen. Die Eignung methodischen Vorgehens für die Rechtsanwendung bestimmt sich daher aus der Möglichkeit zu bestimmen, welche tiefer gehenden Gesichtspunkte zu beachten sind. 1. Eine juristische Methodik muss erklären können, wie sie die Grundlagen ihrer Entscheidungen ermittelt und wie sie auf dieser Grundlage zu bestimmten Entscheidungen kommt. Daher ist die juristische Methodik zunächst die Kunst, eine vertretbare Auswahl unter möglichen Rechtssätzen zu treffen und in den ausgewählten Rechtsätzen das zu erkennen, was für eine „richtige“ Rechtsanwendung notwendig ist. Wenig hilfreich ist es dabei, Abgrenzungen zur Rechtsfortbildung oder zur Rechtsschöpfung vorzunehmen, weil beides nur in Abgrenzung zu einer richtigen Methodik geschehen kann, der Versuch daher zur Zirkularität verurteilt ist. Sehr bedeutsam dagegen ist der Bezug der Methodik zur Werteauswahl. Diese ist zwar zunächst nur Gegenstand der Methodik, nicht Bestandteil ihrer Aufgabe. Die Methodik kann (und muss) aber unterschiedliche Wertvorstellungen in der Rechtsanwendung sichtbar werden lassen und Maßstäbe entwickeln, die geeignet sind, den Einfluss von Wertvorstellungen auf das Rechtsverständnis zu steuern.

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Mit der richtigen Auswahl der Instrumentarien wird Methodik aber auch selbst wertvoll. Einmal dadurch, dass die Anforderung, methodisch vorzugehen, einen Wert an sich darstellt. Hinzu kommt, dass Methodik in seiner Verfahrensdimension inhaltlichen Anforderungen, etwa der Fairness, genügen muss. Und schließlich offenbart sich in der Forderung nach methodischem Vorgehen auch eine Anerkennung des Menschen als Wesen mit freiem Willen. 2. Dogmatik, Präjudiz und juristische Argumentation lassen sich zwar begrifflich von Methodik unterscheiden, sie sind aber auch notwendig Gegenstand des Nachdenkens über Methodik, weil auch sie die Rechtsanwendung steuern bzw. begleiten. 3. Eine Methodik kann nur dann eine Hilfe für die Rechtsanwendung sein, wenn ihr der Glaube an die Freiheit des Willens und die menschliche Vernunft vorangeht. Auch wenn diese Annahme illusionär sein sollte, muss sie in der Rechtswissenschaft unwiderleglich vorausgesetzt werden, weil schon der Gegenstand der Wissenschaft, das Recht, diese voraussetzt. 4. Vernunft schließt Vorverständnisse nicht aus, wenn es darum geht, das Verstehen von Rechtssätzen in Worte zu fassen. Zweifel über die Möglichkeit sprachlicher Verständigung sind zwar theoretisch begründet, dürfen aber nicht übergewichtet werden; denn praktisch gelingt es den Menschen, ihr Verhalten durch Sprache zu koordinieren, Beobachtungen (be-)greifbar zu machen und eine Verständigung über das Beobachtete herbeizuführen. Beobachtungssätze sind allerdings keine Rechtssätze und beide können auch in keinen unmittelbaren Bezug zueinander gesetzt werden. Rechtssätze dienen nicht – wie Beobachtungssätze – der Verständigung über ein Sein, sondern der Anwendung im Sein. Der entscheidende Anknüpfungspunkt dieser Anwendung liegt in der Rechtsfolge, die dem Interpreten die Macht des Zugriffes auf die Instrumentarien des Rechts verleiht. Daher muss er sich auch am Rechtssatz in seiner Gesamtheit orientieren, weil er anders diese Ermächtigung nicht nutzen darf. Richtig nutzt er sie aber nur, wenn er aus den Benennungen im Rechtsatz rechtliche Bedeutungen ableitet. 5. Das Verstehen des Rechtssatzes und seine Anwendung hat sowohl die Richtigkeit der Subsumption als auch die Richtigkeit des Ergebnisses zu gewährleisten und darf nicht das eine aus dem anderen folgern. Erst durch ein beide Aspekte beachtendes Rechtsverstehen wird dem deterministischen und dem konsequentialistischen Verstehensansatz Rechnung getragen. Auf diese Weise lässt sich auch eine Kommunikation zwischen den Grundargumentationstypen des Rechts herstellen und der fundamentalen Erkenntnis des Rechtsrealismus Rechnung tragen, dass die Ergebnisse der Rechtsanwendung in keinem zwingenden Bezug zum statuierten Recht stehen. 6. Anders als in den Naturwissenschaften deckt der Jurist keine (bestehenden) Zusammenhänge auf, sondern stellt (mögliche) Zusammenhänge her. Anders als in der Philosophie kann der Jurist dabei auf eine breite Grundlage von (als richtig anzusehenden) Hypothesen aufbauen, nämlich dem geltenden Recht. Dementspre19*

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chend kann ein befriedigendes methodisches Verfahren der Rechtsanwendung nur dann ermittelt werden, wenn man sich von der Vorstellung befreit, es gebe im Recht Gesetzmäßigkeiten, das Recht bewege sich von selbst, wenn man es nur richtig „anstößt“ oder wenn man es nur auf die richtigen Ziele „justiert“. Das Recht ist bis in den letzten Winkel der (möglichen) Willkür der Rechtsanwender ausgesetzt. Daher muss die Methodik so tief wie möglich ansetzen, will sie in den Zirkel des Verstehens in einer Weise hineingelangen, dass der Zirkel kein „vitiosum“ (Heidegger) mehr ist. 7. Um diesen Einstieg zu bewerkstelligen, bedarf es des Eingeständnisses, dass sich praktisch arbeitende Juristen in erster Linie auf die staatliche Macht stützen, um die Vorstellungen vom Recht, die (durch Sozialisation oder Ausbildung) erlernt wurden, nach willkürlich eigenen Maßstäbe umzusetzen. Die Rechtsarbeit wird damit einer starken Determinierung von Außen unterworfen. Diese Determinierung kann aber nie objektiv sein, sie kann nur über eine Beurteilung der Rechtsarbeit anhand der (möglichen oder schon erkannten) Konsequenzen der Rechtsanwendung erreicht werden. V. Der Einstieg in die juristische Methodik muss im Hinblick darauf erfolgen, dass die individuellen Vorstellungen von der richtigen Gestaltung des Seins (die Individualpositivierungen des Rechts) mit der Zuweisung der Kompetenz zur Gestaltung des Seins (die Vermachtung des Rechts) in Einklang gebracht werden. 1. Jede Behauptung über den Inhalt des Rechts stellt eine Positivierung, eine Festlegung im Sinne einer gültigen und geltenden Aussage über unmittelbar Wahrgenommenes dar. Solche Festlegungen gründen im Rechtsempfinden der Menschen und bleiben im Grunde genommen immer subjektiv. Die damit anerkannte Offenheit der Wahrnehmung des Rechtlichen ist nicht notwendig und per se gut oder richtig, sie ist einer von zwei wesentlichen Aspekten der Frage, auf die die Methodik die Antwort geben muss, um die Rechtsarbeit vorhersehbar und sicher zu machen. 2. Der andere wesentliche Aspekt entsteht aus der Tatsache, dass die Umsetzung der Individualpositivierung der Kompetenz zur Gestaltung bedarf. Wer diese Kompetenz besitzen soll, ist die Kernfrage des Konflikts und die Problematik des Rechts als einem sozialen Steuerungsinstrument, durch das – bezogen auf die unterschiedlichen Individualpositivierungen und ihre Vertreter – Macht zugeteilt und Macht vorenthalten wird. Im freiheitlichen Staat genügt es allerdings nicht, diese Kompetenzen zu beschreiben oder zu dekretieren; es bedarf auch der Vermittlung der Richtigkeit der Zuweisung. Diese Vermittlung erfolgt durch das (argumentativen) Zusammenspiel der Textanwender im Rahmen der Machtstrukturen, in die die Verfassung die Textanwender stellt. Argumentatives Zusammenspiel und Machtstruktur bilden die „Intrastruktur des Rechts“.

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3. Die Intrastruktur des Rechts bezeichnet die auf Autorität und Macht gegründete Matrix, in der die tatsächliche Geltung von Aussagen über das Recht entschieden und mitgeteilt wird. Sie bestimmt die Wahrnehmung der Rechtsanwender hinsichtlich dessen, was als „das Recht“ zur Zeit gilt. In der Intrastruktur wirken Mechanismen, die keinen notwendigen Bezug zum gesatzten Recht oder zur Gerechtigkeit haben. Ihr zentrales Steuerungsinstrument ist die Dogmatik, die die qua Macht anerkannten Aussagen über das Recht sammelt und in Zusammenhänge setzt. Angesichts der tatsächlichen Wirkmacht der Intrastruktur müssen ihre Konstitutions- und Wirkmechanismen in der Methodik wahrgenommen und kritisch verarbeitet werden, um die in der Intrastruktur erzeugte „Irgendwie-Normativität“ in eine „effektive Normativität“ zu überführen, in eine Normativität, die den Vorgaben des Verfassungsgebers und der Legislative entspricht. 4. Dabei kann sich die Methodik nicht mehr darauf stützen, dass es rationale Gesetzgebung und damit formal gültiges Recht gibt, eine Vorstellung, die nur solange Bestand haben konnte, als es eine geschlossene Gesellschaft mit homogenen Wertvorstellungen gab. Die juristische Vernunft kann sich heute nicht mehr im Gesetz verwirklicht sehen; sie steht vielmehr vor der Aufgabe, das Gesetz zu stützen und zu tragen. Dies gilt gerade auch im Blick auf das Verfassungsgesetz, dessen „Würde“ in der Anwendung und im Ringen um Akzeptanz erarbeitet werden muss. 5. Die Abdankung des formal richtigen Rechts wurde in Deutschland durch die Wertordnungs-Konzeption des Bundesverfassungsgerichts ersetzt, die zwar einerseits eine umfassende Begründungs- und Rechtfertigungstechne für die Rechtsanwendung, andererseits aber keine klare Handhabe gegenüber Individualpositivierungen bietet und so in ihrem Bestand alleine auf eine gesicherte Machtstruktur angewiesen ist. Damit aber steht die Wertordnungskonzeption in Spannung zur Errichtung einer Intrastruktur, die der Vermachtung des Rechts Struktur und damit Begrenzung geben soll. Die Wertordnung ist ein Synonym für eine Verfassungsordnung, in der theoretisch alles ebenso verfassungsgemäß wie verfassungswidrig sein könnte. 6. Während dem einfachen Gesetz durch die Umstände der Entstehung Kriterien der Auslegung beigestellt werden, ist die Verfassung grundsätzlich immer in der Gefahr, der Macht der höchsten autorisierten Rechtsanwender zu unterliegen. Eine Dogmatik muss dieser Gefahr begegnen; ansonsten kommt es zu einem Kollaps in der Spitze der Hierarchie. Gerade die Konzeption der Wertordnung fördert diese Gefahr aber, weil sie die argumentativen Aspekte der Intrastruktur des Rechts aufweicht und damit den Machtaspekten freien Lauf zu lassen droht. Ein Weg aus dieser Gefährdung der Intrastruktur durch die Machthierarchien könnte im Systemdenken gesehen werden, welches den Argumenten der Rechtsanwender – unabhängig von der Platzierung des Rechtsanwenders in der Hierarchie – einen bestimmten Wert und eine bestimmte Autorität zuweist. Allerdings ist das Systemdenken im Recht eng verwoben mit der Vorstellung eines formal richtigen Rechts, was dessen Eignung fragwürdig erscheinen lässt.

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a) Das juristische System kann keine Architektonik unter einer Idee sein, weil das Recht gerade in einem demokratischen System permanent mit neuen Elementen angereichert wird, die Idee und Schema des Systems (welche unabdingbar für eine architektonische Systembildung sind) unablässig in Frage stellen dürfen. b) Als nicht-architektonisches, als kompositorisches, d. h. bewusst und willentlich Zusammenhänge bildendes System verliert das Systemdenken freilich seine stabilisierende Funktion im Rahmen der Intrastruktur, es wird beliebig. Gleichwohl kann nur ein solches Systemdenken die notwendige Überzeugungsfunktion beinhalten, indem es sich daran orientiert, was bisher als vertretbare Anwendung des Textes begriffen wurde, und wenn sie Möglichkeiten offen hält, das überkommene Verständnis zu hinterfragen und zu ändern. Dieses Vorgehen ist im Ansatz dogmatisch und ist in der Lage das, was in der Intrastruktur geschieht, immer wieder neu auf den Verfassungstext auszurichten und so eine wirksame rechtliche Steuerung der Intrastruktur zu unterstützen. Es operiert im Spannungsfeld von Konstruktion und Tradition und gibt dem Recht Gestalt. 7. Gerade in der Drittwirkungsproblematik zeigt sich die Gefahr, die der Intrastruktur durch Wertordnungs-Konzeptionen droht. Diese Gefahr besteht darin, dass die Intrastruktur ihre Komplexität und Einzelfallbezogenheit verliert und in der Spitze kollabiert, so dass sie am Ende nur noch eine alles umfassende Macht-Hierarchie ist. Dieser Gefahr kann nur begegnet werden, indem man sie nach Sachbereichen und Entscheidungsebenen differenziert und es dem einzelnen Akteur ermöglicht, in jeweils teilautonomen Entscheidungssphären das Recht gerecht und sachnah anzuwenden. a) Dazu ist es erforderlich, Werte bzw. Prinzipien nicht als geltendes Recht, sondern (lediglich) als Argumente zu verstehen, die in den einzelnen Entscheidungen „gewinnen“ oder „verlieren“ können, d. h. die admistrativ-exklusiv verwendet werden, um das geltende Recht im Einzelfall anzuwenden. Die Vorstellung, es gebe keine Hierarchie der Werte mag philosophisch richtig sein, rechtlich ist es für jedes Einzelproblem – und damit immer – falsch. b) Nur durch eine Überwindung des Wertedenkens als Rechtsdenken wird es auch möglich, sich von der Schimäre eines Wertesystems zu emanzipieren. Das, was als Wertesystem (Wertordnung) angeboten wird, ist im Ergebnis nicht mehr als eine Ordnung der Ergebnisse der Rechtsanwendung der hierarchisch an oberster Stelle stehenden Rechtsanwender und bietet keinerlei Instrumentarien dafür, die Intrastruktur am Rechtssatz zu orientieren. Der Rechtssatz muss als Fixpunkt verstanden werden, zu dessen Verständnis Grundsätze und Werte zwar im gegebenen Fall herangezogen werden können, dessen „Inhalt“ aber gleich bleibt, auch wenn er in der Zeit immer wieder anders gedeutet wird. c) Das Denken in Werten als Rechtsnormen führt auch notgedrungen zu einer Ideologisierung des Rechts, weil durch die Berufung auf Werte bei der Entscheidungsfindung der (falsche) Eindruck (zu Recht) entsteht, in der konkreten Entscheidung setzte sich nur eine Wertkonzeption, ein Ideal von der Welt durch. Da-

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runter leidet dann notgedrungen auch die nachfolgende Auseinandersetzung mit der jeweiligen Entscheidung: sie wird als Ausfluss einer bestimmten Wertkonzeption „der anderen“ angegriffen oder „von uns“ verteidigt. 8. Die Zurichtung von Text und Realität kann nicht in einem Konsens über Grundsätze, sondern nur in einem Gespräch über Ergebnisse erfolgen, in dem die Vorverständnisse der Rechtsanwender abgeglichen und aufgearbeitet werden. Dieses Gespräch ist nicht herrschaftsfrei, es muss sich aber auch vor allzu starren Festlegungen und der Verwechslung der Interpretation des Textes mit dem geltenden Recht hüten. Der Text ist und bleibt der Angelpunkt der Dogmatik. Verändert wird nur die Wahrnehmung des Textes in seiner Zurichtung auf die Realität. 9. Zielvorstellung des Gesprächs und der Dogmatik ist die verfassungsgültige Interpretation, d. h. die Übereinstimmung des Verständnisses der Verfassung mit dem geltenden Verfassungstext (effektive Normativität). Entscheidend ist dabei nicht, ob der Rechtsanwender methodisch richtig vorgegangen ist oder ob die Realität richtig bestimmt wurde. Entscheidend ist im Ergebnis nur, ob die rechtlichen Folgen dem (besseren) Verstehen des Textes dienen und ob die rechtlichen Folgen, die aus der Textinterpretation und der Realitätsbewertung gewonnen werden, die effektive Normativität des Rechts fördern. Zur Ermittlung dieser Aspekte bedarf es zunächst des Abstellens auf die Auswirkungen des Verfassungsrechts in den verschiedenen Anwendungsbereichen der Einzelnormen. In dieser „Kleinraumanalyse“ können normative und faktische Angemessenheit der Steuerung der Wahrnehmung der Rechtsanwender in der Intrastruktur bestimmt werden. Am Beispiel der Überbelegungs-Entscheidung sowie der Lüth- und Blinkfuer-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lässt sich erkennen, dass nicht wenige Entscheidungen aus Perspektive der Verbesserung der Normativität (für sich) keine Gewinne bringen, was ihre Richtigkeit in Frage stellt, ohne dass dies allerdings schon ein abschließendes Urteil bedingt. 10. Entscheidungskriterien für die Bewertung des Rechts entstehen durch die Lösung konkreter und überschaubarer Problemlagen. Ob diese Entscheidungskriterien weiter- oder irreführend sind, kann sich in der Regel erst nach gewisser Zeit erweisen; aber es sind immerhin Kriterien, die sich bei konkreten Streitschlichtungen schon einmal als relevant für die Lösung erwiesen haben und daher bei anderen Streitschlichtungen in der Regel wiederum Beachtung verdienen. Das „Hinund Herwandern des Blicks“ muss im Spektrum zwischen Verfassungstext und erfolgten Rechtsanwendungen erfolgen. Dies ist der Funktionsmodus der Dogmatik bei der Entwicklung effektiver Normativität. Vor dem Hintergrund der Vermachtung des Rechts, des ius strictum, ist dieser Prozess zwar zunächst nur assoziativ mit dem Inhalt des geltenden Rechtssatzes verbunden, in dieser Assoziation liegt aber auch eine „Vor-Sicht“ auf das geltende Recht.

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VI. 1. Um Recht nachvollziehbar anzuwenden, bedarf es zunächst der Wahrnehmung und Berücksichtigung des überlieferten Verständnisses des Rechts, und zwar unabhängig davon, ob man sich ihm anschließen oder von ihm abweichen will. Nur so lässt sich ein Bezug zum juristischen Verstehen der anderen Rechtsanwender herstellen und das eigene Verständnis des Textes vermitteln. a) Die Vermittlung folgt zuallererst in der Intrastruktur des Rechts, allerdings nur dann, wenn sie es vermeiden kann, dass sich die Gesellschaft der Interpreten auf der Grundlage unterschiedlicher Sinngebung und Zwecksetzungen in Bezug auf das Recht sektoralisiert. b) Für eine „richtige“ Gestaltung der Intrastruktur ist daher den vom Recht bereitgestellten Mittel besondere Beachtung zu schenken, der Mittel, die der Gesetzgeber zur Herbeiführung seiner Ziele bereitstellt. Diese bestimmen Möglichkeiten und Strategien der Zielverfolgung und sie geben Aufschluss über die Zwecke, die die Gesetzesanwendung (mittelfristig) verfolgen soll. Durch jede Anwendung des Gesetzes verändert sich dabei die strategische Ausgangslage im Hinblick auf die Ziele des Gesetzes und lässt neue Zweckvorstellungen entstehen. Das ist der Kern der objektiven Gesetzesauslegung, d.h. der Auslegung nach dem verobjektivierten Willen des Gesetzes. c) Dieser verobjektivierte Wille des Gesetzes lässt sich vor allem aus der postlegislativen Entwicklungsgeschichte herleiten. Die bisherigen Interpretationen und Anwendungen des Rechts gewinnen ihre Autorität daraus, dass Recht immer angewendet werden muss. Die Anwendungen des Rechts sind sein inhärenter Teil und beeinflussen sein Verstehen. Das Vorgefundene prägt die Vorverständnisse und die Vorstellung aller Interpreten und Rechtsanwender und ist daher unabdingbare Grundlage einer Vermittlung des Rechtsverständnisses. d) Sowohl bei der ersten wie bei einer neuen (abweichenden) Interpretation eines Rechtssatzes muss zunächst bestimmt werden, in welchem Bezug (intrastruktureller Kontext) der neue Text zum bisherigen Verständnis des rechtlichen Umfeldes, zur verwendeten Terminologie oder zur Sinnausrichtung der entsprechenden Kodifikation steht. Durch die Klärung des bisher Verstandenen kann deutlich werden, welche Gültigkeitsversion des Rechts der Rechtsanwender im Auge hat und welche Veränderungen er vornehmen will. e) Über die entwicklungsgeschichtliche Auslegung kann auch erkannt werden, welche Aspekte der Intrastruktur durch die Entscheidung berührt und welche nicht beachtet wurden, was schließlich auch das Urteil darüber erleichtert, ob eine Veränderung der Gültigkeitsversion des Rechts seiner Normativität dienlich ist oder ob sie diese ohne hinreichende Notwendigkeit übermäßig beeinträchtigt. 2. Die Anwendung des Textes auf die Wirklichkeit muss immer eine „Natur der Sache“ bzw. der „Wirklichkeit“ entdecken, weil die Rechtsregeln der zu beurtei-

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lenden Lebenswirklichkeit anzupassen sind, um diese dann zu verändern. Diese Anpassung wird im Recht weitestgehend will-kürlich hergestellt, indem der Interpret von einem zu entwickelnden Willen des Gesetzes ausgeht und unterstellt, dass der Gesetzgeber die Welt begreift. Die Rechtsanwendung muss vor diesem Hintergrund die Kluft von Sein und Sollen konstruktiv überwinden, wobei er annehmen darf, dass die im Gesetz verwendeten Begriffe Wesenseigenschaften und nicht nur Etiketten für die Erscheinungen der Welt sind. Es geht um die Ermittlung der rechtlichen Natur der Sache. a) Die Jurisprudenz hat dabei die – realiter unmögliche aber rechtlich vorgegebene – Aufgabe, durch Abstraktion von den Individualien zu den im Rechtssatz enthaltenen Universalien aufzusteigen. Dabei kann sie sich einerseits der intellektuellen Intuition, andererseits der juristischen Begriffsbildung bedienen. Während das erste Instrument im Kern dem einzelnen Rechtsanwender ohne Vorbedingen zur Verfügung steht, ist das zweite Instrument, die Begriffsbildung, eng verknüpft mit der entstehungs- und entwicklungsgeschichtliche Auslegung in dem Sinne, dass sie Informationen darüber vermittelt, welche Erscheinungen der Wirklichkeit bisher mit den Begriffen verbunden waren, die im Rechtssatz enthalten sind. b) Insgesamt bedarf es der Konstruktion einer „Natur der Sache“ aus dem Rechtssatz heraus, die allerdings auch unveränderbar vorgegebene Eigengesetzlichkeiten der Sache berücksichtigen muss, die sich auch durch das Recht nicht ändern lassen. 3. Das Vorverständnis der Rechtsanwender wird durch die entwicklungsgeschichtliche Auslegung in zweierlei Hinsicht zur Methode der Rechtsanwendung. Zum einen begründet sie einen Kontext für die eigene Individualpositivierung des Rechts, zum anderen bietet sie Anknüpfungspunkte für andere Rechtsanwender, diese Individualpositivierung nachzuvollziehen und damit zu den eigenen Individualpositivierungen in Beziehung zu setzen.

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Sachwortverzeichnis Abwägung 222 ff. Argumentation – Grundsätze als Argumente 200 ff., 223 ff. – Theorie der juristischen 142 f. Auslegung, s. Interpretation Autorität – autorisierte Textanwender 182 f. – Autorisierungsfunktion des Rechtstextes 260 ff., 281 ff. – und Geltung des Rechts 199 ff. – und Methodik 17 f., 70 ff., 183 ff. – und System 207 f., 210 f. Bedeutungswandel, s. Rechtssatz Begründung, s. Argumentation Bildung, juristische Ausbildung 15, 117, 170, 185, 189, 238 – s.a. Recht der juristischen Bildung Common Law 43 ff. – Grundlagen 45 ff. – methodischer Charakter 43 ff. – mystischer Charakter des 48 f. – und Verfassungsgesetz 53 ff. countermajoritarian difficulty 86 ff. Deduktion 204, 213, 267 Demokratisches Argument 94 ff., 106 Determinismus 156 ff., 180 f. Diskurs – Diskurstheorie 174 – Diskurs und Gespräch 238 f. – über Individualpositivierungen 237 ff. Dogmatik 140 f., 184 f. – Dogmatisierung des Rechts 265, 270 – Ebenendifferenzierung durch 217 – und effektive Normativität 238, 240 ff.

– und Intrastruktur 184 ff. – und Macht 188 – Steuerungsklimax der 185 f. Drittwirkung der Grundrechte 198, 215 ff. Ebenendifferenzierung – durch Dogmatik 217 – und Referenzgebiete 254 ff. – und Wertordnung 218 ff. Effektive Normativität 187 ff., 240 ff. – und Dogmatik 238, 240 ff. – und Irgendwie-Normativität 187, 202 ff. Eindeutigkeit, s. Wortlaut Einheit der Verfassung 181, 194, 227 Entwicklungsgeschichtliche Methode, s. Methoden Ergebnisorientierung, s. Rechtsanwendung Essentialismus – als Verständnisansatz für Rechtssätze 277 ff. – und Begriffsjurisprudenz 279 f. Ethos der Interpreten 22 f. Geltung – des Rechts 237 ff. – des Rechtstextes 224 ff. Gerechtigkeit 164, 166 – und formalism 47 f. – und Individualpositivierung des Rechts 174 ff. – und Intersubjektivität 263 f. – und Macht 178 ff. – und stare decisis 50 ff., 167 Gesetzesmaterialien, s. Interpretation Gesetzgeber – Legitimität 26 ff. – rationale Gesetzgebung 190 f. – Rationalität 26 ff.

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Sachwortverzeichnis

– Wille des 163, 264 ff. Gewaltenteilung 94 ff. Grundnorm 29, 191 f. Grundsatz – als Argument 220, 223 f. – als entwurzelter Telos 233 ff. – neutral principles 126 f. – und Tendenzgebung 222 ff. – und Wahrnehmungssteuerung 226 f. Hermeneutik 139 f. Hermeneutischer Zirkel 13 f., 30, 39 ff., 133 f. „herrschende Meinung„ 185 ff. Historische Auslegung, s. Methoden Ideologie und Recht, s. Recht Ideologiekritik 17 f., 235 f. Individualpositivierung des Rechts, s. Recht Interpretation – und Auswahl von Quellen 132 ff. – Dudeninterpretation 150 ff. – Eindeutigkeit des Wortlauts 60 ff., 151 f. – und Fragestellung 39 f. – Freiheit des Interpreten 143 ff. – Interpretationsgemeinschaften 20 f., 262 – Konstruktion und Rekonstruktion 58, 68 ff. – Kriteriensuche für Interpretation 200 ff. – und Rechtsempfindung 171 ff. – soziologischer Kontext der 21 f. – und Spezialistenwissen 118 f. – Sprachkonventionen 153 f. – von Texten 59 ff. – und Text-Geltung 227 ff. – das Verleitende der Materialien 64 f., 71 ff. intersubjektive Vermittelbarkeit 14, 170 f., 238 f., 261 ff., 282 ff. Intrastruktur des Rechts 183 ff. – Änderung der 243 ff., 271 ff. – Bewertungsmaßstäbe für Veränderungen der 248 ff. – Überlieferung des Rechtlichen in der 259 – als Verfassungsordnung 204 ff.

– als Wahrnehmungssteuerung 184 ff. – und Wertedenken 197 ff. ius strictum 177 f. – Wertordnung und 198 Judicial restraint 92 ff. judicial review, s. kassatorische Funktion Kassatorische Funktion – und Common Law 113 ff. – und Verfassungsgerichtsbarkeit 24 f., 54 ff., 85 ff. Kodifikation, s. Systemdenken Konflikt, s. Recht Konsequentialismus 156 ff., 180 f. Logik 134 f. Lücken im Recht 135 Methoden – entwicklungsgeschichtliche 232, 267 ff. – entwicklungsgeschichtliche M. und Dogmatik 267 f. – historische Auslegung 62, 65 ff., 111 f. – Rangordnung der 129 ff. – subjektiv- und objektiv-teleologische Auslegung 58, 62 ff., 72 f. – Wortlaut 59 ff., 83 ff., 129 f., 151 ff. Methodik – Aufgabe 131 ff. – Begriff 139 ff. – und Dogmatik 189 – und Orientierung an einer Idee 81 ff. – Rangordnung innerhalb der 129 ff. – und Subjektivität 16 f., 80 ff., 97 f., 171 ff. – Verbindlichkeit der 129 ff. – Verbindlichkeit des Wortlauts 83 ff., 150 ff. – Wert methodischen Vorgehens 137 ff. – Wortlaut als Grenze 129 f. Natur der Sache 273 ff. Norm, s. Rechtssatz Normativität, s. effektive Normativität

Sachwortverzeichnis Objektiv-teleologische Auslegung, s. Methoden Offene Gesellschaft 37 f. – der Verfassungsinterpreten 172 f. Perspektive – auf das Recht: interne und externe 156 ff. Pluralismus – und Demokratie 26 f. – und Rechtsanwendung 14, 37 f. – und Verfassungsgerichtsbarkeit 25 f. Präzedens 46 f., 55 f., 142 Prinzip, s. Grundsatz Rationalität – und demokratische Gesetzgebung 26 f., 86 – und Rechtsanwendung 18 ff., 27 f., 202 ff. Recht – Anwendung des R. und Ideologie 14 ff., 191 f. – formal rationales 190 ff., 213 – Geltung 237 ff. – Gesetzlichkeit und Gesetzmäßigkeit 161 ff. – Hierarchieorientierung der Rechtsanwendung 19 f., 183 ff. – Individualpositierungen des 170, 171 ff., 192 f. – kausalistische Rechtsanwendung 158 ff. – Konfliktbewältigung durch 14 f., 177 ff., 193 f. – Lücken im 135 – und Macht 23 f., 176 ff., 202 ff., 261 f. – Offenheit des 173 ff. – Oktroy und Geltung 111 f., 199 ff. – und Rechtsempfinden 171 ff. – Vermachtung des 170, 176 ff. Recht der juristischen Bildung 22 ff. Rechtlicher Formalismus 47 f., 79 Rechtsanwendung, s.a. Interpretation, Auslegung – deterministischer und konsequentialistischer Ansatz 155 ff. – ergebnisorientierte 165 f., 271 ff. – und Natur der Sache 273 ff.

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– Willkür bei der 18, 83, 87 ff., 165 ff., 177 ff., 198 Rechtsfolgen, s.a. Rechtsanwendung – Bezug zu Zwecken des Gesetzgebers 264 ff. – Orientierung an 163 f., 166, 183, 282 f. Rechtsfortbildung und -schöpfung 135 ff. Rechtsgespräch, s.a. Diskurs Rechtsrealismus 156 ff. Rechtssatz – Bedeutungswandel 64 f., 153 ff. – und Beobachtungssatz 149 ff. – Geltung des Textes 224 ff. – Geltung und Interpretation 227 ff. – Gültigkeitsversion des 259, 281 f. – und Norm 134 f. – Offenheit des Normtextes 64 f. – Referenzermittlung und Subsumption 167 Rechtssicherheit und Gerechtigkeit 49 ff. Rechtsvergleichung 37 f., 43 ff. Referenzermittlung, s. Rechtssatz Referenzgebiet, s.a. Ebenendifferenzierung 242 f., 254 Regeln und Prinzipien 221 f. Rule of law 51, 79 Sprachkonvention 153 ff. stare decisis et non quieta movere 50 ff. Subjektivität von gesetzlichen Zwecken 262 f. subjektiv-teleologische Auslegung, s. Methoden Subsumption, s.a. Rechtssatz – Zuordnung von Sachverhalt und Rechtsfolge 165 f. – Zuordnung von Tatbestand und Sachverhalt 160 ff., 166 f. – Zurichtung von Text und Realität 237 ff., 273 ff. Systemdenken 195, 213 ff. – architektonische Systembildung 207 f. – und effektive Normativität 214 f. – Geschlossenheit des 205 f.

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Sachwortverzeichnis

– Kodifikationsanliegen 28 – kompositorische Systembildung 208 ff., 214 f. Tradition – und Subjektivität 76 ff. – und Verfassungsinterpretation 73 ff. Universalienproblem 274 ff. Verantwortung – des Rechtsanwenders 57, 70 ff., 144 ff., 266 f. Verfassung – Filterfunktion der 113 ff. – Legitimität der 110 f., 187 f. – Neutralität der 119 ff. – Normativität der 31 f., 38, 182 f. – als Ordnungsrahmen 34 ff. – als Positivierung einer Vernunft 114 ff. – als Prozessordnung 36 ff. – und Umgebung 116 ff. – Verfassungsgebung 110 ff. – und Zeit 36 f. – Zeitneutralität der 125 – Zweck der 13, 114 ff., 178 ff. Verfassungsauslegung, s. Verfassungsinterpretation Verfassungsgerichtsbarkeit, s.a. kassatorische Funktion – und Demokratie 86 ff. – und Demokratietheorie 97 ff. – und Gewaltenteilung 94 ff. – und Verfassungsinterpretation 42 ff. Verfassungsinterpretation, s.a. Interpretation – authentische 87 ff. – Bezug auf Verfassungsgebung 65 ff., 110 ff. – Gegenstand der 31 ff., 110 ff.

– oligarchische Elemente 109 f. – Ziel der 13, 155 ff. Verfassungstheorie – Ordnungsmodelle 34 ff. – Ordnungsmodell und Prozessmodell 33 ff. – Prozessmodelle 36 ff. – revolutionäre Natur der 106 ff. – verbindliche 30 f., 263 – und Verfassungsinterpretation 30 ff., 38 ff., 103 ff. – verfassungsmäßige Ordnung 34 Vermachtung des Rechts, s. Recht Vorverständnis – prä- und postlegislatives 268 f. Wahrheit 110, 119, 163 ff., 190 f., – und demokratische Gesetzgebung 25 ff. – diskursive 174 – Recht und 190 ff. Wahrnehmungssteuerung, s. Intrastruktur Wertordnung, s.a. Ebenenendifferenzierung 193 ff., 213, 215 ff. – administrative Zurichtung von Werten 223, 225, 230 f., 236 f. – und Ebenendifferenzierung 218 ff. – Entwicklungsoffenheit von Werten 196 ff., 215 – und Hierarchie 219 f. – und Ideologie 233 ff. – Plurivalenz von Werten 232 f. – Werteverfassung 24 f., 36, 190 f. Wortlaut, s.a. Interpretation, Methode, Methodik – eindeutiger 59 ff., 152