Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK: Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht – zugleich ein Beitrag zur Methodik der Auslegung der EMRK [1 ed.] 9783428559343, 9783428159345

Die Menschenwürde begegnet uns in einer wachsenden Zahl an Judikaten des EGMR und in sehr unterschiedlichen Kontexten, j

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Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK: Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht – zugleich ein Beitrag zur Methodik der Auslegung der EMRK [1 ed.]
 9783428559343, 9783428159345

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Schriften zum Europäischen Recht Band 195

Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht – zugleich ein Beitrag zur Methodik der Auslegung der EMRK

Von Pascal Ronc

Duncker & Humblot · Berlin

PASCAL RONC

Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 195

Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht – zugleich ein Beitrag zur Methodik der Auslegung der EMRK

Von Pascal Ronc

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-15934-5 (Print) ISBN 978-3-428-55934-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Der Mensch ist nicht nur ein auf Selbsterhaltung bedachtes Lebewesen. Ihm ist auch ein feines Gefühl der Selbstachtung eingegeben, dessen Verletzung ihn nicht weniger trifft als ein Schaden an Körper oder Vermögen. In dem Wort Mensch selbst scheint sogar eine gewisse Würde zum Ausdruck zu kommen, so dass das äusserste und wirksamste Argument zur Zurückweisung einer dreisten Verhöhnung der Hinweis ist: Immerhin bin ich kein Hund, sondern ein Mensch gleich dir. Also steht allen die menschliche Natur in gleicher Weise zu, und niemand möchte gern jemandem zugesellt werden oder kann jemandem zugesellt werden, der ihn nicht zumindest ebenfalls als Menschen betrachtet, der an der gleichen Natur teilhat. Deswegen steht folgende Regel an zweiter Stelle unter den Pflichten aller gegen alle: Dass jeder jeden anderen Menschen als jemanden, der ihm von Natur aus gleich ist und in gleicher Weise Mensch ist, ansieht und behandelt.“

Samuel Pufendorf

Vorwort Diese Arbeit wurde im Herbstsemester 2019 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis einschliesslich September 2019 berücksichtigt werden. Das Doktorat war eine Reise zu wissenschaftlicher Erkenntnis. Es war aber auch eine Reise zu sich selbst. Eine derartige Erfahrung findet nicht im universitären Elfenbeinturm statt, sondern im Verbund mit anderen Menschen. Viele Personen haben direkt oder indirekt einen grossen Beitrag am Gelingen dieses Werkes geleistet. Innigster Dank gebührt an erster Stelle meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Frank Meyer. Er hat meinen wissenschaftlichen Horizont massgebend geprägt und erweitert. Seine Betreuung und seine stets gehaltvollen und fordernden Gedanken haben nicht nur diese Arbeit befördert; auch konnte ich durch das schaffensfreudige Umfeld an seinem Lehrstuhl meine wissenschaftliche Arbeitsweise entwickeln und verfeinern. Mein Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Tilmann Altwicker, der durch seine beeindruckende Forschungsarbeit meinen juristischen Werdegang im wörtlichen Sinne mitgeprägt hat. Ich danke ihm insbesondere für sein profundes Zweitgutachten. Seinem äusserst rasch erstellten Gutachten verdanke ich nicht nur die Beschleunigung des Promotionsverfahrens, sondern auch jene Gedanken, die noch heute nachhallen und zu weiterer wissenschaftlicher Reflexion anregen. Besonderer Dank gebührt zudem Herrn Professor Dr. Andreas Thier für seine wertvollen analytischen Beobachtungen am Doktorandenkolloquium zu den Grundlagen des Rechts, an welchem ein befruchtender Dialog stattfand. Grosse Anerkennung gebührt MLaw Laurence Steinemann, die mich auf intellektueller Ebene inspirierte, forderte und hinterfragte. Mit kritischem und zugleich wohlwollendem Blick begleitete sie diese Dissertation vom ersten Tag an. Ohne sie wäre diese Arbeit kaum in dieser Form zustande gekommen. Verdienstvoll sind insbesondere ihre fachliche Unterstützung, ihr kritischer Geist, aber auch der geistig-emotionale Rückhalt, den sie mir spendete, um diese Dissertation fertigzustellen. Ihr ist dieses Buch von Herzen gewidmet.

8 Vorwort

Weiter möchte ich in tiefer Verbundenheit Max Wild danken, der das gesamte Manuskript klaglos, kritisch und innert kürzester Frist gegengelesen hat. Anna Brassel danke ich für das Lektorieren der Dissertation. Grosses Verdienst an vorliegender Dissertation hat auch MLaw Sandra van der Stroom, mit der mich viele Jahre des wissenschaftlichen Denkens, Diskutierens und Schreibens verbinden. Ohne die intensiven Gespräche, die die eigenen Grundannahmen, Hypothesen und Ergebnisse auch immer wieder herausgefordert haben, wäre ich nicht in der gleichen Art und Weise angehalten gewesen, tiefschürfend zu bleiben und den methodischen Ansatz zu verfeinern. Auch haben Prof. Dr. Anna Coninx, Prof. Dr. Matthias Mahlmann, Dr. Lukas Staffler, MLaw Dimitrios Tsilikis, BLaw Paula Brändli, mag.iur. Marta Stelzer-Więckowska, MLaw Jeffrey Brosi, mag.iur. Larissa Neumayer, Sebastian Ronc und Remo Hämmerle durch juristische wie auch nichtjuris­ tische Gespräche, ihre Unterstützung, ihre Forschung, durch Ideenaustausch und Diskussionen Teil am Gelingen des vorliegenden Werkes. Vielen Dank! Von Herzen dankbar bin ich auch meinen Eltern, die mir meine Ausbildung ermöglicht und mir den Weg zum Schreiben dieses Buches geebnet haben. Zürich, im Januar 2020

Pascal Ronc

Inhaltsübersicht 1. Teil Einleitung 

21

A. Menschenwürde als Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Problemaufriss und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 C. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 D. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Teil

Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK: Grundlagen des konventionsrechtlichen Menschenwürdeverständnisses  39

A. Die Konventionsrechtsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 B. Die Auslegung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Teil

Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes 

130

A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht . . . . 130 B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 4. Teil

Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK 

324

A. Ein analytisches Rahmenkonzept als Ausgangspunkt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 B. Grundrechtsdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 C. Materieller Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 D. Anwendungsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 F. Zusammenfassende Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406

10 Inhaltsübersicht Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Materialienverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Inhaltsverzeichnis 1. Teil Einleitung 

21

A. Menschenwürde als Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Problemaufriss und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 C. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 D. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Teil

Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK: Grundlagen des konventionsrechtlichen Menschenwürdeverständnisses  39

A. Die Konventionsrechtsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsnatur und Charakteristik der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Funktion des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Charakteristik und Verpflichtungsdimensionen der Urteile  . . . . . . . . . . . IV. Die Konventionsrechte und die Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Negativer Textbefund und Travaux Préparatoires . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Menschenbild in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheitsrechte, Justizgrundrechte und Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . 4. Konventionsrechte, Rechtsprinzipien und Werte . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 39 43 50 53 53 66 70 73

B. Die Auslegung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Auslegungsmethodik des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Völkerrechtliche Auslegungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konventionsspezifische Auslegungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Teleologische Auslegung, oder: dynamisch-evolutive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einbettung in völkerrechtliches Gefüge und europäische Grundrechtstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konsensmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beispiele aus der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Effektivitätssichernde Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Autonome Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Selbstreferenzielle Bindung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79 79 80 82 83 84 86 87 92 92 93

12 Inhaltsverzeichnis 3. Moralisch-ethische Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtserkenntnisquellen: Die Menschenwürde in anderen Regelungskontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Völkerrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Menschenrechtsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ebene des Europarates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Europarats-Übereinkommen  .......................... bb) Resolutionen, Empfehlungen an die Europaratsstaaten . . . . . cc) Berichte des Europäischen Anti-Folterkomitees . . . . . . . . . . . 2. Ebene der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mitgliedstaatliche Ebene (Europarat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beispiele aus der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Faktischer Menschenwürdeschutz in der Krise in Europa? . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Lücken in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94 95 96 98 98 104 105 107 111 113 114 114 120 124 126 127

3. Teil

Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes 

130

A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht . . . . 130 I. Folter als Verletzung der menschlichen Würde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 II. Unmenschliche Bestrafung oder Behandlung als Verletzung der menschlichen Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 a) Hintergrund und Rechtsprechungsgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Lebenslange Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Hintergrund und Rechtsprechungsgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Verbot der „nicht reduzierbaren“ lebenslänglichen Freiheitsstrafe. 154 aa) De-jure-Reduzierbarkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 bb) De-facto-Reduzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (1) Tatsächliche Entlassungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (2) Resozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (3) Behandlung psychisch kranker und gefährlicher ­Häftlinge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (4) Haftüberprüfungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (5) Überprüfung der Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (6) Justizförmigkeit des Haftentlassungsverfahrens . . . . . . . . 164 c) Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Erniedrigende Bestrafung oder Behandlung als Verletzung der menschlichen Würde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Inhaltsverzeichnis13 1. Prügelstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewalteinwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Polizeigewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gewalt in der Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Justizgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Objektformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Demütigung vs. Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Menschenwürde und dynamisch-evolutive Auslegung . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Haftbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hintergrund und internationale Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechungsgenese: Die „Entdeckung“ der Menschenwürde in Haftsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Materielle Haftbedingungen: Konkreter Menschenwürdeschutz . . aa) Überbelegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Hygieneverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Luft- und Lichtverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Nahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Kumulative Grundrechtseingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Medizinische Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Adäquanz der Gesundheitsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Äquivalenzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Einwilligungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Hafterstehungsfähigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Objektiv inakzeptable Haftumstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Menschenwürde und Verletzlichkeit des Häftlings . . . . . . . . . cc) Schutzbereichserweiterung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sozialer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sklaverei, Leibeigenschaft und Menschenhandel als Verletzungen der menschlichen Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sklaverei und Leibeigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Menschenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hintergrund und internationale Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fairness im Strafverfahren als Gebot der Menschenwürde? . . . . . . . . . . 1. Menschenwürde und Fairness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168 168 172 178 178 184 186 188 188 188 190 192 193 196 200 205 206 211 213 213 214 217 221 221 225 230 231 236 240 240 242 248 250 254 254 256 256 259 265 268 268

14 Inhaltsverzeichnis 2. Menschenwürde und Prozesssubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 3. Menschenwürde(-kern) und Kerngehalt eines fairen Strafverfahrens . 273 4. Verletzungen der Menschenwürde im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . 274 a) Beweisverwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 b) Überlange Verfahrensdauer als Missachtung der Menschen­ würde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 5. Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 VI. Recht auf Achtung des (Kernbereichs des) Privatlebens in strafrechtsrelevanten Bereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 1. Kernbereich des Privatlebens und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Haftbedingungen und Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 3. Heimliche Ausforschung und Überwachung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4. Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 VII. Legalitätsprinzip und Menschenwürde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 1. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2. Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Menschenwürde und Recht auf Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pränataler Würdeschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Postmortaler Würdeschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Menschenwürde und Autonomie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Suizid und aktive Sterbehilfe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Passive Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sexuelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Menschenwürde und Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Menschenwürde und soziale Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Menschenwürde, Ehre und Meinungsäusserungsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . VI. Glaubens-, Gewissens- und Gedankenfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Wirkung und Funktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

292 293 293 299 300 301 306 308 311 316 318 320 320

4. Teil

Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK 

324

A. Ein analytisches Rahmenkonzept als Ausgangspunkt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 B. Grundrechtsdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Normativität der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Menschenwürde als präpositiver, paneuropäischer Wert . . . . . . . . . . . 2. Menschenwürde als konventionseigenes Rechtsprinzip . . . . . . . . . . . 3. Menschenwürde als ungeschriebenes subjektives Grundrecht . . . . . . II. Grundrechtsdogmatische Funktionen der Menschenwürde . . . . . . . . . . . 1. Materielle Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327 327 327 333 335 336 336

Inhaltsverzeichnis15 a) Menschenwürdekern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Instrument zur Feststellung objektiven Unrechts . . . . . . . . . . bb) Instrument zur Zuschreibung von schutzwürdigen ­Verletzlichkeitsdispositionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Instrument zur Gewährleistung eines allgemeinen ­Kernbereichschutzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Menschenwürde als materielles Auslegungsprinzip . . . . . . . . . . . . c) Menschenwürde als Instrument zur Schutzbereichserweiterung . . d) Rechtspolitische Postulate der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verpflichtungsdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abwehrpflicht und „non-refoulement“-Gebot . . . . . . . . . . . . . . . . b) Positive Schutzpflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

338 338

C. Materieller Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Menschliche Werthaftigkeit und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstzweckhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbst- und Fremdachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Moralische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sakralität der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Soziale Aktualisierung: Recht auf ein materielles Existenzminimum? . .

360 363 363 365 368 368 372 377 379

D. Anwendungsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Berechtigte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verpflichtete  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verzichtbarkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Prozessuales  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

381 382 384 385 385

E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ein „Recht auf Hoffnung“ im Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Resozialisierung und Präventionsdogma im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . III. Menschenwürde und Isolationshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Menschenwürde und Beweisverwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Kerngehalt des fairen Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Heimliche Ausforschung und der Kernbereich des Privaten . . . . . . . . . .

387 387 392 398 400 402 405

340 340 345 349 350 352 354 354 357

F. Zusammenfassende Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Materialienverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Abkürzungsverzeichnis ABl.EU

Amtsblatt der Europäischen Union

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, angenommen von der UNO GV am 10.12.1948

AJIL

American Journal of International Law

AT

Allgemeiner Teil

AVR

Archiv des Völkerrechts

BMK

Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin, abgeschlossen in Oviedo am 04.04.1997 (SR 0.810.2)

BP

Ban Public

BRD

Bundesrepublik Deutschland

CCPR

UN Covenant on Civil and Political Rights

CMLRev

Common Market Law Review

Cons. Ass.

Constitutive Assembly

CPT

Europäisches Anti-Folter-Komitee

ders. derselbe dies. dieselbe(n) drgl. dergleichen DZPhil

Deutsche Zeitschrift für Philosophie

ebd. ebenda EGE

European Group of Ethics

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EJCPR

European Journal on Criminal Policy and Research

EJIL

European Journal of International Law

EMRK

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, abgeschlossen in Rom am 04.11.1950 (SR 0.101)

EnzEuR

Enzyklopädie des Europarechts

ERS Europaratssatzung etc. etcetera EU-GRCh

Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 26.10.2012, ABl. EU 2012/C 326/02

EuConst

European Constitutional Law Review

EuGRZ

Europäische Grundrechte Zeitschrift

Abkürzungsverzeichnis17 EuR Zeitschrift Europarecht FP forumpoenale FS Festschrift FStV Forum Strafvollzug, Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe GA Res. General Assembly Resolution GK Grosse Kammer GLJ German Law Journal GrRCh Europäische Grundrechte Charta GV Generalversammlung GVG Gerichtsverfassungsgesetz GYIL German Yearbook of International Law HBdEuGR Handbuch der Europäischen Grundrechte HBdGR Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa HRLJ Human Rights Law Journal HRLR Human Rights Law Review HRQ Human Rights Quarterly ICLQ International and Comparative Law Quarterly IJCL International Journal of Constitutional Law ILC International Law Commission IPbpR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, abgeschlossen in New York am 16.12.1966 (SR 0.103.2) IPwskR Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, abgeschlossen in New York am 16.12.1966 (SR 0.103.1) IRA Irisch-Republikanische-Armee JA Juristische Arbeitsblätter: Zeitschrift für Studenten und Referendare JLJ Journal of Law and Jurisprudence JLRS Journal of Law, Religion and State JMP Journal of Medicine and Philosophy Intl. J. H.S.S. International Journal of Humanities and Social Science JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts JR Juristische Rundschau i. S. d. im Sinne des/der i. S. e. im Sinne einer/eines i. S. v. im Sinne von JA Juristische Arbeitsblätter JSIJ Judicial Studies Institute Journal JuS Juristische Schulung

18 Abkürzungsverzeichnis JZ

Juristen Zeitung

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

LA

Liber Amicorum

LG Landgericht LR

Löwe-Rosenberg Grosskommentar zur StPO

MedLR

Medical Law Review

MKD

The Former Yugoslav Republic of Macedonia

MLR

Modern Law Review

NGO

Non-governmental Organisation

NJIL

Nordic Journal of International Law

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

No number/Nummer Nr. 

Nummer/number

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

PK Praxiskommentar PL

Public Law

Pl Plenum RDP

Revue de Droit Public

Rev. med.

Revue général de droit medical

Rev. pén.

Revue pénitentiaire et de droit pénale

Rn. Randnummer RTD Civ.

Revue trimestrielle de droit civil

RW Rechtswissenschaften RZaiP

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

s. a.

siehe auch

SK

Systematischer Kommentar zur StPO mit GVG und EMRK

SLR

Stanford Law Review

SR

Systematische Rechtssammlung des Bundes

StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung StV Strafverteidiger TLR

Tulane Law Review

u. a.

unter anderem

UCL

University College London

UN

United Nations

Abkürzungsverzeichnis19 UN Charta UN Doc. UNODC usf. usw. UWSLawRw VN VVdStRL YILC YLJ z. B. ZAR ZBJV ZIS ZP ZSR ZStrR ZStRSt ZStW

Charta der Vereinten Nationen, abgeschlossen in San Fransisco am 26.06.1945 (SR 0.120) United Nations Document United Nations Office on Drugs and Crime und so fort und so weiter University of Western Sidney Law Review Vereinte Nationen Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Yearbook of the International Law Commission The Yale Law Journal zum Beispiel Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zusatzprotokoll zur EMRK Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für Schweizerisches Strafrecht Zürcher Studien zur Rechts- und Staatsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

1. Teil

Einleitung A. Menschenwürde als Rechtsbegriff Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)1, von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedet, beginnt in Art. 1 mit dem Satz: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“2 In pathetischer Sprache wird in der Präambel proklamiert, dass die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie inhärenten Würde und ihrer gleichen und unveräusserlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet. In diesem Sinne verkünden die Völker der Vereinten Nationen „ihren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und an den Wert der menschlichen Person“.3

1  Die AEMR gilt als Grundlage des internationalen Rechts in Belangen der Menschenrechte. Als Resolution der Generalversammlung der VN entfaltet sie keine rechtliche Bindungswirkung, wenngleich sie durch nationale und internationale Gerichte zur Auslegung herangezogen wird; s. hierzu: Brownlie, Principles of Public International Law, S. 559 ff.; Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, S. 15; vgl. Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Einführung Rn. 13 m. w. N. Die Menschenwürde taucht zuvor bereits in der Präambel der Charta der VN vom 26. Juni 1945 auf: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit (…)“. Nach Art. 1 Ziff. 3 setzen sich die VN unter anderem die Förderung der Menschenrechte zum Ziel, was in Art. 55 lit. c zu einer Rechtspflicht verdichtet wird. Der Trend, den Menschen als Rechtssubjekt in den internationalen Beziehungen anzusprechen, wird seit der Charta der VN immer deutlicher: vgl. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 532; eingehend Peters, Jenseits der Menschenrechte: die Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht, Tübingen 2014. 2  Im englischen Originaltext: „All human beings are born free and equal in dignity and rights“. Zuvor appellierte bereits die UNO-Charta auf internationaler Ebene „an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“ (Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, SR 0.120) (Hervorhebung durch Autor). 3  „Whereas the peoples of the United Nations have in the Charter reaffirmed their faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person“.

22

1. Teil: Einleitung

Seit 1949 steht die Menschenwürde auch in den Genfer Konventionen, in welchen sie, als Reaktion auf den zweiten Weltkrieg, als Schutzkonzept gegen inhumane Verhaltensweisen wie Instrumentalisierung, Degradation, ­ Mord und Ausbeutung statuiert wurde.4 Auch die internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR5) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR6) der Vereinten Nationen vom 19. Dezember 1966 halten in ihren Präambeln fest, dass „sich diese [Menschenrechte] aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“. Aufgrund der Entrechtung von Minderheiten (wie beispielsweise Homosexuelle oder Menschen mit Behinderungen), des Holocaust und anderer Missachtungen von (elementaren) Menschenrechten hat sich die Weltgemeinschaft im Nachgang zu diesen durch faschistische und totalitäre Regime begangenen systematischen Gräueltaten, die im „Trümmerfeld“ des Zweiten Weltkrieges endeten,7 entschlossen, eine derartige Missachtung des menschlichen Individuums und die Versagung gewisser fundamentaler Rechte nie wieder zuzulassen.8 In dieser Absicht wurde der juridische Menschenwürdebegriff als „Gegenkonzept“ zu dieser beispiellosen Enthumanisierung und Entrechtung in Position gebracht.9 Die Menschenwürde fand Eingang in zahlreiche weitere internationale Menschenrechtstexte10 und nationale Verfassungs­ dokumente.11 Seither spielt die Menschenwürde eine wichtige Rolle innerhalb des Menschenrechtsdiskurses.12 Die Beziehung zwischen der „Men4  Laternser, Der Gehalt von Art. 7 BV: zur Begründung der bundesgerichtlichen Menschenwürdekonkretisierung, S. 7 m. w. N.; vgl. Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 60. 5  Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 (SR 0.103.2). 6  Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966 (SR 0.103.1). 7  Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 445. 8  Vgl. Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, S. 14 ff. m. w. N. Dabei wurde auch bewusst die Vagheit des Konzeptes Menschenwürde in Kauf genommen; vgl. das Zitat von Malik, in: Krenberger, Anthropologie der Menschenrechte, S. 196 Fn. 291: „It would be better to run risk of being vague than of being too particular, and considering the reaction of mankind to the barbarous activities of the Nazis (…)“. 9  Vgl. Teitgen, Introduction to the ECHR, S. 3 (4); von Bernstorff, EJIL 2008, S. 903 (907). 10  2. Teil B. II. 1. a). 11  2. Teil B. II. 3. 12  S. Tomuschat, Human Rights, Between Idealism and Realism, S. 3: „Human dignity constitutes the intellectual center of the entire culture of human rights“; zum Ganzen: Kretzmer/Klein (Hrsg.), The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, Den Haag 2002; vgl. Ritter, Art. 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, S. 40. Werte der europäischen Union, Art. 2 EUV: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie,



B. Problemaufriss und Fragestellung23

schenwürde“ und den einzelnen „Menschenrechten“ wurde indes zunehmend komplex.13 Je nach Regelungskontext ist der menschlichen Würde eine spezifische Funktionalität zu eigen, beispielsweise als Begründung der Menschenrechte,14 als eigenständiges Recht,15 als Zusammenfassung verschiedener Grundrechte16 oder als interpretationsleitender Topos bei der konkreten Auslegung von Menschenrechten.17 Der Begriff der Menschenwürde ist kein originär juristischer Begriff, sondern entstammt vielmehr den Disziplinen der Philosophie, der Ethik und der Theologie, die jeweils ein über zwei Jahrtausende altes Begriffsverständnis entwickelt haben.18 Als Begriff dieser verschiedenen Disziplinen ist er entsprechend vielschichtig und traditionsreich. Hingegen ist die Geschichte der menschlichen Würde als Begrifflichkeit des Rechts eine relativ kurze. Nachfolgend wird es primär um den Rechtsbegriff der menschlichen Würde gehen, wenngleich sich nicht negieren lässt, dass sich der Rechtsbegriff vom moralisch-ethischen Begriff der Würde nicht messerscharf abgrenzen lässt – mithin muss bzw. soll sich die Menschenwürde als Rechtsbegriff, als genuin wertaufgeladener Begriff, auch nicht von moralisch-ethischen Einflüssen distanzieren; vielmehr gilt es, solche Einflüsse offenzulegen und nachvollziehbar zu machen, zumal gewisse Wertvorstellungen den recht­ lichen Würde­begriff transzendieren.

B. Problemaufriss und Fragestellung Die Menschenwürde wurde weder als eigener Artikel noch in der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention (nachfolgend: EMRK oder Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschliesslich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“. Art. 1 EU-GrRCh: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen“. 13  Lohmann, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 179 (179). 14  Vgl. Präambel: IPbpR und IPwskR. 15  Art. 1 Abs. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“; Art. 1 EUGrRCh: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen“. 16  So z.  B. die Ensemble-Theorie der Menschenwürde: Hilgendorf, FS Puppe, S. 1653–1671. 17  McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (685). 18  Vgl. Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 97 ff.; ders., Konkrete Gerechtigkeit, S. 279; ders., Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 366 ff.; McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (656 ff.).

24

1. Teil: Einleitung

Konvention)19 explizit statuiert.20 In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nimmt die Menschenwürde gleichwohl eine zentrale Rolle ein, was sich an einer markanten Zunahme an Judikaten, in denen sich der Gerichtshof auf die Würde des Einzelnen beruft, manifestiert.21 Der EGMR hat in den letzten Dekaden die menschliche Würde („human dignity“, „dignité humaine“) zu einem richterrechtlichen Konzept bzw. einer Normkategorie eigener Art entwickelt.22 Der konkrete Gehalt dieses Würdekonzeptes wird dabei durch (historische und) aktuelle Problemlagen bestimmt. Die Würde-Rechtsprechung beschlägt diverse Bereiche des europäischen Grundrechtsschutzes und geht weit über Art. 3 EMRK hinaus.23 Sie erstreckt sich unter anderem auf Art. 2, das Recht auf Leben,24 auf Art. 4, das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit,25 auf Art. 8, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens26 und auf Art. 6, das Recht auf ein faires Strafverfahren.27 Der EGMR hat die Würde des Menschen in sein allgemeines grundrechtliches Argumentationsrepertoire inkorporiert und kann mit ihr – bei allem Respekt vor gewachsenen rechtlichen Kulturen – überholte Rechtstraditionen herausfordern.28

19  Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (SR 0.101). 20  2. Teil A. IV. 1. 21  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 1 f.; vgl. Mavronicola, CHRLR 2017, S. 1 (2); vgl. Bergmann, Menschenbild der EMRK, S. 181, der von einem konventionsrechtlichen Schlüsselbegriff spricht. 22  Dupré, The Age of Dignity, S. 84. Ein anderes richterrechtliches Konzept ohne explizite normtextliche Basis in der EMRK ist das Konzept der margin of appreciation; Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 62 (78). Implizite Rechte sowie implizite Beschränkungsklauseln sind Richterrecht strictu sensu, welches über den Grundsatz effektiver Auslegung bzw. teleologische Reduktion gerechtfertigt werden kann; Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 90. Auch der französische Verfassungsrat (Conseil Constitutionel) hat die Menschenwürde als ungeschriebenen Grundsatz von Verfassungsrang etabliert; Entscheid vom 27.07.1994, CC 94-343/344, RJC 592. Eine kritische Reflexion zum Richterrecht („judge made law“) findet sich in EGMR (GK), 17.07.2014, Centre for Legal Resources on Behalf of Valentin Câmpeanu v. Romania, Nr. 47848/08, concurring opinion Judge Pinto de Albuquerque. 23  So wird die Menschenwürde u.  a. in Art. 8 EMRK angesiedelt: EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 65. 24  3. Teil B. I. 25  3. Teil A. IV. 26  3. Teil A. VI., B. II. 27  3. Teil A. V. 28  Vgl. Mahlmann, EuR 2011, S. 469 (475).



B. Problemaufriss und Fragestellung25

Für jene Juristen, welche in der Menschenwürde ein vages29 – dogmatisch kaum fassbares – Konzept des Grundrechtsschutzes erblicken, mag dies nicht zu begrüssen sein.30 Eher verbirgt sich ihrer Ansicht nach in der kategorialen Vieldeutigkeit und der inflationären Verwendung ein Defizit dieses Rechtsbegriffs.31 Menschenwürde ist für sie daher als Rechtskonzept unbrauchbar, da 29  Je fundamentaler und universaler Rechtsprinzipien sind, umso vager und allgemeiner sind sie; Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 12, der festhält, dass solch fundamentale Rechtsgrundsätze zur unvermittelten Fallentscheidung kaum je geeignet sein werden. Sprachlich wird zwischen „Vagheit“ und „Mehrdeutigkeit“ von Begriffen unterschieden, wobei bei Ersterem die Grenzen immer unklar sind und bei Letzterem die Bedeutung kontextabhängig verschieden sein kann; vgl. Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 56 f. (Bei der EMRK tritt – nebst allfälliger semantischer Unklarheiten von Begriffen – zusätzlich das Problem auf, dass ein in der Konvention verwendeter Ausdruck im nationalen Recht oder im Völkerrecht eine andere Bedeutung haben kann.) McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (675 ff.); für den Bereich der Biomedizin s. nur Adorno, JMP 2009, S. 223 (224); ferner Scalia/Garner, Reading Law, S. 31; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, S. 264 ff.; van Quine, Word and Object, S. 129; Feldman, PL 1999, S. 682 (698): „[T]he notion of a right to protection of dignity is so lacking in substantial and determinate content as to be unhelp­ ful as a guide to judicial decision-making“. Tatsächlich ist die Menschenwürde nicht das einzige vage Konzept innerhalb der EMRK; vgl. zur Vagheit des Konzepts der „Jurisdiktion“: IntKomm/EMRK-Fastenrath, Art. 1 Rn. 118; zur Notwendigkeit eines offenen Wortlauts: Fastenrath, EJIL 1993, S. 305 (311): „It is only through the indeterminacy of the ‚referential boundaries‘ of lexical items that language can adjust itself to the changing experience of the speech-community and is able to reflect new physical elements as well as changes in social and cultural perspectives. Thus, while remaining constant in form, the vagueness in content of living languages is indispensable“; vgl. Rousseau, Concluding Report, S. 102 (104). 30  Zur Kritik wegen der Unbestimmtheit vgl. nur Pieroth et al., Grundrechte, Rn. 360; Zippelius, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar GG, Art. 1 Rn. 8 unter Verweis auf Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, I § 62: Der „von allen Kantianern so unermüdlich nachgesprochene Satz, ‚man dürfe den Menschen nicht immer nur als Zweck, nie als Mittel behandeln‘, ist zwar ein bedeutend klingender und daher für alle fernen Denker überhebt, überaus geeigneter Satz; aber bei Lichte betrachtet ist es ein höchst vager, unbestimmter, seine Absicht ganz indirekt erreichender Ausspruch, der für jeden Fall seiner Anwendung erst besonderer Erklärung, Bestimmung und Modifikation bedarf, so allgemein genommen, aber ungenügend, wenigsagend und noch dazu problematisch ist“; ferner Feldman, PL 1999, S. 682 (700): „If dignity is a fundamental constitutional value, it will then be constitutionally permissible to interfere with people’s freedoms in order to preserve what decision-­makers regard as their dignity. This is paternalistic: freedom is limited because it is thought to be good for people’s dignity (objectively assessed), and dignity is d ­ eemed to be good for everyone, whether or not they share the State’s model of dignity or want it imposed on them“; vgl. Isensee, AöR 2006, S. 173 ff. („alles zerbröselt“). 31  Andere bestreiten den Rechtscharakter der Menschenwürde, da sie „nicht mehr und nicht weniger als das Vehikel einer moralischen Entscheidung über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit möglicher Formen der Einschränkung individueller Selbstbestimmung“ sei: Hoerster, JuS 1983, S. 93 (96).

26

1. Teil: Einleitung

sie nicht intersubjektiv manifestiert werden könne.32 Andere wiederum sehen in der Offenheit des Menschenwürdeprinzips gerade eine Stärke, weil sich solch allgemeine Rechtsbegriffe gut für Verhandlungskompromisse und als Inspirationsquelle der Rechtsfortentwicklung eignen würden.33 Trotz des Fehlens einer positivierten Menschenwürdenorm in der EMRK34 hat der EGMR in jüngster Zeit häufiger35 und zuweilen dezidiert36 auf die 32  Macklin, BMJ 2003, S. 1419 f.; Pinker, The Stupidity of Dignity, The New Republic vom 28. Mai 2008, S. 1, worin der Autor seine These von der „Stupidity of Dignity“ damit untermauert, dass die Berufung auf die Menschenwürde in Bereichen von Recht (und Ethik) nicht selten zu religiös gefärbten Argumenten geführt habe; Caulfied/Chapman, Human Dignity as a Criterion for Science Policy, Plos Medicine 2005, S.  736  ff. einsehbar unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC 1181538 (zuletzt besucht am 02.06.2019); ferner Birnbacher, Menschenwürde-Skepsis, S. 159 (160); zum Menschenwürde-Skeptizismus: Lohmar, Falsches moralisches Bewusstsein: Eine Kritik der Idee der Menschenwürde, S. 17 ff.; vgl. die Kritik von Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 8: „Allein dieser Ausdruck ‚Würde des Menschen‘, ein Mal von Kant ausgesprochen, wurde nachher das Schiboleth aller rath- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen, oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponirenden Ausdruck, Würde des Menschen‘ versteckten, klug darauf rechnend, dass auch ihr Leser zufrieden gestellt seyn würde.“ 33  Habermas, DZPhil 2010, S. 343 (345). In der Tat hat die Menschenwürde zur Herstellung eines Konsenses im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes beigetragen: McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (678); Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 23, der festhält, dass durch die Begriffsoffenheit einem exklusiven Geltungsanspruch vorgebeugt und das menschliche Dasein ganzheitlich vor elementaren Gefahren geschützt werden könne („Ein aussagekräftiger Rechtsbegriff der Menschenwürde ist daher nur mit Hilfe einer abstrakten Formel zu definieren oder anhand einer beispielhaften Umschreibung zu veranschaulichen. Diese Offenheit, die sich dem trennscharfen Gesetzespositivismus entzieht, ist allerdings nicht nachteilig. Ein Vorteil liegt zunächst darin, dass überall dort, wo das menschliche Dasein einer elementaren Gefahr ausgesetzt ist, die Menschenwürdegarantie angewandt werden kann. Die Offenheit des Menschenwürdebegriffs beugt gleichzeitig einem exklusiven Geltungsanspruch einer Menschenwürdeauffassung vor, sodass dem juristischen Menschenwürdebegriff unterschiedliche Begründungsansätze und Konzeptionen zugrunde gelegt werden können.“) Vgl. Birnbacher, Menschenwürde-Skepsis, S. 159 (165 f.); vgl. Augustin, Menschenwürde im Zusammenspiel von Recht und Philosophie, S. 103 (110); vgl. Dupré, The Age of Dignity, S. 71–73, welche die Menschenwürde als Schutzgarantin für den Menschen erachtet. 34  2. Teil A. IV. 1. Innerhalb des konventionsrechtlichen Rechtsregimes hat der Begriff aber in die Präambeln der Zusatzprotokolle Nr. 6 und 13 Eingang gefunden. 35  In der Datenbank „Hudoc“ lässt sich nachweisen, dass die Strassburger Organe bis 1999 lediglich in 70 Fällen den Begriff „human dignity“ in die publizierten Urteile haben einfliessen lassen. Seit dem Jahr 2000 ist diese Zahl auf 2376 angestiegen; einsehbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/eng (zuletzt besucht am 07.10.2019). Damit ist aber nichts über die rechtliche Relevanz des Würdebegriffs in den Urteilen gesagt. 36  Statt vieler s. nur EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/11, Rn. 101: „[The Court] held that it would be incompatible with human dignity (…)“



B. Problemaufriss und Fragestellung27

Argumentationsfigur „Menschenwürde“ rekurriert. Seit der Rechtssache Tyrer37 greift er in den unterschiedlichsten Fallkonstellationen auf sie zurück. Insbesondere im grundrechtlich38 sensiblen Bereich des Strafrechts im weitesten Sinne,39 namentlich im Kontext der Strafverfolgung, der Strafauferlegung und des Strafvollzugs hat der EGMR einen juristisch-normativen Würdebegriff bemüht. Die menschliche Würde ist zentraler Identifikationspunkt der Menschenrechte; anhand dieses Massstabs können u. a. Rechtsverletzungen identifiziert werden. Die Menschenwürde ist universal gültig, hat aber einen kontextspezifischen (regionalen) materialen Gehalt.40 Letztlich fungiert die Menschenwürde auch für den EGMR als zusätzliches Legitimationsargument für die Begründung von Schutzansprüchen im Strafrechtsbereich und darüber hinaus;41 sie kann als Grundlage für die Begründung von bislang nicht existierenden Schutzpflichten dienen oder spezifische Schutzbereichserweiterungen vorantreiben.42 Sie kann auch für eine holistische – kontextbasierte und -sen­ sitive – Herangehensweise stehen.43 Es besteht kein Zweifel, dass sich die Menschenwürdejurisprudenz des EGMR in einer Hochkonjunktur befindet – zumindest in quantitativer Hinsicht.44 Dies war nicht immer so: Der Menschenwürdediskurs hat sich nur (Hervorhebung durch Autor hinzugefügt); EGMR, 17.07.2014, Svinarenko and Slyadnev v. Russia, Nr. 32541/08 u. 43441/08, Rn. 138: „[H]aving regard to [the treatments] objectively degrading nature which is incompatible with the standards of civilised behaviour that are the hallmark of a democratic society [it constitutes] an affront to human dignity in breach of Article 3“ (Hervorhebung durch Autor hinzugefügt); EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 120: „[T]he absolute protection of human dignity (…) which also lay at the heart of Article 3“. 37  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72. 38  In der vorliegenden Untersuchung werden die Termini Grundrechte, Menschenrechte und Konventionsrechte in normtheoretischer Hinsicht gleichgestellt; so auch Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 139 ff. 39  Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 38. 40  Vgl. McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (673); Dworkin, Justice for Hedgehogs, S. 338. 41  Vgl. 3. Teil A., B. 42  Dupré, The Age of Dignity, S. 71–73. 43  Oder sie repräsentiert die Menschenrechte insgesamt; Carrillo-Salcedo, Droit international et souveraineté, S. 20: „Human rights are a direct expression of the dignity of the individual human being. The obligation of States to ensure their observance derives from the recognition of this dignity as proclaimed in the Charter of the United Nations and the Universal Declaration of Human Rights“. 44  Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Vor Art. 1 Rn. 5a; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 186 (Tendenz zu eindeutig häufigerer Verwendung); Dupré, LLR 2013, S. 263 (263); vgl. von Bernstorff, JZ 2013, S. 905 (906), der festhält, dass der Würdetopos im internationalen Kontext zwar im Aufwind sei,

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1. Teil: Einleitung

allmählich im Kontext des Konventionsrechts etablieren können.45 In den ersten Jahrzehnten war die Rechtsprechung beim Einbezug dieses Topos eher zögerlich. Auch innerhalb der Richterschaft gab es zunächst noch Widerstand aufgrund einer vermeintlichen Ideologisierung des internationalen Menschen­ rechtsschutzes.46 Mittlerweile sind diese Stimmen innerhalb des Gerichtskörpers verstummt. Angesichts der vom EGMR geschaffenen normativen Existenz eines ­enuin europäisch-konventionsrechtlichen Menschenwürdebegriffs47 ist es g Aufgabe der Rechtswissenschaft, diesen Geneseprozess zu systematisieren, dogmatisch und theoretisch zu durchdringen und hernach kritisch zu unter­ suchen.48 Obwohl die Menschenwürde zu einem normativen Orientierungspunkt geworden ist und ein entscheidender Wegweiser sein kann, ist im Kontext der EMRK vieles unklar und umstritten. Was fehlt, ist eine eingehende Durchdringung der gesamten Würde-Rechtsprechung des EGMR sowohingegen die kritischen Stimmen auf der Ebene des deutschen Verfassungsrechts zugenommen hätten; Dicke, The Founding Function of Human Dignity in the Universal Declaration of Human Rights, S. 111 (114); Christoffersen, Fair Balance, S. 144; krit. Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 4, der festhält, dass die Verwendung der Menschenwürde als Rechtsbegriff unbestreitbar in eine Krise geraten sei. In der Datenbank „Hudoc“ lässt sich nachweisen, dass die Strassburger Organe bis 1999 lediglich in 70 Fällen den Begriff „human dignity“ in die publizierten Urteile haben einfliessen lassen. Seit dem Jahr 2000 ist diese Zahl auf 2376 angestiegen; einsehbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/eng (zuletzt besucht am 07.10.2019). 45  So fand die Passage „[t]he basic principle in human rights is respect for human dignity and human freedom“ noch nicht die Zustimmung der richterlichen Mehrheit und musste deshalb lediglich in einem Sondervotum figurieren; EGMR, 25.05.1993, Kokkinakis v. Greece, Nr. 14307/88, partly dissenting opinion Judge Martens. Wenige Jahre später fand die Passage sinngemäss Eingang in den rechtlichen Teil eines wegweisenden Urteils; EGMR, 22.11.1995, C.  R. v. United Kingdom, Nr. 20190/92, Rn. 42; EGMR, 22.11.1996, S. W. v. United Kingdom, Nr. 20166/92, Rn. 44. 46  Vgl. EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09 joint party dissenting opinion of Judges De Gaetano, Lemmens and Mahoney; EGMR, 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, separate opinion Judge Fitzmaurice, insbesondere seitens des britischen Richters wurden grosse Zweifel am Mehrwert dieses Argumentationstopos vorgebracht, da es sich dabei um eine Tautologie handle. Diese Kritik verwundert insbesondere deshalb nicht, da in Grossbritannien das Konzept der Menschenwürde weitgehend unbekannt war. 47  Ausgegangen wird von einer bewussten Menschenwürdejurisprudenz, die von einer gewissenhaften Menschenrechtspolitik des EGMR getragen wird. Daher kann dieser Begriff einer rechtstheoretischen Evaluation zugänglich gemacht werden – mit Blick auf seine Rechtsnatur und die rationellen Erwägungen, die ihn begleiten. 48  Vgl. Mahlmann, Good Sense of Dignity, S. 593 (593). Zur Notwendigkeit einer dogmatischen Durchdringung der Rechtsprechung des EGMR vgl. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 48. Zur Schaffung einer normativen Existenz vgl. Dupré, The Age of Dignity, S. 86: Der EGMR habe der Menschenwürde eine eigenständige semantische und auch normative Existenz verliehen.



B. Problemaufriss und Fragestellung29

wie eine Synthetisierung von Theorieelementen eines konventionsrechtlichen Menschenwürdekonzepts. Zwar hat der EGMR keine Grundrechtstheorie entwickelt, anhand derer sich ein abgeschlossenes System aufbauen liesse.49 Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich keine Strukturen herausgebildet haben. Es bedarf aber der Offenlegung dieser Strukturen und der Herausarbeitung gemeinsamer Eigenschaften, Zwecke und Funktionen der konventionsspezifischen Menschenwürde.50 Nachfolgend werden die bei der Analyse der Rechtsprechung zu gewinnenden Erkenntnisse unter einer normativen Idee, der Menschenwürde, zusammengefasst. Dabei wird von der These ausgegangen, dass die Auslegung der EMRK in bestimmten Aspekten nicht ohne Rückgriff auf Prinzipien normativer Qualität möglich ist, die selbst nicht explizit positiviert wurden. Ein solches Prinzip ist die Würde des Menschen. Die Frage nach ihrer Bedeutung, Wirkungsweise und ihrem materialen Gehalt ist von grosser Tragweite und trifft ins Herz der europäischen Rechtszivilisation.51 Die Taxierung einer bestimmten Handlung als Verstoss gegen die Würde des Menschen markiert nicht nur eine schwere individuelle Rechtsverletzung.52 Vielmehr betrifft sie die europäische Gesellschaft in­ sofern als Ganzes, als elementare Rechtspositionen auf paneuropäischer Ebene festgeschrieben werden, die Integration53 in Europa gefördert und ein europäischer Menschenwürdestandard herausgebildet wird.54 Wo Fragen der Menschenwürde im Raum stehen, geht es um Rechtsgrundsätzliches, nicht um blosse Fragen der Einzelfreiheit.55 Menschenwürde ist „die gewachsene und wachsende Biographie des Verhältnisses Staat-Bürger (und, mit dem Schwinden der Trennung von Staat und Gesellschaft, des Verhältnisses Staat/ 49  Weiterführend

2. Teil B. B. 51  Vgl. Mahlmann, Menschenwürde in Politik, Ethik und Recht, S. 267 (270), der von einem Grundbergiff der gegenwärtigen Rechtsepoche spricht, welcher für eine Rechtszivilisation unersetzbar wichtig ist. Waldron, Torture, Terror and Trade-Offs, S. 317 („dignitarian ideas about the proper treatment“); vgl. Albrecht A., Erosion der Menschenrechte im demokratischen Rechtsstaat, S. 17 ff. 52  So auch Mahoney/Prebensen, The European Court of Human Rights, S. 621 (638). 53  Rozakis, TLR 2005, S. 257 (276): „The Courts’ task is one of integration: of attempting to create a coherent body of human rights rules that apply indiscriminately in the sphere of the legal relations of all of the States party to the Convention“; Oreja, FS Wiarda, S. 7 (7): „réaliser une union plus étroite“; Rozakis, UCL Human Rights Law Review 2009, S. 51 (63). 54  Dupré, What does dignity mean in a legal context?, The Guardian 24.03.2011, S. 1 (2); Kriele, Recht, Vernunft, Wirklichkeit, S. 532: Die Menschenwürde ist „der induktiv gefundene Endpunkt“, das die paneuropäische Rechtskultur leitende Prinzip. 55  Vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 128; vgl. Hörnle, How to define Human Dignity, S. 561 (568): „(…) what kind of conduct is incompatible with fundamental interests of people“. 50  4. Teil

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1. Teil: Einleitung

Gesellschaft-Bürger)“.56 Ein bestimmtes Niveau einer Rechtszivilisation lässt sich aber nur halten, wenn ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, was den Kern dieser Rechtszivilisation bzw. was den Kern der Menschenwürde ausmacht.57 Die wissenschaftliche Aufarbeitung des konventionsspezifischen Menschenwürdebegriffes steckt noch in den Kinderschuhen; sie weist gewisse Defizite auf und erweist sich insgesamt als unbefriedigend.58 Dies liegt zum einen daran, dass man vergeblich nach einer Menschenwürdenorm in der EMRK sucht. Allzu oft wird deshalb die Menschenwürde mit Art. 3 EMRK gleichgesetzt und sodann auf eine weitergehende Erörterung verzichtet.59 Oder es wird gar zirkulär argumentiert, dass der Gerichtshof unter Menschenwürde das verstehe, was im Fall einer erniedrigenden Behandlung verletzt werde.60 Doch der Anwendungsbereich, in dem die menschliche Würde verhandelt wird, reicht weit über Art. 3 EMRK hinaus und zeitigt Konsequenzen für die gesamte Konventionsrechtsstruktur. Umso mehr verwundert die lediglich punktuelle Durchdringung der Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Bereich.61 Die Gründe mögen in der kaum zu überblickenden 56  Häberle/Kotzur,

Europäische Verfassungslehre, S. 537. Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 353 u. 489. 58  Vgl. Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 17. Zuweilen wird simplizistisch argumentiert, dass die Präambel auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verweist, die ihrerseits die Menschenwürde verbürgt; folglich schütze die EMRK die Menschenwürde i. S.  der AEMR; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 35. Oder es wird zirkulär argumentiert, dass der EGMR unter Menschenwürde das verstehe, was im Falle einer erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK verletzt werde; so Jambrek, LA Wildhaber, S. 359 (373). Das liegt wohl auch an der etwas tautologischen Formel des EGMR, wenn er den Wesenskern der „Erniedrigung“ herausstreichen will; EGMR, 17.07.2014, Svinarenko and Slyadnev v. Russia, Nr. 32541/08 u. 43441/08, Rn. 115: „Treatment is considered to be ‚degrading‘ within the meaning of article 3 when it humiliates or debases an individual, showing a lack of respect for, or diminishing, his or her human dignity“. Manche Untersuchungen bleiben bei der Feststellung stehen, dass die Menschenwürde als Interpretationsmassstab zu sehen ist: so Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 104; so auch Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 118. 59  Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 101 ff.; Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 214 ff.; eine Ausnahme bildet das Werk von von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, Tübingen 2016. 60  Jambrek, LA Wildhaber, S. 359 (373). 61  Lediglich punktuelle Verarbeitung der Rechtsprechung bei Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU; S. 103 ff.; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 153 ff.; Christoffersen, Fair Balance, S. 142–145; Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa, S. 332; Meyer-Ladewig, NJW 2004, S. 981–983; Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheits57  Mahlmann,



B. Problemaufriss und Fragestellung31

Fülle an Judikaten und an der starken Einzelfallbezogenheit62 der Rechtsprechung des EGMR zu suchen sein. Überdies wird in Abhandlungen zur konventionsrechtlichen Menschenwürde allzu oft ein konsequenter Abgleich mit dem deutschen Grundgesetz (GG) und der darin enthaltenen Menschenwürdenorm (Art. 1 Abs. 1 GG) vollzogen.63 Obschon diese Forschungsarbeiten zweifelsohne einen zusätzlichen Erkenntniswert haben und zur Erhellung dieses Prinzips beitragen mögen, greift ein derartiger Rechtsvergleich zu kurz. Denn er verhindert die konsequente rechtssystematische Einpassung der Menschenwürde in die Konventionsrechtsarchitektur unter Berücksichtigung der Prämissen und Eigenheiten der EMRK. Konventionsrechtliche Begrifflichkeiten und Konzepte werden so ihrer autonomen Rolle innerhalb der EMRK nicht gerecht.64 Was also in der rechtswissenschaftlichen Literatur weitgehend fehlt, ist eine konventionsrechtliche Lesart der Würde-Rechtsprechung unter Berücksichtigung der Eigenlogik65 der EMRK.66 Ziel der nachfolgenden Untersuchung ist es, ein autonomes Begriffs- und Funktionsverständnis aus der Eigenlogik der Konvention („logic of the convention“)67 heraus zu erarbeiten und menschenwürdewahrende „Ober- und schutz, S.  446 f.; Frowein, Human Dignity in International Law, S. 121 (124 ff.); McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (683); Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S.  94, 143 ff.; Maurer, Le principe de respect de la dignité humaine et la Convention européenne des droits de l’homme, S. 348 ff.; ferner Peissard, La dignité humaine dans le droit suisse et international, S. 45 ff.; Marguénaud, Principe de dignité et Cour européenne des droits de l’homme, S. 235 (235). 62  Mahoney/Prebensen, The European Court of Human Rights, S. 621 (621). 63  Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts: Kohärenz der Konzepte?, Berlin 2016; mit starkem GG Bezug letztlich auch das Werk von von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, Tübingen 2016. 64  Zum Rechtscharakter der EMRK s. 2. Teil A.; zur autonomen Auslegung s. 2. Teil B.; Matscher, FS Mosler, S. 545 (551). 65  Damit soll nicht impliziert werden, dass es sich bei der EMRK um ein geschlossenes System handelt. Angesprochen sind vielmehr die spezifische Rechtsnatur der Konvention, die vorwiegend teleologische Interpretation und die Suche nach einem Konsens in Europa durch den EGMR. 66  Im Ansatz ist die Analyse von Schwichow konventionsrechtlich geprägt, allerdings zu wenig konsequent, was sich in der ausgewerteten Literatur widerspiegelt. Auch der letzte Stresstest soll vorliegend nicht anhand nationaler Rechtskonzepte überprüft werden; vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 185: „Damit ähnelt die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR in Teilen der von Dürig geprägten, deutschen Lehrmeinung über die unantastbare Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG“; wenngleich solche Arbeiten äusserst verdienstvoll sind und der rechtsvergleichende Ansatz wichtig ist, um normative Argumente zu evaluieren, wird in casu ein strikt konventionslogischer Blick eingenommen; Smits, Redefining normative Legal Science, S. 45 (52): „most important research method to evaluate arguments is therefore the comparative one“. 67  EKMR (Pl), 17.05.1985, Leander v. Sweden, Nr. 9248/81, Rn. 91.

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1. Teil: Einleitung

Untergrenzen“68 im Strafrecht herauszuschälen.69 Dies erfordert die besondere Berücksichtigung der Rolle und Funktionen des EGMR sowie der Rechtsnatur und der Eigenlogik der EMRK.70 Dabei wird die Menschenwürde-Rechtsprechung stets unter Bezugnahme auf die Auslegungsmethodik71 des EGMR analysiert. Die Würde-Rechtsprechung wird auf einen kohärenten Gebrauch der allgemeinen völkerrechtlichen Methodenlehre sowie der konventionsspezifischen Auslegungsmaximen hin gewürdigt. Es geht mithin um die Frage, welche Methode der EGMR anwendet, um neue Problemfelder unter einzelne Konventionsrechte zu subsumieren; spielt die Menschenwürde dabei eine signifikante Rolle, ist sie nur Platzhalter, Leerformel, oder hat sie einen eigenen effektiven Mehrwert? Damit wird nicht a priori versucht, der Würdejudikatur eine rechtstheoretische und methodische „Weihe“ zu verleihen. Vielmehr geht es darum, diese Rechtsprechung anhand anerkannter rechtlicher Massstände kritisch zu untersuchen. Rechtsbegriffe wie die Menschenwürde entspringen nicht einer beliebigen (begrifflichen) Spekulation, sondern sind Ergebnis einer mehr oder minder zweckbestimmten und wertbasierten Interessenabwägung. Daher ist zu fordern, dass Wertungen rational begründet sind.72 Die Auslegungsmethodik vermag eine Rationalisierungsleistung zu erbringen, insofern lässt sich den (konventionsspezifischen) Auslegungsmethoden ein gewisses kritisches Potenzial entnehmen. Dabei ist dem Verfasser bewusst, dass dieses kritische Potenzial insoweit seine (methodischen) Grenzen hat, als Methode allein lediglich einen „Weg mit der Sache“ vorzeichnet, einen Reflexionsprozess, aber nicht vollends und selbständig ein Interpretationsergebnis als gut oder schlecht qualifizieren kann.73 Oder mit den Worten Klabbers: „[I]t would seem that they [rules on interpretation] are the closest international law aca68  Meyer

F., ZStW 2011, S. 1 (12). sind verschiedene Würdekonzeptionen möglich und auch erwünscht. Der EGMR selbst hat festgehalten, dass in einer Demokratie „Pluralismus, Toleranz und eine offene Geisteshaltung“ essentiell seien, was implizit für die Akzeptanz eines normativen Pluralismus – unter den Auspizien der EMRK – spricht; EGMR (Pl), 07.12.1976, Handyside v. United Kingdom, Nr. 5493/72, Rn. 49. 70  2. Teil A. I–II. 71  2. Teil B. 72  Wertungen sind methodisch unvermeidbar. Allerdings ist insb. mit Blick auf die Legitimität des Gerichtshofs weitestgehende teleologische Transparenz zu fordern. Dies erfordert zuallererst, dass die Konventionszwecke, die in die Wertung einfliessen, offengelegt werden; Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S.  16 ff. Esser, Grundsatz und Norm, S. 85: „Juristisch im Sinne des ‚Justiziablen‘ können wir nur ein Verfahren nennen, das nach angebbaren Merkmalen rational nachprüfbar ist, weil es einen eindeutigen Begründungszusammenhang aufweist“. 73  Für diesen Gedanken möchte der Verfasser Prof. Dr. Tilmann Altwicker danken. 69  Insofern



B. Problemaufriss und Fragestellung33

demics can get to methodology within the broad church that is positivist ­international law.“74 Eine (weitere) kritische Messlatte für die in Frage stehende Rechtsprechung wäre durchaus (auch) in Positionen der Rechtsethik zu suchen, die vorliegend nur subsidiär betrachtet werden. Gleichsam „Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie“75 auf Ebene der EMRK aufzustellen, muss das Ziel aufbauender Forschungsarbeit bleiben. Nichtsdestotrotz muss festgehalten werden, dass der EGMR durch eine rationale (methodengeleitete) Begründungsleistung im Prozess der Entscheidfindung substanzielle prozedurale und materielle Legitimation generiert und aufrechterhält.76 So kann die hier entscheidende Frage, jene nach dem Mehrwert, der Funktion und dem normativen Gehalt der Menschenwürde in der EMRK, fundiert beantwortet werden. Deshalb stehen nachfolgend nicht die philosophischen und ethischen Debatten über den Inhalt der Menschenwürde im Zentrum, obgleich diese nicht vollständig ignoriert werden können, sondern vielmehr die konkrete Aus­ legung durch den EGMR, anhand welcher auf die Rolle der Menschenwürde innerhalb der Konvention geschlossen wird. Weiter werden insbesondere die würdegeprägten Schutzbereiche herausgearbeitet und systematisiert offengelegt. Die Arbeit konzentriert sich daher auch auf die konkreten rechtspraktischen Konsequenzen, die sich aus dem universalen Achtungsanspruch der Menschenwürde ergeben. Ohne eine engmaschige, weitgehend widerspruchsfreie Würdekasuistik können die Hoheitsträger der Signatarstaaten ihr Handeln nicht adäquat an den Konventionsstandard anpassen. Es wird daher ein kohärenter würdegeprägter Standard im Strafrecht erarbeitet;77 dadurch werden die konkreten würdegetragenen Schutzbereiche deutlich und es wird eine klare Aussage darüber gemacht, was der Achtungsanspruch der konventionsrechtlichen Menschenwürde im Bereich des Strafrechts konkret fordert.78 Es geht daher – nebst der Rolle 74  Klabbers, EJIL 2013, S. 718 (719) unter Verweis auf Smits, The Mind and Method of the Legal Academic, Cheltenham 2012. 75  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, Baden-Baden 2008. 76  Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 207, spricht in diesem Zusammenhang von Input-Legitimation; Kriele, Rechtsgewinnung, S. 186, hebt die Erwartung der Rationalität der Berücksichtigung und Abwägung der Interessen beim Aufstellen von Rechtsregeln hervor, was die dringend notwendige Autorität des Gerichts gewährleistet. 77  Wo die Rechtsprechung Widersprüche aufweist, werden diese aufgedeckt und kritisch gewürdigt. 78  Vgl. zur präskriptiven Stimme des Rechts: Smits, Redefining Normative Legal Science, S. 45 (49).

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1. Teil: Einleitung

und Funktion der Menschenwürde für die Auslegung – auch um die Frage, wann genau eine Strafe die Menschenwürde verletzt, inwieweit auf Menschenwürdeverletzungen im Strafprozess reagiert wird und welche Strafvollzugsprinzipien und Haftbedingungen mit der konventionsrechtlichen Menschenwürde kompatibel sind.

C. Methodik Gehalt und Funktion der Menschenwürde können von Land zu Land und auch innerhalb einer nationalen Jurisdiktion stark variieren.79 In der vorliegenden Untersuchung kann es daher nicht darum gehen, aus allen 47 Mitgliedstaaten des Europarats den kleinsten gemeinsamen Nenner des Würdeverständnisses herauszudestillieren. Dies wäre nicht zielführend und auch kaum zu bewerkstelligen.80 Die ideengeschichtliche und kulturspezifische Prägung der jeweiligen nationalen Verfassungsrechtstraditionen haben unterschiedliche normative Dimensionen des Menschenwürdegriffs hervorgebracht.81 Eine paneuropäische Schutzbereichsbestimmung und -konkretisierung ist vor diesem Hintergrund kaum möglich und auch nicht von grossem Erkenntniswert.82 Der Anspruch der vorliegenden Untersuchung beschränkt sich daher auf die Verwendungsweise des Rechtsbegriffs „Menschenwürde“ („human dignity“, „dignité humaine“) durch den EGMR, unter besonderer Beachtung der Prämissen und Eigenheiten des Konventionsrechtssystems.83 Die Bedeutung eines Rechtsbegriffs konstituiert sich letztlich in der Anwendung und Urteilsfindung.84 Die Bedeutung eines Rechtsbegriffes oder -kon79  McCrudden,

EJIL 2008, S. 655 (686 ff., 698 ff.). abschliessende Inhaltsbestimmung der Menschenwürde sei nicht möglich und auch nicht notwendig, da sich ihr Gehalt von konkreten historischen Unrechtserfahrungen her erschliesse: Berka, Die Grundrechte, S. 218; Höfling, JuS 1995, S. 857 (857 ff.); Kopetzki, Unterbringungsrecht, S. 403: „Die Menschenwürde entzieht sich einer positiven Definition, sie kann nur vom Negativen, von ihrer Verletzung bestimmt werden“; Müller J.  P., Grundrechte, S. 5: Der Inhalt der Menschenwürde erschliesse sich vor allem in ihrer Negation, d. h. in Akten der Verletzung, der Diskriminierung, der Schikane, der Beleidigung; auch Art. 3 EMRK verankere die Menschenwürde nicht zufällig vom Verletzungsvorgang her. Vgl. Fastenrath, EJIL 1993, S. 305 (311). Vgl. Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Einf. Rn. 180. 81  König, Die Konkretisierung des Verfolgungsbegriffs des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a QRL anhand des Begriffs der Menschenwürde, S. 122. 82  Vgl. Callies, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 133 (158). 83  2. Teil A. II.–III.; C.; EKMR (Pl), 26.03.1987, Leander v. Sweden, Nr. 9248/81, Rn. 78: „The Convention is to be read as a whole and therefore, as the Commission recalled in its report, any interpretation of Article 13 (art. 13) must be in harmony with the logic of the Convention“. 80  Eine



C. Methodik35

zeptes, kann nicht im luftleeren Raum ausfindig gemacht werden, vielmehr muss man auf den konkreten Gebrauch des Begriffes schauen.85 Insoweit kann man festhalten, dass die Menschenwürde mit der historisch gewordenen Lebenswelt der Menschen zu tun hat; ihre Verwendungsweise hängt eng mit dem Kompetenzbereich des Gerichtshofes zusammen und ist auch als Resultat richterrechtlicher Machtausübung zu erachtet, die ihrerseits kritikwürdig ist bzw. sein kann. Die vorliegende Untersuchung teilt das Fallrecht in Sachgruppen ein. Dies ermöglicht eine strukturierte Typologie und mithin eine Antwort auf die Fragen, wann, wie und warum der EGMR die Menschenwürde ins Spiel bringt. Dieses systematisierende Vorgehen erlaubt auch eine breitere und tiefere Analyse der Rechtsprechung. Ausgehend von der Würde-Rechtsprechung des EGMR wird auf deren konkrete Funktion innerhalb der Konventionsrechtsordnung geschlossen.86 Denn mangels einer positivrechtlichen Menschenwürdenorm in der EMRK verbietet es sich, den normativen Gehalt in erster Linie vom Normtext her zu bestimmen.87 Vom EGMR selbst wurde bislang kein Versuch unternommen, die Menschenwürde positiv zu definieren.88 Stattdessen findet sich die menschliche Würde als Argumentatorium in der gesamten Konventionsrechtsprechung. Forschungsobjekt ist daher die gesamte Würde-Rechtsprechung des EGMR, mit einem Schwerpunkt auf der Rechtsprechung zum Strafrecht.89 Um ein ganzheit­liches Bild zeichnen zu können, wird der Radius der Untersuchung auch auf die würderelevante Judikatur im ausserstrafrechtlichen Bereich aus84  Vgl. Adorno, Four Paradoxes of Human Dignity, S. 131 (137): „[T]he best we can do with [the concept of human dignity], is to try to approach it with the help of comparisons, analogies and examples, in an intuitive manner“. 85  Vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, S. 23  ff., 26 ff.; vgl. Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 469 u. 484: Letztlich könne der soziale Gebrauch ein Indiz für die Bedeutung eines Begriffes sein. Weiterführend Herbert M., Rechtskritik als Sprachkritik, Zum Einfluss Wittgensteins auf die Rechtstheorie, Baden-Baden 1995. 86  Dabei stellt sich die Frage, ob sich über die Funktion zwingende Aussagen zur substantiellen Beschaffenheit der Menschenwürde machen lassen. 87  Eine Begriffsexplikation, die in erster Linie vom Gegenstand der Würde des Menschen und seiner besonderen Bedeutung her operiert, ist für den vorliegenden Untersuchungsansatz ausgeschlossen. 88  Vgl. Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 535, der davon spricht, dass es selbst dem BVerfG, trotz einer beachtlichen Rechtsprechungstradition, nicht gelungen sei, eine für „ausreichend gehaltene, ‚handliche‘ Formulierung für das, was Menschenwürde [im juridischen Sinne] sein soll, [zu bilden]“. 89  Auf der Datenbank HUDOC werden alle Urteile herausgesucht, die „human dignity“ bzw. „dignité humaine“ enthalten. Danach werden Urteile, die in den „Case Reports“ abgedruckt werden, „Grade 1“-Urteile sowie „Grade 2“-Urteile, herausgefiltert und geprüft.

36

1. Teil: Einleitung

gedehnt, sofern diese zur Erhellung des konventionsrechtlichen Menschenwürdekonzepts beiträgt.90 Aus der Konkretisierung im Einzelfall wird auf den Schutzgehalt und die Funktion(-en) der menschlichen Würde geschlossen. Denn anders als bei der Frage der Letztbegründung der Menschenwürde, die in Tautologien endet,91 ist es durchaus möglich, den Stellenwert der Würde für die EMRK reflexiv und diskursiv zu klären.92 Dafür wird eine induktive Vorgehensweise93 als Forschungsansatz gewählt, die von praktischen Entscheidparametern ausgehend auf ein Prinzip oder, anders formuliert, vom Besonderen auf Allgemeines schliesst. Was die Würde des Menschen inhaltlich ausmacht, muss in einer liberalen Gesellschaft letztlich offenbleiben: Ihrem Wesen liegt ja gerade auch das Postulat zugrunde, kein bestimmtes Menschenbild als absolut zu setzen und jemandem aufzuoktroyieren.94 Dieses Vorgehen ergibt sich aus der Feststellung, dass der rechtlich gefasste Menschenwürdebegriff in erster Linie durch die Unrechtserfahrungen des Lebens geprägt und konturiert wird.95 Allerdings bezieht sich die Würde nicht nur auf jene unmittelbar aus der Vergangenheit bekannten Formen der Missachtung des Menschen (Folter, Sklaverei), sondern umfasst mit Blick auf aktuelle und künftige Gefährdungslagen auch subtilere Formen. Der EGMR kann die historischen Unrechtserfahrungen als Ausgangspunkt nehmen; solch massive Verletzungen der mensch­ lichen Würde können allerdings die Suche nach weitergehender inhaltlicher Über90  3. Teil

B. VII. hingegen Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 104: Menschenwürde werde nicht aus beliebigen anthropologischen Eigenschaften abgeleitet; zentral seien die Vernunftbegabtheit, die Willensfreiheit und die Fähigkeit zu moralischem Handeln. 92  Vgl. Bielefeldt, Menschenwürde und Folterverbot, S. 4 (22). Vgl. zum Problem der Erörterung der Möglichkeit der Letztbegründung moralischer Prinzipien mit Beispielen Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, 495, 507; ders., Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 368 (Würdebegründungen der Neuzeit und Gegenwart). 93  Dazu Hollenbach, Human Dignity: Experience and History, Practical Reason, and Faith, S. 123 ff.; Barak, Human Dignity: The Constitutional Value and the Constitutional Right, S. 361 (361); Hörnle, How to Define Human Dignity, S. 561 (575): „Human Dignity [can only be defined] negatively, i. e., by defining violations of human dignity“. 94  Mastronardi, Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts, S. 55 (55). 95  Carozza, Human Rights, Human Dignity, and Human Experience, S. 615 (627); vgl. Adorno, Four Paradoxes of Human Dignity, S. 131 (140); Kirchschläger, Missachtung als Schlüsselerfahrung, S. 193 (203): Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass negative Bestimmungen der Menschenwürde, die also von der Verletzung der menschlichen Würde ausgehen, zu einem konzisen und materiell bestimmbaren Menschenwürdeverständnis beitragen. 91  Vgl.



C. Methodik37

einstimmung innerhalb des Konventionsrechtsraumes behindern. Deshalb ist die Suche nach einem aktuellen Konsens bzgl. Inhalt und Grenze des Würdeschutzes im Rahmen teleologischer bzw. „dynamisch-evolutiver Auslegung“96 von zentraler Bedeutung für einen effektiven Menschenrechtsschutz. Die Vorgehensweise ex negativo zeigt zudem, dass die Menschenwürde sich nicht in rein metaphysischen Hypothesen erschöpft, sondern eine reale Forderung an die menschliche Interaktion ist.97 Ob sich die richterliche Konkretisierung dessen, was die Würde ausmacht, im Bereich der Pole „Evidenz“ und „Konsens“ bewegt, wird im Rahmen der Einzelfallprüfung zu untersuchen sein.98 Gerade in dieser Einzelfallprüfung, die stets alle konkreten Umstände mitberücksichtigt, kann eine offene Flanke des Rechtsbegriffs „Menschenwürde“ zutage treten,99 denn insofern, als sich die Menschenwürde auf alle Bereiche menschlicher Existenz ausrichtet, setzt sie sich dem Vorwurf der Beliebigkeit oder Banalisierung aus. Ob eine derartige Kritik angebracht ist, muss anhand der Rechtsprechung untersucht werden. Vorliegend lässt sich jedenfalls nur über die Betrachtung von Einzelfällen von Würdeverletzungen eine Methode bzw. ein Wegweiser zur Konkretisierung der Würde des Menschen ermitteln.100 Ausgangspunkt ist die Frage, was 96  2. Teil B. I. 2. a); Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 11 u. 41. 97  So auch Adorno, Four Paradoxes of Human Dignity, S. 131 (135). 98  Als evidente Menschenwürdeverletzung gilt gemeinhin Folter: EGMR, 03.11.2015, Myumyun v. Bulgaria, Nr. 67258/13, Rn. 74: „[O]ne of the distinguishing characteristics of torture is that it not only – and not always – seriously damages the physical health of the person subjected to it but also affects in a very serious way that person’s dignity and psychological well-being“. Letztlich muss die Menschenwürde bzw. ihr Bedeutungsgehalt von Fall zu Fall und in einer systematischen Gesamtbetrachtung aller Grundrechte und Normen auf internationaler und nationaler Ebene erschlossen werden; Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Art. 1 Rn. 35; krit. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 85 ff.; vgl. Cremer, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 4 Rn. 68  ff. (Zur recht­ lichen Bewertung menschlichen Verhaltens: Stets geht es dabei um das Verhältnis zwischen einem Menschen zu einem anderen; Rechtsnormen geben dabei als Sollensgebote eine generell-abstrakte Richtung vor, die jedoch der Konkretisierung bedarf). Siehe ferner Herbert M., Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 251 ff. („Danach hat man für einen vom Gesetz verwendeten unbestimmten bzw. vagen Begriff den Sprachgebrauch festzustellen“), S. 85 ff. (Wie man zählt ist nicht unabhängig von der menschlichen Praxis bestimmt, die entsprechenden Regeln werden konventionell definiert). 99  Vgl. Vitzthum, JZ 1985, S. 201 (202): „Die Auslegung vom Verletzungstatbestand her vermeidet die Gefahr einer statischen, die wechselnden Bedrohungen der Menschen verfehlenden Definition. Ausgrenzende Begriffsbestimmungen, im Wesentlichen dem kritischen Rationalismus entsprechend, sind auch im Verfassungsrecht legitim. Sie erschweren eine Petrifizierung oder Überideologisierung des Rechts“. 100  Kirste, Menschenwürde und die Freiheitsrechte des Status Activus, S. 187 (205); Hörnle, Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut, S. 91 (97 f.); Adorno, Four

38

1. Teil: Einleitung

Menschen auf keinen Fall zu erdulden haben sollen. Daher wird nachfolgend der Versuch unternommen, über die Konkretisierung eine überzeugende Auslegung der Menschenwürde zu formulieren und ihren mehrdimensionalen normativen Charakter aufzuzeigen.

D. Gang der Untersuchung Soweit die Menschenwürde in der EMRK als richterrechtliches Konzept zu erachten ist, ist es angezeigt, zunächst die Rechtsnatur und Struktur der Konvention zu beleuchten, wobei der Rolle und den Funktionen des EGMR eine grosse Bedeutung zukommt. Von diesem Grundverständnis ausgehend, wird sich der Hauptteil der Arbeit vertieft mit den strafrechtlichen Schutzbereichen der Menschenwürde befassen. Die Eingriffsformen und Schutzbereiche werden systematisiert und kontextualisiert. Im Anschluss daran wird auch die ausserstrafrechtliche Würde-Rechtsprechung in den Blick genommen, um die gesamte Spannweite menschlicher Würde abzudecken. Die Ergebnisse des Hauptteils dienen sodann als Grundlage zur Destillierung eines konventionsrechtlichen Menschenwürdekonzepts i. S. von Theorie­ elementen der Menschenwürde in der EMRK. Die Rechtsprechung wird in Bezug auf verallgemeinerungsfähige Aussagen und methodische Kohärenz hin durchleuchtet und gewürdigt. Dadurch soll ein klar konturierter Begriff der Menschenwürde entstehen. Es wird also nicht lediglich eine Taxonomie von Würdeverletzungen101 erarbeitet, sondern Stringenz und Kohärenz der Argumentation überprüft,102 um so mögliche Weiterentwicklungen der Theorieelemente der konventionseigenen Menschenwürde zu formulieren. Die Arbeit endet mit zusammenfassenden Schlussbetrachtungen, welche die wesentlichen Ergebnisse noch einmal bündeln.

Paradoxes of Human Dignity, S. 131 (136): „Human Dignity may become more ­visible in weakness than in power, in vulnerability than in self-sufficiency“. 101  So bei Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 143 ff. 102  Eine Typologie an Grundrechtsverletzungen liefert Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 101 ff.

2. Teil

Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK: Grundlagen des konventionsrechtlichen Menschenwürdeverständnisses A. Die Konventionsrechtsstruktur I. Rechtsnatur und Charakteristik der EMRK Die EMRK ist ein Kind des Europarates.1 Als internationale Organisation klassischen Zuschnitts2 hat sich der Europarat zum Ziel gesetzt, „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen“.3 Nach Art. 3 der Europaratssatzung anerkennt jeder Mitgliedstaat den Grundsatz der „Vorherrschaft des Rechts“ und das Prinzip, dass alle seiner Hoheitsgewalt Unterworfenen der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden sollen.4 Als ein wichtiger Schritt zur Realisierung dieses Ideals5 wurde am 4. November 1950 die EMRK in Rom unterzeichnet; nach Unterzeichnung 1  Zur engen Verknüpfung des Europarates und der EMRK s. Bates, The Evolution of the European Convention on Human Rights, Kap. 1 Rn. 10. 2  Weiterführend Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S.  254 ff. 3  Art.  1 Europaratssatzung (Satzung des Europarates vom 5.  Mai  1949, SR 0.192.030); vgl. Neumann, SLR 2003, S. 1863 (1877, 1884), der von einem Willen der europäischen Staaten nach einer engeren Verbindung und insofern der Möglichkeit des Gerichtshofes spricht, bei der Interpretation aus einem grösseren Duktus gemeinsamer Werte schöpfen zu können. Letsas, The ECHR as a Living Instrument, S. 106 (139). 4  Vgl. zum Postulat der Positivierung der Menschenrechte: „(…) da es wesentlich ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem Mittel gezwungen wird“ (AEMR, Präambel). 5  Vgl. auch die Präambel der AEMR, worin die Generalversammlung der VN die Menschenrechte verkündet „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende Massnahmen im

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

und der Ratifikation durch 10 Mitgliedstaaten6 trat sie am 3. September 1953 in Kraft.7 Die EMRK ist die erste regionale Menschenrechtskodifikation, die einen rechtsverbindlichen Katalog an Grundrechten und Grundfreiheiten garantiert und darüber hinaus einen justizförmigen Rechtsprechungskörper beinhaltet.8 Die EMRK ist ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag.9 Den von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geprägten Gründungsväter der Konvention war es ein Hauptanliegen, einen rechtsstaatlichen und (rechts-)ethischen10 Standard für alle Konventionsstaaten zu gewährleisten, der nicht unterschritten werden darf.11 Die Konvention garantiert eine objektive Grundordnung, die über die in der EMRK normierten Grundrechte hinaus eine paneuropäische Werteordnung im Konventionsraum12 stipunationalen und internationalen Bereich ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung bei der Bevölkerung sowohl der Mitgliedstaaten wie der ihrer Oberhoheit unterstellten Gebiete zu gewährleisten“. 6  Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Schweden und das Vereinigte Königreich. 7  Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs zählten EMRK und Europarat 22 Mitgliedstaaten. Nach Integration der ehemaligen „Ostblockstaaten“ einschliesslich der Kaukasusländer zählen EMRK und Europarat heute 47 Mitgliedstaaten. Einzig Weissrussland ist kein Mitglied des Europarats und der EMRK. 8  Der EGMR konstituierte sich am 20. April 1959 und teilte sich die Verantwortung für Beschwerden gegen Konventionsverletzungen mit der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR), die bis zur Abschaffung durch das 11. Zusatzprotokoll, das am 1. November 1998 in Kraft trat, als erste Beschwerdeinstanz fungierte. Der EGMR ist seit dem 11. Zusatzprotokoll als permanenter Gerichtshof konstituiert. 9  Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Einführung Rn. 4; Kieschke, Die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkung auf das deutsche Strafverfahrensrecht, S. 35; Addo, The Legal Nature of International Human Rights, S. 198 u. 201 („framework of objective standards“ u. „objective system of norms“). Wie jeder völkerrechtliche Vertrag statuiert die EMRK Rechte und Pflichten für die Vertragsparteien; Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 136 f. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag zugunsten Dritter (ders., S. 138). 10  EGMR (GK), Entsch. v. 13.12.2000, Malhous v. Czech Republic, Nr. 33071/96: „Human rights cases before the Court generally also have a moral dimension“ (Hervorhebung durch Autor); bestätigt in EGMR, 29.07.2010, Streltsov and others v. Russia, Nr. 8549/06 u. a., Rn. 39. 11  In völkerrechtlicher Hinsicht ist die EMRK unbestrittenermassen als Rechtsquelle zu qualifizieren; Art. 26 WVK; Art. 38 Abs. 1 lit. IGH-Statut; Kieschke, Die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkung auf das deutsche Strafverfahrensrecht, S. 33; s. zum Ganzen: Teitgen, Introduction to the ECHR, S. 3 (3 ff.). 12  Der von den Jurisdiktionsbereichen der Konventionsstaaten gebildete Konven­ tionsraum steht für eine von der EMRK verfasste europäische Ordnung: EGMR (GK), 07.07.2011, Al Skeini v. United Kingdom, Nr. 55721/07, Rn. 141. Für eine



A. Die Konventionsrechtsstruktur41

liert.13 Der objektive Rechtscharakter akzentuiert sich ferner an der durch den EGMR vorgenommenen Qualifikation als europäisches „Verfassungsinstrument“.14 Die EMRK als sog. law making treaty statuiert materielle Normen, mit denen die Vertragsstaaten ein gemeinsames Ziel, den kollektiven Individualrechtsschutz, verwirklichen, wobei die Realisierung eine nationalstaatliche Um- und Durchsetzung voraussetzt.15 Für die Auslegung der EMRK gelten Besonderheiten.16 Der allgemeine völkerrechtliche Grundsatz, wonach im Zweifel jene Auslegung zu wählen Werteordnung konstitutiv ist die Herausstellung von Entfaltungsfreiheit, die in den Institutionen den Raum ihrer Entfaltung erhält; dieses Wertsystem findet seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden mensch­ lichen Persönlichkeit; Schapp, JZ 1998, S. 913 (917) – mit Bezug auf das BVerfG. 13  Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 266. Im Gegensatz zu „contract treaties“, welche reziproker Natur sind. EGMR, 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 84 („Preliminary Objections“). Vgl Second Report on the Law of Treaties by Sir Gerarld Fitzmaurice, UN Doc. A/CN.4/107, YILC 1957, Vol. II, 54; Third Report on the Law of Treaties by Sir Gerarld Fitzmaurice, UN Doc. A/CN.4/115, YILC 1958, Vol. II, § 18 (II); Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 1. Die Konvention wird auch als objektives Vertragsregime bezeichnet, weil ihre individualschützenden Normen unabhängig von der Beziehung der einzelnen Staaten untereinander bestünden; Villiger, Handbuch der EMRK, Rn. 109; Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 4 Rn. 9; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 166 („objektive Rechtsordnung“). 14  Diese Qualifikation hat für die Auslegung bedeutende Konsequenzen. Die EMRK wird durch den EGMR als ein „Instrument zur kollektiven Durchsetzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ qualifiziert und in diesem Sinne ausgelegt; EGMR (GK), 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 75. Vgl. Hilf, FS Bernhardt, S. 1193 (1193 f.), der von der EMRK als einem „Kern einer gesamteuropäischen Verfassungsordnung spricht“. Verfassungscharakter bejaht durch Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 3; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 9; Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen, S. 38 („europäisches Verfassungsinstrument“); Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/ EMRK, Methodik Rn. 4. 15  Matscher, Methods of Interpretation of the Convention, S. 63 (105); Milej, Entwicklung des Völkerrechts, S. 424; vertiefend Keller/Marti, EJIL 2015, S. 829 ff. 16  2. Teil B. I. 2.; vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 1 („Gesetzesverträge“); ILC, Report of the International Law Commission on the work of its eighteenth session, UN Doc. A/6309/Rev.1, YILC 1966, Bd. 2, S. 172 (219): „Some jurists in their exposition of the principles of treaty interpretation distinguish between law-making and other treaties, and it is true that the character of a treaty may affect the question whether the application of a particular principle, maxim or method of interpretation is suitable in a particular case (…). But for the purpose of formulating the general rules of interpretation the Commission did not consider it necessary to make such a distinction“; Helgesen, HRLJ 2011, S. 275 (276); EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 87; EGMR (Pl), 20.03.1991, Cruz Varas and others v. Sweden, Nr. 15576/89, Rn. 94;

42

2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

ist, die den Handlungsspielraum der Staaten am wenigsten beschränkt, weicht der übernationalen Zielsetzung, deren Bedeutung im Einzelfall zu ermitteln ist.17 Die EMRK soll auf unbestimmte Zeit eine Vielzahl von Fällen regeln und mit unbestimmten Begriffen wie „unmenschlich“, „erniedrigend“ oder „fair trial“ effektiv wirken.18 Als „law making treaty“ intendiert die Kon­ vention nicht die einmalige Statuierung reziproker Obligationen, sondern die Garantie und Sicherung einer dauerhaften Ordnung, die individuelle Rechte schützt: „Unlike international treaties of the classic kind, the Convention comprises more than mere reciprocal engagements between contracting ­States“.19 Der Gerichtshof hat die EMRK, aufgrund ihres besonderen multilateralen völkerrechtlichen Vertragscharakters, als (Teil-)Verfassung des Konventionsraumes bezeichnet, als einen europäischen Ordre Public,20 der sich an Idealen und Werten europäischer Demokratien orientiert.21 Diese Wertgebundenheit EGMR (GK), 18.12.1996, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 70; EGMR, 06.02.2003, Mamatkulov and Abdurasulovic v. Turkey, Nr. 46827/99 u. a., Rn. 92; Teitgen, Introduction to the ECHR, S. 3 (12); Carrillo-Salcedo, Droit international et souveraineté, S. 16 u. 22. 17  Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Einf. Rn. 179. 18  Zur effektivitätssichernden Auslegung s. 2. Teil B. I. 2. b). 19  EGMR, 27.06.1968, Wemhoff v. Germany, Nr. 2122/64, Rn. 8; EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 239. 20  Satzger, Internationales und europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 1. Konventionsstaaten sind aufgerufen, diesen „ordre public européen“ zu schützen: Bernardet/ Douraki/Vaillant, Psychiatrie, droits de l’homme et défense des usagers en Europe, S. 205. Einen Ordre Public, verstanden als Basisstandard für alle 47 Konventionsstaaten, der das „interne Miteinander“ der Konventionsstaaten regelt; aber auch i. S. eines „ordre public international“, der eine Ausstrahlungswirkung bei Berührungen mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten des Europarates sind, hat; weiterführend Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 126 ff.; EGMR (GK), 30.06.2005, Bosphorus Hava Yollari Turizm Ve Ticaret Anonim Sirketi v. Ireland, Nr. 45036/98, Rn. 156; EGMR (GK), 18.12.1996, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 75; EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 239: „Unlike interna­ tional treaties of the classic kind, the Convention comprises more than mere reciprocal ­engagements between Contracting States. It creates, over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obligations which, in the words of the Preamble, benefit from a ‚collective enforcement‘ “. Dieses Verständnis eines kollektiven Schutz­instruments ist Eckpfeiler der EMRK: Spano, HRLR 2014, S. 487 (493). Zuweilen wird auch von einer „Verfassung Europas“ gesprochen; Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, Rn. 41; Orakhelashvili, EJIL 2003, S. 529 (533); vgl. Carrillo-Salcedo, Droit international et souveraineté, S. 19. 21  Greer, HRQ 2008, S. 680 (684): „[T]he European Court of Human Rights has effectively become the constitutional court for greater Europe“. von Bernstorff, Der Staat 2011, S. 165 (175): Die Konvention schütze den Kernbereich menschlichen Daseins.



A. Die Konventionsrechtsstruktur43

der Konventionsnormen erfordert eine autonome, vom staatlich gelenkten Willen losgelöste Auslegung.22 Garantiert wird ein europäischer „Mindeststandard“.23 Art. 53 EMRK statuiert denn auch, dass die Vertragsstaaten über das Schutzniveau der EMRK hinausgehen können. Insofern geht es in den zu analysierenden Fällen um Verstösse offensichtlicher Art, in denen sich fundamentale Bedrohungs- und Verletzungsformen manifestieren.

II. Funktion des EGMR Um die konventionsspezifische Würde-Rechtsprechung zu analysieren, muss zunächst die spezifische Funktion des Gerichtshofs innerhalb der Konventionsrechtsarchitektur untersucht werden.24 Die Konvention ist ein Stützpfeiler des demokratischen Rechtsstaates paneuropäischer Prägung.25 Diese Grundordnung zu wahren ist der Gerichtshof berufen.26 Bereits zu Beginn seiner Tätigkeit wurde er pathetisch als

22  Vgl. Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 41; EGMR, 07.12.1976, Kjeldsen, Busk Madsen and Pedersen v. Denmark, Nr. 5095/71 u. a., Rn. 53 („general spirit of the Convention itself, an instrument de­ signed to maintain and promote the ideals and values of a democratic society“); vgl. EGMR, 27.06.1968, Wemhoff v. Germany, Nr. 2122/64, The Law Rn. 8. 23  Mowbray, Between the will of the Contracting Parties and the needs of today, S. 17 (29); vgl. Spano, HRLR 2014, S. 487 (493): „[T]he treaty thus based on the primordial and crucial assumption that all Contracting Parties agree that, in principle, the protection of human rights is not an issue that is purely a matter of domestic concern. (…) the Convention is an (…) acknowledgement of certain common values that all Member States share as regards minimum guarantees of human dignity and protection“. 24  Vgl. Luf, Der Grund für den Schutz der Menschenwürde, S. 43 (46). 25  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsanwendung Rn. 85. 26  IntKomm/EMRK-Fastenrath, Art.  1 Rn. 23; EGMR (GK), 07.07.2011, AlSkeini and others v. United Kingdom, Nr. 55721/07, Rn. 141; Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Präambel Rn. 6. Der Gerichtshof schützt nicht nur den konventionsrechtlichen Ordre Public, sondern er formt ihn stetig weiter, um so den Anforderungen europäischer Demokratien gerecht werden zu können und die einzelnen Konventionsrechte vor dem Hintergrund gegenwärtiger Gesellschaftsverhältnisse auszulegen; vgl. Mowbray, Between the will of the Contracting Parties and the needs of today, S. 17 (29). Dieser Ordre Public besteht aus einem ganzen Schutzprogramm von Konventionsgarantien und Prinzipien; Dzehtsiarou, European consensus and the legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 74 f.; Villiger, Handbuch der EMRK, Rn. 182 („Wächterfunktion“).

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

„Krönung [des] Rechtsschutzsystems“ der EMRK bezeichnet.27 Ihm obliegt die Durchsetzung und Überwachung der Anwendung der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle (ZP) in den Konventionsstaaten sowie die Feststellung etwaiger (Würde-)Verletzungen der mitgliedstaatlichen Exekutive, Legislative und Judikative.28 Darüber hinaus aktualisiert der EGMR auch die einzelnen Konventionsnormen durch seine Auslegung.29 Der Gerichtshof formuliert seine Aufgabe wie folgt: „It is (…) necessary to seek the interpretation that is most appropriate in order to realise the aim and achieve the object of the treaty, not that which would restrict to the greatest possible degree the obligations undertaken by the Parties.“30 Die Normen, die den Gerichtshof konstituieren, finden sich in den Art. 19 bis 51 EMRK.31 Der Gerichtshof hat somit seine normativen Grundlagen in der EMRK selbst; er ist ein Organ der Konvention und nicht des Europarats.32

27  Mosler, ZaöRV 1959/1960, S. 415 (415). Vgl. eine kritische Stimme bei der Abfassung der EMRK mit Blick auf das Verhältnis von Demokratie und Menschen­ rechten, zitiert in Nally, Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 148: „It is sug­ gested that we should appoint a Commission and a Court. Frankly, I am not in the least thrilled by the idea. It sounds well, but let me take a number of test cases (…). In Great Britain, (…) the dockers have recently been behaving not too well (…). There are one or two (…) British Members of Parliament who are in favour of imprisoning the people who led these strikes. Well, I am not arguing whether that be right or wrong. What I want to know is whether it is part of human rights (…) [to] strike. Is it, or is it not? (…) What is the answer? The truth is hat there is no answer, and to try to pretend that a European Court can decide that is nonsense“. Heute wird der Gerichtshof als „the most effective human rights regime in the world“ bezeichnet; so Keller/Stone-Sweet, The Reception of the ECHR in National Legal Orders, S. 3 (3 ff.); Buergenthal, AJIL 2006, S. 783 (792). 28  Art. 19 EMRK; Art. 38 EMRK erlaubt es dem Gerichtshof, falls erforderlich, Ermittlungen vorzunehmen, wobei alle Konventionsstaaten die zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen zu gewähren haben. Bernhardt, GYIL 1999, S. 11 (12). Von „autoritativen Interpretationen“ spricht Grabenwarter, EuGRZ 2011, S. 229 (229). Allein der EGMR beleuchtet die Natur und den materiellen Kern der Staatenverpflichtungen: Londras/Dzehtsiarou, HRLR 2015, S. 523 (525); Addo, The Legal Nature of International Human Rights, S. 292: „[T]he power to interpret the provisions of the Convention is the Court’s primary tool in giving tangible value to the guarantees“. 29  2. Teil B. I.; vgl. BVerfG 111, 307 (319); IntKomm/EMRK-Wildhaber/Breitenmoser, Art. 8 Rn. 18: Die Rechtsprechung des EGMR sei rechtsschöpferisch geprägt. 30  EGMR, 27.06.1968, Wemhoff v. Germany, Nr. 2122/64, The Law Rn. 8. 31  Vgl. zudem Rules of the Court v. 01.08.2018. 32  Satzger, Jura 2009, S. 759 (760): Der EGMR ist nicht Organ des Europarates; Ress, FS Zeidler, S. 1775 (1791 f.); Escher, Die Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention gegenüber den drei europäischen Gemeinschaften, S. 18.



A. Die Konventionsrechtsstruktur45

Alleiniger Entscheidungsmassstab für den Strassburger Gerichtshof sind die Konventionsrechte und -prinzipien.33 Die Feststellung fehlerhafter Anwendung nationalen Rechts und fehlerhafter Sachverhaltserstellung fällt nicht in seinen Kompetenzbereich; vielmehr nimmt er lediglich eine Willkürkontrolle vor.34 Diese Zurückhaltung bei der Kontrolle nationalen Rechts auferlegt sich der Gerichtshof auch dann, wenn das Konventionsrecht explizit auf nationales Recht verweist (vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK und Art. 1 ZP Nr. 1). Der EGMR soll ausdrücklich nicht als „Vierte Instanz“ oder „Superrevisionsinstanz“ fungieren.35 Es geht also primär um die Sicherung gemeinsamer europäischer Grundrechtsstandards und um die Fortentwicklung der menschenrechtlichen Rechtsprechung.36 Zur Fortentwicklung der Menschenrechte gehört insbesondere auch, dass zuweilen nationale Rechtstraditionen, wie bspw. spezifische strafrechtstheoretische Vergeltungskonzepte, herausgefordert und hinterfragt werden.37 Der Aufgaben- und Kompetenzbereich des EGMR hat sowohl eine retrospektive als auch eine prospektive Dimension, da er nicht nur Menschenrechtsverstösse festzustellen hat, sondern auch einen europäischen „Mindeststandard“38 für künftige Fälle und Lebenssachverhalte zu etablieren sucht.39

33  EGMR (GK), 10.09.2010, McFarlane v. Ireland, Nr. 31333/06, Rn. 113: „[I]t is primarily for the national authorities (…) to interpret and apply domestic law and to decide on issues of constitutionality (…). However, in accordance with the Court’s case-law on the interpretation and application of domestic law, the Court’s duty (…) is to ensure the observance of the engagements undertaken by the Contracting Parties to the Convention so that it is not its function to deal with errors of fact or law allegedly committed by a national court unless and in so far as they may have infringed rights and freedoms protected by the Convention (…)“. 34  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 7. 35  Subsidiarität ist allerdings keine Einbahnstrasse. Sie gebietet vor allem auch, dass die Signatarstaaten ihrer Pflicht, die Konventionsrechte zu schützen, effektiv nachkommen. Dies beinhaltet insbesondere eine Orientierung an der Rechtsfortentwicklung durch den EGMR sowie eine eingehende Prüfung des Sachverhalts; Mowbray, HRLR 2015, S. 313 (332). 36  Mahlmann, EuR 2011, S. 469 (475); vgl. ders., Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 353 u. 489. 37  Zu Strafzwecken: EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a. Allgemein: EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95; EGMR, 17.12.2009, M. v. Germany, Nr. 19359/04; EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72. 38  So Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 1. 39  EGMR (GK), 17.07.2014, Centre for Legal Resources on Behalf of Valentin Câmpeanu v. Romania, Nr. 47848/08, concurring opinion Judge Pinto de Albuquerque: „[The] nature of the interpretation of international human rights texts – both

46

2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Als „spezialisiertes europäisches Grundrechtegericht“40 hütet der Gerichtshof eine europäische Grundrechteverfassung.41 Bürgerinnen und Bürger haben, sofern sie der Jurisdiktion eines Konventionsstaates unterstellt sind, die Möglichkeit, nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges (Art. 35 Abs. 1 EMRK; Subsidiaritätsprinzip)42 remedial and backward-looking on the one hand and promotional and forward-looking on the other“. 40  Vondung, Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, S. 10. 41  Vgl. Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 9  ff.; Opinion of the European Court of Human Rights on the control system of the European Convention of Human Rights, HRLJ 1993, S. 47 (48). Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 380 f. m. w. N.: Dem Gerichtshof wird regelmässig die Aufgabe zugeschrieben, im Bereich der Menschenrechte für Rechtsvereinheitlichung zu sorgen. Seine Aufgabe sei letztlich Harmonisierung, Integration für ein vereintes Europa. Nur so könne, auf einer gemeinsamen Wertebasis, homogener Schutz gewährt und ein europäischer Ordre Public geschaffen werden. Benavides Casals, Die Auslegungs­ methoden bei Menschenrechtsverträgen, S. 48 f., 145; Vondung, Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, S. 14, spricht von einem europäischen Verfassungsgericht. 42  Okresek, Subsidiarität im Verfahren nach der EMRK, S. 575 (576, 577 ff.); Andenas/Bjorge, National Implementation of ECHR Rights, S. 181 (247 ff.); Cameron, The Court and the member states, S. 25 (51 f.); Walter, The principle of respect for human dignity, S. 33 (33); Addo, The Legal Nature of International Human Rights, S. 44; EGMR, 07.12.1976, Handyside v. United Kingdom, Nr. 5493/72, Rn. 48; EGMR 17.09.2009, Scoppola v. Italy, Nr. 10249/03, Rn. 68: „[T]he machinery of protection established by the Convention is subsidiary to the national systems safe­ guarding human rights“. Zudem statuiert Art. 53 EMRK das Günstigkeitsprinzip: „Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden“. Vgl. EGMR (GK), 30.01.1998, The United Communist Party of the Turkey and others v. Turkey, Nr. 19392/92, Rn. 28: „[T]he Convention reinforces, in accordance with the principle of subsidiarity, the protection afforded at national level, but never limits it“. Ein weiterer Aspekt der Subsidiarität ist in Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK verankert, wonach eine Individualbeschwerde für unzulässig erklärt wird, wenn nach Ansicht des EGMR dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist. Der Gerichtshof fasst sein Verständnis dieser Norm in EGMR, 13.03.2012, Shefer v. Russia, Nr. 45175/04, Rn. 18 folgendermassen zusammen: „The general principle de minimis non curat praetor underlies the logic of Article 35 Abs. 3 lit. b, which strives to warrant consideration by an international court of only those cases where a violation of a right has reached a minimum level of severity. Violations which are purely technical and insignificant outside a formalistic framework do not merit European supervision“. Signatarstaaten sind Hauptverantwortliche für die Garantie der Menschenrechte und Grundfreiheiten: EGMR, 26.10.2000, Kudla v. Poland, Nr. 30210/96, Rn. 152155; EGMR, 03.02.2005, Riepl v. Austria, Nr. 37040/02, Rn. 32 („subsidiary nature of the protective mechanism of the Convention“).



A. Die Konventionsrechtsstruktur47

beim Gerichtshof eine Individualbeschwerde43 gegen den Staat, der ihre in der Konvention verbrieften Rechte verletzt hat, einzureichen (Art.  34 EMRK). Das Subsidiaritätsprinzips beruht auf der Tatsache, dass nationale Verfassungs- und Justizsysteme als solche drei fundamentale Elemente miteinander verknüpfen, die zu beachten sind: politische Souveränität, Legitimität und Kenntnis der lokalen (Justiz-)Kultur.44 Der Gerichtshof achtet namentlich darauf, dass zwischen den legitimen öffentlichen Interessen und den Individualinteressen (sowie zwischen Individualinteressen) eine angemessene Interessenabwägung stattfindet.45 Insofern kann man dem EGMR, 43  Tomuschat, EuGRZ 2003, S. 95 (95 ff.): Die Individualbeschwerde sei das Herzstück des „ordre public européen“. Daneben gibt es noch die Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK), ein Verfahren, in dem Vertragsstaaten die Verletzung von menschenrechtlichen Gewährleistungen der EMRK in anderen Staaten vor den EGMR bringen können. Sie hat bis zum heutigen Tag kaum praktische Relevanz erlangt: EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, in diesem Fall legte Irland eine Staatenbeschwerde ein, wegen des Vorgehens Grossbritanniens gegen Mitglieder der IRA. 44  Im Sinne der Subsidiarität des Konventionsrechtsschutzes grenzt die Margin-of-appreciation-Doktrin (Beurteilungsspielraum) die Kompetenzen ab; vgl. EGMR (GK), 19.02.2009, A. and others v. United Kingdom, Nr. 3455/05, Rn. 184: „[The margin of appreciation is] a tool to define relations between the domestic authorities and the Court“; ferner EGMR, 12.04.2012, Stubing v. Germany, Nr. 43547/08, Rn. 60: „By reason of their direct and continuous contact with the vital forces of their countries, the State authorities are, in principle, in a better position than the international court to give an opinion“; EGMR (GK), 22.04.2013, Animal Defenders International v. United Kingdom, Nr. 48876/08, Rn. 108: „The quality of the parliamentary and judicial review of the necessity of the measure is of particular importance in this respect, including the operation of the relevant margin of appreciation“; EGMR, 01.07.2014, S. A. S. v. France, Nr. 43835/11, Rn. 129: „The national authorities have direct democratic legitimation and are (…) in principle better placed than an international court to evaluate local needs and conditions. In matters of general policy, on which opinions whithin a democratic society may reasonably differ widely, the role of the domestic policy-maker should be given a special weight“. Sofern ein Staat der EMRK beitritt, steht nicht die Pflicht im Vordergrund, sich dem Gerichtshof zu unterziehen. Die Primärpflicht ist vielmehr, dass Staaten selbst für einen ausreichenden Schutz der Konventionsrechte sorgen. Staaten können je ihr eigenes Schutzniveau, welches durchaus anspruchsvoller und höher zu liegen kommen kann als jenes der EMRK (Art. 53 EMRK), etablieren. Insoweit kann die Verwirklichung der Konven­ tionsrechte als gemeinsame Aufgabe von Staat und EGMR erachtet werden. AraiTakahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 62 (91); weiterführend zur Margin-of-appreciation-Doktrin Asche, Die Margin of Appreciation, S. 99 ff. Vgl. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 117: „Gewiss liegt im demokratischen Rechtsetzungsprozess die Quelle aller Legitimität“. 45  Weiterführend Christoffersen, Fair Balance, S. 68 ff.; Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 382; Addo, The Legal Nature of International Human Rights, S. 318; Busse, Verstehen und Auslegung von Rechtstexten, S. 7 (11): „Jeder Schrifttext, der über einen längeren Zeitraum hinweg existiert und benutzt wird, erhält eine Auslegungsgeschichte (Juristen und Theologen nennen dies: Dogmatik). Jede Ausle-

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

wie Baade treffend festhält, die Rolle eines „Diskurswächters“ zuschreiben.46 Um einen zu starken Eingriff in die rechtspolitischen Angelegenheiten der Vertragsstaaten zu verhindern, müssen in erster Linie die nationalen Instanzen die durch die EMRK gewährten Rechte (innerstaatlich) schützen. Bei der Umsetzung gewährt ihnen der Gerichtshof einen gewissen Ermessensspielraum („margin of appreciation“).47 Art. 13 EMRK statuiert konsequenterweise die Pflicht, dass jeder Konventionsstaat eine hinreichend effiziente Möglichkeit zur Abwehr allfälliger Menschenrechtsverletzungen bieten muss.48 Letztlich gilt es zu bedenken, dass der Konventionsraum insgesamt 47 Staaten49 mit über 800 Millionen beschwerdeberechtigten Bürgerinnen und Bürgern umfasst.50 Der EGMR kann und soll nicht alle grundrechtsrelevanten Probleme moderner, komplexer Gesellschaften lösen. Dies ist Aufgabe demokratisch-rechtsstaatlicher Entscheidungsprozesse der Konventionsstaaten; jedoch kann der Gerichtshof als Wächter des Diskurses einen Beitrag dazu leisten, dass die Institutionen rollenadäquat agieren.51 Im Kontext der Menschenwürde, wo es stets um fundamentale Aspekte menschlichen Daseins geht, nimmt der Gerichtshof grundsätzlich eine

gungsgeschichte hält eine Mehrzahl an möglichen Textdeutungen parat, zwischen denen sich ein Textanwender (z. B. ein juristischer Entscheider) entscheiden muss“; Itzcovich, HRLR 2013, S. 287 (302); vgl. Orakhelashvili, EJIL 2003, S. 529 (531). Weiterführend zum normativen Individualismus: von der Pfordten/Kähler (Hrsg.), Normativer Individualismus in Ethik, Politik und Recht, Tübingen 2014. 46  Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 479. 47  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 36. 48  Art. 13 EMRK, Recht auf wirksame Beschwerde: „Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten und Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben“. 49  In Europa sind nur der Vatikan, der Kosovo sowie Weissrussland nicht Mitglied des Europarats und somit nicht Vertragsstaaten der EMRK. 50  Vgl. Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 455: „Im Wesentlichen lassen sich drei unterschiedliche Menschenrechtssituationen unterscheiden: gefestigte Demokratien, Staaten im Übergang zu dieser und Staaten, in denen grundlegende Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch nicht vollends etabliert sind“; Harmsen, The Reform of the Convention System, S. 119 (141). Ersteren gegenüber trete der EGMR als evolutiver Standardsetzer auf, Übergangsstaaten würden im Reformprozess unterstützt, und bei Letzteren könne das, was juristisch erreicht werden kann, auf realpolitische Compliance-Grenzen stossen; ders., S. 142. 51  Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 480.



A. Die Konventionsrechtsstruktur49

­esonders genaue Prüfung von Rügen vor („strict scrutiny“).52 In Haft­ b sachen53 hat der EGMR gar einen sog. Anscheinsbeweis implementiert.54 Wenn Häftlinge eine konkrete Missachtung ihrer menschlichen Würde „beyond ­reasonable doubt“55 darlegen können und der entsprechende Konven­ tionsstaat keinen Exkulpationsbeweis liefert, kann der EGMR Schlüsse zu Ungunsten des Staates ziehen.56 Je nach Art der staatlichen Einwirkung und der besonderen Wertigkeit des Konventionsrechts kann sich die Beweislast umkehren bzw. können Vermutungsregeln greifen.57 Wo Fundamentalgarantien wie Art. 3 EMRK mutmasslich verletzt oder bedroht sind, ist die Fallprüfung des EGMR grundsätzlich von besonders hoher Genauigkeit und Strenge.58 Dies liegt auch daran, dass die Menschenwürde mit universal verstandenen Konzepten wie jenem der Verletzlichkeit („vulnerability“) des Menschen eng verzahnt ist.59 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der EGMR gemäss Art. 19 EMRK die letzte Autorität ist, die mit der rechtsverbindlichen Auslegung und Anwendung der EMRK betraut ist. Er nimmt seine unabhängige Rolle im Sinne der Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte mit konsequentem Blick auf die Natur des Menschen wahr; er formuliert Verletzlichkeitszuschreibungen und prüft Verletzungen, die tief in geschützte Rechtssphären eingreifen, mit besonderer Genauigkeit, wobei er aber den Konventionsstaaten in moralisch-ethisch hoch sensiblen Angelegenheiten einen grossen normativen Spielraum belässt. Insofern besteht Raum für nationale

EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 113. A. III. 3. 54  EGMR, 14.06.2016, Urazov v. Russia, Nr. 42147/05, Rn. 82: „Regardless of the concrete circumstances in the present case, the Court reiterates that the very essence of the Convention is respect for human dignity and that the object and purpose of the Convention as an instrument for the protection of individual human beings require that its provisions be interpreted and applied so as to make its safeguards practical and effective“. 55  EGMR, 02.06.2016, Yunusova and Yunusov, Nr. 59620/14, Rn. 139. 56  Vgl. im Kontext von Polizeigewalt Ronc/van der Stroom, forumpoenale 2018, S.  379 (383 ff.). 57  EGMR, 02.06.2016, Yunusova and Yunusov, Nr. 59620/14, Rn. 139: „[T]he distribution of the burden of proof, are intrinsically linked to the specific nature of the facts, the nature of the allegation made and the Convention right at stake. The Court is also attentive to the seriousness that attaches to a ruling that a Contracting State has violated fundamental rights“. 58  EGMR (GK), 13.12.2012, El-Masri v. The Former Yugoslav Republic of ­Macedonia, Nr. 39630/09, Rn. 151; EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 113. 59  Heri, Rights of the Vulnerable, S. 10 m. w. N. 52  Vgl.

53  3. Teil

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Besonderheiten auch in Bereichen, die die Menschenwürde betreffen, so z. B. im umstrittenen Bereich der Sterbehilfe und Patientenautonomie.60

III. Charakteristik und Verpflichtungsdimensionen der Urteile Die Urteile des EGMR sind, wie in Art. 41 EMRK statuiert ist, in erster Linie Feststellungsurteile („stellt der Gerichtshof fest“). Dies bedeutet, dass der EGMR keine nationalen Urteile kassieren oder innerstaatliche Gesetze für nichtig erklären kann. Ebenso wenig kann er Verwaltungsakte aufheben.61 Seine Urteile haben auch keine rechtsgestaltende Wirkung. Vielmehr stellt der EGMR die Verletzung eines Konventionsrechts und/oder -prinzips fest.62 So beurteilt er gewisse Handlungen des Staates als unvereinbar bzw. nicht unvereinbar mit der Menschenwürde,63 oder er mahnt die Beachtung der Menschenwürde an und stellt in der Folge eine Konventionsrechtsverletzung fest.64 Unmittelbar verbindlich sind die Urteile des EGMR nur für die Parteien des Rechtsstreits, sie gelten also inter partes. Die normative Fernwirkung der Urteile – und auch der Würdejudikatur – begründet sich durch die Primärpflicht in Art. 1 EMRK, wonach die Vertragsstaaten verpflichtet sind, die Wahrung der Konventionsgarantien in der Auslegung, die diese durch den EGMR erfahren haben, zu garantieren.65 Obwohl die Urteile keine Wirkung 60  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 68  ff.; vgl. Spano, HRLR 2014, S. 487 (493 f.); 3. Teil B. II. 1.–3. 61  Vgl. Wildhaber, EuGRZ 2005, S. 689 (690 f.). 62  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 45. 63  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 101: „it would be incompatible with human dignity (…) forcefully to deprive a person of his freedom without striving towards his rehabilitation“; EGMR, 01.06.2017, Mindadze and Nemsitsveridze v. Georgia, Nr. 21571/05, Rn. 109: „the Court considers it to be a serious abuse of the applicant’s physical integrity and dignity“; EGMR, 04.12.2014, Navalny and Yashin v. Russia, Nr. 76204/11, Rn. 112: „in view of the cumulative effect of the factors analysed above, the Court considers that the conditions in which the applicants were held at the police station diminished their dignity and caused them distress and hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention“; EGMR, 31.07.2014, Nemtsov v. Russia, Nr. 1774/11, Rn. 120; EGMR, 13.03.2014, Aleksandr Vladimirovich v. Ukraine, Nr. 69250/11, Rn. 53: „the Court considers that the applicant (…) has failed to formulate an arguable claim that the medical assistance available to him in the Slavyanoserbsk Colony was incompatible with his human dignity“; EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 282: „There can be no doubt that trafficking threatens the human dignity and fundamental freedoms of its victims“. 64  EGMR, 17.05.2018, Zabelos and others v. Greece, Nr. 1167/15, Rn. 75 u. 85. 65  Meyer F., forumpoenale 2015, S. 176 (177). In Deutschland hat das BVerfG von einer faktischen Präzedenzwirkung der Urteile gesprochen, wonach die Urteile jeden-



A. Die Konventionsrechtsstruktur51

erga omnes entfalten, haben sie eine Orientierungswirkung für alle anderen Konventionsstaaten.66 Unmittelbare Adressaten der Urteile sind die Staaten, nicht ihre Organe.67 Gemäss Art. 46 EMRK sind die hohen Vertragsparteien verpflichtet, bei allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen (Befolgungspflicht).68 Die Befolgungspflicht verlangt die Beendigung des konventionswidrigen Zustands.69 Mit welchen Mitteln der Vertragsstaat dieser Beendigungspflicht nachkommt, bleibt weitgehend ihm überlassen.70 An die Seite der Befolgungspflicht tritt die in Art. 41 EMRK angesprochene Pflicht, den konventionskonformen Zustand wiederherzustellen („restitutio in integrum“).71 Dies kann in eine Pflicht münden, die Rechtsordnung mit der Konvention in Einklang zu bringen, um weitere gleichartige Rechtsverstösse zu verhindern.72 Erweist sich eine angemessene Wiedergutmachung der Vertragsverletzung als unmöglich, kann der EGMR eine „gerechte Entschädigung“ für materiellen oder immateriellen Schaden zusprechen.73 Bei verbindlicher Feststellung einer Menschenwürdeverletzung durch den EGMR wird typischerweise auch eine angemessene finanzielle Entschädifalls faktische Orientierungs- und Leitfunktion hätten; BVerfG, 2BvR 2365/09, 04.05.2011, Rn. 89; vgl. Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 37 Rn. 1; von einer Orientierungswirkung für alle Vertragsstaaten spricht auch Grabenwarter, JZ 2010, S. 857 (860). 66  Grabenwarter, JZ 2010, S. 857 (860); Grabenwarter, Nationale Grundrechte und Rechte der EMRK, in: Merten/Papier, HBdGR, Bd. VI/2, § 169 Rn. 45; Ress, ZaöRV 2004, S. 621 (630), die von einem „quasi erga-omnes“-Effekt spricht. 67  Kieschke, Die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkung auf das deutsche Strafverfahrensrecht, S. 54; Villiger, Handbuch der EMRK, Rn. 104. 68  Laut Art. 46 EMRK besteht die Möglichkeit, durch geeignete Massnahmen auf die Umsetzung der Urteile des Gerichtshofes hinzuwirken, wobei die Kompetenz hinsichtlich solcher Massnahmen bei dem Ministerkomitee liegt, das entsprechende Vorschläge machen kann: vgl. Art. 16 ZP Nr. 14. 69  EGMR (GK), 08.04.2004, Assanidze v. Georgia, Nr. 71503/01, Rn. 175 f., 202; Wildhaber, EuGRZ 2005, S. 689 (690). 70  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 45; Grabenwarter, JZ 2010, S. 857 (860): Es bestehe eine „Nichtwiederholungspflicht“, um gleichartigen Verletzungen in Zukunft entgegenzuwirken. Der EGMR gewährt den Vertragsstaaten auch bei der Erfüllung von Schutzpflichten einen weiten Ermessensspielraum. 71  Vgl. Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts (UN Doc. A/56/10(2001), S. 43 ff.), Art. 31, 34 ILC-Artikel. 72  Diese Pflicht ergibt sich aus Art. 30 lit. b ILC-Artikel; Peters/Altwicker, Euro­ päische Menschenrechtskonvention, § 37 Rn. 17. 73  Weiterführend die empirische Analyse in: Altwicker-Hámori/Altwicker/Peters, ZaöRV 2016, S. 1 (1 ff.).

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

gung bzw. eine Genugtuungssumme für erlittene immaterielle Unbill gesprochen, was die besondere Wertigkeit dieses Schutzguts unterstreicht.74 In menschenwürdegefährdenden Zusammenhängen, insbesondere in Fällen unzureichender medizinischer Betreuung in Haft oder bei nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafen, fordert der EGMR kein spezifisches Ergebnis („obligation of result“).75 In einem Fall war ein psychisch kranker Häftling während Jahren ohne Therapie in Haft gehalten worden. Der EGMR stellt fest, dass die positive Pflicht der Staaten, auf die Resozialisierung des Täters hinzuwirken, als eine Pflicht zum Tätigwerden zu verstehen sei. In den Worten des EGMR handelt es sich dabei um eine „obligation of means not of result“. So kann ein menschenwürdewahrender Zustand herbeigeführt werden, indem die Vollzugsmodalitäten an die Konventionsstandards angehoben werden.76 Die primäre Pflicht des Signatarstaates besteht in der Achtung der Konventionsrechte, wobei Achtung die Pflicht meint, es zu unterlassen, durch staatliches Handeln die verbrieften Individualrechte aktiv zu verletzen. Dem entspricht auf Seiten des Individuums der Anspruch, staatliche Eingriffe in seine Rechte abzuwehren.77 Unter positiven Schutzpflichten wird verstanden, dass der Staat verpflichtet werden kann, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, die die Verwirklichung einer Konventionsgarantie erst ermöglicht. Der Staat kann gar verpflichtet sein, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, um eine erkannte Gefahr zur Beeinträchtigung von Konventionsrechten durch Dritte zu verhindern. Im Einzelfall tritt der materielle Verpflichtungskern der Urteile nicht immer hinreichend deutlich zutage. Daher wird eines der Hauptziele der nachfolgenden Arbeit sein, die würdegeprägten Schutzbereiche und Verpflichtungen im Strafrecht und in ausserstrafrechtlichen Bereichen systematisch auf74  Statt vieler: 5’000 EUR für immaterielle Unbill wegen einer Ohrfeige auf der Polizeistation: EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09; Costa, The Provision of Compensation under Article 41 of the European Convention of Human Rights, S. 1 (3); vgl. Addo, The Legal Nature of International Human Rights, S. 300, der in der materiellen Entschädigungsmöglichkeit das transformative Konzept des europäischen Menschenrechtsschutzes schlechthin erkennt, was ihn von den philosophisch-moralischen Menschenrechtskonzeptionen abhebt. Vgl. ferner EGMR, 17.05.2018, Zabelos and others v. Greece, Nr. 1167/15, Rn. 99; vertiefend Altwicker-Hámori/Altwicker/Peters, ZaöRV 2016, S. 1 (32 f.). 75  3. Teil A. II 2. b); A. III. 4. d). 76  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 104. 77  Abwehrrechte bzw. die Achtungs- oder Unterlassungspflichten gelten aber nicht immer absolut (vgl. Art. 8 Abs. 2 EMRK).



A. Die Konventionsrechtsstruktur53

zuarbeiten, um dadurch die konkreten Pflichten, die für menschenwürdewahrende Zustände erforderlich sind, deutlich zu machen.

IV. Die Konventionsrechte und die Menschenwürde 1. Negativer Textbefund und Travaux Préparatoires Wer eine positivierte Menschenwürdenorm in der EMRK sucht, wird nicht fündig. Trotz dieses negativen Textbefunds lässt sich ein indirekter Bezug zur völkerrechtlichen Menschenwürde über die Präambel der Konvention herstellen.78 Diese verweist auf die AEMR und die in ihr verbürgten Rechte:79 „Die Unterzeichnerregierungen, Mitglieder des Europarates – in Anbetracht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet worden ist; in der Erwägung, dass diese Erklärung bezweckt, die universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung der in ihr aufgeführten Rechte zu gewährleisten; (…) entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen, die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen“.80

In der AEMR finden sich ausdrückliche Bezüge zur Menschenwürde, allerdings wird sie dort primär in ihrer Fundierungsfunktion, als konstituierendes Prinzip der Menschenrechte allgemein verwandt.81

78  Wallau,

Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 59. Resolution der Generalversammlung der VN ist die AEMR keine völkerrechtliche Rechtsquelle, sondern trägt eher zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht bei: Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 5; vgl aber Pache, Vorgaben des Menschenwürdeschutzes in Europa, S. 23 (27), der festhält, dass die Menschenwürde in der AEMR mittlerweile zu Völkergewohnheitsrecht erstarkt und insofern als völkerrechtliches ius cogens einzuordnen sei, ohne dass über die konkreten Folgen dieser Einordnung Einigkeit bestünde. Vgl. Marshall, Personal Freedom through Human Rights Law, S. 34: Die Präambel der EMRK verweist auf die AEMR als Inspirationsquelle. 80  Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK), Präambel. 81  Neumann, SLR 2003, S. 1863 (1868 f.). Zur Fundierungsfunktion der „modernen“ Menschenwürde: Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 99; Verdross, Die Würde des Menschen und ihr völkerrechtlicher Schutz, S. 7; Wesche, Die Würde von Freien und Gleichen, zur Begründung der menschlichen Würdeidee, S. 41 (41 ff.); Demko/Seelmann/Becchi, Vorwort, S. 7 (8); McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (655 ff.). 79  Als

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Der EGMR zieht die AEMR zur Auslegung einzelner Konventionsrechte heran.82 Zugleich hält er aber fest, dass ein Rückgriff auf Normen der AEMR, die kein Pendant in der EMRK haben, unzulässig sei.83 Zudem zeichnet sich die AEMR dadurch aus, dass sie das „von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ ist.84 Als Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist sie nicht rechtsverbindlich,85 sondern vielmehr als politische Leitlinie und Zielbestimmung zu verstehen; insofern ist der Grad an (rechtlicher) Normativität herabgesetzt.86 Obgleich der Herleitungszusammenhang zwischen der Präambel der EMRK und der AEMR bzw. der darin enthaltenen Menschenwürdenorm eher „schwach“ ist, um ein eigenständiges europäisches Konzept der Menschenwürde begründen zu können, lässt sich der Begründungskonnex logisch über den Textverweis rekonstruieren. Nicht zu vergessen ist, dass die EMRK als rechtsverbindliche Verwirklichung eines Teiles der in der AEMR enthaltenen Rechte zu erachten ist. Deshalb muss ihr auch die Menschenwürde zumindest als Hintergrundannahme inhärent sein, da sich die AEMR substanziell aus der universellen Menschenwürde schöpft. Zu prüfen ist weiter, ob sich der juridische Terminus „Menschenwürde“ überhaupt oder sogar stringenter aus der Konvention heraus begründen lässt. Dabei ist die EMRK als Ganzes in den Blick zu nehmen, insbesondere auch ihre Präambel, die gemäss Art. 31 Abs. 2 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)87 bei der Interpretation eines Übereinkommens massgebend ist.88 In der Präambel lassen sich materielle Auslegungstopoi finden:89 82  Vgl. EGMR (GK), 28.10.1998, Osman v. United Kingdom, Nr. 23452/94, Rn. 136; EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 34; vgl. EGMR (GK), 22.03.2012, Konstantin Markin v. Russia, Nr. 30078/06, partly concurring opinion Judge Albuquerque; EGMR (GK), 19.10.2012, Catan and others v. Moldova and Russia, Nr. 43370/04 u. a., Rn. 136: „The provisions relating to the right to education set out in the Universal Declaration of Human Rights (…) are therefore of relevance“; EGMR (Pl), 18.12.1986, Johnston and others v. Ireland, Nr. 9697/82, Rn. 52; vertiefend Gambaraza, Le statut de la Déclaration universelle des droits de l’homme, S. 225 u. 228. 83  EGMR (Pl), 18.12.1986, Johnston and others v. Ireland, Nr. 9697/82, Rn. 53. 84  AEMR, Präambel. 85  Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, S. 220. 86  IntKomm/EMRK-Fastenrath, Art. 1 Rn. 11. 87  Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 2969 (WVK) (SR 0.111). 88  Mayer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Präambel Rn. 1. 89  Zur Wichtigkeit materieller Auslegungstopoi s. insbesondere EGMR (Pl), 22.10.1981, Dudgeon v. United Kingdom, Nr. 7525/76; EGMR (Pl), 07.12.1976, Handyside v. United Kingdom, Nr. 5493/72; EGMR (Pl), 21.02.1986, James and ­others v. United Kingdom, Nr. 8793/79; Maurer, Le principe de respect de la dignité humaine et la Convention européenne des droits de l’homme, S. 256.



A. Die Konventionsrechtsstruktur55 „[I]n der Erwägung, dass es eines der Ziele des Europarates ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist (…)“.90

Weiter wird feierlich festgehalten, dass „(die Regierungen europäischer Staaten), die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen, (entschlossen sind) die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen“.91

Die Erkenntnis, dass Gerechtigkeit und Frieden am besten durch „eine wahrhaft demokratische politische Ordnung“ zu realisieren sind, verdeutlicht die aus der Präambel ableitbaren Ziele der EMRK, welche darin liegen, über die Wahrung und Fortentwicklung92 der gemeinsam statuierten Menschenrechte eine engere Verbindung zwischen den Staaten herzustellen. Durch diese Vorgehensweise soll sich eine gewisse Integration auf paneuropäischer Ebene realisieren.93 Anders als die Menschenwürde werden das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip in der Präambel explizit genannt. Beide nehmen eine normativ-strukturbildende Funktion innerhalb der EMRK ein.94 In den nachfolgend zu untersuchenden Travaux Préparatoires zur EMRK lässt sich feststellen, dass die Würde des Menschen im rational-diskursiven Prozess der Verfassung des Konventionstextes eine zentrale Rolle gespielt hat.95 Obwohl lediglich ein komplementäres Auslegungsinstrument,96 sind 90  Präambel

zur EMRK (Hervorhebung durch Autor). die Lesart des EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 87: „Any interpretation of the rights and freedoms guaranteed has to be consistent with the general spirit of the Convention, an instrument designed to maintain and promote the ideals and values of a democratic society“. 92  Damit ist bereits eine Grundlage für das Postulat gelegt, wonach die EMRK als living instrument operationalisiert werden muss; zum Ganzen s. 2. Teil B. 2. a). 93  Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Präambel Rn. 2; Heer-Reissmann, Die Letztentscheidungskompetenz des EGMR in Europa, S. 321. Die Präambel spricht von der EMRK als einem Mittel zu „grösserer Einheit“. Kritisch mit Blick auf Rechtsvereinheitlichung: Volkmann, JZ 2011, S. 835 (842); Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, S.  37 f. 94  Letsas, EJIL 2010, S. 509 (517), der im Rechtsstaatsgrundsatz ein teleologisches Auslegungsprinzip sieht, das insbesondere im Zusammenhang mit Art. 6 EMRK zum Tragen kommt. 95  Zu den Travaux Préparatoires als Auslegungshilfe s. Bernhardt, GYIL 1999, S. 11 (14). 96  Zur Auslegung der EMRK s. 2. Teil B. I. 2.; ferner EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 35; vgl. ILC, Draft articles on the law of 91  Vgl.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

die Travaux Préparatoires zur Eruierung des „Telos“ der Konvention und für das konventionsspezifische Menschenwürdeverständnis von eminenter Bedeutung.97 Die vorbereitenden Arbeiten können ferner zur Bestätigung eines anderweitig erzielten Auslegungsergebnisses oder bei einem unscharfen oder widersprüchlichen Resultat herangezogen werden.98 Einer der ersten Wortführer der beratenden Rechtskommission, Cingolani, bezog sich bei den Vorbereitungsarbeiten der EMRK auf die Würdenorm in der Erklärung von Philadelphia der Internationalen Arbeiterorganisation, die rund vier Jahre früher (1944) verabschiedet worden war: „In this Declaration there is a true and appropriate definition of human personality, which puts freedom and human dignity in the first place, and defines labor as an expression of man’s sovereignty over the riches of the earth, of his power over the raw materials which he has successfully conquered by his own physical and spiritual force, in his capacity as a real collaborator in the divine work of preserving Creation. (…) it should suffice to confirm here the necessity for such a body [Court], and also the principle of the joint responsibility of the democratic States and the Council of Europe for the defense of mankind’s most precious possessions – freedom and the dignity of the human person“.99

Aus Äusserungen wie dieser entsteht ein Bild des Menschen, das ihm aufgrund seiner gattungseigenen Fähigkeiten eine exponierte Stellung in der Welt zuweist. Hier wird dem Menschen vom urteilenden Subjekt ein Wertprädikat zugeschrieben. Was in diesen Sätzen durchscheint, ist, dass jede menschliche Existenz mit Eigenschaften ausgestattet ist, die Würde begrüntreaties with commentaries, UN Doc. A/6309/Rev.1, YILC 1966, Bd. 2, S. 177, 223: „extrinsic means of interpretation, such as travaux préparatoires (…) subsidiary means of interpretation, more especially travaux préparatoires (…) further means of interpretation, including preparatory work“; 218: „Any attempt to codify the conditions of the application of those principles of interpretation whose appropriateness in any given case depends on the particular context and on a subjective appreciation of varying circumstances would clearly be inadvisable. Accordingly the Commission confined itself to trying to isolate and codify the comparatively few general principles which appear to constitute general rules for the interpretation of treaties“. 97  EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 88: „[U]nderlying values of the Convention that ‚common heritage of political traditions, ideals, freedom and the rule of law‘ to which the preambule refers“. 98  Vgl. EGMR, 04.04.2000, Litwa v. Poland, Nr. 26629/95, Rn. 63: „The Court (…) finds that this meaning of the term ‚alcoholics‘ is confirmed by the preparatory work on the Convention (…). [T]he Court observes that in the commentary on the preliminary draft Convention it is recorded that the text of the relevant Article covered the right of the signatory States to take measures to combat vagrancy and ‚drunkenness‘ (…). It is further recorded that the Committee of Experts had no doubt that this could be agreed ‚since such restrictions were justified by the requirements of public morality and order‘ “. 99  Cingolani, Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 56.



A. Die Konventionsrechtsstruktur57

den; es sind dies die höheren geistigen (und physischen) Fähigkeiten als „Grundlage ihres Verständnisses der Welt.“100 Ein solches Verständnis hebt den Menschen ab von der Natur – ohne dabei in ein anthropozentrisches Weltbild zu verfallen.101 Innerhalb der wortreichen Debatten des „Ausschusses für Rechts- und Verwaltungsfragen“, der an der Erarbeitung der EMRK massgeblich beteiligt war, wird das Verhältnis zwischen Individuum und Staat als wie folgt konditioniert beschrieben: „Man is an end in himself! The city and the State are so many organs constituting the means of preserving his dignity, of ensuring the pacific development of his personality and of guaranteeing of his human living conditions. This (…) is the common ideology of free Europe, the ideology which, down the centuries, has been subject to many attacks but which, from the time of ancient Greece – which gave it birth – up to our time, has shaped that European culture without which existence cannot be conceived. We must, therefore, fortify the structure and widen the bases of the fundamental freedoms which form the veritable ramparts of human dignity“.102

Der moderne, den Menschenrechten verpflichtete Verfassungsstaat existiert einzig um des Menschen willen; der Mensch wird als „Zweck an sich selbst“ („man is an end in himself“) gedacht. Der Mensch soll demnach Subjekt im Staate sein. Er wird als – sozial bedingter – Gestalter seines Selbst gesehen; der Staat soll die Verwirklichung der Personalität in Frieden ermöglichen, um menschliche Selbstzweckhaftigkeit überhaupt erst real werden zu lassen. In der persönlichen Entfaltung des eigenen Lebens liegt offenbar ein Wert, der Schutz verdient und dem die menschliche Würde letztlich zugrunde zu liegen scheint. Es geht also um Achtung vor der eigenen Selbstbildung, für welche ein gewisser sozialer Mindeststandard gefordert wird („human living condition“).103

100  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 267. Vgl. Hofman, AöR 1993, S. 353 (358), der die christlich-jüdische und die säkular-kantianische Spielart der Würde vergleicht. 101  Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 366: Beim Bemühen um einen adäquaten Würdebegriff sei von einem selbstverliebten Anthropozentrismus Abstand zu halten. 102  Antonopulos, Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 56. 103  Vgl. Mahlmann, Rechtphilosophie und Rechtstheorie, S. 375, wonach sich Menschen selbst ein Zweck sind bzw. Menschen ihr Leben als ein Gut erachten: „Die Welt der Zwecke endet bei dem einzig zwecksetzenden Wesen selbst, weil dieses Wesen sich durch seinen Glücksbezug empirisch-faktisch ein Zweck ist und durch Verallgemeinerung aufgrund eines grundlegenden Gerechtigkeitsprinzips bei der gleichberechtigten Zweckhaftigkeit aller Menschen insgesamt als letztem Ziel menschlicher Zwecksetzung“.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Die Diskussion über den Eigenwert des Menschen reicht bis in die Antike zurück;104 dieser Gedanke findet sich auch in verschiedenen Weltreligionen und Kulturtraditionen.105 Die Selbstzweckidee versteht das menschliche Dasein als Selbstbehauptung gegenüber existenziellen Hindernissen, als autonomen Lebensvollzug im Prozess des Bewusstseins und der Selbstbestimmung.106 Gerade weil der Mensch nicht passiver Beobachter der äusseren Welt ist, geht es „um die ästhetische Selbstaneignung der eigenen Existenz“.107 Diese normative Grundausrichtung wird nicht im luftleeren Raum erfunden, sondern schöpft sich aus einer gemeineuropäischen Quelle, aus einer abendländischen (antiken) Wertegemeinschaft und Werttradition, die nach der Verfinsterung während des Zweiten Weltkriegs wieder zum Leben erweckt und zu neuer Kraft erstarken musste.108 Weiter lassen die Gründerdebatten der EMRK eindeutig einen christlichen und philosophischen Bezugsrahmen aufscheinen: „In the Sistine Chapel in Rome, the genius of Michael Angelo has represented this dignity of mankind in an admirable fashion; he portrays it in the form of a handsome youth at the instant of creation who is looking God, the Creator, straight in the eyes, while God, from heaven, surrounded by a cloud of angels gives him his hand. In this picture we see the affirmation that man is prepared to go forward along any road in the world, to climb any height, to create a life worthy of being lived, within a community of his fellow-men, each of whom has his own personality, and who all bear the seal, and carry the fire of their divine Father“.109

Diese Gedanken sind Zeugnis eines spezifischen Würdeverständnisses, welches seine Grundlagen in der Renaissance bzw. dem Humanismus hat. Angesprochen ist die Imago-Dei-Lehre, wonach dem Menschen Würde auf104  Bereits in der Philosophenschule der Stoa wurde die Menschenwürde an die Fähigkeit des vernünftigen Menschen geknüpft, sich von seinen Leidenschaften und Trieben zu distanzieren: s. Fasel, Des freien Bildhauers Würde, S. 27 (30) m. w. N. Vertiefend Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 104 ff.; ders., Konkrete Gerechtigkeit, S. 279. 105  Mahlmann, Konkrete Gerechtigkeit, S. 279. 106  Mahlmann, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, S. 376. 107  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 268. 108  Kraft, Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 64: „Europe, whose life and welfare we are gathered here to preserve and protect, through the creation of a firmer union, is not primarily a geographical and geopolitical or strategic conception, but a Europe with a common spiritual basis in its views on man, his dignity and his rights“. 109  Cingolani, Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 62 u. 64. Die Imago-Dei-Lehre sieht die Menschenwürde in der göttlichen Ebenbildlichkeit des Menschen begründet. Im säkularen Kontext bleiben religiöse Wertüberzeugungen, Werterfahrungen und Glaubensgewissheiten wichtig. Sie ersetzen aber nicht die normativen Geltungsansprüche der Menschenrechte, sondern bleiben im Pluralismus der Rechtfertigungen und motivierenden Wertüberzeugungen, die mit den Menschenrechten kompatibel sind: Lohmann, Nicht Ergriffenheit, sondern Diskurs, S. 13 (23).



A. Die Konventionsrechtsstruktur59

grund seiner Ebenbildlichkeit zu Gott zukommt. Gleichzeitig kann sie auch als Zielvorgabe gedeutet werden, die es zu verwirklichen gilt.110 Zugleich wird hier darauf verwiesen, dass auch im Denkgebäude der christlichen Religion die Idee der menschlichen Würde vorherrscht. Es wird aber auch ersichtlich, dass der Einzelne in seiner Selbstdarstellung und Selbstentfaltung zu schützen sei.111 Auch hier wird wieder ein in Selbstbestimmung vollzogenes Leben als schutzwürdig und der Mensch zum Urheber der Umstände seiner persönlichen Existenz erhoben. Und an dieser Stelle konvergiert der christlich geprägte Ansatz mit den vorangegangenen Erkenntnissen: Autonomie kürt den Menschen zum Subjekt des eigenen Lebens inmitten der Gesellschaft. Dieser Ansatz ist nicht neu und hat einen der wirkmächtigsten Vorläufer in Pico della Mirandola, konkret in seiner „Oratio de hominis dignitate“ von 1496. Mirandola sieht die Freiheit des Menschen darin, sein eigener Schmied und Bildhauer zu sein („maker and moulder“),112 ein Ansatz, der die Menschenwürdediskussion bis heute prägt.113 Ans Licht tritt weiter ein individualistisches – wenngleich nicht egoistisches – Menschenbild: „What in fact, does European civilization stand for in our eyes? What is it that we defend in this Assembly, when we speak of human rights? What have we in mind 110  Vgl. Lembcke, Die Würde des Menschen, frei zu sein, S. 159 (175) unter Bezugnahme auf Pico della Mirandola. 111  Vgl. EGMR, 27.09.1990, Cossey v. United Kingdom, Nr. 10843/84, dissenting opinion Judge Martens, Rn. 2.7: „The principle which is basic in human rights and which underlies the various specific rights spelled out in the Convention is respect for human dignity and human freedom. Human dignity and human freedom imply that a man should be free to shape himself and his fate in the way that he deems best fits his personality. A transsexual does use those very fundamental rights. He is prepared to shape himself and his fate. In doing so he goes through long, dangerous and painful medical treatment to have his sexual organs, as far as is humanly feasible, adapted to the sex he is convinced he belongs to. After these ordeals, as a post-operative transsexual, he turns to the law and asks it to recognise the fait accompli he has created“; EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95. 112  Cassirer, JHI 1942, S. 319 (320) unter Verweis auf Pico della Mirandola: „Neither a fixed abode, nor a form in thine own likeness, nor any gift peculiar to thyself alone, have we given thee, ‚says the Creator to Adam‘, in order that what abode, what likeness, what gifts thou shalt choose, may be thine to have and to possess (…). Thou, restrained by no narrow bounds, according to thy own free will, in whose power I have placed thee, shalt define thy nature for thyself. (…) Nor have we made thee either heavenly or earthly, mortal or immortal, to the end that thou, being, as it were, thy own free maker and moulder, shouldst fashion thyself in what form may like thee best“; Lembcke, Die Würde des Menschen, frei zu sein, S. 159 (174): Der Mensch ist wie Gott ein Schöpfer, insoweit gottgleich wenn aber nicht im gleichen Ausmass. 113  Fasel, Des freien Bildhauers Würde, S. 27 (27 f.).

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

when we compare European civilization with other forms of social life? Quite simply, it is the dignity of the human being, the conviction shared by us all that every man is worthy of respect, that every man has the right to live in safety and dignity, that no man can be a subject of indifference to us however weak or however near to death he may be“.114

Hier werden der Respekt und die Achtung angesprochen, die jeder Mensch kraft seines Menschseins verdient. Achtung fordert Schutz der Integrität und des individuellen Eigenwerts. Weiter werden die Kranken, Schwachen und Marginalisierten genannt, die ebenfalls am Würdeschutz teilhaben. Diese fundamentale Würde wird nicht durch die Anerkennung durch die Menschen untereinander konstituiert, sondern wohnt nach diesen Aussagen jedem Menschen kraft seiner Existenz inne.115 Der Blick in die Travaux Préparatoires zeigt auch, dass es eine Vielfalt an Würdekonzeptionen gab. Dies eröffnet dem EGMR einen „normativen Möglichkeitsraum“ ohne eine Würdekonkretisierung autoritativ festschreiben zu müssen.116 Der konkrete normative Gehalt, der sich aus diesen Materialien ziehen lässt, ist gleichwohl eher gering, zumal sich der Gebrauch des Würdebegriffs weitgehend in Form einer Proklamation erschöpft oder gar dem religiös-moralischen und ethischen Diskurs zuzuordnen ist.117 Bei der Würde des Menschen geht es um den obersten Telos des Staates selbst.118 In dem Begriff kommt eine Idee und ein spezifisches Verständnis vom Wesen des zu Freiheit berufenen Menschen und seiner präpositiven und unveräusserlichen Würde prägnant zum Ausdruck.119 Ganz deutlich manifestiert sich in den Voten der Wille, staatliche Macht zu begrenzen.120 114  De La Vallée-Poussin, Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 102. Zwar ist der Einzelne als soziales Wesen zu erachten, wo es aber um die Menschenwürde, d. h. um Kernbereiche der Persönlichkeit geht, sollte die EMRK dem Einzelnen Ansprüche einräumen; vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 217. 115  Vgl. Isensee, AöR 2006, S. 173 (183). Dadurch wird auch der Kommunika­ tionstheorie der Menschenwürde auf Ebene der EMRK eine Absage erteilt. Zur Kommunikationstheorie s. Hofmann, AöR 1993, S. 353 (364): Würde konstituiere sich demnach in sozialer Anerkennung, was für einen politischen oder alltagssprachlichen Würdebegriff zutreffen mag, aber nicht für einen konventionsrechtlichen. 116  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 247. 117  Zum Verhältnis Ethik und Recht mit Bezug auf die Menschenwürde: Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 75. 118  Was dessen Inhalt sei, stehe zur Debatte: so Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 247. 119  Weiterführend zum naturrechtlichen Charakter der Grundrechte s. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1980; vgl. ferner Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt a. M. 1985.



A. Die Konventionsrechtsstruktur61

Die Untersuchung der Gründerdebatte hat gezeigt, dass die Menschenwürde als Begriff sehr präsent war und durch Wortführer verschiedener Länder prominent eingebracht wurde, um den besonderen Wert, die Grösse und Verletzlichkeit des Menschen hervorzuheben. In durchaus pathetischer Sprache wurden die besonderen menschlichen Eigenschaften („physical and spiritual force“) hervorgehoben, die Achtung gebieten und das Attribut Würde tragen. Genannt werden die achtbare Existenz des Menschen, dem ein Freiheitsraum durch Gesellschaft und Staat geschaffen werden muss, um den eigenen Lebensvollzug realisieren zu können („create a life worthy of being lived“), und die freie Entfaltung der Persönlichkeit („development of his personality“), verstanden als Ideologie, die zurück in die griechische Antike reicht und den Menschen zum Selbstzweck erhebt. Die Idee der Menschenwürde wurde in den Debatten als europäisches Erbe bzw. als begriffsgeschichtliches Kulturgut verstanden und verwendet.121 Während der Erarbeitungsphase der EMRK wurde die Würde des Menschen zum „gemeinsamen europäischen Erbe“122 erhoben und dadurch als Teil einer gemeinsamen Wertbasis Europas benannt.123 Insoweit ist sie in der Präambel124 der EMRK 120  Insoweit bestand Einigkeit über den Vorrang des Individuums vor der staatlichen Ordnung. 121  Vgl. statt vieler: Vellguth, Die Geschichte der Menschenwürde und ihrer brutalen Missachtung, S. 129 (130 ff.). 122  De La Vallée-Poussin, Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 102. 123  Bei der Anwendung der Konvention wird auch auf gemeinsame Rechtsüberzeugungen der Vertragsstaaten zurückgegriffen: Bei der EMRK sind dies die als Bestandteil des gemeinsamen europäischen Erbes angesehenen allgemeinen Rechtsgrundsätze der westeuropäische Demokratien; vgl. Addo, The Legal Nature of International Human Rights, S. 289; EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 88; EGMR (GK), 08.07.2004, Ilascu and others v. Moldova and Russia, Nr. 4878/99, Rn. 317: „It would hardly be compatible with the underlying values of the Convention, that ‚common heritage of political traditions, ideals, freedom and the rule of law‘ to which the Preambule refers (…)“ (Hervorhebung durch Autor); vgl. Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 4 Rn. 57 (mit Bezug auf Rechtsstaatsprinzip) u. Rn. 62 (Ausdehnung der Abwehrdimension von Art. 3 EMRK u. a. als Ausfluss der der Konvention zugrunde liegenden Werte, jenem gemeinsamen Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen […] auf die sich die Präambel bezieht); EGMR, 29.06.2004, Chauvy and others v. France, Nr. 64915/01, concurring opinion Judge Thomassen: „[H]uman dignity as one of the most important convention values (…)“; vgl. IntKomm/EMRK-Fastenrath, Art. 1 Rn. 1. 124  EMRK, Präambel: „(…) in der Erwägung, dass es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist; in Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grund-

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

als geteilter Geist, tradiertes normatives Erbe und geteilte politische Überlieferung und Ideal zu verstehen.125 Der materielle Würdebegriff ist der Konvention daher mithin „eingeboren“. Die Präambel durchdringt das gesamte Schutzsystem. Sie zeigt die von der Konvention verfolgten Ziele auf und bestimmt dadurch auch die Ausformung der einzelnen Konventionsrechte, was als Gebot einer stärker teleologischen – namentlich (auch) würdegeprägten – Rechtsprechung gelesen werden kann.126 Würde tritt gleichberechtigt neben die Prinzipien der Demokratie127 und Rechtsstaatlichkeit.128 Die „Trias Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ bildet ein Gesamtgefüge, das für die EMRK konstituierend, freiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden; entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen, die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen – haben folgendes vereinbart (…)“. 125  In diese Richtung auch Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, S. 84. 126  Vgl. Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Präambel Rn. 4; vgl. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Präambel Rn. 6; Grabenwarter/ Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 14; vgl. Dupré, EHRLR 2009, S. 190 (201), die die Menschenwürde als Grundlage und Ziel aller Menschenrechte erachtet. 127  S. Moeckli/Raible, Die direkte Demokratie in der Rechtsprechung des EGMR, S. 469 (469 ff.); zur Verbindung der Menschenwürde mit dem Demokratieprinzip, vgl. EGMR, Entsch. v. 04.12.2003, Gunduz v. Turkey, Nr. 35071/97, Rn. 40: „[L]a Cour souligne notamment que la tolérance et le respect de lʼégale dignité de tous les êtres humains constituent le fondement dʼune société démocratique et pluraliste“. 128  Die Menschenwürde ist seit der Ausarbeitung der EMRK ihr integraler Bestandteil und insofern in einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung vorausgesetzt; EGMR (GK), 23.06.2016, Baka v. Hungary, Nr. 20261/12, dissenting opinion Judge Wojtyczek: „The Convention protects individual rights. Individual rights are legal positions of individual persons, established by legal rules in order to protect the individual interests of the person concerned, in particular their dignity, life, health, freedom, personal self-fulfilmen and property“; EGMR, 31.07.2001, Refah Partisi (the Welfare Party) and others v. Turkey, Nr. 41340/98 u. a., Rn. 43: „Human rights form an integrated system for the protection of human dignity; in that connection, democracy and the rule of law have a key role to play“ (Hervorhebung durch Autor); vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 181, der die Menschenwürde als Kern des Menschenbildes der EMRK qualifiziert; vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 184 f., der davon ausgeht, dass die Menschenwürde absichtlich nicht in den Konventionstext Eingang fand, um den fehlenden Konsens unter den Mitgliedstaaten nicht zu sehr zu strapazieren – ihr komme gleichwohl Doppelfunktion als Hintergrundannahme und „konkretes materielles Recht“ zu.



A. Die Konventionsrechtsstruktur63

strukturbildend und handlungsleitend ist.129 Der Einbezug der Menschenwürde als immanenter Wert in die Architektur der EMRK ist daher rechtstheoretisch nicht nur zulässig und legitim, sondern gar geboten.130 Oder anders formuliert: Das Prinzip der Menschenwürde wurde durch die Gründerväter als Postulat ethischer bzw. politischer Natur in das positive System der EMRK hineingetragen und ist insofern strukturell verankert, doch bedurfte bzw. bedarf es noch eines Verfahrens, in welchem „das rechtlich Bindende vom politischen Ideal getrennt und der Kompromiss, welcher Rechtsprinzipien zu ihrer Stabilität befähigt, erst geschlossen wird“.131 Dieses rechtlich Bindende herauszulesen ist letztendlich Aufgabe des Gerichtshofs.132 Weshalb die Menschenwürde nicht als eigenständige Norm Eingang in den Katalog der EMRK gefunden hat, dürfte mehrere Gründe haben: Zum einen zielten die Verfasser der Konvention darauf ab, hinreichend konkrete, subjektiv-einklagbare Menschenrechte zu garantieren.133 In ihren Augen eignete sich die Menschenwürde wohl nicht als selbständige Konventionsnorm. Nicht zuletzt aufgrund des Einflusses der britischen Delegation in den nachfolgenden Arbeiten dürfte man Abstand vom positivrechtlichen Menschen129  Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, Rn. 48: Die Menschenwürde verleiht der EMRK normative Kohäsion; Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa, S. 212; vgl. aber Marguénaud, Principe de dignité et Cour européenne des eroits de l’eomme, S. 235 (237), der festhält, dass die Menschenwürde erst mit der Zeit Teil des Konventionsrechts geworden ist; Bernardet/ Douraki/Vaillant, Psychiatrie, Droits de l’Homme et Défense des Usagers en Europe, S. 204, die von einem Ensemble an Prinzipien reden („régie par un ensemble de principes“). Vgl. Häberle, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 20 Rn. 65: „In der Menschenwürde hat Volkssouveränität ihren ‚letzten‘ und ersten (!) Grund“. Der Status Activus hat seine Grundlage in der Würde des Menschen: Kirste, Menschenwürde und die Freiheitsrechte des Status Activus, S. 187 (210). 130  Vgl. EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 65 („the very essence of the convention is respect of human dignity“). Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 70: „Die ungeschriebenen Rechtsprinzipien sind auch positiv die stärkeren. Das gilt gerade im Verfassungsleben, welches uns ständig belehrt, dass geschriebene Prinzipien von der politischen Konjunktur bald aus den Angeln gehoben werden, während die Elemetarwahrheiten unberührt bleiben. (…). Man diskutiert sie [Elementarwahrheiten] nicht, man geht von ihnen aus“. 131  Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 74. 132  Weiterführend 2. Teil A. II. Erst durch den konventionsgerichtlichen Erkennungsakt erhalten ungeschriebene Prinzipien wie die Menschenwürde ihre „Rechtsnormqualität von positiver Gestalt und Geltung“: Esser, Grundsatz und Norm, S. 86. 133  IntKomm/EMRK-Fastenrath, Art. 1 Rn. 2. In den Worten der Präambel handelt es sich um „die ersten Schritte“ auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie, die durch Verrechtlichung der in der AEMR unverbindlich deklarierten Menschenrechte realisiert werden soll. Vgl. Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 46 f.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

würdebegriff genommen haben.134 Man verzichtete auf eine normtextliche Verankerung des Menschenwürdebegriffes. Für das Vorhaben, nur hinreichend klare Garantien zu normieren, dürfte er als zu vage und konturlos erschienen sein, um in einem (bzw. dem weltweit ersten) auf tatsächliche rechtliche Durchsetzung und Beachtung angelegten völkerrechtlichen Menschenrechtsvertrag dem Rechtsanwender als Richtschnur dienen zu können.135 Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Menschenwürde im Katalog der EMRK nicht positiviert wurde.136 Allerdings muss beachtet werden, dass die Menschenwürde mangels normtextlicher Verankerung nicht ihrer Positivität enthoben ist. Sie wurde in den Gründerdebatten nicht angezweifelt; man diskutierte sie nicht, man ging von ihr aus.137 Insofern lag sie dem System der EMRK von Anfang an zugrunde; sie wirkte und wirkt systembildend. Daher ist sie positives 134  S. a. zur würdeskeptischen Position Grossbritanniens bei der Verfassung der Europäischen Grundrechtecharta: Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 180. 135  So Pache, Vorgaben des Menschenwürdeschutzes in Europa, S. 23 (28 f.); vgl. Ungoed-Thomas, Travaux Préparatoires zur EMRK, Band I, S. 64: „The question we now have posed before us is how far we can supplement that very wise provision, whether we can take the preservation of liberty among ourselves out of the political field and make it the subject of law, and not as politicians who act in accordance with a political discretion“. Von britischer Seite wurde damals der Standpunkt vertreten, dass die fundamentalen Menschenrechte, welche völkerrechtlichen Schutz verdienen, so präzise wie möglich verfasst werden sollten, was insbesondere auch für deren Beschränkungsvoraussetzungen zu gelten habe; Travaux Préparatoires zur EMRK, ­ Bd. IV, S. 8: „the fundamental rights to be safeguarded, and, even more important, the limitations of these rights, should be defined in as detailed a manner as possible“. Für einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag, der in verbindlicher Art und Weise Grundrechte statuiert, die durch Rechtsprechungsorgane angewandt und konkretisiert werden sollte, erschien der Begriff der Menschenwürde wohl als inhaltlich zu vage: Frowein, Human Dignity in International Law, S. 121 (123). Ferner: Council of ­Europe, Cons. Ass., First Session, Reports, Strasbourg 1949, S. 1144: „[The Committee] considered that, for the moment, it is preferable to limit collective guarantee to those rights and essential freedoms which are practised, after long usage and experience, in all democratic countries“. Marshall, Personal Freedom through Human Rights Law, S. 15; Jackson, Medical Law, S. 26. Auch im Kontext der Verfassung der Europäischen Grundrechtecharta war es die britische Delegation, die sich dafür aussprach, die Menschenwürde nur in der Präambel festzuschreiben, da sie kein durchsetzbares Grundrecht sei: Callies, in: Callies/Ruffert, EU-GRCh, Art. 1 Rn. 4. 136  A. A. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 6; vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 59. Vgl. die These von Badura, wonach die EMRK dem „integralen Freiheitsverständnis“, dem die Autoren der AEMR gefolgt waren, eine „liberale Rechteerklärung“ entgegengesetzt hatte; in dieser Erklärung sollten nur die klassischen liberalen Freiheitsrechte aufgenommen, die sozialen Rechte sowie die bis dahin noch unbekannte Menschenwürde aussen vor gelassen werden: Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 179. 137  Esser, Grundsatz und Norm, S. 70.



A. Die Konventionsrechtsstruktur65

Recht,138 unter dem Vorbehalt der Transformation und Aktualisierung durch den Gerichtshof, der die Würde als ungeschriebenen Rechtsgrundsatz qua Rechtsprechung (richterliche Rechtsfortbildung) „sichtbar“ macht, f­ estschreibt und (stetig) ausdifferenziert. Die Konvention zielt darauf ab, fundamentale Werte, die einer wahrhaft offenen demokratischen Gesellschaft inhärent sind, effektiv zu schützen.139 Zu diesen ist das Rechtsstaatsprinzip140 zu zählen141 – und ganz besonders der Respekt vor der Person. Insofern hat die EMRK, als kollektives Instrument zum Schutze der Menschenrechte,142 zum Ziel, Angriffe auf jenen Rechtwert zu verhindern, den alle Menschen besitzen: die Menschenwürde.143 Dieses Telos tritt in der Rechtsprechung explizit oder implizit – als „irreduzibles Humanum“ – zutage. Die Rechtsprechung des EGMR bestätigt diesen Befund, indem der Gerichtshof die Menschenwürde als das zu verfolgende und zu realisierende Gut hochhält: „The European Convention on Human Rights must be understood and interpreted as a whole. Human rights form an integrated system for the protection of human dignity; in that connection, democracy and the rule of law have a key role to play“.144 Was diesen Schutzgehalt im Einzelfall ausmacht, ist eine Frage von rechts- und gesellschaftspolitischem Belang: „nevertheless it is important that we strive to uphold a consensus, because without it we would lose one of the bases for mutual respect“.145

138  Esser, Grundsatz und Norm, S. 70: „Damit sind [ungeschriebene Rechtsprinzipien] positives Recht: nicht als selbständige oder abtrennbare Weisung, sondern als immanente Seins- und Funktionsbedingungen des Einzelnen“. 139  EGMR (Pl), 07.12.1976, Handyside v. United Kingdom, Nr. 5493/72, Rn. 49: „The Courtʼs supervisory functions oblige it to pay the utmost attention to the principles characterising a ‚democratic society‘ (…). Such are the demands of that pluralism, tolerance and broadmindedness without which there is no ‚democratic society‘ “. 140  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 7. 141  EGMR (Pl), 21.02.2012, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 34. 142  EGMR (GK), 27.09.1995, McCann and others v. United Kingdom, Nr. 18984/9, Rn. 149. 143  EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95, Rn. 90. 144  EGMR, 31.07.2001, Refah Partisis and others v. Turkey, Nr.  41340/98 u. a., Rn. 43; EGMR, 04.12.2003, Gunduz v. Turkey, Nr. 35071/97, Rn. 40: „[T]he Court would emphasise (…) that tolerance and respect for the equal dignity of all human beings constitute the foundations of a democratic, pluralistic society“. 145  Feldman, PL 1999, S. 682 (686) (Hervorhebung durch Autor).

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

2. Zum Menschenbild in der EMRK Radbruch hat einst treffend formuliert, dass es der Wechsel des vorherrschenden Menschenbildes sei, der in der Geschichte des Rechts Epoche mache.146 Rechtstheoretisch lässt sich das Menschenbild nicht ganz einfach einordnen. In der Lehre wird zuweilen von einem „legitimierenden Einheitsbezug“147, einem „generalklauselartigen Rahmenbegriff“148 oder einem „fundamentalen Rechtsprinzip“149 gesprochen. Letztlich dürfte das Konzept des Menschenbildes alle genannten Aspekte miteinander verknüpfen.150 Das Menschenbild dient in der Konvention als grundlegender teleologischer Interpretationsaspekt und bestimmt das allgemeine Vorverständnis ihres Sinns und Zwecks.151 Menschenbilder haben i. d. R. eine praktisch-rechtliche Wirkungsdimension.152 Das Selbstverständnis des Menschen stellt ein bedeutsames Leitbild des Rechts dar, dessen Wirkung sowohl in die Tiefe als auch in die Breite kaum zu unterschätzen ist. Das Menschenbild wird zum offen oder verborgen wirkenden Regulator der Rechtsauslegung und führt, sofern es transparent vermittelt wird, zu einem besseren Verständnis des Normensystems, vorliegend jenem der EMRK. Gemäss dem von Bergmann herausgearbeitetem konventionsspezifischem Menschenbild liegt der Ausgangspunkt der Auslegung in einem liberalen Grundrechtsverständnis, das den Menschen zunächst als freien und autarken Bürger sieht.153 Das der EMRK zugrunde liegende Menschenbild ist geprägt durch eine Auffassung vom Menschen als „personale Ganzheit“ im Sinne der

146  Radbruch, Der Mensch im Recht, S. 9; vgl. Masferrer, Taking Human Dignity more Humanely, S. 221 (224): „The idea of human rights presupposes a certain idea of human being“. 147  Pernthaler, AöR 1969, S. 31 (40). 148  Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 60. 149  Schünemann, Menschenbild, S. 3 (5 ff.). 150  Vgl. Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 61. 151  Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 18 f. Normative Menschenbilder geben Antworten auf die Frage, wie der Mensch sein soll; sie entwerfen ein Idealbild des Menschen, der bestimmten Sollensforderungen genügt, weil er die Erfüllung dieser Normen zu seinen eigenen Zielvorstellungen macht. Menschenbilder können für inhaltliche Ausfüllungen von interpretationsbedürftigen Rechtsbegriffen, wie jenem der „Menschenwürde“, eine juristische Wirkung erlangen; Hilgendorf, Menschenbild und Recht, S. 195 (209). 152  Wenngleich eine schwache und kaum sichtbare Wirkungsweise; Birnbacher, Menschenbilder und Menschenrechte, S. 29 (34); zur Scharnierfunktion des Menschenbildes zwischen Staatsorganisationsrecht und Grundrechtesschutz s. Thaler, Recht und Massengesellschaft, S. 130 (132). 153  Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 111.



A. Die Konventionsrechtsstruktur67

Trias „Leib, Seele und Geist“.154 Damit wird das Bild eines „geistbegabten, selbstbewussten Einzelwesen[s] im Sinne einer Einheit und eines Zentrums seiner Eigenschaften, Antriebe und Handlungen“ gezeichnet.155 Der Mensch erscheint demnach als vernünftiges bzw. vernunftbegabtes Wesen, dessen Substanz unteilbar ist,156 womit die normative Kohäsion zwischen Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit deutlich wird.157 Zugleich wird der Mensch auch als gemeinschaftsbezogenes Wesen gedeutet; auf dieser Grundlage ist auch die Menschenwürde zu interpretieren. Nur im Zusammenspiel der individuellen und der gemeinschaftsbezogenen Lesart kann sie ihre Funktion als ein Leitprinzip wahrnehmen.158 Das Menschenbild der EMRK erinnert an die Definition Dürigs, wonach „[j]eder Mensch (…) Mensch [ist], kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten“.159 In dieser Sichtweise äussert sich ein positives Verständnis des Menschenwürdebegriffs.160 Ein weiteres Attribut des Menschenbilds ist seine Offenheit für Entwicklungen. Es befindet sich im steten Wandel mit den europäischen Kulturen und bildet einen idealtypischen Rahmen des zu schützenden Menschen ab.161 Insofern ist das konventionsspezifische Menschenbild und der damit verbundene Interpretationsrahmen für Unrechtserfahrungen historisch und politisch kontingent.162 154  Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 119; krit. Kirchschläger, Menschenrechte und Menschenbild, S. 133 (133), der von der Gefahr der metaphysischen Aufladung spricht. Ebenso krit. Müller J. P., Grundrechte, S. 4. 155  Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 237; krit. Kirchschläger, Menschenrechte und Menschenbild, S. 133 (137). 156  Oder wie Mahlmann festhält: die höheren geistigen Fähigkeiten des Menschen als Grundlage des Verständnisses der Welt: Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 267. 157  Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 237; vgl. Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Art. 1 Rn. 3; Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S.  534 ff. 158  Vgl. Pernthaler, FS Schäffer, S. 613 (617); ausführlich zum Menschenbild der EMRK: Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, Baden-Baden 1995. 159  Dürig, AöR 1956, S. 117 (125). 160  Dies im Gegensatz zur Herangehensweise vom Verletzungsvorgang her; Vitz­ thum, JZ 1985, S. 201 (202). 161  Dass sich das Menschenbild im historischen Verlauf verändert, ist ein Faktor, den es mit den Menschenrechten teilt; Birnbacher, Menschenbilder und Menschenrechte, S. 29 (38). 162  Vgl. Legutke, Erfahrungen verletzter Würde in historischer Perspektive, S. 75 (87).

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Das konventionsrechtliche Menschenbild muss, um in einer liberalen rechtsstaatlichen Demokratie einheitsstiftend und richtungsweisend zu sein,163 der Konkurrenz und Pluralität unterschiedlicher europäischer Menschenbilder Raum geben. Laut Bergmann wird die EMRK dem gerecht.164 Das Menschenbild der Menschenrechte ist ein Menschenbild der Aufklärung, verkörpert in einem mit Würde und Freiheit ausgestatteten, autonomen, mündigen, aber gerade deswegen verantwortungsbewussten und als verantwortlich zu behandelnden Menschen, der Person und Träger von Rechten und Pflichten ist.165 Vor diesem Hintergrund sollte man besser von einem „Menschenbilder-­ Rahmen“ sprechen. Dieser Rahmen kann als Leitbild bei der Interpretation und Fortentwicklung einzelner Rechtspositionen dienen, zugleich aber auch als Gerechtigkeitsmaxime und Rechtsprinzip. Er wirkt auf allen Ebenen der Rechtsordnung und prägt die soziale und normative Wirklichkeit mit bzw. wird von ihr geprägt.166 Letztlich kann die menschliche Würde „nur aus dem Wesen des Menschen“ näher bestimmt werden.167 Allein aus dem Verständnis dessen, was 163  Dies ohne in einen autoritären Paternalismus zu fallen, der ein bestimmtes normatives Bild vom Menschen oktroyiert. 164  Vgl. insb. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 304 (konventionsspezifisches Menschenbild als „Rahmenprinzip“); Häberle hat ebenfalls die Notwendigkeit formuliert, das hinter den Grundrechten der EMRK stehende Menschenbild freizulegen und aus Europa als regionaler Verantwortungsgemeinschaft ein Menschenbild zu entwickeln, ohne dass die Universalität der Menschenrechte vernachlässigt wird; Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 24. 165  Als würdiges Wesen wird der Mensch in der EMRK bzw. in der Rechtsprechung des EGMR als politischer Hintergrund und geistiger Wesensgehalt allen Menschenrechten und Grundfreiheiten zugrunde gelegt: Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, S. 242 f.; Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 181. 166  Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 129 ff.; Häberle/Kotzur, Euro­ päische Verfassungslehre, S.  72 f.; Auer spricht davon, dass das Menschenbild als die zentrale rechtsethische Dimension, in der sich rechtsethische Prinzipien und die fundamentalen Rechtsgrundsätze bündeln, zu erachten sei: Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, S. 262; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 98: „[D]as rechtliche und politische Denken [steht] in vielfältigen Beziehungen zu den teils optimistischen, teils pessimistischen Bildern, in denen der Mensch sich in idealtypischer Weise als ‚animal rationale‘ oder ‚irrationale‘, als Naturwesen oder als moralische Instanz begreift und damit je eine Teilwahrheit, aber eben auch nur eine solche, erfasst. Bei der Frage der gerechten Ordnung menschlichen Zusammenlebens geht es nicht zuletzt darum, jede dieser Teilwahrheiten angemessen in Rechnung zu stellen – eine Aufgabe, die durch das Aufzeigen jener Teilwahrheiten nicht schon gelöst ist“. 167  Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, S. 236, unter bejahender Bezugnahme auf Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungs-



A. Die Konventionsrechtsstruktur69

den Menschen ausmacht, kann der Inhalt dessen, was jede Person kraft ihres Menschseins von der Gemeinschaft fordern kann, überzeugend zum Ausdruck gebracht werden. Somit betritt man, wenn man sich mit dem Menschenbild bzw. der Menschenwürde befasst, immer zugleich das Feld der Anthropologie.168 Jede Aussage über die Menschenwürde ist (explizit oder implizit) mit einem Menschenbild verknüpft – und vice versa. Daraus erklärt sich die besondere Rolle, die dem Menschenbild bei der Erhellung des juridischen Menschenwürdebegriffs zufällt.169 Anders gewendet besteht zwischen der konventionsspezifischen Menschenwürde und dem Menschenbild eine ausgeprägte Wechselwirkung; beide stehen in einem untrennbar reziproken Spannungsfeld zueinander.170 Nichtsdestotrotz sollte ein liberales „Menschenbild“ nicht i. S. einer juristisch verbindlichen Vorgabe missverstanden werden. Denn es ist nicht nur zeitgebunden, sondern läuft zudem Gefahr, im Einzelfall mit dem persönlichen Menschenbild des Rechtsanwenders gleichgesetzt zu werden, welches von subjektiven Wertungen und Werten durchzogen sein kann. Eine weitere Gefahr besteht darin, in freiheitsfeindliche Ideologien zu verfallen, sobald man den Rahmen von „kulturgeschichtlich Selbstverständliche[m]“ verlässt.171 Diese Grenze zu erkennen ist freilich sehr schwierig, weshalb sich auch in diesem Feld positive Aussagen im Bereich des Abstrakten erschöpfen. Müller hat es einst auf eine treffende Formulierung gebracht: „Es sind geschlossene Gesellschaften, die dermassen von einem geschlossenen Bild ordnung, S. 17. Zu beachten bleibt, dass das Menschenbild über die Menschenwürde hinausreicht. Masferrer, Taking Human Dignity More Humanely, S. 221 (247): „the best way of taking human dignity more humanely is to take human nature more seriously“. 168  Pernthaler, FS Schäffer, S. 613 (615): Insb. das Prinzip Menschenwürde sei in seiner unabgeschlossenen Weite nicht anders zu konkretisieren als im Rückgriff auf die Natur des Menschen, die eben seinen jeweils einmaligen Rechtswert begründe“; vgl. Mahlmann, Mind and Rights, S. 80 (85); vgl. ferner ders., Konkrete Gerechtigkeit, S. 279 (spezifische menschliche Eigenschaften); vgl. ders., Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 333 ff. 169  So auch Kirchschläger, Menschenrechte und Menschenbild, S. 133 (138) – allerdings leistet die Rede über ein Menschenbild keine positive Bestimmung der Menschenwürde. 170  Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, S. 236. 171  So Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 19. Vgl. Müller J.-P., Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, S. 4: „Der Mensch bringt zwar gewisse konstante Bedürfnisse wie dasjenige nach Nahrung, Obdach und Kommunikation mit sich; daneben ist er aber auch ein weltoffenes Wesen mit stets neuen Entfaltungsmöglichkeiten und –bedürfnissen, die ihrerseits wieder neue Schutzanliegen in der Gemeinschaft mit sich bringen. Solche Einsicht gehört zum wenigen, was wir heute aufgrund sozialwissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnis verlässlich über den Menschen aussagen können“.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

des Menschen ausgehen, während ein offenes Gemeinwesen porös bleibt für das Eindringen neuer Forderungen menschlicher Entfaltung im sozialen Kontext“.172 Insofern ist ein einheitsstiftendes europäisches Menschenbild abstrakt und offen zugleich. Das Menschenbild der EMRK kann aber eine minimale normative Bestimmung vorgeben, die interpretatorische Leitplanken setzt und zumindest anzeigt, in welche Richtung die Menschenwürde zu entfalten ist. Immerhin können so die im Laufe der Zeit verbalisierten Unrechtserfahrungen von einem handlungsleitenden Bild des Menschen ausgehen, und erst dadurch wird es möglich, die Kategorie der Menschenwürde zur Beschreibung von Verletzungserfahrungen zu verwenden. Zu Verletzungserfahrungen gehört, dass es ein Faktum menschlichen Erlebens ist; zu einem gelingenden menschlichen Leben gehört die eigene Glückseligkeit bzw. die Erlangung bestimmter materieller und immaterieller Güter als Teil des eigenen („würdigen“) Lebensvollzugs.173 Eine glaubwürdige und solide Interpretation kann nur dann gelingen, wenn solche Erwägungen und Wertungen offengelegt werden. Daher gilt es in Kap. B auch die Methodik der Konventionsauslegung und die konkrete Gewinnung von materiellen „Rechtsideen“ in Form von Rechtserkenntnisquellen eingehender zu untersuchen, und zwar stets mit dem Fokus auf würderelevante Normen.174 Nur so lässt sich nachvollziehen, wie die Rechtsfortentwicklung von der Würdethematik geprägt wird. 3. Freiheitsrechte, Justizgrundrechte und Gleichheitsrechte Die Teilnehmer am Europäischen Kongress in Den Haag hatten die Grundidee, gewisse fundamentale Rechte der AEMR als verbindlichen Mindeststandard in ein regionales Schutzsystem mit effektiven Kontrollmechanismen zu transformieren.175 172  Müller

J.-P., Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, S. 5. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 375: Dies gelte für jeden Menschen, da ein glückliches Leben nicht für wenige Ziel und Zweck sei.s. auch die Formulierung des EGMR bzgl. der eigenen Lebensgestaltung und Identitätsbildung: EGMR, 25.09.2001, P. G. and J. H. v. United Kingdom, Nr. 44787/98, Rn. 56. 174  Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 137: „Prinzipien des Rechts sind nicht selbst ‚Rechtsquellen‘, sondern das, was jene Akte, weil sie an ihnen orientiert sind, zur Rechtsquelle macht. Positives Recht sind sie erst, wenn und soweit sie sich nach Durchlaufen dieser ‚Rechtsquelle‘ einen konkreten Rechtserfolg geschaffen haben“. Insofern ist dann die mit Bildung positiver Rechtssätze beuftragte Rechtsprechung i. S. legitiemer Rechtsfortentwicklung des EGMR Rechtsquelle (vgl. Art. 32 i. V. m. Art. 34 EMRK). 175  Eingehend Partsch, ZaöRV 1953/54, S. 631 (631 ff.). 173  Mahlmann,



A. Die Konventionsrechtsstruktur71

Hierbei sollte nur ein Kernbestand an Rechten rechtsverbindlich gemacht werden.176 Beim konkreten Inhalt dieses Kataloges an Grundrechten und Grundfreiheiten stand die AEMR Pate. Gleichwohl war man nicht bereit, alle darin enthaltenen Menschenrechte eins zu eins zu übernehmen: „[T]he committee agreed without difficulty that the collective enforcement should extend solely to rights and freedoms: (a) which imposed on the States only obligations ‚not to do things’; and (b) which were so fundamental that human dignity and democracy were inconceivable if they were not respected“.177

Die Konventionsrechte lassen sich in Freiheitsrechte, Justizgrundrechte, politische Rechte und Gleichheitsrechte systematisieren.178 Demgemäss sichert die Konvention als Fundamentalgarantien das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Verbot der Folter sowie unmenschlicher und erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangs- oder Pflichtarbeit (Art. 4 EMRK); als Freiheitsgrundrechte werden das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK), den Anspruch auf Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) verbrieft; und als Justizgrundrechte gilt nebst dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) das Legalitätsprinzip (Art. 7 EMRK). In der Rechtsprechung des EGMR finden sich Andeutungen, welche die Konventionsrechte hinsichtlich ihrer normativen Wertigkeit zu skalieren versuchen.179 Dies lässt sich gut an Äusserungen zum sog. nationalen Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“)180 festmachen. Dieser Ermessensspielraum variiert einerseits aufgrund der Natur der Konventionsrechts, der Bedeutung für den Einzelnen und der Art der Tätigkeit, die eingeschränkt wird, andererseits aufgrund der Natur des Eingriffszwecks.181

176  Schabas,

The European Convention on Human Rights, S. 1. Introduction to the ECHR, S. 3 (10). 178  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 1 Rn. 15–18. 179  So auch Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsanwendung Rn. 28 u.130 m. w. N. Ein wertungsmässiges Rangverhältnis kann sich auch aus Art. 15 EMRK ergeben. 180  Weiterführend zum nationalen Beurteilungsspielraum Asche, Margin of Appreciation, S.  99 ff. 181  EGMR, 25.09.1996, Buckley v. United Kingdom, Nr. 20348/92, Rn. 74; EGMR, 18.01.2001, Beard v. United Kingdom, Nr. 24882/94, Rn. 102: „Relevant factors include the nature of the Convention right in issue, its importance for the individual and the nature of the activities restricted, as well as the nature of the aim pursued by the restrictions“. 177  Teitgen,

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

An dieser Stelle sei lediglich festgehalten, dass die Menschenwürde und die ihr nahestehenden Fundamentalnormen geeignet sind, rechtspolitische Konflikte hervorzurufen.182 Grundsätzlich schränken insbesondere jene fundamentalen Schutzaspekte, die von Art. 3 EMRK erfasst werden, den nationalen Ermessenspielraum ein. Gleichwohl kann nicht a priori gesagt werden, dass der Schutzbereich der Menschenwürde stets den nationalen Ermessensspielraum erheblich verringert – wenn nicht gar auf null reduzieret.183 Denn der EGMR bedient sich insbesondere in ethisch hoch sensiblen Fällen mit­ unter der sog. Margin-of-appreciation-Doktrin.184 Damit ist die Frage nach der konkreten Rechtsnatur bzw. dem Normcharakter der konventionsspezifischen Menschenwürde eröffnet. Bislang konnte die Menschenwürde als normativer Begriff bzw. normatives Konzept in den Travaux Préparatoires ausfindig gemacht und dadurch zumindest in der Präambel der EMRK – als Teil eines spezifisch europäischen Erbes und einer Kulturtradition – loziert werden. Ihr wird darin ein besonderer (schutzwürdiger) Wert zuerkannt, dessen Schutz die Konvention verpflichtet wird. Damit ist ein erster konventionsinterner Begründungszusammenhang positiv nachgewiesen. Ein weiterer Herleitungszusammenhang konnte über den Verweis in der Präambel auf die AEMR und deren Menschenwürdenorm dargelegt werden. Insofern ist die Würde des Menschen dem EMRK-System nicht fremd, auch wenn sie keine eigentliche rechtliche Positivierung erfahren hat. Auf diese erste Verortung der Würde im System der EMRK muss nun eine erste A-Priori-Annäherung an ihren Normcharakter folgen. Dazu wird nachfolgend theoretisch zwischen (Konventions-)Rechten, Prinzipien und Werten unterschieden.

182  Krieger, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 6 Rn. 68 (gemeinsame europäische Standards und nationale Besonderheiten); vgl. auch den Fall betr. irische Abtreibungsgesetze, in welchem der EGMR entgegen eines gesamteuropäischen Trends, grosse Zurückhaltung an den Tag legte: EGMR (GK), 16.12.2010, A. B. and C. v. Ireland, Nr. 25579/05, Rn. 235; Koutnatzis/Weilert, AVR 2013, S. 72 (81 ff.). 183  Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen, S. 211 f.; Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, S. 122. Ein weiterer Faktor sei der Ius-cogens-Charakter: Krieger, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 6 Rn. 67. Kritisch mit Blick auf das Kriterium „Natur des Rechts“ bei der Absteckung des Beurteilungsspielraumes Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 209. 184  Was aber nicht heisst, dass der EGMR zu moralisch-ethisch brisanten Fällen nichts gesagt hätte, was sich u. a. an den Fällen zur Körperstrafe, die er unter Bezugnahme auf die Menschenwürde gelöst hat, nachweisen lässt; 3. Teil A. III. 1.; ferner 3. Teil B. II. (Menschenwürde am Lebensende).



A. Die Konventionsrechtsstruktur73

4. Konventionsrechte, Rechtsprinzipien und Werte Normtheoretisch kann man in der EMRK verschiedene Normtypen, namentlich die einzelnen Konventionsrechte und die dahinter liegenden Prinzipien und Werte, unterscheiden. Um das juridische Phänomen „Menschenwürde in der EMRK“ adäquat zu beschreiben und zu erklären, sind Grundkenntnisse der Dichotomie von Regeln und Prinzipien eminent wichtig und hilfreich.185 Denn in der Menschenrechtsjudikatur spielen Konventionsgarantien und Prinzipien zusammen; sie entfalten gleichsam eine Wechselwirkung, beziehen sich aufeinander und limitieren sich so auch gegenseitig. Richter Costa hat dies jüngst auf eine treffende Formel gebracht: „Many articles of the Convention are drafted to include principles“.186

Der Gerichtshof versteht die internationale Rechtsordnung als eine normative Ordnung, bestehend aus Regeln und Prinzipien („a set of rules and principles“),187 die von den meisten Konventionsstaaten anerkannt werden. Dies kann einer zu expansiven Rechtsprechung durch den Gerichtshof normative Grenzen setzen.188 Eine transparente, prinzipienbasierte Rechtsprechung kann zu mehr Kohärenz und Nachvollziehbarkeit führen. Indem man die Konventionsrechte bzw. die aus ihnen hergeleiteten Schutzpflichten auf die ihnen zugrundeliegenden abstrakten Maximen zurückführt, fin-

185  Es bestehen keine grundsätzlichen Erwägungen dagegen, die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien auch für die EMRK heranzuziehen: Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 421: „[Es bestehen] keine grundsätzlichen Erwägungen dagegen (…), die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien auch für die Europäische Menschenrechtskonvention heranzuziehen“; s. im Zusammenhang mit den Auslegungskanones Bernhardt, GYIL 1999, S. 11 (11 ff.). 186  Costa, Regent Journal of Law & Public Policy 2009, S. 17 (28). 187  Mit Blick auf die spezifischen Eigenheiten der nationalen Rechtsordnungen hat der EGMR rezeptionsfähige Urteile zu sprechen. Zudem unterliegen auch die Ent­ scheidparameter subjektiven Einflüssen, die empirisch nicht endgültig nachweisbar sind (Vorverständnis etc.). Der Gerichtshof hat sich daher u. a. auf einschlägiges Völkervertragsrecht und die zugrundeliegenden Prinzipien zu stützen und diese offenzulegen, wenn er einen Fall abzuurteilen hat: Art. 7 Abs. 2 EMRK; vgl. EGMR (GK), 12.11.2008, Demir Baykara v. Turkey, Nr. 34503/97, Rn. 71: „[A]s the Court indicated (…) the relevant rules of international law applicable in the relations between the parties also include ‚general principles of law recognised by civilized nations‘ (…) of the Statute of the International Court of Justice“; vgl. zur prinzipiellen Anwendung der Menschenwürdenorm: EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 45 ff. („the concept of human dignity“). 188  „Only (…) legal principles can provide a solid basis for the interpretative work of the international judge and for limiting his or her remit“: EGMR (GK), 17.07.2014, Centre for Legal Resources on Behalf of Valentin Câmpeanu v. Romania, Nr. 47848/08, concurring opinion of Judge Pinto de Albuquerque. Vgl. 3. Teil A. IV. 2. c).

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

det man die Rechtsprinzipien, die die Rechtsregeln („rules“) leiten (können).189 Um nun die Menschenwürdenorm umfassender ergründen zu können, wird nachfolgend auf einen Denkansatz eingegangen, der Normen in Regeln und Prinzipien („rules and principles“) unterteilt. Als einer der prominentesten Vertreter dieser Grundrechtskonstruktion gilt Dworkin, der viel dazu beigetragen hat, dass die Prinzipientheorie auf internationaler Ebene breit diskutiert wird.190 Dworkin beschreibt Prinzipien als Standards, die eingehalten werden sollen, weil sie ein Gebot der Gerechtigkeit, Fairness oder Moralität seien.191 Mit „Prinzipien“ sind Argumentationsregeln gemeint, sog. Prima-facie-Normen, Begründungen für im Sinne von Optimierungsgeboten anzuwendende Regeln.192 Sie fordern eine weitestgehende Realisierung von spezifischen dahinterliegenden Werten. Prinzipien sind „dehnbarer“ als Regeln und insofern auch (interpretations-)offener.193 Ein Prinzip bleibt intakt, auch wenn keine klaren normativen Befehle mit konkreter Rechtsfolge von ihm ausgehen.194 Die normative Dehnbarkeit und Anpassungsfähigkeit195 zeigt sich im Kontrast 189  So Kriele, Recht, Vernunft, Wirklichkeit, S. 529; Dworkin, Bürgerrechte ernst genommen, S. 119 ff., 122 („institutionelle Stützung“); Raynaud, Les Règles et les Principes, S. 179 (181 f.). 190  Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernst genommen, S. 14 ff., 42 ff.; vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2009. Anzumerken bleibt, dass es die Prinzipientheorie nicht gibt, sondern viele Abwandlungen und Weiterentwicklungen, die aber alle an der Grundunterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien festhalten; Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 301  ff.; krit. Christie, Duke Law Journal 1968, S. 649–669. Vgl. ferner Esser, Grundsatz und Norm, S.  94 f. m. w. N. 191  Dworkin, Bürgerrechte ernst genommen, S. 55: „Prinzip [als] Massstab, der nicht deswegen zu befolgen ist, weil er für eine für wünschenswert gehaltene ökonomische, politische oder soziale Situation voranbringen oder sichern wird, sondern deswegen, weil seine Befolgung ein Gebot der Gerechtigkeit oder Fairness oder einer anderen moralischen Dimension ist“; ders., S. 58: „Der Unterschied zwischen Rechtsregeln und Rechtsprinzipien ist ein logischer Unterschied. (…) sie unterscheiden sich in der Art der Leitung, die sie geben“; ders., S. 61 f.: „Prinzipien haben eine Dimension, die Regeln nicht haben – die Dimension des Gewichts oder der Bedeutung“; Christie, Duke Law Journal 1968, S. 649 (655) mit Bezug auf Dworkin: „[P]rinciples (…) are entities that antecede the particular cases in which they are applied – they have a source external to the deciding judge“. 192  Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 301 (Meist bezeichnen sie grundlegene Rechtsgrundsätze, die der geltenden Rechtsordnugn eine „Tiefenstruktur“ zugrunde legen). 193  Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 62 (82 f.). 194  Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernst genommen, S. 60.



A. Die Konventionsrechtsstruktur75

zu Regeln deutlich. Ob und inwieweit eine Norm Prinzip oder Regel ist, ist Folge ihres normativen Gehalts.196 „Regeln“ hingegen sind Normen, die entweder erfüllt oder nicht erfüllt sind und die klar bestimmte, zur Erfüllung der Rechtsvoraussetzungsseite zwingend anzuwendende Rechtsfolgen nach sich ziehen; insofern sind hier sowohl der Tatbestand als auch die Rechtsfolge relativ klar.197 Alexy argumentiert, dass jede Norm entweder eine Regel oder ein Prinzip sei.198 Für ihn beinhalten Regeln einen klaren Befehl, während Prinzipien Gründe für konkrete Sollens-Urteile sind.199 Er qualifiziert Prinzipien als „Normen relativ hohen und Regeln [als] Normen relativ geringen Generalitätsgrades“.200 Auch für Dworkin stipuliert ein Prinzip Gründe, bei der Auslegung in eine Richtung zu argumentieren, ohne aber eine bestimmte Entscheidung zwingend notwendig zu machen.201 Als abstrakte Massstäbe und Ideale müssen Prinzipien immer wieder neu konkretisiert werden. Im Vergleich zu Rechtsregeln zeichnen sich Rechtsprinzipien durch erhöhte Wichtigkeit, Generalität und/oder Allgemeinheit aus.202 Letztlich sind Prinzipien auch rezeptionsfähiger für moralische und ethische Erwägungen.203 Die Prinzipientheorie ist mithin eine Strukturtheorie, deren wesentliches Verdienst darin besteht, die Rechtsanwendungsformen der Subsumtion und 195  „While susceptible of flexible interpretation, principles are capable of foreseeing normative outcomes with relative consistency“: Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 62 (84). 196  Cremer W., Freiheitsgrundrechte, S. 221, 224. 197  Dworkin, Bürgerrechte ernst genommen, S. 58. 198  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 47 f. 199  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100. 200  Insofern sei der Unterschied qualitativer und nicht gradueller Natur: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75. Weiter unterscheiden sich Regeln von Prinzipien durch die Dimension ihres Gewichts: Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 306. 201  Insbesondere Gebote der Gerechtigkeit und Fairness: Dworkin, Bürgerrechte ernst genommen, S. 55, 59 ff. 202  Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 303 unter Verweis auf Christie, Duke Law Journal 1968, S. 649 (669); Hughes, The Yale Law Journal 1968, S. 411 (419); Penski, JZ 1989, S. 105 (108); Raz, Practical Reason and Norms, S. 49; Raz, Yale Law Journal 1972, S. 823 (838); Schilcher, Prinzipien und Regeln als Elemente einer Theorie des gebundenen Ermessens, S. 153 (188). 203  Vgl. Waldron, IJCL 2009, S. 2 (10), unter Verweis auf Sherwin, Michigan L. Rev. 2005, S. 1578 (1591); ferner Hoerster, Jus 1983, S. 93 (96): „[Das Menschenwürdeprinzip] ist nicht mehr und nicht weniger als das Vehikel einer moralischen Entscheidung über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit möglicher Formen der Einschränkung individueller Selbstbestimmung“.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Abwägung zu strukturieren und einer rationalen Begründung zugänglich zu machen.204 Hierzu werden in der Wissenschaft verschiedene Ansätze diskutiert.205 Es würde aber den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen, wenn hier versucht würde, die Debatte um Struktur und Charakteristik von Rechtsprinzipien und Rechtsregeln endgültig zu entscheiden.206 Klar ist: Verglichen mit den statuierten Konventionsrechten ist die konventionsrechtliche Menschenwürde ein in qualitativer Hinsicht genuin andersartiger Norm- und Ordnungstypus. Die hohe Wertigkeit207 und Abstraktheit der Menschenwürde in der EMRK spricht a priori für ihren Prinzipiencharakter im oben genannten Sinn. Auch die grosse inhaltliche Allgemeingültigkeit der Menschenwürde stützt diesen Befund.208 Rechtsprinzipien geben einer Rechtsordnung eine „Tiefenstruktur“.209 Wenn also die Menschenwürde vorliegend (und a priori) als prinzipienhafte Norm sowie als fundamentaler Wert erachtet wird,210 ist ihr Einfluss auf die Konventionsrechte zu unter­ suchen.211 204  Badenhop, 205  Vgl.

Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 447. nur Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 410  ff.

m. w. N. 206  Angesichts der Fülle an Publikationen in diesem Bereich ist ein solches Vorhaben kaum zu bewerkstelligen und auch nicht zweckdienlich; statt vieler: Heinold, Die Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, Berlin 2011; Poscher, RW 2010, S. 349 (349). 207  Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 95 (Unterschied auf Ebene der Qualität und nicht nur der Generalität der Norm). 208  Rauber, Strukturwandel als Prinzipienwandel, S. 178. Ein Prinzip kann in einem konkreten Fall von einem anderen Prinzip verdrängt werden, sofern Letzterem ein grösseres Gewicht zukommt; Kumm, IJCL 2003, S. 574 (578); Mavronicola, HRLR 2012, S. 723 (739): „[P]rinciples of a high degree of generality, such as the idea that human life and dignity should be respected, are not sufficiently specified to address the operation of specific entitlements and obligations or the resolution of moral dilemmas“. 209  Rauber, Strukturwandel als Prinzipienwandel, S. 158: „Rechtstheoretische Begriffe, wie auch der Begriff des Rechtsprinzips, entziehen sich den Kategorien richtig oder falsch. Ein Prinzipienbegriff kann nicht verifiziert und nur bedingt falsifiziert werden. Der Massstab seiner Richtigkeit ist vorrangig seine Erklärungskraft unter Berücksichtigung des Gebots konzeptueller Ökonomie“; Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 301. 210  Vgl. EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 81. 211  Vgl. ICJ South West Africa Cases (Ethiopia v. South Africa; Liberia v. South Africa), Second Phase, Judgment of 18 July 1966, ICJ Reports 1966, S. 6: „[The Court] can take account of moral principles only in so far as these are given sufficient expression in legal form“ (Hervorhebung durch Autor); EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 107: „The philosophical basis underpinning the absolute nature of the right under Article 3 does not allow for any exceptions“ (Hervorhebung durch Autor); Adorno, JMP 2009, S. 223 (234): „Human



A. Die Konventionsrechtsstruktur77

Angesichts des vom EGMR präferierten induktiven Ansatzes, der sich, anders als die kontinentaleuropäische Tradition, typischerweise einer stark einzelfallfokussierten, empirischen Methode bedient, können sich die Entscheidparameter allerdings von Fall zu Fall ändern.212 Daher wird nachfolgend von einem pragmatisch-funktionalen Prinzipienverständnis ausgegangen, das den Ansprüchen und Bedürfnissen der Konventionsrechtsordnung verpflichtet ist. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs orientiert sich sehr stark am Einzelfall und ist getrieben von der Suche nach Gerechtigkeit und Schutz der Würde.213 Eine eigentliche Theorie der Grundrechte entwickelt der EGMR nicht,214 weshalb sich auch eine allgemeine Festlegung der Menschenwürde auf einen modellhaften Normtypus verbietet. Die bisherige Untersuchung hat ergeben, dass die Menschenwürde sich zwanglos als gemeineuropäisches Erbe aus der Präambel der Konvention (in Zusammenschau mit den Travaux Préparatoires zur EMRK) und subsidiär über den Verweis auf die AEMR herleiten lässt.215 Aufgrund ihrer Abstraktheit (Generalität) und der nachweislich hohen Wertigkeit (Qualität) kommt ihr primär Prinzipien- und Wertcharakter zu. Dies spricht auch für den Einbezug von werttheoretischen Deutungen der Menschenwürde.216 Letztlich dignity and human rights are (…) mutually dependent (…). The relationship between them is that of a principle and the concrete legal norms that are needed to flesh out that principle in real life“. 212  Vgl. EGMR, 24.02.1998, Botta v. Italy, Nr. 21439/93, Rn. 27: „[T]he trend of the Court’s case-law, which was based on a pragmatic, common-sense approach rather than a formalistic or purely legal one“; Matscher, Rechtsprechung des EGMR, S.  5 (20 f.). 213  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 51; vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, § 4: Recht ist das Phänomen, das den Zweck hat, der Gerechtigkeit zu dienen. Vgl. Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, S. 79; Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 131. Zu den Problemen dieses Ansatzes, siehe nur Ress, Die „Einzelfallbezogenheit“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 721 ff. 214  EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 39: „It is not the function of the Court to elaborate a general theory of the limitations admissible in the case of convicted prisoners“; EGMR (GK), 18.12.1996, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 45 „The Court (…) does not consider it desirable (…) to elaborate a general theory concerning the lawfulness of legislative and administrative acts of the ‚TRNC‘ “; Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 41 f. 215  2. Teil A. IV. 1. 216  Peczenik, On Law and Reason, S. 61: „Each principle expresses an ideal, in other words a value“; vgl. zur Grundrechteordnung als Wertordnung aus nationaler Perspektive nur: Schapp, JZ 1998, S. 913 (913 ff.); EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 81: „Article 3 (…) enshrines one of the most fundamental values of democratic societies (…). Indeed [art. 3] is a value of civilization closely bound up with respect for human dignity“.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

dürfte es auch eine hermeneutische Notwendigkeit sein, sich – bewusst oder unbewusst, explizit oder implizit – auf ethische Grundlagen zu beziehen.217 Ein Prinzip kann als eine elementare Norm bezeichnet werden, die, um eine spezifische Situation zu regulieren, präziserer Normen bedarf, um sich im Einzelfall zu konkretisieren.218 Ein Handlungsgebot kann aus ihnen nicht direkt deduziert werden, doch liefern sie Gründe für solche definitiven Handlungsgebote.219 Zwischen Regeln und Prinzipien kann eine befruchtende Wechselwirkung bestehen; beide sind in einem Verbundverhältnis, anstatt eines Über- und Unterordnungsverhältnisses, zu denken.220 Zudem ist bei einem Prinzip wie der Menschenwürde von einer überzeitlichen Geltung auszugehen.221 Rechtsprinzipien sind in der Rechtsprechung des EGMR als Auslegungstopoi fest verankert.222 Als These kann angenommen werden, dass das Prinzip der Menschenwürde bedeutenden Einfluss auf die Auslegung einzelner Rechte haben kann. Ein Prinzip kann einer Konventionsnorm die Richtung im Sinne eines teleologischen Auslegungsmassstabes weisen.223 Die besondere Abstraktionshöhe ist es denn auch, was die Menschenwürde ausmacht.224 217  Mahlmann, Mind and Rights, S. 80 (93); vgl. auch ders., Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 457. 218  Dzehtsiarou, European consensus and the legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 162 f.; vgl. Kumm, IJCL 2003, S. 574 (578): „The weight of prin­ ciples in specific cases is determined by the background justification for that prin­ ciple as it allies to the context at hand“; Cornille/Devos/Mahieu, BP 2006, S. 1 (2); vgl. Mahlmann, EuR 2011, S. 469 (474) – zentrales Prinzip des Konventionsrechts­ regimes. 219  Alexy, Ideales Sollen, S. 21 (25); Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 121. Für eine Unterscheidung zwischen Prinzipien, Normtext und Präjudizien im Kontext der EMRK: Waldron, Torture, Terror and Trade-Offs, S. 289. 220  Vgl. Pernthaler, FS Schäffer, S. 613 (620) m. w. N. Durch die Wechselwirkung entstehen gleichsam Grundrechtskombinationen („i. V.m“), also ein Zusammenspiel zwischen Konventionsgarantie und einem materiellen oder formellen Konventionsprinzip. Esser, Grundsatz und Norm, S. 69: „Kein Prinzip wirkt für sich allein ‚normschöpferisch‘, sondern es hat konstitutive ‚Kraft‘ oder konstruktiven Wert nur in Verbindung mit einem anerkannten Ordnungszusammenhang, in welchem es eine eindeutige Funktion hat“. 221  „Unwandelbarkeit“ von Prinzipien und „Wandelbarkeit“ von Rechtssätzen: Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, S. 187. 222  Vgl. Zum Rechtsstaatsprinzip (rule of law): EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 35; EGMR (GK), 08.04.2004, Assanidze v. Georgia, Nr. 71503/01, Rn. 130 („fundamental aspects of the rule of law“); vgl. Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, 117 f. 223  4. Teil A. II. 1–2. 224  Es handelt sich um einen Rechtssatz von umfassender Allgemeinheit; Badura, JZ 1964, S. 337 (342).



B. Die Auslegung der EMRK79

Eine Untersuchung des Konzepts der Menschenwürde ermöglicht es, ihre juridische Terminologie sowie die dahinterliegenden Intentionen zu erfassen, den Problemen der Randbereiche des Würdeschutzes zu begegnen und letztlich auch Grenzen für die Auslegung und den auf der Menschenwürde basierenden Schutz zu setzen.225

B. Die Auslegung der EMRK I. Auslegungsmethodik des EGMR Betrachtet man den Wortlaut der einzelnen Konventionsrechte, so fällt auf, dass es sich dabei grundsätzlich um offen formulierte Gewährleistungen handelt. Aus der Konvention selbst ergeben sich nur wenige Parameter zur Auslegung. Zentraler Ausgangspunkt ist die völkerrechtliche Auslegungsmethodik. Die Konvention enthält Garantien, die auf richterliche Auslegung und Konkretisierung im Einzelfall angewiesen sind.226 Bei der Anwendung der Konvention geht es primär um die Konkretisierung des im Konventionsrecht enthaltenen Wertgehalts, der sich in eigentlichen „Normprogrammen“ entfalten kann.227 Menschenrechtsjudikatur ist nicht ein rein technisch-dogmatischer Prozess der Auslegung und Subsumption.228 Der Gerichtshof hat denn auch in Ausübung seiner Funktion229 nach Art. 19 EMRK massgebende ­Parameter für die Auslegung entwickelt, namentlich wurden durch den Gerichtshof die dynamisch-evolutive,230 die effektivitätssichernde, die syste­ 225  Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, S.  309 f. 226  Mahlmann, Mind and Rights, S. 80 (92 f.); Letsas, The ECHR as a Living Instrument, S. 106 (140): „[T]he Court should seek to construct a coherent body of principles in its case law by constantly adjusting, modifying and reshaping the scope and meaning of principles that it uses“; Bernhardt, GYIL 1999, S. 11 (12 f.). 227  Dummermuth, SJZ 2014, S. 597 (598) unter Verweis auf: Huber, ZBJV 1972, S. 186 (187, 191): „Konkretisierung bezeichnet: Verfassungsentfaltung, Anreicherung, Rechtsfortbildung durch Erfüllung ganzer Normprogramme, im Laufe der Zeit und im Wandel der Gesellschaft. Konkretisierung entfernt sich von Textauslegung. Manchmal lässt sie den Wortlaut sogar weit hinter sich zurück. (…) Offenbar hängt also mit der Normstruktur zusammen, ob Konkretisierung oder übliche Auslegung angezeigt ist. (…) [Die Grundrechte] bieten das Ideal einer Konkretisierungsaufgabe. Dort geht es im besonderen Masse um Ausschöpfung und Anreicherung“. 228  Wildhaber/Hjartarson/Donelly, HRLJ 2013, S. 248 (252): „Decisions about human rights are not a technical exercise in interpreting texts, but judgements about political morality, expressions of underlying value and philosophies about law and politics, evolution and continuity, the legitimacy of democratic decision making and the functions and limits of international courts“. 229  2. Teil A. II.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

matische231 und die autonome Auslegung232 im Einklang mit gemeineuro­ päischen Rechtsüberzeugungen233 aufgestellt.234 Nachfolgend wird zuerst auf die Auslegungsmethoden und daran anschliessend auf die Gewichtung und Wahl der für überzeugend gehaltenen Argumente i. S. v. Rechtserkenntnisquellen eingegangen; anhand von Methode und Erkenntnisquellen kann dann der konkrete Gehalt einer Konven­ tionsgarantie im Einzelfall bestimmt werden.235 1. Völkerrechtliche Auslegungsgrundsätze Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag zugunsten Dritter und als solcher Teil des Völkerrechts. Deshalb ist sie im Einklang mit den Prinzipien der völkerrechtlichen Vertragsauslegung zu interpretieren.236 Die Auslegung 230  Der EGMR hat also den veränderten Sinngehalt einer Norm (wie der Menschenwürde) in seiner Auslegung zu berücksichtigen; die Evolution des Konventionsrechts findet graduell und schrittweise statt: vgl. Addo, The Legal Nature of International Human Rights, S. 320. 231  Mayer, Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Einleitung Rn. 51; Zu unterscheiden ist einerseits eine Veränderung im Normenbestand, den der Gerichtshof zu berücksichtigen hat, und andererseits die Entwicklungen im Bereich der zu subsumierenden Umstände; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 16. Um das Konventionsrecht, in dessen Zentrum stets der Mensch steht, fortzuentwickeln, muss man einen Kernbestand allgemeiner Schutzkonstanten definieren, ebenso wie einen Bestand wandelbarer Merkmale und wechselnder Selbstentwürfe des in der historischen Situation stehenden Menschen. 232  Letsas, EJIL 2004, S. 279 (281 ff.). 233  EGMR (GK), 11.07.2002, Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95, Rn. 81 ff. 234  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsanwendung, Rn. 74. Authentische Sprachen sind gemäss Art. 59 Abs. 4 EMRK Englisch und Französisch. 235  Letztlich ist die Auslegung ein hoch komplexer Prozess, in dem sich normative, psychologische, dogmatische und weltanschauliche Elemente miteinander vermengen; dieser Vorgang lässt sich nicht endgültig durch mechanische Hebel steuern: Matscher, FS Mosler, S. 545 (565). 236  EGMR (GK), 16.09.2014, Hassan v. United Kingdom, Nr. 29750/09, Rn. 102 ff.: „[T]he Convention must be interpreted in harmony with other rules of international law of which it forms part (…). This applies no less to international humanitarian law. The four Geneva Conventions of 1949, intended to mitigate the horrors of war, were drafted in parallel to the European Convention on Human Rights and enjoy universal ratification. (…) The Court has already held that Article 2 of the Convention should ‚be interpreted in so far as possible in light of the general principles of international law, including the rules of international humanitarian law which play an indispensable and universally-accepted role in mitigating the savagery and inhumanity of armed conflict‘ “; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 40.



B. Die Auslegung der EMRK81

nach der WVK237 entspricht Völkergewohnheitsrecht bzw. der allgemeinen Völkerrechtslehre.238 Die Auslegungsmaximen der WVK bilden die Grundlage, von welcher der EGMR ausgeht.239 Grundsätzlich ist ein Vertrag wie die EMRK zunächst anhand seines Wortlauts, nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen Bedeutung, die seinen Bestimmungen in ihrem jeweiligen Zusammenhang240 zukommt („ordinary meaning of the term“),241 und im Lichte seines Ziels und Zwecks (teleologische Auslegung)242 auszulegen (Art. 31 Abs. 1 WVK).243 Eine Hierarchie zwischen diesen einzelnen Methoden besteht nicht.244 237  Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (SR 0.111). 238  Vgl. Allgemein zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge: Vitzthum, in: Vitz­ thum/Proess, S. 42 (42 ff.); instruktiv zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge und mit weiterführender Literatur: Herdegen, Völkerrecht, S. 137 ff.; vgl. ferner Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsanwendung, Rn. 78. 239  EGMR (GK), Entsch. v. 12.12.2001, Bankovic v. Belgium and others, Nr. 52207/99, Rn. 16; EGMR (GK), 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, Nr. 34503/97, Rn. 65; EGMR, 04.04.2000, Witold Litwa v. Poland, Nr. 26629/95, Rn. 55; EGMR, 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 29; Villiger, Handbuch der EMRK, Rn. 162 ff.; ferner Bernhardt, GYIL 1999, S. 11 (13). 240  EGMR, 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89 („preliminary objections“). 241  Vgl. EGMR (Pl), 18.12.1986, Johnston and others v. Ireland, Nr. 9697/82, Rn. 51; EGMR (Pl), 08.07.1986, Lithgow and others v. United Kingdom, Nr. 9006/80 u. a., Rn.  114. 242  EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70. 243  Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 65  ff. m.w.N; von Ungern-Sternberg, AVR 2013, S. 312 (317). Die Travaux Préparatoires und damit die historische Auslegung spielen eine untergeordnete Rolle (Art. 32 WVK; ILC, Fourth report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties (Sonderberichterstatter George Nolte), 7. März 2016, UN Doc.A/CN.4/694, § 50: „Article 31 designates the principal means of interpretation which any interpreter of a treaty needs to take into account, whereas article 32 describes supplementary means of interpretation which an interpreter may, or may not, take into account“. Sie werden nur zur Bekräftigung des nach Art. 31 WVK gewonnenen Ergebnisses herangezogen oder subsidiär, falls die in Art. 31 WVK beschriebenen Auslegungsmaximen zu keinem eindeutigen Ergebnis führen. Die authentischen Sprachen, die es bei der Auslegung der EMRK primär zu berücksichtigen gilt, sind Englisch und Französisch. Dies geht aus Art. 33 WVK sowie den Schlussbestimmungen der EMRK hervor. Anzumerken ist aber, dass normative Orientierung kein Produkt einer Sprachkultur ist. Ein Vorverständnis bzw. eine Grundrechtstheorie ist nicht durch Sprache bestimmt, was in der Konsequenz die Tür für eine weltbürger­ liche Rechtswissenschaft öffnet: Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechts­ theorie, S. 483. 244  Villiger, Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 317 (327).

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Schliesslich hält Art. 32 WVK fest, dass die Travaux Préparatoires245 ergänzend heranzuziehen sind, namentlich zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses oder im Falle unklarer und widersprüchlicher Ergebnisse. Der EGMR bedient sich einer Kombination verschiedener Verfahren und bezeichnet diesen Auslegungsvorgang als ganzheitlich.246 2. Konventionsspezifische Auslegungsgrundsätze Der EGMR hat – von der WVK ausgehend – speziellere Auslegungsmethoden entwickelt, welche die Typizität und das überwölbende Telos der EMRK besser zur Geltung bringen.247 Eine allgemeine Grundrechtstheorie entwickelt der EGMR bewusst nicht.248 Die konventionsspezifischen Methoden entsprechen auch der Eigenlogik der EMRK.249 Es ist das Ziel der EMRK, ein effektives, kollektives Schutzsystem zu statuieren, in dessen 245  2. Teil

A. IV. 1. (Pl), 09.02.1967, Case „Relating to certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium“ v. Belgium, Nr. 1474/62 u. a., Rn. 298, 300: „The Convention must be read as a whole“; EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 30. 247  Vgl. EGMR, 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 30. Methodische Vorgaben ergeben sich weitgehend aus der Natur sowie dem Telos der Konvention; Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsauslegung, Rn. 74, 78 ff. 248  Beispiele, in welchen sich der EGMR weigerte eine allgemeine Theorie zu entwickeln: EGMR, 21.06.1988, Plattform „Ärzte für das Leben“ v. Austria, Nr. 10126/82, Rn. 31: „The Court does not have to develop a general theory of the positive obligations which may flow from the Convention, but before ruling on the arguability of the applicant association’s claim it has to give an interpretation of Article 11“; EGMR, 28.06.2001, VgT Verein gegen Tierfabriken v. Switzerland, Nr. 24699/94, Rn. 46: „The Court does not consider it desirable, let alone necessary, to elaborate a general theory concerning the extent to which the Convention guarantees should be extended to relations between private individuals inter se“; ferner EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 39: „It is not the function of the Court to elaborate a general theory of the limitations admissible in the case of convicted prisoners“; EGMR (GK), 18.12.1996, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 45: „The Court (…) does not consider it desirable (…) to elaborate a general theory concerning the lawfulness of legislative and administrative acts of the ‚TRNC‘ “; EGMR (GK), 10.05.2001, Cyprus v. Turkey, Nr. 25781/94, Rn. 89. 249  Vgl. Marshall, Personal Freedom through Human Rights Law, S. 14: „Any interpretation of law needs to be seen in the light of the fundamental objectives of that area of law“. Daher tritt bei der Auslegung neben dem Normtext insb. auch die Präambel hinzu, welche für Ratio und Telos des Konventionsrechts einen bedeutenden Beitrag liefert. Die Konventionsrechte müssen stets in ihrem Gesamtzusammenhang gelesen werden; die Konvention beinhaltet auch die Zusatzprotokolle zur EMRK, die als integraler Bestandteil der EMRK zu erachten sind und für jene Staa246  EGMR



B. Die Auslegung der EMRK83

Zentrum der einzelne Mensch steht.250 Wie oben dargelegt ist die EMRK ein „law-making treaty“,251 dessen Ziel die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte ist.252 Als „ordre public européen“ bildet sie ein langfristiges System kollektiver Garantien für das Individuum. Es ist der genannte übernationale Zweck, die langfristige Regulierungsausrichtung und ihre Eigenständigkeit, welche eine konventionsspezifische Rechtsfortbildung legitimieren und eine Auslegungsmethodik mit autonomen und dynamisch-evolutiven Elementen überhaupt erst denkbar machen.253 a) Teleologische Auslegung, oder: dynamisch-evolutive Auslegung Die dynamisch-evolutive Methodik (als besondere Spielart teleologischer Auslegung) impliziert eine Abkehr von einer Lesart der EMRK, wonach es primär auf die Bedeutung der Konventionsbestimmungen ankomme, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses gegolten hatte.254 Menschenrechte sind eben keine starren Gewährleistungen mit eingefrorenem Bedeutungskern. Letztlich kann das Konventionsrecht wegen ihres Gegenstandes nicht statisch sein; gesellschaftliche Gegebenheiten, die das Werk inspiriert haben und in denen es seine Rechtfertigung findet, sind lebendig und wirken auf das normative System der Konvention ein.255 Es geht um den Sinn und ten verbindlich sind, die sie unterzeichnet und ratifiziert haben. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsauslegung, Rn. 81. 250  Neumann, SLR 2003, S. 1863 (1870); vgl. Bryde, Der Staat 2003, S. 61 (64 f.): Im Zentrum steht der „Mensch“; Venzke, How Interpretation Makes International Law, S. 41; EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 239. In der Präambel der EMRK ist von der kollektiven Durchsetzung der in der AEMR niedergeschriebenen Menschenrechte die Rede. Meyer F., in: Wolter, SKStPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsanwendung, Rn. 86: „Berechtigter Ankerpunkt der Konventionsanwendung ist das Individuum, nicht der Staat“. 251  2. Teil A. I. 252  Vgl. Präambel der EMRK. 253  Vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsanwendung, Rn. 86 f. m. w. N. Zudem haben die Signatarstaaten den Strassburger Rechtsprechungsorganen aufgegeben, die nach Vertragsschluss eingetretenen Entwicklungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht einzubeziehen und die Normen in diesem Sinne zu aktualisieren; vgl. Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 18. Bernhardt, GYIL 1999, S. 11 (12) hat die Frage mit Blick auf die EGMR-Rechtsprechung wie folgt formuliert: „Must these conventions and their clauses be interpreted and applied as understood at the time of the conclusion of the relevant treaty, or is the treaty a ‚living instrument‘ which can change its meaning in accordance with developments in State and society?“. 254  Letsas, A theory of interpretation of the ECHR, S. 58 ff.; vgl. Neumann, SLR 2003, S. 1863 (1866). 255  Ganshof van der Meersch, FS Wiarda, S. 201 (202): „Le droit de la Convention n’est pas statique. Son objet ne le permet pas. Le milieu social dans lequel l’ac-

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Zweck einer bestimmten Norm im Jetzt – und diesen Sinn und Zweck gilt es zu aktualisieren. Versteht man Menschenrechte i. S. der AEMR – und aus deren Geist entsprang schliesslich die EMRK –, wonach sie ein Ideal sind, dem es durch die Verbesserung der Lebenssituation und die stets menschenrechtsfreund­ licher zu gestaltende Rechtsordnung nachzustreben gilt, so findet das evolutive Konventionsrechtsverständnis einen universellen Legitimationspunkt.256 aa) Einbettung in völkerrechtliches Gefüge und europäische Grundrechtstradition Die EMRK ist in ein völkerrechtliches Gefüge eingebettet. In systematischer Hinsicht sind daher auch andere völkerrechtliche Verträge, welche die Europaratsstaaten unterzeichnet und ratifiziert haben, in die Auslegung einzubeziehen; entscheidend ist, dass sie Sachverhalte aus dem Regelungs- oder Schutzbereich einer Konventionsgarantie regeln.257 Der Gerichtshof berücksichtigt „einschlägige Völkerrechtssätze“ bei der Konventionsrechtsauslegung.258 Der gemeinsame internationale und nationale Rechtsstandard europäischer Staaten bildet eine Realität ab, die der cord international a puisé son inspiration et sa justification vit et réagit directement sur le système normatif conventionnel. Les objectifs de la Convention sont solidaires du rythme de l’évolution de la société“. 256  Die AEMR kennzeichnet sich in der Präambel als das „von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“. Die Präambel der EMRK verweist indes auf die AEMR („in Anbetracht der AEMR […] haben wir folgendes vereinbart“). Eine Möglichkeit, die Konvention evolutiv auszulegen, ist der systematische Rechtsvergleich und die Suche nach einem weitgehenden Konsens in einem spezifischen Regelungskontext. Dazu kann der Gerichtshof die internationale und nationale Rechtsentwicklung wertend einbeziehen, um zu untersuchen, ob „neue“ Gewährleistungsaspekte in eine Konventionsnorm hineinzulesen sind, wie bspw. im Bereich der Strafvollzugs unter dem Schutzschirm von Art. 3 EMRK. 257  Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 8. Vgl. ferner Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 53, der aufgrund der Konferenzen in Interlaken, Izmir, Brighton und Brüssel von einer europäischen Staatenpraxis bzw. Übereinstimmung in Bezug auf die Auslegung der EMRK spricht. 258  Der Sache nach handelt es sich dabei um eine Art Rechtsvergleich auf internationaler Ebene, weshalb diese Norm methodisch der systematischen Auslegungsmaxime zuzuordnen ist. Vgl. Schabas, The European Convention of Human Rights, S. 37. Bereits seit der Rechtssache Golder aus dem Jahr 1975 hat der EGMR festgehalten, dass jeder Völkerrechtssatz, der unter den Vertragsparteien einschlägig ist, bei der Auslegung der EMRK zu beachten ist: EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 29; EGMR, 21.11.2001, Al-Adsani v. United Kingdom, Nr. 35763/97, Rn. 55; EGMR (GK), 30.06.2005, Bosphorus v. Ireland, Nr. 45036/98, Rn. 150.



B. Die Auslegung der EMRK85

EGMR nicht ignoriert, wenn er die einzelnen Konventionsgarantien auslegt.259 Dabei ist für den Gerichtshof nicht entscheidend, dass alle Konventionsstaaten entsprechende völkerrechtliche Verträge ratifiziert oder unterzeichnet haben,260 auch Soft Law wird vom EGMR berücksichtigt bei der Konkretisierung einzelner Verletzungstatbestände und Konventionsrechte.261 Auch bei der Eruierung der Ratio und des Telos einzelner Konventionsgarantien rekurriert der Gerichtshof auf internationale Normen.262 In der Menschenwürde findet der EGMR einen potenziell sehr weitgehenden Regelungsbereich. Entsprechend häufig sind auch die systematischen Bezüge auf internationale und nationale Rechtstexte, die die Menschenwürde verbürgen.263 Gerade im Bereich der Würde-Rechtsprechung zieht der EGMR immer wieder völkerrechtliche Menschenrechtskodifikationen heran, wie die 259  EGMR, 09.06.2009, Opuz v. Turkey, Nr. 3340/02, Rn. 184; EGMR, 02.03.2010, Al-Saadoon and Mufdhi v. United Kingdom, Nr. 61498/08, Rn. 126: „[The Court] has to take into account ‚any relevant rules of international law applicable in the relations between the parties‘. More generally, the Court reiterates that the principles underlying the Convention cannot be interpreted and applied in a vacuum. The Convention should be interpreted as far as possible in harmony with other principles of international law of which it forms part“. 260  EGMR (GK), 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, Nr. 34503/97, Rn. 86: „It will be sufficient for the Court that the relevant international instruments denote a continuous evolution in the norms and principles applied in international law or in the domestic law of the majority of member States of the Council of Europe and show, in a precise area, that there is common ground in modern societies“. 261  Insbesondere Fälle zu lebenslanger Haftstrafe: 3. Teil A. II. 2.; allgemein zur Verbindlichkeit von Soft Law: Hillgenberg, EJIL 1999, S. 499 (502 f., 515); Soft Law und Haftbedingungen: van Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonsment, S. 206 ff. Vgl. zum allgemeinen Menschenrechtskontext: Gammeltoft-Hansen/Lagoutte/Cerone, Introduction: Tracing the Roles of Soft Law in Human Rights, S. 1 (5): „The term ‚soft law-instruments‘ then may be understood as referring to any instrument with normative content that by its form and provenance provides support sufficient to establish the minimum threshold of traction for at least some of the norms contained therein to be regarded as soft law“; vgl. Cerone, A Taxonomy of Soft Law, S. 14 (18). 262  EGMR (GK), 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, Nr. 34503/97, Rn. 76: „[W]hen [the Court] considers the object and purpose of the Convention provisions, it also takes into account the international law background to the legal question before it. Being made up of a set of rules and principles that are accepted by the vast majority of States, the common international or domestic law standards of European States reflect a reality that the Court cannot disregard when it is called upon to clarify the scope of a Convention provision that more conventional means of interpretation have not enabled to establish with a sufficient degree of certainty“. 263  Statt vieler: EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn.  45 ff.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Kinderrechtskonvention,264 die Internationalen Pakte der Vereinten Nationen (VN),265 die Antifolterkonvention,266 die Genfer Konventionen oder die Sklavereikonvention.267 Zudem hat der EGMR in seiner Rechtsprechung auch auf allgemeine Rechtsgrundsätze zurückgegriffen, um den Normgehalt einzelner Garantien zu erhellen.268 Durch eine systematische Untersuchung normativer Standards, können auch Veränderungen ethischer Vorstellungen innerhalb des Konventionsraumes Beachtung finden.269 bb) Konsensmethode Der EGMR „fragt evolutiv nach zeitgenössischen Vorstellungen von der Reichweite eines Grundrechts“ und kann sich über die so genannte „Konsensmethode“ ein Stück weit von der Normtextbindung lösen.270 Kann er bei einer beachtlichen Mehrheit der Konventionsstaaten auf eine veränderte rechtsnormative Anschauung oder Praxis schliessen, so hat dies eine Reflexwirkung auf den Gehalt einer Konventionsgarantie – sei dies beispielsweise im Bereich der Sterbehilfe oder des Strafvollzugs. Dazu muss aber ein beachtlicher Teil der Signatarstaaten in einer Rechtsfrage übereinstimmen. Die Methode zu solch einer Feststellung ist die Rechtsvergleichung. Dass die Rechtsvergleichung in der Spruchpraxis heute elementar ist, um den Gehalt einer Norm zu erhellen, ist weitgehend unbestritten.271 Zentral sind Zielsetzung und Systematik des Übereinkommens sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der innerstaatlichen Rechts22.06.2006, Bianchi v. Switzerland, Nr. 7548/04, Rn. 60. (GK), 22.03.2001, Streletz, Kessler and Krenz v. Germany, Nr. 34044/96 u. a., Rn. 40; Einbezug auch der Empfehung der COM: EGMR, 10.04.2012, Babar Ahmad and others v. United Kingdom, Nr. 24027/07 u. a., Rn. 175. 266  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 97. 267  EGMR, 26.07.2005, Siliadin v. France, Nr. 73316/01, Rn. 50 ff.; EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 137 ff. 268  EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 35; EGMR (GK), 18.12.1996, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 35; EGMR (GK), 21.11.2001, Al-Adsani v. United Kingdom, Nr. 35763/97, Rn. 55; instruktiv EGMR (GK), 04.02.2005, Mamatkulov and Askarov v. Turkey, Nr. 46827/99 u. 46951/99, Rn.  39 ff. 269  Mayer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Einleitung Rn. 47. 270  EGMR (GK), 16.09.2014, Hassan v. United Kingdom, Nr. 29750/09, Rn. 101; EGMR, 02.03.2010, Al-Saadoon and Mufdhi v. United Kingdom, Nr. 61498/08, Rn. 120; von Ungern-Sternberg, AVR 2013, S. 312 (327); Letsas, The ECHR as a Living Instrument, S. 106 (139). 271  Vgl. Matscher, FS Mosler, S. 545 (545); vgl. statt vieler: EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 53 ff.; EGMR (GK), 09.06.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr.  6606/09 u. a., Rn.  59 ff. 264  EGMR, 265  EGMR



B. Die Auslegung der EMRK87

ordnungen ergeben. Kritisch anzumerken bleibt, dass sich der Gerichtshof hinsichtlich des materiellen Gehalts und der Applikation der Konsensmethode nicht klar festgelegt hat; in einem Fall reicht ihm „nur“ ein europäischer Trend, in einem anderen Fall erst eine überwältigende Mehrheit innerhalb europäischer Staaten, die sich in einer spezifischen Rechtsfrage festgelegt haben. cc) Beispiele aus der Rechtsprechung Der Gerichtshof kann sich den Entwicklungen und allgemein akzeptierten Massstäben der Strafvollzugspolitik der Konventionsstaaten nicht entziehen, denn „der zunehmend hohe Standard im Bereich des Menschenrechtsschutzes verlangt eine grössere Festigkeit in der Beurteilung der Verletzung grundlegender Werte demokratischer Gesellschaften“.272 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs wird die Konvention daher als „lebendiges Instrument“ („living instrument“) qualifiziert, die einer dynamisch-evolutiven Auslegung bedarf.273 Lebendig kann dieses Instrument nur sein, wenn sich der EGMR gleichsam auf die Suche nach gemeinsamen Rechtsüberzeugungen macht und dabei aufkommende nationale und interna272  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 101; EGMR (GK), 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, Nr. 34503/97, Rn. 146: „[T]he Convention is a living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions, and in accordance with developments in international law, so as to reflect the increasingly high standard being required in the area of the protection of human rights, thus necessitating greater firmness in assessing breaches of the fundamental values of democratic societies“; EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 34: „[The Court] cannot but be influenced by the developments and commonly accepted standards in the penal policy of the Member States of the Council of Europe in this field“. 273  Vgl. Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 44 ff. (mit einigen Fallbeispielen); Addo, The Legal Nature of International Human Rights, S. 340 f., der davon spricht, dass es in der „Natur der Menschenrechte“ liege, eine dynamische Auslegung zu betreiben. Die evolutive Auslegung ist eine Sonderform der teleologischen Auslegung. Die Vagheit der Begriffe der EMRK wurde von Nally in der Entwurfsphase kritisch hervorgehoben: „[W]e are discussing (…) a form of words which have no meaning, and we shall make a great mistake if we attach to those words importance and reality which they do not possess“; Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 150. Zum dynamischen Gehalt völkerrechtlicher Normtexte: Fastenrath, EJIL 1993, S. 305 (307); Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, S.  245 ff. Dabei ist nicht die Erkenntnis, dass die EMRK als lebendiges Instrument verstanden werden muss, entscheidend. Vielmehr geht es um die Frage, wie weit diese Flexibilisierung im Einzelfall gehen kann; vgl. Bernhardt, GYIL 1999, S. 11 (16 f.). Eine Evolution der Regelungsgehalte der Konventionsgarantien wird durch den EGMR als Akteur massgeblich vorangetrieben: Venzke, How Interpretation Makes International Law, S. 41.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

tionale normative Entwicklungen würdigt.274 In dieser Weise wird der Konventionsstandard schrittweise ausdifferenziert:275 Mindeststandard bedeutet eben nicht Minimalstandard.276 Als dynamischer Rechtsordnungstyp soll die Konvention eine langfristig regulatorische Steuerungsleistung erbringen; ein solcher Steuerungsmechanismus entfernt sich aber von der Vorstellung eines reinen Subsumtionsmodells.277 „Reichweite“ und „Verständnis“ einzelner Konventionsnormen und -prinzipien verändern sich mit der Zeit.278 Daher ist es sachlogisch, dass die Konvention im Lichte aktueller Gesellschaftsverhältnisse und wissenschaft­ licher Erkenntnis auszulegen ist.279 274  Letsas, The ECHR as a Living Instrument, S. 106 (122). Als „neu“ erkannte Problemkomplexe werden durch den EGMR einer adäquaten – zeitgemässen – menschenrechtlichen Antwort zugeführt: Helgesen, HRLJ 2011, S. 275 (276), der eine Reaktion auf neue Problemkomplexe als evolutive und Rechtsprechungsänderungen in Bezug auf bekannte Problemkomplexe als dynamische Rechtsprechung bezeichnet. Orakhelashvili, EJIL 2003, S. 529 (533), der festhält, dass sich inhärente Garantien aus dem Normzweck herleiten lassen. EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 38: „[I]t is noteworthy that, in the great majority of the member States of the Council of Europe, judicial corporal punishment is not, it appears, used and, indeed, in some of them, has never existed in modern times; […] If nothing else, this casts doubt on whether the availability of this penalty is a requirement for the maintenance of law and order in a European country“; Mahoney, Droits de l’homme, S. 143 (144): „active role as a law-maker“; Hamon/Troper, Droit constitutionnel, S. 69: „[L]interprétation est non une constatation, mais une véritable décision“. Vgl. Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 360. 275  Von Ungern-Sternberg, AVR 2013, S. 312 (337); letztlich ist Akzeptanz durch minimale Rückbindung an nationale Rechtspraxis in rechtsfaktischer Hinsicht unabdingbar. Bei der Auslegung der EMRK gilt es stets auch auf die Rolle eines (internationalen) Gerichts hinzuweisen, das Rechtsfortbildung nur in kleinen, für die Vertragsstaaten rezeptionsfähigen Schritten vornehmen kann und soll. 276  Vgl. Phillips, ICLQ 1994, S. 153 (154); vgl. EGMR (Pl), 13.06.1979, Marckx v. Belgium, Nr. 6833/74 (mit europäischem Standard unvereinbar). Instruktiv die Vorbereitungsarbeiten zu Art. 3 EMRK, der ursprünglich nur grausamste Behandlungsformen verbieten sollte; Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 38: „[T]he nazis stamping with their jackboots upon the faces of women and Jews (…). Then more ingenious forms of torture were applied. People had their toenails or their fingernails torn out, or they had their teeth drilled with holes and filled with acid“. 277  Vgl. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, S. 247. 278  Von Ungern-Sternberg, AVR 2013, S. 312 (313, 334); der Gerichtshof fragt stets danach, ob sich auf einem bestimmten Rechtsgebiet schon gemeinsame Werte, ein geteiltes normatives Fundament („common ground“) oder gemeinsame Standards etabliert haben. Dabei scheint der Gerichtshof einzelne gesellschaftliche Entwicklungen zusammenzuziehen und mit dem Menschenwürdesatz zu „versiegeln“. 279  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 31; EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 102; EGMR (Pl), 27.09.1990, Cossey v. United Kingdom, Nr. 10843/84, Rn. 35; EGMR (GK), 28.07. 1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 101.



B. Die Auslegung der EMRK89

Entsprechend hat der EGMR in der Rechtssache Tyrer280 die körperliche Züchtigung als erniedrigende Strafe werten können, da sie die Menschenwürde verletze. Der Gerichtshof war von der Argumentation der britischen Regierung nicht überzeugt, wonach die gerichtlich angeordneten Rutenschläge auf das nackte Gesäss im Inland auf „allgemeine Akzeptanz“ stiessen. Die öffentliche Akzeptanz einer solchen Prügelstrafe sage nichts darüber aus, ob der Charakter der Strafe erniedrigend i. S. v. Art. 3 EMRK sei.281 Der Gerichtshof stellte insoweit materielle Erwägungen an, als er festhielt, dass es „in der Natur der Sache“ liege, dass eine Prügelstrafe „institutionalisierte körperliche Gewalt“, ausgeführt durch einen Menschen an einem anderen, beinhalte und daher als ein Angriff auf die menschliche Würde („affront to human dignity“) zu qualifizieren sei.282 Aber auch die Staatenpraxis kann von Relevanz sein:283 Die gesetzlichen Regelungen auf nationaler Ebene stellen staatliche Praktiken dar.284 Wenn und soweit sich eine Staatspraxis auf die Konvention bezieht beziehungsweise von einer entsprechenden opinio juris getragen wird, kann dies Auswirkungen auf das Konventionsrecht haben. So hat der EGMR in der Rechtssache Soering285 in Bezug auf die Todesstrafe selbst festgehalten: „Subsequent practice in national penal policy (…) could be taken as establishing the agreement of the Contracting States to abrogate the exception provided for under Art. 2 (1).“286 Laut dem Gerichtshof ist es „nicht notwendig, dass der beklagte Staat die Gesamtheit der Verträge ratifiziert hat, die mit Bezug auf den konkreten Gegenstand des Falles Anwendung finden. Es genügt dem Gerichtshof, dass die einschlägigen völkerrechtlichen Instrumente eine kontinuierliche Entwicklung von Normen und Prinzipien bezeugen, die im Völkerrecht oder im natio­ nalen Recht von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarates angewandt werden, und dass sie für eine bestimmte Materie eine Gemein-

(Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72. (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 31: „[T]he Court cannot but be influenced by the developments and commonly accepted standards in the penal policy of the member States of the Council of Europe“. 282  „[T]he very nature of judicial corporal punishment is that it involves one human being inflicting physical violence on another human being“: EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33. 283  Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK. 284  Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 29. 285  EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88. 286  EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 103; vgl. auch EGMR, 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89 („preliminary objections“). 280  EGMR 281  EGMR

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

schaft der Werte moderner Gesellschaften belegen.“287 Insofern ist die „Konsensmethode“288 verknüpft mit dem Verständnis der EMRK als einem „living instrument“.289 So kann ein Konsens bzw. ein normativer Trend den EGMR dazu anhalten, einer Konventionsgarantie qua evolutiver Auslegung eine neue Bedeutung angedeihen zu lassen; dadurch treibt er die Rechtsfortentwicklung voran und lässt die Konvention in Lebenssphären expandieren, die zuvor von ihr nicht erfasst wurden, und es entwickeln sich insofern dort ­positive Schutzpflichten, wo zuvor keine Pflicht für die Vertragsstaaten bestanden hatte. Als weiteres emblematisches Beispiel einer dynamisch-evolutiven Auslegung ist die Rechtsprechung des EGMR zu lebenslangen Freiheitsstrafen zu nennen:290 Von den 1970er bis 1990er Jahren hat sich der EGMR in Fällen lebenslanger Haft weitgehend zurückgehalten, wenn es um Fragen eines mit Art. 3 EMRK kompatiblen Freiheitsentzuges ging.291 Erst seit dem Urteil Einhorn292 aus dem Jahr 2001 zeigt sich eine steigende Sensibilisierung für die menschenrechtliche Problematik lebenslanger Freiheitsstrafen, aber auch für Fragen der Strafzwecke innerhalb dieses Kontextes.293 Einen ersten Grundstein legte die Grosse Kammer im Jahr 2008 im Urteil Kafkaris294, wo sie über eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussetzungsmöglichkeit zu urteilen hatte. Eine „nicht reduzierbare Freiheitsstrafe“ („irreducible life sentence“) könne mit Blick auf Art. 3 EMRK durchaus problematisch erscheinen.295 Daher fordert der EGMR, dass sie de jure und de

287  EGMR (GK), 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, Nr. 34503/97, Rn. 86; zugespitzt formuliert ist Konsens insofern eher „Überstimmung“ als „Übereinstimmung“: von Ungern-Sternberg, AVR 2013, S. 312 (321). Vgl. im Zusammenhang mit der Suche nach Konsens innerhalb des Konventionsraumes: Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 13:­ „[C]onsensus is (…) identified at two levels. First it can be identified at the level of rules, [which means] the specific implementing measure which are undertaken to give effect to a legal principle in a particular system. Second, consensus, can operate at the level of principles, (…) those general concepts which underpin legal standards“. 288  Aalt, Maastrich J. Eur. & Comp.L 1996, S. 108 (139): „[C]onsensus is mainly about recognizing a common principle, irrespective of any possible details“. 289  Von Ungern-Sternberg, AVR 2013, S. 312 (318). 290  3. Teil A. II. 2. 291  Vgl. EKMR, 06.05.1978, Kötalla v. Netherlands, Nr.  7994/77; EGMR, 16.01.2001, Einhorn v. France, Nr. 71555/01; Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (43) m. w. N. 292  EGMR, 16.01.2001, Einhorn v. France, Nr. 71555/01. 293  EGMR, 16.01.2001, Einhorn v. France, Nr. 71555/01, Rn. 27. 294  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04. 295  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 97.



B. Die Auslegung der EMRK91

facto reduzierbar sein muss, um mit der EMRK kompatibel zu sein.296 Fünf Jahre später urteilte die Grosse Kammer, dass nur solche lebenslangen Freiheitsstrafen mit Art. 3 EMRK kompatibel seien, die eine reale Hoffnung auf Entlassung („prospect of release“) und eine Möglichkeit der Haftüberprüfung beinhalten („possibility of review“); überwölbt werden diese zwei Anforderungen an den Vollzug durch ein europäisches Bekenntnis zum Resozialisierungsgedanken, der gegenwärtig in Europa vorherrschend sei.297 Aber auch im Bereich der Haftbedingungen kann nach der Jahrtausendwende von einer „Entdeckung“ der Würde des Menschen gesprochen werden, welche die Rechtsprechungslinie nachhaltig zu prägen begonnen hat.298 Darauf wird weiter unten noch vertieft einzugehen sein. Der Umfang dessen, was das Gebot die Menschenwürde zu achten fordert, ist nicht von der historischen Entwicklung zu trennen. Insoweit haben Urteile des Gerichtshofs über die Menschenwürde keine zeitlose Gültigkeit, sondern spiegeln den jeweils aktuellen Stand der Erkenntnis wider.299

296  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 98; zuvor EGMR, 03.07.2001, Nivette v. France, Nr. 44190/98, The Law; EGMR, 16.10.2001, Einhorn v. France, Nr. 71555/01, Rn. 27. 297  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 110. Der EGMR hat die Europaratsdokumente, auf welche sich der Beschwerdeführer in Einhorn berief, zwar zur Kenntnis genommen und als durchaus relevant eingestuft, aber nicht auf ein europäisches Bekenntnis zum Resozialisierungsgrundsatz erkennen können, was sich in Vinter änderte; s. Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (43 ff.). 298  3. Teil A. III. 4. b). 299  Die Menschenwürde steht in einem Wirkungszusammenhang mit einer gegebenen Zeit. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat es einst instruktiv formuliert: „Die Erkenntnis dessen, was das Gebot, [die Menschenwürde] zu achten, erfordert, ist jedoch nicht von der historischen Entwicklung zu trennen. Die Geschichte der Strafrechtspflege zeigt deutlich, dass an die Stelle grausamster Strafen immer mildere Strafen getreten sind. Der Fortschritt in der Richtung von roheren zu humaneren, von einfacheren zu differenzierteren Formen des Strafens ist weitergegangen, wobei der Weg erkennbar wird, der noch zurückzulegen ist. Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben“: BVerfGE 45, 187 (229) (Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe). Ähnlich auch die Entwicklung zwischen EGMR, Entsch. v. 16.10.2001, Einhorn v. France, Nr. 71555/01 und EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a.; vgl. Spynowich, The Concept of Socialist Law, S. 101: „What it is to actually live a life of dignity undergoes a process of evolution. While human dignity seems a constant value, what gives human beings dignity will be constituted by social and historical factors“.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

b) Effektivitätssichernde Auslegung In ständiger Rechtsprechung hält der Gerichtshof fest, dass die Konvention nicht bezweckt, Rechte theoretischer und illusionärer Natur zu gewährleisten, sondern Rechte, die praktisch und wirksam sind.300 Inwieweit sich dieser Grundsatz auch in der Würde-Rechtsprechung niederschlägt, bleibt weiter unten zu untersuchen. Im Bereich der lebenslangen Freiheitsstrafen prüft der Gerichtshof, ob eine Strafe reduzierbar ist („prospect of release“). In früheren Entscheiden erachtete er es als ausreichend, wenn ein Exekutivorgan über ein Gnadenrecht verfügt, welches weder einer justiziellen Kontrolle unterliegt noch transparenten Regeln folgt und dessen Ausübung vom Antrag des zuständigen Staatsanwalts abhängt.301 Doch ohne ein Mindestmass an rechtsstaatlicher Einhegung eines solchen Gnadenentscheids ist das vom Gerichtshof postulierte Schutzkonzept des „prospect of release“ tatsächlich theoretischer und illusorischer Art. In einem späteren Urteil hielt der Gerichtshof dann fest, es müsse ein justizförmiger Überprüfungsmechanismus etabliert werden, bei dessen Ausgestaltung er den Staaten jedoch einen weiten Ermessensspielraum einräumt.302 Alles andere würde gegen den Menschenwürdekern verstossen und wäre kein praktisch wirksamer Schutz.303 c) Autonome Auslegung Begriffe und Konzepte der EMRK, welche ein Äquivalent in nationalen Rechtsregimen haben, sind autonom,304 das heisst nicht gemäss dem nationalen Begriffsverständnis auszulegen.305 Dies hat insbesondere auch für die Menschenwürde in der EMRK und die verschiedenen nationalen Konzeptionen zu gelten. Klar ist, dass der Gerichtshof keine explizite Ermächtigung in der Konvention benötigt, um ein autonomes Menschenwürdekonzept zu bilden. Einzig eine Auslegung, welche sich als von nationalen Begrifflichkeiten 300  Statt vieler: EGMR (GK), 04.02.2005, Mamatkulov and Askarov v. Turkey, Nr. 46827/99, Rn. 121. 301  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 98 ff.; EGMR, 02.09.2010, Iorgov (no. 2) v. Bulgaria, Nr. 36295/02, Rn. 49 f., 53. 302  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn.  130. 303  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 100 f. 304  EGMR (Pl), 23.11.1976, Engel and others v. Netherlands, Nr.  5100/71 u. a., Rn. 81; EGMR (Pl), 26.06.1978, König v. Germany, Nr. 6232/72, Rn. 88; EGMR (GK), 15.10.2009, Micallef v. Malta, Nr. 17056/06, Rn. 48. 305  Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31 Rn. 31.



B. Die Auslegung der EMRK93

und Konzepten (weitgehend) autonom erweist, ermöglicht es, Standards zu entwickeln, an denen sich die Signatarstaaten kritisch messen lassen müssen.306 Oder in den Worten eines ehemaligen Richters am EGMR ausgedrückt: „[A]utonomous interpretation is the appropriate method of interpretation for lawmaking multilateral agreements; in the case of the European Convention it leads to a harmonisation of the standards of enforcement of fundamental rights in the various Member States, which is after all one of the objectives of the Convention itself, according to the preambule“.307

Zwar ist die Menschenwürde im Völkerrecht verbreitet erwähnt und in diversen Menschenrechtsverträgen kodifiziert. Allerdings kommt ihr dabei traditionell „nur“ der Charakter eines Rahmenkonzepts ohne konkrete Bedeutung zu, weshalb zur Bestimmung des Inhalts auch an die Verwendung des Rechtsbegriffs in Konventionsstaaten angeknüpft werden kann. Wie oben dargelegt, begreift der Gerichtshof die EMRK als „living instrument“, deren Interpretation dem Wandel ökonomischer, sozialer und ethischer Umstände unterliegt.308 Insofern hat der Gerichtshof die faktischen, aber auch die normativen Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.309 Mit Blick auf die Menschenwürde können die nationalen Rechtsordnungen daher durchaus als normativer Orientierungsrahmen dienen,310 ohne dadurch die Bildung eines autonomen Normtyps zu verhindern. d) Selbstreferenzielle Bindung des EGMR Der EGMR limitiert sich durch eine methodische Selbstbindung selbst. Der selbstreferentielle Charakter bzw. die entscheidende Orientierung des EGMR am eigenen Fallrecht kann zu mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit führen. Dadurch wird auch eine allzu innovative Rechtsfortentwicklung verhindert und auf ein für die Konventionsstaaten rezeptionsfähiges Mass beschränkt.311 306  Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, S. 65 f. So soll zudem auch verhindert werden, dass sich Konventionsstaaten durch eigene Begriffsbildung und Definitionen den Garantien der EMRK zu entledigen versuchen. 307  Matscher, Methods of Interpretation of the Convention, S. 63 (73). 308  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 101; 2. Teil B. IV. 2. a). 309  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 139. 310  Zur Menschenwürde auf mitgliedstaatlicher Ebene s. 2. Teil B. II. 3. Dieses Verständnis kann als Ausgangspunkt genutzt werden, um ein autonomes Konzept zu entwickeln. 311  „While the Court is not bound to follow its previous judgments, it is in the interest of legal certainty, foreseeability and equality before the law it should not

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Auch die Würde-Rechtsprechung zeichnet sich durch eine evolutive, gleichsam herantastende Art und Weise aus, die einerseits neue Menschenrechtsgefährdungen einzufangen versucht, andererseits auch rezeptionsfähig bleiben muss und die aktuellen politisch-normativen Verhältnisse einer verfassten Gesellschaft zu berücksichtigen hat.312 3. Moralisch-ethische Einflüsse Ein demokratischer und freiheitlicher Grundrechtsschutz ist nicht denkbar, wenn gesellschaftliche Wertvorstellungen vom Konventionsrecht abgekoppelt werden.313 Eine gewisse Öffnung des Rechts gegenüber gesellschaftlichen Wert- und Moralvorstellungen, deren übergeordneter Bezug in einem konsensfähigen Menschenbild liegt,314 ist für einen glaubwürdigen Menschenrechtsschutz unabdingbar; eine Trennung des Rechtsbegriffs der Würde von ethischen Erwägungen und Hintergrundannahmen mithin auch gar nicht möglich, zumal es sich um einen derart wertaufgeladenen Begriff handelt. depart, without good reason, from precedents laid down in previous cases“: EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95, Rn. 74; EGMR (GK), 18.01.2001, Beard v. United Kingdom, Nr. 24882/94, Rn. 81; vgl. aber Meyer F., in: Wolter, Methodik der Grundrechtsanwendung, Rn. 97: Zu konstatieren bleibe aber, dass angesichts der Fülle an Rechtsprechung oft mehrere Rechtsprechungslinien offenstehen und daher nicht immer klar ist, welcher Linie gefolgt wird, was zu unerwarteten Neuausrichtungen führen könne. 312  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 197 (neue gesellschaftliche und wissenschaftliche Ansichten). 313  Vgl. EGMR (GK), 22.03.2012, Konstantin Markin v. Russia, Nr. 30078/06, Rn. 140: „European societies have moved towards a more equal sharing between men and women of responsibility for the upbringing of their children and that men’s role has gained recognition. The Court cannot overlook the widespread and consistently developing views and associated legal changes to the domestic laws of Contracting States concerning this issue (…)“; EGMR (Pl), 20.02.1992, Feldbrugge v. Netherlands, Nr. 8562/79, joint dissenting opinion of judges Ryssdal, Bindschedler-Robert, Lagergren, Matscher, Sir Vincent Evans, Bernhardt and Gersing: „An evolutive interpretation allows variable and changing concepts already contained in the Convention to be construed in the light of modern-day conditions (…) but it does not allow entirely new concepts or spheres of application to be introduced into the Convention: that is the legislative function that belongs to the Member States of the Council of Europe“; Dummermuth, SJZ 2014, S. 597 (598) (Fundierung in der sich wandelnden Gesell­schaft); Baumeister, Das Rechtswidrigwerden von Normen, S. 24 f.: Normen haben ihre Steuerungsfunktion immer in Ansehung einer konkreten Situation in sozialer, politischer und technischer Hinsicht auszuüben. 314  Zum Menschenbild der EMRK eingehend: Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, Baden-Baden 1995. Letztlich ist Menschenrechtsauslegung ein wertebasierter Vorgang: Itzcovich, HRLR 2013, S. 287 (299): „[I]nterpretation is an intrinsically discretionary and value-laden enterprise“; vgl. Helgesen, HRLJ 2011, S. 275 (276 ff.); IntKomm/EMRK-Fastenrath, Art. 1 Rn. 23 (EMRK als wertebezogener Vertrag).



B. Die Auslegung der EMRK95

Für Letsas beinhaltet die Vorgehensweise des Gerichtshofes eine Suche danach, welchen materiellen Gehalt ein spezifisches Grundrecht hat, und zwar verstanden als Gehalt, der dem Recht inhärent ist.315 4. Zwischenergebnis Die EMRK wird unter Berücksichtigung der WVK und der konventionsspezifischen Methoden (dynamisch-evolutiv, effektiv und autonom) ausgelegt. Auch Konzepte wie die Menschenwürde, die keine Positivierung in der Konvention erfahren haben, werden autonom entwickelt. Innerhalb des Gerichtshofes ist der Methodenkanon unumstritten.316 Eine eigentliche Grundrechtstheorie hat der EGMR aber dadurch nicht entwickelt.317 Eine nachvollziehbare konventionsspezifische Methodik und die konsequente Offenlegung aller relevanten Rechtserkenntnisquellen – inkl. allfälliger moralisch-ethischer Einflüsse – sowie der die Konventionsgarantien untermauernden Grundprinzipien sind für die Legitimität des Systems der EMRK und des EGMR von allerhöchster Bedeutung.318 Ebenso bedeutsam 315  Dies stelle keine unzulässige Schutzbereichsinflation dar; so Letsas, The ECHR as a Living Instrument, S. 106 (125): „[T]he Court is not expanding or inflating the scope of the ECHR rights by treating the Convention as a living instrument; rather, it discovers what these human rights always meant to protect“. Dies sei Ausdruck des besonderen Charakters der Konvention als Menschenrechtsvertrag; Fitzmaurice, ­HYBIL 2009, S. 3 (16). Vgl. Waldron, IJCL 2009, S. 2 (9 f.): „[J]udges have two kinds of task to perform: (a) they must be alert to and familiar with existing legal sources and able to interpret and apply those materials to the cases that come before them; and (b) they must be capable of engaging in moral reasoning about some or all of the issues posed in the cases“; ders., S. 2 (13 f.): „[J]udges are not machines. They do these things for reasons: there are reasons they regard themselves as bound by statutes or by constitutional texts; and there are reasons for their deference to precedent. In the final analysis, these are moral reasons – reasons of concern for established expectations, reasons of deference to democratic institutions, and reasons associated with integrity and the moral value of treating cases alike. So (…) judges never really leave moral reasoning behind in anything they do“. 316  In Einzelfragen kann es unter Richtern des EGMR disparate Ansichten geben. Doch es herrscht grundsätzlich „Methodenkonsens“. Grundlegende Methodenkritik wurde früher noch von Richter Fitzmaurice in seinen Sondervoten geübt: EGMR (Pl), 13.06.1979, Marckx v. Belgium, Nr. 6833/74; EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70; EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr.  5310/71. Vgl. auch das Sondervotum von Richter Zupančič, in: EGMR, 28.11.2000, Rehbock v. Slovenia, Nr. 29462/95; Sondervotum von Richter Matscher, in: EGMR (Pl), 28.06.1978, König v. Germany, Nr. 6232/73; EGMR (Pl), 10.02.1983, Albert and Le Compte v. Belgium, Nr. 7299/75 u. 7496/76. 317  Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 42. 318  Vgl. Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 389. Eine fraglose Hinnahme einer kontroversen Entscheidung als legitim kann nicht erwartet werden; die Begrün-

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

sind diese Faktoren indessen auch für das Verständnis der konventionsrechtlichen Menschenwürde. Nicht zuletzt zeigt ein profundes Verständnis der Auslegungsmethodik und der darunter liegenden Rechtsprinzipien und Erkenntnisquellen auch dem Rechtsanwender und -unterworfenen, wo die Grenzen der Grundrechtskonkretisierung sind bzw. sein können. Die Frage ist daher, welche normativen Erkenntnisquellen mit Würdebezug für das System der Konvention relevant sind bzw. welche der Gerichtshof konkret als Inspirationsquelle heranzieht.

II. Rechtserkenntnisquellen: Die Menschenwürde in anderen Regelungskontexten Die Kompetenz des EGMR aus Art. 32 EMRK ist darauf beschränkt, vertragsstaatliches Handeln allein anhand der EMRK, der einzigen echten Rechtsquelle, zu überprüfen. Interessanterweise jedoch orientiert sich der EGMR auch an grundrechtskonkretisierenden Entscheidungen anderer Gerichte, sei es aus anderen Rechtskreisen und/oder aus anderen Normebenen.319 Die Notwendigkeit, ja Gebotenheit der systematischen Suche nach normativen Erkenntnisquellen – mithin nach einem normativen Konsens – beruht auf einer konstitutiven Eigenschaft jeder Grundrechtsordnung, nämlich der Offenheit und Abstraktheit von menschenrechtlichen Normierungen sowie der Offenheit von Grundrechtskatalogen für die Bildung neuer Rechtspositionen.320 Angesprochen ist damit die Suche nach Rechtserkenntnisquellen: Diese sind selbst nicht Auslegungsfaktor, sondern können genutzt werden, um Auslegungsfaktoren aufzufinden;321 sie sind Mittel, mit deren Hilfe sich auf den konkreten Inhalt einer Norm schliessen lässt.322 Die EMRK hat sich daher im Lichte des normativen Panoptikums, in welchem verschiedene Erkenntnisquellen in den Blick genommen werden, zu entwickeln.323 Dabei ist es naheliegend, die nationalen Rechtsordnungen bzw. die jeweiligen eurodung gewinnt stetig an Bedeutung, da sich auch der Menschenrechtsschutz zunehmend ausdifferenziert: Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 29 ff. 319  Vgl. Mahlmann, EuR 2011, S. 469 (473 f.). 320  Mahlmann, EuR 2011, S. 469 (475). 321  Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 41; Thürer, ZSR 1985, S. 429 (445); Fastenrath, EJIL 1993, S. 305 (314): „Paramount importance must (…) be attached to ‚soft law‘ instruments (…). Such instruments can rapidly generate a wide-ranging consensus on international definitions, by either explicitly laying down a concept or developing a legal standard which may then be effected through extensive or restrictive application of already established legal rules“. 322  Statt vieler: Vitzthum, in: Vitzthum/Proelss, S. 25. 323  Vgl. McCrudden, Cambridge Yearbook of European and Legal Studies 2012/ 2013, S. 1 (8).



B. Die Auslegung der EMRK97

päischen Verfassungen mit ihren je eigenen Menschenwürdenormen mit einzubeziehen. Dies funktioniert über eine Verknüpfung mit der „Menschenwürdegarantie“. Die Menschenwürde ist in zahlreichen Verfassungen statuiert, wenngleich ihr normativer Rang teilweise umstritten ist.324 Sie kann, wie zum Beispiel in Spanien, als verfassungsrechtlicher Wert verbrieft sein.325 Sie kann aber auch (zusätzlich) als eigenständiges Grundrecht statuiert sein, was in Deutschland, Polen, der Slowakei, Slowenien, Ungarn, der Schweiz, Italien und Russland der Fall ist.326 Ferner kann sie als „tragendes Prinzip“ der Verfassung gelten, ohne aber den Status eines eigenständigen Grundrechts zu erhalten.327 Andere Staaten wiederum sprechen ihr eine Doppelfunktion zu.328 Die Schwierigkeit, einen genuin konventionsrechtlichen Menschenwürdebegriff zu formulieren, ist daher manifest. Die (positivrechtlich) breite Akzeptanz der Menschenwürde(-norm) in den europäischen Staaten liefert dem EGMR zwar eine Legitimationsgrundlage zur Etablierung eines richterrechtlichen Menschenwürdekonzepts;329 doch inhaltlich bleibt die menschliche Würde bzw. ihr reiner Textabgleich in Rechtsdokumenten meist zu amorph und diffus, um eine Basis für rechtliche Folgerungen zu sein.

324  So anerkennen Deuschland, Polen, die Slowakei, Slowenien, Ungarn und die Schweiz die Menschenwürde als Grundsatz und Grundrecht: Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Art. 1 Rn. 2. 325  Art. 10 der Spanischen Verfassung von 1978. 326  Art. 3, 27 und 41 der italienischen Verfassung von 1948; Art. 21 der russischen Verfassung von 1993, Art. 7 der Verfassung der Schweiz von 1999, Art. 30 der Verfassung Polens von 1997, Art. 1 der Verfassung Ungarns von 2011, Art. 1 des deutschen Grundgesetzes; vgl. Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Art. 1 Rn. 2; Barak, Human Dignity, S. 51 ff. 327  So etwa in Frankreich, obwohl die Menschenwürde in der französischen Verfassung von 1958 – wie in der EMRK – nicht explizit erwähnt wird; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 139. 328  So in der Schweiz, Deutschland, Polen, Slowenien, Tschechien und der Slowakei; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 165. 329  Vgl. zur Konvergenztheorie: Lindner, RW 2011, S. 1 (15).

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

1. Völkerrechtliche Ebene a) Menschenrechtsverträge Auf internationaler Ebene seien an dieser Stelle die Charta der VN,330 die AEMR331 und seit 1949 die Genfer Konventionen332 genannt.333 Die normative Funktion, die der menschlichen Würde in diesen völkerrechtlichen Dokumenten zukommt, variiert und hängt vom jeweiligen Regelungskontext ab. In der Präambel der Charta der VN wird der Bedeutungszusammenhang zwischen der menschlichen Würde und den Menschenrechten ausdrücklich benannt.334 Mit dieser internationalen Proklamation, die die besondere Wer330  Präambel

der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (SR 0.120). Art. 1, Art. 22 und Art. 23 Abs. 3 AEMR. Die AEMR ist zwar kein rechtsverbindliches Dokument, allerdings formuliert sie einen normativen Massstab der völkerrechtlichen Ordnung, weshalb der Würdebegriff als allgemeine normative Hintergrundidee zu lesen ist; Müller J., Ein Phantombild der Menschenwürde, S. 117 (117 ff.). Dennoch gibt es Stimmen in der Lehre, die der AEMR den normativen Charakter von Völkergewohnheitsrecht zusprechen; Mastronardi, Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts, S. 55 (63); Borowsky, in: Meyer, Kommentar EUGRCh, Art. 1 Rn. 4. 332  Art. 3 Abs. 1 lit. c des Genfer Abkommens zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde vom 12. August 1949 (SR 0.518.12); Art. 3 Abs. 1 lit. c des Genfer Abkommens zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See vom 12. August 1949 (SR 0.518.23); Art. 3 Abs. 1 lit. c des Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen vom 12. August 1949 (SR 0.518.42); Art. 3 Abs. 1 lit. c des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. Auguts 1949 (SR 0.518.51): Verboten sei insbesondere die „Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung“; Art. 75 Abs. 2 lit. b und Art. 85 Abs. 4 lit. c des Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 (SR 0.518.521); Art. 4 Abs. 2 lit. e des ­Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 (SR 0.518.522). 333  Vgl. zuvor die bereits vom IKRK erstellte „First Draft Convention regarding Sanitary cities and localities“, adopted in Monaco, 27.07.1934, https://ihl-databases. icrc.org/ihl/INTRO/315?OpenDocument (zuletzt abgerufen am 03.06.2019). Die Erklärung von Jalta statuiert: „Es ist nicht unsere Absicht, das deutsche Volk zu vernichten, aber nur dann, wenn der Nationalsozialismus und Militarismus ausgerottet sind, wird für die Deutschen Hoffnung auf ein würdiges Leben und einen Platz in der Völkergemeinschaft bestehen“. 334  „Wir, die Völker der Vereinten Nationen (…) unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Person, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob gross oder klein, erneut zu bekräftigen (…) haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken“. 331  Präambel,



B. Die Auslegung der EMRK99

tigkeit sowie die Fundierungsfunktion der Menschenwürde hervorhebt, beginnt die „Erfolgsgeschichte“ des juridischen Würdebegriffs.335 Seit dem Bestehen der AEMR ist sie als Grundnorm des internationalen Menschenrechtsschutzes zu verstehen.336 In der Folgezeit nehmen unterschiedliche Menschenrechtsdokumente337 Bezug auf die Charta der VN und die AEMR und verdeutlichen den qualitativen Stellenwert der Menschenwürde.338 Weitere Kodifikationen339 folgen 335  Kirste, Menschenwürde im internationalen Vergleich, S. 175 (176); zum Fundierungscharakter, vgl. Kriele, Recht, Vernunft, Wirklichkeit, S. 219. 336  „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ In Anlehnung an die traditionsreiche Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“: Laternser, Der Gehalt von Art. 7 BV: zur Begründung der bundesgerichtlichen Menschenwürdekonkretisierung, S. 8; vgl. ferner Maritain, der einen bedeutenden Einfluss beim Verfassen der AEMR hatte: „The dignity of the human person? The expression means nothing if it does not signify that by virtue of natural law, the human person has the right to be respected, it is the subject of rights, possesses rights“, zitiert aus: Gebremariam, Human Dignity and Moral Rights, S. 6; Marhaun, Menschenwürde und Völkerrecht, S. 152; vgl. Dicke, Die der Person innewohnende Würde und die Frage der Universalität der Menschenrechte, S. 161 (171). Die unbestimmte Formulierung der neuen Menschenwürdenorm war bewusst gewählt: „It would be better to run the risk of being vague than of being too particular, and considering the reaction of mankind to the barbarous activities of the Nazis (…)“: Malik, in: E/CN.4/AC.1/SR.23 (1948), CHR, DC, second session, S. 3. 337  Sowohl rechtsverbindliche Menschenrechtsübereinkommen als auch unverbindliche Deklarationen (Soft Law). 338  Die AEMR ist bis heute nicht überholt worden; und „trotz aller nachfolgenden Bemühungen gibt sie immer noch – und recht detailliert – die Grundsätze an, mit denen Menschenrechte perfektioniert werden sollen“: Doehring, Völkerrecht, S. 427. 339  Die Convention for the Suppression of the Traffic in Persons and of the Exploitation of the Prostitution of Others, GA Res. 317 (IV) (1949), erklärt Ausbeutung der Prostitution sowie den Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution für mit Würde und Wert der menschlichen Person unvereinbar. Declaration of the Rights of the Child, GA Res. 1386 (XIV), 14 UN GAOR Supp. (No. 16) at 66, UN Doc. A/4354 (1959), § 2 erklärt, das Kind solle sich in Bedingungen der Freiheit und Würde entwickeln; in der Convention on the Elimination of All Forms of Racial Dis­ crimination (1965), GA Res. 2106 A (XX), wird die Menschenwürde ebenso wie die Gleichheit der Menschen als ein Prinzip („principle of dignity“) betrachtet. Die Präambel der Declaration on Race and Racial Prejudice der UNESCO (1978) hält fest, dass es sich bei der Menschenwürde um ein demokratisches Prinzip handele, dessen Verleugnung („denial“) zum Zweiten Weltkrieg geführt habe. In Art. 1 wird Diskriminierung zwischen Menschen auf Grundlage von Rasse, Hautfarbe oder ethnischer Herkunft als ein Angriff („offence“) auf die Menschenwürde qualifiziert; aus der Convention aganist Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (1984), UN Doc. A/39/51 (1984), Art. 1 und 2 ergibt sich, dass die Würde sowohl physische als auch psychisch-mentale Bereiche des Menschen umfasst; in der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, Res.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

diesem Beispiel, so z. B. der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR340), in dessen Präambel steht, dass sich diese Rechte „aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“.341 Auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ­ ­(IPwskR342),343 ferner Verträge zum Schutze vor Ausnutzung der Prostitu­ tion,344 verbrauchende Biomedizin,345 Sklaverei und Zwangsarbeit,346 Menschenhandel,347 Rassendiskriminierung348 oder die Empfehlung zur Abschaffung von Frauendiskriminierung;349 aber auch Kinder- oder Behindertenrechte haben in der Menschenwürde ihren Ursprung und Schutzkern.350 34/180 (1979), weist die Präambel darauf hin, dass Diskriminierung von Frauen das Prinzip der Achtung der menschlichen Würde verletzt; die Convention on the Rights of the Child, UN Doc. A/44, 49 (1989), regelt in Art. 23 Abs. 1, „dass ein geistig oder körperlich behindertes Kind ein erfülltes und menschenwürdiges Leben unter Bedingungen führen soll, welche die Würde des Kindes wahren, seine Selbständigkeit fördern und seine aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft erleichtern“; Art. 37 hält fest, „dass jedes Kind, dem die Freiheit entzogen ist, menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Personen seines Alters behandelt wird“; in Art. 40 wird statuiert, dass Kinder einen Sinn für ihre eigene Würde und Wert hätten. 340  SR 0.103.2. 341  IPbpR, Präambel. 342  SR 0.103.1. 343  Art. 29 Abs. 1 und 2 IPwskR. Art. 13 IPwskR anerkennt das Recht auf Bildung mit dem Ziel der Ausbildung des Bewusstseins von der Würde des Menschen. 344  Convention for the Suppression of the Traffic in Persons and of the Exploitation of the Prostitution of Others, Res. 317 IV (1951), Preambule: „Whereas prostitution and the accompanying evil of the traffic in persons for the purpose of prostitution are incompatible with the dignity and worth of the human person and endanger the welfare of the individual, the family and the community“. Die explizite Bezugnahme auf die Menschenwürde der betroffenen Individuen und das Wohl des Einzelnen in einem multilateralen völkerrechtlichen Vertrag war zu jenem Zeitpunkt eine Neuheit in der Bekämpfung dieses Phänomens auf internationaler Ebene. 345  Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine (Convention on Human Rights and Biomedicine/Biomedizinkonvention [BMK]), zitiert in: EGMR, 09.10.2014, Konovalova v. Russia, Nr. 37873/04, Rn. 32 ff. 346  Vgl. Protocol to Prevent, Suppress and Punish Trafficking in Persons Especially Women and Children, supplementing the United Nations Convention against Transnational Organized Crime, GA Res. 55/25 (2000), nachfolgend: Palermo-Protokoll; vgl. EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 150. 347  Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings, CETS Nr. 197 (2005). 348  Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, GA Res. 2106 (XX) (1965), Preambule. 349  Wobei es sich um Soft Law handelt: United Nations Committee on the Elimination of Discrimination against Women, General Recommendation 19 (1992), § 24 (b): „States parties should ensure that laws against … abuse, rape, sexual assault and



B. Die Auslegung der EMRK101

Die genannten Menschenrechtsverträge können zu einer Erhellung des konventionsspezifischen Würdeverständnisses führen, indem dieser Rechtsbegriff kontextualisiert wird. „[I]t’s [human dignity’s] content and meanings are determined separately in each legal document in accordance with the political agreement achieved at the time.“351 Diese Verträge und Dokumente zeigen, dass es einen Unterschied gibt zwischen allgemeinen Menschenwürdeklauseln und solchen Bestimmungen, die Menschenwürde in spezifischen Regelungsbereichen kontextualisiert erwähnen. Auch bei den allgemeinen Menschenwürdebestimmungen kann man unterscheiden zwischen allein stehenden und gemischten Klauseln, d. h. zwischen Bestimmungen, die nur die Menschenwürde nennen, und solchen, die deren Achtung mit anderen Grundwerten (etwa Freiheit, Autonomie, Selbstachtung) verknüpfen.352 Indem dieser Rechtsbegriff kontextualisiert wird (Menschenwürde als sog. special clause), ergeben sich Ausdifferenzierungen der Schutzbereiche. So statuiert bspw. Art. 10 Abs. 1 IPbpR, dass jeder, dem seine Freiheit entzogen ist, „menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde“ zu behandeln ist.353 In vielen menschenrechtlichen Abkommen, so auch in den oben erwähnten, fällt auf, dass die Menschenwürde dort in Stellung gebracht wird, wo eine besondere Verletzlichkeit einer Personengruppe definiert wird.354 Der Menschenwürde kommt in solchen Fällen über ihre allgemeine Fundierungsfunktion hinaus eine Rolle als besonders hervorgehobenes Schutzgut zu, wodurch sich der Schutz verstärkt. Insoweit kann man sagen, dass sie zur Definierung besonders verletzlicher Personengruppen und Situationen herother gender-based violence give adequate protection to all women, and respect their integrity and dignity“; zitiert in EGMR, 04.12.2003, M.C. v. Bulgaria, Nr. 39272/98, Rn. 108 (ineffektive Ermittlungen, ineffektiver Schutz vor Vergewaltigung). 350  Seit Inkrafttreten der EMRK hat sich der Regelungsbereich der Menschenwürde durch sog. special clauses aufgefächert und zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung geführt. 351  Vgl. Schultziner, Human Dignity: Functions and Meaning, S. 73 (78). 352  Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Art. 1 Rn. 2. 353  In diesem Pakt besitzt die Würde auch eine kollektive Komponente, denn insoweit als der Mensch nicht als ein vollkommen autarkes Subjekt gedacht werden kann, muss die staatliche Gemeinschaft zusammenwirken, um die Nutzung bestimmter würderelevanter Güter überhaupt erst zu ermöglichen. Weiter fordert das zweite Fakultativ­ protokoll die Abschaffung der Todesstrafe, um gerade so die Menschenwürde zu fördern: Zweites Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe vom 15. Dezember 1989 (SR 0.103.22). 354  Zum Ganzen: Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, Zürich 2017; Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, S. 94: „The decision as to who is a vulnerable person (…) can be perceived as (and indeed sometimes be) a highly political one“.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

beigezogen wird, um einen verstärkten Schutz individueller Freiheit zu gewährleisten. In besonderen Sachverhaltskonstellationen wird der Würdeschutz pointiert hervorgehoben und selbständig kodifiziert, sei dies im Bereich der Kinderrechte355 (von Asylsuchenden),356 der Behindertenrechte,357 des Schutzes von Minderheiten358 oder der Gefangenenrechte.359 Der Regelungsbereich360 der jeweiligen Menschenrechtsverträge kann mit dem Regelungs- und Schutzbereich einzelner Konventionsgarantien, bspw. Art. 3 EMRK, Überlappungen aufweisen, weshalb ein Einbezug methodisch vertretbar sein kann.361 Je nach Fallkonstellation können sich Fragen der 355  EGMR (GK), 04.12.2008, S. and Marper v. United Kingdom, Nr. 30562/04 u. a., Rn.  55. 356  Unter Verweis auf die Convention on the Rights of the Child, UN Doc. A/44, 49 (1989), § 37; s. EGMR, 12.10.2006, Mubilanza Mayeka and Kaniki Mitunga, Nr. 13178/03, Rn. 57 f.: „Nor could the authorities who ordered her detention have failed to be aware of the serious psychological effects it would have on her. In the Court’s view, the second applicant’s detention in such conditions demonstrated a lack of humanity to such a degree that it amounted to inhuman treatment“. 357  Convention on the Rights of Persons with Disabilities, Preambule: „discrimination against any person on the basis of disability is a violation of the inherent dignity and worth of the human person“; § 1: „The purpose of the present Convention is to promote, protect and ensure the full and equal enjoyment of all human rights and fundamental freedoms by all persons with disabilities, and to promote respect for their inherent dignity“. 358  Council of Europe Framework Convention for the Protection of National Minorities (1994). 359  Art. 10 Abs. 1 IPbpR: „Jeder, dem seine Freiheit entzogen ist, muss menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde behandelt werden“; Abs. 3: „Der Strafvollzug schliesst eine Behandlung der Gefangenen ein, die vor­ nehmlich auf ihre Besserung und gesellschaftliche Wiedereingliederung hinzielt. Jugendliche Straffällige sind von Erwachsenen zu trennen und ihrem Alter und ihrer Rechtsstellung entsprechend zu behandeln“; zitiert in: EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 80. Recommendation Rec (2006) 2, § 18.1: „The accommodation provided for prisoners, and in particular all sleeping accommodation, shall respect human dignity and, as far as possible, privacy, and meet the requirements of health and hygiene, due regard being paid to climatic conditions and especially to floor space, cubic content of air, lighting, heating and ventilation“; zitiert in (statt vieler): EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 14097/12 u. a., Rn. 37; EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 55. 360  Grabenwarter/Pabel unterscheiden zwischen Regelungs- und Schutzbereich: Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 4. 361  Statt vieler: EGMR, 12.10.2006, Mubilanza Mayeka and Kaniki Mitunga, Nr. 13178/03, Rn. 39, 48: „In order to carry out this assessment, regard must be had to the fact that the Convention is a ‚living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions‘ [and] that the increasingly high standard being required in the area of the protection of human rights and fundamental liberties cor-



B. Die Auslegung der EMRK103

Privatsphäre, der humanen Behandlung in Haft oder der Schutzpflichten bei modernen Formen der Sklaverei stellen; alle diese Bereiche haben in der Menschenwürde ihr gemeinsames Schutzgut bzw. ihren Anknüpfungspunkt. Sie erfassen deren Teilaspekte und demonstrieren in ihrer Gesamtheit das weite Ausdifferenzierungspotenzial dieses Rechtsbegriffs. Indem spezifische Gefährdungen der Würde durch den Gerichtshof aufgegriffen und bewertet bzw. abgeurteilt werden, kommt es in positiver Hinsicht zu einer steten Ausdifferenzierung des europäischen Menschenwürdeschutzes. Dabei bedient sich der Gerichtshof in systematischer Auslegungsmethodik – wie nachfolgend im 3. Teil bereichsspezifisch gezeigt wird – auch internationaler Regelungen, in welchen die Menschenwürde gesondert geschützt wird.362 Durch konkrete Einbettung in dem jeweils eigenen menschenrechtlichen Vertragssystem der Vertragsstaaten werden die feineren Ausprägungen, die der Menschenwürde dort zuerkannt werden, sichtbar.363 Für den Gerichtshof bietet die völkerrechtliche Menschenwürde einen rechtstextlichen Anknüpfungspunkt, die den systematischen Einbezug bei der Auslegung und inhaltlichen Konkretisierung der menschlichen Würde im Regelungskontext von Art. 3 oder Art. 8 EMRK ermöglicht.364 Eine derartige systematische Auslegung wurde, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, in Fällen lebenslanger Haftstrafen, ungenügender Haftbedingungen oder beim Menschenhandel vollzogen.365 Die breite Basis in Form völkerrechtlicher Verankerung ermöglicht dem Gerichtshof überdies eine prinzipiengeleitete Herangehensweise und das Eruieren eines (weitgehenden) normativen Konsenses hinsichtlich neuer Bedrohungslagen.366

respondingly and inevitably requires greater firmness in assessing breaches of the fundamental values of democratic societies“. 362  Vgl. Kirste, Menschenwürde im internationalen Vergleich, S. 175 (179); s. insb. 3. Teil A u. B. 363  Gerade durch die stete Ausdifferenzierung zeigt sich das enorme Entwicklungspotenzial der Menschenwürde als Schutzgut, das sich hinsichtlich der Schutzbedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte der Menschen wandeln kann. 364  Vgl. zur systematischen Auslegung: 2. Teil B. I. 2. a) aa). 365  3. Teil A. II. 2. (lebenslange Freiheitsstrafe); 3. Teil A. IV. (Menschenhandel); 3. Teil A. III. 4. (Haftbedingungen). 366  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 45; EGMR, 20.05.2014, McDonald v. United Kingdom, Nr. 4241/12, Rn. 30 ff.; vgl. EGMR (GK), 12.09.2011, Palomo Sánchez and others v. Spain, Nr.  28955/06 u. a., Rn.  15 ff., 52 ff., 64 ff.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

b) Ebene des Europarates Für das Verständnis des europäischen Menschenrechtsschutzes ist der ­ uroparat zentral. Die Mitglieder dieser Organisation eint das Bekenntnis zur E Rechtsstaatlichkeit, Demokratie sowie zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten (vgl. Art. 3 und 4 ERS). Eines der Ziele der EMRK ist es, eine engere Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten der Konvention herzustellen.367 Auch der Europarat hat in Art. 1 lit. a ERS seine Aufgabe darin, eine „engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaft­ lichen und sozialen Fortschritt zu fördern“. Lit. b nennt als Mittel zur Erreichung dieses Zieles explizit den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Bereits in der Rechtssache Golder368 wurde festgehalten, dass eben dieses Bekenntnis das gemeineuropäische Erbe an und für sich ausmache und Voraussetzung für die Mitgliedschaft der Organisation sei.369 Diese Werte und Organisationsprinzipien führen dazu, dass sich der Gerichtshof hinsichtlich der vom Europarat produzierten Regelwerke äusserst rezeptionswillig zeigt: „The Court reiterates its constant approach that it takes into account relevant international instruments and reports, and in particular those of other Council of Europe organs, in order to interpret the guarantees of the Convention and to establish whether there is a common European standard in the field“.370

Aufgrund der organisatorischen Verflechtung des Europarates, die sich anhand der Satzung ablesen lässt, summieren sich die in diesem Rahmen abgeschlossenen Abkommen und Empfehlungen zu einem besonders engen 367  Die Präambel der EMRK spricht von ersten Schritten auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter Rechte sowie von der Bekräftigung der Entschlossenheit der europäischen Staaten, die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen. 368  EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70. 369  EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 26 ff.; vgl. ferner Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 1 Rn. 1; vgl. Addo, The Legal Nature of International Human Rights, S. 199, der von einem europäischen Subsystem spricht. 370  EGMR (GK), 27.04.2010, Tanase v. Moldova, Nr. 7/08, Rn. 176; EGMR, 17.09.2009, Manole and others v. Moldova, Nr. 13936/02, Rn. 107: „[T]he standards relating to public broadcasting which have been agreed by the Contracting States through the Committee of Ministers of the Council of Europe provide guidance as to the approach which sould be taken to interpret Article 10 in this field“; EGMR, 10.02.2011, Soltysyak v. Russia, Nr. 4663/05, Rn. 51.



B. Die Auslegung der EMRK105

normativen Konnex.371 Bei der Auslegung einzelner Konventionsgarantien wird daher besonderes Gewicht auf menschenrechtliche Entwicklungen innerhalb des Europarats gelegt, dessen Arbeiten zur Eruierung eines europäischen Konsenses in einem spezifischen Sachbereich herangezogen werden können.372 aa) Europarats-Übereinkommen Wichtige Regelwerke, in denen die Menschenwürde als special clause f­iguriert, sind insbesondere die Biomedizinkonvention,373 die europäische Anti-Folterkonvention und die Konvention gegen Menschenhandel.374 Sie belegen erneut die grosse Spannweite dieses Rechtsbegriffs. Das wohl prominenteste Beispiel ist die Konvention gegen Folter, die für alle Europaratsstaaten rechtlich verbindlich ist und gleichsam „europäische Verfassungssätze“ begründet.375 Aber auch jüngere Konventionen, wie die „Lanzarote Convention“376 zum Schutze von Kindern vor sexueller Ausbeutung, zeugen von der Entwicklungsoffenheit dieses Schutzkonzepts. Der Europarat wird auch gegen Menschenhandel aktiv. Er entwickelt (parallel zu den VN) auf regionaler Ebene eine paneuropäische Strategie zur Bekämpfung von Menschenhandel. Dabei wurden unter der Ägide des Ministerkomitees einige Empfehlungen an die Mitgliedstaaten herausgegeben, welche die Prävention, Strafrechtsverfolgung und den Opferschutz adressieren.377 Um Defizite des „Palermo-Protokolls“ im Bereich des Opferschutzes zu beheben, wurden die rechtlich unverbindlichen Dokumente durch die Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels aus dem Jahr 2005 ersetzt.378 In Bezug auf die Auslegung von Art. 4 EMRK hat die Konvention gegen den Menschenhandel für die Rechtsprechung des EGMR Vorbildcharakter erreicht.379 371  Grabenwarter/Pabel,

Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 9. HRLJ 2013, S. 248 (256). 373  Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine (1997), ETS Nr. 164/Biomedizinkonvention (BMK). 374  Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings (2005), ETS Nr. 197. 375  Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 266. 376  Council of Europe Convention on Protection of Children against Sexual Exploitation and Sexual Abuse (2007), ETS Nr. 201. 377  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus a. Russia, Nr. 25965/04, Rn. 158. 378  Ritter, Art. 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, S. 219. 379  Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings (2005), ETS Nr. 197. 372  Wildhaber/Hjartson/Donnelly,

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Ein Problemfeld, in dem Fragen der Menschenwürde mit grosser Intensität debattiert werden, ist die Biomedizin. Ohne dass vorliegend jedes Problem aus diesem Bereich erörtert wird, bleibt festzuhalten, dass sich die Wirkkraft der Selbstzweckidee genau in diesen Problembereichen überprüfen und konkret anwenden lässt. Auf Ebene des Europarats erlassene Regelungen zum Verbot des Klonens sind mithin mit Blick auf die Menschenwürde wohlbegründet.380 In Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens des Europarats zum Schutz der Menschenrechte und Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Biomedizin (BMK)381 ist vom Schutz der Würde allen menschlichen Lebens, im Sinne des Schutzes der menschlichen Identität, die Rede. In der Präambel wird festgehalten, dass der Missbrauch von Biologie und Medizin zu Handlungen führen könne, die die Menschenwürde gefährden. In Art. 2 BMK wird die Menschenwürde in ein Abwägungsverhältnis zum Interesse der Gemeinschaft sowie der Wissenschaft gestellt:382 „The interests and welfare of the human being shall prevail over the sole interests of society or science“.383

Dies deutet darauf hin, dass die Menschenwürde als Schutzgut Objekt der Abwägung sein und bei gravierenden entgegenstehenden Interessen individueller oder öffentlicher Art eingeschränkt werden kann. Unter starker Kritik steht insbesondere Art. 17 Abs. 2 BMK, da es diese Regelung unter gewissen Umständen erlaubt, zu Forschungszwecken in die körperliche Integrität einer nicht einwilligungsfähigen Person einzugreifen, auch wenn diese keinen direkten Nutzen davon hat. Wie sich diese Vorgehensweise im Einzelfall mit der Subjektstellung des Menschen verhält, kann hier offenbleiben.384 Allgemein betrachtet ist in der Biomedizin-Konvention ein Verbot der Modifikation des menschlichen Genoms enthalten, das Ausnahmen für präventive, diagnostische oder therapeutische Zwecke zulässt (Art. 13 BMK). Eine speziellere Regelung betrifft das Verbot der Auswahl des Geschlechts (Art. 14 BMK). Weiter begründet Art. 1 Abs. 1 den Schutz der menschlichen Identität, Art. 13 verbietet modifizierende Interventionen in das Genom von Nachkommen und Art. 18 Abs. 2 BMK verbietet die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken. Insgesamt können diese Regelungen als Verbot des re380  Mahlmann,

Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 324. for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine (1997), ETS Nr. 164/Biomedizinkonvention (BMK). 382  Tiedemann, Was ist Menschenwürde?, S. 25. 383  Art. 2 BMK („Primacy of the human being“). 384  Jedenfalls haben diese offenen Fragen nicht zuletzt dazu beigetragen, dass einige Staaten die BMK nicht ratifiziert haben: Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 40. 381  Convention



B. Die Auslegung der EMRK107

produktiven Klonens menschlicher Lebewesen verstanden werden.385 Indem der Gerichtshof dieses Regelwerk in seiner eigenen Rechtsprechung rezipiert,386 manifestiert sich dessen Wechselwirkung im Verhältnis mit anderen Würdekonzepten; diese beiderseitige normative Befruchtung macht auch vor rechtlich nicht verbindlichen Dokumenten des Europarates keinen Halt. bb) Resolutionen, Empfehlungen an die Europaratsstaaten Zur Erreichung seiner Ziele kann sich der Europarat auch rechtlich nicht verbindlicher Empfehlungen (Art. 15 lit. a und b. S. 1 ERS) bedienen,387 die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Konventionsrechtsentwicklung haben können.388 Mittels Resolutionen oder Empfehlungen kann das Ministerkomitee des Europarates auch jenseits konkreter Vertragsverfahren normativ in Bereichen tätig werden, wo ein Menschenwürdebezug besteht bzw. ein spezifisches menschenrechtliches Problem auftritt.389 Um die Ziele des Europarates zu erreichen, arbeitet der Europäische Ausschuss für Strafrechtsfragen (CDPC)390 seit 1958, also seit mittlerweile 60 Jahren, an einer verbesserten Zusammenarbeit im Strafrecht im Wege einer teilweisen europäischen Strafrechtsharmonisierung.391 Hierbei konzen­ 385  Winter, Europäisches Protokoll zum Verbot des Klonens menschlicher Lebewesen, Rn. 173 (177 ff.). 386  Statt vieler: EGMR, Entsch. v. 27.06.2017, Gard and others v. United Kingdom, Nr. 39793/17, Rn. 52. 387  Boillat, Penitentiary Questions, S. 9; zur Anti-Folterkommission Morgan, The European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman and Degrading Treatment or Punishment, S. 717 (717 ff.). 388  EGMR, 10.02.2011, Soltysyak v. Russia, Nr. 4663/05, Rn. 51; EGMR (GK), 27.04.2010, Tanase v. Moldova, Nr. 7/08, Rn. 176; vgl. Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 270, 293. Vgl. Charney, AJIL 1993, S. 529 (543 ff.); Ronc, ex ante 2017, S. 67 (69 ff.); Zemanek, LA Seidl-Hohenveldern, S. 843 ff. Zunehmende normative Bedeutung von sich kooperativ in internationalen Organisationen bildenden und vollziehenden Sollensforderungen: Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, S. 244: Praktiken der Organe einer internationalen Organisation ersetzen in ihrer rechtsnormativen Bedeutung immer mehr das konkrete Handeln des einzelnen Staates. Vgl. Matscher, Vertragsauslegung, S. 545 (562). Im Bereich des Strafvollzugs kann man mittlerweile von einem integrierten System sprechen. Rechtsfortbildungprozesse werden im Völkerrecht in erheblichem Masse durch rechtlich unverbindliche und doch einflussreiche Dokumente (Soft Law) vorangetrieben: Bryde, Der Staat 2003, S. 61 (65); von Ungern-Sternberg, AVR 2013, S. 312 (317). Vgl. statt vieler: EGMR (GK), 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, Nr. 34503/97, Rn. 69 ff. 389  Solche Resolutionen oder Empfehlungen sind rechtlich nicht bindend. 390  European Committee on Crime Problems. 391  Sowohl der Ausschuss als auch seine Unterausschüsse sind mit renommierten Fachleuten besetzt, die aufgrund ihrer Spezialkenntnisse mit der Untersuchung be-

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

triert sich der Ausschuss u. a. auf die Behandlung inhaftierter Personen; ausserdem erörtert er relevante Fragen der Strafvollstreckung, des Strafvollzugs, der Kriminologie sowie der Strafrechtspolitik und formuliert Bedürfnisse und Herausforderungen in der paneuropäischen Zusammenarbeit.392 Dabei kann das CDPC vom Ministerkomitee mit der Vorbereitung von Empfehlungen betraut werden, wofür es selbständig Unterausschüsse aus Fachexperten einberufen kann.393 Unter dem Dach des Europarates ist eine Fülle an Empfehlungen zur Verbesserung der menschenrechtlichen Situation im Strafvollzug und der Strafvollstreckung ergangen. Keine andere Organisation hat im Bereich der Haftbedingungen und Strafvollzugsgrundsätze mehr geleistet als der Europarat.394 Besonders bedeutsam sind Empfehlungen zum Umgang mit gefährlichen Gefangenen395 und Langzeit- bzw. lebenslänglich Inhaftierten oder zur vorzeitigen Haftentlassung.396 Ultimatives Ziel all dieser Regelwerke ist die Etablierung eines humanen Strafvollzugs- und Sanktionensystems, das den aktuellen wissenschaftlichen und menschenrechtlichen Stand widerspiegelt.397 Solche rechtlich nicht verbindlichen Instrumente haben in den letzten Jahren stark zugenommen.398 Flankiert werden sie durch sog. Explanatory Reports, die den zuständigen Verwaltungs- und Vollzugsbehörden als Auslegungsanleitung dienen sollen.399 Dass diese Instrumente trotz ihres rechtlich nicht bindenden Charakters längerfristig durchaus Bindungswirkung zeitigen,400 ist stimmter Probleme betraut wurden und sowohl Grundlagenforschung betreiben als auch Vorarbeiten zu Instrumenten des Europarats leisten: Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 256. 392  Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 257. 393  Z. B. das Committee of Experts on the Operation of European Conventions in the Penal Field/PC-OC oder der Council for Penological Co-Operation/PC-CP; s.:  https://www.coe.int/en/web/prison/council-for-penological-co-operation (zuletzt abgerufen am 03.06.2019). 394  Weiterführend zu den Aktivitäten des Europarats im Strafrecht: Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 276 ff.; vgl. ferner van Zyl Smit/Snacken, Principles of European Prison Law and Policy, S. 86 ff., 176 ff. 395  Recommendation CM/Rec (2014) 3 concerning dangerous offenders. 396  Recommendation CM/Rec (2010) 1 on the Council of Europe Probation Rules; Rec (2003) 23 on the management of life-sentence and other long-term prisoners; Rec (2003) 22 concerning conditional release (parole). 397  Vgl. Albrecht H.-J., Prison Overcrowding, S. 36. 398  Vgl. Adorno, JMP 2009, S. 223 (225). 399  Richter Pinto de Albuquerque spricht in diesem Kontext von einer Zunahme der „normativen Dichte“ („normative density“), die zu einem „Erstarken“ des nor­ mativen Appells führen könne; EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13. 400  Vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 43.



B. Die Auslegung der EMRK109

letztlich auf das Wirken des EGMR zurückzuführen, der die Auslegung in der Hand hat.401 Wesentlich begünstigt wurde bzw. wird die Bindungswirkung durch verschiedene Faktoren, namentlich die präskriptive Sprache einzelner Regelungen,402 die wiederholt einstimmige Annahme durch alle Europaratsstaaten403 sowie durch einen gewissen „Verdoppelungseffekt“ im Zusammenwirken der einzelnen Normen.404 Weitere rechtspolitische Faktoren, die der Befolgung zuträglich sind, können hinzutreten. Langzeitig wird der Bindungseffekt auch dadurch verstärkt, dass sich gewisse normative Vorgaben (in verschiedenen Regelwerken) wiederholen, was als Konsens der Staaten gelesen werden kann. So hat die Revidierung der „European Prison Rules 1987“ zusammen mit der Verarbeitung und Implementierung der bis anhin publizierten EGMR-Rechtsprechung in Haftsachen, die als Amalgam in die „European Prison Rules von 2006“ mündeten, zu einer deutlichen Verstärkung des normativen Appells der Neufassung ge401  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 44; Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 39; vgl. Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 40 f., 43; EGMR, 29.03.2006, Scordino v. Italy (no. 1), Nr. 36813/97, Rn. 73 f. 402  Vgl. Glas, HRLR 2017, S. 97 ff. 403  Für Empfehlungen an die Regierungen der Europaratsstaaten ist Einstimmigkeit der abgegebenen Stimmen vonnöten (Art. 20 lit. a ERS). 404  D. h. wenn eine normative Forderung, wie bpsw. die Möglichkeit der vorzeitigen Haftentlassung, von diversen Instrumenten oder Berichten gefordert wird: Ein Beispiel hierfür ist das Prinzip der „Individualisierung“ in Haft, welches u. a. inhaftierte Personen dazu befähigen soll, „in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“: Recommendation Rec (2006) 2, § 102.1 u.107.1; Recommendation Rec (2003) 23 on the management of life-sentence and other long-term prisoners; Nelson Mandela Rules, § 4 und § 91; Recommendation Rec (2014) 3 concerning dangerous offenders, § 22. So anerkennt bspw. das Ministerkomitee des Europarats in Recommendation Rec (2003) 22 concerning conditional release (parole), Preambule, „dass die bedingte Entlassung eine besonders wirksame und konstruktive Massnahme darstellt, um die Rückfallkriminalität zu verhindern und die Resozialisierung von Strafgefangenen in die freie Gesellschaft nach Plan und unter Gewährung von Beistand sowie flankiert von Überwachungsmassnahmen zu fördern“. Auch in Recommendation Rec (2006) 2 wird indes gefordert, dass jede Haft auf die Resozialierung und die soziale Wiedereingliederung hinzielen müsse. Ferner wird auch in der Recommendation Rec (2003) 23 ‚on the management of life-sentence and other longterm prisoners‘ gefordert, dass die Haft endlich sein müsse. Der EGMR scheint insbesondere durch die European Prison Rules 2006 auf eine gemeinsame europäische Strafvollzugspolitik zu schliessen. Vgl. Renucci, Droit européen des droits de l’homme, S. 35 f. Krit. Rochner, Strafvollstreckung und Strafvollzug im internationalen Strafrecht, S. 49, der diesen Instrumenten keinen eigenständigen rechtlichen Wert zuspricht, was nach hier vertretener Ansicht in dieser apodiktischen Form zu kurz greift.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

führt.405 Im Zentrum steht dabei der Schutz der Menschenwürde, der durch Einzelgarantien realisiert werden soll.406 Die besondere normative Bedeutung dieser Empfehlungen zeigt sich in der Rechtsprechung des EGMR, namentlich an der Einbindung in die Rechtsvergleichung.407 Die Beteuerung der Europaratsstaaten, für bestimmte Werte und Grundsätze einzustehen, kann eine „Aushärtung“ bestimmter Regelungen bewirken. So hat denn auch Richter Pinto de Albuquerque festgehalten, dass die Erneuerung bestimmter Sollens-Normen und die Überlappung ähnlicher Regeln (in verschiedenen Resolutionen) zu einer normativen Dichte („normative density“) führen könne, die letztlich als eine Form des „Erstarkens“ von Soft Law zu Hard Law („hardening of soft law“) zu qualifizieren sei.408 Tatsächlich muss man angesichts der Komplexität, welche die zunehmende Rechtsverdichtung im europäischen Mehrebenensystem mit sich bringt, unumwunden konstatieren, dass dies zulasten der Rechtssicherheit und des Rechtsanwenders geht, da der Einbezug von Soft Law methodisch nicht unumstritten und die Gewichtung im Einzelfall schwer vorhersehbar ist. So verwischen sich bspw. im Bereich des Strafvollzugs die Grenzen zwischen europäischer Vollzugspolitik und Grundrechtsschutz, sodass vorab kaum ersichtlich ist, wann welche Soft-Law-Bestimmungen durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs „zu subjektiven Rechten mutieren“.409 Es ist nicht abschliessend geklärt, welche nationalen, unionalen oder internationalen Konzepte auch für die EMRK (und vor allem in welchem Grade) relevant sind und sein werden. 405  Vgl. McCormick, The European Prison Rules, Contextual, philosophical and practical aspects, S. 198 (212). Das Ministerkomitee beauftragt die spezifischen Akteure des Europarates mit der Vorbereitung von Entwürfen, wobei die Entwurfsarbeit und Grundlagenforschung in Fachausschüssen erfolgt; vgl. EGMR, 01.09.2015, Ustyugov v. Ukraine, Nr. 251/04. 406  Van Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonment, S. 18 ff., 206 ff.; Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, Preambule u. § 6. 407  Vgl. EGMR, 08.07.2014, Harakchiev and Tomulov v. Bulgaria, Nr. 15018/11 (2014), Rn. 204: „Moreover, it runs counter to (…) instruments to which the Court attaches considerable importance despite their non-binding character (…)“. Für den EGMR sind sie ein weiteres Mittel, um einen europäischen Grundkonsens im Strafrechtsbereich erkennen, bestätigen oder widerlegen zu können; Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 78 f. Zu erwähnen ist die Recommendation Rec No. (92) 17 of the Committee of Ministers to Member States concerning Consistency of Sentencing, welche unter Teil A § 4 ein strafrechtliches Übermassverbot postuliert, indem sie unverhältnismässige Strafen zu verhindern sucht; Europaratsstaaten sollen Grund und Zweck einer Strafe („rationales for sentencing“) darlegen, A § 1, sowie die Strafzwecke von Zeit zu Zeit neu überprüfen und im Hinblick auf neue gemeineuropäische Tendenzen kritisch beurteilen. 408  EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, partly dissenting opinion of Judge Pinto de Albuquerque m. w. N. 409  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 44.



B. Die Auslegung der EMRK111

cc) Berichte des Europäischen Anti-Folterkomitees Ein weiterer Eckpfeiler, der zu einer enormen Ausdifferenzierung des würderelevanten Individualrechtsschutzes geführt hat, sind die Evaluations- und Tatsachenberichte („fact finding“) des Europäischen Anti-Folter-Komitees (CPT),410 die mittlerweile zu einem festen Bestandteil in der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Strafsachen geworden sind.411 Das CPT erstellt Berichte über spezifische Haftinstitutionen, Länderberichte und auch jährliche Berichte, worin allgemeine Prinzipien zusammengefasst und aktuelle Entwicklungen innerhalb des paneuropäischen Raums abgehandelt werden: „[The CPT] wishes to emphasise at the outset that the act of depriving someone of his liberty brings with it the responsibility for the State to detain him under conditions which respect the inherent dignity of the human person“.412

Das CPT kann unangemeldet Haftanstalten besuchen und mit den Insassen allein Gespräche führen. Mittlerweile haben sich „CPT-Standards“, die auch Soft Law darstellen, zu spezifischen Themenbereichen entwickelt.413 Die Überzeugungskraft der CPT-Berichte sowie der generisch entwickelten Haft- und Strafvollzugsstandards basiert auf medizinischer Expertise und der transdisziplinären Zusammensetzung des Gremiums.414 Das CPT deduziert aus seiner wissenschaftlichen Expertise durchaus normative Standards und schreckt auch nicht davor zurück, die materiellen Haftbedingungen in einzelnen Staaten als Angriff auf die Menschenwürde („affront to human dignity“) zu taxieren, bspw. wegen unzureichender Privatsphäre, Mangel an Betten oder schlechter Trennung von Toilette und Wohnraum (Schlafraum).415 410  Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) gründet auf einem völkerrechtlichen Vertrag: European Convention for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (1987), ETS Nr. 126. 411  Rodley/Pollard, The Treatment of Prisoners under International Law, S. 396. 412  CPT/Inf (94) 20, Rn. 95; CPT/Inf (97) 1, Rn. 61. 413  Obwohl keine Publikationspflicht besteht, werden Berichte und Empfehlungen sowie die Stellungnahmen der Regierungen grundsätzlich veröffentlicht; einsehbar unter: https://www.coe.int/et/web/cpt/home (zuletzt abgerufen am 03.06.2019). 414  Murdoch, The Treatment of Prisoners, S. 212 ff.; vgl. Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 283. 415  Berichte zitiert in: EGMR, 13.10.2009, Eugen Gabriel Radu v. Romania, Nr. 3036/04, Rn. 14, 31 ff.; EGMR, 30.06.2009, Artimenco v. Romania, Nr. 12535/04, Rn.  22  ff., 36  f.; EGMR, 06.12.2007, Brăgădireanu v. Romania, Nr. 22088/04, Rn. 73 ff., 84, 95; EGMR, 10.08.2006, Yordanov v. Bulgaria, Nr. 50899/99, Rn. 36: „The CPT concluded that the Bulgarian authorities had failed in their obligation to provide detention conditions which were consistent with the inherent dignity of the human person and that almost without exception, the conditions in the Investigation

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

In solchen Fachgremien artikulierte wissenschaftliche Erkenntnisse, bspw. zu psychischen Haftschäden, werden vom Gerichtshof nicht ignoriert.416 Vielmehr erachtet dieser die CPT-Standards als normative Orientierungspunkte,417 auf die er häufig Bezug nimmt und die ihn in seiner Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK inspirieren.418 Für den fortschreitenden Menschenwürdeschutz in der EMRK müssen daher diese Standards beachtet werden. Als Beispiel diene, dass der Gerichtshof bei der Eruierung einer angemessenen Zellen­ grösse auf die vom CPT aufgestellten Richtwerte schaut (ohne sie als absolute Regeln festzusetzen).419

Service detention facilities visited could fairly be described as inhuman and degrading“; EGMR, 10.08.2006, Dobrev v. Bulgaria, Nr. 55389/00, Rn. 44: „In reaction, the Bulgarian authorities agreed that the CPT delegationʼs assessment had been ‚objective and correctly presented‘ but indicated that the options for improvement were limited by the countryʼs difficult financial circumstances“. 416  Weiterführend Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 55 f. („Consensus among experts“); vgl. Loader/ Sparks, Knowledge Politics and Penal Penal Politics in Europe, S. 53 (53 ff.); EGMR, 09.01.2003, L. and V. v. Austria, Nr. 39392/98 u. 39829/98, Rn. 47; für den Bereich der Vollzugsstandards s. Ronc, ex ante 2017, S. 67 (72 ff.). 417  EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 111. 418  EGMR, 17.12.2009, M. v. Germany, Nr. 19359/04, Rn. 129: „The Court agrees with the findings of both the Council of Europe’s Commissioner for Human Rights (…) and the CPT (…) that persons subject to preventive detention, in view of its potentially indefinite duration, are in particular need of psychological care and support. The achievement of the objective of crime prevention would require, as stated convincingly by the CPT (…) ‚a high level of care involving a team of multi-disciplinary staff, intensive work with inmates on an individual basis (…), within a coherent framework for progression towards release, which should be a real option‘. The Court considers that persons subject to preventive detention orders must be afforded such support and care as part of a genuine attempt to reduce the risk that they will reoffend, thus serving the purpose of crime prevention and making their release possible. The Court does not lose sight of the fact that ‚[w]orking with this group of inmates is bound to be one of the hardest challenges facing prison staff‘ (…)“. Auch nationale Gerichte beziehen sich auf Instrumente und Berichte des CPT: Vgl. BVerfG, Urt. v. 31.05.2006, NJW 2006, S. 2093: Grundrechtliche Anforderungen würden möglicherweise dann nicht erfüllt, wenn völkerrechtliche Vorgaben oder internationale Stan­ dards mit Menschenrechtsbezug, wie etwa die Empfehlungen des Europarats, nicht beachtet bzw. unterschritten werden. 419  Vgl. Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn. 81.



B. Die Auslegung der EMRK113

2. Ebene der EU Der Europäische Konvent lässt die im Jahr 2000 proklamierte Europäische Grundrechte-Charta mit einer Würdenorm beginnen.420 Zuvor hatte der EuGH die Menschenwürde als ungeschriebenes Grundrecht herausgearbeitet und aus ihr das Verbot, menschliche embryonale Stammzellen zu patentieren, hergeleitet.421 Die 28 Staaten der EU sind kraft ihrer Mitgliedschaft bzw. kraft der Europäischen Grundrechtecharta verpflichtet, die Menschenwürde bei der Umsetzung von Unionsrecht zu schützen (Art. 1 EU-GRCh). Insoweit kann gesagt werden, dass der Anspruch auf Achtung der menschlichen Würde positivrechtlich in allen Europaratsstaaten verankert ist und eine sich selbst legitimierende Dimension besitzt422 – wenngleich sich aufgrund der zuweilen haarsträubenden Berichte aus europäischen Grenzgebieten und dem Mittelmeerraum rechtssoziologisch derzeit eher das Gegenteil belegen lässt. Den genauen sachlichen Gehalt der relativ jungen Norm hat der EuGH bislang aber weitgehend offengelassen. Das war auch in einer Rechtssache der Fall, in der ein deutsches Ordnungsamt ein Spiel, bei dem Tötungen durch Lasergewehre simuliert wurden, als Verletzung der Würde des Menschen taxiert hatte. Der EuGH hielt fest, dass die europäische Rechtsordnung „unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes“ abziele und dass „in Deutschland dem Grundsatz der Achtung der Menschenwürde die besondere Stellung eines eigenständigen Grundrechts“ zukomme. Es sei des Weiteren nicht zwingend notwendig, „dass die von den Behörden eines Mitgliedstaates erlassene beschränkende Massnahme einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung darüber“ entspreche, „wie das betreffende Grundrechte oder berechtigte Interesse zu schützen“ sei. Mit anderen Worten können und dürfen sich dem EuGH zufolge die mitgliedstaatlichen Vorstellungen über Art und Umfang 420  Art. 1 EU-GRCh: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen“. 421  EuGH, Rs. C-377/98, Netherlands v. European Parliament, Slg. 2001, I-07079, Urt. v. 09.10.2001, Rn. 70; vgl. EuGH, Rs. C-34/10, Oliver Brüstle v. Greenpeace e. V., Slg. 2011, I-09821, Urt. v.18.10.2011, Rn. 33. 422  So Rousseau, Concluding Report, S. 102 (104); Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 261; Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S.  20 f.; Konvergenztheorie: Lindner, RW 2011, S. 1 (15). Auch wenn die Menschenwürde zumindest als Grundkonzept erscheint und es einen weitgehenden Konsens über den Wert und Achtungsanspruch zu geben scheint, so ist damit noch nichts über die konkrete Funktionsweise des Würdebegriffs gesagt. Pache, Vorgaben des Menschenwürdeschutzes in Europa, S. 23 (26): „Gemeinsame europäische Verfassungstradition“. Die Offenheit und Vielschichtigkeit kann durch einen europäischen Verfassungsrechtsvergleich i. S. e. Konsenssuche nicht beseitigt, sondern eher noch pointiert aufgezeigt werden.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

des Menschenwürdeschutzes unterscheiden. Es wird sich künftig zeigen, inwieweit die Menschenwürdenorm der EU-GRCh auf die Konvention wirkt und vice versa.423 3. Mitgliedstaatliche Ebene (Europarat) a) Übersicht Aus grundrechtlicher Perspektive bildet die EMRK einen Eckpfeiler eines demokratischen Rechtsstaats paneuropäischer Prägung, der – um nationale Spezifika reduziert – mit „gemeineuropäischen Verfassungstraditionen aufgeladen“ ist.424 Die Menschenwürde ist eine „kulturanthropologische Prämisse“ Europas.425 Dieser Befund kann nicht ohne Wirkung in der Rechtsprechung bleiben. Die EMRK befindet sich letztlich in einem Wechselwirkungsverhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen, ohne dabei ihre autonome Rolle als supranationale Schutzgarantin für die Bürgerinnen und Bürger Europas aufzugeben. Die Menschenwürde figuriert in den Verfassungen von 32 der 47 Mitgliedstaaten des Europarates. Unter den Verfassungen, die die Menschenwürde nicht explizit statuiert haben – namentlich Liechtenstein, Monaco, Frankreich,426 das Vereinigte Königreich,427 Island, Dänemark, Norwegen, Malta, San Marino und Zypern – haben sich richterrechtliche Menschenwürdekonzeptionen etabliert.428 423  Als Normtextnachweis bezieht sich der Gerichtshof jedenfalls auf die Würde in der EU-GRCh: EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 46 lit. e. 424  Grabenwarter, VVDStRL 2001, S. 290 (316). 425  Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S.  534 ff. 426  Dabei bezieht sich der Conseil Constitutionnel (CC 27.07.1994) auf die Präambel der Verfassung von 1946: „Au lendemain de la victoire remportée par les peuples libres sur les régimes qui ont tenté d’asservir et de dégrader la personne humaine, le peuple français proclame à nouveau que tout être humain (…) possède des droits inaliénables et sacrés“. Kraft Richterrecht ist die Menschenwürde in Frankreich seit 1994 eine anerkannte Rechtskategorie: s. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 57. 427  Im angelsächsischen Rechtskreis war die Menschenwürde bis vor kurzem nicht sonderlich verbreitet. Allerdings wird sie in der Rechtswissenschaft mittlerweile eingehend diskutiert, wobei sich kein Konsens ausmachen lässt. Statt vieler: krit. Feldman, PL 1999, S. 682 (699 ff.); befürwortend: Capps, Human Dignity and the Foundation of International Law, S. 105 ff. Seit Inkorporierung des Human Rights Act 1998 wurde die EMRK und somit auch die konventionsrechtliche Menschenwürde in das nationale britische Recht inkorporiert. 428  So insbesondere in Frankreich und im Vereinigten Königreich.



B. Die Auslegung der EMRK115

Die Kodifizierung des juridischen Menschenwürdebegriffs begann mit der irischen Verfassung von 1937.429 Der Rechtsbegriff taucht auch bereits in der Weimarer Reichsverfassung auf, wo formuliert ist, dass sich die Wirtschaft am Ziel der Gewährleistung eines „menschenwürdigen Daseins“ für alle orientieren soll.430 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Menschenwürde in vielen europäischen Staaten wie Deutschland (1949),431 Italien (1948),432 Finnland (1999),433 Portugal (1976),434 Spanien (nach dem Ende der Diktatur 429  In der Präambel der Verfassung der Republik Irland vom 01.07.1937 heisst es: „In the Name of the most Holy Trinity, from Whom all authority and to Whom, as our final end, all actions both of men and States must be referred, We the people of Éire, humbly acknowledging all our obligations to our Divine Lord, Jesus Christ, Who sustained our fathers through centuries of trial, Gratefully remembering their heroic and unremitting struggle to regain the rightful independence of our Nation, and seeking to promote the common good, with due observance of Prudence, Justice and Charity, so that the dignity and freedom of the individual may be assured, true social order attained, the unity of our country restored, and concord established with other nations, Do hereby adopt, enact, and give to ourselves this Constitution“. 430  Art. 151 Weimarer Reichsverfassung. 431  Art. 1 Abs. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Das GG wurde etwa zeitgleich zur AEMR beraten und der Parlamentarische Rat schenkte diesen Beratungen grosse Beachtung; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 51. Achtung der Menschenwürde als Verpflichtung der neuen Ordnung: Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 31 ff. Starke Anlehnung an Würde-Rechtsprechung des BVerfG, in: EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr.  66069/09 u. a., Rn. 71. 432  Verletzungstatbestand eingefügt in Art. 27 Abs. 3 Verfassung Italien: „Punishment may not be inhuman and shall aim at re-educating the convicted“. Bezugnahme auf Verfassung Italiens bzw. Rechtsprechung des Verfassungsgerichthofes, in: EKMR, 06.05.1978, Kotälla v. Netherlands, Nr. 7994/77, The Law Rn. 2; EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 72. Schutz der Würde einer Leihmutter: EGMR (GK), 24.01.2017, Campanelli v. Italy, Nr. 25358/12, Rn. 70; EGMR (GK), 24.01.2017, Paradiso and Campanelli v. Italy, Nr. 25358/12, Rn. 70; EGMR, 21.07.2015, Oliari and others v. Italy, Nr. 18766/11 u. 36030/11, Rn. 33. S. Becchi, Menschenwürde: die italienische verfassungsrechtliche Variante im Vergleich zur deutschen, S. 107 (108), der auf Eigenheiten der italienischen Würdenorm eingeht und sie von der deutschen Würdenorm abgrenzt. 433  Art. 1 Verfassung Finnland: „The constitution shall guarantee the inviolability of human dignity and the freedom and rights of the individual and promote justice in society“; Art. 7: „No one shall be sentenced to death, tortured or otherwise treated in a manner violating human dignity“; Art. 9: „A foreigner shall not be deported, extradited or returned to another country, if in consequence he or she is in danger of a death sentence, torture or other treatment violating human dignity“; zitiert in: EGMR, Entsch. v. 09.12.2014, T. and others v. Finland, Nr. 56580/13, Rn. 18. 434  Art. 1 Verfassung Portugal: „Portugal shall be a sovereign Republic, based on the dignity of the human person and the will of the people and committed to building a free, just and solidary society“; Art. 13 Abs. 1: „Every citizen shall possess the same social dignity and shall be equal before the law“; Art. 26 Abs. 2: „The law shall

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

unter General Franco, 1978)435 oder Polen (1997)436 auf Verfassungsstufe eingeführt. All diese Verfassungstexte bezieht der EGMR in seine Urteile mit ein.437 Da aber der alleinige Textnachweis in anderen Verfassungen für eine Falllösung nicht viel weiterhilft, stützt sich der EGMR darüber hinaus auf Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Interpretation und Praxis in Bezug auf die Würde des Menschen. Diese Erkenntnisse hat der EGMR transparent zu machen,438 um auf diesem „Rechtsboden“ sodann einen autonomen Menschenwürdebegriff bilden zu können. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und genden demokratischen Transitionsphase wurden in blockstaaten neue Verfassungen verabschiedet oder Grundrechtsteil ergänzt, worin die Menschenwürde

während der nachfol­ den ehemaligen Ostbestehende um einen prominent eingebettet

lay down effective guarantees against the procurement and misuse of information concerning persons and families and its use contrary to human dignity“; Art. 206: „Court hearings shall be public, save in the event that in order to safeguard personal dignity or public morals, or to ensure its own proper operation, the court in question rules otherwise in a written order setting out the grounds for its decision“. 435  Art. 10 Abs. 1 Verfassung Spanien: „The dignity of the person, the inviolable rights which are inherent, the free development of the personality, the respect for the law and for the rights of others are the foundation of political order and social peace“; vgl. EGMR, 15.03.2011, Otegi Mondragon v. Spain, Nr. 2034/07, Rn. 14 ff., 57; EGMR, 08.12.2009, Aguilera Jiménez v. Spain, Nr. 28389/06, Rn. 28, 36 (Schutz der Würde des Amtes als Einschränkung von Art. 10 EMRK durch den EGMR akzep­ tiert); EGMR, Entsch. v. 26.10.2000, Sanles Sanles v. Spain, Nr. 48335/99 (Recht auf Sterben in Würde als höchstpersönliches Recht); EGMR, Entsch. v. 28.10.1999, De La Cierva Osorio de Moscoso and others v. Spain, Nr. 41127/98 (Adelstitel wird vom EGMR nicht als Bestandteil persönlicher Würde erachtet). 436  Präambel Verfassung Polen (Auszug): „We call upon all those who will apply this Constitution for the good of the Third Republic to do so paying respect to the inherent dignity of the person, his or her right to freedom, the obligation of solidarity with others, and respect for these principles as the unshakeable foundation of the Republic of Poland“; Art. 30: „The inherent and inalienable dignity of the person shall constitute a source of freedoms and rights of persons and citizens. It shall be inviolable. The respect and protection thereof shall be the obligation of public authorities“; vgl. EGMR, Entsch. v. 03.02.2015, Prandota v. Poland, Nr. 29055/09, Rn. 35. 437  Einen wertvollen Überblick – allerdings nur über die EU-Staaten – liefert Bigaut, La Charte des droits fondamentaux, Paris 2002. Nicht unerheblich dürfte sein, dass heute bedeutende Konventionsstaaten wie das Vereinigte Königreich, das früher keinen Rechtsbegriff der Menschenwürde kannte, einen solchen nun als „weiches“ normatives Prinzip anerkennt. Auch britische Gerichte beziehen sich jüngst öfters auf die „human dignity“: Feldman, PL 1999, S. 682 ff.; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 56 ff. Dies spricht für eine nationale Anerkennung im Wege wertender Rechtsvergleichung. 438  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/06 u. a., Rn. 69 ff.; EGMR (GK), 01.07.2014, S. A. S. v. France, Nr. 43835/11, Rn. 24 ff.



B. Die Auslegung der EMRK117

wurde:439 Explizit normiert wurde der Schutz der menschlichen Würde in ­Ungarn (1989),440 Kroatien (1990),441 Albanien (1998),442 Bulgarien (1991),443 Slowenien (1991),444 Mazedonien (1991),445 Estland (1992)446, Litauen 439  Der EGMR hat nicht nur Auffassungen von westlich geprägten Europaratsstaaten zu berücksichtigen, sondern eben auch Würdeverständnisse ehemaliger Staaten der Sowjetunion; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 145. 440  Art. 54 Verfassung Ungarn: „In the Republic of Hungary everyone has the inherent right to life and to human dignity. No one shall be arbitrarily denied of these rights“; In Ungarn fungiert die Menschenwürde als subjektives Grundrecht und wird auch zur Schliessung von Schutzlücken herangezogen; Kirste, Menschenwürde und Freiheitsrechte des Status Activus, S. 187 (205); Callies, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 133 (145); vgl. ferner McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (688, 699). In inhaltlicher Hinsicht besteht die Menschenwürde primär aus der Autonomie und Individualität des Menschen; Dupré, Importing the Law in Post-Communist Transition, S. 108, 122. 441  Art. 25 Verfassung Kroatien: „Any arrested and convicted person shall be accorded humane treatment, and the dignity of such individual shall be respected“; Art. 35: „Respect for and legal protection of each person’s private and family life, dignity, reputation shall be guaranteed“; Bezugnahme auf verfassungsrechtliche Würdenorm in: EGMR, 04.10.2016, Travaš v. Croatia, Nr. 75581/13, Rn. 31; EGMR, 11.12.2012, Remetin v. Croatia, Nr. 29525/10, Rn. 57, 83; EGMR, 12.06.2014, Marić v. Croatia, Nr.  50132/12, Rn.  34; EGMR, 24.04.2014, Udovičić v. Croatia, Nr. 27310/99, Rn. 102 (Relevant Domestic Law); EGMR, 18.03.2014, Zahi v. Croatia, Nr. 2546/09, Rn. 41 (Relevant Domestic Law). 442  Art. 3 Verfassung Albanien: „The independence of the state and the integrity of its territory, the dignity of the person, his rights and freedoms, social justice, the constitutional order, pluralism, national identity and inheritance, religious coexistence, and coexistence with, and understanding of Albanians for, minorities are the bases of this state, which has the duty of respecting and protecting them“; Art. 28 Abs. 5: „Every person whose liberty was taken away pursuant to article 27 has the right to humane treatment and respect for his dignity“. 443  Präambel Verfassung Bulgarien (Auszug): „by holding as the highest principle the rights, dignity and security of the individual“; Art. 4 Abs. 2: „The Republic of Bulgaria shall guarantee the life, dignity and rights of the individual and shall create conditions conducive to the free development of the individual and of civil society“; Art. 6 Abs. 1: „All persons are born free and equal in dignity and rights“; Art. 32 Abs. 1: „The privacy of citizens shall be inviolable. Everyone shall be entitled to protection against any unlawful interference in his private or family affairs and against encroachments on his honour, dignity and reputation“; vgl. EGMR, 15.10.2013, Gutsanovi v. Bulgaria, Nr. 34529/10, Rn. 93 (die nach bulgarischem Recht mögliche Menschenwürderüge bietet appropriate redress für Verletzung von Art. 3 EMRK); EGMR, 19.02.2013, Harakchiev and Tomulov, Nr. 15018/11 u. a., Rn. 24, 42. 444  Art. 21 Verfassung Slowenien: „Respect for human personality and dignity shall be guaranteed in criminal and in all other legal proceedings, as well as during the deprivation of liberty and enforcement of punitive sanctions. Violence of any form on any person whose liberty has been restricted in any way is prohibited, as is the use of any form of coercion in obtaining confessions and statements“; Art. 34: „Everyone has the right to personal dignity and safety“; EGMR, 11.03.2014, Jelševar and others v. Slovenia, Nr. 47318/07 (Relevant Domestic Law and Practice).

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

(1992),447 der Slowakei (1992),448 Tschechien (1992),449 Russland (1993),450 Moldawien (1994),451 Armenien (1995),452 Aserbaidschan (1995),453 Geor445  Art. 11 Verfassung Mazedonien: „The human right to physical and moral dignity is irrevocable. Any form of torture, or inhuman or humiliating conduct or punishment, is prohibited. Forced labour is prohibited“; Art. 25: „Each citizen is guaranteed the respect and protection of the privacy of his/her personal and family life and of his/her dignity and repute“. 446  Art. 10 Verfassung Estland: „The rights, freedoms and duties set out in this Chapter shall not preclude other rights, freedoms and duties which arise from the spirit of the Constitution or are in accordance therewith, and conform to the principles of human dignity and of a state based on social justice, democracy, and the rule of law“; rezipierte Verfassungsrechtsprechung in: EGMR (GK), 16.06.2015, Delfi As v. Estonia, Nr. 64569/09, Rn. 114: „[T]he Court observes that the Supreme Court of Estonia found that the ‚legal assessment by the courts of the twenty comments of a derogatory nature [was] substantiated. The courts [had] correctly found that those comments [were] defamatory since they [were] of a vulgar nature, degrade[d] human dignity and contain[ed] threats“ (…) the Supreme Court reiterated that the comments degraded ‚human dignity‘ and were ‚clearly unlawful‘  “; vgl. ferner EGMR, 31.07.2014, Jaeger v. Estonia, Nr. 1574/13, Rn. 26. 447  Art. 21 Verfassung Lithauen: „Human dignity shall be protected by law. It shall be prohibited to torture, injure, degrade, or maltreat a person, as well as to establish such punishments. No person may be subjected to scientific or medical testing without his or her knowledge thereof and consent thereto“; Art. 22: „The law and the court shall protect individuals from arbitrary or unlawful interference in their private or family life, and from encroachment upon their honour and dignity“; Art. 25: „Freedom to express convictions, as well as to obtain and disseminate information, may not be restricted in any way other than as established by law, when it is necessary for the safeguard of the health, honour and dignity, private life, or morals of a person, or for the protection of constitutional order“; vgl. EGMR, 05.11.2013, Pauliukienė and Pauliukas v. Lithuania, Nr. 18310/06, Rn. 28 ff.; EGMR, Entsch. v. 13.12.2016, Žvagulis v. Lithuania, Nr. 8619/09, Rn. 26; EGMR, Entsch. v. 04.10.2016, A. Č. v. Lithuania, Nr.  59076/08, Rn.  27; EGMR, 14.06.2016, Biržietis v. Lithuania, Nr. 49304/09, Rn. 30: „That same question was examined by the Supreme Administrative Court of Lithuania in the applicant’s case (…), and that court held that the mere wish to grow a beard could not be considered an element of human dignity that is protected by law“. 448  Art. 12 Abs. 1 Verfassung Slowakei: „All human beings are free and equal in dignity and in rights. Their fundamental rights and freedoms are sanctioned, inalienable, imprescriptible and irreversible“; Art. 19 Abs. 1: „Everyone shall have the right to maintain and protect his or her dignity, honour, reputation and good name“; Art. 36 lit. a: „Employees shall have the right to fair and satisfactory conditions of work. The law shall ensure, in particular: the right to wages for the work performed, sufficient to secure a dignified standard of life“; EGMR, 20.06.2006, Babylonova v. Slovakia, Nr.  69146/01, Rn.  16 ff., 21 ff. 449  Vgl. Präambel Verfassung Tschechien (Auszug): „Faithful to all good traditions of the long-existing statehood of the lands of the Czech Crown, as well as of Czechoslovak statehood, resolved to build, safeguard, and develop the Czech Republic in the spirit of the sanctity of human dignity and liberty“.



B. Die Auslegung der EMRK119

gien (1995),454 Bosnien-Herzegowina (1995),455 der Ukraine (1996)456 und Polen (1997)457.458 Auch in der türkischen Verfassung ist die Würde des ­Menschen geschützt.459 450  Art. 21 Abs. 1 Verfassung Russland: „Human dignity shall be protected by the State. Nothing may serve as a basis for its derogation“. Auch in Russland hat sich die Menschenwürde zu einem wichtigen Rechtsbegriff entwickelt, auf den in der Verfassungsrechtsprechung rekurriert wird; Nussberger, Einführung in das russische Recht, S. 51; vgl. EGMR (GK), 04.12.2015, Roman Zakharov v. Russia, Nr. 47143/06, Rn. 23 ff.; EGMR, 18.04.2013, Ageyevy v. Russia, Nr. 7075/10, Rn. 103 f. 451  Art. 1 Abs. 3 Verfassung Moldawien: „Governed by the rule of law, the Republic of Moldova is a democratic State in which the dignity of people, their rights and freedoms, the open development of human personality, justice and political pluralism represent supreme values, that shall be guaranteed“; Art. 9 Abs. 2: „No property may be used to the prejudice of human rights, liberties and dignity“; Art. 32 Abs. 2: „The freedom of expression may not prejudice the honour, dignity or the right of the other person to hold his/her own viewpoint“. 452  Art. 3 Abs. 1 Verfassung Armenien: „The human being shall be the supreme value in the Republic of Armenia. The inalienable dignity of the human being shall be the integral basis of his rights and freedoms“; Art. 23: „Human dignity is inviolable“. 453  Art. 13 Abs. 3 Verfassung Aserbaidschan: „The property cannot be used against human rights and civil liberties, against interests of the society and State, against human dignity“; Art. 18 Abs. 2: „The spread and propaganda of religions (religious movements) which humiliate human dignity and contradict the principles of humanity are banned“; 46: „Everyone has the right to protect his or her honour and dignity“. 454  Art. 17 Abs. 1–3 Verfassung Georgien: „Human honour and dignity shall be inviolable. No one shall be subjected to torture, cruel, inhuman, or degrading treatment or punishment. Physical or mental coercion of a detainee or a person whose liberty has been otherwise restricted shall be inadmissible“; Art. 24 Abs. 4: Exercise of rights listed in the first and second paragraphs of this article may be restricted by law, to the extent and insofar as is necessary in a democratic society, in order to guarantee state security, territorial integrity or public safety, to prevent crime, to safeguard rights and dignity of others, to prevent the disclosure of information acknowledged as confidential, or to ensure the independence and impartiality of justice“. 455  Vgl. Präambel Verfassung Bosnien-Herzegowina: „Based on respect for human dignity, liberty, and equality“. 456  Art. 3 Verfassung Ukraine: „A man, his life and health, honour and dignity, inviolability and safety are recognised in Ukraine as the highest social social value“; Art. 21: „All people are free and even in the dignity and rights. Rights and freedoms of man are inalienable and inviolable“; Art. 28 Abs. 1: „Everybody has a right to respect to his dignity“; Art. 28 Abs. 2: „Nobody can be subject to torture, cruel, inhuman or degrading treatment or punishment that violates his or her dignity“; EGMR, 13.10.2016, Irina Smirnova v. Ukraine, Nr. 1870/05, Rn. 54, EGMR, 03.06.2014, Kolesnyk and others v. Ukraine, Nr. 57116/10 u. a., Rn. 50. 457  Vgl. Präambel Verfassung Polen: „We call upon all those who will apply this Constitution for the good of the Third Republic to do so paying respect to the inherent dignity of the person, his or her right to freedom, the obligation of solidarity with others, and respect for these principles as the unshakeable foundation of the Republic of Poland“; Art. 30: „The inherent and inalienable dignity of the person shall consti-

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Wenn nun anhand dieses Verfassungsvergleiches die Allgemeingültigkeit der Menschenwürde belegt ist, kann daraus nicht deren Einheitlichkeit im­ pliziert werden. Entscheidend ist vielmehr die Einpassung in die Eigenlogik und Erfordernisse der EMRK im konkreten Fall, weshalb nationale Menschenwürdenormen und -judikate „lediglich“ als Rechtserkenntnisquellen heranzuziehen sind.460 Solange die Auslegung der konventionsrechtlichen Würde den Grundprinzipien der EMRK Rechnung trägt und auf nationale Eigenheiten Rücksicht nimmt, kann sie in einem partikularistischen Rahmen ihren Rechtszweck erfüllen. Dass die Menschenwürde in den verschiedenen Staaten einen unterschiedlichen Normcharakter aufweist, erweist sich daher nicht nur als unschädlich, sondern entspricht vielmehr dem Wesen und der Methode der „wertenden Rechtsvergleichung“.461 In letzter Konsequenz spricht gerade die Pluralität und Multipolarität na­ tionaler Ansätze für ein offenes Menschenwürdeverständnis in der EMRK und mithin für das bereits erwähnte „Menschenwürde-Rahmenkonzept“.462 b) Beispiele aus der Rechtsprechung Die rechtsnormativen Gegebenheiten in den Ländern Europas spielen – allein mit Blick auf die normative Ausrichtung der Konvention463 – eine tute a source of freedoms and rights of persons and citizens. It shall be inviolable. The respect and protection thereof shall be the obligation of public authorities“. 458  Ein Überblick über 187 Verfassungen der Welt findet sich in: Flanz/Grote/ Wolfrum, Constitutions of the Countries in the World, Oxford 2013; oder unter: https://www.constituteproject.org/ (zuletzt abgerufen am 04.02.2019). 459  Art. 17 Abs. 3 Halbs. 2 Verfassung Türkei: „No one shall be subjected to torture or maltreatment; no one shall be subjected to penalties or treatment incompatible with human dignity“; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 150; Bostanci, Neue Regelungen in der türkischen Strafprozessordnung zur Verhinderung der Folter, S.  129 (132 f.). 460  Vgl. im Zusammenhag mit dem EuGH: Schmahl, Gleichheitsgarantien, in: Garbenwarter, EnzEuR, § 15 Rn. 8; vgl. jüngst EGMR (GK), 17.10.2019, Lopez Ribalda snd Others v. Spain, Nr. 1874/13 and 8567/13, Rn. 33. 461  Bei der wertenden Rechtsvergleichung handelt es sich nicht um eine normative Einbahnstrasse, sondern um komplexe Wechselwirkungen auf internationaler Ebene. 462  Vgl. die Omega-Entscheidung des EuGH, in der die Möglichkeit von diversen nationalen Menschenwürdekonzeptionen explizit anerkannt wurde; EuGH, Rs. C-36/02, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs GmbH, Slg. 2004, I-9609, Urt. v. 14.10.2004, Rn. 37 ff. 463  So hält denn auch die Präambel fest, dass die Signatarstaaten, welche vom „gleichen Geist beseelt“ sind und ein gemeinsames Erbe an Idealen teilen, entschlossen sind, eine engere Verbindung zwischen den Mitgliedern durch ein gemeinsames Verständnis und gemeinsame Achtung der Menschenrechte herzustellen; EMRK, Präambel.



B. Die Auslegung der EMRK121

kaum zu unterschätzende Rolle. Die Konvention ist Teil einer europäischen Verfassungsordnung („European constitutional order“).464 Konstitutives Merk­mal sind die geteilten verfassungsmässigen Rechte und Werte.465 Der EGMR berücksichtigt die innerstaatlichen Würdenormen und teilweise auch die Würdejudikatur, und er macht dies durch deren Auflistung unter der Urteilsrubrik „facts“ bzw. „relevant domestic law“ grundsätzlich transparent.466 Im Vordergrund steht dabei weniger eine unbesehene Übernahme nationaler Menschenwürdekonzepte auf Ebene der EMRK als die tatsächliche Berücksichtigung nationaler Verfassungstraditionen und Rechtsprechungslinien im konkret zu beurteilenden Fall: „In that connection, regard should also be had to the conclusions reached by the domestic courts in the framework of the criminal proceedings, with which the Government declared their broad agreement: according to the first-instance judgment, the conduct of the police inside the Diaz-Pertini School constituted a clear violation of the law, ‚of human dignity and of respect for the individual‘ (…); according to the appeal judgment, the officers systematically beat those inside the building in a cruel and sadistic manner“.467

Entscheidend ist, dass, obwohl der EGMR nationale Würdekonzeptionen „nur“ bedingt im Wege der wertenden Rechtsvergleichung heranziehen kann,468 die EMRK „durch die Summe der lokalen Menschenrechtsregime real gebildet“ wird.469 Die nationale Würde-Rechtsprechung prägt daher das Verständnis der konventionsrechtlichen Würde und umgekehrt. Essentiell für die Methode der wertenden Rechtsvergleichung ist nicht die Frage, ob ein spezifisches Menschenwürde-Grundrecht in allen Europaratsstaaten vorzufinden ist; ein solches hätte dem Grundrechtsschutz in Form 464  EGMR (GK), 18.12.1996, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 75; Gärditz, Menschenwürde, Biomedizin und europäischer Ordre Public, S. 11 (13 ff.); Häberle/ Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S.  534 ff.; Meyer-Ladewig, NJW 2004, S. 981 (981 ff.). 465  Giakoumopoulos, The principle of respect for human dignity, S. 11 (11 f.); vgl. Feldman, PL 1999, S. 682 (688 ff.); EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 65. 466  S. an dieser Stelle nur: EGMR, 20.12.2011, Finogenov v. Russia, Nr. 18299/03 u. 27311/03, Rn. 231 unter Verweis auf das Urteil BVerfGE 115, 118 zum Luftsicherheitsgesetz („It found, inter alia, that the use of lethal force against the persons on board who were not participants in the crime would be incompatible with their right to life and human dignity, as provided by the German Basic Law and interpreted in the jurisprudence of the Constitutional Court“). 467  EGMR, 07.04.2015, Cestaro v. Italy, Nr. 6884/11, Rn. 178. 468  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 153; statt vieler EGMR, 30.03.2010, Petrenco v. Moldova, Nr. 20928/05, Rn. 6 ff. (keine direkte Bezugnahme auf nationale Würde-Rechtsprechung in Rechtserwägungen des EGMR). 469  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 490.

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2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

eines – wenn überhaupt – äusserst rudimentären Minimalkonsenses Vorschub geleistet.470 Ein Minimalkonsens kann jedoch nicht das massgebliche Kriterium für Inhalt, Status und Funktion der konventionsrechtlichen Menschenwürde sein, wenn Würde tatsächlich ist, was von ihr behauptet wird.471 In der Rechtssache Gäfgen,472 welche die Androhung von Folter betraf, wurde die Menschenwürde in den Urteilsgründen des BVerfG473 prominent platziert. In den Urteilsgründen des EGMR taucht sie dagegen nicht explizit auf.474 Auch in einem anderen Fall, der eine Website betraf, auf der für menschliches Klonen geworben wurde, berief sich zwar das BGer auf die Würde des Menschen,475 nicht aber der Gerichtshof.476 Ein weiterer Fall betraf eine Plakataktion der deutschen Tierschutzorganisation PETA, in welcher die Verhältnisse in der Massentierhaltung bildlichen Darstellungen von KZ-Opfern gegenübergestellt wurden.477 Die nationalen Fachinstanzen erachteten diese Darstellung als Instrumentalisierung der KZ-Opfer und demnach als Verstoss gegen die Würde der Juden in Deutschland.478 Das BVerfG prüfte den Fall dann aber nur noch im Lichte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Vor dem EGMR spielte das Menschenwürdeargument gar keine Rolle mehr.479 In einem anderen Urteil hat die Grosse Kammer in Strassburg das Urteil des deutschen BVerfG480 zur lebenslangen Freiheitsstrafe sowie seine konkreten Äusserungen zur grundgesetzlichen Menschenwürde eingehend diskutiert: Nach dem BVerfG liegt der Menschenwürde die Vorstellung vom Menschen als einem „geistig-sittlichen Wesen“ zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten.481 Freiheit wird 470  S. Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 1 m. w. N.; Lenaerts, ICQL 2003, S. 873 (873 ff.); Skouris, Methoden der Grundrechtsgewinnung in der EU, in: Merten/Papier, HBdGR, Bd. VI/1, § 157, Rn. 27 ff., jeweils m. w. N. 471  Carozza, zitiert aus: Jacob, Aspekte der Definition und Bewertung von Verletzungen der postulierten Menschenwürde, S. 253 (261). 472  EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05. 473  Nicht zuletzt deshalb, weil das GG kein eigenständiges Folterverbot kennt; BVerfG NJW 2005, S. 656. 474  Vgl. EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 162 ff. 475  BGer_1P.336/2005, Urt. v. 20.09.2005, Erw. 5.5.1. 476  EGMR (GK), 13.07.2012, Mouvement Raelien Suisse v. Switzerland, Nr. 16354/06, Rn. 48 ff. 477  EGMR, 08.11.2012, PETA Deutschland v. Germany, Nr. 43481/09. 478  LG Berlin, AfP 2004, 461. 479  BVerfGE, NJW 2009, S. 3089 (3090); EGMR, 08.11.2012, PETA Deutschland v. Germany, Nr. 43481/09, Rn. 42 ff. 480  BVerfGE 45, 187, EuGRZ 1977, S. 267 (267 ff.). 481  BVerfGE 33, 303, 334 m. w. N.



B. Die Auslegung der EMRK123

hierbei nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Indivi­ duums gedacht.482 Der einzelne Mensch, so das BverfG, muss innerhalb der Gesellschaft als ebenbürtiges Glied mit intrinsischem Wert (Eigenwert) geachtet werden.483 Es widerspreche der menschlichen Würde, wenn der konkrete Mensch zum blossen Objekt im Staate gemacht werde.484 Der Mensch müsse immer Zweck an sich selbst bleiben. Dies gelte uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete, denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person bestehe gerade darin, dass „er als selbstverantwortete Persönlichkeit“ anerkannt werde.485 Im Kontext des Strafrechts bedeutet dies vor allem, dass der Einzelne nicht zum Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsmässig geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs gemacht werden darf.486 Es wäre mit der Menschenwürde unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nähme, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne ihm mindestens eine Chance zu gewähren, der Freiheit eines Tages wieder teilhaftig werden zu können. „Die Geschichte der Strafrechtspflege zeigt deutlich, dass an die Stelle grausamster Strafen immer mildere Strafen getreten sind. Der Fortschritt in der Richtung von roheren zu humaneren, von einfacheren zu differenzierteren Formen des Strafens ist weitergegangen, wobei der Weg erkennbar wird, der noch zurückzulegen ist. Das Urteil darüber, was der Würde entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben“.487

Die Forderung nach Resozialisierung entspricht laut dem BVerfG – wie auch dem EGMR – dem Selbstverständnis einer Gesellschaft, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt.488 Der Kern der Menschenwürde wird dann getroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet seiner persönlichen Entwicklung und Fortschritte jegliche Hoffnung auf Wiedererlangung seiner Freiheit aufgeben müsse.489 Denn erst die Aussicht auf Entlassung mache den Vollzug 482  BVerfGE 45, 187, EuGRZ 1977, S. 267 (278): Insoweit kann diese individuelle Freiheit nicht unbegrenzt sein. 483  BVerfGE 45, 187, EuGRZ 1977, S. 267 (278). 484  BVerfGE 45, 187, EuGRZ 1977, S. 267 (278); unter Bezugnahme auf BVerfG 27, 1, 6. 485  BVerfGE 45, 187, EuGRZ 1977, S. 267 (278). 486  BVerfGE 45, 187, EuGRZ 1977, S. 267 (278); der EGMR bezieht sich auf jene Passagen in: EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 69. 487  BVerfGE 45, 187, S. 228 f. 488  BVerfGE 35, 202 (235 f.). 489  Deshalb müsse dem Täter eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance gewährt werden, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiederzuerlangen;

124

2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

einer lebenslangen Haft unter dem Aspekt der Würde der Person überhaupt erträglich.490 Der EGMR kann im Einzelfall autoritativ entscheiden, inwiefern die na­ tionale Würdejudikatur effektive Wirkung für die Konvention entfaltet. Bei der Beurteilung von Fällen lebenslanger Haft hat er sich stark von den oben genannten Rechtserwägungen des BVerfG inspirieren lassen, worauf weiter unten näher eingegangen wird.491 Jedenfalls legt diese Rechtsprechung Zeugnis vom Bestehen eines europäischen Verfassungsgerichtsverbundes ab.492 So hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass die Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 EMRK) zum Schutz der Menschenwürde Dritter gerechtfertigt sein kann, wobei er sich auf nationale Konzepte einlassen muss und auch eingelassen hat.493 c) Faktischer Menschenwürdeschutz in der Krise in Europa? Unabhängig von den nachgezeichneten normativen Grundlagen, die einen „praktischen Universalismus“494 in der Realität gelebter Grundrechtsansprüche und -apelle implizieren, sei an dieser Stelle mahnend darauf hingewiesen, dass die menschliche Würde in (rechts-)praktischer Hinsicht gefährdet ist und zuweilen auch behauptet wird, sie stecke in einer Krise.495 Nicht nur weil europäische Gesellschaften (u. a.) vermehrt sehenden Auges die Würde BVerfG 45, 187, EuGRZ 1977, S. 267 (283); EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 69. 490  BVerfGE 45, 187, EuGRZ 1977, S. 267 (283): Das Institut der Begnadigung durch ein Exekutivorgan genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen, namentlich dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und der materiellen Gerechtigkeit, nicht. Vgl. zuvor bereits das italienische Verfassungsgericht, Urteil Nr. 264 vom 7./22.11.1974, wonach lebenslange Freiheitsstrafe vereinbar ist mit Art. 27 der Verfassung, welche die Formel verwendet, dass Strafen nicht in einer Behandlung bestehen dürfen, die dem Gedanken der Humanität widerspricht und auf Umerziehung des Täters abzielen müssen. Das Gericht kam zum Schluss, dass ein justizförmiger Entlassungsmechanismus zu etablieren sei, um den Anforderungen an Art. 27 gerecht werden zu können: EuGRZ 1977, S. 294 (295). 491  3. Teil A. II. 2. 492  Eingehend Vosskuhle, NVwZ 2010, S. 1 (1 ff.). 493  EGMR (GK), 15.10.2015, Perincek v. Switzerland, Nr. 27510/08, Rn. 26 ff., 146, 156; vgl. auch EuGH, Rs. C-36/02, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs GmBH, Slg. 2004, I-9609, Urt. v. 14.10.2004; ein gutes Beispiel, in welchem sich der EGMR nicht auf das nationale Würdeverständnis zur Beschränkung von Art. 10 EMRK eingelassen hat, findet sich in EGMR, 31.03.2011, Siryk v. Ukraine, Nr. 6428/07, Rn. 17, 29 u. 48. 494  Mahlmann, EuR 2011, S. 469 (470 ff.). 495  Statt vieler: Fukuyama, Liberale Gesellschaften müssen sich auf nationale Bekenntnisidentitäten verständigen, NZZ vom 13.10.2018.



B. Die Auslegung der EMRK125

anderer Menschen missachten, sondern weil weltweit Menschen- und Grundrechte in die Defensive geraten sind. Im Nachgang der globalen Wirtschaftskrise ab 2008, aufgrund internationaler Migrationsbewegungen, ökonomischer Ungleichheiten – insbesondere auf globaler Ebene –, sowie aufgrund verschiedenster Kriegsschauplätze, die als Push-Faktoren496 wirken und mitunter Flüchtlinge und Asylsuchende aus aller Welt generieren, erscheint die inklusive, universale und letztlich moralisch-ethische „Botschaft“ der Würde gefährdeter denn je (seit ihrer „Erfolgsgeschichte“ im Nachgang zum Zweiten Weltkrieg). Denn im Alltag vieler Menschen wird die Würde in zuweilen verstörender Art und Weise regel­ mässig missachtet, sei dies in Form von vollkommen unzulänglichen Unterkunftsbedingungen für Flüchtlinge und Migranten;497 wegen massiver Diskriminierung von Minderheiten (in oder ausserhalb Europas),498 vorsätzlicher Tötung von ethnischen Gruppen, wie es den Kurden in Südostanatolien widerfahren ist bzw. widerfährt,499 oder in Form unzähliger unrechtmässiger Abschiebungen und Rückführungen von Flüchtlingen nach Lybien („push backs“),500 wie es auf dem Mittelmeer gehandhabt wird.501

Caroni et al., Migrationsrecht, S. 1 ff. vieler: EGMR, 26.03.2019, Haghilo v. Cyprus, Nr. 47920/12, Rn. 158,

496  Weiterführend 497  Statt

160 ff.

498  Ein kruder Rassimus wird heute von Staatsoberhäuptern offen zur Schau gestellt und instrumentalisiert: s. nur die Aussagen des Brasilianischen Präsidenten Bolsonaro, https://www.survivalinternational.org/articles/3540-Bolsonaro (zuletzt abgerufen am 12.06.2019). 499  Am 14. Dezember 2015 begann in Cizre eine 79 Tage andauernde Blockade durch die türkische Armee. Die Stadt war vollkommen von der Aussenwelt abgeschnitten. Die türkische Menschenrechtsorganisation Türkiye İnsan Hakları Vakfı (auch TİHV) spricht von 338 toten Zivilisten, darunter 78 Kinder und 69 Frauen ( zuletzt abgerufen am 11.06.2019). Die meisten Opfer habe es in der südostanatolischen Stadt Cizre gegeben, deren Bewohner komplett von der Außenwelt abgeschnitten waren. Die Vereinten Nationen wie auch andere internationale Menschenrechtsorganisationen kritisierten die Gewalt als unverhältnismäßig und zeigten sich angesichts der fehlenden (offiziellen) Berichterstattung sehr besorgt; OHCHR, Need for transparency, investigations, in light of „alarming“ reports of ­major violations in south-east Turkey – Zeid, 10. Mai 2016: „In 2016 ein derartiges Informationsdefizit darüber zu haben, was in solch einem grossen Gebiet passiert, ist ausserordentlich und zutiefst beunruhigend. Dieser Totalausfall befeuert die Argwohn über das, was passiert ist“, abrufbar unter: www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/ DisplayNews.aspx?NewsID=19937&LangID=E (zuletzt abgerufen am 11.06.2019). 500  S. den Bericht des Frontex-Chefs Fabrice Leggeri: „Der Mann, der uns abschottet“ von Faigle/Lobenstein, in: Zeit online vom 12.02.2015, https://www.zeit. de/2015/07/fabrice-leggeri-frontex (zuletzt abgerufen am 11.06.2019); „Tausende tote Migranten im Mittelmeer: Weltstrafgericht soll ermitteln“, mmo/dpa, Focus online vom 04.06.2019, https://www.focus.de/politik/ausland/juristen-uebergeben-anklage-

126

2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch über den rechtstatsächlichen Zustand des Menschenwürdeschutzes eine umfassende Antwort zu liefern. Dies würde abermals den Rahmen der Arbeit sprengen. Lediglich die mehr oder minder grosse Diskrepanz zwischen der rechtstextlichen bzw. der juristischen „Erfolgsgeschichte“ der Menschenwürde und dem real existierenden gegenseitigen Respekt, den man sich qua Menschsein schuldet, sei hier angesprochen. Es bedürfte einer rechtssoziologischen Studie, um diese Diskrepanz (und ihre Veränderung im Laufe der Zeit) eingehend untersuchen zu können. Einstweilen mag es mit der Erkenntnis sein Bewenden haben, dass der positivistische Grundrechtsuniversalismus nichts über den rechts­ soziologischen Ist-Zustand der Menschenwürde innerhalb des Konventionsraumes aussagt. Davon bleibt aber die fundamentale Bedeutung unberührt, sich der rechtsethischen Grundlagen und der geronnenen rechtszivilisatorischen Errungenschaften bewusst zu sein. Die nachfolgende Taxonomie im 3. Teil sieht sich daher auch dem Ziel verpflichtet, Schutzbereiche klar aufzuzeigen, damit sich der praktische Vollzug und die Politik an einem unzweideutigen (rechtsethischen) Rahmen messen lassen können bzw. müssen. 4. Zwischenergebnis Im vorangegangenen Abschnitt konnte aufgezeigt werden, dass sich die Menschenwürde als Norm in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg flächendeckend rechtstextlich etabliert hat, und dies nach Ende des Kalten Krieges und der nachfolgenden demokratischen Transitionsphase auch in den ehemaligen Ostblockstaaten. Angesichts der Multipolarität nationaler Ansätze ist der EGMR auf ein offenes Würdeverständnis angewiesen und kann nationale Würde-Rechtsprechung als Inspirationsquelle verwenden, wobei allerdings nicht immer gut vorhersehbar ist, wann er eine Würdenorm bzw. Würdejudikatur in die eigene Rechtsprechung einbezieht. Weiter wurde herausgearbeitet, dass Menschenrechtsverträge die Menschenwürde kontextualisieren und ihr dadurch im Wandel der Zeit zusätzliche Konturen und Ausprägungen verleihen, die auch für den Gerichtshof von Relevanz sein können. Die völkerrechtlichen Verträge sowie Empfehlungen und Resolutionen des Europarates sind für den Gerichtshof von besonderer Bedeutung, da zwi200-seiten-dossier-tausende-tote-migranten-im-mittelmeer-weltstrafgericht-soll-gegen -eu-ermitteln_id_10789170.html (zuletzt abgerufen am 11.06.2019). 501  EGMR (GK), 23.02.2012, Hirsi Jamaa and others v. Italy, Nr. 27765/09, Rn. 135 ff.; EGMR, 11.12.2018, M. A. and others v. Lithuania, Nr. 59793/17, Rn. 114 f.



B. Die Auslegung der EMRK127

schen diesen Instrumenten und der EMRK ein enger normativer Konnex besteht. Wichtige, für den Gerichtshof würderelevante Problemfelder sind namentlich der Menschenhandel, die Empfehlungen des CPT und die unzähligen Empfehlungen zum Strafvollzug. Sie tragen alle dazu bei, das mate­ rielle Verständnis der Menschenwürde ein Stück weit zu verbessern und den Würdeschutz auszudifferenzieren. Dies bedeutet aber nicht, dass die Würde des Menschen zu einem Auffanggrundrecht mutiert, das gleichsam ein lückenloses Grundrechtssystem ermöglichen würde.

III. Lücken in der EMRK Abschliessend zum Auslegungs-Teil sei angemerkt, dass ein umfassender Grundrechtsschutz, der alle Facetten und Gefährdungssituationen des menschlichen Lebens adressiert, von der EMRK nicht vorgesehen wird.502 Sie ist insofern im Vergleich zur AEMR lückenhaft.503 Grundsätzlich haben sich die Signatarstaaten darauf geeinigt, durch Unterzeichnung und Ratifi­ kation von Zusatzprotokollen neue Konventionsrechte zu schaffen.504 Der Grundrechtekatalog war und ist nicht darauf angelegt, ein lückenloses „Wertund Anspruchssystem“ zu entwickeln.505 Dennoch ist die EMRK insofern kein historisch fixiertes Dokument, als sich die in ihr enthaltenen Rechte an die aktuellen Gesellschaftsverhältnisse und Herausforderungen einer diffe-

502  Vgl. Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. VII, S. 90 ff., 126 ff.; so auch die Formulierung in der Präambel, in welcher vom Schutz „bestimmter“ Rechte die Rede ist. 503  IntKomm/EMRK-Fastenrath, Art. 1 Rn. 10. 504  EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 103: „[T]he intention of the Contracting Parties (…) was to adopt the normal method of amendment of the text“. Vgl. Sudre, L’article 3bis de la Convention, S. 1499 (1499): „[L]’élargissement quantitatif du catalogue des droits de l’homme [est] le résultat d’un ‚développement qualitatif‘ des droits de l’homme par l’œuvre de la Cour“. 505  Vielmehr ist der Katalog als Reaktion auf virulente Bedrohungslagen in einem konkreten historischen Kontext zu sehen. Holoubek, JöR 1995, S. 573 (586): Der Gedanke der Würde des Menschen liege der EMRK insgesamt zugrunde, nur von diesem Grundgedanken her werden die Einzelgrundrechte in ihrem vollen Gehalt verständlich; ihre Bedeutung erschliesse sich daher „nur unter Beachtung dieser grundlegenden Teleologie“. Vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 121 ff.; vgl. Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Art. 1 Rn. 32a, für den es problematisch ist, mit dem Bedürfnis nach einem Grundrecht der Menschenwürde als „Lückenfüller“ zu argumentieren. Die EMRK kennt kein allgemeines Persönlichkeitsrecht und auch keine allgemeine Handlungsfreiheit. Soweit dieses Fehlen zu Schutzlücken führt, kann der Gerichtshof – sofern methodich vertretbar – über eine Verbindung von Art. 8 mit der Menschenwürde „Abhilfe“ schaffen (oder auch Art. 3 EMRK i. V. m. der Menschenwürde).

128

2. Teil: Menschenwürde im weiteren Kontext der EMRK

renzierten Gesellschaft anzupassen haben.506 Dies erfordert eine der Zeit und den wechselnden Umständen Rechnung tragende Rechtsfortentwicklung durch den EGMR. Es erscheint aus mehreren Gründen problematisch, das Bedürfnis nach einem Grundrecht der Menschenwürde als „Lückenfüller-Argument“ zu verwenden.507 Zum einen lässt sich ein allgemeines Auffanggrundrecht dogmatisch kaum ohne einen textlichen Anknüpfungspunkt entwickeln. Zum anderen würde dies dem klaren Willen der Vertragsstaaten zuwiderlaufen, die es vorzogen, neue Schutzgarantien über Zusatzprotokolle zu garantieren, anstatt die Menschenwürde einer extensiven Auslegung durch den EGMR zu überlassen. Inwieweit der EGMR tatsächlich eine solche Funktion einnimmt, ist Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung. An dieser Stelle sei festgehalten, dass die EMRK weder ein allgemeines Persönlichkeitsrecht noch eine allgemeine Handlungsfreiheit enthält, die als Auffanggrundrechte fungieren könnten. Ein blosser Bezug auf die Menschenwürde zur Schliessung dieser Lücke erscheint schlicht zu einfach und methodisch kaum befriedigend. Es überzeugt daher nicht, wenn die Menschenwürde der EMRK etwas salopp als „flüssige, klebrige Masse, die die Einzelgarantien der Konvention zusammenhält und die dort hinfliesst, wo sich Lücken im Recht auftun“ bezeichnet wird.508 Soweit das Fehlen eines eigentlichen Auffanggrundrechtes tatsächlich zu grundrechtlichen Schutzlücken führt, könnte sich der Gerichtshof über eine – methodisch vertretbare – teleologische Auslegung weiterhelfen.509 Strikt abzulehnen wäre ein inflationärer Gebrauch, der die Menschenwürde zu einem Passepartout werden lässt und dadurch als Rechtsbegriff banalisiert und schwächt. Letztlich würde die (extensive) Verwendung der Würde als Totschlagargument der Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs als Ganzem schaden. Das Aufdecken einer „echten“ Schutzlücke ist diffizil. Es bedarf dazu nicht nur einer Untersuchung des Regelungsbereichs510 des fraglichen Konventionsrechts, denn auch die Funktion und Zielsetzung der EMRK als Ganzes kann eine Schutzlücke erkennen lassen bzw. auf eine Regelungslücke 506  Frowein, JuS 1986, S.  845 (847); EGMR, 09.10.1979, Airey v. Ireland, Nr. 6289/73, Rn. 24; vgl. EGMR (Pl), 13.06.1979, Marckx v. Belgium, Nr. 6833/74, Rn. 31. 507  Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Art. 1 Rn. 32a. 508  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 184. 509  2. Teil B. I. 2. a). 510  Der EGMR spricht von „applicability“: EGMR (GK), 22.06.2004, Broniowsky v. Poland, Nr. 31443/96, Rn. 126 ff.; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 4, unterscheiden zwischen „Schutzbereich“ und „Regelungsbereich“, wobei sich der letztgenannte auf „jeden Ausschnitt der Wirklichkeit, dem das Grundrecht zuzuordnen ist“, bezieht.



B. Die Auslegung der EMRK129

hinweisen.511 Im terminologisch unscharfen Schnittbereich einzelner Konventionsgarantien (Begriffshof) kann der Gerichtshof, bei Beachtung der dahinterliegenden Prinzipien, Regelungslücken lokalisieren und qua teleologischer Auslegung normativ schliessen.512 Dabei hat er sich allerdings an den Wesenskern der jeweiligen Konventionsnorm zu halten.513 Nur wenn sich dieser mit dem Kerngehalt der Menschenwürde deckt, kann Letztere zur Schliessung echter Lücken instrumentalisiert werden.514

511  Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 9 Rn.  2 m. w. N. 512  Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 9 Rn. 1, 21 f.; vgl. Zuleeg, EuGRZ 2005, S. 681 (684), auf dem Wege des Richterrechts seien mit der Menschenwürde Lücken zu füllen; Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/ EMRK, Methodik der Grundrechtsanwendung Rn. 104; vgl. Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 206 f., der festhält, dass es es Lücken gebe, die wir aufgrund des vorherrschenden „Rechtsempfindens“, gemäß welchem ein Gesetz als ergänzungsbedürftig erscheint, annehmen. Rechtsphilosophisch sei dies interessant, weil es Fälle gebe, die billigerweise in den Regelungsbereich einer Norm fallen, vom Gesetzeswortlaut aber nicht umfasst werden. Insoweit ist bereits das Aufdecken einer Lücke ein wertender Vorgang, der transparent zu machen ist. 513  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsanwendung Rn. 104. 514  Vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 184.

3. Teil

Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht Im dritten Teil der Untersuchung werden Ausprägungen des durch den Gerichtshof proklamierten Menschenwürdeschutzes analysiert. Die nachfolgende fallgruppenweise Erörterung des Menschenwürdeschutzes konkretisiert und veranschaulicht die durch den Gerichtshof festgestellten Menschenwürdeverletzungen. Die Herausarbeitung würderelevanter Fallgruppen ermöglicht es den Konventionsstaaten, ihr Handeln an den Konventionsstandards auszurichten. Letztlich ist die Fallgruppenbildung auch ein Ergebnis der induktiven Herangehensweise,1 die eine Explikation der Menschenwürde vom Verletzungsvorgang her ermöglicht. Durch Systematisierung und „Sichtbarmachen“ von Menschenwürdeverletzungen werden den Konventionsstaaten die Grenzen des Einsatzes von Strafrecht gleichsam plastisch vor Augen geführt.2 Weshalb wird zunächst ein Schwerpunkt auf die Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht gelegt? Zum einen, weil sich die Würde-Rechtsprechung im Strafrecht3 besonders stark ausdifferenziert hat; anhand dieser Rechtsprechungslinie lassen sich belastbare und abstrahierbare Aussagen über das Würdekonzept der EMRK machen, die durch die ausserstrafrecht­ liche Rechtsprechung bestätigt oder widerlegt werden.4 Zum anderen, weil Menschenrechte und Grundfreiheiten in einem akzentuierten Spannungsverhältnis zum Strafrecht stehen.5 Wenn die Menschenwürde, wie in den Tra1  1. Teil

C. allgemein zur Setzung von normativen Grenzen durch die EMRK im Bereich des Strafrechts: Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 266; weiterführend ders., ZStW 2011, S. 1 (12) (Ober- und Untergrenzen). 3  Damit ist Strafrecht im weitesten Sinn gemeint; darunter fallen auch der Strafvollzug, die Strafverfolgung, Polizeihandeln und die Haftbedingungen; aber auch Pönalisierungspflichten bspw. im Bereich des Menschenhandels werden darunter subsumiert. 4  Ähnlich wie bei einem Stresstest. 5  Albrecht, ZStW 2006, S. 852 (863): Ein europäisches Strafrecht, welches seine Legitimation in der Zustimmung europäischer Bürgerinnen und Bürger finden muss, 2  Vgl.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 131

vaux Préparatoires angedeutet, die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen („man is an end in himself“) schützen soll, dann muss sie ihre individualschützende Funktion gerade auf dem Terrain des Strafrechts entfalten. Schliesslich begegnet uns im Strafrecht das Paradox, dass jemanden durch die Strafe Leid, Entehrung und bis zu einem gewissen Grad Demütigung angetan wird, gleichzeitig wird der Betroffenen durch die auferlegte Strafe als moralisches Subjekt behandelt.6 Daher lautet eine Forschungsfrage, wie eine menschenwürdewahrende Strafe im Lichte der EMRK aussieht. Es wird daher aufzuzeigen sein, wie die konventionsrechtliche Würde im Strafverfahren, im Haftwesen, bei der konkreten Strafauferlegung und -vollstreckung, bei Polizei- und Justizgewalt (ein)wirkt. Eine strafrechtliche Sanktionierung ist ein sehr einschneidender Eingriff in die Grundrechtssphäre des Einzelnen. Insbesondere wenn dem Individuum ein Freiheitsentzug auferlegt wird oder wenn es sich in so vollständiger Abhängigkeit zum Staat befindet, dass seine Subsistenz und mentale Gesundheit auf staatliche Hilfe angewiesen sind, ist der Achtungsanspruch menschlicher Würde im Konventionsrechtssystem zu respektieren. Genau hierfür sollen daher verallgemeinerungsfähige Rückschlüsse auf die Wirkungsweise und Rolle der Würde in der EMRK gezogen werden. Es verwundert wenig, dass die grosse Mehrzahl der Judikate in den strafrechtlichen Bereich fällt; ob sich aus dieser Tatsache eine qualitative Aussage über die Schutzkraft der Menschenwürde ableiten lässt, ist eine offene Frage, die nachfolgend zu untersuchen sein wird. Fest steht, dass die Menschenwürde eine materielle und prozessuale Schrankenfunktion besitzt, die einer übermässigen Kriminalisierung und anderen Verkürzungen individueller Freiheit Grenzen setzen kann bzw. soll.7 Strafrecht kann schlechthin nicht ausserhalb der jeweiligen ethischen Grundvorstellungen einer verfassten Gesellschaft konstruiert werden und bestehen.8 Dessen ist sich auch der Gerichtshof bewusst, weshalb er bei der konkreten Bemessung und Auferlegung einer strafrechtlichen Sanktion ­äusserst selten konventionsrechtliche Grenzen setzt.9 Zwar hält der Gerichtshat vom Prinzip universell geltender Menschenwürde auszugehen und ist vor diesem Hintergrund in demokratischer Diskussion zu entwickeln. 6  Margalit, Politik der Würde, S. 256 f. 7  Die entkriminalisierende Wirkung der EMRK ist allerdings die Ausnahme geblieben; ein Beispiel hierfür ist die Strafbarkeit im gegenseitigen Einverständnis vollzogener homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen: EGMR (Pl), 22.10.1981, Dudgeon v. United Kingdom, Nr. 7525/76, Rn. 60 ff.; EGMR, 31.07.2000, A. D. T. v. United Kingdom, Nr. 35765/97, Rn. 29 ff.; Wiemann, EuGRZ 2010, S. 408 (408 ff.). 8  Badura, JZ 1964, S. 337 (338). 9  Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 3 Rn. 58.

132

3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

hof regelmässig fest, dass die Kriminalisierung eines Verhaltens als solche nicht seiner Kontrolle unterliegt, sondern im Ermessen der Europaratsstaaten steht.10 Das Recht zu strafen ist eine hoheitliche, dem souveränen Nationalstaat zugeschriebene Prärogative.11 Dahinter steht die Annahme, dass der einzelne Mitgliedstaat (bzw. der nationale Gesetzgeber und die nationalen Gerichte) aufgrund seiner unmittelbaren Kenntnis der eigenen Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse grundsätzlich besser in der Lage ist, zu beurteilen, was dem öffentlichen Interesse (Rechtsfriede etc.) entspricht, als ein supranationales Gericht. Doch trotz dieser Zurückhaltung, welche die Kriminalisierung eines Verhaltens, ebenso wie die konkrete Auferlegung einer Strafe bzw. deren Strafmass, und letztlich die Wahl des Strafrechtssystems weitgehend dem nationalen Einschätzungsprärogativ überlässt, wird stets vorausgesetzt, dass gewisse Schutzbereichsstandards gewahrt werden.12 Vor diesem Hintergrund ist nach der normativen Gestaltungswirkung menschlicher Würde im Bereich des Strafrechts zu fragen, wobei eine juristische Perspektive eingenommen wird.13 Dazu wird zunächst die Würde-Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK eingehend untersucht, konkret die Eingriffsformen Folter, Todesstrafe, lebenslange Freiheitsstrafe, Prügelstrafe, Polizei- und Justizgewalt, Gewalt in der Strafverfolgung zur Erlangung von Beweisen und Haftbedingungen. In einem weiteren Schritt wird die Rechtsprechung zu Art. 4 EMRK bzw. das durch den Gerichtshof promulgierte Schutzkonzept gegen den Menschenhandel inkl. der Pönalisierungspflicht, die damit einhergeht, analysiert.

10  EGMR (Pl), 08.06.1976, Engel and others v. Netherlands, Nr.  5100/71 u. a., Rn. 81. 11  Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 27. 12  Vgl. Ashworth, Principles of Criminal Law, S. 49; Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 266; EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 99: „In this context, however, it should be observed that a State’s choice of a specific criminal-justice system, including sentence review and release arrangements, is in principle outside the scope of the supervision the Court carries out at European level, provided that the system chosen does not contravene the principles set forth in the Convention“. 13  Es wird vorliegend keine rechtssoziologische Studie hinsichtlich des Menschenwürdeschutzes in Europa durchgeführt. Ansätze, die u. a. versuchen die Menschenwürde tendenziell empirisch zu untersuchen, um daraus normative Schlüsse zu ziehen, finden sich im Tätigkeitsbereich der Forschungsgruppe Human Dignity and Humiliation Studies unter: http://www.humiliationstudies.org (zuletzt abgerufen am 11.06.2019). Festzuhalten bleibt, dass sich bei Menschenwürde-Judikaten die Sein-Sollen-Ebenen nicht (immer) strikt voneinander trennen lassen, sondern vielmehr in einem Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen (müssen). Entsprechende Erenntnisse werden in den jeweiligen Abschnitten der vorliegenden Untersuchung hervorgehoben.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 133

Danach wird auf die Fairness im Strafverfahren eingegangen und diskutiert, ob sich aus der Judikatur gewisse Anleihen bei der Menschenwürde herauslesen lassen. Weiter kommen allfällige Würdebezüge im Kontext von Art. 8 EMRK zur Sprache, die sich insbesondere in Haftsachen und bei der heimlichen Ausforschung und Überwachung Tatverdächtiger auswirken. Schliesslich ist auf die Würde-Rechtsprechung zu Art. 7 EMRK (Legalitätsprinzip) bzw. den Zusammenhang und das Spannungsverhältnis zwischen dem Grundsatz nullum crimen sine lege und einer strafrechtlich relevanten Verletzung menschlicher Würde in Form der Vergewaltigung einzugehen. Bei alldem wird die Rechtsprechung strikt durch die „Linse“ des Begriffes der Würde des Menschen betrachtet, um – je nach Eingriffsform – die spezifische Wirkung und Funktion der Menschenwürde in der Konvention herauszuarbeiten und anschliessend die konsolidierte Theorie entwickeln zu können. Die analytisch-deskriptive Taxonomie folgt keinem zeitlich chronologischen Schema, weil damit kein nennenswerter Erkenntnisgewinn erzielt und eine strikte fallgruppenweise Strukturierung behindert würde. Stattdessen wird eine Struktur entlang den Konventionsnormen und darin entwickelten Eingriffs- und Schutzkategorien mitsamt Unterkategorien gewählt.

I. Folter als Verletzung der menschlichen Würde Art. 3 EMRK verbietet Folter sowie unmenschliche und erniedrigende Strafe und Behandlung.14 Das Verbot gilt absolut und ist derogationsfest.15 Der sachliche Schutzbereich von Art. 3 umfasst die physische und psychische Integrität und die Menschenwürde des Einzelnen im Falle staatlicher Strafe oder Behandlung.16 Die Unterscheidung zwischen Folter und unmenschlicher Strafe oder Behandlung liegt in der Schwere der Einwirkung auf den Einzelnen und ist insoweit graduell.17 Im Schrifttum wird festgehal14  Zur Folter in rechtshistorischer Reflexion s. Stein, Das Verbot der Folter im internationalen und nationalen Recht, S. 33 ff.; zur Rechtsprechungsgenese mit Blick auf den Foltertatbestand s. Prosenjak, Der Folterbegriff nach Art. 3 EMRK, Hamburg 2011. 15  Addo/Grief, EJIL 1998, S. 510 ff.; Mavronicola, HRLR 2012, S. 723 (723). 16  Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, §  20 Rn.  41; EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33. 17  Sinner, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Art. 3 Rn. 5; vgl. EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 167: „In the Court’s view, this distinction derives principally from a difference in the intensity of the suffering inflicted“.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

ten, dass Folter die (vermutlich) schwerwiegendste aller drei Eingriffsformen sei.18 Allerdings ist es mit einer vertikalen Theorie, welche die erniedrigende Strafe oder Behandlung als mildeste bzw. Folter als schwerste Eingriffsform in einem Eingriffskontinuum versteht, nicht getan.19 Denn es handelt sich, abgesehen von dem Abstufungskriterium, um jeweils unterschiedliche normative Verletzungs- bzw. Anknüpfungspunkte.20 Die Unterscheidung zwischen den drei enumerierten Verletzungstatbeständen ist indes nicht nur sehr wichtig für die Qualifikation des verpönten Staatshandelns, sondern insbesondere auch für die Höhe der dem Opfer zustehenden Entschädigungs­ summe.21 Art. 3 EMRK gehört zu den Elementargarantien der EMRK und bildet einen wesentlichen Teil des europäischen Ordre Public.22 Die Garantie betrifft Aspekte, die in den Menschenwürdekern fallen.23 Die allgemeine Dogmatik

vieler: von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 36. „vertikale Ansatz“ ist zu eindimensional; s. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 41, die von einem „Stufenverhältnis“ sprechen; vgl. Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn.  6, 11 ff. 20  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 71; Mavronicola, HRLR 2015, S. 721 (725). Zur Folter in rechtshistorischer Reflexion s. Stein, Das Verbot der Folter im internationalen und nationalen Recht, S. 33 ff.; zur Rechtsprechungsgenese mit Blick auf den Foltertatbestand s. Prosenjak, Der Folterbegriff nach Art. 3 EMRK, Hamburg 2011. Addo/Grief, EJIL 1998, S. 510 ff.; Mavronicola, HRLR 2012, S. 723 (723). G  rabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 41; EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33. Sinner, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Art. 3 Rn. 5; vgl. EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 167: „In the Court’s view, this distinction derives principally from a difference in the intensity of the suffering inflicted“. S  tatt vieler: von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 36. Der „vertikale Ansatz“ ist zu eindimensional; s. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 41, die von einem „Stufenverhältnis“ sprechen; vgl. Bank, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn. 6, 11 ff. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 71; Mavronicola, HRLR 2015, S. 721 (725). 21  Eingehend hierzu die Studie von Altwicker-Hamori/Altwicker/Peters, ZaöRV 2016, S.  1 ff. 22  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 1; vertiefend Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 61, 131, der von einem Europarats-eigenen „ordre public interne und international“ spricht. EGMR (GK), Bosphorus v. Ireland, Nr. 45036/98, Rn. 156 unter Verweis auf EGMR (GK), 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 75: „[T]he Convention as a constitutional instrument of European public order (ordre public)“; vgl. Frowein, FS Maihofer, S. 149 (152), der von der europäischen Verfassungsqualität der EMRK spricht. Bislang hat der EGMR aber nicht dargelegt, welche Elemente für ein solches ‚Verfassungsinstrument‘ charakteristisch sein sollen bzw. was die konstitutiven Elemente eines europäischen ­Ordre Public sind. Alkema, CMLRev 1979, S. 498 ff. 18  Statt 19  Der



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 135

zu Art. 3 ist durch eine strikte Einzelfallbetrachtung geprägt. Für die Bejahung eines Eingriffs, bzw. um in den Schutzbereich von Art. 3 zu fallen, muss die Eingriffsschwere stets ein gewisses Mindestmass erreichen.24 Wann dies zutrifft, ist umstritten und wird von Fall zu Fall unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden. Die Beurteilung des erforderlichen Mindestmasses ist indes relativ und hängt vom jeweiligen Gesamtkontext ab, d. h. von der konkreten Dauer der Behandlung, ihren körperlichen und psychischen Auswirkungen sowie u. U. von Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand und Verletzlichkeit25 des Opfers.26 Zudem kommt es auch auf die Art (in qualitativ-wertender Hinsicht) und auf den Kontext der Behandlung an.27 Allerdings muss an dieser Stelle gesagt werden, dass dieser Mindestschweretest nur eine allgemeine Richtung und Orientierung geben kann; die feineren normativen Ausprägungen, insbesondere die durch die Menschenwürde inspirierte Rechtsprechung, sind darin nicht bzw. nur teilweise reflektiert widergegeben. Der exakten Eruierung dieser Mindestschwere kommt indes eine grosse Bedeutung zu, da sie zur Schutzbereichseröffnung führt, welche automatisch eine Verletzung der Konventionsgarantie als Ganzes bedeutet.28 Allgemein lässt sich sagen, dass sich staatliches Tun oder Unterlassen in einer „Missachtung der Person in ihrem Menschsein“ konkretisieren muss.29 23  Mahlmann, EuR 2011, S. 469 (475); vgl. Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 3 Rn.1 („Kernbereich der psychischen und physischen Integrität“). 24  Instruktiv Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 6 Rn. 2 m. w. N. 25  Vgl. hierzu 3. Teil A. III. 3. e) bb); weiterführend Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR: promoting dignity, equality and autonomy by reimaging the human rights subject, Zürich 2017. 26  EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 162: „illtreatment must attain a minimum level of severity if it is to fall within the scope of Article 3 (art. 3). The assessment of this minimum is, in the nature of things, relative; it depends on all the circumstances of the case, such as the duration of the treatment, its physical or mental effects and, in some cases, the sex, age and state of health of the victim, etc.“; EGMR, 13.05.2008, Juhnke v. Turkey, Nr. 52515/99, Rn. 69; MeyerLadewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 3 Rn.19. 27  EGMR, 23.09.1998, A. v. United Kingdom, Nr. 25599/94, Rn. 20 („the nature and context of the treatment“). 28  Insofern kann man sagen, dass der Schutzbereich quasi mit dem Kernbereich des Rechts zusammenfällt und absolut gilt. 29  Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 195; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 41; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 6 Rn. 2; Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, GG/EMRK-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn. 6; Al­ brecht A., Erosion der Menschenrechte im demokratischen Rechtsstaat, S. 31: Es gehe

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Innerhalb der Norm bildet „Folter“ wohl qualitativ den schwersten Vorwurf, der einen Staat treffen kann. Gegenüber den Verletzungstatbeständen der „unmenschlichen und erniedrigenden Bestrafung oder Behandlung“ zeichnet sich Folter durch ihre besondere Eingriffsschwere und ihr „besonderes Stigma“30 aus: Objektiv setzt Folter eine vorsätzliche, schwere und mit den Geboten der Humanität schlechthin nicht vereinbare körperliche oder seelische Qual voraus, welche schweres und grausames Leid hervorruft.31 In subjektiver Hinsicht erfordert Folter eine finale (d. h. zweckgerichtete) Handlung, die typischerweise zur Erlangung von Informationen, bspw. zur Beweisbeschaffung, vorgenommen wird.32 Daneben können aber auch Bestrafung oder schlichte Einschüchterung folterbegründende Zwecke sein.33 Die objektive und subjektive Tatkomponente müssen grundsätzlich kumulativ erfüllt sein.34 Dennoch hat der EGMR in gewissen Fällen der Schwere und Willkür der Gewaltanwendung mehr Bedeutung zugesprochen als dem subjektiven Element, was zu einer Relativierung des Merkmals des „prohibited purpose“ führt.35 Mangels einer Definition des Begriffs „Folter“ in der Konvention selbst bezieht sich der Gerichtshof, den völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen entsprechend (vgl. Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK),36 auf die Legaldefinition der Antifolterkonvention der VN,37 ohne den Folterbegriff grundsätzlich autonom auszulegen und fortzuentwickeln.38 Demnach liegt Folter vor, wenn:

um den Schutz und die Achtung des Wesens bzw. der Natur des Menschen an sich, um die „Substanz“ des Menschen. 30  EGMR, 11.07.2000, Dikme v. Turkey, Nr. 20869/92, Rn. 93: „It appears that the distinction was drawn in the Convention in order to attach a special stigma to deliberate inhuman treatment causing very serious and cruel suffering“; so bereits EGMR, 18.01.1978, Irland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 167. 31  EGMR, 18.12.1996, Aksoy v. Turkey, Nr. 21987/93, Rn. 64. 32  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 98: „[T]he pain or suffering was inflicted on the applicant intentionally for the purpose of, inter alia, making him confess to the offence which he was suspected of having committed“. 33  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 56. 34  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 6 Rn. 11 m. w. N. 35  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 16; vgl. Pösl, Das Folterverbot in Art. 3 EMRK, S. 56, der von einer konstitutiven Wirkung des subjektiven Merkmals ausgeht. 36  2. Teil B. I. 1.; Prosenjak geht davon aus, dass sich der EGMR wohl interna­ tional nicht isolieren wollte; Prosenjak, Der Folterbegriff nach Art. 3 EMRK, S. 15. 37  Erstmals in EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 97; EGMR, 27.06.2000, Salman v. Turkey, Nr. 21986/93, Rn. 114; EGMR, 27.06.2000, Ilhan v. Turkey, Nr. 22277/93, Rn. 85. Für eine Zusammenfassung der Rechtsprechungsgenese mit Blick auf den Tatbestand der Folter: Prosenjak, Der Folterbegriff nach Art. 3 EMRK, S. 36 ff. Auch die Anti-Folterkonvention, die zusammen mit der EMRK als einzige Konvention für alle Europaratsstaaten bindend ist, begrün-



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 137 „einer Person vorsätzlich grosse körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächliche oder mutmasslich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Funktion handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden“.39

Ob die genannten Kriterien erfüllt sind, eruiert der Gerichtshof anhand eines flexiblen Massstabes.40 Als Beispiele der Folter seien an dieser Stelle die Vergewaltigung eines Inhaftierten durch Polizeibeamte oder das sog. „Palästinensische Hängen“ genannt.41 Auch eine Behandlung ohne unmittelbar invasiven Eingriffen in die physische Integrität kann Folter sein, sofern sie erhebliches psychisches Leid bewirkt.42 Dies kann insbesondere in Fällen des water boarding oder bei Scheinerschiessung und dergleichen der Fall sein.43 Die EMRK muss letztlich als „living instrument“44 eingesetzt werden; andernfalls kann sie (angesichts technischer Neuerungen und moderner Foltertechniken) den subtileren Folterformen kaum Einhalt gebieten. Auch wenn eine Behandlung keine längerfristigen Gesundheitsschäden hervorruft, bspw. im Falle willkürlicher Haftanordnung zur Erpressung von irgendwelchen Informationen oder wenn die Haftzelle vorsätzlich extrem heiss oder kalt gehalten wird, kann von Fol-

det „organisationsübergreifende europäische Verfassungssätze“: Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 266. 38  Zur autonomen Auslegung s. 2. Teil B. I. 2. c). 39  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 100; vgl. EGMR, Babar Ahmad and others v. United Kingdom, Nr. 24027/07 u. a., Rn. 77. 40  Sinner, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Art. 3 Rn. 7. 41  EGMR, 18.12.1996, Aksoy v. Turkey, Nr. 21987/93, Nr. 21987/93, Rn. 64: („stripped naked, with his arms tied together behind his back, and suspended by his arms“); EGMR (GK), 25.09.1997, Aydin v. Turkey, Nr. 23178/94, Rn. 86 („the Court is satisfied that the accumulation of acts of physical and mental violence inflicted on the applicant and the especially cruel act of rape to which she was subjected amounted to torture in breach of Article 3 of the Convention“). 42  Vgl. EGMR, 03.06.2004, Bati and others v. Turkey, Nr. 33097/96 u. 57834/00, Rn. 123; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 42 m. w. N. 43  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 19. 44  S. 2. Teil B. I. 2. a); Auf „Folter“ wurde erstmals erkannt in EGMR, 18.12.1996, Aksoy v. Turkey, Nr. 21987/93, Rn. 64; Schwelle der „Folterfeststellung“ wurde bereits drei Jahre später herabgesetzt in EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 101.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

ter i. S. v. Art. 3 EMRK gesprochen werden.45 Folter kann auch gegeben sein, wenn die materiellen Haftbedingungen46 zwecks Geständniserpressung auf ein menschenunwürdiges Niveau gesenkt werden. Die Androhung von Folter wird jedenfalls als „unmenschliche Behandlung“ i. S. v. Art. 3 EMRK qualifiziert. Der absolute Charakter dieser Schutznorm wurde auch im Falle einer Kindesentführung hochgehalten, bei der ein ermittelnder Polizeibeamter dem Verdächtigen mit Folter drohte, um den Aufenthaltsort des Opfers ausfindig zu machen: „Article 3 enshrines one of the most fundamental values of a democratic society. The Court is well aware of the immense difficulties faced by States in modern times in protecting their communities from terrorist violence. However, even in these circumstances, the Convention prohibits in absolute terms torture or inhuman or degrading treatment or punishment, irrespective of the victim’s behavior“.47

In jüngster Zeit zeichnet sich die Rechtsprechung dadurch aus, die Schwelle zur Folter niedriger anzusetzen, was ihrem dynamisch-evolutiven Charakter entspricht.48 So hat der EGMR in der Rechtssache Selmouni49 seine Absicht bekundet, aufgrund der höheren und anspruchsvolleren Standards der Menschenrechte in Europa ein gewisses Verhalten statt wie früher „nur“ als unmenschliche Behandlung oder Strafe künftig als Folter zu qualifizieren.50 Für die vorliegende Arbeit ist von Bedeutung, dass der Gerichtshof bei der Definition des Verletzungstatbestandes der Folter praktisch nie explizit auf die Menschenwürde rekurriert. Dies erstaunt auf den ersten Blick. Doch es wäre durchaus denkbar, dass für den Gerichtshof Folter ein derart evidenter Verstoss gegen die menschliche Würde ist, dass sich ein weiterer definitorischer Rückbezug darauf erübrigt. Dass Folter eine Würdeverletzung ist, ist im Schrifttum und im Völkerrecht fraglos anerkannt.51 Und auch in der Rechtsprechung werden Bezüge zur Menschenwürde hergestellt. So hat der Gerichtshof explizit die Schutzgüter der körperlichen und mentalen Integrität sowie die Menschenwürde als 45  Vgl. Grabenwarter/Pabel, Euuropäische Menschenrechtskonvention, §  20 Rn. 42; Villiger, Handbuch der EMRK, § 15 Rn. 282; Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/ EMRK, Art. 3 Rn. 19. 46  S. dazu eingehend 3. Teil A. III. 3. 47  EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 87; krit. Besprechung von Grabenwarter, NJW 2010, S. 3128 ff. 48  Vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 19 m. w. N. 49  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94. 50  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 101. 51  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 6 Rn. 1 Fn. 50; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 3 Rn. 1.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 139

von Art. 3 EMRK mitumfasst qualifiziert.52 Das Folterverbot ist laut Gerichtshof mit der Menschenwürde eng verbunden; die Norm verkörpert einen zivilisatorischen Rechtswert, der mit dem Achtungsanspruch der Menschenwürde nah verknüpft ist.53 Dogmatisch lässt sich durch die Würde des Menschen begründen, dass Art. 3 keine Schranke vorsieht.54 In der Rechtsprechung finden sich Andeutungen, wonach die Menschenwürde philosophisch-ethischer Konstitutionsgrund für die konkrete Konventionsnorm sei:55 „The philosophical basis underpinning the absolute nature of the right under Article 3 does not allow for any exceptions or justifying factors or balancing of interests“.56 Der innere Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und dem in Art. 3 EMRK verbrieften Folterverbot ist unauflöslich; das Folterverbot kennt keine Ausnahmen und lässt keine Abwägung zu.57 Aus Wortlaut und Systematik ergibt sich die Schrankenlosigkeit und Absolutheit des Folterverbots (Art. 3 i. V. m. Art. 15 Abs. 2 EMRK).58 Die Schrankenlosigkeit wird auch vom Gerichtshof bekräftigt, indem er festhält, dass Folter, ungeachtet des Verhaltens des Opfers, unter keinen Umständen erlaubt ist.59

17.05.2011, Gazioğlu and others v. Turkey, Nr. 29835/05, Rn. 42. nun auch EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23390/09, Rn. 81; EGMR (GK), 10.04.2012, Babar Ahmad and others v. United Kingdom, Nr. 24027/07 u. a., Rn. 200 („one of the most fundamental values“). 54  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 73 ff., 79; vgl. Greer, HRLR 2015, S. 101 (109); in diese Richtung auch Frowein, Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Strafe nach der EMRK, S. 69 (69); Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 3 Rn. 1: „Es ist auch nicht zu rechtfertigen, dass staatliche Organe die extreme Missachtung der Menschenwürde, die in der Folter liegt, durch ihr Handeln zum Ausdruck bringen“. 55  EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 107; vgl. ferner Bielefeldt, Menschenwürde und Folterverbot, S. 4 u. 7; Herbert, EuGRZ 2014, S. 661 (662); Greer, HRLR 2015, S. 101 (108); Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/ EMRK, Art. 3 Rn. 2. 56  EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 107. 57  Vgl. Bielefeldt, Menschenwürde und Folterverbot, S. 4 u. 18; krit. Eser, FS Hassemer, S. 713 (722); ein absolutes Recht kennt keine Ausnahmen; es überragt andere Verpflichtungen: Greer, HRLR 2015, S. 101 (109). 58  Vgl ferner Travaux Préparatoires zur EMRK, Bd. I, S. 252-254; Bd. II, S. 4, 10, 14, 38, 84. 59  EGMR (GK), 15.11.1996, Chahal v. United Kingdom, Nr. 22414/93, Rn. 79 f.; EGMR (GK), 28.02.2008, Saadi v. Italy, Nr. 37201/06, Rn. 127: „The Convention prohibits in absolute terms torture and inhuman or degrading treatment or punishment, irrespective of the victim’s conduct. (…) Article 3 makes no provision for exceptions and (…) there can be no derogation therefrom even in the event of a public emergency threatening the life of the nation“. 52  EGMR, 53  So

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Folter degradiert den Menschen zum willkürlich verfügbaren Objekt.60 Denn Folter ist nach einhelliger Lehrmeinung ein evidenter Verstoss gegen die Würde des Menschen.61 Folter ist ein Mittel der Unterdrückung, ein Herrschafts- und Machtinstrument, welches seit jeher zur Ausschaltung, Verängstigung und Demoralisierung Oppositioneller eingesetzt wird.62 Auch zu repressiven Zwecken, namentlich in der Strafverfolgung, kann zu Folter gegriffen werden.63 Wenn sich bspw. ein mutmasslicher Entführer weigert, den Standort seines Opfers zu verraten, besteht die Gefahr des Foltereinsatzes. In solchen Konstellationen haben die Strafverfolgungsinteressen der Gemeinschaft vor der Menschenwürde zurückzuweichen. Auf konventionsrechtlicher Ebene hat sich gezeigt, dass der einzig gangbare Weg, die Praxis der Folter einzudämmen, ihr ausnahmsloses Verbot ist.64 Die Anwendung von Folter zielt u. a. darauf ab, die Willensfreiheit des Opfers zu brechen und es zu instrumentalisieren, um bspw. an strategisch oder taktisch wichtige Informationen zu gelangen.65 Damit wird der Mensch auf die Funktion einer Informationsquelle reduziert. Aber auch wenn eine Bestrafung bezweckt wird, kann bei hinreichender Schwere und Grausamkeit Folter vorliegen, wird doch der Einzelne in seiner individuellen Subjektivität missachtet und zu einem schlichten Bestrafungsobjekt degradiert.66 Für den konventionsrechtlichen Begriff der Würde ist damit schon einiges gewonnen.

60  Vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 2; mit Verweisen auf Herbert, EuGRZ 2014, S. 661 (663). 61  Greer, HRLR 2015, S. 101 (109). 62  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 338. 63  EGMR, 07.04.2015, Cestaro v. Italy, Nr. 6884/11, Rn. 178 u. 190. Aber auch zu präventiven Zwecken, namentlich zur Abwehr eines künftigen Terroraktes, wird der Einsatz von Folter auch im juristischen Diskurs diskutiert; vgl. statt vieler Kreuzer, Zur Not ein bisschen Folter? Diskussion um Ausnahmen vom absoluten Folterverbot anlässlich polizeilicher „Rettungsfolter“, S. 35 (35 ff.). 64  EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 87: „[T]he Convention prohibits in absolute terms torture and inhuman or degrading treatment or punishment“. 65  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 2, 15 ff. 66  Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 197.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 141

II. Unmenschliche67 Bestrafung oder Behandlung als Verletzung der menschlichen Würde Nebst der Folter verbietet Art. 3 EMRK auch die unmenschliche Bestrafung oder Behandlung. Was unter unmenschlicher Strafe oder Behandlung zu verstehen ist, ist in der Konvention selbst nicht definiert. Unter „Strafe“ i. S. v. Art. 3 EMRK werden alle hoheitlichen Massnahmen mit Sanktionscharakter verstanden;68 staatliche „Behandlung“ meint i. S. eines Auffangbegriffes jegliches staatliche Tun oder Unterlassen in Bezug auf den Betroffenen.69 Die Besonderheit bei der spezifischen Behandlungsform der staatlichen Strafe liegt darin, dass sie punitiven Charakter hat, i. d. R. institutionalisiert ausgesprochen, verhängt und vollstreckt wird, und, dass ihr – wie Mavronicola ausführt – eine prima facie Legitimität zukommt.70 Daher hält der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung fest, dass „the suffering and humiliation involved must in any event go beyond that inevitable element of suffer­ ing or humiliation connected with a given form of legitimate treatment or punishment“.71 Dies ist insbesondere bei Freiheitsstrafen zu berücksichtigen.72

67  Der Titel („Unmenschliche […]“) und die damit verbundene Untergliederung in entsprechende Fallgruppen folgt der Schwerpunkt-Logik, gemäss welcher entsprechende Fallgruppen (z. B. Fälle der Todesstrafe) vom EGMR grundsätzlich als „unmenschliche“ Bestrafung oder Behandlung qualifiziert werden. Allerdings wird in der Judikatur nicht immer messerscharf zwischen „unmenschlicher“ und „erniedrigender“ Bestrafung oder Behandlung unterschieden. Eine unmenschliche Bestrafung oder Behandlung wirkt prinzipiell auch erniedrigend. Entsprechende Überschneidungen werden – wo dies notwendig erscheint – im Haupttext erwähnt. Durch die gewählte Unterteilung soll die spezifische Wechselwirkung zwischen der Würde und dem einzelnen Verletzungstatbestand der unmenschlichen Strafe oder Behandlung besser zur Geltung gebracht werden. 68  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 22; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 41; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 6 Rn. 5; Villiger, Handbuch der EMRK, § 15 Rn. 284. 69  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 22; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 57. 70  Mavronicola, HRLR 2015, S. 721 (726). 71  S. nur EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 96. 72  EGMR (GK), 04.07.2006, Ramirez Sanchez v. France, Nr. 59450/00, Rn. 119: „[M]easures depriving a person of his liberty may often involve such an element. Nevertheless, Article 3 requires the State to ensure that prisoners are detained in conditions that are compatible with respect for their human dignity, that the manner and method of the execution of the measure do not subject them to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention and

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Eine „unmenschliche Bestrafung oder Behandlung“ wird allgemein als eine vorsätzliche Handlung definiert, die ohne Unterbrechung längere Zeit angedauert und entweder körperliche Schäden oder intensives psychisches oder physisches Leid bewirkt hat.73 So stellen u. U. schwere körperliche Verletzungen, die intensives Leid hervorrufen, eine inhumane Behandlung i. S. von Art. 3 EMRK dar. Dies trifft bspw. im Fall der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen zu.74 Beim Schutz vor unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung steht demnach das Moment des Schmerzes, der zu einem erhöhten Leidensdruck führt, im Zentrum. Die unmenschliche Behandlung oder Bestrafung lässt sich nicht immer leicht von der erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung abgrenzen. Auch der Gerichtshof stellt manchmal global eine gegen Art. 3 EMRK verstossende „Misshandlung“ („ill-treatment“) fest. Eine solche Feststellung kann unter gewissen Umständen angebracht sein, etwa wenn eine Behandlung sowohl unmenschlich als auch erniedrigend ist, was angesichts der teilweise unterschiedlichen normativen Anknüpfungspunkte durchaus vorkommen kann.75 Nachfolgend wird anhand von Fallbeispielen zu klären sein, inwieweit die Würde des Menschen herangezogen wird, um gewisse Handlungen als unmenschlich (und/oder erniedrigend) zu taxieren. 1. Todesstrafe a) Hintergrund und Rechtsprechungsgenese Unmenschlich ist eine Strafe zunächst einmal, wenn sie unmittelbar invasiv auf den Körper des Opfers einwirkt und erhebliches Leid hervorruft, wie bspw. das Rädern, das Auspeitschen, u. U. das Schlagen76 oder das Verabreithat, given the practical demands of imprisonment, their health and well-being are adequately secured“. 73  EGMR, 10.12.2015, Asslani v. MKD, Nr. 24058/13, Rn. 84; EGMR (GK), 06.04.2000, Labita v. Italy, Nr. 26772/95, Rn. 120; Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 3 Rn. 22; Webster, Dignity, Degrading Treatment and Torture in Human Rights Law, S. 125 ff. 74  EGMR, Entsch. v. 17.05.2011, Enitan Pamela Izevbekhai u.  a. v. Ireland, Nr. 43408/08. 75  Z. B. das Verpassen von Faustschlägen durch Aufseher und der gleichzeitige Zwang, verdorbenes Essen in Haft zu verzehren. 76  s. insb. EGMR, 27.05.2010, Artyomov v. Russia, Nr. 14146/02, Rn. 169 u. 173: „The Court accepts that in these circumstances the officers may have needed to resort



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 143

chen von Elektroschocks.77 Grundsätzlich sind körperliche Strafen innerhalb des Konventionsraumes weitgehend illegalisiert; eine Ausnahme sind Prügelstrafen, die den Gerichtshof vermehrt beschäftigt haben.78 Auch gesetzlich nicht vorgesehene, willkürlich verhängte Strafen dürften durch den EGMR als unmenschlich qualifiziert werden. Es stellt sich nun aber die Frage, ob die Todesstrafe, die durch die EMRK (ohne Zusatzprotokolle) explizit nicht verboten ist, nicht ebenfalls als unmenschlich und daher menschenwürdewidrig bezeichnet werden muss. Denn die Todesstrafe ist gemäss dem klaren Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EMRK prinzipiell erlaubt. Um die Todesstrafe zu verhängen ist laut dem Normtext lediglich ein Rechtfertigungserfordernis einzuhalten:79 „Niemand darf absichtlich getötet werden, ausser durch Vollstreckung eines Todes­ urteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.“80 Offenbar erachteten die Gründer­ väter der Konvention die Vollstreckung dieser Maximalstrafe unter gewissen Bedingungen nicht als Menschenwürdeverletzung, ja nicht einmal als ein Pro­blem des Menschenrechtsschutzes i. S. des Lebensrechts.81 Obwohl die EMRK (ohne Zusatzprotokolle) die Todesstrafe erlaubte, stand der EGMR dieser Kapitalstrafe von jeher kritisch gegenüber und hat in seito physical force in order to take the applicant out of the cell. However, the Court is not convinced that hitting a detainee with a truncheon was conducive to the desired result, namely facilitating the search. In the Court’s eyes, in that situation a truncheon blow was merely a form of reprisal or corporal punishment (…). Accordingly, the Court finds that there has therefore been a violation of Article 3 of the Convention, in that on 21 January 2002 the Russian authorities subjected the applicant to inhuman treatment in breach of that provision“. 77  Vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 38 m. w. N. 78  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 42. 79  Internationale Regelungen zur Todesstrafe zeichnen sich durch eine zunehmende Einengung derselben aus. Während sich die AEMR von 1948 nicht zur Todesstrafe äussert, sind erste Restriktionen im IPbpR von 1966 zu erkennen. In Art. 6 Abs. 2 S. 1 wird zwar die Auferlegung der Todesstrafe weiterhin erlaubt, allerdings nur bei schwersten Gewaltverbrechen. Art. 6 Abs. 4 IPbpR garantiert erstmals auf internationaler Ebene das Recht, ein Gnadenersuchen einreichen zu können. Bei Minderjährigen und schwangeren Frauen ist die Anwendung der Todesstrafe verboten (Art. 6 Abs. 5). 80  S.  Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK-Kommentar, Art. 2 Rn. 40: Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK – dabei werden hohe Anforderungen an die Unabhängigkeit des Gerichts und die Fairness des Strafverfahrens gestellt. 81  Auch Kant hielt die Todesstrafe mit seiner Moralphilosophie für vereinbar und somit als „menschenwürdekonform“; Kant sah die Todesstrafe darin begründet, dass sie als Vergeltung für begangenes Unrecht und somit rein tatbezogen und zweckfrei zu verhängen sei; dies schliesst den Einbezug generalpräventiver Momente zur Rechtfertigung aus; vgl. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, Rn. 12 m. w. N.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

ner Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK konsequent versucht, sie zu verunmöglichen. Auslieferungen an Länder, die die Todesstrafe rechtlich zulassen, wie die USA, sollten verhindert werden.82 Dabei konzentrierte sich der EGMR zunächst auf die Begleitumstände der Inhaftierung in einer sog. Todeszelle, ohne sich bereits für ein grundsätzliches Verbot der Todesstrafe aus Art. 3 auszusprechen:83 Wenn Gefangene längere Zeit auf die Vollstreckung der Strafe warten müssen, führe dies zum sog. Todeszellensyndrom („death row phenomenon“), das schweren Stress sowie Leid verursache und mit Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren sei.84 Einen jahrelangen Aufenthalt in der Todeszelle beurteilte der EGMR aufgrund der Umstände und Dauer als nicht menschenwürdig, ohne jedoch die Todesstrafe selbst als an und für sich menschenwürdewidrig zu bezeichnen.85 In der Folge wurde angenommen, dass angesichts des Todeszellensyndroms eine Auslieferung in ein solches Land grundsätzlich unzulässig sei, ganz unabhängig davon, ob die Strafe in einem rechtsförmigen und fairen Verfahren ergangen war oder nicht. Unbeantwortet blieb allerdings, ob man sich auch dann noch auf das Todeszellensyndrom berufen kann, wenn die Todesstrafe sehr schnell (und innerhalb Europas) vollstreckt wird. Erste markante normative Veränderungen auf Konventionsstufe wurden bereits vor der genannten Rechtsprechung sichtbar: „Im Vertrauen darauf, dass die Abschaffung der Todesstrafe zur Förderung der Menschenwürde und zur Fortentwicklung der Menschenrechte beiträgt“, wurde 1983 das Zusatz82  Der Leitfall ist EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88. Zum damaligen Zeitpunkt hatte auch Grossbritannien die Todesstrafe nicht abgeschafft. 83  EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 103: „The Convention is to be read as a whole and Article 3 (…) should therefore be construed in harmony with the provisions of Article 2 (…). On this basis Article 3 (…) evidently cannot have been intended by the drafters of the Convention to include a general prohibition of the death penalty since that would nullify the clear wording of Article 2 § 1 (…). Subsequent practice in national penal policy, in the form of a generalised abolition of capital punishment, could be taken as establishing the agreement of the Contracting States to abrogate the exception provided for under Article 2 § 1 (…) and hence to remove a textual limit on the scope for evolutive interpretation of Article 3 (…). Protocol No. 6 (P6), as a subsequent written agreement, shows that the intention of the Contracting Parties as recently as 1983 was to adopt the normal method of amendment of the text in order to introduce a new obligation to abolish capital punishment in time of peace and, what is more, to do so by an optional instrument allowing each State to choose the moment when to undertake such an engagement. In these conditions (…) Article 3 (…) cannot be interpreted as generally prohibiting the death penalty“. 84  EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 81. 85  Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 210.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 145

protokoll (ZP) Nr. 6 verabschiedet,86 dessen Art. 1 die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten normiert. Art. 2 erlaubt den Staaten, die Todesstrafe in Kriegszeiten zu verhängen und zu vollstrecken, allerdings nur, wenn dies bei Ratifizierung des Protokolls beim Generalsekretär der VN angezeigt wurde: „Ein Staat kann in seinem Recht die Todesstrafe für Taten vorsehen, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden; diese Strafe darf nur in den Fällen, die im Recht vorgesehen sind, und in Übereinstimmung mit dessen Bestimmungen angewendet werden“.87

Rund zwanzig Jahre später wurde dann das ZP Nr. 13 zur EMRK verabschiedet, welches einen entscheidenden Schritt weitergeht: „[I]n der Überzeugung, dass in einer demokratischen Gesellschaft das Recht jedes Menschen auf Leben einen Grundwert darstellt und die Abschaffung der Todesstrafe für den Schutz dieses Rechts und die volle Anerkennung der allen Menschen innewohnenden Würde von wesentlicher Bedeutung ist“.88

Fortan werden Menschenwürdeschutz und Todesstrafe durch die Zusatzprotokolle als grundsätzlich nicht miteinander vereinbar erachtet.89 Die Todesstrafe gilt mithin generell, also auch in Kriegszeiten, als Menschenrechtsverletzung und daher als unzulässig.90 Zudem ist das Todesstrafeverbot notstandsfest gemäss Art. 15 EMRK.91 Doch bei den Zusatzprotokollen handelt es sich um Fakultativprotokolle, d. h., dass sie nicht automatisch für alle Konventionsstaaten Geltungskraft entfalten. Für den Gerichtshof eröffnete sich – nebst dem durch das Todestzellensyndrom hervorgerufenen Leid – auch über Verhältnismässigkeitserwägungen Optionen, die zur Unzulässigkeit der Todesstrafe führen können: „As the Court has previously noted in connection with Article 3, the manner in which the death penalty is imposed or executed, the personal circumstances of the 86  ZP

Nr. 6, Präambel (Hervorhebung durch Autor). ZP Nr. 6. 88  ZP Nr. 13, verabschiedet am vom 3. Mai 2002, Präambel (Hervorhebung durch Autor). 89  „1. The right to life is ‚an inalienable attribute of human beings‘ and ‚supreme value in the international hierarchy of human rights‘ is unanimously guaranteed in legally binding standards at universal and regional levels“: Protocol Nr. 13 of the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, concerning the abolition of the death penalty in all circumstances, Explanatory Report, ETS Nr. 187, Introduction. 90  Art. 1 ZP Nr. 13: „Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden“. Art. 2 ZP Nr. 13: „Von diesem Protokoll darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden“. 91  Ferner dürfen auch keine Vorbehalte nach Art. 57 EMRK erklärt werden. 87  Art. 2

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

condemned person and a disproportionality to the gravity of the crime committed, as well as the conditions of detention awaiting execution, are examples of factors capable of bringing the treatment or punishment received by the condemned person within the proscription under Article 3“.92 Einige Jahre später hat der Gerichtshof in einem obiter dictum festgestellt, dass angesichts der grossmehrheitlichen Ratifikation seitens der Mitgliedstaaten93 und der mithin fast flächendeckenden Übernahme der ZP Nr. 6 und 13 nunmehr von einem generellen Todesstrafeverbot auszugehen sei, auch ohne dass die letzten Ratifikationen des ZP Nr. 13 abgewartet werden müssten.94 Die Tatsache, dass bis auf drei sämtliche Mitgliedstaaten die beiden ZP unterzeichnet und ratifiziert haben, dass ein wesentliches Ziel des Europa­ rates die Abschaffung der Todesstrafe ist, dass von Neumitgliedern die Abschaffung dieser Strafe verlangt wird und dass alle Europaratsstaaten das Moratorium befolgen, rechtfertigt die Annahme einer konkludenten Änderung des Normgehalts von Art. 2 EMRK, wonach die Ausnahme der Todesstrafe vom Tötungsverbot nicht mehr gilt.95 Der Gerichtshof hat durch seine teleologische Auslegung und unter systematischer Berücksichtigung der nationalen und internationalen Rechtsentwicklung diesen Schluss in seiner Rechtsprechung gefasst: „[T]he abolition of the death penalty is essential for the protection of this right and for the full recognition of the inherent dignity of all human beings“.96 Dies hat zu einer markanten Stärkung und Konturierung der konventionsspezifischen Menschenwürde geführt. Der Lebensschutz und das Verbot inhumaner Strafen gehören zu den Elementargarantien97 und weisen nunmehr eine dezidierte „Nähe“ zum Menschenwürdeprinzip auf.98 Durch die spezifi(GK), 12.05.2005, Öcalan v. Turkey, Nr. 46221/99, Rn. 168. Nr. 6 ist heute von allen Konventionsstaaten ausser Russland ratifiziert worden, allerdings hat Russland ein Moratorium erlassen, wonach keine Todesstrafe vollstreckt wird. ZP Nr. 13 ist von allen Staaten ausser Armenien, Aserbaidschan, Polen und Russland ratifiziert worden. 94  EGMR, 02.03.2010, Al-Saadoon and Mufdhi v. United Kingdom, Nr. 61498/08, Rn. 120. 95  So bereits Peters, EuGRZ 1999, S. 650 (654 ff.); Meyer F., in: Wolter, SKStPO/EMRK, Art. 2 Rn. 117. 96  EGMR (GK), 24.07.2014, Al Nashiri v. Poland, Nr. 28761/11, Rn. 577. 97  Statt vieler: Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 1 u. 40 f.; Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa, S. 337; EKMR (Pl), 01.07.1997, Osman v. United Kingdom, Nr. 23452/94, Rn. 90: „that a Contracting State is under an obligation to provide a framework of law which generally prohibits the taking of life“. 98  Vgl. Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, S. 221, der in Art. 3 und 4 EMRK den Menschenwürdeschutz des Personalismus ver92  EGMR 93  ZP



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 147

schen Schutzdimensionen in Art. 3 und Art. 2 hat der Gerichtshof dem Wesensgehalt der Garantien zu mehr „Sichtbarkeit“ verholfen.99 Dieser enge Zusammenhang wird durch die ZP Nr. 6 und 13 positiviert und bestätigt. Das Lebensrecht steht an vorderster Front der Rechte der EMRK und ist Voraussetzung dafür, in den Genuss der anderen Rechte und Prinzipien zu gelangen;100 insofern ist das Lebensrecht als eigentliche Basis der Menschenwürde zu betrachten.101 Die Todesstrafe bzw. deren Ächtung durch die ZP Nr. 6 und 13 sowie die Rechtsprechung des EGMR zeigen anschaulich, dass der konkrete Schutzund Achtungsanspruch der Menschenwürde rechtspolitisch kontingent ist; insofern kann er ein Ergebnis (rechts-)politischer Auseinandersetzungen sein bzw. im Wege eines (weitgehenden) normativen Konsenses festgelegt werden.102 b) Wirkung und Funktion der Menschenwürde Die vom Gerichtshof in der Rechtssache Al-Saadoon and Mufdhi103 vorgenommene teleologisch-dynamische Auslegung entspricht dem Grundkonzept und der Rechtsnatur der Konvention.104 Die Vertragsstaaten haben durch „ständiges, übereinstimmendes Verhalten“ eine Änderung bzw. Erweiterung des Schutzgehaltes der Konvention herbeigeführt.105 Die Menschenwürde wird im Kontext der Todesstrafe zum „Hauptargument“, da ihr Kern getroffen ist, sollte die Todesstrafe vollstreckt werden.106 Zum einen ist das psychiwirklicht sieht; Schweizer, FS Schäffer, S. 739 (741 f.); Müller J.  P., Grundrechte, S.  3 f. 99  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 2 Rn. 118. 100  EGMR (GK), 27.09.1995, McCann and others v. United Kingdom, Nr. 18984/91, Rn. 147; EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 37; Alleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 10 Rn. 7. 101  Vgl. Meyer F., Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht, S. 146 unter Verweis auf BVerfGE 46, 160, 164; vgl. EGMR, 22.03.2001, Streletz, Kessler and Krenz v. Germany, Nr. 34044/96 u. a., Rn. 94; vgl. Borowsky, in: Meyer, Kommentar EUGRCh, Art. 2 Rn. 7, 29: Der Europäische Grundrechtekonvent leitete das Lebensrecht gar unmittelbar aus der Menschenwürde her. 102  S. Gebauer, NVwZ 2004, S. 1405 (1409), wonach sich der Umfang der Menschenwürdenorm als Ergebnis historisch-praktischer Erfahrung manifestiert. 103  EGMR, 02.03.2010, Al-Saadoon and Mufdhi v. United Kingdom, Nr. 61498/08. 104  2. Teil A. I. 105  Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, Rn. 41 u.175. 106  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art.  2 Rn.  118; EGMR (GK), 24.07.2014, Al Nashiri v. Poland, Nr. 28761/11, Rn. 577: „Judicial execution involves the deliberate and premeditated destruction of a human being by the State authorities. Whatever the method of execution, the extinction of life involves some physical pain.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

sche Leid, das durch das Todeszellensyndrom hervorgerufen wird, nicht mit Art. 3 EMRK vereinbar. Zum anderen ergibt sich eine Wesenskernverletzung aus Art. 2 EMRK selbst. Oder anders formuliert: Ebendieser spezifische Wesensgehalt, der Kern der Menschenwürde, ist in Artt. 2 und 3 EMRK verankert, was der Gerichtshof in jüngster Zeit immer sichtbarer macht.107 Durch die Tötung als Bestrafung wird der Mensch restlos zum Objekt staatlicher Strafverfolgung und -vollstreckung, das es zu vernichten gilt.108 Mit einem unantastbaren Eigenwert des Menschen ist dies in Europa normativ nicht (mehr) zu vereinbaren. Pointiert wurde dies von Meyer F. formuliert: „Als unverrückbarer Höchstwert ist zumindest die Menschenwürde nicht hintergehbar“.109 Der Gerichtshof zeigt sich in seiner Judikatur gewillt, diesem Postulat zur Geltung zu verhelfen und qualifiziert die Todesstrafe als unmenschliche (und/oder erniedrigende) Bestrafung.110 In addition, the foreknowledge of death at the hands of the State must inevitably give rise to intense psychological suffering. The fact that the imposition and use of the death penalty negates fundamental human rights has been recognised by the member States of the Council of Europe. In the Preamble to Protocol No. 13 the Contracting States describe themselves as convinced that everyone’s right to life is a basic value in a democratic society and that the abolition of the death penalty is essential for the protection of this right and for the full recognition of the inherent dignity of all human beings“ (Hervorhebung durch Autor). 107  Vgl. EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/89, Rn. 103: „Subsequent practice in national penal policy, in the form of a generalised abolition of capital punishment, could be taken as establishing the agreement of the Contracting States to abrogate the exception provided for under Art. 2 and hence to remove a textual limit on the scope for evolutive interpretation of Art. 3“; vgl. EGMR, 02.03.2010, Al-Saadoon and Mufdhi v. United Kingdom, Nr. 61498/08, Rn. 120: „It can be seen, therefore, that the Grand Chamber in Öcalan did not exclude that Article 2 had already been amended so as to remove the exception permitting the death penalty. Moreover, as noted above, the position has evolved since then. All but two of the member States have now signed Protocol No. 13 and all but three of the States which have signed it have ratified it. These figures, together with consistent State practice in observing the moratorium on capital punishment, are strongly indicative that Article 2 has been amended so as to prohibit the death penalty in all circumstances. Against this background, the Court does not consider that the wording of the second sentence of Article 2 § 1 continues to act as a bar to its interpreting the words ‚inhuman or degrading treatment or punishment‘ in Article 3 as including the death penalty“. 108  S v. Makwanyane and another [1995] South African Constitutional Court: „In the ordinary meaning of the words, the death sentence is undoubtedly a cruel punishment… It is also an inhuman punishment for it ‚… involves, by its very nature, a denial of the executed person’s humanity‘, and it is degrading because it strips the convicted person of all dignity and treats him or her as an object to be eliminated by the State“. 109  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 2 Rn. 120. 110  Vgl. Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, Rn. 175.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 149

Am Beispiel der – auf verschiedenen Ebenen vorgebrachten – nachdrücklichen Forderung nach einem Bann der Todesstrafe in Europa lässt sich sehen, dass die Chance auf einen Neuanfang nach persönlichem Versagen als grundrechtsimmanenter Teil zur europäischen Rechtskultur zu zählen ist.111 Richterin Power-Forde brachte dies einst prägnant auf eine Formel: „[H]ope is an important and constitutive aspect of the human person. Those who commit the most abhorrent and egregious of acts and who inflict untold suffering upon others, nevertheless retain their fundamental humanity and carry within themselves the capacity to change. Long and deserved though their prison sentences may be, they retain the right to hope that, someday, they may have atoned for the wrongs which they have committed. They ought not to be deprived entirely of such hope. To deny them the experience of hope would be to deny a fundamental aspect of their humanity“.112

Summa summarum muss gesagt werden, dass im Lichte heutiger Gesellschaftsverhältnisse die Todesstrafe per se gegen die konventionsspezifische Menschenwürdegarantie (Art. 3 EMRK i. V. m. Art. 1 ZP Nr. 13) verstösst.113 Das Moratorium114 in Verbindung mit der Öffnung des Europarates für ehemalige Ostblockstaaten unter der Voraussetzung der Abschaffung der Todesstrafe, haben indes neue würderelevante Probleme bspw. bei der lebenslangen Freiheitsstrafe aufgeworfen, die allerdings bei weitem nicht nur die früheren Ostblockstaaten betreffen. 2. Lebenslange Freiheitsstrafe a) Hintergrund und Rechtsprechungsgenese Bezeichnend ist, dass sich die menschenrechtlichen Problemkomplexe lebenslänglich Inhaftierter erst nach Abschaffung der Todesstrafe in Europa auftaten und nun auch durch den Gerichtshof vermehrt diskutiert werden. Im Koepsel, Sicherungsverwahrung, S. 677 (682 f.). (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., concurring opinion of Judge Power-Forde. 113  Vgl. EGMR, 02.03.2010, Al-Saadoon and Mufdhi v. United Kingdom, Nr. 61498/08, Rn. 143 f.; so wohl auch bei Prügelstrafen: s. 3. Teil A. III. 1. 114  Russland hat seit 1996 niemanden mehr zum Tode verurteilt oder eine solche Strafe vollstreckt; das Verfassungsgericht in Rusland hat dieses Moratorium bestätigt; EGMR, 29.10.2015, A. L. (X. W.) v. Russia, Nr. 44095/14, Rn. 64: „In view of Russia’s unequivocal undertaking to abolish the death penalty, partly fulfilled through an initially de facto moratorium that was subsequently confirmed de jure by the Constitutional Court, the Court considers that the finding made in the case of Al-Saadoon and Mufdhi ‒ namely that capital punishment has become an unacceptable form of punishment“. 111  Vgl.

112  EGMR

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Schrifttum wurde in solchen Fällen gar von „death by incarceration“ gesprochen.115 Die Rechtsprechung des EGMR zu lebenslangen Freiheitsstrafen hat in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung durchlaufen, deren Konsequenzen den prima facie engen Rahmen weit überragen. Die zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde essentiellen Anforderungen wurden in positive Schutzpflichten gegossen und haben mittlerweile einen relativ hohen Differenzierungsgrad erreicht. Dieser soll nachfolgend untersucht werden. Mit der (weitgehenden) Abschaffung der Todesstrafe in Europa wurde die lebenslange Haftstrafe theoretisch zur schärfsten hiesigen Sanktion, weshalb auch das diesbezügliche Interesse der Fachöffentlichkeit stark zugenommen hat.116 Das Ministerkomitee des Europarates hat in einer Empfehlung mit Besorgnis auf die seit Abschaffung der Todesstrafe zu verzeichnende Zunahme lebenslanger Freiheitsstrafen hingewiesen.117 Wohl auch damit – und mit der grundsätzlichen Tendenz längerer Haft (auch) in Form von Verwahrungen – lässt sich die Zunahme der Gefängnispopulation in den Konventionsstaaten um die Jahrtausendwende erklären, die eine humane und effektive Gefängnisführung erschwert.118 Seit 2009 ist die Gefängnispopulation allerdings relativ stabil und beläuft sich auf zwischen 115 und 119 Gefängnis­ insassen pro 100.000 Einwohner.119 Heute ist in 38 von insgesamt 47 Europaratsstaaten eine lebenslängliche Strafe vorgesehen.120 Allerdings besteht in sämtlichen Staaten, die eine solche Strafe rechtlich auferlegen können, auch die Möglichkeit der Umwandlung oder vorzeitigen Beendigung.121 Auf europäischer Ebene wird eine le115  Van Zyl Smit, Taking Life Imprisonment Seriously in National and International Law, S. 54; vgl. Petersilia/Reitz, Introduction, S. 3 (3 ff.). 116  Bernaz, HRQ 2013, S. 470 (471); Albrecht, in: FS Killias, S. 809 (811); van Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonment, A Global Human Rights Analysis, Cambridge 2019. 117  Recommendation Rec (2003) 23 on the Management by Prison Administrations of Life-Sentence and other Long-Term Prisoners, Exordium. 118  Recommendation Rec (2003) 23 on the Management by Prison Administrations of Life-Sentence and other Long-Term Prisoners, Exordium. 119  Council of Europe Annual Penal Statistic, PC-CP (2011)3, SPACE I – Prison Population, Survey 2009, S. 26; Council of Europe Annual Penal Statistics, SPACE I – Prison Population, PC-CP (2016)6, Survey 2015, S. 2. 120  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 68. Zudem scheint die lebenslange Freiheitsstrafe gemeinhin als akzeptable und relativ unproblematische Sanktionsform anerkannt zu sein; vgl. van Zyl Smit, Taking Life Imprisonment Seriously in National and International Law, S. 197. 121  De Jonge, Lebenslänglich: ein europäisches Problem braucht eine europäische Lösung, S. 71 (74).



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 151

benslange Freiheitsstrafe ganz einfach – und wie der Name andeutet – als eine Strafe definiert, die bis ans Lebensende dauert (oder dauern kann).122 Im Schrifttum wird unter einer lebenslänglichen Haftstrafe eine Strafe subsumiert, die dem Staat die Möglichkeit gibt, einen strafrechtlich verurteilten Täter bis ans Lebensende inhaftiert zu lassen. Darunter fällt sachlogisch auch (potenziell) lebenslängliche – da unbegrenzte – Verwahrungshaft.123 Der EGMR selbst hatte sich in diversen Fällen mit solchen Strafen zu befassen, wobei diese Urteile sowohl das einspurige als auch das zweispurige Strafrechtssystem betrafen.124 So werden bspw. im Vereinigten Königreich Aspekte der Gefährlichkeit dergestalt gewürdigt, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe angeordnet werden kann, wobei die Möglichkeit geschaffen wird, diese im Falle der Neutralisierung der gefährlichkeitsbegründenden Dispositionen auszusetzen. Auch wird im Vereinigten Königreich – anders als in der Schweiz – nicht von einer Einzeltatschuld ausgegangen, sondern man greift bei der Auferlegung der Strafe auf das Konstrukt der Lebensführungsschuld zurück.125 Diese Heterogenität der Strafen erfordert es, die Wertungen des Gerichtshofes stark zu abstrahieren. Das erste Mal hatte sich die EKMR mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe 1978 auseinanderzusetzen. Es ging um einen Fall, in dem eine Todesstrafe in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt worden war.126 Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Todesstrafe in der EMRK nicht explizit ausgeschlossen wurde (vgl. Art. 2 Abs. 2 EMRK), wurde die Freiheitsstrafe bis ans Lebensende als menschenrechtlich unproblematisch erachtet. In der Rechtssache Einhorn127 äusserte der Gerichtshof dann erstmals Bedenken hinsichtlich einer sog. „nicht reduzierbaren lebenslänglichen Freiheitsstrafe“: „The court did not rule out the possibility that the imposition of an irreducible life sentence may raise an issue under Article 3 of the Conven­

122  Recommendation Rec (2003) 23 on the management by prison administrations of life sentence and other long-term prisoners, Rn. 1. Eine allgemeingültige Definition, die alle Rechtsordnungen berücksichtigt und versucht, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, ist kaum möglich und auch nicht besonders zweckdienlich; van Zyl Smit, Taking Life Imprisonment Seriously in National and International Law, S.  1 ff. 123  Van Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonment, S. 35; van Zyl Smit/Appleton/ Benford, Life Imprisonment and Human Rights, S. 1 (2 f.). 124  Zur Unterscheidung zwischen einspurigem und dualistisch-vikariierendem Strafrechtssystem s. nur Jositsch/Ege/Schwarzenegger, Strafen und Massnahmen, 9. Aufl. Zürich 2018. 125  Heer, in: Niggli/Wiprächtiger, BSK StGB I, Vor Art. 56 Rn. 18a. 126  EKMR, 06.05.1978, Kotälla v. Netherlands, Nr. 7994/77. 127  EGMR, 16.10.2001, Einhorn v. France, Nr. 71555/01.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

tion“.128 Dabei bezog sich der Gerichtshof auf eine damals einschlägige, von allen Europaratsstaaten akzeptierte Resolution, der zufolge den Gefangenen die Möglichkeit zu eröffnen sei, sich um eine vorzeitige Entlassung bemühen zu können.129 Der eigentliche Grundstein wurde dann in der Rechtssache Kafkaris130 gelegt. In diesem Fall war der Beschwerdeführer zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes verurteilt worden. Ihm wurde mitgeteilt, dass seine vorzeitige Entlassung aus der Haft in 20 Jahren geplant sei, vorausgesetzt, er zeige gute Führung und Fleiss.131 Diese Entlassungspraxis wurde aber während des Vollzugs geändert, sodass er nunmehr ein Gnadengesuch an den zyprischen Präsidenten stellen musste.132 Die Konsequenz war, dass der Beschwerdeführer nur noch auf Gnade eines Exekutivorgans (Vizepräsident), welches lediglich auf Geheiss des zuständigen Staatsanwalts hin tätig werden konnte, hoffen durfte.133 Dieser Gnadenentscheid brauchte nicht begründet zu werden und war auch nicht anfechtbar. Der Beschwerdeführer brachte vor, ihm sei alle Hoffnung genommen, jemals entlassen zu werden, was zu grossem Leid führe und daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstelle. Der EGMR argumentierte, unter dem Schutzkonzept von Art. 3 EMRK seien sog. „irreducible life sentences“ problematisch; lebenslange Freiheitsstrafen müssten de jure und de facto reduzierbar sein, um als menschenrechtlich vertretbar gelten zu können. Im vorliegenden Fall wurde allerdings die Gnadenmöglichkeit (noch) als ausreichend erachtet, um eine solche Reduzierbarkeit zu bejahen.134 128  EGMR, 16.10.2001, Einhorn v. France, Nr. 71555/01, Rn. 27; zuvor bereits in EGMR, Entsch. v. 03.07.2001, Nivette v. France, Nr. 44190/98, Rn. 1. 129  Resolution (76) 2 of the Council of Europe’s Committee of Ministers on the treatment of long-term prisoners. 130  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04. 131  Dabei stützten sich die Behörden auf eine Verordnung (Nr. 76/1987): EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 19. 132  Der Oberste Gerichtshof in Zypern hob die Verordnung im Zusammenhang mit der Beschwerde einer anderen Person, die zu dem von der Gefängnisleitung festgesetzten Termin freigelassen worden war, wegen Verfassungswidrigkeit auf. 133  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 86. 134  Dies obwohl die zypriotische Regierung selbst einräumte, dass das einschlägige Verfahren um Gnadenerlass unbefriedigend ausgestaltet sei; EGMR(GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 98. Ein ausführliches Minderheitsvotum kritisierte diese Schlussfolgerung dezidiert, da die Gnadenpraxis völlig unvorhersehbar und willkürlich sei. Ferner wurde die Kritik geäussert, dass es die Mehrheit verpasst habe, den europäischen Strafzweck der Resozialisierung aus den zitierten Materialien herzuleiten und in die EMRK zu inkorporieren; die Mindermeinung geht so weit zu sagen, dass jeder Strafvollzug, der nicht auf die Resozialisierung hinziele, per se gegen Art. 3 EMRK verstösst; EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, party dissenting opinion of Judges Tulkens, Cabral Barreto, Fura-San-



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 153

Die vorläufigen dogmatischen Schlusspunkte in dieser Rechtsprechungsgenese bilden die Rechtssachen Vinter,135 Murray136 und Hutchinson,137 auf die nachfolgend eingegangen wird. Einleitend sei lediglich darauf hingewiesen, dass es der Gerichtshof als mit der Menschenwürde unvereinbar und daher inhuman erachtet, wenn nicht die „Rehabilitation“ des Straftäters im Kern des Strafvollzuges steht.138 Im Leiturteil Vinter139 wurden die in Kafkaris140 erarbeiteten Anforderungen an die Kompatibilität mit Art. 3 EMRK weiter ausdifferenziert: In casu ging es um drei wegen Mordes verurteilte Straftäter, denen eine sog. „whole life order“ auferlegt wurde. Grundsätzlich handelt es sich hierbei um eine nicht aussetzbare lebenslange Freiheitsstrafe. Der Innenminister hat aber die Möglichkeit, aufgrund „humanitärer Erwägungen“, wenn aussergewöhnliche Umstände bestehen, eine Entlassung anzuordnen. Allerdings hat der Crime Sentence Act 1997 das Ermessen erheblich reduziert – wenn nicht gar auf null heruntergeschraubt –, da lediglich terminale Erkrankung und schwere Behinderung als entlassungstaugliche Gründe (exemplarisch) aufgeführt sind.141 Als Richtwert wird gar eine Restlebensdauer von drei Monaten angegeben.142 Für den Gerichtshof war diese Entlassungsoption nicht vereinbar mit der Menschenwürde. Er forderte, es müsse effektive Aussicht auf Entlassung („prospect of release“) bestehen und ein entsprechender Haftüberprüfungsmechanismus („possibility of review“) bereitgestellt werden. Nur so könne

ström, Spielmann u. Jebens. Das Urteil in der Rechtssache Kafkaris wurde bestätigt, in: EGMR, 02.09.2010, Iorgov v. Bulgaria (no. 2), Nr. 36295/02, Rn. 31 ff. 135  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a. 136  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10. 137  EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08; jüngst bestätigt in: EGMR, 12.03.2019, Petukhov v. Ukraine (no. 2), Nr. 41216/13. 138  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 113: „Rehabilitation [is] required in any community that establishes human dignity as its centerpiece“; EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. United Kingdom, Nr. 10511/10, Rn. 101: „[I]t would be incompatible with human dignity – which lay at the very essence of the convention – forcefully to deprive a person of his freedom without striving towards his rehabilitation and providing him with the chance to regain that freedom at some future date“. 139  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a. 140  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04. 141  Dauerhafte Bettlägerigkeit oder Lähmungen und drgl. 142  Vgl. Morgenstern, RW 2014, S. 153 (153 ff.).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

eine Haftstrafe als de jure und de facto reduzierbar und folglich konventionskonform erachtet werden. Nachfolgend werden die angedeuteten Schutzbereichselemente und Schutzpflichten ausdifferenziert, systematisiert und analysiert sowie mit den Feststellungen aus den jüngsten Urteilen, Murray143 und Hutchinson,144 angereichert. Aufgrund der Tiefe, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Bereich mittlerweile erlangt hat, wird immer deutlicher, was der Achtungsanspruch der Menschenwürde in der EMRK fordert bzw. wie die Würde in diesem Bereich wirkt. b) Verbot der „nicht reduzierbaren“ lebenslänglichen Freiheitsstrafe Unter dem Schutzschirm von Art. 3 EMRK ist stets zu überprüfen, ob eine effektive Entlassungsaussicht („prospect of release“) besteht, die über eine blosse Härtefallklausel hinausgeht.145 Von effektiver Aussicht auf Entlassung kann nur gesprochen werden, wenn eine rechtliche und tatsächliche Möglichkeit besteht, eine vorzeitige Haftentlassung zu erwirken. Eine Haftstrafe muss demnach de jure und de facto reduzierbar146 sein.147 Anderenfalls ist sie als Verletzung von Art. 3 zu taxieren – und zwar ab initio.148 aa) De-jure-Reduzierbarkeit Für eine De-jure-Aussicht auf Entlassung ist massgebend, ob das nationale Recht eine Strafumwandlung, einen Straferlass oder eine Beendigung der Strafhaft vorsieht.149 Der Gerichtshof prüft also vorwiegend das geltende (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10. (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08. 145  Vgl. EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter v. United Kingdom, Nr.  66069/09 u. a., Rn. 110, 127; EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 100, dieser Anspruch ist der effektivitätssichernden Auslegung der EMRK geschuldet: vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn.  8 ff.; Meyer-Ladewig/Nettesheim/Von Raumer, EMRK-Kommentar, Einleitung Rn. 26; van Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonment, S. 207; Ronc, Lebenslängliche Verwahrung im Lichte der EMRK, S. 332 (342 f.). 146  Unter „Reduzierbarkeit“ versteht der EGMR, dass eine Haft beendbar oder verkürzbar sein muss; es kann auch reichen, dass eine Haftumwandlung – von einer lebenslänglichen in eine zeitige Strafe – möglich ist. 147  EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08, Rn. 42: „(…) to be compatible with Article 3 such a sentence must be reducible de jure and de facto“. 148  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 122. 149  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 98. 143  EGMR 144  EGMR



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 155

nationale Recht. Eine schlichte Härtefallregelung i. S. einer ausnahmsweisen Begnadigung genügt den Anforderungen an eine De-jure-Reduzierbarkeit nicht.150 bb) De-facto-Reduzierbarkeit (1) Tatsächliche Entlassungspraxis Das Kriterium der De-facto-Reduzierbarkeit umfasst zum einen die reale Entlassungspraxis,151 zum anderen die tatsächliche Verwirklichung des Prinzips der Rehabilitation.152 Die Statuierung dieses Erfordernisses ist kohärent und verpflichtet zu einer effektivitätssichernden Auslegung.153 Ansonsten könnten Staaten eine Entlassungsoption zwar rechtlich vorsehen, diese aber nie oder nur äusserst selten anwenden. Der Gerichtshof zeigt sich in diesem Bereich äusserst pragmatisch, indem er Justizstatistiken untersucht, um bspw. nachzuprüfen, ob von einem rechtlich festgelegten Gnadenrecht in der Vergangenheit überhaupt Gebrauch gemacht wurde. So kam der Gerichtshof einst zum Schluss, dass eine De-facto-Reduzierbarkeit gegeben sei, weil in einem Jahr neun und in anderen Jahren jeweils zwei Personen begnadigt worden waren.154 In der Rechtssache Iorgov155 hingegen hatte der Vizepräsident bislang noch nie von seiner Gnadenkompetenz Gebrauch gemacht.156 Eine Konven150  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09, 130/10 u. 3896/10, Rn. 127. 151  So auch jüngst: EGMR, 12.03.2019, Petukhov v. Ukraine (no. 2), Nr. 41216/13, Rn. 185: „[T]he Court has held in its case-law that in assessing whether a life sentence is reducible de facto, it may be of relevance to take account of statistical information on prior use of the review mechanism in question, including the number of persons who have been granted a pardon“. 152  Vgl. Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2015, S. 367 (368). Es wird eine reale und nicht nur theoretische Entlassungspraxis gefordert: EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 97 f.; eine bloss theoretische Möglichkeit genügt dem Standard der EMRK nicht: EGMR, 08.07.2014, Harakchiev and Tomulov, Nr. 15080/11 u. 61199/12, Rn. 255 f. 153  2. Teil B. I. 2. b). 154  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 103. 155  EGMR, 02.09.2010, Iorgov v. Bulgaria (no. 2), Nr. 36295/02. 156  EGMR, 02.09.2010, Iorgov v. Bulgaria (no. 2), Nr. 36295/02, Rn. 37, 45. Die Faktizität der Entlassungsmöglichkeit war in diesem Fall gegeben, da zu jener Zeit laut dem EGMR noch nicht viele Personen länger als 20 Jahre inhaftiert waren und man daher nicht sagen konnte, dass der Vizepräsident nicht von seiner Kompetenz des Gnadenerlasses Gebrauch mache, weil dies in Zukunft noch möglich sei bzw. abgewartet werden müsse.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

tionsverletzung wurde unter dem Aspekt der rechtlichen und faktischen Entlassungsoption dennoch nicht festgestellt. Unter dem Strich bietet die Überprüfung der tatsächlichen Entlassungs­ praxis daher kaum individuellen Rechtsschutz. Weitere Schutzaspekte müssen hinzutreten. (2) Resozialisierung Seit Vinter157 argumentiert der Gerichtshof dezidierter mit der Menschenwürde und einem europäischen Bekenntnis zum überragenden Vollzugsziel der Resozialisierung158 („rehabilitation“),159 das (nebst einer rechtlichen) eine tatsächliche Reduzierbarkeit überhaupt erst denkbar macht. Indem der Gerichtshof das Resozialisierungsprinzip exklusiv aus der Menschenwürde herleitet,160 hat er diesen Grundsatz im Strafvollzug über Art. 3 EMRK menschenrechtlich verankert.161 Bei seiner Auslegung stützt sich der EGMR auf diverse internationale Normen sowie auf ausgewählte nationale Verfassungsrechtsprechung:162 In methodischer Hinsicht bezieht er sich massgebend auf das BVerfG,163 das italienische Verfassungsgericht,164 aber auch auf internationale Menschen157  EGMR

u. a.

(GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09

158  „Rehabilitation“ wird im deutschen Sprachraum auch als „Resozialisierung“ bezeichnet; zum Schutzgehalt des Resozialisierungskonzepts der EMRK s. van Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonment, S. 214 ff; Coninx, Life without Parole for Preventive Reasons? Lifelong Post-sentence Detention in Switzerland, S. 435 (448 f.); vgl. Mavronicola, HRLR 2015, S. 721 (736 ff.); Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (47 ff.). 159  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a. Rn.  114. 160  S. a. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 2, 59 ff. 161  Morgenstern, RW 2014, S. 153  ff.; Kromrey/Morgenstern, ZIS 2014, S. 704 (709); vgl. Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (40 ff.). 162  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 114: „[There is] now clear support in European and International Law for the principle that all prisoners, including those serving life sentence, be offered the possibility of rehabilitation and the prospect of release if that rehabilitation is achieved“. 163  Namentlich das Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe BVerfG 45, 187; zur mitgliedstaatlichen Normebene als Rechtserkenntnisquelle; 2. Teil B. II. 3. a)–3. b). 164  Vgl. Art. 27 Verfassung Italien. Der italienische Verfassungsgerichtshof hatte sich soweit ersichtlich als erster Verfassungsgerichtshof in Europa zur lebenslangen Freiheitsstrafe und den damit verfolgten Strafzwecken in Europa geäussert. Ziel und Zweck der Strafe sei es, die Wiedereingliederung des Täters in die Gemeinschaft zu fördern. Abschreckung, Prävention und der Schutz der Gesellschaft genauso wie die



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 157

rechtsverträge165 und Europaratsdokumente,166 welche als Soft Law zu qualifizieren sind.167 Somit identifiziert der Gerichtshof den Schutz der Menschenwürde als einen Kerngehalt der Konvention.168 Mit der gebotenen Achtung der Menschenwürde sei es aber unvereinbar, wenn man den Menschen zwangsweise seiner Freiheit entkleide, ohne ihm zumindest die Chance und Hoffnung zu eröffnen, eines Tages wieder der Freiheit teilhaftig zu werden.169 Auch das CPT fordert für alle Gefangenen, auch jene, die in Sicherungsverwahrung sind, die (effektive) Option einer bedingten Entlassung.170 Innerhalb des Europarates und in den Fachausschüssen wird der menschenrechtliche Ansatz im Strafvollzug insofern deutlich, als der Mensch als Besserung des Täters seien zulässige Begründungen der Strafe; vgl. Verfassungsgerichtshof Rom: Urteil Nr. 264, abgedruckt in der amtlichen Entscheidsammlung „Raccolta Uffiziale delle sentenze e ordinanze della Corte Costituzionale“, Vol. 42 (1974), 353. 165  Art. 10 IPbpR; EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 80. 166  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 6 u. 102.1; 167  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 101: „While punishment remained one of the aims of imprisonment, the emphasis in European penal policy was now on the rehabilitative aim of imprisonment, even in the case of life prisoners; this was expressed in Rules 6, 102.1 and 103.8 of the European Prison Rules, Resolution (76) 2 and Recommendations Rec (2003)23 and Rec (2003) 22 of the Committee of Ministers, statements by the Committee for the Prevention of Torture, and the practice of a number of Contracting States. The same commitment to rehabilitation was to be found in international law, as expressed, inter alia, in Article 10 § 3 of the International Covenant on Civil and Political Rights and the General Comment on that Article“; zur Auslegungsmethodik allgemein: 2. Teil B. I. 168  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn.  113. 169  BVerfGE 45, 187; Explanatory Memorandum, Recommendation Rec(2003)22 on conditional release, § 4: „Life-sentence prisoners should not be deprived of the hope to be granted release either. Firstly, no one can reasonably argue that all lifers will always remain dangerous to society. Secondly, the detention of persons who have no hope of release poses severe management problems in terms of creating incentives to co-operate and address disruptive behaviour, the delivery of personal-development programmes, the organisation of sentence-plans and security. Countries whose legislation provides for real life sentences should therefore create possibilities for reviewing this sentence after a number of years and at regular intervals, to establish whether a life-sentence prisoner can serve the remainder of the sentence in the community and under what conditions and supervision measures“; EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09, 130/10 u. 3896/10, Rn. 116. 170  CPT, Bericht an die Schweiz vom 25. Oktober 2012, [CPT/Inf (2012), Rn. 118]; EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09, 130/10 u. 3896/10, Rn. 64.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

fühlendes, denkendes und hoffendes Subjekt anerkannt wird, das Verantwortung trägt (und daher strafrechtlich belangt werden kann), aber auch zu Veränderungen fähig ist. So statuieren diverse Empfehlungen, dass der Freiheitsentzug ultimativ die soziale Wiedereingliederung (ohne Subspezifizierung nach Straftat oder Sanktionsform) avisieren solle; der Vollzug müsse den Häftling zu einem straffreien und verantwortungsbewussten Leben in Freiheit befähigen.171 Gefangene sollen auch den Anspruch haben, an Programmen zur Vorbereitung auf ein Leben in Freiheit teilzunehmen.172 Allerdings darf dies nicht in eine Art Therapiezwang münden;173 vielmehr sollte der Staat im Rahmen des Freiheitsentzugs ein „Besserungsangebot“ machen, das der Häftling annehmen oder ablehnen kann.174 In der Rechtssache Murray175 hat der EGMR diesen Ansatz weiter ausdifferenziert, indem er den Mitgliedstaaten aufträgt, das Haftregime einschliesslich der materiellen Haftbedingungen am Grundsatz der Resozialisierung auszurichten. Vertragsstaaten müssen demnach adäquate Mittel für die Resozialisierung von Tätern zur Verfügung stellen. Hierbei handelt es sich um eine Leistungspflicht i. S. einer „obligation of means“176 und nicht um die Pflicht, konkrete (Resozialisierungs-)Erfolge („obligation of result“) zu erzielen. Die Resozialisierung des Täters kann durchaus fehlschlagen, ohne 171  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules 2006, § 6 u. 102.1; EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn.  116. 172  Recommendation Rec (2003) 23, § 2, 8 u. 34; EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 116. 173  Zur Gefahr der Interpretation der Rechtsprechung des EGMR in Richtung eines Therapiezwangs vgl. EGMR, 09.01.2018, Kadusic v. Switzerland, Nr. 43977/13: Urteilsbesprechung Ronc, forumpoenale 2018, S. 156 (156 ff.). 174  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 104: „The obligation to offer a possibility of rehabilitation is to be seen as an obligation of means, not one of result“; vgl. ferner Müller-Steinhauer, Autonomie und Besserung im Strafvollzug, S. 236. Mit dem Strafzweck der Resozialisierung ist letztlich der Glaube an die prinzipielle Besserungsfähigkeit des Menschen verbunden. Dieser Gedanke war usprünglich stark theologisch geprägt, was sich in der grundsätzlichen Anerkennung der „zweiten Chance“ eines jeden Menschen manifestierte. Mit der Einführung der Zuchthäuser in Europa sollten Sträflinge wieder zu produktiven Elementen der Gesellschaft „gezüchtigt“ werden. Der „Staat“ bzw. die Autorität in Europa erschien insgesamt als Anstalt, um die Menschen besser zu machen; zum Ganzen aus soziologischer Perspektive Foucault, Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses, 20. Aufl., Frankfurt a. M. 2017. Auch Strafen sollten dem Zweck dienen, den Menschen zu bessern; Schmoeckel, Die Reformation und der Strafzweck der Besserung, S. 29 (43 ff.). 175  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10. 176  Vgl. Günther, Responsibility to Protect and Preventive Justice, S. 69 (85): „[R]endering a service by the state to the owner of a right (…) is the paradigm of the interventionist and welfare state“.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 159

dass dies einer Konventionsverletzung gleichkommt; vielmehr kann eine vorzeitige Entlassung ihrerseits eine Konventionsverletzung darstellen, da die Konventionsstaaten auch verpflichtet sind, die Öffentlichkeit vor absehbaren Gewaltstraftaten zu schützen (sog. multipolare Grundrechtsverhältnisse).177 Wenn es zum Schutz der Öffentlichkeit notwendig ist, kann eine fortdauernde (potenziell lebenslängliche) Haft menschenrechtlich gar gefordert sein, allerdings nur in sehr engen Grenzen.178 So kann die andauernde Gefährlichkeit des Häftlings – ganz gleich, nach welchem wissenschaftlichen Massstab eine solche Zuschreibung erfolgt – eine tatsächlich bis ans Lebensende vollzogene Freiheitsstrafe legitimieren.179 Dass nach dem Erörterten vieles im Graubereich bleibt, liegt auf der Hand. So ist bspw. völlig unklar, ab wann eine Konventionsverletzung vorliegt und inwieweit Konventionsstaaten einzelne positive Schutzpflichten (mit Blick auf das Resozialisierungserfordernis) missachten können, ohne dadurch das Mindestmass an Eingriffsschwere gemäss Art. 3 EMRK zu überschreiten. Der vom Gerichtshof gewährleistete weite Ermessensspielraum bei der konkreten Ausgestaltung von Beschäftigungs- und Therapiemöglichkeiten tut sein Übriges. Immerhin bleibt festzuhalten, dass mit „Resozialisierung nach Art. 3 EMRK“ die Vorstellung der „sozialen Wiedereingliederung“ des Straftäters in die freie Gesellschaft verbunden ist. Dies bedeutet, dass es sich nicht um einen eigentlichen Strafzweck handelt, sondern um ein grundrechtlich geschütztes Interesse an Resozialisierung. Dieses beinhaltet regelmässig, aber nicht in jedem Fall zwingend, auch die Vermittlung von gewissen Fähigkeiten i. S. v. Ausbildungskursen oder Sozialtherapien.180 Insofern ist der aus der Menschenwürde hergeleitete Resozialisierungsgedanke als Optimierungs­ 177  Vgl. EGMR (GK), 28.10.1998, Osman v. United Kingdom, Nr. 23452/94; zum Ganzen Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (37 f.); weiterführend Mavronicola, MLR 2017, S. 1026-1051. 178  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u.  a., Rn. 108; EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 111. 179  EGMR, 20.05.2014, László Magyar v. Hungary, Nr. 73593/10, Rn. 49. In ­dieser Hinsicht weist der EGMR auch auf die Schutzpflichten des Staates nach der Konvention hin, die bei Bewährungsentscheidungen einfliessen dürfen; vgl. EGMR (GK), 24.10.2002, Mastromatteo v. Italy, Nr. 37703/97, Rn. 72; EGMR, 15.12.2009, Maiorano and others v. Italy, Nr. 28634/06, Rn. 108; mutatis mutandis EGMR, 17.01.2012, Choreftakis and Choreftaki Greece, Nr. 46846/08, Rn. 45. 180  Im Zentrum stehen die Vermeidung von Haftschäden (Prisonisierungseffekte) sowie die Verhinderung der Desozialisierung. Als Begründung oder Legitimierung der Strafe taugt „Resozialisierung“ nicht. Denn das am besten geeignete Mittel, um Täter wieder in die Gesellschaft einzugliedern, wäre es, sie gar nicht erst „auszugliedern“.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

anspruch181 zu verstehen, der sich in Leistungsansprüchen konkretisieren kann.182 (3) Behandlung psychisch kranker und gefährlicher Häftlinge Psychisch kranke Häftlinge werden als „besonders verletzliche Personengruppe“ qualifiziert,183 weshalb ihre Würde streng gewahrt werden müsse. Sie haben typischerweise grössere Schwierigkeiten, ihre Rechte einzufordern und im eigenen wohlverstandenen Interesse zu agieren. Die Gefahr übermässiger Grundrechtseingriffe ist solchen Sachlagen immanent. Oft werden psychisch kranke Inhaftierte zugleich als gefährliche Personen eingestuft, wodurch ihre Entlassung zusätzlich erschwert oder gar verunmöglicht wird. Soweit eine Person im Rahmen der schuldübergreifenden Verwahrung184 inhaftiert ist, deren Eingriffsschwere derjenigen einer Freiheitsstrafe gleicht, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unbedingt ein einzig auf Rehabilitation und soziale Wiedereingliederung ausgerichteter Haftvollzug zu gewährleisten.185 Deshalb ist es unabdingbar, neben der Durchführung einer medizinischen Anamnese auch eine entsprechende Therapie und medizinische Überwachung zu sicherzustellen.186 Diesem Postulat wird in der Praxis allzu oft nicht oder zu wenig entsprochen. Soweit die psychische Erkrankung und die damit gekoppelte Gefährlichkeit bzw. die kriminellen Verhaltensmuster des Täters neutralisiert werden müssen, damit dieser in den Genuss einer Haftentlassung (oder Vollzugslockerung) kommen kann, müssen im Strafvollzug effektive Behandlungsmöglichkeiten bereitgestellt sein.187 Unter ge181  2. Teil

A. IV. 4. dieser Stelle muss gesagt werden, dass nach ständiger Rechtsprechung des EGMR bei der Prüfung, ob eine Art. 3-Verletzung vorliegt oder nicht, alle Einzel­ fallumstände berücksichtigt werden müssen. Die Feststellung des Gerichtshofs, dass eine nicht reduzierbare Freiheitsstrafe ab initio als Konventionsverletzung zu erachten sei, weicht ein Stück weit von der allgemeinen Eingriffsschwellendogmatik von Art. 3 ab; vgl. Kritik: EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., dissenting opinion Judge Villiger. 183  Vgl. EGMR, 03.04.2001, Keenan v. United Kingdom, Nr. 27229/95, Rn. 99: „[T]reatment of mentally ill persons may be incompatible with the standards imposed by Article 3 in the protection of fundamental human dignity, even though that person may not be able, or capable of, pointing to any specific ill-effects“. 184  Wenn also der schuld- und tatproportionale Teil der Haft verbüsst wurde. Gemeint sind auch anderweitige (präventive) Formen von Haft. 185  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10; van Zyl Smit/ Appleton, Life Imprisonment, S. 215 ff.; Coninx, Life without Parole for Preventive Reasons? Lifelong Post-sentence Detention in Switzerland, S. 435 (445); Ronc, Lebenslange Verwahrung im Lichte der EMRK, S. 331 (343 f.). 186  EGMR, 21.12.2010, Raffray Taddei v. France, Nr. 36435/07, Rn. 59. 187  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 108 ff. 182  An



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 161

wissen Umständen kann es gelingen, Häftlinge durch medizinische, psychologische und/oder psychiatrische Behandlungen und Therapien zu einer realistischen Rehabilitationsmöglichkeit zu befähigen.188 Die spezifischen positiven Schutzpflichten der Vertragsstaaten in medizinischer Hinsicht gelten auch für gefährliche Straftäter; denn auch sie gehören in den Augen des Gerichtshofs zu den verletzlichsten Personen, die besonderen Würde-Schutz verdienen, zum einen infolge der Inhaftierung,189 zum anderen, weil sie typischerweise an einer psychischen Krankheit leiden.190 So hat der Gerichtshof in der Rechtssache Bamouhammad191 eine Verletzung von Art. 3 EMRK festgestellt. Konkret ging es um einen als gefährlich erachteten Strafgefangenen, der an einer Gefängnispsychose litt und der wiederholt von einer Haftanstalt in eine andere transferiert wurde, was seinen Gesundheitszustand verschlimmerte. Der EGMR stellte fest, dass die Behörden, obwohl sie den Häftling anders als gewöhnliche Strafgefangene behandelt hätten, seiner „Verletzlichkeit“ nicht hinreichend Nachachtung verschafft hatten; gefordert wäre aber gewesen, diesen Fall aus einer „humanitären Perspektive“ anzugehen, anstatt nur die Gefährlichkeit des Häftlings als massgebend zu erachten.192 Dies ist erneut ein klares Zeichen dafür, dass jeder Mensch, unabhängig von seinen Taten und Fähigkeiten, als Selbstzweck mit intrinsischem Eigenwert und Empathie zu behandeln ist. In Übereinstimmung mit dem CPT fordert der Gerichtshof bei psychisch kranken und gefährlichen Tätern eine kohärente und ganzheitliche Behandlungsstrategie, die sich nicht in einer schlichten Betreuung erschöpft.193 So hat die Grosse Kammer jüngst Folgendes festgehalten: „[Treatment] is of particular importance where treatment in effect constitutes a precondition for the life prisoner’s possible, future eligibility for release and is thus a crucial aspect of de facto reducibility of the life sentence“.194 Verletzen Konven­ tionsstaaten ihre positiven Schutzpflichten in Bezug auf die Rehabilitation des Täters, erachtet der Gerichtshof die Haft als de facto nicht reduzierbar.195

(GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 109. A. III. 4. e) bb) (Verletzlichkeit von Häftlingen). 190  EGMR, 16.04.2013, Aswat v. United Kingdom, Nr. 17299/12, Rn. 50. 191  EGMR, 17.11.2015, Bamouhammad v. Belgium, Nr. 47687/13. 192  EGMR, 17.11.2015, Bamouhammad v. Belgium, Nr. 47687/13, Rn. 123 u. 148. 193  EGMR, 10.02.2004, Gennadi Naoumenko v. Ukraine, Nr. 42023/98, Rn. 112. 194  EGMR, 10.02.2004, Gennadi Naoumenko v. Ukraine, Nr. 42023/98, Rn. 108. 195  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 112. 188  EGMR 189  3. Teil

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

(4) Haftüberprüfungsmechanismus Flankierend zu den oben herausgearbeiteten materiellen Schutzpflichten treten prozedurale Schutzverpflichtungen hinzu, um die „Aussicht auf Entlassung“ abzusichern.196 Nur so kann der Gerichtshof auch Schutzkonzepte garantieren, die effektiv und konkret wirken und für den Einzelnen nicht bloss theoretisch und illusorisch bleiben.197 So hat der EGMR – erstmals in Vinter – Retribution, Abschreckung, Sicherheit der Öffentlichkeit und Resozialisierung (Rehabilitation) des Straftäters als in Europa legitime Strafzwecke198 bezeichnet.199 Dadurch hat er diesen Strafzwecken eine konventionsrechtliche Legitimierung verliehen.200 (5) Überprüfung der Strafzwecke Bei der Überprüfung, ob im Einzelfall die Strafzwecke noch vorhanden sind, ist der menschenrechtliche Ansatz ausschlaggebend. Er kennzeichnet sich dadurch, dass der Mensch im Zentrum steht und sich die Überprüfung noch vorhandener legitimer Strafzwecke an ihm messen muss. Vertragsstaaten müssen ihren nationalen Gerichten und Behörden eine entsprechende Kognition gewährleisten. Bei der Prüfung, ob die Strafe noch legitim er196  Morgenstern,

RW 2014, S. 153 (182). ist ein Gebot der effektivitätssichernden Auslegung; vgl. 2. Teil B. I. 2. b); EGMR (GK), 04.02.2005, Mamatkulov and Askarov v. Turkey, Nr. 46827/99 u. 46951/99, Rn. 121; vgl. Besprechung von Oellers-Frahm, EuGRZ 2003, S. 689 (671 ff.). 198  Darunter fallen sowohl Strafzwecke als auch Massnahmenzwecke im dualistischen System, weshalb auch von Sanktionszwecken gesprochen werden kann. 199  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u.  a., Rn. 111; bestätigt in EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 100; EGMR, 03.04.2012, Bulois v. Luxembourg, Nr. 37575/04, Rn. 83. 200  In einem Folgeentscheid werden die Strafzwecke durch Richter Pinto de Albuquerque weiter ausdifferenziert: negative Spezialprävention (Sicherung des Täters); positive Spezialprävention (Rehabilitation des Täters); negative Generalprävention (Abschreckung); positive Generalprävention (Normbekräftigung der Gesellschaft) sowie Retribution (Vergeltung) sind konventionsrechtlich anerkannt; EGMR (GK), 18.03.2014, Öcalan (no. 2) v. Turkey, Nr. 24069/03 a.o., partly dissenting opinion of Judge Pinto de Albuquerque. An dieser Stelle sei am Rande bloss darauf hingewiesen, dass empirische Befunde darauf schliessen lassen, dass das Strafrecht in spezial- wie in generalpräventiver Hinsicht nur geringe handlungsleitende Wirkung hat; vgl. Al­ brecht P.-A., Kriminologie, S. 137 ff. Es besteht also begründeter Zweifel an der in­ strumentellen Steuerungsfähigkeit des Strafrechts, was von Albrecht als Beleg für die rechtsstaatsgefährdende Funktionalisierung des Strafrechts als Mittel symbolischer Politik gedeutet wird; Albrecht P.-A., Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft, S. 698. 197  Dies



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 163

scheint, muss das Augenmerk auf die Persönlichkeitsentwicklung des Häftlings gerichtet werden.201 Massgebend ist überdies ein „dynamisches Strafzweckverständnis“: Während zu Beginn der Haft Aspekte der Retribution und Abschreckung vorherrschend sein dürften, nimmt im Lauf der Zeit der Strafzweck der Resozialisierung immer grössere Bedeutung an.202 Daher müssen die Konventionsstaaten einen Entlassungsmechanismus etablieren, durch den die zuständigen Behörden überprüfen können, ob die Veränderungen in der Person des Betroffenen so bedeutsam sind bzw. im Sinne der Resozialisierung derartige Fortschritte eingetreten sind, dass eine fortdauernde Inhaftierung durch den verfolgten Strafzweck nicht mehr gedeckt erscheint.203 In der Praxis dürfte dieser Punkt am relevantesten sein. Insbesondere die erfolgreiche Rehabilitation der inhaftierten Person und ihre Fähigkeit, straffrei zu leben, müssen überprüft werden können, und zwar nicht völlig losgelöst von generell-abstrakten Kriterien.204 Reines Gutdünken der Vollzugsbehörden wäre nicht konventionskonform. Gefordert werden vielmehr objektive, vorab festgelegte Kriterien („objective, pre-established criteria“), die dem Verurteilten zugänglich gemacht wurden und anhand derer er sein Verhalten und seine Motivation während der Haftzeit ausrichten können soll.205 Diffuse und bloss fragmentarische Regelungen der Entlassungsbedingungen und -anforderungen tragen laut dem EGMR dazu bei, dass Gefangenen keine angemessene Haftüberprüfung zuteilwird, da sie nicht wissen können, was sie zu tun haben, um für eine allfällige bedingte Entlassung in Frage zu kommen.206 Dies bedeutet, dass Staaten in Zukunft wohl nicht umhinkommen werden, für jeden verurteilten Straftäter, der einen Freiheitsent201  s. jüngst: EGMR, 12.03.2019, Petukhov v. Ukraine (no. 2), Nr. 41216/13, Rn. 180: „(…) a mechanism, based on penological grounds and with adequate procedural safeguards, for review of a prisoner’s situation so that the adjustment of his or her life sentence could be obtained“; s. a. EGMR, 04.09.2014, Trabelsi v. Belgium, Nr. 140/10. 202  Mavronicola, MLR 2014, S. 292 (299): „It is clear from this statement that the Court essentially did not accept the government’s argument that the whole life term was the minimum term imposed for purely retributive purposes – it indicates rather that, in the Court’s view, the retributive aspect of the sentence at some point effectively ‚runs out‘ – or must run out“. 203  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn.  119. 204  Morgenstern, RW 2014, S. 153 (183). 205  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn.  129. 206  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn.  130; Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2014, S. 369 (370).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

zug antritt, individuelle Vollzugspläne zu erstellen, die den wissenschaftlichen Standards entsprechen, zeitnah aktualisiert werden und eine kohärente Rückverfolgung der Entwicklung des Häftlings ermöglichen. Auf einen solchen Vollzugsplan dürfte wohl nur dort verzichtet werden, wo es sich um kurze Freiheitsstrafen handelt, die nicht vorzeitig beendet werden können, sondern vollständig zu verbüssen sind. Wenn jedoch eine Langzeit- oder (potenziell) lebenslängliche Haft ausgesprochen wird, müssen diese Vollzugspläne erstellt werden. In künftigen Überprüfungsverfahren käme diesen die Funktion einer Entscheidgrundlage zu. Damit stipuliert der Gerichtshof die Objektivität, Bestimmtheit und Zugänglichkeit der rehabilitations- und resozialisierungstauglichen Aspekte als Ausprägungen der in einem Rechtsstaat zu realisierenden Rechtssicherheit und macht diese über Art. 3 EMRK absolut verbindlich.207 Bemerkenswert ist, dass eine nicht reduzierbare lebenslange Freiheitsstrafe bereits zum Zeitpunkt ihrer Verhängung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führt. Denn es wäre unzumutbar, vom Häftling zu erwarten, dass er an seiner Resozialisierung arbeitet, ohne zu wissen, ob es zu einem unbekannten Zeitpunkt in Zukunft einen Mechanismus geben wird, der es aufgrund dieser Resozialisierung ermöglichen würde, dass seine Entlassung erwogen wird.208 Deshalb hat ein Strafverurteilter ab initio das Recht zu wissen, anhand welcher Kriterien seine persönliche Entwicklung künftig bemessen wird und was er konkret zu tun hat, um ein realistisches Verfahren zur vorzeitigen Beendigung der Haft anstrengen zu können. Ein eigentliches Recht auf Entlassung ist damit allerdings nicht verbunden. (6) Justizförmigkeit des Haftentlassungsverfahrens Zwar hat sich der Gerichtshof gegenüber der Entscheidkompetenz eines Exekutivorgans kritisch gezeigt, diese jedoch nicht per se als Verstoss gegen Art. 3 EMRK taxiert.209 Wie ein Mantra wiederholt der Gerichtshof, dass 207  Bestätigt in: EGMR, 08.07.2014, Harakchiev and Tomulov v. Bulgaria, Nr. 15018/11 u. a.; EGMR, 22.07.2014, Čačko v. Slovakia, Nr. 49905/08; EGMR, 13.11.2014, Bodein v. France, Nr. 40014/10. 208  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn. 122: „a whole life prisoner should not be obliged to wait and serve an indeterminate number of years of his sentence before he can raise the complaint that the legal conditions attaching to his sentence fail to comply with the requirements of Article 3 in this regard“. 209  Dennoch gesteht der Gerichtshof ein, das nur ein gerichtliches Verfahren fundamentale rechtsstaatliche Prinzipien wie die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Gerichts garantiere: EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08, Rn. 49 f.; selbst in Fällen, in welchen noch nie vom Gnadenrecht Ge-



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 165

Staaten in der Ausgestaltung ihres Überprüfungsmechanismus einen weiten Ermessensspielraum genössen.210 Diese Formel darf aber nicht allzu apodiktisch verstanden werden. Entscheidend ist, dass die Kompetenz zur Haftentlassung durch das nationale Recht klar geregelt ist und dass die Möglichkeit besteht, den Exekutiventscheid durch ein unabhängiges Gericht überprüfen zu lassen („judicial review“).211 Eine andere Frage ist, wann eine solche Überprüfung zu erfolgen hat. In zeitlicher Hinsicht hält der Gerichtshof bei lebenslangen Freiheitsstrafen lediglich fest, es lasse sich ein internationaler Trend nachweisen, wonach eine Überprüfung von Amtes wegen spätestens nach 25 Jahren durchgeführt werden sollte.212 In einem Entscheid aus jüngster Zeit wurde entschieden, dass 40 Jahre Freiheitsentzug bis zur ersten Überprüfung, selbst unter Berücksichtigung von Retributions- und Schuldaspekten, zu lang seien.213 c) Wirkung und Funktion der Menschenwürde Bei lebenslangen Haftfällen bezieht sich der EGMR auf die Aussicht auf Haftentlassung, die den Gefangenen die Perspektive offenhält, eines Tages wieder in Freiheit leben zu können. Im Kern soll also ein „Recht auf Hoffnung“,214 als vitales und konstitutives Merkmal des Menschlichen überhaupt, geschützt werden.215 brauch gemacht wurde, konnte keine Verletzung festgestellt werden: EGMR, 02.09.2010, Iogov v. Russia (no. 2), Nr. 36295/02. 210  Vgl. 2. Teil A. I.–II. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 64 m. w. N. 211  EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08, Rn. 49 u. 52; vgl. Demetriades/Bartolini/Christodoulidou, EHRLR 2008, S. 656 (660); EGMR (GK), Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 100: „To the extent necessary for the prisoner to know what he or she must do to be considered for release and under what conditions, it may be required that reasons be provided, and this should be safeguarded by access to judicial review (…)“; EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09, 130/10 u. 3896/10, Rn. 109; EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 97 f.; EGMR, 03.11.2000, Meixner v. Germany, Nr. 26958/07. 212  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09, 130/10 u. 3896/10, Rn. 118. 213  EGMR, 04.10.2016, T. P. and A. T. v. Hungary, Nr. 37871/14, Rn. 48. 214  Die Grosse Kammer in Strassburg hat nie explizit von einem „Recht auf Hoffnung“ gesprochen; allerdings brachte Richterin Power-Forde in ihrem übereinstimmenden Votum diesen Topos ein: EGMR (GK), 09.06.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 6609/09 u. a. Hingegen wird in einem Kammerentscheid explizit von „Hoffnung“ gesprochen: EGMR, 02.09.2010, Iorgov v. Bulgaria (no. 2), Nr. 36295/02, Rn. 49. Nach hier vertretener Ansicht umfasst dieses Recht wertungsmässig viele der

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Das Problem dabei ist, dass Hoffnung ein subjektives, kaum objektivierbares Empfinden ist. Insofern ist es juristisch schwer handhabbar. Als Kriterium der Objektivierung dient dem Gerichtshof deshalb die „Reduzierbarkeit“ der Haft. Ob eine freiheitsentziehende Sanktion im Lichte der oben genannten Grundsätze als „reduzierbar“ und folglich menschenwürdekonform zu erachten ist, erscheint dennoch nicht eindeutig. Bei der Annäherung an diese Frage bezieht sich der Gerichtshof formelhaft auf eine De-jure- und De-facto-Reduzierbarkeit. Dieses Schutzkonzept wird je nach Fallkonstellation weit ausgelegt, wie die jüngste Rechtssache Hutchinson216 belegt.217 Hoffnung ist zweifellos ein konstitutiver Teil menschlichen Daseins und zentral für die Entwicklungspotenz des Einzelnen.218 Der Gerichtshof will – durch Hervorhebung der Menschenwürde und unter Bezugnahme auf internationale Entwicklungen – den Strafvollzug verrechtlichen und das Individuum nach der Verurteilung nicht schutzlos stellen. Um dies zu erreichen, fordert er von den Konventionsstaaten adäquate Resozialisierungsbemühungen und im Falle psychischer Krankheit und Gefährlichkeit des Täters hinlängliche Behandlungs- und Therapieangebote. Diese Leistungspflichten, welche das Vollzugsrecht durchdringen, führen auf Konventionsrechtsebene zu einer Stärkung des Selbstzwecks und Eigenwerts des Straftäters. Eine Inhaftierung bis ans Lebensende lässt sich nunmehr nicht mit den Strafzwecken Aspekte, die der EGMR unter die „Reduzierbarkeit der Haft“ fasst. Mavronicola, HRLR 2015, S. 721 (738). 215  Morgenstern, RW 2014, S. 153 (153); Kromrey/Morgenstern, ZIS 2014, S. 704 (714); EGMR, 02.09.2010, Iorgov v. Bulgaria (no. 2), Nr. 36295/02, Rn. 49 ff. („hope of release“). 216  EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 5792/08. 217  So hielt die Grosse Kammer fest, dass der Secretary of State die Kompetenz habe, eine lebenslänglich verurteilte Person aufgrund von „aussergewöhnlichen Umständen“ i. S. v. Art. 30 Abs. 30 des britischen Strafgesetzbuches zu entlassen, wobei darunter „aussergewöhnliche Entwicklungen in der Person des Häftlings“ zu verstehen seien, wie die McLoughlin-Rechtsprechung des britischen Berufungsgerichts bestätigt habe. Ferner hält der EGMR fest, dass der britische Human Rights Act den Einbezug der Rechtsprechung des EGMR erlaube, um dem Secretary of State als Richtschnur zu dienen; zum Ganzen vgl. EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 5792/08, Rn. 42 ff. Es scheint, als hätte sich der EGMR aufgrund der Berücksichtigung der bristischen Common-Law-Tradition von seiner Forderung nach Präzisierung („objective pre-established criteria“) der Überprüfungsmechanismen ein Stück weit distanziert. Nach hier vertretener Ansicht handelt es sich aber um einen Einzelfall, der die Rechtstradition Grossbritanniens im Blick hatte. S. diesbezüglich auch Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 66; ferner die Urteilskommentierung: Dzehtsiarou, Is there hope for the right to hope?, abrufbar unter: http://echrblog.blogspot.ch/2017/01/guest-post-on-grand-chamber-judgment-in. html (zuletzt abgerufen am 03.06.2019). 218  Morgenstern, RW 2014, S. 153 (180); vgl. ferner im philosophischen Schrifttum: Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1993.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 167

der Retribution und Abschreckung konventionsrechtlich absegnen. Gefordert wird eine Entlassungsoption, die sich an objektiven und vorher festgesetzten Kriterien bemisst.219 Ansonsten, so der Gerichtshof, wäre die Gefahr gross, dass die Gesellschaft sich eines Menschen ganz einfach durch Aburteilung zu lebenslanger Haft „entledigt“. Um solchen totalen Exklusionsmechanismen mittels eines menschenrechtlich geprägten Resozialisierungsgedankens220 entgegenzuwirken, proklamiert der Gerichtshof auch immer wieder und gerade in Fällen von Schwerstkriminalität die Würde des Straftäters.221 In etwas wenig greifbarer Form hält er fest, dass die Würde der Strafgefangenen stets zu achten sei und ihnen nicht mehr Leid zugefügt werden dürfe als durch die Haft notwendigerweise verbunden.222 Summa summarum kann also gesagt werden, dass der Schutz der Menschenwürde es erfordert, Menschen nicht vollends ihrer Chance und Hoffnung zu berauben, eines Tages wieder in Freiheit zu leben. Unklar ist bislang, inwieweit Verfahrensgarantien im Rahmen des Entlassungsprozederes eingeräumt werden müssen.223

III. Erniedrigende224 Bestrafung oder Behandlung als Verletzung der menschlichen Würde Als „unterste Stufe“ der von Art. 3 EMRK umfassten Verbotstatbestände wird die „erniedrigende Strafe oder Behandlung“ gezählt. Der Gerichtshof 219  EGMR, 04.09.2014, Trabelsi v. Belgium, Nr. 140/10, Rn. 137; Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (40); Mavronicola, MLR 2014, S. 292 (293); ansonsten würde der Mensch zum Objekt staatlichen Handelns in Form des Bestrafens degradiert; vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 35 ff.; vom Grundsatz her folgt der EGMR der Auffassung von Würde als Wert und insoweit der „Zweck-Formel“ von Immanuel Kant; Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 1 Rn. 16. 220  Vgl. Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (47 ff.). 221  Instruktiv EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08, dissenting opinion Judge Pino de Albuquerque. 222  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 96. 223  Zur Haftüberprüfungsmöglichkeit vgl. 3. Teil II. 2. b) cc). 224  Der Titel („Erniedrigende […]“) und die damit verbundene Untergliederung in entsprechende Fallgruppen folgt der Schwerpunkt-Logik, gemäss welcher entsprechende Fallgruppen (z. B. Fälle der Prügelstrafen oder Justizgewalt) vom EGMR grundsätzlich als „erniedrigende“ Bestrafung oder Behandlung qualifiziert werden. Allerdings wird in der Judikatur nicht immer messerscharf zwischen „unmenschlicher“ und „erniedrigender“ Bestrafung oder Behandlung unterschieden. Eine primär erniedrigende Bestrafung oder Behandlung kann auch unmenschlich sein. Entsprechende Überschneidungen werden – wo dies notwendig erscheint – im Haupttext erwähnt. Durch die gewählte Unterteilung soll die spezifische Wechselwirkung zwi-

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

hält in ständiger Rechtsprechung formelhaft fest, dass eine Strafe oder Behandlung als erniedrigend angesehen wird, wenn sie im Opfer Gefühle der Angst, Furcht oder Unterlegenheit hervorruft, wenn das Opfer herabgesetzt und dadurch sein physischer und psychischer Widerstand gebrochen wird oder wenn das Opfer dazu gebracht wird, gegen seinen Willen und seine Überzeugung zu handeln.225 Von dieser Formel ausgehend werden nachfolgend spezifische Behandlungsformen untersucht, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter besonderer Bezugnahme auf die Menschenwürde gewürdigt werden. 1. Prügelstrafen a) Rechtsprechung Die Rechtssache Tyrer226 wird gemeinhin als wegweisendes Urteil für das Menschenwürdeverständnis der Konvention und für die konkrete Auslegung von Art. 3 EMRK erachtet.227 Obwohl das Urteil einige Jahrzehnte zurückliegt, ist es in vielerlei Hinsicht noch immer von grossem Erkenntniswert. Innovativ war an diesem Urteil seinerzeit, dass die Menschenwürde erstmals in den Rechtserwägungen des Gerichtshofs eine zentrale Rolle spielte.228 Konkret hatte sich der EGMR mit den auslegungs- und konkretisierungsbedürftigen Begriffen der „unmenschlichen“ und „erniedrigenden Strafe“ aus­ schen der Würde und dem einzelnen Verletzungstatbestand der erniedrigenden Strafe oder Behandlung besser zur Geltung gebracht werden. 225  Statt vieler: EGMR, 13.05.2008, Juhnke v. Turkey, Nr. 52515/99, Rn. 70; Webster, Dignity, Degrading Treatment and Torture in Human Rights Law, S. 63 ff. 226  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72; s. Urteilsbesprechung von Phillips, ICLQ 1994, S. 153 (153 ff.). 227  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 168. 228  Dies wird allerdings nicht von allen Richtern begrüsst. Insbesondere Richter Fitzmaurice kritisiert die Würdeargumentation scharf und hält fest, dass es sich bei der Menschenwürde um eine Tautologie handele, die ihr eigenes Ziel vereitle: EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, separate opinion of Judge Fitzmaurice: „These are tautologies that do not advance matters and defeat their own ends, since they beg the question at issue, which is not whether the punishment was physically violent or was inflicted compulsorily, or even involved loss of dignity (as most punishment does), but was in the actual circumstances ‚degrading‘, and degrading to a degree which – to use the Court’s own language – took it to a level above that ‚usual (…) element of humiliation or degradation‘ which is ‚an almost inevitable element‘ of ‚judicial punishment generally‘ “. Zuvor hatte die EKMR festgehalten, dass eine Prügelstrafe das Opfer demütige und der Schande preisgebe, weshalb sie als erniedrigend anzusehen sei. Ferner argumentiert die EKMR, dass eine Prügelstrafe ohne rechtfertigenden sozialen Nutzen sei und die Würde des Menschen verletze.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 169

einanderzusetzen. Dabei wurde erstmals hervorgehoben, dass die Konvention evolutiv und dynamisch auszulegen sei.229 In der Sache ging es um einen fünfzehnjährigen britischen Staatsbürger, der sich vor dem zuständigen Jugendgericht für schuldig bekannte, zusammen mit drei Mitschülern eine Körperverletzung gegen einen Mitschüler derselben Schule, der die drei zuvor wegen des Mitbringens von Alkohol auf das Schulgelände angeschwärzt hatte, begangen zu haben. Der Beschwerdeführer wurde – gemäss den entsprechenden Gesetzen – am selben Tag zu drei Rutenschlägen auf das nackte Gesäss verurteilt. Das Gericht, das die Strafe aussprach, ordnete eine medizinische Untersuchung an, um sicherzustellen, dass die Vollstreckung der Strafe für den Beschwerdeführer medizinisch unbedenklich sei.230 Beim Vollzug der Strafe wurde der jugendliche Beschwerdeführer von zwei Polizisten an den Händen festgehalten; anschliessend war er eineinhalb Wochen wund.231 Die am Beschwerdeführer Tyrer vollzogene Prügelstrafe wurde weder als Folter noch als unmenschliche Strafe qualifiziert, „da die zugefügten Schmerzen einen bestimmten Schweregrad erreichen müssen, ehe eine Strafe als unmenschlich i. S. v. Art. 3 EMRK eingestuft werden kann“.232 Ferner hielt der Gerichtshof den Grundsatz fest, dass es absurd wäre, wollte man eine richterlich angeordnete Strafe in jedem Fall aufgrund ihres fast unvermeid­ lichen Elementes der Demütigung als „erniedrigend“ i. S. v. Art. 3 EMRK qualifizieren. Vielmehr sei für die Eröffnung des Schutzbereiches ein gewisser Mindestgrad an Demütigung erforderlich.233 Die Rutenschläge führten nach Ansicht des EGMR zwar zu keinen bleibenden Schäden, verletzten aber dennoch die Würde des Jungen, was zu einer Qualifikation als „erniedrigende Strafe“ i. S. v. Art. 3 EMRK führte.234 In den Urteilserwägungen hält der EGMR erstmals ausdrücklich fest, dass die Menschenwürde und physische Integrität einer Person „wesentliche Schutz­ 229  Vgl. Phillips, ICLQ 1994, S. 153 (154); vgl. Zellick, ICLQ 1978, S. 665 (665 ff.), der kritisiert, dass die Menschenwürde zur Konturierung von Art. 3 EMRK nichts beitrage. 230  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 9. 231  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 9. 232  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 29. 233  Wiederholt in EGMR, 25.03.1993, Costello-Roberts v. United Kingdom, Nr. 13134/87, Rn. 29; ferner EKMR, 08.10.1991, Y. v. United Kingdom, Nr. 14229/88; EKMR, 18.07.1986, Maxine and Karen Warwick v. United Kingdom, Nr. 9471/81; im Zentrum jener Entscheide steht das subjektiv empfundene Leid: Phillips, ICLQ 1994, S. 153 (157). 234  Vgl. aber EGMR, 25.03.1993, Costello-Roberts v. United Kingdom, Nr. 13134/ 87, Rn. 29.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

zwecke“ von Art. 3 EMRK seien.235 Deutlich wird an dem Fall, dass eine Wechselwirkung zwischen der Würde des Menschen als Schutzgut und den Verletzungstatbeständen, in casu der Erniedrigung, besteht; was die Würde des Menschen ihrerseits materiell beinhaltet, wird aus diesem Urteil nicht direkt klar. Doch es wird deutlich, dass dem teleologischen Verständnis, der Frage nach Sinn und Zweck der Norm, wesentliche Bedeutung zukommt, gerade im Zusammenhang mit der Auslegung solch offener Rechtsbegriffe wie der Erniedrigung.236 In diesem Sinn wurde in Tyrer das Moment des Demütigungsverbots mit der Menschenwürde in Bezug gesetzt, da der Mensch grundsätzlich ein natürliches Bedürfnis nach Respekt hat, was zugleich ein ethischer Imperativ ist und über die Würde in Art. 3 EMRK einfliesst. Dieses Verständnis hat zur Konturierung der Begrifflichkeit „erniedrigende Strafe oder Behandlung“ geholfen.237 Dabei spielte zum einen die subjektiv empfundene Degradation eine Rolle, zum anderen – und vor allem – aber auch die objektive Vollzugsform, die als problematisch erachtet wurde.238 In prononcierter Form hob der Gerichtshof hervor, dass es sich im vorliegenden Fall um eine institutionalisierte Form der Gewaltanwendung handelte.239 Die körperliche Züchtigung von Schülern verletze die Menschenwürde, (zumindest) soweit darin ein „subtiles System körperlicher Sanktion“ zu erkennen sei.240 Auch wenn keine ernsteren oder langanhaltenden körperlichen Beeinträchtigungen erlitten werden, sei eine vom Staat auferlegte Bestrafung (oder Behandlung), die den 235  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33: „Thus (…) his [the applicant’s] punishment (…) constituted an assault on precisely that which it is one of the main purposes of Article 3 (art. 3) to protect, namely a person’s dignity and physical integrity“. Verfehlt ist hingegen die Feststellung von Schwichows, der in der Rechtssache Tyrer die erstmalige Statuierung der Menschenwürde als Schutzzweck der gesamten Konvention begründet sieht; vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 43, was nachweislich falsch ist, da sich die Würdebezüge in Tyrer auf Art. 3 EMRK beschränken. 236  Vgl. Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 49. 237  So auch Peissard, La dignité humaine dans le droit suisse et international, S.  49 f.; vgl. Waldron, Torture, Terror and Trade-Offs, S. 301; Vermeulen, Freedom from torture and other inhuman or degrading treatment or punishment, S. 405 (409); vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 205, der den Menschen als beseeltes und demnach emotionales, sittliches und soziales Wesen vom Schutzumfang der Konvention erfasst wissen will. 238  Insbesondere die Durchführung der Bestrafung in der Öffentlichkeit bzw. auf einer Polizeiwache, die Ausführung der Rutenschläge durch Fremde, die Entblössung des Gesässes, das Schlagwerkzeug, die Zeitspanne zwischen Urteil und Vollstreckung; vgl. auch EGMR, 16.12.1997, Raninen v. Finland, Nr. 20972/92, Rn. 55 ff. 239  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33; Mavronicola, HRLR 2015, S. 721 (728). 240  Pieroth et al., Grundrechte, Rn. 416.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 171

Menschen zum simplen Objekt in der Gewalt der Behörden degradiert, ein Angriff auf die Würde des Menschen, die als wesentlicher Schutzzweck von Art. 3 EMRK fungiert.241 Allerdings wird nicht jede empfundene Demütigung als eine würdeverletzende Behandlung erachtet; auch hier lässt sich der EGMR die Freiheit, „alle Umstände des Einzelfalles“242 zu berücksichtigen. Vorliegend haben der öffentliche Vollzug der Strafe und der Umstand, dass die Körperstrafe erst drei Wochen nach der Verurteilung des Beschwerdeführers vollzogen wurde, zusätzlich psychisches Leid verursacht. Aufgrund dieser Kriterien müsse vorliegend ein Fall „institutionalisierter Gewalt“ konstatiert werden, die den Beschwerdeführer zum Objekt gemacht habe.243 Der Umstand, dass ein Mensch einem anderen Menschen Gewalt antut („it involves one person inflicting violence on another“), führt dazu, dass die konkrete Prügelstrafe inhärent erniedrigend ist.244 Dennoch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass gerade bei staatlichen Strafen dem einzelnen Grundrechtssubjekt immer ein demütigendes Moment zugemutet wird. Staatliches Strafen beinhaltet per definitionem ein sozial-ethisches Unwerturteil, das dem Normbrecher entgegengehalten wird. Je nach persönlicher Konstitution können ein solcher Akt und ein darauf folgender Freiheitsentzug zu physischem oder psychischem Leid führen. Um im Bereich des Strafens bzw. des Strafvollzugs die Schwelle einer Würdeverletzung zu erreichen, muss das Leiden des Verurteilten über das hinausgehen, was mit jedem Vollzug unvermeidbar verbunden ist.245 Was als unvermeidlich mit der Haft verbunden und insoweit als tolerierbar erachtet wird, ist eine schwierige rechtsnormative Einzelfallfrage, die stets in Ansehung der aktuellen Gesellschaftsverhältnisse zu beantworten ist.246 Mit Blick auf die Prügelstrafe wurde einer strikt konsequentialistischen Sicht auf Strafen insofern eine konventionsrechtliche Grenze gesetzt, als der Gerichtshof ausdrücklich festhält, dass eine Strafe (oder Behandlung) nicht dadurch ihren erniedrigenden Charakter verliere, weil sie als effektive Ab241  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33: „(…) his punishment – whereby he was treated as an object in the power of the authorities – constituted an assault on precisely that which it is one of the main purposes of Article 3 (art. 3) to protect, namely a person’s dignity and physical integrity“. 242  EGMR, 16.12.1997, Raninen v. Finland, Nr. 20972/92, Rn. 55. 243  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33. 244  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33; Phillips, ICLQ 1994, S. 153 (159); vgl. die Kritik von Zellick, ICLQ 1978, S. 665 (665 ff.). 245  EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 96. 246  Zur evolutiven Auslegung s. 2. Teil B. I. 2. a); vgl. Böth, Evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S.  42 f.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

schreckung zur Kriminalitätsbekämpfung diene. Auf Strafen, die als Verletzung von Art. 3 EMRK einzustufen sind, dürfen die Mitgliedstaaten nie zurückgreifen – ganz egal, was für (effektive) general- oder spezialpräventive Wirkungen sie haben mögen.247 b) Wirkung und Funktion der Menschenwürde In der Rechtssache Tyrer deutet der EGMR an, dass er bereit ist, das Individuum auch vor vermeintlich niederschwelligen Beeinträchtigungsformen auf Körper und Psyche zu schützen. Obgleich keine ernsteren oder langanhaltenden körperlichen Beeinträchtigungen erlitten werden, ist eine Bestrafung (oder Behandlung) seitens des Staates, durch welche der Mensch zum simplen Objekt in der Gewalt der Behörden degradiert wird, ein Angriff auf die Würde des Menschen, die als wesentlicher Schutzzweck des Art. 3 EMRK fungiert.248 Eine Verletzung der Würde liegt demnach dann vor, wenn der Mensch von der Staatsgewalt als Objekt behandelt wird.249 Dadurch wird die Forderung nach einer Subjektstellung des Bürgers und der Bürgerin als einem Gut bzw. Wert an sich artikuliert. Der Gerichtshof verzichtet denn auch auf ein subjektives Element bei der Würdeverletzung, sondern sieht eine solche unter gewissen Umständen schon dann als erwiesen an, wenn ohne spezifische Absicht gehandelt wurde. Ein Demütigungsvorsatz i. S. einer subjektiven Tatvoraussetzung wird dezidiert abgelehnt. Die Anwendung der Objektformel war kein Versehen. Der EGMR indiziert durch ihre – wenngleich zurückhaltende – explizite Nennung, dass er sie als praktische Denkkategorie anzuwenden bereit ist und dass sie durchaus zum Standard der Interpretation von würderelevanten Tatbeständen zu zählen ist.250 Die Wirkung des Einbezugs der menschlichen Würde war zwar beschränkt, darf aber insbesondere mit Blick auf die Auslegung von Art. 3 EMRK nicht unterschätzt werden. Denn dies führte zu einem Einbezug weiterer Schutzdimensionen, wie dem Instrumentalisierungsverbot, das mit der europäischen

247  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 31; Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 155. 248  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33: Thus (…) his [the applicants] punishment – whereby he was treated as an object in the power of the authorities – constituted an assault on precisely that which it is one of the main purposes of Article 3 (art. 3) to protect, namely a person’s dignity and physical integrity“. 249  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 166; Marguénaud, Principe de dignité et Cour européenne des droits de l’homme, S. 235 (237). 250  A. A. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 169, der aber die Anwendung der Objektformel als Negativdefinition wünschenswert fände.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 173

Objektformel verknüpft ist. Die dadurch eingeführte Sichtweise beeinflusst die Normanwendung von Art. 3 EMRK als Ganzes. „Erniedrigung“ i. S. v. Art. 3 EMRK kann seit Tyrer nicht mehr bloss als die niedrigste Verletzungsform von Art. 3 erachtet werden. Vielmehr deutet der Gerichtshof an, dass er darunter eine qualitativ andere Form des Leidens versteht, welche absolut unzulässig ist. Um diesen anderen Eingriffstypus zu konturieren, zieht der Gerichtshof die Menschenwürde heran. Festzuhalten ist, dass die menschliche Würde als Telos bei der Erarbeitung des Schutzbereiches von Relevanz war und es noch immer ist.251 Damit hat die Menschenwürde als teleologischer Auslegungsgrundsatz des Art.  3 EMRK Beachtung gefunden und als materielles Auslegungsprinzip den Gehalt dieser Konventionsgarantie markant geprägt.252 Diese Wechselwirkung zwischen der Würde und dem Verletzungstatbestand der Erniedrigung ist essentiell für das Verständnis beider Begriffe innerhalb der EMRK. Inhaltlich lässt sich anhand der Urteile nicht mehr sagen, als dass es um eine spezifische Form zwischenmenschlichen Respekts geht, den sich Menschen wechselseitig schulden. Auch sind weder schwerwiegende noch langhaltende Schäden erforderlich, damit der Gerichtshof von einer Würdeverletzung ausgeht. Auffallend ist ferner die besondere Nähe zwischen der Living-instrument-Doktrin und dem Menschenwürdesatz.253 Art. 3 EMRK schützt vor unzulässigen Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Integrität, gemeint als tatsächliche Verschlechterung der Gesundheit oder (intensives) 251  So auch Orakelashvili, EJIL 2003, S. 529, (553); a. A. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 165, der die Bedeutung der Menschenwürde lediglich im Bereich der Eingriffsschwere loziert sieht. Schutzbereich und Mindestschwere bilden aber zwei Seiten derselben Medaille. 252  Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 104: „Hier erhält die Gewährleistung der Menschenwürde – trotz fehlender normativer Verankerung – als Schutzzweck des Art. 3 EMRK Zugang in das Schutzsystem der EMRK. Allerdings legt die gewählte Formulierung des EGMR nahe, dass der Schutz der Menschenwürde lediglich als Interpretationshilfe oder teleologischer Wertungsgrundsatz des Art. 3 EMRK anzusehen ist“; Maurer, Le principe de respect de la dignité humaine et la Convention européenne des droits de l’homme, S. 329; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 160 ff.; Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 225. 253  Vgl. 2. Teil B. I. 2. a); instruktiv EGMR, 08.12.2009, Muñoz Díaz v. Spain, Nr. 49151/07, dissenting opinion of Judge Myjer: „Admittedly, the Convention is a living instrument and the Court has had occasion to extend the scope of Convention rights beyond their original intended meaning in the light of societal developments not envisaged at the time when the Convention was drafted (…). In so doing the Court has recognised that ‚the very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom‘ “.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

physisches oder psychisches Leid.254 Seit Tyrer zeigt sich eine besondere Tendenz des Gerichtshofs, auch Elemente der Degradation in die Schutzbereichskonturierung wertend einfliessen zu lassen. Er tut dies in Tyrer einerseits unter (pauschalem) Verweis auf die Entwicklungen in der Strafrechts­ politik europäischer Staaten, andererseits mit Blick auf ein bestimmtes Menschenbild, dem zufolge der konkrete Mensch Schutz verdient und bestimmten Bestrafungsformen nicht unterworfen werden darf. In seiner abweichenden Meinung bemängelte Richter Fitzmaurice, dass durch die schwergewichtig abstrakt-analytische Herangehensweise des Gerichtshofes körperliche Strafen und Züchtigungsformen an und für sich verboten würden, was dem Geist von Art. 3 EMRK widerspreche.255 Es gebe, so Fitzmaurice, Behandlungen, die zwar unerwünscht oder moralisch verwerflich seien, aber dennoch nicht in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK fielen; ansonsten bestünde die Gefahr, dass Art. 3 EMRK zu einem Vehikel der Strafrechtsreform mutiere, was definitiv nicht den Absichten der Gründerväter entspreche.256 Dem widerspricht die Mehrheit des Gerichtshofs, der zufolge die Konvention „lebendig“257 sei und nicht den normativen Vorstellungen ihrer Gründerzeit bzw. -väter verhaftet bleiben dürfe.258 Das Verständnis für die normativen 254  Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 185 f.; vgl. Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 3 Rn. 85. 255  EGMR, 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, separate opinion of Judge Fitzmaurice: „The very nature of judicial corporal punishment is that it involves one human being inflicting physical violence on another human being. (…) [The case] is not in fact – (though it purports to be) – related to the actual circumstances of the punishment, but amounts to a finding that all corporal punishment, in all circumstances, inherently involves, as such, an unacceptable level of degradation“. 256  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, separate opinion of Judge Fitzmaurice: „The fact that a certain practice is felt to be distasteful, undesirable, or morally wrong and such as ought not to be allowed to continue is not a sufficient ground in itself for holding it to be contrary to Article 3 (art. 3). Still less is the fact that the Article fails to provide against types of treatment or punishment which, though they may legitimately be disapproved of, cannot, considered objectively and in relation to all the circumstances involved, reasonably be regarded without exaggeration as amounting, in the particular case, to any of the specific forms of treatment or punishment which the Article does provide against. Any other view would mean using the Article as a vehicle of indirect penal reform, for which it was not intended“. 257  2. Teil B. I. 2. a). 258  Das Konzept des „living instrument“ wurde kurz vor dem Urteil „Tyrer“ an einem Kolloquium in Rom 1975 durch ein ehemaliges Mitglied der EKMR in einem Beitrag publiziert: Sorensen, Do the rights and freedoms set forth in the European Convention on Human Rights in 1950 have the same significance in 1975?, in: 4th ECHR Colloquy, Rom 1975, S. 89.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 175

Bedeutungsgehalte in der Konvention wandelt sich; dabei nimmt der EGMR insb. auch die Entwicklung in den Konventionsstaaten und die sich wandelnden Massstäbe der Strafvollstreckungspolitik zur Kenntnis.259 Als Prüfungsstandort bei der Beurteilung des Mindestmasses an Eingriffsschwere dient dem EGMR die Würde des Menschen.260 Die Prügelstrafe war zur Zeit des Urteils auf der Isle of Man breit akzeptiert.261 In der Folge waren schulische Körperstrafen wiederholt Gegenstand von Beschwerden vor den Strassburger Organen, die aber davon absahen, körperliche Züchtigungen per se als konventionswidrig zu qualifizieren.262 Dies war wohl der Annahme geschuldet, dass eine allzu rasch fortschreitende Schutzbereichserweiterung für gewisse Vertragsstaaten kaum rezep­ tionsfähig wäre. Jedenfalls wurde im Nachgang zur Sache Tyrer deutlich, dass der EGMR die Körperstrafe an und für sich nicht für unvereinbar mit Art. 3 EMRK hält.263 Schulische Züchtigungen allein wiesen demnach noch nicht (zwingend) die erforderliche Demütigungsintensität auf, sondern es müssen noch spezifisch degradierende Momente im Vollzug hinzukommen.264 Diese Feststellung dürfte heute kaum mehr in dieser Form zutreffen, denn jene Gerichtsurteile liegen bis zu 40 Jahre zurück. In der Zwischenzeit haben sich einige rechtliche Entwicklungen eingestellt, welche die generelle Konventionskonformität von Prügelstrafen nicht mehr vertretbar erscheinen lassen. Unter dem Regime der Kinderrechtskonvention (KRK)265 und dem darin enthaltenen Kernprinzip des Kindeswohles dürfte man in teleologischer Auslegung266 von Art. 3 EMRK zum Ergebnis kommen, dass Körperstrafen bzw. körperliche Züchtigungen jedweder Art an Schulen per se menschen259  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 38: „[I]n the great majority of the member states of the council of Europe, judicial corporal punishment is not, it appears, used and, indeed, in some of them, has never existed in modern times“. 260  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 166. 261  Bates, The Evolution of the European Convention on Human Rights, S. 327. 262  EKMR, 18.07.1986, Warwick v. United Kingdom, Nr. 9471/81; EGMR, 25.03.1993, Costello-Roberts v. United Kingdom, Nr. 13134/87. 263  Ohne diese Zusatzmomente jedoch genauer zu spezifizieren: EGMR, 25.03.1993, Costello-Roberts v. United Kingdom, Nr. 13134/87, Rn. 31 f. (der Entscheid fiel mit 5:4 Stimmen äusserst knapp aus). 264  So wurden drei Schläge mit einem Turnschuh auf das bedeckte Gesäss eines Schülers (als Disziplinarstrafe auf einer Schule) durch eine bekannte Lehrperson in den Schulräumlichkeiten noch als konventionskonform erachtet; vgl. EGMR, 25.03.1993, Costello-Roberts v. United Kingdom, Nr. 13134/87, Rn. 29 u. 31. 265  Convention on the Rights of the Child, GA Res. 44/25 of (1989). 266  Vgl. 2. Teil B. I. 2. a).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

würdeverletzendes Handlungsunrecht sind.267 In diese Richtung hat sich der Gerichtshof jüngst geäussert: „It is thus clear that respect for children’s dignity cannot be ensured if the domestic courts were to accept any form of justification of acts of ill-treatment, including corporal punishment, prohibited under Article 3“.268

Auch Regelungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und des Ministerkomitees269 sowie Empfehlungen des UN Committee on the Rights of the Child zielen auf einen absoluten Bann von Prügelstrafen an Kindern.270 Zentral ist ferner die Erkenntnis, dass der EGMR den Massstab an die aktuellen Gesellschaftsumstände anpasst und nicht davor zurückschreckt, sich gegen eine innerstaatliche Auffassung zu wenden.271 Entscheidend ist vielmehr das gewandelte Begriffsverständnis, das aus der Berücksichtigung der Entwicklungen und den allgemein akzeptierten Massstäben der Strafvollstreckungspolitik der Mitgliedstaaten des Europarates in diesem Bereich re267  Vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 85. Bereits im Jahr 1993 fiel der Entscheid des EGMR mit 5:4 Stimmen zur schulischen Züchtigung denn auch denkbar knapp aus. In den abweichenden Sondervoten wurde vehement festgehalten, dass dieses Urteil nicht als Plädoyer für die Aufrechterhaltung der physischen Züchtigung an Schulen fehlinterpretiert werden dürfe; vgl. EGMR, 25.03.1993, Costello-Roberts v. United Kingdom, Nr. 13134/87; Addo/Grief, EJIL 1998, S. 510 (518 f.), die die unterschiedliche Würdigung auf das horizontale Verhältnis zwischen dem Lehrer und dem Schüler zurückführen. 268  EGMR, 03.10.2017, D. M. D. v. Romania, Nr. 23022/13, Rn. 51. 269  Recommendation 1666 (2004), Europe-wide ban on corporal punishment, Parliamentary Assembly (2004), § 5: „[A]ny corporal punishment of children is in breach of their fundamental right to human dignity and physical integrity. The fact that such corporal punishment is still lawful in certain member states violates their equally fundamental right to the same legal protection as adults. The social and legal acceptance on corporal punishment of children must be ended“; erstmals zitiert in: EGMR, 03.10.2017, D. M. D. v. Romania, Nr. 23022/13, Rn. 26. Vgl. ferner Guidelines of the Committee of Ministers of the Council of Europe on child friendly justice, CM/Del/ Dec(2010)1098/10.2. 270  General Comment No. 13 (2011), § 17: „ ‚All forms of physical or mental violence‘ does not leave room for any level of legalized violence against children. Frequency, severity of harm and intent to harm are not prerequisites for the definitions of violence. States parties may refer to such factors in intervention strategies in order to allow proportional responses in the best interests of the child, but definitions must in no way erode the child’s absolute right to human dignity and physical and psychological integrity by describing some forms of violence as legally and/or socially acceptable“. 271  So wurde seitens der britischen Behörden insbesondere argumentiert, dass eine gerichtlich angeordnete Prügelstrafe die öffentliche Meinung nicht in Aufruhr versetze, mithin breit akzeptiert sei; vgl. EGMR (Pl), 25.04.1989, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn: 31: „[C]orporal punishment (…) did not outrage public opinion“.



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sultiert. Damit wurde auf die fortschreitenden Entwicklungen und europaweit anerkannten Standards abgestellt. Der Gerichtshof verwendet demnach einen gesamteuropäischen Massstab, um zu beurteilen, was als Verstoss zu werten ist. Von dieser Wertvorstellung ausgehend bestimmt er den Bedeutungsgehalt des Tatbestandsmerkmals der erniedrigenden Strafe, deren Schutzkern die Menschenwürde ist. Die entscheidende und letztlich auch rechtstheoretisch diffizile Frage lautet, wie der EGMR die „aktuellen Gesellschaftsverhältnisse“ methodisch vertretbar erfassen kann. In den frühen Urteilen (wie bspw. in Tyrer) hat es der Gerichtshof jedenfalls bei kursorischen Aussagen über die europäischen Strafrechtsentwicklungen bewenden lassen und diese nicht mit Materialien belegt, sodass die Nachvollziehbarkeit erheblich erschwert war.272 Mittlerweile hat der Gerichtshof seine rechtsvergleichende Vorgehensweise markant verbessert.273 In seiner jüngsten Rechtsprechung zeigt er seine Bereitschaft, die Menschenwürde bzw. die von ihr ausgehenden normativen Forderungen im Lichte der internationalen Rechtsentwicklungen zu würdigen.274 Es lässt sich nicht leugnen, dass auch der Begriff der Menschenwürde vage und offen ist. Mit dem Moment der Selbstachtung und Selbstzweckhaftigkeit sind aber fundamentale normative Wertungselemente eingeflossen, die bei der Interpretation dessen, was als eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu erachten ist, nicht zu unterschätzende Leitplanken setzen. Zudem unterstreicht der enge Konnex zur Würde den fundamentalen Charakter von Art. 3, der auch durch eine dynamisch-evolutive Auslegung der Konvention bestätigt wird, die sich an den stetig steigenden Anforderungen an einen umfassenden, tatsächlich wirkenden Menschenrechtsschutz orientiert.275 272  Ein solches Vorgehen schwächt zudem Ansehen und Legitimität des EGMR und des gesamten Konventionsrechtssystems. Diesbezüglich wurden in den letzten Jahren und Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht, insb. was die Offenlegung der normativen Erkenntnisquellen anbelangt. s. zur Auslegung insb. 2. Teil B. II. 273  Vgl. 2. Teil B. I. 2. a) aa)–bb). Vgl. auch Mahoney/Kondak, Common Ground, S. 119 (125). Der „neue“ Gerichtshof kann auf Vorarbeiten der „research division“ zurückgreifen; Wildhaber/Hjartarson/Donelly, HRLJ 2013, S.  248 (249, 257); ­McCrudden, Cambridge Yearbook of European and Legal Studies 2012/2013, S. 1 (9). 274  EGMR, 03.10.2017, D. M. D. v. Romania, Nr. 23022/13, Rn. 49: „[T]he Court notes that the Council of Europe recognises that the best interests of the children, which unquestionably include the respect for their rights and dignity, are the cornerstone of the protection afforded to children from corporal punishment“; Rn. 50: „It is also to be noted that the overriding concern in the 1989 United Nations Convention on the Rights of the Child (…) is dignity. Such a value is consistent with both evolving international law on human rights and the developing psychological perspective in jurisprudence“. 275  Demko, HRRS 2005, S. 94 (104); vgl. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 380.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

2. Gewalteinwirkungen a) Polizeigewalt Physische (Gewalt-)Einwirkungen auf Personen durch Konfrontation mit Polizeibeamten sind eine Fallgruppe, mit der sich der EGMR oft zu beschäftigen hat. Physischer Gewalteinsatz, ein der Polizeiarbeit inhärenter Modus Operandi, erweist sich als immanent missbrauchsanfällig. Als massgebende Referenz können zunächst einmal „lawful police measure[s]“ bezeichnet werden, wie bspw. die Fesselung eines renitenten Häftlings oder bei Fluchtgefahr.276 Grundsätzlich gilt im Bereich des polizeilichen Gewalteinsatzes die Formel: „Ill-treatment must attain a minimum level of severity if it is to fall within the scope of Art. 3 of the Convention. The assessment of this minimum level of severity is relative; it depends on all the circumstances of the case, such as the duration of the treatment, its physical and mental effects and, in some cases, the sex, age and health of the victim.“277 Eine Misshandlung („ill-treatment“) liegt mithin in der spezifischen, eine bestimmte Mindestschwere erreichenden Beeinträchtigung der physischen und/oder psychischen Integrität einer Person. Anhand der Rechtssache Tomasi278 lässt sich gut ablesen, wie die Wechselwirkung zwischen dem „Prinzip Menschenwürde“ und den Verletzungstatbeständen in Art. 3 EMRK funktioniert. Damals hatte zunächst nur ein Richter in einem Sondervotum festgehalten, dass jedwede Gewaltanwendung, die nicht unbedingt notwendig sei und sich gegen eine ihrer Freiheit entkleidete Person richte, eine Verletzung der menschlichen Würde sei und automatisch zur Feststellung einer Art. 3 EMRK-Verletzung führen müsse.279 Nur kurze Zeit später übernahm der Gerichtshof – in etwas weniger apodiktischer Form – diese Formel, indem er festhielt, dass „jede Gewalteinwirkung, die 276  EGMR, 14.11.2002, Mouisel v. France, Nr. 67263/01, Rn. 47: „The Court reiterates that handcuffing does not normally give rise to an issue under Article 3 of the Convention where the measure has been imposed in connection with a lawful detention and does not entail use of force, or public exposure, exceeding what is reasonably considered necessary. In this regard, it is important to consider, for instance, whether there is a danger that the person concerned might abscond or cause injury or damage“. 277  EGMR, 26.09.2006, Wainwright v. United Kingdom, Nr. 12350/04, Rn. 41. 278  EGMR, 27.08.1992, Tomasi v. France, Nr. 12850/87. 279  EGMR, 27.08.1992, Tomasi v. France, Nr. 12850/87, concurring opinion Judge Meyer: „Any use of physical force in respect of a person deprived of his liberty which is not made strictly necessary as a result of his own conduct violates human dignity and must therefore be regarded as a breach of the right guaranteed under Article 3 (art. 3) of the Convention“ (Hervorhebung durch Autor).



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nicht zwingend durch das Verhalten der Person, die sich in Gewahrsam oder im Freiheitsentzug befindet, erforderlich wurde, eine Menschenwürdeverletzung und deshalb prinzipiell („in principle“) eine Verletzung von Art. 3 EMRK ist“.280 Damit war klar, dass der EGMR mit dieser sog. „Ribitsch-Formel“ die Menschenwürde zwar als wichtigen, aber eben nicht als den entscheidenden normativen Gradmesser zur Eruierung von Verletzungen des Art. 3 EMRK erachtete. Dies belegt die Passage, wonach eine Menschenwürdeverletzung lediglich „im Grundsatz“ zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führe. Es handelte sich also um eine Vermutungsregel, die umgestossen werden konnte: War die Menschenwürde tangiert, sprach einiges dafür, dass das Mindestmass an Eingriffsschwere („minimum level of severity“) von Art. 3 EMRK erreicht war. Die Ribitsch-Formel spricht also gegen einen absoluten Schutzcharakter der Menschenwürde. Die Relativierung, dass eine Menschenwürdeverletzung prinzipiell eine Verletzung von Art. 3 EMRK sei, hat der EGMR jüngst aufgegeben. In der Rechtssache Bouyid281 hat er sein Würdeverständnis weiter konturiert und an den seinerzeit von Richter Meyer propagierten Automatismus angenähert: „The Court emphasises that the words ‚in principle’ cannot be taken to mean that there might be situations in which such a finding of a violation is not called for, because the above-mentioned severity threshold (…) has not been attained. Any interference with human dignity strikes at the very essence of the Convention (…). For that reason, any conduct by law-enforcement officers vis-à-vis an individual which diminishes human dignity constitutes a violation of Article 3 of the Convention. That applies in particular to their use of physical force against an individual where it is not made strictly necessary by his conduct, whatever the impact on the person in question“.282

Personen, denen die Freiheit entzogen ist, wird vom EGMR ein erhöhter Vulnerabilitätsgrad zugeschrieben bzw. zuerkannt, da sie sich in einer unterlegenen, zuweilen hilflosen Situation gegenüber der Staatsmacht befinden.283 280  EGMR, 04.12.1995, Ribitsch v. Austria, Nr. 18896/91, Rn. 38: „The Court emphasises that, in respect of a person deprived of his liberty, any recourse to physical force which has not been made strictly necessary by his own conduct diminishes human dignity and is in principle an infringement of the right set forth in Article 3 (art. 3) of the Convention“ (Hervorhebung durch Autor); s. a. EGMR, 20.07.2004, Balogh v. Hungary, Nr. 47940/99, Rn. 45; EGMR, 09.06.1996, Tekin v. Turkey, Nr. 52/1997/836/1042, Rn. 53. 281  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09. 282  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 101. 283  Vgl. zuvor noch EGMR, 27.08.1992, Tomasi v. France, Nr. 12850/87, Rn. 115, wo sich der EGMR primär auf Intensität und Vielzahl der Herrn Tomasi zugefügten Schläge abstützte. Vgl. insb. Sondervotum von Richter de Meyer, wonach es bedauerlich wäre, wenn die Urteilserwägungen des EGMR den Eindruck entstehen liessen, dass das Schlagen eines in Polizeihaft befindlichen Verdächtigen nur verboten ist,

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Unter diesen die Verletzlichkeit der betroffenen Person begründenden Umständen ist in den Augen des EGMR die Würde des Menschen stark gefährdet, weshalb er deren Schutz- und Achtungsanspruch stets anmahnt. Daher hat der Gerichtshof die Formel etabliert, dass bei der Konfrontation einer inhaftierten Person mit einem Vollziehungsbeamten („law enforcement officer“) jegliche Zuhilfenahme physischer Gewalt, sofern nicht durch das Verhalten des Opfers zwingend erforderlich, eine Missachtung der Menschenwürde sei.284 In der Rechtssache Bouyid285 ging es um zwei Brüder – der eine war zum einschlägigen Zeitpunkt noch minderjährig286 –, die während des Gewahrsams auf einer Polizeiwache von einem Polizisten geohrfeigt worden waren. Die Vorinstanz hatte noch entschieden, es habe sich um eine unbedachte Ohrfeige gehandelt, die durch die vorangehenden Provokationen und Respektlosigkeiten der Beschwerdeführer ausgelöst wurde. Darüber hinaus wurde erstellt, dass die Familie der Beschwerdeführer in einem Konfliktverhältnis zur entsprechenden Polizeiwache stand, weshalb es schon wiederholt zu persönlichen Friktionen mit den dortigen Beamten gekommen war. Dabei würdigte die Vorinstanz die vermutete Wut, die die Beamten angesichts der angespannten Situation und der Vorgeschichte verspüren mussten, und kanwenn es einen bestimmten Mindestgrad übertrifft. Vielmehr sei gegenüber einer in Haft befindlichen Person jede Anwendung physischer Gewalt, die nicht wegen ihres eigenen Verhaltens unbedingt notwendig ist, ein Angriff auf die Menschenwürde („assault on human“ dignity) und müsse daher als eine Verletzung von Art. 3 angesehen werden. 284  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 88; EGMR (GK), 13.12.2012, El-Masri v. MKD, Nr. 39630/09, Rn. 207: „[T]he Court reiterates that any recourse to physical force which has not been made strictly necessary by the applicant’s own conduct diminishes human dignity and is in principle an infringement of the right set forth in Article 3 of the Convention“; EGMR, 03.04.2001, Keenan v. United Kingdom, Nr. 27229/95, Rn. 113; EGMR, 09.06.1998, Tekİn v. Turkey, Nr. 22496/93, Rn. 53; EGMR, 04.12.1995, Ribitsch v. Austria, Nr. 18896/91, Rn. 38. Ein typisches Verhalten, welches Gewalt im Zuge einer Verhaftung notwendig macht, ist, wenn die betroffene Person um sich schlägt oder Polizeibeamten zu schlagen versucht. Ferner ist Gewaltanwendung bei Fluchtversuchen oder zum Schutz von Passanten gerechtfertigt. Wenn die betroffene Person aber Polizeibeamte verbal beschimpft und provoziert, ist Gewaltanwendung zwecks Durchsetzung legitimer Staatsinteressen (Verhaftung) nicht notwendig und daher konventionsrechtlich unzulässig. Vgl. EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09. 285  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09. 286  Obwohl der EGMR festhielt, dass gewisse Behandlungen gegenüber Minderjährigen eine Verletzung von Art. 3 EMRK seien, wohingegen dieselbe Behandlung gegenüber einem Erwachsenen keine Konventionsverletzung sein könne, wurde im vorliegenden Fall eine Menschenwürdeverletzung bei beiden bejaht; vgl. EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 111 f.



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zelte die Ohrfeigen als einen Ausrutscher ab.287 Die Grosse Kammer weicht mit 14:3 Stimmen relativ deutlich vom Kammerentscheid ab und prüft die Ohrfeigen im Licht der Menschenwürde.288 Der Gerichtshof legt dabei erneut viel Wert auf den Kontext und die besonderen Umstände des Falles,289 indem er die Unterlegenheit der Person, die sich im Gewahrsam der Polizei befindet, mit der besonderen Kontrollmacht der Behörden kontrastiert.290 Der Gerichtshof bemüht sodann sozialwissenschaftliche Argumente, wenn er auf die Bedeutung des Gesichtes in der zwischenmenschlichen Interaktion und Kommunikation zu sprechen kommt.291 Daraus fliesst eine besonders hohe Wertigkeit des Antlitzes, das deswegen (erhöhten) Schutz verdient. Die degradierende Wirkung einer Ohrfeige werde durch das Machtgefälle Bürger-­ Staat noch akzentuiert.292 Ein derartiger Akt, der vom Gerichtshof nicht nur als rechtswidrig, sondern auch als moralisch verwerflich qualifiziert wird, könne bei der betroffenen Person Gefühle der willkürlichen Behandlung, Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit hervorrufen.293 Klar ist, dass provokatives und respektloses Verhalten eines Bürgers irrelevant ist und eine Ohrfeige nicht zu rechtfertigen vermag.294 Der Gerichtshof bindet diese Argumentation an seine allgemeine Dogmatik zu Art. 3 EMRK an, wonach Folter, unmenschliche und erniedrigende Behandlungen unabhängig vom Verhalten der betroffenen Person verboten sind. Indem im vorliegenden Fall ohne rechtfertigenden Zweck,295 einzig zur Befriedigung nicht schützenswerter Interessen 287  Die Kammer urteilte einstimmig; vgl. EGMR, 21.11.2013, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 51: „[T]he Court cannot ignore the fact that these were one-off occurrences in a situation of nervous tension and without any serious or long-term effect“. 288  Vgl. Urteilsbesprechung von Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2016, S. 376 (376). 289  Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2016, S. 376 (377). 290  Dadurch wird erneut die Verletzlichkeit des Menschen im Kontext akzentuiert und besonders hervorgehoben, was die These aufkommen lässt, dass die Menschenwürde zur Schutzbereichsverstärkung besonders vulnerabler Personengruppen herangezogen werden kann bzw. wird. 291  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 104 unter Verweis auf EGMR (GK), 01.07.2014, S. A. S. v. France, Nr. 43835/11, wo er auf eine spezifische Bedeutung der Rolle und Funktion des menschlichen Gesichts hindeutet. 292  Vgl. Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2016, S. 376 (377). 293  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 106: „This is particularly true when the slap is inflicted by law-enforcement officers on persons under their control, because it highlights the superiority and inferiority which by definition characterize the relationship between the former and the latter in such circumstances“. 294  A. A. Pajarola, Gewalt im Verhör zur Rettung von Menschen, S. 165 f. 295  Die Ohrfeige diente viel eher dem persönlichen Zweck, sich „Satisfaktion“ zu verschaffen: Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2016, S. 376 (376).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

der Beamten Gewalt an einer Person unter der Kontrolle der Polizei296 ausgeübt wurde, war für den Gerichtshof deren Menschenwürde verletzt. Was in diesem Urteil der Grossen Kammer ganz deutlich zum Ausdruck kommt, ist die vertiefte Verknüpfung zwischen „Erniedrigung“ und „Menschenwürde“. Die Würde des Menschen wird endgültig zum „Gradmesser“297 bezüglich der normativen Mindesteingriffsschwere deklariert.298 Gewisse Menschenwürdeverletzungen werden von der Konvention demnach absolut geächtet.299 Indem der Gerichtshof explizit festhält, dass es nicht auf das subjektive Leid des Betroffenen ankomme, erfährt Art. 3 EMRK eine Ausdehnung. Absolut verboten werden nicht nur gewisse Formen der Leidzufügung, sondern auch ein bestimmtes „objektives Handlungsunrecht“,300 welches zu psychischem und physischem Leid führen kann, aber nicht muss. Damit hat der EGMR die Dimension von Art. 3 EMRK um eine Komponente erweitert, sodass nunmehr nebst dem subjektiv erlittenen Leid und der Demütigung auch das objektive Handlungsunrecht die Verletzung von Art. 3 EMRK begründen kann – ganz unabhängig von den konkreten Wirkungen auf das Opfer. Insoweit nimmt die konventionsrechtliche Menschenwürde auch die Rolle eines „kollektiven Bewusstseins“ ein, das gewissen objektiv unhaltbaren Situationen oder Handlungsformen ein absolutes Verbot entgegenhalten will.301 Das erforderliche Mindestmass an Eingriffsschwere, welches an die Situation gebunden und insofern relativ ist, wird verobjektiviert bzw. herabgesetzt. Damit besteht durchaus auch die Gefahr einer Trivialisierung der Menschenwürde.302 Für den menschenrechtlichen problematischen Kontext der Polizeigewalt hat der Gerichtshof differenzierte positive Schutzpflichten und prozessuale Besonderheiten entwickelt.303 Der Staat trägt in Obhuts- und Sonderstatus296  Oder

einer anderen mit staatlichen Hoheitsbefugnissen ausgestatteten Autorität. F./Wieckowska, forumpoenale 2016, S. 376 (377). 298  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 90–113. 299  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 101. 300  Mavronicola, CHRLR 2017, S. 1 (13). 301  Mavronicola, CHRLR 2017, S. 1 (14); Ress, Würde des Menschen, S. 703 (712) m. w. N.; EGMR, 22.09.2016, Savchenko v. Ukraine, Nr. 1574/06, Rn. 90: „The Court has consistently pointed out in its case-law that, in respect of a person who is deprived of his liberty, or, more generally, is confronted with law-enforcement officers, any recourse to physical force which has not been made strictly necessary by his or her own conduct diminishes human dignity and is an infringement of the right set forth in Article 3“. 302  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 79; Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2016, S. 376 (377). 303  Vgl. Ronc/van der Stroom, forumpoenale 2018, S. 379 (383 f.). 297  Meyer



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verhältnissen, wie etwa polizeilichen Zwangsmassnahmen- oder Kontrollsituationen, die Informationsherrschaft.304 Personen, die unter staatlicher Kontrolle sind, befinden sich in einer Position der Verletzlichkeit und Unterlegenheit. Phänotypisch resultiert daraus für die Opfer staatlicher Gewalt eine inhärente Beweisnot. Aus diesem Grund genügt bereits ein Anscheinsbeweis, dass Misshandlungen verübt wurden. Wenn also eine Person, die zuvor an keinerlei gesundheitlichen Beschwerden litt, nach einer Polizeikontrolle oder nach Entlassung aus dem Polizeigewahrsam Verletzungen aufweist, so verschiebt sich die Beweislast auf den Staat, der dann substantiierte, plausible und faktenbasierte Informationen zu liefern hat, um die Vorbringen des (mutmasslichen) Opfers mithilfe eines Exkulpationsbeweises umzustossen oder aber die eingesetzte Gewalt zu rechtfertigen.305 Letztlich kann die Verschiebung der Beweisführungslast im Bereich von (mutmasslichen) Würdeverletzungen aus menschenrechtlicher Perspektive durch die Unterlegenheit und Verletzlichkeit von unter der Kontrolle des Staates stehender Personen begründet werden.306 Wenn der Konventionsstaat keine oder nur unzulängliche Gründe und Belege für den Gewalteinsatz liefert, kann der Gerichtshof Schlüsse zu seinen Ungunsten ziehen und u. U. eine Konventionsverletzung feststellen. Im Fall von substantiierten Vorwürfen oder objektivem Verdacht auf erniedrigende Behandlung oder Bestrafung haben Konventionsstaaten eine effektive, genaue, prompte und dabei unvoreingenommene, unparteiische und unabhängige Ermittlung an die Hand zu nehmen.307 Die Ermittlungen müssen in dem Sinne effektiv sein, dass sie geeignet sind, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen und gegebenenfalls zu bestrafen.308 Schliesslich müssen solche Ermittlungen von Amtes wegen unter Wahrung der Stellung des Opfers als Subjekt im Verfahren durchgeführt werden.309 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass bei mutmasslichen Verletzungen der Würde nach Art. 3 EMRK eine besonders genaue und zügige staat­ liche Ermittlung gefordert ist. Insbesondere Körperverletzungen oder Tätlichkeiten aktivieren prozedurale Schutzpflichten aus Art. 3 EMRK in Form von effektiven Ermittlungen, um den Sachverhalt genau abzuklären.310 Diese (GK), 27.06.2000, Salman v. Turkey, Nr. 21986/93, Rn. 99. (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 83; Ronc/van der Stroom, forumpoenale 2018, S. 379 (384). 306  Ronc/van der Stroom, forumpoenale 2018, S. 379 (384). 307  Altermann, Ermittlungspflichten der Staaten aus der EMRK, S. 48 u. 179. 308  EGMR (GK), 23.02.2016, Nasr and Ghali v. Italy, Nr. 44883/09, Rn. 272. 309  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 119 f. 310  Ronc/van der Stroom, forumpoenale 2018, S. 379 (384). 304  EGMR 305  EGMR

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Entwicklung zeugt von einer weiteren Verzahnung zwischen dem Prinzip der Menschenwürde und Art. 3 EMRK.311 b) Gewalt in der Strafverfolgung Gerade in der jüngeren Rechtsprechung sind vermehrt Fragen zur Zulässigkeit von Strafverfolgungsmassnahmen unter dem Schutzschirm von Art. 3 EMRK behandelt worden. In der Rechtssache Jalloh312 wurde die Verabreichung von Brechmitteln auf ihre Zulässigkeit bzw. auf eine mögliche Verletzung von Art. 3 EMRK hin untersucht. Der Gerichtshof hatte die widerstreitenden Interessen der Menschenwürde, Selbstbestimmung und Privatsphäre des Individuums auf der einen Seite mit den legitimen Strafverfolgungsinteressen des Staates – nach Massgabe ihrer Bedeutung – auf der anderen Seite zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen.313 Vor dem zwangsweisen Verabreichen des Brechmittels hatten Polizeibeamte beobachtet, wie der Beschwerdeführer Plastikbeutel („Bubbles“) aus seinem Mund nahm und einer anderen Person gegen Entgelt übergab. Darauf gründete der Verdacht auf Handeltreiben mit illegalen Substanzen (Betäubungsmitteln). Die Beamten konnten allerdings bei der anschliessenden Leibesvisitation keine Betäubungsmittel finden, weshalb sich der Verdacht erhärtete, der Beschwerdeführer hätte die Betäubungsmittel geschluckt. Der zuständige Staatsanwalt ordnete daraufhin die Verabreichung eines Brechmittels an, um das Verfahren nicht durch weitere Verzögerungen zu gefährden. Nachdem der Beschwerdeführer die selbständige Einnahme des Medikaments verweigerte, wurde ihm dieses mit einer Nasen-Magen-Sonde verabreicht.314 In der Folge entzündete sich die Speiseröhre und in den nachfolgenden Wochen trat beim Beschwerdeführer vermehrt Nasenbluten ein. Es liess sich jedoch nicht exakt feststellen, inwieweit dies mit dem Verabreichen des Brechmittels in Zusammenhang stand. Der Gerichtshof hatte nun diese dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse dienende Massnahme zur Erlangung und Sicherung von Beweisen zu prüfen. Dabei hielt er an seinem Grundsatz fest, dass eine zwangsweise medizinische Intervention nur aufgrund einer therapeutischen Indikation vorgenommen 311  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr.  23380/09; bestätigt in EGMR, 12.10.2017, Tiziana Pennino v. Italy, Nr. 21759/15, Rn. 32; vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 79. 312  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00. 313  Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 226. 314  In der Folge erbrach der Beschwerdeführer einen Beutel von rund 0.22 Gramm Kokain: EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 13.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 185

werden darf. Ist der Eingriff dagegen nicht medizinisch-therapeutisch indiziert, sondern dient er der Erlangung von Beweisen, wird überprüft, ob die Massnahme notwendig war, ob die Gesundheit des Verdächtigen gefährdet wurde, wie der Eingriff vorgenommen wurde und welches physische und psychische Leid daraus resultierte, ob eine ärztliche Aufsicht bestand sowie letztlich, welche Auswirkungen der Eingriff auf die Gesundheit des Betroffenen hatte.315 Ebenfalls in die Interessenabwägung einzufliessen hat die präsumierte Schwere des Delikts sowie die Erwägung weniger invasiver Alternativmassnahmen. Der Gerichtshof erachtete das zwangsweise Verabreichen eines Brechmittels via Nasen-Magen-Sonde als übermässigen Eingriff, zumal er in systematisch-wertender Rechtsvergleichung316 erkannte, dass die meisten Europaratsstaaten von solchen Zwangsmassnahmen absähen.317 Abermals stellte er auf die Gesamtumstände ab und war der Auffassung, dass die Behörden die fraglichen Beweise auch mit weniger einschneidenden Massnahmen hätten erlangen können. Zudem legte er besonderen Wert auf eine menschenwürdekonforme Durchführung entsprechender Massnahmen. Vorliegend war der Beschwerdeführer von vier Polizeibeamten festgehalten worden, was die Anwendung von an Brutalität grenzendem Zwang impliziere.318 Die Sonde musste gegen den Widerstand des Beschwerdeführers gewaltsam eingeführt werden, was in ihm Gefühle der Angst und Schmerzen hervorrief. Danach wurde ihm ein zweites Brechmittel injiziert. Während des Wartens, bis der Stoff wirkte, wurde er von Polizeibeamten festgehalten und dabei von anderen Beamten und einem Arzt beobachtet. Bedenkt man, dass das Einführen einer Nasen-Magen-Sonde erhebliche Verletzungen der Schleimhäute hervorrufen kann und dass die Sonde vorliegend die „Bubbles“ mit den Drogen hätte aufstechen können, was ziemlich sicher zum Tod des Betroffenen geführt hätte, so drängt sich die Einschätzung auf, dass die Beamten hier eine besondere Geringschätzung des menschlichen Lebens und des Eigenwerts der betroffenen Person an den Tag legten. Die Art, in der die Massnahme durchgeführt wurde, war geeignet, im Beschwerdeführer Angst, Furcht und ein Gefühl der Unterlegenheit hervorzurufen, ihn zu demütigen und daher entwürdigen.319 Für den Gerichtshof 315  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 76: „[T]he extent to which forcible medical intervention was necessary to obtain the evidence, the health risks for the suspect, the manner in which the procedure was carried out and the physical pain and mental suffering it caused, the degree of medical supervision available and the effects on the suspect’s health“. 316  Zur Auslegung: 2. Teil B. I. 1.–2. 317  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 78. 318  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 79. 319  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 82.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

war klar, dass dadurch eine inakzeptable Demütigungsintensität erreicht wurde. Dieser Fall zeigt, dass Gefühle der Angst, Beklemmung und des Ausgeliefertseins derart schwer wiegen können, dass die betroffene Person in ihrer Individualität und Würde verletzt wird.320 Als weitere Erkenntnis ergibt sich, dass der Gerichtshof nicht geneigt ist, die Strafverfolgungsinteressen über die Gesundheit und das Leben der Betroffenen zu stellen – zumindest nicht um jeden Preis. Darüber hinaus stellten sich im vorliegenden Fall insbesondere noch Fragen der Verwertbarkeit der so erlangten Beweise („Bubbles“). Deren Verwertung wurde als eine Verletzung des Fair-trial-Grundsatzes i. S. v. Art. 6 EMRK qualifiziert, was weiter unten eingehender zu diskutieren sein wird.321 c) Justizgewalt Eine weitere Ausprägung der Würde in der Rechtsprechung des EGMR betrifft Fälle, in denen die wegen Begehung einer Straftat beschuldigte Person in einem Metallkäfig oder in Gefangenenkleidung322 einem (Haft-)Richter vorgeführt wird. Eine Person während des Gerichtsverfahrens in einen Käfig einzusperren, suggeriert, dass diese per se extrem gefährlich und unberechenbar und daher gewissermassen wie ein wildes Tier zu fürchten sei. Der betreffende Mensch wird gleichsam aus der Rechts- und Sozialgemeinschaft exkludiert und zum Feindbild gemacht. Auch hier stellt der Gerichtshof auf den objektiv degradierenden Charakter („objectively degrading“) der Unterbringung in einem Käfig ab.323 Dadurch werde die betroffene Person zum reinen Gefahrenobjekt herabgesetzt und dadurch entmenschlicht, was mit ihrer Subjektstellung und ihrem intrinsischen Wert, der Achtung verdient, nicht in Einklang zu bringen sei: „The Court is therefore of the view that holding a person in a metal cage during a trial constitutes in itself – having regard to its objectively degrading nature which is incompatible with the standards of civilised behaviour that are the hallmark of a democratic society – an affront to human dignity in breach of Article 3“.324

320  Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 229. 321  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 123. 3. Teil A. V. 322  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 81. 323  EGMR (GK), 17.07.2014, Svinarenko und Slyadnev v. Russia, Nr. 32541/08 u. 43441/08, Rn. 138.



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Die Menschenwürde hat massgeblich dazu beigetragen, dass in Europa Käfige in Gerichtssälen fortan absolut verboten sind.325 Beachtenswert ist die Verknüpfung des Würdeansatzes mit einem „Standard einer zivilisierten Rechtsgemeinschaft“ („standards of a civilized democratic society“), was den teleologisch-evolutiven Ansatz dieses Schutzkonzepts verdeutlicht.326 Im Ergebnis geht es hier um einen weiteren Sonderfall,327 der nicht bzw. kaum auf die effektiven Auswirkungen der unzulässigen Behandlungsform abstellt, sondern vielmehr auf die objektiv wahrnehmbare, gleichsam symbolische Komponente in der spezifischen, durch den Staat kontrollierten Situation des Strafverfahrens fokussiert. Im genannten Fall handelt es sich um objektiv wahrnehm- und feststellbares Unrecht („objectively degrading“). Ähnlich wie im Fall der durch einen Polizeibeamten verabreichten Ohrfeige legt der Gerichtshof auch hier viel Wert auf die Machtkonstellationen und eine daraus herleitbare Verletzlichkeit des Opfers. In diesem Sinne qualifiziert er das Einsperren in einen Metallkäfig bei Gericht als Behandlung, die einer europäischen Grundrechtskultur zuwiderläuft, und bezeugt dadurch gleichzeitig seinen Willen, solche Exklusionsmassnahmen anzuklagen, zu skandalisieren und als erniedrigend i. S. v. Art. 3 EMRK zu qualifizieren. Nicht zuletzt wird dadurch auch eine kritische Haltung des Gerichtshofs erkennbar, welche die Grenze des Unzulässigen dort zieht, wo jemand durch gezieltes performatives Staatshandeln der öffentlichen Demütigung ausgesetzt wird.328 Gerade im Bereich des Strafprozesses muss eine solche vom Justizsystem inszenierte Prangerwirkung (Metallkäfig und/oder Gefangenenkleidung) und die damit einhergehende Herabsetzung als erniedrigende Justizgewalt taxiert werden.

324  EGMR, 02.02.2017, Kulik v. Ukraine, Nr. 34515/04, Rn. 119; EGMR (GK), 17.07.2014, Svinarenko und Slyadnev v. Russia, Nr. 32541/08 u. 43441/08, Rn. 138. 325  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 66. 326  EGMR (GK), 17.07.2014, Svinarenko und Slyadnev v. Russia, Nr. 32541/08 u. 43441/08, Rn. 138. 327  Nebst dem Ohrfeigen durch Polizeibeamten auf der Wache, s. 3. Teil A. III. 2. a).; Urteilsbesprechung: Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2016, S. 376 (376 ff.). 328  Vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 82.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

d) Wirkung und Funktion der Menschenwürde aa) Objektformel Die in Tyrer329 erstmals formulierte „Objektformel“ ist durch das jüngste Urteil der Grossen Kammer in der Sache Bouyid330 endgültig bestätigt worden, aus dem sich auch der Aspekt des geforderten Mindestmasses an Respekt, der in der Subjektstellung des Menschen gründet, deutlich ablesen lässt.331 Wo Gewalt um der persönlichen Genugtuung willen angewendet wird, wird die Menschenwürde verletzt und das konventionsrechtlich geforderte Mindestmass an zwischenmenschlichen Respekt missachtet.332 bb) Demütigung vs. Schmerz Während die Menschenwürde beim Verbot der Folter sowie der unmenschlichen Strafe mitgeschützt wird, wird sie in Bezug darauf, was eine „erniedrigende Strafe“ oder „Behandlung“ ausmacht, zur Konturierung herangezogen.333 Es ist mithin die Menschenwürde, die die Auslegung leitet.334 Durch die herantastende Rechtsprechung des EGMR und seinen dezidierteren Einbezug der Menschenwürde zur Auslegung von Art. 3 EMRK zeigen sich immer deutlichere Konturen eines juridischen Konzepts.335 (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72; 2. Teil A. III. 1. (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09. 331  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 90: „[H]is punishment – whereby he was treated as an object in the hands of the authorities – constituted an assault on precisely that which is one of the main purposes of Article 3 to protect, namely a person’s dignity“. Die Objektformel ist wertungsmässig auch anderen Rechtskulturkreisen, namentlich der US-amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit, zumindest bekannt. In einem Sondervotum berief sich Richter Brennan explizit auf die Objektformel: „The fatal constitutional infirmity in the punishment of death is that it treats ‚members of the human race as nonhumans, as objects to be toyed with and discarded. [It is] thus inconsistent with the fundamental premise of the Clause that even the vilest criminal remains a human being possessed of common human dignity“; 428 U.S. 153, 183 (1976) Gregg v. Georgia unter Verweis auf seine Äusserung in Furman v. Georgia 408 U.S. 238, 273 (1972). 332  Mavronicola, CHRLR 2017, S. 1 (13 f.); Mavronicola/Messineo, MLR 2013, S. 589 (594). Auch der gleiche Wertstatus wird durch ein solches Verhalten negiert; vgl. Tasioulas, Human dignity and the foundations of human rights, S. 291 (301). 333  Vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 79. 334  Peissard, La dignité humaine dans le droit suisse et international, S. 50; vgl. EGMR, 28.10.2010, Boris Popov v. Russia, Nr. 23284/04, Rn. 51. 335  Vgl. McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (683). Wenngleich seine Herangehensweise manchmal intuitionistisch anmutet; vgl. Schachter, American Journal of Inter329  EGMR

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Der normative Anknüpfungspunkt der „erniedrigenden“ Bestrafung und Behandlung liegt nicht primär bei physisch schmerzhaften Akten, die verpönt sind, sondern auch bei symbolischen Handlungen, durch die der Mensch in seinem spezifischen Eigenwert angegriffen werden kann.336 Um das Argument der Würde in Position zu bringen, hat der Gerichtshof zwei Schutzdimensionen entwickelt, eine objektive und eine subjektive.337 In objektiver Hinsicht beschreibt der Gerichtshof Situationen und Verhaltensweisen, die typischerweise schwere Erschütterungen der Selbstachtung und des „moral standing“ auslösen können. Insbesondere bestimmte Formen von Justizgewalt338 sind dem Gerichtshof zufolge mit der Würde schlechterdings nicht vereinbar. Dasselbe gilt, wenn Personen von Polizisten geohrfeigt339 werden. Auf die subjektive Dimension kommt es dabei nicht (entscheidend) an, sondern vielmehr darauf, was in einer europäischen Gesellschaft als akzeptable, menschenwürdewahrende Behandlung erachtet wird. In beiden Konstellationen wird primär auf die symbolische Tiefenwirkung abgestellt und die Schutzbedürftigkeit des dem Staat „ausgelieferten“ Bürgers und dessen Würde herausgestrichen. Indem Situationen beschrieben werden, in denen sich Personen typischerweise gedemütigt fühlen, wird die subjektive (also faktische) Betroffenheit weitgehend ausgeblendet.340 Die Tragweite und der Einfluss für den euro­ päischen Menschenrechtsschutz, die in diesem Rechtssatz liegt, kann in der Tat kaum überschätzt werden.341 national Law 1983, S. 848 (849): „Its [human dignity’s] intrinsic meaning has been left to intuitive understanding, conditioned in large measures by cultural factors. When it has been evoked in concrete situations, it has been generally assumed that a violation of human dignity can be recognised even if the abstract term cannot be defined“. 336  Margalit, Politik der Würde, S. 91. 337  Beide Dimensionen können Überlappungen aufweisen und sind nicht immer klar voneinander zu trennen, zumal sich die subjektiv wahrgenommene Demütigung von Person zu Person unterscheidet. 338  3. Teil A. III. 2. c). 339  3. Teil A. III. 2. a). 340  Die Möglichkeit, dass die subjektive Betroffenheit einiger Personen (weit) über oder unter einer menschenwürderelevanten Eingriffsschwelle zu liegen kommt, scheint der EGMR bewusst hinzunehmen. 341  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 101: „[A]ny conduct by law-enforcement officers vis-à-vis an individual which diminishes human dignity constitutes a violation of Article 3 of the Convention. That applies in particular to their use of physical force against an individual where it is not made strictly necessary by his conduct, whatever the impact on the person in question“; Demko, HRRS 2005, S. 94 (99), unter Verweis auf Esser, Auf dem Weg zu einem europä­ ischen Strafverfahrensrecht, S. 389 u. 392.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

In subjektiver Hinsicht hält der Gerichtshof fest, dass es ausreichen könne, wenn sich jemand in seinen eigenen Augen als gedemütigt erachtet. Auch gegenüber Gefühlen der Angst, Beklemmung und des Ausgeliefertseins zeigt sich der Gerichtshof kontextsensitiv und empathisch. Solche Gefühle können derart schwer wiegen, dass jemand in seiner Würde verletzt wird.342 Allgemein formuliert verbietet es der Achtungsanspruch menschlicher Würde, jemandem psychisches Leid zu auferlegen.343 cc) Menschenwürde und dynamisch-evolutive Auslegung Wie in den obigen Fällen analysiert wurde, besteht die Funktion der Menschenwürde darin, gewisse Formen körperlicher und psychischer Gewalt besser evaluieren zu können. Mit der Rechtssache Bouyid344 geht der EGMR nochmals einen bedeutenden Schritt weiter und setzt die Menschenwürde partiell mit Art. 3 EMRK gleich. Zum Vergleich sei auf die ältere Rechtsprechung in Sachen Ireland v. United Kingdom345 hingewiesen, wo der Gerichtshof festhielt: „[there could be] violence which is to be condemned both on moral grounds and also in most cases under domestic law of the Contract­ ing States but which does not fall within Article 3“.346 Demgegenüber bedeutet das neu justierte Verhältnis zwischen der Menschenwürde und Art. 3 EMRK in Bouyid eine Fortentwicklung,347 die erneut die besondere Nähe zwischen der Living-instrument-Doktrin und dem Menschenwürdesatz belegt.348 Im Vergleich mit früheren Fällen zu Art. 3 EMRK, in denen der Schwerpunkt auf der Leid- und Schmerzkomponente lag,349 kommt mit dem 342  3. Teil A. III. 2. b). Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 229. 343  Dass der Gerichtshof solche Gefühle aus den konkreten Umständen herleiten muss, liegt auf der Hand, was aufzeigt, dass sich die objektive und subjektive Schutzsphäre der Würde nicht voneinander trennen lassen. 344  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09. 345  EGMR, 18.01.1978, Ireland v United Kingdom, Nr. 5310/71, 346  EGMR, 18.01.1978, Ireland v United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 167. 347  Mavronicola, Bouyid and Dignity’s Role in Article 3 ECHR. 348  Vgl. 2. Teil B. I. 2. a) Instruktiv Sondervotum Myjer, in EGMR, 08.12.2009, Muñoz Díaz v. Spain, Nr. 49151/07: „Admittedly, the Convention is a living instrument and the Court has had occasion to extend the scope of Convention rights beyond their original intended meaning in the light of societal developments not envisaged at the time when the Convention was drafted (…). In so doing the Court has recognised that ‚the very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom‘ “. 349  Art. 3 EMRK schützt vor unzulässigen Beeinträchtigungen der körperlichen und mentalen Integrität. In der Regel muss eine effektive Verschlechterung der Gesundheit oder (intensives) physisches oder psychisches Leid hervorgerufen worden



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 191

Einbezug der Würde in der Judikatur eine holistische Betrachtung des Menschen zum Ausdruck, die ihn in seiner situationsbedingten Abhängigkeit und Verletzlichkeit wahrnimmt („Ausgeliefertsein“ in spezifischen Bürger-Staat-­ Konstellationen).350 Resultat dieses Wertewandels, der nunmehr auch die Psyche des Menschen dem Schutzanspruch der Menschenwürde unterstellt,351 ist eine markante Senkung der erforderlichen Eingriffsschwere. Diese Erkenntnis darf in Bezug auf die Praxis des EGMR nicht unter-, aber auch nicht überschätzt werden. Nicht zu überschätzen ist sie, weil man mit Blick auf die Menschenwürde keine eindimensionalen Antworten erwarten darf. Nicht jede Erwägung oder Entwicklung eines Argumentationsstranges lässt sich monokausal auf die Würde des Menschen zurückführen.352 Dies würde einem reduktionistischen Fehlschluss gleichkommen.353 Unbestritten dürfte aber die nomologische Erweiterung von Art. 3 EMRK infolge des expliziten Einbezugs zusätzlicher materieller Wertungskomponenten sein, namentlich des sozialen Wert- und Achtungsanspruchs, des In­ strumentalisierungsverbots (e contrario aus der Objektformel hergeleitet) und des Schutzes des „inner moral standing“.354 Anhand der aufgezeigten Fälle ist klar erkennbar, dass die Menschenwürde im Zusammenspiel mit den vom Gerichtshof formulierten „Verletzlichkeitszuschreibungen“ zu einer Schutzverstärkung führt.355 Dadurch wird die Würde zum flexibel handhabsein; vgl. Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 185 f.; vgl. Villiger, Handbuch der EMRK, § 15 Rn. 276: „Die erste Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wird hoch angesetzt“ (Hervorhebung durch Autor); ders., § 15 Rn. 281 m. w. N. (im Zusammenhang mit Einzelhaft, wo die Grenze dort gezogen wird, wo grosses physisches und psychisches Leid bewirkt wird und ein Zusammenbruch und damit ein Geständnis herbeigeführt wird); Meyer-Ladewig/Nettesheim/Von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 3 Rn. 19 (keine geringfügige Misshandlung). 350  3. Teil A. III. 2. a)–2. c); vgl. auch 3. Teil A. III. 1. a). 351  So bereits EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72; s. Besprechung des Urteils durch Phillips, ICLQ 1994, S. 153 (153 ff.). 352  Jedenfalls lässt sich dies empirisch nicht feststellen und normativ auch nicht überzeugend begründen. 353  Vgl. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 168. Vor monokausalen Antworten ist im Kontext des Rechtskörpers der EMRK ganz allgemein zu warnen; vgl. Wildhaber/Hjartarson/Donnelly, HRLJ 2013, S. 248 (251): „we are convinced that monocausal explanations will hardly do justice to the richness, the variety and the recurrent inconsistencies of the Court’s case-law“. 354  Vgl. auch Mavronicola, HRLR 2012, S. 723 (751): „An attempt to apply the right in light of its underlying values, significant with regard to the analysis on legitimate specification above, is apparent in the Court’s repeated allusions to human dignity and with the Court showing sensitivity to individuals’ sense of integrity and self-worth“. 355  Vgl. auch 3. Teil A. III. 4. e) bb).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

baren Abwägungstopos.356 Der Gerichtshof verhindert so, dass sie zu einem Totschlagargument mutiert. Betont wird vielmehr ihr Charakter als Rechts­ prinzip genuin konventionsspezifischer Prägung.357 3. Zwischenergebnis Ratio und Telos hinter Art. 3 EMRK besteht im Menschenwürdeschutz; sie ist bei der Interpretation der jeweiligen Verletzungstatbestände in Art. 3 zu berücksichtigen. Die Menschenwürde hat primär eine evaluative Funktion und wird insbesondere bei der Konturierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Erniedrigung“ herangezogen. Es konnte aufgezeigt werden, dass institutionalisierte körperliche Gewaltanwendung, die eine gewisse Demütigungsintensität überschreitet, nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist und den Verletzungstatbestand der „Erniedrigung“ erfüllt. Dabei ist zu beachten, dass das eingriffsnotwendige Demütigungsmoment von Art. 3 sowohl in der Ausführung an und für sich als auch – zusätzlich oder ausschliesslich – in einer subjektiv empfundenen Demütigung liegen kann.358 Insbesondere taxierte die Grosse Kammer eine Ohrfeige, die ein Polizeibeamter einer seiner Kontrolle unterstellten Person erteilt hatte, als Verletzung der Menschenwürde. Polizeiliche Einwirkungen müssen die symbolische Komponente von (willkürlicher) Machtausübung mitberücksichtigen. In Situationen erhöhter Verletzlichkeit, namentlich bei Polizeikontrollen auf der Wache, kann im Falle nicht notwendiger Gewaltanwendung die Menschenwürde und folglich Art. 3 verletzt sein.359 Was die Strafverfolgung betrifft, so konnte in Jalloh360 gezeigt werden, dass Verletzungen der individuellen Würde und physisch-psychischen Integrität im Dienste öffentlicher Interessen wie der Strafverfolgung mit dem Geist der Konvention nicht zu vereinbaren ist. So ruft etwa ein zwangsweiser Brechmitteleinsatz nicht nur Schmerzen hervor, sondern kann auch zu würdeverletzendem mentalem Leid führen, indem beim Betroffenen Angst, Scham und Minderwertigkeitsgefühle von erheblicher Intensität hervorgerufen werden.361

356  Bestätigt in EGMR, 25.03.1993, Costello-Roberts v. United Kingdom, Nr. 13134/87, Rn. 29 f.; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 168. 357  Zu Rechtsprinzipien: 2. Teil A. IV. 4.; ferner 4. Teil B. (Grundrechtsdimensionen) u. B. I. (Normativität). 358  EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 30 u. 32. 359  3. Teil A. III. 2. a). 360  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00. 361  Vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 2, 30.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 193

Schliesslich wurde am Beispiel der gerichtlichen Vorführung einer Person in einem Metallkäfig bzw. in Gefängniskleidung gezeigt, dass die Menschenwürde auch einen symbolischen Schutzwert hat. Eine Person, die in einem Strafverfahren ohne sachlichen Grund in Gefängniskleidung oder von einem Metallgitter umschlossen dem Gericht gegenübergestellt wird, ist in ihrer Menschenwürde getroffen, wird sie doch zu einer Gefahrenquelle degradiert und letztlich symbolisch von der Gesellschaft exkludiert.362 Indem die Würde durch den Gerichtshof operationalisiert wird, fliessen auch die normativen Wertungsparameter der Selbstzweckhaftigkeit und des Selbs- und Fremdachtungsanspruches bei der Interpretation dessen, was als Erniedrigung i. S. v. Art. 3 EMRK zu erachten ist, ein. Diese fundamentalen Wertungselemente verdeutlichen die „Nähe“ zur Würde und den fundamentalen Charakter von Art. 3 ­EMRK.363 4. Haftbedingungen Fälle prekärer Lebensbedingungen in Institutionen,364 in denen Personen einem Freiheitsentzug unterworfen sind,365 zählen mittlerweile zum bitteren Alltag der Strassburger Spruchpraxis.366 Gleichzeitig ist diese Judikatur ein Markstein in der Landschaft der konventionsspezifischen Würde-Rechtsprechung. Menschenwürdebedrohende Missstände in Haft sind das Ergebnis multikausaler Defizite, namentlich im Bereich der Kriminalpolitik, des Strafvollzugs- und des Strafvollstreckungsrechts.367 Oft mangelt es schlicht am poli362  3. Teil

A. III. 2. c). Demko, HRRS 2005, S. 94 (96 f., 99, 102). 364  Der EGMR bezieht Untersuchungshaft, Polizeigewahrsam und Abschiebehaft sowie den Strafvollzug ein: EGMR, 06.03.2001, Dougoz v. Greece, 40907/98, Rn.  45 ff. 365  Darunter fällt auch die Untersuchungshaft oder ausländerrechtliche Administrativhaft bzw. Auslieferungshaft: vgl. EGMR, 01.09.2015, Khalaifia v. Italy, Nr. 16483/ 12, Rn. 128. 366  Von einer mittlerweile grossen praktischer Bedeutung von Art. 3 in Haftsachen sprechen Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, §  6 Rn.  15; s. insbesondere Sandra van der Stroom, Menschenrechtliche Anforderungen an den Strafvollzug – Mindeststandards und deren Implementierung im Lichte des Art. 3 EMRK (demnächst im Erscheinen). 367  Strukturelle Mängel festgestellt in: EGMR, 10.01.2012, Ananyev and others v. Russia, Nr.  42525/07; EGMR, 27.01.2015, Neshkov and others v. Bulgaria, Nr. 36925/10 u. a., Rn. 231 ff.; EGMR, 08.01.2013, Torreggiani amd others v. Italy, Nr. 43517/09 u. a., Rn. 70; EGMR, 16.09.2014, Stella and others v. Italy, Nr. 49169/09 u. a., Rn. 70 ff.; EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 14097/12: 18’000 Inhaftierte bei 12’500 Haftplätzen. 363  Vgl.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

tischen Willen, Haftbedingungen auf ein menschenrechtsadäquates Niveau anzuheben. Ursächlich sind nicht selten systemimmanente Probleme, die sich durch die wirtschaftliche Schwäche des jeweiligen Staates verschärfen können. Oftmals zeigen solche Staaten nur wenig Interesse daran, Teile des Finanzhaushalts in den Strafvollzug bzw. in Haftinstitutionen – oder in eine Reform des Strafrechts generell – zu investieren. Es verwundert daher nicht, dass Staaten wie Polen,368 Ungarn,369 Griechenland,370 Slowenien,371 Rumä­ nien,372 Bulgarien373 oder Moldawien374 wiederholt wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen verurteilt worden sind. Aber auch Russland375 und die drittgrösste Volkswirtschaft innerhalb der Europäischen Union, Italien,376 zeigen Mühe, mit den internationalen Standards Schritt zu halten, sei es aus tatsächlichen Gründen oder aus politischem Unwillen.377 Dem EGMR sind trotz der Pilot-Urteilstechnik378 und Monitoring-Mechanismen des Europarates letztlich die Hände gebunden, wenn Urteile nicht 368  Statt vieler: EGMR, 05.10.2017, Artur Pawlak v. Poland, Nr. 41436/11; EGMR, 07.09.2017, Budnik v. Poland, Nr. 61928/13; EGMR, 22.10.2009, Orchowski v. Poland, Nr. 17885/04; EGMR, 20.01.2009, Slawomir Musial v. Poland, Nr. 28300/06, Rn. 86, 98. 369  EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr.  14097/12 u. a. 370  EGMR, 09.06.2016, Mekras v. Greece, Nr. 12863/14, Rn. 39; EGMR, 13.06.2013, A. F. v. Greece, Nr. 53709/11, Rn. 80; EGMR, 04.12.2012, Tzamalis and others v. Greece, Nr. 15894/09, Rn. 45; EGMR, 28.02.2012, Samaras and others v. Greece, Nr. 11463/09. 371  EGMR, 20.11.2011, Mandić and Jović v. Slovenia, Nr. 5774/10 u. 5985/10. 372  EGMR, 03.02.2015, Apostu v. Romania, Nr. 22765/12, Rn. 78, 84; EGMR, 01.04.2014, Enache v. Romania, Nr. 10662/06, Rn. 49, 62; EGMR, 24.09.2013, Epistatu v. Romania, Nr. 29343/10, Rn. 48, 54; EGMR, 24.07.2012, Iacov Stanciu v. Romania, Nr. 35972/05. 373  EGMR, 27.01.2015, Neshkov and others v. Bulgaria, Nr. 36925/10 u. a.; EGMR, 07.02.2008, Kostadinov v. Bulgaria, Nr. 55712/00, Rn. 55; EGMR, 02.02.2006, ­Iovchev v. Bulgaria, Nr. 41211/98, Rn. 127, 138. 374  EGMR, 15.09.2015, Shishanov v. Moldova, Nr. 11353/06. 375  EGMR, 20.09.2016, Kondrulin v. Russia, Nr. 12987/15, Rn. 56 m. w. N. (medizinische Versorgung in Haft); EGMR (GK), 23.03.2016, Blokhin v. Russia, Nr. 47152/06, Rn. 138, 150; EGMR (GK), 03.07.2014, Georgia v. Russia (no. 1), Nr. 13255/07, Rn. 201: „[T]he Court has indicated on several occasions that overcrowding in Russian prisons was a matter of particular concern to it“; EGMR, 10.01.2012, Vladimir Vasilyev v. Russia, Nr. 28370/05; EGMR, 20.04.2010, Slyusarev v. Russia, Nr. 60333/00, Rn. 43, 44. 376  EGMR, 08.01.2013, Torreggiani v. Italy, Nr. 43517/09. 377  Vgl. EGMR, 10.01.2012, Ananyev and others v. Russia, Nr. 42525/07 u. 60800/08. 378  Als besonders innovativ hat sich die Methode des „Piloturteilsverfahrens“ des EGMR erwiesen. Um den systemimmanenten Schwächen im Vollzug zu begegnen, beurteilt der EGMR mehrere gleich gelagerte Haftfälle eines Landes, die aus densel-



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 195

umgesetzt werden. Dennoch lässt sich durch die Publikation der Urteile sowie Berichtspflichten politischer Druck aufbauen, der zur Umsetzung beitragen kann.379 Viele Hafterfahrungen greifen die Subjektstellung des Menschen an und gefährden die Selbstachtung des Einzelnen. Einige Haftfaktoren verunmöglichen einen humanen und menschenwürdigen Vollzug.380 Vor diesem problematischen Hintergrund ergeben sich für den EGMR besondere Komplikationen: Angesichts der teilweise desolaten Situation in den Haftanstalten mancher Staaten des Europarates zu kapitulieren und damit den menschenrechtlichen Haftstandard wegen jener Staaten nach unten zu schrauben, würde bedeuten, dass von einem glaubwürdigen Schutz der Menschenwürde nicht mehr gesprochen werden kann. Gleichwohl ist der Gerichtshof für die Beibehaltung seiner institutionellen Stärke notgedrungen auf die Kooperation und letztlich auch auf eine rechtspolitische Unterstützung der Konventionsstaaten angewiesen.381 Hieraus ergibt sich unweigerlich ein Spannungsfeld, welches nicht einfach aufzulösen ist.382 ben Dysfunktionalitäten im Vollzug herrühren. Piloturteile enthalten Forderungen an Mitgliedstaaten, allgemeine Abhilfemassnahmen zu ergreifen, um systemische Mängel im besagten Bereich zu beheben: EGMR (GK), 22.06.2004, Broniowski v. Poland, Nr. 31443/96, Rn. 189 ff.; weiterführend zu den „pilot judgments“: Schweizer, Allgemeine Grundsätze, in: Merten/Papier, HBdGR, Bd. VI/1, § 138 Rn. 48. Durch die Ergreifung solcher Massnahmen gestützt auf Art. 46 EMRK zeigt der EGMR, dass es ihm mit dem Menschenwürdeschutz ernst ist. Piloturteile sind ergangen für Polen, Russland, Bulgarien, Ungarn, Belgien und Italien: EGMR, 22.10.2009, Orchowski v. Poland, Nr. 17885/04; EGMR, 22.10.2009, Norbert Sikorski v. Poland, Nr. 17599/05; EGMR, 10.01.2012, Ananyev and others v. Russia, Nr. 42525/07 u. 60800/08; EGMR, 10.05.2011, Dimitrov and Hamanov v. Bulgaria, Nr. 48059/06 u. 2708/09; EGMR, 27.01.2015, Neshkov and others v. Bulgaria, Nr. 36925/10; EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 14097/12 u. a.; EGMR, 08.01.2013, Torreggiani and others v. Italy, Nr. 43517/09. 379  Dies gilt insb. für EU-Beitrittskandidaten; Kromrey/Morgenstern, ZIS 2017, S. 106 (117). 380  Vgl. Art. 10 Abs. 1 IPbpR. 381  Vgl. zur Kritik am Gerichtshof Dzehtsiarou, European consensus and the legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 146 f.; Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 79 (91): „Even though (…) [international] institutions are created by State consent and cannot function whithout State support, they engage in ongoing governance activities, including the generation of laws and/or law like rules that are not controlled by ‚specific consent‘ of States. Hence, the problem of bureaucratic distance looms large, even if the States that create these institutions are democratic; the links between the popular will in democratic States that consent the creation of global governance institutions and the governing functions these institutions perform seem too academic to confer legitimacy“. 382  Bachmann, Bundesverfassungsgericht und Strafvollzug, S. 424, weist darauf hin, dass einem zu expansiven Ausgreifen des EGMR dessen Bedürfnis nach Akzeptanz seiner Rechtsprechung und Kooperation durch die Vertragsstaaten mit Strafvollzugsdefiziten entgegenstünden; diese Defizite zwängen den EGMR zu einer behutsa-

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

a) Hintergrund und internationale Regelungen Nebst der EMRK ist auch der IPbpR zu beachten und systematisch in die Auslegung einzubeziehen. Art. 6 IPbpR fordert eine weitgehende Beschränkung der Todesstrafe, während Art. 7 grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen verbietet. Art. 8 ächtet Sklaverei, Zwangs- oder Pflichtarbeit und Art. 9 schreibt vor, dass Freiheitsentzug nur nach einem gesetzlich geregelten Verfahren vollzogen werden darf und die Rechtmässigkeit seiner Anordnung der Überprüfung durch die Gerichte unterliegen muss. Ferner werden erstmals völkerrechtliche Regelungen mit Bedeutung für den Strafvollzug normiert, so insbesondere der Trennungsgrundsatz,383 das Beschleunigungsgebot, das explizite Gebot zur Achtung der Menschenwürde des Strafgefangenen und der Resozialisierungsgrundsatz.384 Weiter besagt Art. 10 IPbpR, dass jeglicher Vollzug auf Resozialisierung hinzielen muss.385 Bezugnehmend auf internationale Normen und Soft Law hat der EGMR menschenwürdewahrende Haftbedingungen entwickelt und präzisiert; er hat mithin ein ganzes „Normprogramm“ aus Art. 3 EMRK hergeleitet. Dies entspricht der Logik eines sich weiter ausdifferenzierenden und anspruchsvoller werdenden Grundrechtsschutzes auf supranationaler Ebene.386 Insofern hat der Gerichtshof in den letzten Jahren Haftfälle mit grösserer Strenge und Genauigkeit an die Hand genommen. Es ist seiner Auslegungsmethodik zu verdanken, dass die Gravitätsschwelle von Art. 3 EMRK in den letzten Jahren gesenkt wurde. Ein markanter Eckpfeiler, der für eine genuin europäische Haltung in Haftsachen steht, ist die Arbeit des European Committee on Crime Problems.387 men Beurteilung von Haftbedingungen, was in dieser simplizistischen Form allerdings abzulehnen ist. 383  Untersuchungsgefangene sind von Strafhäftlingen zu trennen; Jugendliche sind von Erwachsenen zu trennen. 384  Art. 10 IPbpR. 385  Morgenstern, Internationale Instrumente und Entwicklungen zur Humanisierung des Strafvollzugs, S. 35 (37). 386  Vgl. EGMR (GK), 18.12.1996, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89; EGMR (GK), 28.07.2004, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 43: „However, having regard to the fact that the Convention is a ‚living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions‘ (…), the Court considers that certain acts which were classified in the past as ‚inhuman and degrading treatment‘ as opposed to ‚torture‘ could be classified differently in future. It takes the view that the increasingly high standard being required in the area of the protection of human rights and fundamental liberties correspondingly and inevitably requires greater firmness in assessing breaches of the fundamental values of democratic societies“ (Hervorhebung durch Autor). 387  Zum Ganzen 2. Teil B. II. 1. b) bb)–cc).



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 197

Unter der Ägide dieses Fachgremiums sind die Europäischen Strafvollzugsprinzipien (nachfolgend: EPR 2006) entstanden, die auf eine stärkere grundrechtliche Durchdringung der Haftumstände abzielen:388 „1. Alle Personen, denen die Freiheit entzogen ist, sind unter Achtung ihrer Menschenrechte zu behandeln. 2.  Personen, denen die Freiheit entzogen ist, behalten alle Rechte, die ihnen durch die Entscheidung, mit der gegen sie eine Freiheitsstrafe verhängt oder Untersuchungshaft angeordnet wird, nicht rechtmässig aberkannt werden. 3. Einschränkungen, die Personen auferlegt werden, denen die Freiheit entzogen ist, müssen sich auf das Mindestmass beschränken und in Bezug auf den rechtmässigen Zweck, zu dem sie verhängt werden, verhältnismässig sein. 4. Mittelknappheit kann keine Rechtfertigung sein für Vollzugsbedingungen, die gegen die Menschenrechte von Gefangenen verstossen. 5.  Das Leben in der Justizvollzugsanstalt ist den positiven Aspekten des Lebens in der freien Gesellschaft so weit wie möglich anzugleichen. 6.  Jede Freiheitsentziehung ist so durchzuführen, dass sie den betroffenen Personen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtert. 7.  Die Zusammenarbeit mit externen sozialen Diensten und, soweit dies möglich ist, die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in das Leben in der Justizvollzugsanstalt sind zu fördern. 8. Das Personal in den Justizvollzugsanstalten erbringt eine wichtige öffentliche Dienstleistung und ist durch Auswahl, Ausbildung und Arbeitsbedingungen in die Lage zu versetzen, bei der Betreuung der Gefangenen hohe Standards einzuhalten. 9. Alle Justizvollzugsanstalten sollen regelmässig durch staatliche Stellen kontrolliert und durch unabhängige Stellen überwacht werden“.389

Während die EPR 1987 in Nr. 1 nur auf die Menschenwürde Bezug genommen hat,390 wird nun in den EPR 2006 die Achtung vor den Menschenrechten insgesamt, und die Menschenwürde als Teil davon, hervorgehoben. Die Menschenwürde wird in den EPR 2006 mehrmals explizit genannt und in einen spezifischen Kontext gestellt.391 Dadurch können besondere Ausprägungen der Menschenwürde i. S. einer Special Clause herausgelesen 388  Céré,

Rev. pén. 2006, S. 415 (417). Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, Basic Principles. 390  Von einer De-facto-Inkorporation der Standards der EPR 1987 sprechen Cornille/Devos/Mahieu, BP 2006, S. 1 (6); ferner Sudre, L’article 3bis de la Convention, S.  1499 (1499 ff.). 391  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 18.1: „The accommodation provided for prisoners, and in particular all sleeping accommodation, shall respect human dignity and, as far as possible, privacy, and meet the requirements of health and hygiene, due regard being paid to climatic conditions and especially to floor space, cubic content of air, lighting, heating and ventilation (…). 389  Recommendation

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

werden: Bemerkenswert ist, dass die Menschenwürde auch in die Nähe eines Mindestmasses an Privatsphäre gestellt wird.392 Aber auch Gesundheit, Hy­ giene, Luft, Licht, ausreichende Raumtemperatur und „geistige Nahrung“ sind mit der Würde des Menschen i. S. einer Conditio Humana verbunden und müssen adäquat gewährleistet sein. Letztlich mahnt auch die Präambel einen die Menschenwürde wahrenden Freiheitsentzug an.393 Neben völkerrechtlichen Rechtsquellen zieht der EGMR vermehrt und zuweilen dezidiert rechtlich nicht verbindliche Mindeststandards, Soft Law, heran. Gemäss ihrem Charakter als „lebendiges Grundrechts-Instrument“ hat sich die Konvention an die sozialen Umstände mit all ihren kulturellen und (veränderten) empirisch-wissenschaftlichen Facetten anzupassen. Daher ist die Konvention offen für neue wissenschaftliche Erkenntnisse, sofern diese einen Konnex zu menschenrechtlichen Aspekten aufweisen. Was die Menschenwürde verlangt, kann nicht im luftleeren Raum beantwortet werden bzw. kann u. a. nur unter Beachtung eines aktuellen Menschenbildes erfolgen, das neue anthropologische Erkenntnisse miteinschliesst, um der Natur des Menschen gerecht zu werden.394 Konkrete handlungsleitende Pflichten schöpft der Gerichtshof aus internationalen Instrumenten.395 Angesichts des Aufkommens der Menschenwürde in diversen internationalen Menschenrechtsverträgen und Soft-Law-Instrumenten besteht eine hohe normative Rezeptionsfähigkeit.396 Im Zentrum steht das Wesen 49. Good order in prison shall be maintained by taking into account the requirements of security, safety and discipline, while also providing prisoners with living conditions which respect human dignity and offering them a full programme of activities in accordance with Rule 25 (…). 72.1 Prison shall be managed within an ethical context which recognises the obligation to treat all prisoners with humanity and with respect for the inherent dignity of the human person“. 392  S. special clause in Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, Preambule: „Stressing that the enforcement of custodial sentences and the treatment of prisoners necessitate taking account of the requirements of safety, security and discipline while also ensuring prison conditions which do not infringe human dignity and which offer meaningful occupational activities and treatment programmes to inmates, thus preparing them for their reintegration into society“; vgl. EGMR, 12.02.2013, D. G. v. Poland, Nr. 45705/07, Rn. 108. 393  S. special clause in Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, §§ 18.1, 32.2, 49, 54.3, 72.1, 394  Vgl. Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 521. 395  Dass aus Art.  3 EMRK keine eindeutigen, objektiven Kriterien für den Freiheitsentzug herleitbar sind, anerkennt auch der EGMR seit geraumer Zeit: EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 30. 396  Vgl. Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn. 80.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 199

Mensch mit all seinen emotionalen und somatischen Komponenten. Der EGMR rekurriert deshalb oft auf Berichte des CPT,397 auf Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates und auf Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen;398 wohl auch deswegen, da diese Instrumente auf Expertenkonsens basieren. Auch auf nationaler Ebene haben expertenbasierte Strafvollzugsprinzipien eine normative Aufwertung erfahren, indem die Höchstgerichte eine Unterschreitung solcher Mindeststandards zumindest als starkes Indiz für eine Menschenwürdeverletzung werten oder sie als Konkretisierungshilfe, zur materiellen Anreicherung von nationalen Grundrechten, heranziehen.399 Der EGMR lässt sich insbesondere bei der Ausformulierung positiver Schutzpflichten stark durch diese Instrumente beeinflussen, ohne sie dadurch aber zu eigenständigen Rechtsquellen zu erheben.400 Durch Etablierung eines für den Achtungsanspruch der Menschenwürde essentiellen Normprogramms tragen diese Soft-Law-Instrumente zum Gehalt der Menschenwürde bei.401 Das Besondere an den Empfehlungen des Europarats ist, dass sie – wie bspw. bei den EPR 2006 – teilweise die Rechtsprechung des EGMR sowie die vom CPT etablierten Grundsätze positivieren.402 Diese Instrumente sind daher ein Amalgam aus auf Expertenkonsens basierenden Regelungen, der geronnenen Rechtsprechung des EGMR sowie wissenschaftlich-empirischer Erkenntnisse der Vollzugsforschung. Der EGMR bezieht seine materiellen „Rechtsideen“ u. a. von diesen In­ strumenten; inwieweit diese dezisiv sind, ist hingegen umstritten und lässt sich letztlich auch nicht empirisch festmachen. In aller Regel operiert der Gerichtshof mit mehreren Rechtserkenntnisquellen, die er in seinen methodischen Auslegungskanon zu integrieren versucht.403 Es besteht also eine starke Wechselwirkung zwischen den herangezogenen Instrumenten, wobei es der EGMR in der Hand hat, einzelne Grundsätze (des CPT, Empfehlungen des Ministerkomitees oder Präjudizen nationaler Verfassungsgerichte) über Art. 3 EMRK verbindlich und individuell einklagbar zu machen. Was die effektiven 397  Statt vieler: EGMR (GK), 03.07.2014, Georgia v. Russia (no. 1), Nr. 13255/07, Rn. 202. 398  EGMR (GK), 27.04.2010, Tanase v. Moldova, Nr. 7/08, Rn. 176. 399  BVerfGE 116, 69 (90). Ihnen deshalb aber einen subjektiv-rechtlichen Charakter zuschreiben zu wollen, würde zu weit greifen. 400  Die einzige Rechtsquelle, derer sich der EGMR bedienen darf, ist die EMRK; vgl. 2. Teil B. II. 401  Vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 56. 402  Explanatory Report zu den European Prison Rules 2006. 403  2. Teil B. I. 2. a) aa) und II.; Ronc, ex ante 2017, 67 (75 f.); van Zyl Smit/­ Appleton, Life Imprisonment, S. 206 f.; Kromrey, Hafbedingungen als Auslieferungshindernis, S.  187 f.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

normativen Wirkungen dieser Instrumente angeht, bleibt letztlich vieles opak und lässt sich nur auf Thesen stützen, die durch induktive Rechtsprechungsanalyse gewonnen werden können.404 Eindeutig klar dürfte lediglich sein, dass bei Einhaltung der Grundsätze des CPT keine Konventionsverletzung vorliegt.405 Darüber hinaus liefert das CPT als Expertenkomitee einen Orientierungsrahmen, der zur Eruierung menschenwürdiger Haftumstände mittlerweile unersetzlich geworden ist.406 b) Rechtsprechungsgenese: Die „Entdeckung“ der Menschenwürde in Haftsachen Anders als in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention407 und im IPbpR,408 die unter Bezugnahme auf die Menschenwürde explizit Mindeststandards in Haft einfordern, kennt die EMRK keine Norm, die sich spezifisch mit Gefangenen oder Haftsituationen befasst.409 Dem Wortlaut von Art. 3 EMRK („Folter“, „unmenschliche Behandlung“, „erniedrigende Behandlung“) lassen sich nicht ohne Weiteres materielle Standards für Haft­ institutionen entnehmen.410 Es ist das Verdienst der EKMR, sehr früh, im Jahr 1962, festgehalten zu haben, dass Freiheitsentzug nicht zu einer automatischen Verwirkung der Konventionsrechte führen dürfe.411 Denn unter dem Schutzmantel von Art. 3 EMRK könnten sich unter Umständen menschenrechtliche Probleme stellen.412 Der EGMR und die EKMR legten zunächst eine äusserst zurückhaltende Haltung an den Tag und judizierten resRonc, ex ante 2017, S. 67 (67 ff.). 13.05.2017, Podeschi v. San Marino, Nr. 66357/14, Rn. 115. 406  Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 177; Zum Verhältnis „Sein“ und „Sollen“: Gerichtliche Entscheidungen können nie rein empirisch getroffen werden, wenn sie in rationaler Weise effektiven Rechtsschutz garantieren sollen: Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 149. 407  Art. 5 Abs. 2: „No one shall be subjected to torture or to cruel, inhuman, or degrading punishment or treatment. All persons deprived of their liberty shall be treated with respect for the inherent dignity of the human person“. 408  Art. 10 Abs. 1: „All persons deprived of their liberty shall be treated with humanity and with respect for the inherent dignity of the human person“. 409  Vgl. EGMR, 11.07.2006, Rivière v. France, Nr. 33834/03, Rn. 60; vgl. EGMR, 14.11.2002, Mouisel v. France, Nr. 67263/01, Rn. 38: „The Convention does not contain any provision relating specifically to the situation of persons deprived of their liberty“. 410  So Sudre, L’article 3 de la Convention, S. 1499 (1502). bis 411  EKMR, Entsch. v. 08.03.1962, Ilse Koch v. Germany, Nr. 1270/61; EGMR, 26.01.2017, X. v. Switzerland, 16744/14. 412  EGMR, Entsch. v. 09.05.1977, X. v. Switzerland, Nr. 7754/77, 216, 219. 404  Hierzu

405  EGMR,



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triktiv, wenn es um die Rechte Gefangener ging. In früheren Urteilen wurde selbst bei Überbelegung der Haftzellen, einhergehend mit schlechten hygienischen Zuständen, keine Verletzung von Art. 3 EMRK festgestellt.413 Jene Fälle wurden auch nicht mit der Menschenwürde in Verbindung gebracht. Im Kern wurde damals sehr auf das Element des auferlegten Leidens Strafgefangener und die Finalität der staatlichen Handlung abgestellt. Zwar wurde das Diktum, wonach Recht und Gerechtigkeit („justice“) nicht vor den Toren des Gefängnisses haltmachen dürften, immer wieder bekräftigt; die Erarbeitung eines robusten menschenrechtlichen Schutzkonzepts blieb allerdings aus.414 Dass aber Haftsituationen besondere Gefährdungslagen für die mensch­ liche Würde darstellen, wird nunmehr anerkannt und adressiert, ebenso wie die Relevanz von völkerrechtlichen Verträgen und von Soft-Law-Instrumenten, wie den Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates.415 Bereits in den Europäischen Strafvollzugsgrundätzen von 1987 wird festgeschrieben: „The deprivation of liberty shall be effected in material and moral conditions which ensure respect for human dignity“.416

Der Fokus lag auf den materiellen Umständen von Haftinstitutionen. Der Europarat nahm sich insbesondere des Problems der Überbelegung an, erstmals in einer Empfehlung des Ministerkomitees von 1999.417 Es wurde erkannt, dass Überbelegung in Haftanstalten für Folgeprobleme, wie beispielsweise schlechte hygienische Zustände, Krankheitsübertragungen und Gewalt verantwortlich ist.418 Dadurch wird die Wahrnehmung anderer Grundrechte und Grundfreiheiten nicht nur behindert, sondern gar verunmöglicht.419 413  Vgl. Trechsel, ZStW 1989, S. 819 (827); Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31 Rn. 68; EGMR (Pl), 06.11.1980, Guzzardi v. Italy, Nr. 7367/76, Rn. 107; EKMR, 09.07.1981, Kröcher and Möller v. Switzerland, Nr. 8463/78, Rn. 57 ff.; vgl. EKMR, 08.03.1962, Koch v. Germany, Nr. 1270/61; EKMR, 16.02.1993, Delazarus v. United Kingdom, Nr.  17525/90; m. w. N.; Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn. 79. 414  EGMR, 28.06.1984, Campbell and Fell v. United Kingdom, Nr. 7819/77 u. 7878/77, Rn. 69: „[J]ustice cannot stop at the prison gate“; mit Verweis auf EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70. 415  Zum Ganzen: 2. Teil B. I. 2. a) aa) und II. 1. b) bb). van Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonment, S. 18 ff. 416  Recommendation R (87) 3 on the European Prison Rules 1987, § 1 u. Pre­ ambule: „emphasis has been placed on the precepts of human dignity, the commitment of prison administrations to humane and positive treatment“. 417  Recommendation R (99) 22 concerning prison overcrowding and prison population inflation. 418  Albrecht H.-J., Prison Overcrowding, S. 33 f. 419  Albrecht H.-J., Prison Overcrowding, S. 33 f.

202

3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Überpopulation in Haftanstalten unterminiert nicht nur legitime Ansprüche von Häftlingen, sie untergräbt auch die vom Staat zu verfolgenden Strafzwecke.420 Resozialisierung kann nämlich nur gelingen, wenn auch die entsprechenden materiellen und moralischen Umstände dazu gegeben sind. Um diese Problematik strukturell, primär auf rechtspolitischer Ebene, anzugehen, wurden Empfehlungen erlassen, welche die Menschenwürde ins Zentrum stellen, und Leitlinien formuliert, die zu ihrer Respektierung zu beachten sind. Dieser Menschenwürdebezug wurde in den Folgejahren weiter unterstrichen und akzentuiert.421 Auf der Konventionsrechtsebene fand ein wirklich tiefgehender Wandel um die Jahrtausendwende statt.422 Als Markstein für die Rechtsstellung von Haftgefangenen ist insbesondere die Rechtssache Kudla423 zu nennen:424 „Under [article 3] the State must ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for his human dignity“.425

Der Gerichtshof brachte einstimmig zum Ausdruck, dass er sich mit in­ akzeptablen Haftbedingungen auseinandersetzen will und muss. Dies führt vom normativen Anspruch her zu einem Gleichschritt mit Art. 10 Abs. 1 des ­IPbpR sowie den Forderungen des CPT und den Empfehlungen des Europarats.426 Die Formulierung des Gerichtshofs deutet auf eine Doppelfunktion 420  Zur

Resozialierung des Täters s. 3. Teil A. II. 2. b) bb) (2). R (99) 22 concerning prison overcrowding and prison population inflation, appendix § 7: „Where conditions of overcrowding occur, special emphasis should be placed on the precepts of human dignity, the commitment of prison administrations to apply humane and positive treatment, the full recognition of staff roles and effective modern management approaches. In conformity with the European Prison Rules, particular attention should be paid to the amount of space available to prisoners, to hygiene and sanitation, to the provision of sufficient and suitably prepared and presented food, to prisoners’ health care and to the opportunity for outdoor exercise“ (Hervorhebung durch Autor); vgl. Céré, Rev. trim. dr. h. 2007, S. 261 (265). 422  Vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 55; Morgenstern, Internationale Instrumente und Entwicklungen zur Humanisierung des Strafvollzugs, S. 35 (46). 423  EGMR (GK), 26.10.2000, Kudla v. Poland, Nr. 30210/96; vgl. auch EGMR, 19.04.2001, Peers v. Greece, Nr. 28524/95; EGMR, 15.07.2002, Kalashnikov v. Russia, Nr. 47095/99. 424  So Crucifix/Gilot, Rev.trim.dr.h. 2017, S. 295 (299); in diese Richtung auch Rodley/Pollard, The Treatment of Prisoners under International Law, S. 394; vgl. Belda, Les droits de l’homme des personnes privées de liberté, S. 26, die von der Kreation eines neuen Rechts auf würdewahrende Haftumstände spricht; s. a. Sudre, L’article 3bis de la Convention, S. 1499 (1503). 425  EGMR (GK), 26.10.2000, Kudla v. Poland, Nr. 30210/96, Rn. 94. 426  CPT, 2nd General Report (CPT/Inf 92 [3], 44 ff.). 421  Rec



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 203

der menschlichen Würde hin, nämlich die Pflicht zu ihrem Schutz (positive Leistungspflicht) und zu ihrer Beachtung (Abwehrrecht).427 Haftbedingungen sind ein anschauliches Beispiel, wie sich Reichweite und Verständnis von Art. 3 EMRK verändern können.428 Semantisch ist die Menschenwürde zur Begründung positiver Pflichten geeigneter als ein Anknüpfen an den Verletzungstatbestand der Erniedrigung.429 Häftlinge sind positiv, d. h. durch entsprechende Leistungspflichten der Staaten, in ihrer Menschenwürde zu schützen. Wenn man Entscheide des EGMR zu Haftbedingungen liest, fällt die stete und markante Bezugnahme auf den Rechtsbegriff „Menschenwürde“ („human dignity“; „dignité humaine“) auf. Vorliegend wird von der Hypothese ausgegangen, dass diese Bezugnahme vom Gerichtshof bewusst vorgenommen wird. Der Gerichtshof unterzieht sich wissentlich einer Re-Evaluation der Konzepte in Art. 3 EMRK unter dem Blickwinkel der Menschenwürde. Wenn man zur Beurteilung von menschenrechtlich fragwürdigen Haftbedingungen als normativen Ausgangspunkt die Menschenwürde heranzieht, so ist dies keineswegs „idealistische Träumerei“, geht es doch um konkrete Konfliktfelder, um fundamentale menschliche Bedürfnisse und um Grenzen bei der Ausübung staatlicher Macht.430 Die Menschenwürde fordert die Gewährleistung elementarer Bedürfnisse und zwar in einem ganzheitlichen Sinn.431 Die Menschenwürde eignet sich für eine solche holistische Herangehensweise, welche die Haftumstände umfassend, mit Blick auf den Menschen in all seinen Facetten, in den Blick nimmt.432 427  Vgl. Sudre, L’article 3 de la Convention, 1499 (1505); Gearty, Principles of bis Human Rights Adjudication, S. 96 („This is a respect for human dignity, that is on the move, expanding the moral dictates of civilized society ever outwards, bringing more and more persons within its field of vision“); van Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonment, S. 18: „The widespread recognition of a general right to human dignity has also informed the growing emphasis on the rights of prisoners as a subfield of human rights law and practice“. 428  Von Ungern-Sternberg, AVR 2013, S. 312 (313). 429  Der EGMR fordert unter Umständen von den Staaten aber auch positive Schutzpflichten ein, damit ein Einzelner nicht erniedrigt wird. Ein Rückgriff auf die Menschenwürde ist also offenbar nicht zwingend notwendig zur Bildung positiver Leistungspflichten unter Art. 3 EMRK; vgl. Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 105. 430  Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 158; vgl. von Berns­ torff, JZ 2013, S. 905 (915): „Die Menschenwürdenorm bleibt nach diesem Verständnis Garant eines Residuums absoluter Moralvorstellungen im Grund- und Menschenrechtsschutz. Ohne ein juridisch einlösbares Bild der letzten Grenze sind alle Grundund Menschenrechte nichts“. 431  Gefordert sind nicht „überzogene Standards“: Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 158. 432  Vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 55 („umfassende“ Überprüfung materieller Haftbedingungen).

204

3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Eine Verletzung besteht materiell dann, wenn eine „Missachtung der Person in ihrem Menschsein“ zu konstatieren ist.433 Formell bedeutet dies, dass gewisse Handlungsformen verboten und mit dem Respekt, den ein Individuum verdient, nicht in Einklang zu bringen sind. Die Menschenwürde wird so zur Voraussetzung menschlichen Miteinanders.434 Insofern hat sich die Einsicht verfestigt, dass der Staat dafür zu sorgen hat, dass eine Person unter Achtung der Menschenwürde inhaftiert wird und durch die Art und Weise des Vollzugs nicht unnötig, d. h. nicht über das jeglicher Haft innewohnende Ausmass an Leid gepeinigt oder beschwert wird; die Gesundheit und das Wohlbefinden des Inhaftierten müssen durch praktische Vorkehrungen im Haftalltag sichergestellt werden, unter anderem in Form der notwendigen medizinischen Versorgung.435 Als unvermeidbar mit der Haft verbundenes Leid gilt etwa die weitgehende Isolierung des Häftlings von der Aussenwelt, eine tiefgreifende staatliche Kontrolle des Tagesablaufs, teilweise uniforme Tätigkeit, ein weitgehender Verlust der Privatsphäre sowie der (weitgehende) Entzug sexueller Kontakte.436 Zudem können Inhaftierte unter dem Entzug ihres sozialen Status leiden; auch die Trennung von Angehörigen, von materiellen Gütern sowie von sensorischen und kognitiven Stimulanzien tun ihr Übriges.437 All dies gehört aber zum „inevitable level of suffering inherent in detention“, den der EGMR folglich als konventionskonform und die Menschenwürde nicht verletzend erachtet.438 Es ist allerdings verfehlt, hierbei von einer „zweiten Eingriffsschwelle“ zu sprechen, da die Eingriffe, die mit einem legitimen Freiheitsentzug unvermeidbar einhergehen, eben gerade keine Menschenwürdeverletzungen sind.439

433  Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, §  20 Rn. 27; Morgenstern, RW 2014, S. 153 (174). 434  Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 158. 435  Damit ist aber auch angesprochen, dass nicht jedes persönliche Empfinden einer Herabsetzung der betroffenen Person den schrankenlosen Schutz von Art. 3 EMRK aktivieren kann; vgl. EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 96; EGMR, 15.07.2002, Kalashnikov v. Russia, Nr. 47095/99, Rn. 95; EGMR, 29.04.2003, McGlinchey v. United Kingdom, 50390/99, Rn. 46; EGMR (GK), 26.10.2000, Kudla v. Poland, 30210/96, Rn. 94; Pohlreich, JZ 2011, S. 1058 (1059). 436  Khakzad/Kromrey, Forum Strafvollzug 2013, S. 244 (244). 437  Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 172. 438  EGMR, 10.01.2012, Vladimir Vasilyev v. Russia, Nr. 28370/05, Rn. 55: „[T]hat the manner and method of the execution of the measure do not subject him to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention“. 439  So aber von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 59 f., 165 f.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 205

Anhand der Formel des EGMR wird einmal mehr klar erkennbar, dass sich der Gehalt der Menschenwürdegarantie nur bedingt durch eine generell-abstrakte Definition einfangen lässt, sondern vielmehr der einzelfallbezogenen Konkretisierung bedarf.440 c) Materielle Haftbedingungen: Konkreter Menschenwürdeschutz Menschenwürdige materielle Haftbedingungen sind Ausfluss einer normativen Annahme über das Menschsein. Dadurch soll ein Standard mensch­ lichen Wohlergehens etabliert werden. Wird dieser Standard unterschritten, bedeutet dies, dass minimale Bedingungen menschlichen Daseins nicht gegeben sind, was für einen der Konventionsgemeinschaft zugehörigen Staat inakzeptabel ist.441 Aufgabe des Gerichtshofs ist es,442 menschenwürderelevante Verletzungen zu identifizieren und unter einen Verletzungstatbestand zu subsumieren.443 Die nachfolgende Kategorisierung folgt der vom EGMR etablierten Logik der kumulativen Wirkung von Haftbedingungen.444 Negative Teil­ aspekte materieller Bedingungen in Haft können sich addieren oder durch günstige Faktoren für den Häftling abgemildert werden, soweit die Teil­ aspekte miteinander verrechnet werden können.445 Als Ergebnis kann ein Bild menschenwürderelevanter Verletzungstatbestände bzw. objektiv inakzeptabler Teilbedingungen gezeichnet werden,446 das den aktuellen rechts­ zivilisatorischen Grundrechtsstand reflektiert. 440  Vgl. daher auch das methodische Vorgehen der vorliegenden Arbeit: 1 Teil C; instruktiv Treiber, Die Asylrelevanz von Folter, Todesstrafe und sonstiger unmenschlicher Behandlung, S. 44, der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Strafvollzug als eine „im Kern zerstörerische und die Elementarpositionen körper­ licher und geistiger Integrität treffende Behandlung durch die Verweigerung der Grundvoraussetzungen sozialer, physischer und psychischer Existenz ein über das normale, mit jedem Freiheitsentzug und dessen technischer Durchführung unvereinbar verbundene Mass an Beschränkungen hinausgehendes Leiden“ erachtet. 441  Vgl. EGMR, 31.05.2011, Khodorkovskiy v. Russia, Nr. 5829/04. 442  2. Teil A. II. 443  Vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 60. In prozeduraler Hinsicht müssen die Staaten Versäumnisse bei den materiellen Schutzpflichten eingehend und effektiv ermitteln: EGMR (GK), 06.04.2000, Labita v. Italy, Nr. 26772/95, Rn. 130  ff.; EGMR, 18.10.2001, Indelicato v. Italy, Nr. 31143/96, Rn. 36; EGMR, 28.10.1998, Assenov v. Bulgaria, Nr. 24760/94, Rn. 102 f.; vgl. EGMR, 24.07.2001, Valasinas v. Lithuania, Nr. 44558/98, Rn. 123 ff. 444  Statt vieler: EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 101; ferner EGMR, 09.09.2010, Xiros v. Greece, Nr. 1033/07, Rn. 92. 445  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 51. 446  Vgl. Belda, Les droits de l’homme des personnes privées de liberté, S. 75.

206

3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Es liegt auf der Hand, dass sich nicht alle menschenwürdeverletzenden oder -gefährdenden Haftbedingungen exakt quantifizieren lassen. Auch bei Empfehlungen von Fachgremien kommt man oft nicht umhin, auf abstrakte Regeln zurückzugreifen, bspw. dass den Häftlingen „angemessene[r] Zugang zu Dusch- und Bademöglichkeiten“ zu gewährleisten sei, dass sie Anspruch auf nahrhaftes, ihrem Alter, ihrer gesundheitlichen Prädisposition und weiteren persönlichen Bedürfnissen entsprechendes Essen haben oder dass Strafverurteilte bei Terminen ausserhalb der Haftanstalt nicht gezwungen werden, Gefängniskleider zu tragen.447 aa) Überbelegung Überbelegung in Haftanstalten ist ein komplexes Phänomen, dem auf na­ tionaler wie auf internationaler Ebene seit Jahrzehnten vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt wird.448 Überbelegung kann schleichend oder plötzlich eintreten; im schlechtesten Fall wird sie zu einem Dauerzustand („chronic overcrowding“).449 Es gibt keine international anerkannte Definition dessen, was „Überbelegung in Haft“ („prison overcrowding“) exakt bedeutet.450 Eine solche Feststellung muss aus einer Kombination normativer und faktischer Elemente generiert werden.451 In normativer Hinsicht knüpft der Gerichtshof an die Menschenwürde und Art. 3 EMRK an; zudem gibt es einige Empfehlungen, die sich des Phänomens mehr oder weniger detailliert annehmen.452 447  Recommendation

22.1.

Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, §§ 19.4, 20.4,

448  United Nations Standard Minimum Rules for Non-Custodial Measures (Tokyo Rules) A/RES/45/110 (1990); United Nations Economic and Social Council: Reform of the Criminal Justice System: Achieving Effectiveness and Equality. Use and Application of United Nations Standards and Norms, Especially Concerning Juvenile Justice and Penal Reform, Report of Secretary-General 2002; vgl. Aebi/Aubusson de Cavarlay/Stadnic, Prison Entries and Length of Detention: The Diversity of the Correctional System, 2007 abrufbar unter: file:///C:/Users/User/Downloads/AebiAubus sonStadnic_2007_PrisonEntriesandLengthofDetention.pdf (zuletzt abgerufen am 03.06.2019). 449  Vgl. CPT/Inf (2017) 9, Rn. 49 ff. 450  European Committee on Crime Problems, White paper on prison overcrowding, CM (2016) 121-add3, § 10. 451  Albrecht H.-J., Prison Overcrowding, S. 4. 452  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 18.4: „National law shall provide mechanisms for ensuring that these minimum requirements are not breached by the overcrowding of prisons“; Recommendation R (99) 22 of the Committee of Ministers to Member States Concerning Prison Overcrowding and Prison Population Inflation; diese Empfehlung ist Teil eines ganzes Bündels an Emp-



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 207

Ein fixer Wert, der einzuhalten ist, damit man von menschenwürdigen Bedingungen sprechen kann, wird nirgends statuiert,453 auch nicht in der EPR 2016. In internationalen Mindeststandards wird immerhin festgehalten, dass die Würde zu wahren und vor Erniedrigung zu schützen sei.454 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Überbelegung in Haft entscheidend vom jeweiligen normativen und kulturellen Rahmen abhängt.455 Insofern ist die Definition von Prison Overcrowding und deren Relevanz für die Menschenwürde und Art. 3 EMRK Gegenstand eines fortlaufenden Diskurses, der verschiedene Hintergrundannahmen, Bedenken, Interessen und (pönologische) Erkenntnisse miteinbeziehen muss. Der Europarat arbeitet in seinen publizierten Statistiken mit der Anzahl verfügbarer Haftplätze in Relation mit der Anzahl an Haftgefangenen. Allerdings beruhen die einschlägigen Daten, insbesondere zur Anzahl der Haftplätze, auf den Angaben der jeweiligen Nationalstaaten.456 Insofern steht in den Europaratsstudien der einzelne Schlafplatz im Zentrum.457 Demgegenüber erarbeitet das CPT relativ detaillierte eigenständige Standards, die in allen Vertragsstaaten Geltung erlangen sollten, und bekennt sich zum unveräusserlichen Wert, den jeder Mensch – auch der Strafhäftling – in sich trägt: „The CPT considers that the question of minimum living space per inmate is intrinsically linked to the commitment of every Council of Europe member state to respect the dignity of persons sent to prison“.458 fehlungen, welche Alternativen zur Freiheitsstrafe promulgieren wollen: Recommendation Rec (2000) 22 on improving the implementation of the European rules on community sanctions and measures; Recommendation Rec (2003) 22 on conditional release (parole); Recommendation Rec (2003) 23 on the management by prison administrations of life sentence and other long-term prisoners; Recommendation Rec (2006)8 on assistance to crime victims und Recommendation Rec (2006) 13 on the use of remand in custody, the conditions in which it takes place and the provision of safeguards against abuse. 453  Eine seltene Ausnahme bildet Art. 110 des polnischen Strafvollzugsgesetzes; was aber die tatsächliche Situation offenbar nicht stark positiv verändert hat; vgl. hierzu: EGMR, 22.10.2009, Orchowski v. Poland, Nr. 17885/04; EGMR, 22.10.2009, Norbert Sikorski v. Poland, Nr. 17599/05. 454  Vgl. Recommendation R (99) 22 of the Committee of Ministers to Member States Concerning Prison Overcrowding and Prison Population Inflation. 455  Albrecht H.-J., Prison Overcrowding, S. 6; zum Ganzen Coyle, Managing Prison Overcrowding, S. 1 (1 ff.). 456  European Committee on Crime Problems, White paper on prison overcrowding, CM (2016) 121-add3, § 18. Diese Daten liefern jedoch keine robuste Vergleichsbasis, da regionale Unterschiede nicht hinreichend abgebildet werden können; ­Albrecht H.-J., Prison Overcrowding, S. 8. 457  Dies verunmöglicht einen exakten Abgleich zwischen den Ländern sowie die Erarbeitung eines paneuropäischen Standards. 458  CPT/Inf (2015) 44, Rn. 5.

208

3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Die Menschenwürde wird vom CPT nicht nur als Leitmotiv verwendet, sondern es formuliert sogar einen Achtungsanspruch, der den Staaten positive Leistungspflichten auferlegt: „[The CPT] wishes to emphasise at the outset that the act of depriving someone of his liberty brings with it the responsibility for the State to detain him under conditions which respect human dignity of the human person“.459

Die Berichte des CPT machen konkrete Aussagen punkto Raumverhältnisse. Als Zielgrösse wird eine Fläche von 6 m2 pro Gefangenen in einer Einzelzelle genannt;460 in Mehrbettzellen liegt der Richtwert bei 4 m2.461 Die sanitären Einrichtungen, die zwischen 1 und 2 m2 in Anspruch nehmen, sind in diesen Richtwerten nicht mit einbegriffen.462 Das CPT bezeichnet es explizit als ultimative Aufgabe der nationalen Gerichte und des EGMR, im Einzelfall zu entscheiden, ob die „Gravitätsschwelle“ von Art. 3 EMRK erreicht sei.463 Dabei sind alle Einzelfallfaktoren, einschliesslich der persönlichen Konstitution des Häftlings, miteinzubeziehen. Die Zellengrösse sei dabei nicht der einzige, jedoch ein wichtiger und zuweilen gar entscheidender Faktor.464 In evolutiv-dynamischer Rechtsprechung465 berücksichtigt der Gerichtshof die genannten Berichte als autoritative Quelle wissenschaftlich-pönologischer Erkenntnis und wandelt sie zu normativen Parametern um:466 So erkennt er – vor dem Hintergrund der Entwicklungen innerhalb des Europarats, der sich dieses Problems in mehreren Soft-Law-Instrumenten angenommen hat, und in Würdigung der differenzierenden Ansprüche an humane Haftbedingungen des CPT – Überbelegung als menschenrechtliches Kernproblem an. Durch die Anpassung an die laufende Entwicklung wird der Gerichtshof dem Anspruch gerecht, die Konvention als „living instrument“ auszulegen und anzuwenden.467 Der EGMR zeigt sich von diesen Empfehlungen inspiriert und zielt auf dasselbe Schutzprinzip, die Würde, ab.468 459  CPT,

Report to the Government of Greece on the Visit to Greece 1993, Rn. 95. Rn. 84. 461  CPT/Inf(2016) Rn. 84; zuvor CPT/Inf (2002) 35; zitiert in EGMR (GK), 23.02.2016, Mozer v. Republic of Moldova and Russia, Nr. 11138/10, Rn. 64. 462  Zudem soll jede Zelle mindestens 2 m Abstand zwischen den Wänden und 2.5 m vom Boden zur Decke aufweisen. 463  CPT/Inf(2016) Rn. 87. 464  CPT/Inf(2016) Rn. 87. 465  2. Teil B. I. 2.a) aa) und II. 1. b) bb)–cc). 466  Ronc, ex ante 2017, S. 67 (75 f.); vgl. EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, partly dissenting opinion of Judge Pinto de Albuquerque, Rn.  10 ff. 467  2. Teil B. I. 2. a). 468  Recommendation R (99) 22 concerning prison overcrowding and prison population inflation, § 7; EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 14097/12, 460  CPT/Inf(2016)



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 209

Dass die Zellengrösse als zentraler Ausgangsfaktor zur Bewertung der Haftumstände zu verwenden ist, leuchtet ein: Überbelegung tangiert – wie oben bereits erläutert – beinahe jeden Lebensbereich in Haft, sie führt zu Erschwernissen in Bezug auf Frischluft, Privatsphäre, Hygienezustände und Bewegungsfreiheit; Überbelegung kann überdies die Gesundheit gefährden, da die Ansteckungsgefahr steigt oder auch weil Raucher mit Nichtrauchern in derselben Zelle untergebracht werden (müssen). Je nach persönlicher Konstitution eines Häftlings haben solche Umstände mehr oder weniger starke negative Auswirkungen auf die mentale und körperliche Gesundheit. Der EGMR hat den CPT-Richtwert zwar ausdrücklich erwähnt, ohne sich jedoch endgültig auf diesen festzulegen.469 Unter Berufung auf die Menschenwürde wird dafür argumentiert, dass auch der dem Straftäter in seiner Haftzelle zugewiesene Raum ein für Menschen adäquates Ausmass haben muss. Mit anderen Worten (die allerdings nicht als Anthropozentrismus missverstanden werden sollten): Straftäter dürfen nicht wie Tiere behandelt werden.470 Laut dem Gerichtshof kann Eingeengtheit allein genügen, um einen Menschen derart zu erniedrigen, dass er in seiner Menschenwürde bzw. seinem intrinsischen Eigenwert verletzt wird.471 Die persönliche Bewegungsfreiheit

Rn. 73; EGMR, 17.10.2013, Vladimir Belyayev v. Russia, Nr. 9967/06, Rn. 30. 469  EGMR, 15.07.2002, Kalashnikov v. Russia, Nr. 47095/99, Rn. 101. 470  Vgl. Joerden, FS Neumann, S. 159 (166). 471  EGMR, 20.01.2005, Mayzit v. Russia, Nr. 63378/00, Rn. 40 ff.: „In these circumstances the Court does not find it of crucial importance to determine the exact number of inmates in the cells during the periods concerned. The material available suggests that at any given time there would be less than 2 sqm of space per inmate. Thus, in the Court’s view the cells were overcrowed, something which in itself raises an issue under Article 3 of the Convention. (…) the Court finds that such conditions of pretrial detention wich the applicant had to endure for more than nine months must have undermined his human dignity and arousing in him feelings of humiliation and debasement“ (Hervorhebung durch Autor); EGMR, 04.04.2017, Thuo v. Cyprus, Nr. 3869/07, Rn. 141: „Article 3 of the Convention enshrines one of the most fundamental values of democratic societies. Indeed the prohibition of torture and inhuman or degrading treatment or punishment is a value of civilisation closely bound up with respect for human dignity“; Rn. 157: „The State must ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for human dignity, that the manner and method of the execution of the measure do not subject him or her to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention and that, given the practical demands of imprisonment, his or her health and well-being are adequately secured“; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 61. Eine Kriminalpolitik, die mehr Gefangene produziere, als das Gefängnissystem auf humane Weise unterzubringen vermag, sei zu ändern; Gefangene müssten sich nicht mit unerträglichen Haftbedingungen der Überbelegung abfinden: van Zyl Smit, EJCPR 2006, S. 107 (107 ff.).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

sei eines der zentralen Elemente, um akzeptable Haftumstände garantieren zu können.472 Der Gerichtshof hat sich in zahlreichen Fällen mit den räumlichen Umständen menschenwürdiger Haft befasst und ist dabei häufig zu einer Verurteilung gekommen.473 So hat er in mehreren Fällen die Tatsache, dass weniger als 3 m2 Zellenfläche pro Person zur Verfügung stand, direkt als Verletzung von Art. 3 EMRK gewertet.474 In anderen Fällen wiederum hat er auch bei weniger als 3 m2 Zellenfläche die kumulativen Effekte der Haft berücksichtigt und geprüft, ob die engen Zellenverhältnisse allenfalls durch genügend Freigang, Sportmöglichkeiten und gute Licht- und Luftverhältnisse kompensiert wurden.475 Insofern greift bei Haftumständen mit weniger als 3 m2 Platz in den einzelnen Zellen eine Vermutungsregel, die aber umgestossen werden kann, sofern die Unterbringungszeit kurz ist und Kompensationsmöglichkeiten bestehen.476 Inspiriert durch § 18 der EPR 2006 hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Belastung infolge Überbelegung und damit einhergehende hygienische Miss472  EGMR (GK), 03.07.2014, Georgia v. Russia (no. 1), Nr. 13255/07, Rn. 200: „The extreme lack of space in a prison cell weighs heavily as an aspect to be taken into account for the purpose of establishing whether the impugned detention conditions were ‚degrading‘ within the meaning of Article 3 of the Convention“. 473  EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13; EGMR, 01.05.2007, Benediktov v. Russia, Nr. 106/02, Rn. 38; EGMR, 08.11.2005, Khudoyorov v. Russia, Nr.  6847/02, Rn.  104  ff.; EGMR, 16.06.2005, Labzov v. Russia, Nr. 62208/00, Rn. 44 ff.; EGMR, 02.06.2005, Mayzit v. Russia, Nr. 63378/00, Rn. 39 ff.; EGMR, 15.07.2002, Kalashnikov v. Russia, Nr. 47095/99, Rn. 97 ff.; EGMR, 15.07.2002, Peers v. Russia, Nr. 28524/95, Rn. 69 ff. 474  EGMR, 21.06.2007, Kantyrev v. Russia, Nr.  37213/02, Rn. 50  f.; EGMR, 29.03.2007, Andrey Frolov v. Russia, Nr. 205/02, Rn. 47 ff.; EGMR, 20.01.2005, Mayzit v. Russia, Nr. 63378/00, Rn. 40; EGMR, 16.06.2005, Labzov v. Russia, Nr.  62208/00, Rn.  44; EGMR, 28.03.2006, Melnik v. Ukraine, Nr. 72286/01, Rn. 102 f.; EGMR, 01.03.2012, Dimitriy Sazonov v. Russia, Nr. 30268/03, Rn. 31 f.; EGMR, 04.12.2012, Nieciecki v. Greece, Nr. 11677/11, Rn. 49 ff.; EGMR, 31.07.2014, Tatishvili v. Greece, Nr. 26452/11, Rn. 43; vgl. EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 14097/12, Rn. 81 ff.; vgl. EGMR, 12.07.2007, Testa v. Croatia, Nr. 20877/04, Rn. 57. 475  EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 101, 146 ff. 476  16 Monate ist keine kurze Unterbringungszeit: EGMR, 04.04.2017, Thuo v. Cyprus, Nr. 3869/07, Rn. 158: „The strong presumption of a violation of Article 3 will normally be capable of being rebutted only if the following factors are cumulatively met: (1) the reductions in the required minimum personal space of 3 sq. m are short, occasional and minor: (2) such reductions are accompanied by sufficient freedom of movement outside the cell and adequate out-of-cell activities; (3) the applicant is confined in what is, when viewed generally, an appropriate detention facility, and there are no other aggravating aspects of the conditions of his or her detention“; EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 130.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 211

stände umso grösser wird, je mehr Zeit jemand in einer engen Haftzelle verbringt.477 In jüngeren Urteilen betont der Gerichtshof aber auch immer wieder, er werde keine absolute Quadratmeterzahl bestimmen, die zu einer automatischen Würdeverletzung führen würde.478 Sogar das CPT hält fest, dass „minimum standards for personal living space are not as straightforward a matter as they might appear at first sight“.479 Es ist daher auch nicht zu erwarten, dass sich der Gerichtshof bald auf einen numerischen Mindeststandard festlegen wird. Jedenfalls gilt, wie bereits erwähnt, bei einer Zellenfläche von weniger als 3 m2 die sehr starke – aber widerlegbare – Vermutung einer Menschenwürdeverletzung.480 Damit ist aber die untere Schmerzgrenze erreicht. Die Unterbringung in einer Zelle mit weniger als 3 m2 Platz während eines halben Jahres kann jedenfalls nicht kompensiert werden und ist als würdeverletzend zu qualifizieren.481 bb) Hygieneverhältnisse Ein menschenwürdiger Haftvollzug impliziert auch einen adäquaten Hy­ gienestandard. Sauberkeit und körperliche Hygiene sind eminent wichtig, um die Selbst- und Fremdachtung der inhaftierten Person aufrecht zu erhalten: „The Court considers (…) that access to properly equipped and hygienic sanitary facilities is of paramount importance for maintaining the inmates‘ sense of personal dignity“.482

Dies akzentuiert noch einmal das Verständnis der konventionsrechtlichen Würde als Anspruch auf minimale Selbstachtung („inmatesʼ sense of personal dignity“).483 Hygiene und Sauberkeit sind nicht nur integrale Bestandteile jenes Respekts, den Häftlinge ihrem eigenen Körper und ihren Mitinsassen schulden, sondern auch eine Voraussetzung, um Krankheiten vorzubeugen. 477  European Prison Rules, § 18; EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 146 ff. 478  Nicht zuzustimmen ist von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 63, der davon ausgeht, dass der EGMR 4 m2 als Mindestgrösse fordert. Der EGMR hat sich soweit ersichtlich noch nie auf eine fixe Grössenordnung festgelegt und wird dies wohl auch in Zukunft nicht tun. 479  CPT Inf/2015. 480  EGMR, 05.10.2017, Äbele v. Latvia, Nr. 60429/12 u. 72760/12, Rn. 66; EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 137. 481  EGMR, 04.04.2017, Thuo v. Cyprus, Nr. 3869/07, Rn. 162. 482  EGMR, 13.04.2017, Podeschi v. San Marino, Nr. 66357/14, Rn. 111; EGMR, 10.01.2012, Ananyev u. a. v. Russia, Nr. 42525/07, Rn. 156. 483  EGMR, 03.02.2015, Apostu v. Romania, Nr. 22765/12, Rn. 82: „As the sewage system was too old often the entire basement was flooded making the smell in the cells unbreathable“.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Ein humaner Strafvollzug kann nur gewährleistet werden, wenn der Zugang zu Toiletten und die Möglichkeit zur Körperpflege jederzeit garantiert ist.484 Dies bedingt, dass ausreichende und saubere sanitäre Anlagen vorhanden sind.485 Auch das Verweigern von sauberer Kleidung wirkt erniedrigend i. S. v. Art.  3 EMRK.486 Bei gemässigtem Klima sollte mindestens einmal pro Woche Duschen erlaubt sein.487 Wird den Häftlingen das Duschen dreimal pro Woche ermöglicht, fliesst dies positiv in die Gesamtwürdigung ein und kann kompensierend wirken.488 Ein weit verbreiteter Missstand sind Toiletten, die nicht adäquat von den Schlaf- und Essensplätzen in der Zelle räumlich abgegrenzt sind.489 Problematisch ist hierbei der Mangel an Privatsphäre, der Schamgefühle und mentales Leid verursachen sowie gegen das elementare sittliche Selbstverständnis der betroffenen Personen verstossen kann. Abgesehen von ihrem demütigenden bzw. erniedrigenden Charakter stellen solche Verhältnisse auch ein markantes Hygieneproblem dar, das häufig eine ohnehin bereits prekäre Gesamtsituation der Haft noch weiter verschlechtert.490 Eine Unterwerfung unter diese Bedingungen und das hervorgerufene Schamgefühl können als Verletzung der Würde des Menschen erachtet werden.491 Insbesondere auf längere 484  EGMR, 13.04.2017, Podeschi v. San Marino, Nr. 66357/14, Rn. 111; EGMR, 30.11.2006, Ananyev v. Ukraine, Nr.  32374/02, Rn.  114 m. w. N. 485  EGMR, 13.10.2015, Manea v. Romania, Nr. 77638/12, Rn. 67 f.; Rec No. R (99) 22 concerning prison overcrowding and prison population inflation Nr. 7; Rec(2006)2 to Member States on the European Prison Rules, § 18.1. 486  Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 3 Rn. 73. 487  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 19.4; mindestens einmal pro Woche bei gemässigtem Klima. 488  So explizit in EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 167. 489  EGMR, 02.02.2006, Iovchev v. Bulgaria, Nr. 41211/98, Rn. 134: „subjecting a detainee to the embarrassment of having to relieve himself in a bucket in the presence of his cellmates and of being present while the same bucket was being used by them (…) cannot be deemed warranted“; EGMR, 03.02.2015, Apostu v. Romania, Nr. 22765/12, Rn. 82: „The cells did not have toilets and the detainees had to ask the police officers to accompany them to the toilets during the day and to use a bucket in the presence of the other detainees during the night“. 490  EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 14097/12, Rn. 81 f. 491  Der Beschwerdeführer musste seine Notdurft vor den Mitinsassen verrichten und umgekehrt: EGMR, 19.04.2001, Peers v. Greece, Nr. 28524/95, Rn. 75; EGMR, 15.10.2002, Kalashnikov v. Russia, Nr. 47095/99, Rn. 99. Keine Beeinträchtigung der Menschenwürde bei Hocktoiletten ohne Sichtschutz, da nie mehr als eine Person diese benutzte: EGMR, 24.07.2001, Valasinas v. Lithuania, Nr. 44558/98, Rn. 104; Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 19.3; die Verrichtung der Notdurft in Gegenwart von anderen kann, ausser wegen zwingenden Sicherheits-



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 213

Sicht muss bei solchen Zuständen von einer erheblichen grundrechtlichen Eingriffstiefe ausgegangen werden, die das Mindestmass an Eingriffsschwere von Art. 3 EMRK erreichen und daher zumindest den Tatbestand der Erniedrigung (u. U. auch der Unmenschlichkeit) erfüllen. cc) Luft- und Lichtverhältnisse Mangel an Frischluft und mangelndes natürliches Tageslicht können die negativen Einwirkungen auf den Insassen verstärken.492 Bemerkenswert ist, dass der Gerichtshof auch die Luftverhältnisse in seine Rechtserwägungen miteinbezieht, um in einer bilanzierenden Gesamtwürdigung festzustellen, ob die Menschenwürde gewahrt wurde.493 Bislang hat der Gerichtshof schlechte Luft- und Lichtverhältnisse für sich genommen nicht als Menschenwürdeverstoss im Sinne einer erniedrigenden Strafe oder Behandlung qualifiziert; sie bewirken aber, da sie typischerweise zusammen mit überbelegten Haftzellen auftreten, häufig eine Verstärkung der grundrechtlichen Eingriffstiefe.494 dd) Nahrung Auch unzureichende Ernährung kann Art. 3 EMRK verletzen. Gefordert werden angemessene, nahrhafte und ausgewogene Mahlzeiten, die die Gesundheit nicht unnötig belasten.495 Insgesamt soll der Organismus adäquat und gesund ernährt werden. Dieser Anspruch ist an den „Normalisierungsgrundsatz“ geknüpft, wonach das Leben in Haft den Umständen in Freiheit so weit wie möglich entsprechen muss.496 Bislang ist noch keine Verletzung von Art. 3 EMRK allein aufgrund unzureichender Nahrung festgestellt worden. Auch hier muss man Augenmass erwägungen, nicht gerechtfertigt werden: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 3 Rn. 36. 492  Rec(2006)2 to Member States on the European Prison Rules, § 18.1; EGMR, 15.07.2002, Kalashnikov v. Russia, Nr. 47095/99, Rn. 97: „The Court further observes the absence of adequate ventilation in the applicant’s cell which held an excessive number of inmates and who apparently were permitted to smoke in cell“; EGMR, 12.06.2008, Vlasov v. Russia, Nr. 78146/01, Rn. 84. 493  EGMR, 20.05.2010, Visloguzov v. Ukraine, Nr. 32362/02, Rn. 57, 60. 494  EGMR, 20.05.2010, Visloguzov v. Ukraine, Nr. 32362/02, Rn. 60 („further aggravated by inadequate ventilation“); EGMR, 07.04.2005, Karalevicius v. Lithuania, Nr. 53254/99, Rn. 37. 495  Recommendation R (99) 22 concerning prison overcrowding and prison population inflation § 7; Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 22.1 ff. 496  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 5.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

walten lassen und bei geringfügigen Beanstandungen, bspw. bei fadem oder ungesalzenem Essen, nicht automatisch eine Missachtung der Subjektstellung, des menschlichen Eigenwertes und letztlich des sozialen Wert- und Achtungsanspruchs feststellen. Wenn aber die Nahrung vitaminarm und einseitig ist, sodass die wesentlichen Körperfunktionen und die Leistungsfähigkeit Schaden nehmen, wird man schon eher von einer erniedrigenden (oder u. U. unmenschlichen) Behandlung sprechen können. Auch hier sind stets die aktuellen gesellschaftlichen Wertansichten und wissenschaftlichen Erkenntnisse einer gegebenen Zeit in Europa in die Auslegung und Wertung (mit-) einzubeziehen. Bei Verabreichen von verdorbenem Essen dürfte zumindest der Grad der Erniedrigung nach Art. 3 EMRK erreicht sein.497 ee) Isolation Ein weiterer Schwerpunkt der Rechtsprechung in Haftsachen sind Fälle der Einzel- bzw. Isolationshaft.498 Von besonderer Relevanz sind hier der Umgang mit Terrorverdächtigen und die Herausforderungen, die sich durch die spezifische (teilweise berechtigte, teilweise wohl auch überspitzt gezeichnete) Bedrohungslage durch den internationalen Terrorismus stellen.499 Eine genaue Definition dessen, was „Isolationshaft“ ist, hat der EGMR bislang nicht erarbeitet. Es handelt sich zumindest um eine Form des Freiheitsentzugs, bei welcher der Kontakt zu Mitgefangenen und zur Aussenwelt unterbunden oder stark eingeschränkt wird.500 Die Isolation bestimmter Häftlinge von den Mitgefangenen kann aus Sicherheits-, Disziplinar- oder Schutzgründen gerechtfertigt sein und stellt in solchen Fällen keine Verletzung von Art. 3 EMRK dar.501 Stehen verurteilte Straftäter in möglichem Kontakt mit dem organisierten Verbrechen, so kann die Unterbringung in einem Hoch­sicherheitsgefängnis gerechtfertigt sein. Allerdings wird hierbei fast mantra­artig auf die Achtung der Würde hingewiesen, die es nicht zulasse, die Haft in eine absolute sensorische und soziale Isolationsform ausar-

497  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 344. Bei Verabreichung von verdorbenem Essen, das gesundheitliche Schäden nach sich zieht und Schmerzleiden von erheblicher Schwere hervorruft, dürfte auch eine unmenschliche Behandlung nach Art. 3 EMRK gegeben sein. 498  Vgl. EGMR, 10.11.2011, Plathey v. France, Nr. 48337/09, Rn. 57: „Dès lors, la Cour estime que les conditions dans lesquelles le requérant a été détenu dans cette cellule vingt-trois heures sur vingt-quatre portent atteinte à la dignité humaine et constituent un traitement dégradant“ (Hervorhebung durch Autor). 499  Irmscher, EuGRZ 2007, S. 135 (135). 500  Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 226. 501  EGMR, 12.05.2005, Öcalan v. Turkey, Nr. 46221/99, Rn. 195 f.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 215

ten zu lassen.502 Der Gerichtshof will offenbar durch Anmahnung des Würdeschutzes in Isolationshaftfällen eine strikte Verhältnismässigkeit einfordern. Bislang hat sich dies indessen nicht explizit in der Rechtsprechung niedergeschlagen. Jedenfalls können Besuche in Isolationshaft unter Umständen nur sehr reduziert, oder unter besonderen Auflagen stattfinden oder vollständig entfallen. In der Rechtssache Öcalan503 wurde die sechs Jahre dauernde Einzelinhaftierung auf der Insel İmralı im Marmarameer als konventionskonform erachtet. Der Beschwerdeführer war nicht nur weitestgehend sozial isoliert, sondern es wurden ihm überdies der Zugang zu einem TV-Gerät und telefonische Kommunikationsmöglichkeiten mit der Aussenwelt verwehrt. Der EGMR begründete seine Entscheidung damit, dass der Häftling, der als gefährlicher Terrorist galt, ihm gewährte Kommunikationsmöglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit bewaffneten Mitgliedern der Arbeiterpartei Kurdistans (kurdisch Partiya Karkerên Kurdistanê; kurz: PKK) hätte missbrauchen können.504 Jedenfalls darf eine Isolationshaft, auch wenn sie nur relativer Natur ist, nicht auf unbegrenzte Zeit hin angeordnet werden.505 Auch reicht es nicht aus, zur Begründung eines restriktiveren Haftregimes an die auferlegte Strafe anzuknüpfen, denn grundsätzlich gilt, dass der Freiheitsentzug an und für sich die Strafe darstellt.506 Der Vollzug darf daher keine zusätzliche Bestrafung sein. So erachtete der EGMR das Haftregime eines zu einer lebenslangen Haftstrafe Verurteilten, der 23 Stunden am Tag in seiner Zelle verbringen musste, nur eingeschränkten Zugang zur Bibliothek und zur Anstaltskappelle hatte und von den Mithäftlingen vollständig getrennt untergebracht war, als Verletzung von Art. 3 EMRK in Form einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung.507 Dass ein Mensch allein aufgrund seiner Tat als gefährlich 502  EGMR, 04.02.2003, Van der Ven v. Netherlands, Nr. 50901/99, Rn. 50; EGMR, 04.02.2003, Lorsé and others v. Netherlands, Nr. 52750/99, Rn. 62: „[A]lthough public order considerations may lead states to introduce high security prisons for particular categories of detainees, Article 3 nevertheless requires those states to ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for his human dignity, that the manner and method of the execution of the measure do not subject him to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention and that, given the practical demands of imprisonment, his health and well-being are adequately secured“. 503  EGMR, 12.05.2005, Öcalan v. Turkey, Nr. 46221/99. 504  EGMR, 12.05.2005, Öcalan v. Turkey, Nr. 46221/99, Rn. 195. 505  EGMR, 04.07.2006, Ramirez Sanchez v. France, Nr. 59450/00, Rn. 145. 506  Recommendation CM/Rec (2014) 3 of the Committee of Ministers to member States concerning dangerous offenders, § 40: „Imprisonment, through the deprivation of liberty, is punishment in itself“. 507  EGMR (GK), 12.05.2017, Simeonovi v. Bulgaria, Nr. 21980/04, Rn. 88 u. 90 f.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

eingestuft wird und einen verschärften Vollzug erleiden muss, ist daher ein Verstoss gegen seine Würde.508 In einem anderen Fall ging es um einen venezolanischen Staatsbürger, der im Sudan festgenommen und nach Frankreich überstellt worden war und wegen dreifachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Während über acht Jahren wurde er ohne Kontakt zu anderen Insassen in einer Einzelhaftzelle untergebracht. Es war ihm jedoch gestattet die Zeitung zu lesen, fernzusehen und sich täglich zwei Stunden im Innenhof aufzuhalten. Während dieser Zeit wurde er von insgesamt 58 Anwälten besucht und seine Ehefrau durfte ihn 640-mal besuchen; zweimal wöchentlich erfolgte eine Arztvisite. Die Einzelhaft wurde regelmässig (alle drei Monate) auf ihre Rechtmässigkeit überprüft; gerechtfertigt wurde sie aufgrund der vermuteten Vernetzung des Verurteilten mit dem sog. internationalen Terrorismus. Ab dem Jahr 2000, nach rund dreijähriger Einzelhaft, fielen indes die ärztlichen Begutachtungen zunehmend schlecht aus. Zum Oktober 2002 wurde die Einzelhaft aufgehoben, jedoch 2004 wieder angeordnet. Gegen die erneute Unterbringung in Einzelhaft legte der Betroffene Beschwerde ein. Der EGMR hielt fest, dass eine final gegen die Persönlichkeit und Selbstbestimmung des betroffenen Individuums gerichtete Massnahme, welche „Gefühle der Angst, Verzweiflung oder Inferiorität“ hervorrufe, gegen dessen Menschenwürde verstosse.509 Im vorliegenden Fall erachtete der EGMR die Isolation jedoch nur als „partiell und relativ“.510 Die äusseren Haftbedingungen seien in Ordnung gewesen und die Kontaktsperre gegenüber den Mit­ insassen sei kein derart schwerer Eingriff gewesen, dass die Schwelle der Erniedrigung nach Art. 3 EMRK erreicht worden wäre. 508  EGMR, 04.02.2003, Van der Ven v. Netherlands, Nr. 50901/99, Rn. 50: „In this connection the Court emphasises that, although public-order considerations may lead States to introduce high-security prisons for particular categories of detainees, Article 3 nevertheless requires those States to ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for his human dignity, that the manner and method of the execution of the measure do not subject him to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention and that, given the practical demands of imprisonment, his health and well-being are adequately secured“. 509  EGMR (GK), 04.07.2006, Ramirez Sanchez v. France, Nr. 59450/00, Rn. 84 f., 118 f.; vgl. Guidelines on human rights and the fight against terrorism, § 1; Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, Preambule: „Stressing that the enforcement of custodial sentences and the treatment of prisoners necessitate taking account of the requirements of safety, security and discipline while also ensuring prison conditions which do not infringe human dignity and which offer meaningful occupational activities and treatment programmes to inmates, thus preparing them for their reintegration into society“. 510  EGMR (GK), 04.07.2006, Ramirez Sanchez v. France, Nr. 59450/00, Rn. 135.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 217

Klar ist, dass vollständige sensorische und soziale Isolation die Persönlichkeit zerstört und deshalb eine unmenschliche Behandlung ist, die mit keinem Sicherheitsargument gerechtfertigt werden kann.511 Unterhalb dieser absoluten Isolation ist vieles im Graubereich und unklar. Letztlich kommt es immer auf die Umstände des konkreten Falles an.512 Die Unterscheidung zwischen absoluter sensorischer und sozialer Isolation einerseits und relativer Isolation andererseits wirkt gekünstelt. Realistischerweise sind kaum Fälle vorstellbar, in denen im wörtlichen Sinn eine absolute Isolation vorliegt. Denn ein Mindestmass an zwischenmenschlicher Interaktion mit dem Gefängnispersonal ist de facto immer vorhanden.513 Die Qualifikation „absolute Isolation“ bleibt mithin – überspitzt formuliert – jenen Fällen vorbehalten, in welchen der Häftling im Kerker eingesperrt bleibt und seine Nahrung durch eine Türklappe zugeschoben erhält. ff) Kumulative Grundrechtseingriffe Die vom EGMR vorgenommene bilanzierende Gesamtwürdigung der Haft­ umstände impliziert ein kumulatives Eingriffsverständnis, wonach für die Annahme einer Menschenwürdeverletzung die Beeinträchtigungen auch in der Summe und in ihrem spezifischen Zusammenwirken die Mindest511  EGMR, 08.07.2004, Ilascu v. Moldova, Nr. 48787/99, Rn. 432; EGMR, 04.02.2003, Van der Ven v. Netherlands, Nr. 50901/99, Rn. 51; EGMR, 04.02.2003, Lorsé and others v. Netherlands, Nr. 52750/99, Rn. 62: „[C]omplete sensory isolation, coupled with total social isolation, can destroy the personality and constitutes a form of inhuman treatment which cannot be justified by the requirements of security or any other reason“. 512  EGMR, 13.04.2017, Podeschi v. San Marino, Nr. 66357/14, Rn. 109: „In assessing whether solitary confinement falls within the ambit of Article 3, regard must be had to the particular conditions, the stringency of the measure, its duration, the objective pursued and its effects on the person concerned (…). In that connection the length of the period in question requires careful examination by the Court as to its justification, the need for the measures taken and their proportionality with regard to other possible restrictions, the guarantees offered to the applicant to avoid arbitrariness and the measures taken by the authorities to satisfy themselves that the applicant’s physical and psychological condition allowed him to remain in isolation“. EGMR, 04.02.2003, Lorsé and others v. Netherlands, Nr. 52750/99, Rn. 63: „[T]he removal from association with other prisoners for security, disciplinary or protective reasons does not in itself amount to inhuman treatment or degrading punishment (…). In assessing whether such a measure may fall within the ambit of Article 3 (…) regard must be had to the particular conditions, the stringency of the measure, its duration, the objective pursued and its effects on the person concerned“. 513  So auch in EGMR, 13.04.2017, Podeschi v. San Marino, Nr. 66357/14, Rn. 116.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

schwelle von Art. 3 EMRK überschreiten.514 Der grundrechtlich sensible Kontext der Haft, ist der wohl wichtigste Bereich kumulativer Eingriffswirkungen. Eingriffe in die physische und psychische Integrität, die für sich genommen nicht das erforderliche Mindestmass an Eingriffsschwere i. S. v. Art. 3 EMRK aufweisen, können sich kumulieren und zu einer entsprechenden Konventionsverletzung führen.515 Oft werden unzulängliche hygienische Zustände, Waschmöglichkeiten und Belüftung als verschlechternde Faktoren hinzugenommen. So ergeben sich aus der Tatsache, dass ein Insasse in einer überfüllten Zelle lediglich eine Stunde am Tag Freigang hatte und zugleich nur einmal in der Woche duschen bzw. lediglich einmal in der Woche die Bettwäsche auswechseln durfte, negative kumulative Effekte, die zu einer schlechteren Beurteilung der Haftsituation führten.516 Dabei spielt die Zeit, während der jemand belastenden Haftbedingungen ausgesetzt war, eine zentrale Rolle.517 Bereits 15 Tage in Haft bei schlechter Ernährung, stickiger Luft und ohne Möglichkeit die Zelle zu verlassen, ausser um auf die Toilette zu gehen, sind als Verletzung der menschlichen Würde zu qualifizieren („porte atteinte a sa dignité“).518 Bei einer Zellengrösse zwischen 3 und 4 m2, also noch innerhalb des akzeptierten Rahmens, führte die Tatsache, dass einem tauben Häftling kein Hörgerät zur Verfügung gestellt wurde, zu einer relativen sozialen Isolation in Haft; in

514  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 12; EGMR, 23.04.2013, Hagyo v. Hungary, Nr. 52624/10, Rn. 47; EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 45135/12 u. a., Rn. 91: „The Court finds that the limited living space available to these detainees, aggravated by other adverse circumstances, amounted to ‚degrading treatment‘ “. 515  EGMR, 02.06.2005, Novoselov v. Russia, Nr. 66460/01, Rn. 44; EGMR, 04.05.2006, Kadikis v. Latvia (no. 2), Nr. 62393/00, Rn. 49; EGMR, 19.07.2007, Trepashkin v. Russia, Nr. 36898/03, Rn. 94. 516  EGMR (GK), 23.02.2016, Mozer v. Republic of Moldova and Russia, Nr. 11138/10, Rn. 182: „(…) on account of severe overcrowding, lack of access to daylight and lack of working ventilation which, coupled with cigarette smoke and dampness in the cell, aggravated the applicant’s asthma attacks“; EGMR, 28.03.2006, Melnik v. Ukraine, Nr. 72286/01, Rn. 107 ff; EGMR, 23.04.2013, HagyÓ v. Hungary, Nr. 52624/10, Rn. 45: „The Court considers that the prolonged stay in such cramped conditions, coupled with the fact that the applicant was overweight and suffered from respiratory ailments such as asthma and chronic sinusitis evidently aggravated by the permanent lack of fresh air, amounts to a treatment capable of causing suffering that goes beyond the inevitable suffering connected with legitimate detention“. 517  EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 45135/12 u. a., Rn. 72; EGMR, 08.11.2005, Alver v. Estonia, Nr. 64812/01, Rn. 50. 518  EGMR, 04.05.2006, Kadikis v. Latvia (no. 2), Nr. 62393/00, Rn. 56.



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der Gesamtschau musste deshalb die Behandlung als erniedrigend und unmenschlich qualifiziert werden.519 Umgekehrt können auch die belastenden Auswirkungen eines einzelnen Haftumstandes, etwa eine Überbelegung der Zelle, durch grosszügige Aufschlusszeiten, sinnvolle Freizeitaktivitäten, ausgedehnter Sportmöglichkeiten oder gute Hygiene- und Belüftungseinrichtungen kompensiert werden.520 Auch scheint der Gerichtshof nicht auszuschliessen, dass die persönliche Resilienz bei der Einzelfallbeurteilung eine Rolle spielen kann.521 Mit Blick auf die absolute und derogationsfeste Gewährleistung in Art. 3 EMRK und den darin enthaltenen Menschenwürdekern ist es kaum zielführend Haftumstände in eine mathematische Formel packen zu wollen und anhand dieser „rote Linien“ zu ziehen. Zu zahlreich sind die Fallvariationen, zu unterschiedlich die konkreten Umstände des Einzelfalls. Man könnte bspw. festlegen, dass ein Häftling mindestens drei Stunden Hofgang an der frischen Luft haben muss. Dies würde aber die Tatsache ignorieren, dass in einer anderen Anstalt ein Hofgang von nur zwei oder gar einer Stunde weniger grundrechtsbelastend ist, da die Zellentüre tagsüber offenbleibt, der Vollzug also halboffen verläuft, oder dass bauliche, architektonische Massnahmen, eine eingriffsmindernde Wirkung haben können – etwa bei grosszügigen na-

519  EGMR, 05.10.2017, Äbele v. Latvia, Nr. 60429/12 u. 72760/12, Rn. 74: „The Court considers that the weighty factor of the reduced personal space made available to the applicant, ranging from 3.09 to 3.28 sq. m, which remains very close to the minimum standard of 3 sq.m of floor surface per detainee, for a period of almost two years, together with the inevitable feeling of isolation and helplessness in the absence of adequate attempts to overcome the applicant’s communication problems flowing from his disability must have caused the applicant to experience anguish and feelings of inferiority attaining the threshold of inhuman and degrading treatment“. 520  EGMR, 10.03.2015, Varga u. a. v. Hungary, Nr. 45135/12 u. a., Rn. 77: „[T]he Court has found that the strong presumption that the conditions of detention amounted to degrading treatment in breach of Article 3 on account of a lack of personal (…) were refuted by the cumulative effect of the conditions of detention, in particular the brevity of the applicant’s incarceration (…), freedom of movement afforded to inmates and unobstructed access to natural light and air (…), and relative lengthy daily periods for outdoor exercises and freedom of movement within the prison building“; EGMR, 06.03.2001, Dougoz v. Greece, Nr. 40907/98, Rn. 46; EGMR, 09.09.2010, Xiros v. Greece, Nr. 1033/07, Rn. 92: „[Il] est détenu dans une cellule suffisamment grande, dʼune superficie de 12 m2, où il séjourne seul (…) et quʼil a en outre la possibilité de se promener huit à neuf heures par jour dans une cour intérieure (…). Par ailleurs, la cellule est pourvue dʼune fenêtre recevant de la lumière naturelle, ce qui permet aussi son aération. De surcroît, elle dispose de toilettes individuelles, séparées par un mur du reste de la cellule, et du chauffage central et halogène“. 521  EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 45135/12 u. a., Rn. 76 („mental condition of the detainee“).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

türlichen Lichtverhältnissen, weitläufigen Korridoren und Aufenthaltsbereichen mit Rasen und Pflanzen. Insoweit sind einzelne Haftaspekte immer nur eine Komponente eines „Gesamtverletzungstatbestandes“.522 Um der Pluralität individueller Erfahrungen und der Vielgestaltigkeit der Fallkonstellationen Rechnung zu tragen, drängt sich ein holistisches Menschenwürdeverständnis auf. Richtigerweise markieren deshalb einzelne Haftbedingungen lediglich relative Untergrenzen, die in ihrer Gesamtheit als Verletzung von Art. 3 EMRK gewürdigt werden können. Es ist juristisch auch kaum möglich, die Tageslichteinstrahlungen, heisse, feuchte und schlechte Luftverhältnisse, den Grad an Insektenbefall, die Qualität der Nahrung oder die verfügbaren kognitiven Beschäftigungen zu regulieren und zu determinieren. Entsprechende faktische Feststellungen werden auch vom CPT oder dem United Nations Special Rapporteur nicht selten global und abstrakt formuliert.523 Der Gerichtshof zieht diese Grundlagen heran, um normative Schlussfolgerungen mit Blick auf deren Verträglichkeit mit dem Konventionsrecht zu ziehen. Für jeden erdenklichen Aspekt der Haftumstände eine starre, strikt einzuhaltende, messbare Norm aufzustellen, wäre praxisuntauglich und daher kein gangbarer Weg. Die vom Gerichtshof und dem CPT vorgenommene aggregierte Gesamtschau scheint daher am besten geeignet, um den jeweiligen Anliegen und Vorbringen der Betroffenen („specific allegations made by applicants“) in all ihren individuellen Varianten und den kumulativen Eingriffen gebührend Rechnung zu tragen.524 Dies dürften die entscheidenden Gründe sein, weshalb sich der EGMR nicht hinter starre Grenzen zurückziehen möchte. Es ermöglicht ihm, Fälle anhand von normativen Prinzipien zu evaluieren und dadurch einen weitgehenden Spielraum zu behalten. Indem er keine absoluten Grenzen abstrakt festschreibt, bleibt er seiner modalen Grundausrichtung, der fallangemessenen Flexibilität,525 treu und strebt nach Gewährleistung von Einzelfallgerechtigkeit und Menschenwürdeschutz.526 Der EGMR hat dies wie folgt formu522  Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 184; vgl. Kromrey, Haftbe­ dingungen als Auslieferungshindernis, S. 180; EGMR, 08.11.2005, Alver v. Estonia, Nr. 64812/01, Rn. 56: „(…) overcrowding, inadequate lighting and ventilation, impoverished regime, poor hygiene conditions and state of repair of the cell facilities, combined with the applicant’s state of health and the length of the period during which he was detained in such conditions“. 523  EGMR (GK), 23.02.2016, Mozer v. Republic of Moldova and Russia, Nr. 11138/ 10, Rn. 181. 524  Vgl. EGMR, 06.03.2001, Dougoz v. Greece, Nr. 40907/98, Rn. 45 f. 525  EGMR, 22.12.2008, Aleksanyan v. Russia, Nr. 46468/06, Rn. 140: „the court reserves sufficient flexibility [whereby] the standard shoul be respect for human dignity“. 526  So Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 71 ff.



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liert: „[T]he court reserves sufficient flexibility [whereby] the standard should be respect for human dignity“.527 d) Medizinische Versorgung aa) Allgemeines Die Prüfung der menschenrechtlich gebotenen Gesundheitsfürsorge erfolgt grundsätzlich separat von den allgemeinen Haftbedingungen,528 wobei auch hier gesagt werden muss, dass den kumulativen Effekten der Haft Rechnung zu tragen ist.529 Auch im Bereich der Gesundheitsfürsorge spielen Momente der Vulnerabilität, Abhängigkeit und Hilflosigkeit, die durch das Sonderstatusverhältnis bedingt sind, eine entscheidende Rolle.530 Die Inhaftierung einer Person mit gesundheitlichen Problemen löst per se Fragen nach Art. 3 EMRK auf.531 Will der Staat den legitimen staatlichen Strafanspruch vollstrecken, muss er für das körperliche und geistige Wohlbefinden des Straftäters oder der Straftäterin angemessen sorgen können. Der Staat hat sich daher um eine Mindestgesundheitsversorgung zu kümmern.532 Die allgemeinen Schwierigkeiten und technischen Hindernisse, mit denen sich Konventionsstaaten in Haftsachen ganz allgemein konfrontiert sehen, vergrössern sich im Bereich der Gesundheitsfürsorge. In früheren Jahren hatte die EKMR implizit533 eine positive Pflicht zur Gesundheitsfürsorge aus Art. 3 deduziert. Heute erfolgt dies explizit.534 In Fällen, bei denen es um 22.12.2008, Aleksanyan v. Russia, Nr. 46468/06, Rn. 140. vieler: EGMR, 10.05.2016, Topekhin v. Russia, Nr. 78774/13, Rn. 76. 529  Zu den kumulativen Effekten vgl. Rodley/Pollard, The Treatment of Prisoners under International Law, S. 92 ff. 530  EGMR, 07.02.2006, Scavuzzo-Hager v. Switzerland, Nr. 41773/98, Rn. 65: „Face à des personnes détenues ou placées en garde à vue, donc se trouvant dans un rapport de dépendance comparable à celui dans lequel s’est trouvé P. après avoir perdu connaissance, la Cour a admis, d’une part, une obligation de protection de la santé impliquant de dispenser avec diligence des soins médicaux“; EGMR, 01.06.2006, Taïs v. France, Nr. 39922/03, Rn. 98; EGMR, 26.11.2006, Huylu v. Turkey, Nr.  52955/99, Rn.  58; EGMR, 03.04.2001, Keenan v. United Kingdom, Nr. 27229/95, Rn. 111. 531  EGMR, 14.11.2002, Mouisel v. France, Nr. 67263/01, Rn. 38; EGMR, 15.06.2010, Ashot Harutyunyan v. Armenia, Nr. 34334/04, Rn. 103. 532  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 39 ff. 533  EKMR, 06.05.1978, Kotälla v. Netherlands, DR 14, 238 (245). 534  EKMR, 08.07.1993, Hurtado v. Switzerland, Rn. 79: „[D]ans une situation de cette gravité, découlant du recours à la force par la police, les autorités de l’État doivent, en vertu de l’article 3 de la Convention, adopter des mesures visant à garan527  EGMR, 528  Statt

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

die medizinische Versorgung in Haft geht, zeigt sich eine besonders dezidierte Bezugnahme auf internationale Standards, die durch systematische, dynamisch-teleologische Auslegung des Gerichtshofs in die EMRK Eingang finden.535 Nicht selten zeigt sich anhand der Gesundheitsfürsorge eine besondere Geringschätzung des menschlichen Wohlbefindens oder gar des menschlichen Lebens. So musste der Gerichtshof in einem Fall, in dem eine Person bei einem Krankentransport mehrere Stunden auf dem Boden eines Lastwagens liegen musste, was zu einer Verschlimmerung ihres Zustands führte, eine Konventionsverletzung feststellen.536 Die Komplexität des Problemfeldes zeigt sich auch daran, dass etwa positiv intendierte Massnahmen zu menschenrechtlich hoch problematischen Zuständen führen können, etwa wenn diese Massnahmen wenig durchdacht und überhastet vorgenommen wurden oder schlicht unterfinanziert waren bzw. sind.537 Ein tragisches Beispiel hierfür ist die Rechtssache Martzaklis538, in welcher es um ein Gesundheitszentrum ging, das die Regierung nur für kranke Straftäter errichtet hatte. Die Probleme waren multikausal und beinhalteten zum einen eine Überfüllung des Zentrums, mangelhafte Infrastruktur, aber auch die Zusammenlegung von Gefangenen mit übertragbaren Krankheiten mit Insassen, die keine direkt übertragbaren Krankheiten hatten. Ferner führte der Gerichtshof – in Anlehnung an das CPT und die Parlamentarische Versammlung des Europarates – aus, dass eine Isolierung von HIV-positiv getesteten Menschen zu vermeiden sei bzw. nur vorgenommen werden dürfe, sotir l’intégrité physique de la personne qui se trouve sous la responsabilité des autorités policières, judiciaires ou pénitentiaires. Une obligation positive spécifique pèse sur l’État, aux termes de l’article 3 de la Convention, afin de protéger l’intégrité physique des personnes privées de liberté. Le manque de soins médicaux adéquats dans une telle situation doit être qualifié de traitement inhumain“. 535  2. Teil B. I. 1.–2. a); EGMR, 27.11.2003, Hénaf v. France, Nr. 65436/01, Rn. 55; EGMR, 15.01.2004, Matencio v. France, Nr. 58749/00, Rn. 80: „La Cour constate ainsi que la santé de la personne privée de liberté fait désormais partie des facteurs à prendre en compte dans les modalités de l’éxecution de la peine privative de liberté, notamment en ce qui concerne la durée du maintien en détention. Il s’agit de l’application de l’affirmation de la Cour selon laquelle, ‚le niveau d’exigence croissant en matière de protection des droits de l’homme et des libertés fondamentales implique, parallèlement et inéluctablement, une plus grande fermeté dans l’appréciation des atteintes aux valeurs fondamentales des sociétés démocratiques‘ “. 536  Vgl. EGMR, 10.05.2016, Topekhin v. Russia, Nr. 78774/13, Rn. 89 ff. 537  Vgl. das eingehende Beispiel in: EGMR, 09.07.2015, Martzaklis and others v. Greece, Nr. 20378/13, in welchem die griechischen Behörden ein Gefangenenkrankenhaus errichteten, was aber dazu führte, dass HIV-positiv getestete Menschen zusammen mit an Tuberkulose oder Hepatitis erkrankten Menschen isoliert wurden, was zu einer massiven Ansteckungsgefahr und „Ghettoisierung“ führte. 538  EGMR, 09.07.2015, Martzaklis and others v. Greece, Nr. 20378/13.



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fern dies effektiv im Sinne der Gesundheit der betroffenen Personen und zum Schutz der „gesunden“ Gefängnispopulation geschehe.539 Menschen, die an einer körperlichen oder mentalen Krankheit leiden, sind – über die allgemeine Verletzlichkeit in Haft hinaus – besonders verletzlich.540 Insbesondere psychisch kranke Menschen stehen laut dem EGMR in einer „position of inferiority and powerlessness“541 und erleiden vermehrt „Angst, Stress und Furcht“.542 Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass die medizinische Versorgung in Haft eines der Hauptanwendungsfelder des konventionsrechtlichen Menschenwürdeschutzes ist und nicht selten zu einer Feststellung führt, dass jemand erniedrigend und unter Umständen auch unmenschlich behandelt wurde.543 Der Gerichtshof fordert daher diverse positive Schutzpflichten, die es einzuhalten gilt. Den Ausgangspunkt einer konventionskonformen medizinischen Versorgung bildet der Anspruch auf Zugang zu einem Arzt, wie es das CPT in ihren Grundsätzen festhält und wie es auch vom Ministerkomitee des Europarats in seinen Empfehlungen eingefordert wird.544 Auch hier können sich Staaten nicht unter Verweis auf finanzielle Schwierigkeiten exkulpieren.545 Neben dem Recht auf Zugang zu einem Arzt muss die Möglichkeit bestehen, dass dieser Arzt, i. d. R. ein Allgemeinmediziner, einen Facharzt zu konsultieren bzw. den Patienten an einen Facharzt überweisen kann.546 539  EGMR, 09.07.2015, Martzaklis and others v. Greece, Nr. 20378/13, Rn. 40– 46, 72 („ghettoïsation et de stigmatisation“). Eine andere Frage ist, inwieweit es geboten sein kann, Menschen mit HIV von der übrigen Haftpopulation zu schützen und zu separieren, aufgrund der von ihnen entgegengebrachten Stigmatisierung oder gar Gewalt gegenüber Menschen mit HIV. 540  Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 129 m. w. N. 541  EGMR, 19.02.2015, M.S. c. Croatia, Nr. 75450/12, Rn. 98. 542  Statt vieler: EGMR (GK), 26.10.2000, Kudla v. Poland, Nr. 30210/96, Rn. 99; EGMR, 21.07.2005, Rhode v. Denmark, Nr. 69332/01, Rn. 99. 543  EGMR, 14.11.2002, Mouisel v. France, Nr. 67263/01, Rn. 48; vgl. Meyer-­ Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 3 Rn. 43; EGMR, 10.01.2012, Arutyunyan v. Russia, Nr. 48977/09, Rn. 71: „The Court often faces allegations of insufficient or inadequate medical care in places of detention“. 544  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 41.1; Recommendation R (98) 7 concerning the Ethical and Organisational Aspects Concerning the ethical and organisational aspects of health care in prison, § 19; CPT/Inf (93) 12, § 33 („access to a doctor“), zuvor bereits CPT/Inf (92) 3, § 36; EGMR, 02.06.2016, Yunusova and Yunusov v. Azerbaijan, Nr. 59620/14, Rn. 100; EGMR, 15.12.2015, Ivko v. Russia, Nr. 30575/08, Rn. 61 ff. 545  CPT/Inf (2002) 35, Rn. 48, zitiert, in: EGMR (GK), 23.02.2016, Mozer v. Republic of Moldova and Russia, Nr. 11138/10, Rn. 64. 546  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 41.2.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Denn die geforderte Mindestgesundheitsversorgung würde ins Leere laufen, wenn sie sich im alleinigen Zugang zu einem Arzt und einer damit verbundenen Diagnoseerstellung erschöpfen würde. Eine medizinische Untersuchungsmöglichkeit reicht per se noch nicht aus, um den positiven Schutzanspruch der konventionsrechtlichen Würde zu erfüllen.547 Eine qualitativ unangemessene medizinische Versorgung oder, allgemeiner formuliert, Haftumstände, die zu einer Verschlimmerung des Gesundheitszustands führen, sind grundsätzlich als Verletzung von Art. 3 EMRK zu qualifizieren.548 Würde man also dem Krankheitsverlauf tatenlos zusehen oder eine haftbedingte Verschlimmerung des Gesundheitszustands sehenden Auges in Kauf nehmen, käme dies einer Missachtung des intrinsischen Eigenwerts des Häftlings und demnach seines Menschseins gleich und untergrübe somit seine Würde.549 In beweisrechtlicher Hinsicht wird gefordert, dass jede Person bei Haft­ antritt medizinisch untersucht und darüber Protokoll geführt wird.550 Sofern eine inhaftierte Person einen Anscheinsbeweis liefert und der beschuldigte Staat keine substantiierten und plausiblen Gegenbeweise liefert, wird i. d. R. eine Konventionsverletzung festgestellt: „Allegations of ill-treatment must be supported by appropriate evidence (…). To assess this evidence, the Court adopts the standard of proof ‚beyond reasonable doubt‘ but adds that such proof may follow from the coexistence of sufficiently strong, clear and concordant inferences or of similar unrebutted presumptions of fact“.551

Dieser beweisrechtliche Massstab manifestiert die besondere Wertigkeit des Menschenwürdeprinzips, welche ein Abweichen vom allgemeinen Rechts­ grundsatz affirmanti incumbit probatio erlaubt.552 Die staatliche Fürsorgepflicht wird unter Umständen aber erst aktiviert, wenn sich die inhaftierte Person explizit darum bemüht bzw. ihren autonomen Willen äussert, sich einer medizinischen Behandlung oder Therapie zu unterziehen.553 Sofern eine inhaftierte Person von einem Vertrauensarzt un547  Von

Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 84. 19.02.2015, Helhal v. France, Nr. 10401/12, Rn. 48; vgl. EGMR (GK), Ilhan v. Turkey, Nr. 22277/93, Rn. 87 („proper medical treatment“). 549  Vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 82. 550  CPT/Inf (93) 12, § 33. 551  EGMR, 10.01.2012, Arutyunyan v. Russia, Nr.  48977/09, Rn.  68 m. w. N. 552  EGMR, 02.06.2016, Yunusova and Yunusov v. Azerbaijan, Nr. 59620/14, Rn. 140. 553  EGMR, 20.04.2010, Slyusarev v. Russia, Nr. 60333/00, Rn. 37: „As a rule, Article 3 prohibits ill-treatment irrespective of the circumstances and the victimʼs behaviour (…). However, this rule is not without exceptions. [I]f a prisoner does not 548  EGMR,



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tersucht werden möchte, hat der Vertragsstaat diesem Wunsch (soweit es geht) zu entsprechen. Dies bedeutet aber nicht, dass jedem Wunsch entsprochen werden muss; die praktischen Haftumstände sowie Verhältnismässigkeitserwägungen können Eingang finden in solche Entscheide.554 bb) Adäquanz der Gesundheitsvorsorge Obschon aus Art. 3 EMRK kein subjektives Recht auf eine extramurale Gesundheitsversorgung hergeleitet werden kann,555 besteht die prinzipielle Pflicht der Staaten, sich um das körperliche und psychische Wohlbefinden bzw. die Würde556 der inhaftierten Person zu kümmern, diese aufrechtzuerhalten und aktiv zu schützen.557 In Extremfällen kann daher die Freilassung gefordert sein, um einer Art. 3 EMRK-Verletzung zu entgehen.558 Zumindest die Verlegung in ein ziviles Krankenhaus wird konventionsrechtlich verlangt, wenn keine würdewahrende Behandlung in Haft möglich ist.559 Der Gerichtshof fordert, dass Häftlinge eine angemessene medizinische Versorgung („requisite medical assistance“) erhalten;560 diese muss indivi­ duell zugeschnitten sein und den qualitativen Anforderungen entsprechen,561 receive requisite medical assistance from the authorities; it may entail the Stateʼs responsibility only if he made reasonable steps to avail himself of such assistance (…). Therefore, in the present case the applicantʼs own conduct is an important element which should be assessed among other relevant factors“. 554  EGMR, 29.09.2005, Mathew v. Netherlands, Nr. 24919/03, Rn. 186: „Examination by a medical expert who has no links to the detaining authority is an important safeguard against the physical or mental abuse of prisoners. The Court therefore considers that a prisonerʼs choice of physician should as a rule be respected, subject if need be to the condition that responsibility for any additional expense not justified by genuine medical reasons be assumed by the prisoner“. 555  EGMR (GK), 17.09.2009, Enea v. Italy, Nr. 74912/01, Rn. 58. 556  EGMR, 15.06.2010, Ashot Harutyunyan v. Armenia, Nr. 34334/04, Rn. 103: „[T]he right of all prisoners to conditions of detention (…) compatible with (…) their human dignity“. 557  EGMR, 04.10.2005, Sarban v. Moldova, Nr. 3456/05, Rn. 77; EGMR, 26.10.2006, Khudobin v. Russia, Nr. 59696/00, Rn. 93. 558  EGMR, 22.12.2008, Aleksanyan v. Russia, Nr. 46468/06, Rn. 136: „In exceptional circumstances, Article 3 may go as far as requiring the conditional liberation of a prisoner who is seriously ill or disabled“; EGMR, 02.12.2004, Farbtuhs v. Latvia, Nr. 4672/02, Rn. 61. 559  EGMR (GK), 23.02.2016, Mozer v. Republic of Moldova and Russia, Nr. 11138/10, Rn. 178 f. 560  EGMR (GK), 23.02.2016, Mozer v. Republic of Moldova and Russia, Nr. 11138/10, Rn. 178; EGMR, 15.01.2015, Nogin v. Russia, Nr. 58530/08, Rn. 94 mit Verweis auf EGMR (GK), 26.10. 2000, Kudla v. Poland, Nr. 30210/96, Rn. 94. 561  EGMR, 22.03.2016, Kolesnikovich v. Russia, Nr. 44694/13, Rn. 70.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

um als adäquat und folglich menschenrechtskonform zu gelten. Der qualitative Massstab orientiert sich an etablierten wissenschaftlichen Grundsätzen der Medizin.562 Die Adäquanz der medizinischen Versorgung ist, wie der Gerichtshof fast gebetsmühlenartig wiederholt, eine der am schwierigsten messbaren Anforderungen im besagten Problemfeld.563 Er stützt sich in dieser Frage weitgehend auf medizinische Expertisen, sofern diese akkurat und zeitnah erstellt wurden.564 Inhaltlich beschränkt er sich auf eine Willkürkontrolle. In diesem Sinne fordert der Gerichtshof: „[A]uthorities must ensure that diagnosis and care are prompt and accurate (…) and that (…) supervision is regular and systematic and involves a comprehensive therapeutic strategy aimed at successfully treating the detainee’s health problems or preventing their aggravation“.565

Grundlage für ein Urteil des Gerichtshofs sind ärztliche Krankenberichte, Anamnesen oder Protokolle der Haftinstitutionen (sofern datiert und systematisch erstellt): „[T]he Court finds it significant that the documentary (…) including medical records and expert reports, indicate that the detention authorities were unable to adequately cope with the applicant’s special needs“.566

562  Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 130; EGMR, 19.02.2015, M.S. v. Croatia (no. 2), Nr. 75450/12, Rn. 98: „[T]he position of inferiority and powerlessness which is typical of patients confined in psychiatric hospitals calls for increased vigilance in reviewing whether the Convention has been complied with. Nevertheless, it is for the medical authorities to decide, on the basis of the recognised rules of medical science, on the therapeutic methods to be used, if necessary by force, to preserve the physical and mental health of patients who are entirely incapable of deciding for themselves and for whom they are therefore responsible. The established principles of medicine are admittedly, in principle, decisive in such cases; as a general rule, a measure which is a therapeutic necessity cannot be regarded as inhuman or degrading“. 563  EGMR, 02.06.2016, Testa v. Poland, Nr. 59620/14, Rn. 142 „[T]he adequacy of a medical assistance remains one of the most difficult elements to determine“. 564  EGMR, 09.06.2016, Mekras v. Greece, Nr. 12863/14, Rn. 39; EGMR, 15.01.2015, Nogin v. Russia, Nr. 58530/08, Rn. 84 u. 88: „[T]he Court sees no reason to doubt the accuracy of [the medical] conclusions“; EGMR (GK), 23.02.2016, ­Mozer v. Republic of Moldova and Russia, Nr. 11138/10, Rn. 179; vgl. EGMR, 20.09.2016, Kondrulin v. Russia, Nr. 12987/15, Rn. 60; EGMR, 02.06.2016, Yunusova and Yunusov v. Azerbaijan, Nr. 59620/14, Rn. 142; EGMR, 03.02.2009, Kaprykowski v. Poland, Nr. 23052/05, Rn. 74: „ (…) clearly in contradiction to the recommendations of the doctors who had treated the applicant (…) in the preceding months“; ferner EGMR, Entsch. v. 19.11.2013, Fedosejevs v. Latvia, Nr. 37546/06, Rn. 49: „it is not [the Court’s] task to rule on matters lying exclusively within the field of expertise of medical specialists“. 565  EGMR, 22.03.2016, Kolesnikovich v. Russia, Nr. 44694/13, Rn. 70. 566  EGMR, 10.01.2012, Arutyunyan v. Russia, Nr. 48977/09, Rn. 74.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 227

Grundsätzlich sind alle medizinischen Dokumente zulässig, die im Rahmen von Krankenhausaufenthalten, ärztlichen Kontrollen oder sonst wie während des Vollzugs erstellt worden sind.567 Weiter fordert der Gerichtshof, dass die Behörden die Fortsetzung einer vor Haftantritt laufenden Therapie auch in Haft garantieren. Oft scheitert dies aber, was zu wiederholten Feststellungen einer Konventionsverletzung geführt hat. Ferner sind, wie bereits angedeutet, medizinisch indizierte Eingriffe zeitnah vorzunehmen, da sich die betroffene Person in vollständiger Abhängigkeit zum Staat befindet und insoweit hilflos ist.568 Die Pflicht zur Vornahme einer zeitnahen Untersuchung und Behandlung gilt auch dann, wenn während dieser Zeit keine gesundheitlichen Verschlechterungen auftauchen.569 Unter Art. 3 EMRK gilt der Grundsatz, dass keine effektive570 Verschlechterung der Gesundheit bzw. des physischen oder psychischen Leidens erforderlich ist, um eine Konventionsverletzung feststellen zu können.571 Wird eine gebotene Behandlung im Vollzug nicht fortgeführt oder wird eine medizinisch indizierte Behandlung schlicht unterlassen,572 stellt dies eine Herabsetzung und Geringschätzung der Person in ihrem Menschsein dar, ganz gleich ob sich der Gesundheitszustand tatsächlich verschlimmert hat. Wichtig ist auch, dass ein Allgemeinmediziner bei entsprechender Indikation einen Facharzt kontaktieren kann.573 Hieran mangelt es in vielen ost­ 567  Vgl. EGMR, 09.09.2010, Xiros v. Greece, Nr. 1033/07, Rn. 75, 94: „Dʼautre part, elle relève que les autorités judiciaires compétentes nʼont pas suffisamment pris en compte les rapports médicaux du directeur de la clinique ophtalmologique de Penteli et des médecins légistes I. B. et D. T., préconisant le besoin dʼhospitalisation du requérant dans un centre médical spécialisé pour le temps jugé nécessaire par la nature de son traitement“. 568  EGMR, 20.09.2016, Kondrulin v. Russia, Nr. 12987/15, Rn. 59; vgl. EGMR, 22.03.2016, Kolesnikovich v. Russia, Nr. 44694/13, Rn. 75, wo ein sog. Helicobacter-pylori-Test zur Therapie eines Magengeschwürs nicht gemacht wurde, obschon dies von einschlägigen ärztlichen Berichten gefordert worden war. 569  EGMR, 15.06.2010, Ashot Harutyunyan v. Armenia, Nr. 34334/04, Rn. 114 unter Verweis auf EGMR, 04.10.2005, Sarban v. Moldova, Nr. 3456/05, Rn. 86 f., 90. 570  Und/oder feststellbare Verschlechterung der Gesundheit. 571  EGMR, 09.09.2010, Xiros v. Greece, Nr. 1033/07, Rn. 75. 572  Sei dies aus finanziellen sowie technischen Gründen oder schlicht aus Ignoranz. 573  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, §§ 41, 46; Recommendation Rec (2006) 13 on the use of remand in custody, the conditions in which it takes place and the provision of safeguards against abuse, § 37; Recommendation R (98)7 concerning the ethical and organisational aspect of health care in prison, § 17; EGMR, 11.07.2006, Rivière v. France, Nr. 33834/03, Rn. 72: „La Cour relève (…) que la Recommandation du Comité des Ministres du Conseil de l’Europe

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

europäischen Staaten, die, wenn überhaupt, lediglich eine allgemeinmedizinische intramurale Gesundheitsfürsorge anbieten. Diese kann oftmals nicht viel mehr ausrichten, als eine (provisorische) Diagnose zu erstellen oder Symptombekämpfung zu betreiben.574 Insbesondere bei Patienten, die an einer ernsthaften chronischen Erkrankung wie Diabetes, einem Zwölffingerdarmgeschwür, einer Blutgefässkrankheit oder Hepatitis C leiden, ist es eminent wichtig, dass ihnen eine regel­ mässige medizinische Therapie zuteilwird, die einer sinnvollen Strategie folgt und nicht bloss erratisch betrieben wird.575 Dazu erforderliche technische Hilfsmittel sind auch dann einzusetzen, wenn sie nur ausserhalb der Haft­anstalt zur Verfügung stehen.576 Obwohl den Staaten bei der Wahl der zur ergreifenden Mittel grundsätzlich ein Ermessensspielraum zukommt, deutet der EGMR zuweilen an, dass er mehr oder weniger konkrete Vorstellungen darüber hat, wie einem kranken Häftling Leid erspart werden könne: So hat er in einem Fall zu verstehen gegeben, dass die Behörden wenigstens ein Krankenbett mit einer druckvermindernden Matratze hätten besorgen müssen, um die Schmerzen auf ein menschenrechtlich vertretbares Mass zu reduzieren.577 Mit Blick auf den Faktor Zeit sei auf einen Fall verwiesen, in dem die Behandlung des grauen Stars zur Diskussion stand: Hier liegt dem EGMR zufolge eine Verletzung von Art. 3 EMRK vor, sofern eine sachlich adäquate Behandlung zu spät vorgenommen wird, obwohl eine zeitnahe Behandlung möglich gewesen wäre.578 Im besagten Fall verlor der Beschwerdeführer aufgrund einer deutlich zu späten Intervention sein Augenlicht; der sachlich angemessene medizinische Eingriff blieb deshalb erfolglos, was im Ergebnis zur Verurteilung des Staates wegen erniedrigender und unmenschlicher Berelative aux aspects éthiques et organisationnels des soins de santé en milieu pénitentiaire (…) prévoit que les détenus souffrant de troubles mentaux graves devraient pouvoir être placés et soignés dans un service hospitalier doté de l’équipement adéquat et disposant d’un personnel qualifié“. 574  Vgl hierzu insb. EGMR, 12.07.2007, Testa v. Croatia, Nr. 20877/04, Rn. 52 (Gefängnisarzt hat Beschwerdeführer über fünfzig Mal gesehen, ohne dass er aber eine medizinische Therapie durchführen konnte); EGMR, 03.02.2009, Kaprykowski v. Poland, Nr. 23052/05, Rn. 73, der Beschwerdeführer konnte nach epileptischen Anfällen nur einen Anstaltsarzt („in-house doctor“) konsultieren, der nicht in Neurologie spezialisiert war. 575  Vgl. EGMR, 15.06.2010, Ashot Harutyunyan v. Armenia, Nr. 34334/04, Rn. 109; EGMR, 12.06.2008, Kotsaftis v. Greece, Nr. 39780/06, Rn. 57. 576  Dies entspricht dem Äquivalenzprinzip; 3. Teil A. III. 4. d) cc). 577  EGMR, 10.05.2016, Topekhin v. Russia, Nr. 78774/13, Rn. 87. 578  Vgl. EGMR, 15.01.2015, Nogin v. Russia, Nr. 58530/08, Rn. 95 ff.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 229

handlung führte. Eine zeitliche Verschleppung bzw. Inaktivität der Behörden wertet der Gerichtshof konsequent als Würdeverstoss i. S. v. Art. 3 EMRK.579 Grund hierfür ist die naheliegende Annahme, dass in einschlägigen Fällen durch Verschleppung einer indizierten Behandlung eine besondere Demütigung inhaftierter Menschen beabsichtigt wird. Ein weiterer Fall betraf die kohärente Behandlungsstrategie: Werden Behandlungen nach einem Herzinfarkt nur auf kurze Krankenhausaufenthalte zergliedert ermöglicht, so wird dies grundsätzlich dem Erfordernis einer kohärenten und regelmässigen Therapie nicht gerecht. Kurzzeitige medizinische Versorgungshandlungen können einen ganzheitlichen und mithin menschenrechtlich adäquaten Behandlungsansatz nicht ersetzen. Wenn und soweit ein ärztliches Attest vorliegt, das eine regelmässige und spezialisierte Behandlung einfordert, um den spezifischen Gesundheitsproblemen zu begegnen, sollte diesem Attest (intra- oder extramural) gebührend Nachachtung verschafft werden.580 Der Staat kann sich auch nicht aus der Pflicht stehlen, indem er Familienangehörige oder gar andere Gefängnisinsassen pflegerische Tätigkeiten übernehmen lässt.581 In den Augen des Gerichtshofes kann sich hieraus eine Abhängigkeit oder gar Unterlegenheit („inferiority“) eines kranken Insassen gegenüber seinen gesunden Mitinsassen ergeben, die als Herabwürdigung qualifiziert werden kann.582 Dies ergibt sich aus der für derartige Abhängig-

579  EGMR, 15.01.2015, Nogin v. Russia, Nr. 58530/08, Rn. 97; EGMR, 10.01.2012, Ananyev and others v. Russia, Nr. 42525/07 u. 60800/08, Rn. 115 unter Verweis auf EGMR, 12.03.2009, Aleksandr Makarov v. Russia, Nr. 15217/07, Rn. 98 ff.; Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn. 25; EGMR, 12.06.2008, Kotsaftis v. Greece, Nr. 39780/06, Rn. 61; EGMR, 06.09.2007, Kucheruk v. Ukraine, Nr. 2570/04, Rn. 152 (unmenschlich und erniedrigend); EGMR, 03.04.2001, Keenan v. United Kingdom, Nr. 27229/95, Rn. 111, 116. 580  EGMR, 12.06.2008, Kotsaftis v. Greece, Nr. 39780/06, Rn. 57; EGMR, 06.09.2007, Kucheruk v. Ukraine, Nr. 2570/04, Rn. 151: „The forensic report of 29 May 2002 recommended that the applicant be given treatment in a specialised hospital. However, this recommendation was not followed immediately and in early June 2002 the applicant was transferred back to the SIZO and placed in an ordinary cell“; EGMR, 05.04.2005, Nevmerzhitsky v. Ukraine, Nr. 54825/00, Rn. 105. 581  EGMR, 03.02.2009, Kaprykowski v. Poland, Nr. 23052/05, Rn. 74. 582  Vgl. EGMR, 02.06.2016, Yunusova and Yunusov v. Azerbaijan, Nr. 59620/14, Rn. 35 ff.; EGMR, 03.02.2009, Kaprykowski v. Poland, Nr. 23052/05, Rn. 76: „[T]he lack of adequate medical treatment (…) and the placing of the applicant in a position of dependency and inferiority vis-à-vis his healthy cellmates undermined his dignity and entailed particularly acute hardship that caused anxiety and suffering beyond that inevitably associated with any deprivation of liberty“.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

keitsverhältnisse typischen Verletzlichkeit.583 Die Menschenwürde erfordert in solchen Fällen eine organisierte Fürsorge und Pflege.584 cc) Äquivalenzprinzip Das Äquivalenzprinzip besagt, dass Häftlinge von der gleichen medizinischen Versorgungsqualität profitieren sollen wie Menschen, die in Freiheit leben.585 Dieses Prinzip ist ein emblematischer Ausdruck dessen, was als Anspruch jedes Menschen auf Achtung und Schutz seiner gleichen Werthaftigkeit bezeichnet wird. Der Gerichtshof hat dieses Prinzip unter systematischer Bezugnahme auf internationale Standards in seine Würde-Rechtsprechung aufgenommen.586 Dies bedeutet allerdings nicht, dass ein Häftling einen Anspruch auf Spitzenmedizin hätte. Als Vergleichsmassstab dienen daher nicht die besten zivilen Krankenhäuser („in the best civilian clinics“) ausserhalb des Strafvollzugs.587 Massgebend ist vielmehr die allgemeine Gesundheitsfürsorge in der freien Gesellschaft. Unter das Äquivalenzprinzip fällt auch, dass Häftlinge von denselben gesundheitlichen Sozialleistungen profitieren können sollen wie Menschen in Freiheit. Sofern eine Behandlung in Freiheit (nur) teilweise vom Staat übernommen wird, ist dies auch im Strafvollzug konventionskonform.588 Das Äquivalenzprinzip bricht insoweit ein Stück weit mit der Regel, wonach die EMRK einen paneuropäischen Mindeststandard589 zu garantieren hat, als im medizinischen Bereich eine nationale Relativierung zugelassen wird. Massgebend sind demnach die nationalen öffentlichen Gesundheitsver583  Statt vieler: EGMR, 19.02.2015, Helhal v. France, Nr. 10401/12, Rn. 62. Die Behörden hätten aber über die die Verletzlichkeit konstituierenden Momenten wissen müssen: EGMR, 19.02.2015, Yüksel v. Turkey, Nr. 49756/09, Rn. 71. 584  Vgl. Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 134 m. w. N. 585  Recommendation R (98) 7 concerning the ethical and organisational aspect of health care in prison, § 31; CPT/Inf (93) 12, 1993, Rn. 38; Recommendation R (93) 6 concerning prison and criminological aspects of the control of transmissible diseases including AIDS and related problems in prison, § 4, 8; EGMR, 10.05.2016, Topekhin v. Russia, Nr. 78774/13, Rn. 69: „facilities must be appropriate and compar­ able to the quality of the treatment the State authorities have committed themselves to providing to the entire population“. 586  EGMR, 22.03.2016, Kolesnikovich v. Russia, Nr.  44694/13, Rn.  50 ff., 70 ff.; EGMR, 07.02.2012, Cara-Damiani v. Italy, Nr. 2447/05, Rn. 47 ff., 66; EGMR, 22.12.2008, Aleksanyan v. Russia, Nr. 46468/06, Rn. 113 ff., insb. Rn. 139: „The CPT proclaimed the principle of the equivalence of health care in prison with that in the outside community“. 587  EGMR, 22.12.2008, Aleksanyan v. Russia, Nr.  46468/06, Rn.  139 m. w. N. 588  EGMR, 12.03.2013, Zarzycki v. Poland, Nr. 15351/03, Rn. 124. 589  Vgl. 2. Teil A. I.–II.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 231

sorgungssysteme. Dies führt theoretisch zu 47 unterschiedlichen intramuralen Grundrechtsstandards. Weiter gedacht führt dies zu einer Relativierung des Menschenwürdeschutzes nach Massgabe des nationalen Gesundheitssystems, welches auch in Haft zu gewährleisten ist. Der Gerichtshof selbst hält fest, dass sein Würdemassstab flexibel anzuwenden ist.590 Zugleich darf er jedoch nicht dulden, dass dieses Schutzkonzept durch die nationalen Standards untergraben wird. dd) Einwilligungsprinzip Wesentlicher Ausfluss der Subjektstellung des Menschen ist das Einwilligungsprinzip („informed consent“) in medizinischen Belangen, dessen Einhaltung unabdingbar ist, nimmt man es mit der Achtung der Menschenwürde ernst.591 Dabei handelt es sich um einen sowohl medizinethischen als auch menschenrechtlichen Grundsatz, den der EGMR in Art. 3 EMRK verankert sieht.592 Demnach soll jede Person vor einer präventiven, diagnostischen, therapeutischen oder medizinischen Intervention sowie auch bei Eingriffen im Namen der Wissenschaft die Möglichkeit haben, vorgängig, frei und informiert ihre Zustimmung dazu zu erteilen oder zu verweigern. Daraus folgt, dass ein Verfügungsrecht des Einzelnen über seine physische und psychische Unversehrtheit anerkannt wird. Konkret bedeutet dies zum einen, dass Personen über ihren Gesundheitszustand zu informieren sind. Wenn jemand über seinen wahren gesundheit­ lichen Zustand im Dunkeln belassen wird, kann ihm dies übermässiges Leid zufügen. Das absichtliche Herbeiführen oder Aufrechterhalten solchen Unwissens negiert die Stellung des Betroffenen als autonomes Subjekt; in der Konsequenz kann es zu Angst und Pein führen, welche die Mindestschwere­ 22.12.2008, Aleksanyan v. Russia, Nr. 46468/06, Rn. 140. Recommendation R (98) 7 concerning the ethical and organisational aspect of health care in prison, §§ 14–16; EGMR, 10.03.2015, Y. Y. v. Turkey, Nr. 14793/08; EGMR, 06.04.2017, A. P., Garçon and Nicot v. France, Nr. 79885/12 u. a., Rn. 128; ferner: Report of the Special Rapporteur on the right to everyone to enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health, Anand Grover, U.N. Doc. A/64/272, 10.08.2009, § 9: „Guaranteeing informed consent is fundamental to achieving the enjoyment of the right to health through practices, policies and research that are respectful of autonomy, self-determination and human dignity. An enabling environment that prioritizes informed consent links counselling, testing and treatment, creating an effective voluntary health-care continuum. Safeguarding informed consent along the health-care continuum is an obligation placed on States and third parties engaged in respecting, promoting and fulfilling the right to health“. 592  EGMR, 08.11.2011, V. C. v. Slovakia, Nr.  18968/07, Rn.  105 ff., 108 ff.; Negri, Universal Human Rights and End-of-Life Care, S. 1 (7). 590  EGMR, 591  Vgl.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

schwelle von Art. 3 EMRK übersteigt und vom Gerichtshof als Herabwürdigung qualifiziert werden.593 Solche Fälle zeigen aber auch, dass der Mensch nicht als gänzlich autarkes Wesen gedacht wird, sondern als eines, das sich in einer differenzierten Gesellschaft, in der Gemeinschaft konsti­tuiert. Der Staat darf deshalb sein Herrschaftswissen nicht zur Unterdrückung ausnutzen, sondern muss es jeder Person ermöglichen, die Informationen einer differenzierten Gesellschaft in Anspruch zu nehmen, um Entscheidungen über die wesentlichen Eigenbelange treffen zu können. Eine urteilsfähige Person muss das Recht haben, eine medizinische Behandlung, die sie nicht in Anspruch nehmen möchte, abzulehnen.594 Hierfür bedarf es keiner Rechtfertigung, da ansonsten das Prinzip der Autonomie untergraben würde. Niemand muss sich fremden Zwecken unterordnen. Dies ergibt sich aus der Kernmaxime des Instrumentalisierungsverbots.595 Ausnahmen vom Grundsatz des Informed Consent sind völkerrechtlich nur möglich, „when provided by law, in accordance with ethical and legal standards adopted by States, strictly for compelling reasons within the bounds of public international law and subject to compliance with human rights law“.596 Wehrt sich eine inhaftierte Person bspw. gegen eine von den Behörden entgegen ihrem Willen angeordnete Zwangsernährung, dann haben die Vertragsstaaten die Pflicht, die physische Integrität der betroffenen Person zu schützen.597 Wo also eine medizinische Behandlung ohne vorherige Einwilligung gegen Art. 3 verstiesse, ist nach der Rechtsprechung des EGMR von einem absoluten Recht auszugehen.598 Zu beachten ist dabei, ob der Eingriff physisches oder psychisches Leid verursacht hat, ob er von einer medizini593  Vgl. EGMR, 08.11.2011, V. C. v. Slovakia, Nr. 18968/07, Rn. 119 f.; EGMR, 02.06.2016, Yunusova and Yunusov v. Azerbaijan, Nr. 59620/14, Rn. 146 u. 150 („diminishing his or her human dignity“); s. a. EGMR, 12.07.2007, Testa v. Croatia, Nr.  20877/04, Rn.  52 u. 63; vgl. EGMR, 20.09.2016, Kondrulin v. Russia, Nr. 12987/15, Rn. 61 („affront to his human dignity“). 594  CPT/Inf (93) 12, Rn. 45 ff. 595  Adorno, JMP 2009, S. 223 (231); zur Objektformel vgl. nur 3. Teil A. III. 1. b) und 2. d) aa). 596  Art. 3 EU-GRCh; Art. 8 Universal Declaration on the Human Genome; Art. 6 of the Universal Declaration on Bioethics and Human Rights; Art. 26 Convention on Human Rights and Biomedicine; Recommendation R (99) 4 on principles governing the legal protection of incapable Adults, § 28. 597  EGMR, 07.10.2008, Bogumil v. Portugal, Nr. 35228/03, Rn. 69: „S’agissant en particulier des interventions médicales auxquelles une personne détenue est soumise contre sa volonté, l’article 3 de la Convention impose à l’Etat une obligation de protéger l’intégrité physique des personnes privées de liberté, notamment par l’administration des soins médicaux requis“. 598  EGMR, 08.11.2011, V. C. v. Slovakia, Nr. 18968/07, Rn. 106 ff.; bestätigt in EGMR, 12.06.2012, N. B. v. Slovakia, Nr. 29518/10, Rn. 71 ff.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 233

schen Fachperson angeordnet und durchgeführt wurde, ob die betroffene Person medizinisch konstant begleitet wurde und ob es in der Folge zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder zu bleibenden Gesundheitsschäden kam.599 Diese Rechtsausführungen stehen aber unter einem gewichtigen Vorbehalt. So hat der Gerichtshof im Urteil V. C.600 darauf hingewiesen, dass eine Sterilisation generell nicht als lebensrettend gelten könne und auch im vorliegenden Fall kein unmittelbarer Notfall mit der Gefahr irreparabler Schäden vorgelegen habe.601 Dagegen wäre bei akuter Gefahr für die Frau eine Behandlung wohl auch gegen deren Willen möglich gewesen. Denn gemäss der Rechtsprechung ist ein Eingriff, der nach anerkannten medizinischen Grundsätzen therapeutisch notwendig ist, im Prinzip weder unmenschlich noch erniedrigend.602 In der Rechtssache Bogumil603 ging es um einen Beschwerdeführer, der einen Beutel mit Kokain verschluckt hatte und deshalb zu einem medizinischen Eingriff gezwungen wurde. Diesem hatte er zuvor weder seine Zustimmung erteilt noch ihn explizit verweigert. Da der Eingriff medizinisch indiziert war und auch professionell begleitet wurde, konnte der Gerichtshof keine Verletzung von Art. 3 EMRK feststellen. Von besonderer Brisanz ist im Strafvollzug die Problematik der Behandlung von Sexualstraftätern. Im Vollzug wird solchen Personen oft eine Psychotherapie, Medikation oder Kastration angeboten, da sie ansonsten kaum eine Aussicht auf Entlassung haben. Für die Betroffenen bedeutet die Situation ein schweres Dilemma, da sie zwar keine Kastration wünschen, sich aber auch nicht ad infinitum im Freiheitsentzug einer Therapie unterziehen wollen, deren Ausgang letztlich offenbleibt. Deshalb entscheiden sich solche Häftlinge nicht selten für eine sog. chemische Kastration, um eines Tages bzw. rascher wieder in Freiheit leben zu können. 599  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 72 ff.: „(…) account has to be taken of whether the person concerned experienced serious physical pain or suffering as a result of the forcible medical intervention (…). Another material consideration in such cases is whether the forcible medical procedure was ordered and administered by medical doctors and whether the person concerned was placed under constant medical supervision (…). A further relevant factor is whether the forcible medical intervention resulted in any aggravation of his or her state of health and had lasting consequences for his or her health (…)“. 600  EGMR, 08.11.2011, V. C. v. Slovakia, Nr. 18968/07. 601  EGMR, 08.11.2011, V. C. v. Slovakia, Nr. 18968/07, Rn. 110. 602  EGMR, 07.10.2008, Bogumil v. Portugal, Nr. 35228/03, Rn. 69; EGMR, 10.02.2004, Gennadi Naoumenko v. Ukraine, Nr. 42023/98, Rn. 112. 603  EGMR, 07.10.2008, Bogumil v. Portugal, Nr. 35228/03.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

In der Rechtssache Dvořáček604 litt der Beschwerdeführer an „Morbus Wilson“, einer seltenen genetischen Erkrankung, durch die sich Kupfer im Körper anreichert und die in Zusammenhang mit neurologischen und psychischen Störungen steht. Im Verlauf der Krankheit trat auch eine sexuelle Präferenz für pubertierende Jugendliche auf, was dazu führte, dass der Beschwerdeführer mehrfach wegen Sexualstraftaten strafrechtlich verfolgt wurde. Um einer dauerhaften Internierung zu entgehen, willigte er nach anfänglicher Verweigerung in eine medikamentöse Behandlung durch Antiandrogene zur Hemmung der Sexualhormone ein. Vor dem Gerichtshof monierte er dann aber, dass er der Behandlung nur aus Angst, das Krankenhaus nicht mehr verlassen zu dürfen bzw. eine chirurgische Kastration zu erleiden, zugestimmt habe.605 Überdies könne angesichts der Tatsache, dass ihm nur die Wahl zwischen einem medizinischen Eingriff und einer unbegrenzten Inhaftierung geblieben sei, nicht von einer freiwilligen Einwilligung in Kenntnis der Sachlage gesprochen werden.606 Der Gerichtshof kam zum Schluss, dass der Beschwerdeführer einer Situation ausgesetzt war, die als erhebliche Drucksituation qualifiziert werden muss, konnte er doch einzig wählen zwischen der Einnahme von Antiandrogenen, die seine Gefährlichkeit deutlich reduzieren und die Freilassung in relativ kurzer Zeit gestatten würden, und der psycho- und sozialtherapeutischen Behandlung, die die Gefährlichkeit bestenfalls erst nach einem längeren Zeitraum beseitigt hätte.607 Der Gerichtshof bezieht sich sodann auf mehrere Gutachten, denen zufolge die umstrittene Behandlung durch medizinische Gründe („justifié par des raisons médicales“) gerechtfertigt und gerade im Fall des Beschwerdeführers zu empfehlen war, da sie gegenüber einer Psychotherapie, die ihn nicht unbedingt von weiteren Straftaten abgehalten hätte, viel effektiver wirke.608 Da die Behandlung also medizinisch und therapeutisch notwendig war („nécessité thérapeutique“) und die Ärzte – nach Auffassung des Gerichtshofs – ihrer Aufgabe nachkamen, sich um die Gesundheit des Beschwerdeführers zu kümmern, kann nicht von einer würde- und autonomieverletzenden Zwangsmedikation gesprochen werden.609 Von entscheidender Bedeutung dürfte gewesen sein, dass der Gerichtshof, wie zuvor die nationalen Behörden, davon ausgeht, dass eine protektive 06.11.2014, Dvořáček v. Czech Republic, Nr. 12927/13. 06.11.2014, Dvořáček v. Czech Republic, Nr. 12927/13, Rn. 99. 606  EGMR, 06.11.2014, Dvořáček v. Czech Republic, Nr. 12927/13, Rn. 100. 607  Auch wenn es sich um Tatsachenfestellungen handelt, versetzte die Wahl zwischen diesen beiden Optionen den Beschwerdeführer in ein Dilemma: EGMR, 06.11.2014, Dvořáček v. Czech Republic, Nr. 12927/13, Rn. 102. 608  EGMR, 06.11.2014, Dvořáček v. Czech Republic, Nr. 12927/13, Rn. 104. 609  EGMR, 06.11.2014, Dvořáček v. Czech Republic, Nr. 12927/13, Rn. 104. 604  EGMR, 605  EGMR,



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 235

sexologische Therapie im mutmasslichen Interesse des Betroffenen lag. Solche Annahmen bergen aber stets auch die Gefahr eines paternalistischen Würdeschutzes,610 der sich über die Selbstzweckhaftigkeit der betroffenen Person hinwegsetzt und sie aufgrund eines allumfassenden Diktats fremder Zwecke ihrer Würde beraubt. Deshalb darf von einem derart konstruierten mutmasslichen Willen bzw. einer mutmasslich besseren Interessenverfolgung nur als Ultima Ratio Gebrauch gemacht werden. Im Ergebnis stellt sich daher insofern eine Relativierung des Prinzips der Menschenwürde bei medizinisch-therapeutischer Indikation ein,611 als der autonomen Willensbildung bzw. Willensfreiheit kein absoluter Vorrang zuerkannt wird.612 Einschränkungen vom Grundsatz des Informed Consent müssen nebst den Anforderungen von Art. 3 EMRK auch den Einschränkungstatbestand von Art. 8 Abs. 2 EMRK beachten; demnach muss ein Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein zur Aufrechterhaltung der nationalen oder öffentlichen Sicherheit und Ordnung, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

610  Von einem paternalistischen Würdeschutz ist dann auszugehen, wenn der Eingriff des Staates in die Freiheitssphäre des Individuums erfolgt, um dieses (vermeintlich) vor sich selbst zu schützen; weiterführend zum moralischen Paternalismus: Dworkin, Law and Philosophy 2005, S. 305 (305 ff.). 611  Vgl. auch den Bericht des CPT: CPT/Inf (2008) 26, Rn. 78: „(…) more attention should be paid to ensuring that (…) safeguards are being fully respected (…). (…) special care should be taken to make sure that prisoners’ consent to medical libido-suppressing treatment is genuinely free and informed. In this connection, the provision of full information (oral and written) on the known adverse effects – as well as the possible benefits – of the treatment, should be improved. (…) no prisoner should be put under undue pressure to accept medical libido-suppressing treatment. Moreover, in addition to drug treatment, efforts should be made to step up psychotherapy and counselling with a view to reducing the risk of reoffending“. 612  Ausnahmen dürfen aber nur in engem Rahmen erfolgen, was auch vom CPT so formuliert wird; CPT/Inf (2010) 3, Rn. 103: „As previously stressed by the CPT, psychiatric patients should, as a matter of principle, be placed in a position to give their free and informed consent to treatment. The admission of a person to a psychiatric establishment on an involuntary basis – be it in the context of civil or criminal proceedings – should not preclude seeking informed consent to treatment. Every competent patient, whether voluntary or involuntary, should be fully informed about the treatment which it is intended to prescribe and given the opportunity to refuse the treatment or any other medical intervention. Any derogation from this fundamental principle should be based upon law and only relate to clearly and strictly defined exceptional circumstances“.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

In der Rechtssache Jalloh613 musste der Gerichtshof eine Verletzung feststellen, da die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln keinem therapeutischen Zweck, sondern lediglich der Beweissicherung in einem späteren Strafverfahren diente. Zudem erlitt der Beschuldigte Schmerzen, die den Mindestschweregrad von Art. 3 EMRK erreichten und als erniedrigende und unmenschliche Behandlung taxiert wurden. ee) Hafterstehungsfähigkeit In einem demokratischen Rechtsstaat ist die Hafterstehungsfähigkeit eine zwingende Voraussetzung, um eine Freiheitsstrafe vollstrecken zu können.614 Grundsätzlich prüft der Gerichtshof nicht, ob eine verurteilte Person haft­ erstehungsfähig ist und eine Freiheitsstrafe antreten bzw. in einer solchen bleiben kann. Beschwerdeführer, die dafür plädierten, dass Personen in hohem Alter keine Gefängnisstrafe mehr absitzen müssen sollten, drangen damit beim Gerichtshof nicht durch.615 Ebenso wenig gewährleistet Art. 3 EMRK ein eigentliches Recht auf Haftentlassung aus gesundheitlichen Gründen.616 Selbst bei einer schweren Krankheit lässt sich kein unbedingtes Recht auf vorzeitige Haftentlassung herleiten.617 Nichtsdestotrotz verlangen gewisse Situationen nach humanitären Massnahmen, und zwar nicht nur um die Menschenwürde zu achten, sondern letztlich auch um die Integrität und Glaubwürdigkeit eines modernen und humanen Strafvollzugs zu bewahren.618 613  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 82: „The authorities subjected the applicant to a grave interference with his physical and mental integrity against his will. They forced him to regurgitate, not for therapeutic reasons, but in order to retrieve evidence they could equally have obtained by less intrusive methods. The manner in which the impugned measure was carried out was liable to arouse in the applicant feelings of fear, anguish and inferiority that were capable of humiliating and debasing him. Furthermore, the procedure entailed risks to the applicant’s health, not least because of the failure to obtain a proper anamnesis beforehand. Although this was not the intention, the measure was implemented in a way which caused the applicant both physical pain and mental suffering. He has therefore been subjected to inhuman and degrading treatment contrary to Article 3“. 614  EGMR, 12.06.2008, Kotsaftis v. Greece, Nr. 39780/06, Rn. 49. 615  EGMR, Entsch. v. 20.04.2010, Le Pen v. France, Nr. 18788/09; EGMR, 25.07.2002, Papon v. France, Nr. 54210/00. 616  Statt vieler s. EGMR, 10.04.2012, Shchebetov v. Russia, Nr. 21731/02, Rn. 66 m. w. N.; EGMR, 16.11.2006, Huylu v. Turkey, Nr. 52955/99, Rn. 63. 617  EGMR, 05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10, Rn. 102; EGMR (GK), 19.02.2009, A. and others v. United Kingdom, Nr. 3455/05, Rn. 128. 618  Vgl. EGMR, 10.01.2012, Arutyunyan v. Russia, Nr. 48977/09, Rn. 71 mit Verweis auf EGMR, 15.01.2004, Matenico v. France, Nr. 58749/00, Rn. 76 sowie EGMR, 15.01.2004, Sakkopoulos v. Greece, Nr. 61828/00, Rn. 38.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 237

In aussergewöhnlichen Konstellationen kann daher die Freilassung eines schwer erkrankten oder behinderten Häftlings619 erforderlich werden;620 dasselbe gilt auch für betagte Menschen.621 Andernfalls riskiert der betreffende Konventionsstaat eine Verletzung von Art. 3 EMRK wegen demütigender und herabwürdigender Behandlung. Zu beachten ist freilich, dass das Konzept der „Gefährlichkeit“ eines Häftlings bei Entscheiden über vorzeitige Haftentlassung mit einfliessen darf.622 Besondere Besorgnis äussert der Gerichtshof in Fällen, wo Schwerkranke das Endstadium bis zum Tod im Gefängnis verbringen müssen. Wo der inhärente Stress des Freiheitsentzugs Auswirkungen auf die Lebenserwartung und den Gesundheitszustand eines todkranken Menschen haben kann, ist i. d. R. von einer Verletzung von Art. 3 EMRK auszugehen, sofern Behörden keine geeigneten medizinischen und/oder humanitären Massnahmen treffen.623 Solche Massnahmen würden den Einbezug von professionellem, nötigenfalls auch in Palliativpflege geschultem Personal erfordern.624 Dieser Anspruch ergibt sich aus der teleologischen Lesart der EMRK als „living instrument“ und aus dem zunehmend ausdifferenzierten Menschenrechtsregime in Haft, welches medizinische Aspekte mit einschliesst.625 Im Fall Gülay Çetin hielt der Gerichtshof fest, dass es die Umstände nicht rechtfertigten, die Beschwerdeführerin, eine an tödlichem Magenkrebs leidende verurteilte Straftäterin, zum vermeintlichen Schutz der Gesellschaft in Haft zu behalten. Die fehlende humanitäre Rücksichtnahme der Vollzugsbehörden führte zum tragischen Ergebnis, dass sie allein und ohne familiäre Unterstützung dastand und es ihr angesichts des tödlichen Ausgangs, auf den ihre Krankheit hinsteuerte, unmöglich war, ihre Menschenwürde aufrechtzu-

619  S. United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities (2006), Art. 1: „The purpose of the present Convention is to promote, protect and ensure the full and equal enjoyment of all human rights and fundamental freedoms by all persons with disabilities, and to promote respect for their inherent dignity“; EGMR, 10.05.2016, Topekhin v. Russia, Nr. 78774/13, Rn. 54. 620  EGMR, 10.01.2012, Arutyunyan v. Russia, Nr. 48977/09, Rn. 71; EGMR, 02.12.2004, Farbtuhs v. Latvia, Nr. 4672/02, Rn. 61: „[L]e maintien en détention du requérant à la prison ‚Matīsa ‚ n’était pas adéquat en raison de son âge, de son infirmité et de son état de santé“. 621  EGMR, Entsch. v. 15.11.2001, Papon v. France (no. 2), Nr. 64666/01; EGMR, Entsch. v. 07.03.2002, Priebke v. Italy, Nr. 48799/99; EGMR, 02.12.2004, Farbtuhs v. Latvia, Nr. 4672/02. 622  EGMR, 10.01.2012, Arutyunyan v. Russia, Nr. 48977/09, Rn. 72. 623  EGMR, 05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10, Rn. 102. 624  Vgl. EGMR, 05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10, Rn. 112. 625  EGMR, 05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10, Rn. 103.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

erhalten.626 Hierzu hält der EGMR ganz klar fest, dass humanitäre Massnahmen ergriffen werden müssen, damit schwerkranke Personen ihre letzten Tage in Würde verbringen können.627 In deutlichen Worten und inspiriert durch Empfehlungen des Europarats628 wird das Unterlassen der türkischen Behörden als klarer Verstoss gegen die menschliche Würde (bzw. unmenschliche und erniedrigende Behandlung) kritisiert; dieser wiege umso schwerer, als die rechtlichen Voraussetzungen bestanden hätten, um humanitäre Erleichterungen zu erwägen oder eine vorzeitige Haftentlassung zu verfügen.629 Letztlich war in der Rechtssache Gülay Çetin die Haft kausal für eine Verschlimmerung des Gesundheitszustandes und die Hilflosigkeit der kranken Person, deren persönliches Würdeempfinden dadurch in einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Weise verletzt wurde.630 Generell gilt, dass bei ungenügender Versorgungsqualität im Einzelfall geprüft werden muss, ob eine Fortsetzung der Haft an sich zweckmässig ist.631 Die medizinische Versorgungslage in Haftinstitutionen ist demnach ein Aspekt, der bei der Prüfung der Hafterstehungsfähigkeit eine Rolle spielt. Ein weiterer Faktor ist das Alter der betroffenen Person. Die Aufrechterhaltung eines Freiheitsentzugs bei einer sehr betagten (und i. d. R. auch kran05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10, Rn. 122. 05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10, Rn. 124. 628  Recommendation 1418 (1999), Protection of the human rights and dignity of the terminally ill and the dying, Preambule. 629  EGMR, 05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10, Rn. 125: „La détention dont elle a fait l’objet dans les conditions décrites plus haut sans jamais parvenir à bénéficier du système de protection offert en théorie en droit turc a porté atteinte à sa dignité et l’a soumise à une épreuve d’une intensité qui a dépassé le niveau inévitable de souffrances inhérentes à une privation de la liberté et à un traitement anticancéreux“. 630  EGMR, 05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10: Verschärft sich ein Gesundheitszustand infolge der Haft und aufgrund einer mangelhaften medizinischen Versorgungslage und formalistischer Redundanzen, kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegen. Daher müssen Konventionsstaaten eine individuelle und adäquate Medizinversorgung gewährleisten, die dem Niveau in Freiheit entspricht. Im vorliegenden Fall wurde, obwohl ein medizinisches Gutachten existierte, das die Freilassung der Bf. empfahl, vom Gericht ein weiterer Bericht eingefordert, um sie für einen nochmaligen Untersuch nach Istanbul zu bringen. Danach haben die Rechtsmediziner noch eine ganze Woche zugewartet, bevor sie ihren medizinischen Bericht weiterleiteten, mit dem sie die Freilassung der Bf. autorisierten. Daher hat der Konventionsstaat vorliegend keine Erklärung für die Tatsache vorgebracht, dass dieser Bericht nicht an die zuständige Staatsanwaltschaft übermittelt wurde. Der Bericht wurde von der Staatsanwaltschaft gar erst sechs Tage nach dem Tod der Bf., empfangen. Vgl. ferner EGMR, 03.05.2007, Hüseyin Yildirim v. Turkey, Nr. 2778/02, Rn. 73; EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 52 m. w. N. 631  EGMR, 03.05.2007, Hüseyin Yildirim v. Turkey, Nr. 2778/02, Rn. 74. 626  EGMR, 627  EGMR,



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 239

ken) Person kann mit Blick auf Art. 3 EMRK problematisch erscheinen.632 In solchen Fällen prüft der Gerichtshof, wie es um den Gesundheitszustand der inhaftierten Person bestellt ist, wie die ihr zuteilwerdende medizinische Versorgung qualitativ aussieht und ob unter diesem Blickwinkel ein fortdauernder Freiheitsentzug möglich erscheint.633 Eine Entlassung aus humanitären Gründen kann unter Umständen geboten sein: „La Cour ne saurait exclure que, dans des conditions particulièrement graves, lʼon puisse se trouver en présence de situations où une bonne administration de la justice pénale exige que des mesures de nature humanitaire soient prises pour y parer“.634

E Contrario ist aus dieser Rechtsprechung zu schliessen, dass weder das hohe Alter noch eine Krankheit eine Haftentlassung begründen können, sofern die Haftumstände adäquat sind. Im Bereich des menschlichen Lebensabends stellen sich grosse und komplexe Fragen, die von einer allfälligen Palliativpflege635 bis hin zur Ermöglichung eines „würdig empfundenen Todes“636 in Haft reichen. Bislang sind solche Fälle rar geblieben. In den wenigen Entscheiden tönt der EGMR aber zwischen den Zeilen an, dass das Gefängnis kein geeigneter Ort für den Lebensabend bzw. das Lebensende ist.637 Von einem eigentlichen Recht, ausserhalb des Gefängnisses sterben zu dürfen, kann dennoch keine Rede sein.

632  Vgl. EGMR, 07.06.2001, Papon v. France, Nr.  64666/01; vgl. EGMR, 15.01.2004, Matencio v. France, Nr. 58749/00, Rn. 76; EGMR, 20.12.2004, Farbtuhs v. Lithuania, Nr. 4672/02, Rn. 61. 633  EGMR, 15.01.2004, Sakkopoulos v. Greece, Nr. 61828/00, Rn. 39; EGMR, 14.11.2002, Mouisel v. France, Nr. 67263/01, Rn. 40 ff. 634  EGMR, 19.02.2015, Helhal v. France, Nr. 10401/12, Rn. 48. 635  Vgl. 3. Teil B. II. 636  Ebd. 637  s. CPT/Inf (93) 12, Rn. 70: „Typical examples of this kind of prisoner are those who are the subject of a short-term fatalprognosis, who are suffering from a serious disease which cannot be properly treated in prison conditions, who are severely handicapped or of advanced age. The continued detention of such persons in a prison environment can create an intolerable situation. In cases of this type, it lies with the prison doctor to draw up a report for the responsible authority, with a view to suitable alternative arrangements being made“; vgl. Recommendation R (98) 7 concerning the ethical and organisational aspect of health care in prison, Rn. 50 f.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

e) Wirkung und Funktion der Menschenwürde aa) Objektiv inakzeptable Haftumstände Die Schwierigkeit, würdekonforme Haftbedingungen und Behandlungsformen möglichst objektiv festzumachen und nicht nur anhand subjektiver, der Verallgemeinerung nicht zugänglicher Einschätzungen zu evaluieren, liegt auf der Hand. Dies wird zuweilen auch von Teilen der Richterschaft betont.638 Die Menschenwürde entfaltet ihre normative Kraft in Wechselwirkung zu den Verletzungstatbeständen von Art. 3 EMRK. Die grundlegende, aus der Anerkennung der Würde des Menschen abgeleitete Forderung lautet, dass Gefangene niemals zum blossen Objekt der Verbrechensbekämpfung degradiert werden dürfen.639 Auch im Strafvollzug bzw. in Haft müssen die fundamentalen menschlichen Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz erhalten bleiben. Gewalt in Haft, sei sie nun physischer oder psychischer Natur, stellt nicht automatisch einen Eingriff in die Würde des Menschen dar. Unter spezifischen Umständen kann Gewalt notwendig oder gar geboten sein, um einen legitimen Strafanspruch des Staates durchzusetzen oder um bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen berechtigte Interessen Dritter zu schützen.640 Auch Disziplinarmassnahmen oder Durchsuchungen der Haftzellen können in diesem Sinn legitim und demnach konventionskonform sein. Dabei ist sich der Gerichtshof der inhärenten Schwierigkeiten bewusst, welche in der Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens wurzeln. Zu denken ist hier bspw. an die Gefahr eines Gefängnisaufstandes und von Geiselnahmen in Haft.641 638  s. EGMR (GK), 17.09.2009, Enea v. Italy, Nr. 74912/01, partly dissenting opinion of Judges Kovler u.Gyulumyan: „The assessment of the minimum threshold of severity required in order to fall within the scope of Article 3 of the Convention is a matter of subjective opinion. In our opinion, this threshold was attained“ (Hervorhebung durch Autor). 639  Morgenstern, Internationale Instrumente und Entwicklungen zur Humanisierung des Strafvollzugs, S. 35 (35). 640  Vgl. Baumann, Das Piloturteilsverfahren als Reaktion auf massenhafte Parallelverfahren, S. 325; zu multipolaren Grundrechtsverhältnissen s. Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (37). 641  EGMR, 01.07.2010, Davydov and others v. Ukraine, Nr.  17674/02 u. a., Rn. 268: „The Court bears in mind the difficulties in policing modern societies, the unpredictability of human conduct and the need to train and keep staff prepared for possible unexpected conduct of prisoners, including conduct related to mass riots or taking of hostages, for which the special forces were being trained. It also notes that the applicants were convicted criminals, who were serving their sentences for serious crimes“.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 241

Dennoch muss der absolute Schutzanspruch von Art. 3 EMRK bei jeglichem Staatshandeln gewahrt werden. So kann etwa ein exzessives und anlassloses Drillen oder die anlass- und vorwarnungslose Zellendurchsuchung mit Spezialeinheiten die Würde eines Häftlings verletzen, da sie ihn zum „Drill-Objekt“ degradiert und zugleich seine Handlungsmacht und Mündigkeit („agency“) negiert.642 Die besprochenen Haftfälle haben gezeigt, dass sich Würdeverletzungen mit einer bestimmten Vorstellung des Menschen verknüpfen lassen (müssen). Insbesondere in Bezug auf die materiellen Haftbedingungen wird auf basale menschliche Bedürfnisse eingegangen, welche sich aus Grundannahmen und empirischen Erkenntnissen herleiten lassen. Diese Errungenschaften haben sich auch in internationalen Dokumenten zu Haft-Mindeststandards positiviert, die allerdings zumeist Soft Law darstellen.643 Menschen haben ein Grundbedürfnis nach Bewegung, Sport und geistiger Aktivität, um ihr mentales Wohlbefinden aufrechterhalten zu können. Deren vollständige Negierung würde fundamentale Aspekte menschlichen Daseins hinterfragen, die aber genau der schutzwürdige Gegenstand dessen sind, was Würde ausmacht. Der Gerichtshof hat in den analysierten Fällen gezeigt, dass sich auf konventionsrechtlicher Ebene die Würde nur achten lässt, wenn Staaten ihren positiven Schutzpflichten nachkommen und für adäquate Bewegungsräume,644 Hygienezustände,645 Nahrung646 und Sozialkontakte647 sorgen bzw. diese aktiv fördern. Dadurch zeichnet sich der begründungslogische Charakter des konven­ tionsrechtlichen Menschenwürdebegriffs aus – überzeugend verwandt wird 642  EGMR, 01.07.2010, Davydov and others v. Ukraine, Nr.  17674/02 u. a., Rn. 263, 265, 270; unter systematischer Bezugnahme u. a. auf: Recommendation R (82) 17 concerning Custody and Treatment of Dangerous Prisoners, § 3: „to apply security measures in a way respectful of human dignity“; Recommendation R (87) 3 on the European Prison Rules 1987, § 1: „ The deprivation of liberty shall be effected in material and moral conditions which ensure respect for human dignity and are in conformity with these rules.“; Recommendation R (99) 22, Appendix § 7: „Where conditions of overcrowding occur, special emphasis should be placed on the precepts of human dignity, the commitment of prison administrations to apply humane and positive treatment, the full recognition of staff roles and effective modern management approaches. In conformity with the European Prison Rules, particular attention should be paid to the amount of space available to prisoners, to hygiene and sanitation, to the provision of sufficient and suitably prepared and presented food, to prisonersʼ health care and to the opportunity for outdoor exercise“. 643  3. Teil A. III. 4. a). 644  3. Teil A. III. 4. c) aa). 645  3. Teil A. III. 4. c) bb). 646  3. Teil A. III. 4. c) dd). 647  3. Teil A. III. 4. c) ee).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

der Begriff nur, wenn ein bestimmtes konsensfähiges Menschenbild zugrunde gelegt wird. Bei Missachtung der vom Staat geforderten (würdegeprägten) Schutzpflichten wirkt eine Behandlung erniedrigend oder unter Umständen, bspw. bei grossem Schmerzleiden, unmenschlich. Der Gerichtshof bedient sich des Kriteriums der Würde, um rote Linien zu ziehen, die nicht unterschritten werden dürfen. Verpönte Konstellationen werden anhand objektiver Faktoren eruiert und als Würdeverstösse beurteilt.648 Dadurch bekräftigt der Gerichtshof die europäische Objektformel, deren Eigenheit als integraler Bestandteil von Art. 3 EMRK bereits im Kontext der Körperstrafen festgestellt wurde.649 Dass der Gerichtshof auch den Aufsehern ein Mindestmass an zwischenmenschlichem Respekt abfordert, zeigen die die Fälle der Strip Searches und der erzwungenen Kahlrasur,650 in denen er Machtmissbrauch in Form von willkürlichen Leibesvisitationen und erzwungene Haarrasuren als absolut inakzeptabel und folglich als Menschenwürdeverstoss anprangerte. bb) Menschenwürde und Verletzlichkeit des Häftlings Personen, denen die Freiheit entzogen wurde, befinden sich unter der vollständigen Kontrolle des Staates. Typischerweise sind sie auch abhängig von diesem, weil sie faktisch und rechtlich nicht (mehr) in der Lage sind, ihre eigenen Subsistenzgüter zu beschaffen.651 Zudem sind sie nicht fähig, ihre geistigen und kognitiven Bedürfnisse zu befriedigen. Aus dieser Position des „Ausgeliefertseins“ resultiert eine besondere Verletzlichkeit („vulnerability“),652 welche allen Menschen in Haft, sei dies nun fürsorgerische Unterbringung, Straf- oder Massnahmenvollzug, Untersuchungshaft oder Polizeigewahrsam,653 generell zugeschrieben wird.654 Der Gerichtshof artikuliert 648  Vgl. zu objektiv inakzeptablen Behandlungsformen bereits EGMR (GK), 17.07.2014, Svinarenko and Slyadnev v. Russia, Nr. 32541/08 u. 43441/08, Rn. 138. 649  S. 3. Teil A. III. 1. 650  EGMR, 11.12.2003, Yankov v. Bulgaria, Nr. 39084/97, Rn. 112 ff. Auch das Anlegen von Hand- und Fussfesseln während eines Arztbesuches und die Anwesenheit von Strafvollzugsbeamten auch bei intimen Untersuchungen sind erniedrigend, wenn das Vorgehen nicht durch ein objektiv nachvollziehbares Sicherheitsbedürfnis bedingt war: EGMR, 26.02.2011, Duval v. France, Nr. 19868/08. 651  Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 142. 652  In der Sache Tomasi wurde erstmals durch einen Richter die Verletzlichkeit des Menschen hervorgestrichten: EKMR, Rep. 11.12.1987, Nr. 12850/87, dissenting opinion Judge Soyer. Vgl. zur Vulnerabilität des Menschen: Kirchschläger, Missachtung als Schlüsselerfahrung, S. 193 (203 ff.). 653  s. EGMR (GK), 10.04.2012, Babar Ahmad and others v. United Kingdom, Nr. 24027/07 u. a., Rn. 215; EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn.  107 ff.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 243

spezifische Verletzlichkeitsdispositionen und verknüpft diese mit der Menschenwürde als Schutzgut;655 als Konsequenz formuliert er umfassende positive Schutzpflichten, die vom jeweiligen Vertragsstaat zu erfüllen sind: „La Cour tient à souligner qu’un Etat est responsable de toute personne en détention, car cette dernière, aux mains des fonctionnaires de police, est en situation de vulnérabilité et les autorités ont le devoir de la protéger“.656

In den untersuchten EGMR-Fällen haben sich prekäre Haftbedingungen als ein Hauptanwendungsbereich menschenwürde- und vulnerabilitätsbezogenen Schutzes erwiesen. Mit seiner Rechtsprechung baut der EGMR rund um das Konzept der Verletzlichkeit den normativen Schutzanspruch der Menschenwürde aus:657 „[T]he State must ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for his human dignity, that the manner and method of the execution of the measure do not subject him to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention and that (…)“.658

Denn die Menschenwürde ist zwar unverlierbar,659 aber zugleich ein angreifbarer Rechtswert und Ideal. Der Gerichtshof scheint durch seine Verletzlichkeitszuschreibungen nicht von unterschiedlichen Wertansprüchen auszugehen, sondern von besonders akzentuierten Formen der Verletzlichkeit bzw. Angreifbarkeit menschlicher Würde auszugehen.660

654  Heri,

The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 126. Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 265. 656  EGMR, 22.10.2009, Orchowski v. Poland, Nr. 17885/04, Rn. 120: „Persons in custody are in a vulnerable position and the authorities are under a duty to protect them. Under Article 3 the State must ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for his human dignity, that the manner and method of the execution of the measure do not subject him to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention“; EGMR, 22.10.2002, Algür v. Turkey, Nr. 32574/96, Rn. 44; EGMR, 22.07.2003, Ayse Tepe v. Turkey, Nr. 29422/95, Rn. 38; EGMR, 22.06.2004, Aydin and Yunus, Nr. 32572/96 u. 33366/96, Rn. 31; EGMR, 07.06.2007, Mikadze v. Russia, Nr. 52697/99, Rn. 109. 657  Vgl. Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 126  ff.; Belda, Les droits de l’homme des personnes privées de liberté, S. 27. 658  EGMR (GK), 10.3.2009, Paladi v. Moldova, Nr. 39806/05, Rn. 71; vgl. auch EGMR, 06.09.2016, Alimov v. Turkey, 14344/13, Rn. 71; EGMR (GK), 26.10.2000, Kudla v. Poland, Nr. 30210/96, Rn. 94. 659  Zumindest nicht durch lebende Menschen; vgl. EGMR, 13.07.2006, Jäggi v. Switzerland, Nr. 58757/00, Rn. 41: „The right to rest in peace (…) enjoys only temporary protection“. 660  Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 126 u. 129. 655  Vgl.

244

3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Elemente, die eine besondere Verletzlichkeit hervorrufen können, sind das Alter, das Geschlecht oder der Gesundheitszustand.661 Mit der besonderen Aufmerksamkeit, die der Schutzbedürftigkeit von älteren Menschen oder Kindern gezeigt wird, gehen auch schutzbereichsverstärkende Wirkungen einher.662 Dabei zeigt sich der EGMR auch von Berichten des CPT inspiriert und differenziert seine Verletzlichkeitszuschreibungen entsprechend aus.663 Das Konzept der Verletzlichkeit ist offen und eng mit dem Schutzkonzept der Menschenwürde verknüpft. Gemäss der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist unter vulnerability einerseits eine Situation zu verstehen, die sich in einer erhöhten Gebrechlichkeit oder Schwäche manifestiert. Der Rückgriff auf das Konzept der Verletzlichkeit ermöglicht es dem Gerichtshof, die individuelle Person, ihre Erfahrungen, Lebensumstände, allfällige Unterwerfungen, Marginalisierungen und Abhängigkeiten zu würdigen.664 Daneben können aber auch fehlende Kontrolle über Eingriffe in die persönlichen Angelegenheiten, Machtungleichheit oder strukturelle Benachteiligungen eine Situation besonderer Verletzlichkeit begründen. Die Verletzlichkeit wie auch der Schutzanspruch sind insofern relativ: „it depends on all the circumstances of the case, such as the duration of the treatment, its physical or mental effects and, in some cases, the sex, age and state of health of the victim“.665 So hielt der Gerichtshof wiederholt fest, dass inhaftierte Personen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, kaum oder gar nicht in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, weshalb die Vertragsstaaten eine besonders erhöhte 661  Verletzlichkeit aufgrund hohen Alters: EGMR, 01.09.2015, Giorgini v. Italy, Nr. 20034/11, Rn. 52 u. 57 (Haft eines 77-jährigen Mannes). Verletzlichkeit aufgrund jungen Alters: EGMR, 03.06.2004, Bati and others v. Turkey, Nr. 33097/96 u. 57834/00, Rn. 122; EGMR, 01.02.2011, Yazgül Yilmaz v. Turkey, Nr. 36369/06, Rn. 42. 662  Bemerkenswert EGMR, 03.10.2017, D. M. D. v. Romania, Nr. 23022/13, Rn. 51: „In this context, the Court considers that Member States should strive to expressly and comprehensively protect children’s dignity which in turn requires in practice an adequate legal framework affording protection of children against domestic violence falling within the scope of Article 3, (…)“. 663  Foster S., The Effective Supervision of European Prison Conditions, S. 381 (387 f.). Zum systematischen Einbezug von CPT-Berichten und der Auslegungsmethodik s. 2. Teil B. II. 1. b) cc). Vgl. Ferner EGMR, 30.10.2012, E. M. v. Romania, Nr. 43994/05, Rn. 58: „[L]a Cour relève que différents instruments internationaux soulignent la vulnérabilité particulière des victimes de violence domestique et la nécessité pour les États de s’impliquer activement dans la protection de celles-ci“. 664  Die verschiedenen Verletzlichkeitsdispositionen können auch innerhalb der Haft variieren. So sind Minderjährige oder Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung verletzlicher als andere Gefangene. 665  EGMR, 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 162.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 245

Fürsorgepflicht treffe.666 Ferner verstossen gewisse Handlungsformen gegenüber Minderjährigen gegen Art. 3 EMRK, gerade weil diese minderjährig sind.667 So ist es nach dem Gerichtshof eine Würdeverletzung, einen minderjährigen Jungen während zweieinhalb Stunden in Handschellen ausharren zu lassen und ihn anschliessend drei Tage lang zusammen mit Erwachsenen in einer Haftzelle unterzubringen;668 eine solche Behandlung stufte der Gerichtshof als erniedrigend ein. In prozeduraler Hinsicht zeitigt eine Verletzlichkeitszuschreibung bemerkenswerte Auswirkungen: Wenn eine Person die Haft in gutem Gesundheitszustand antritt und die Haft mit Gesundheitsschädigungen verlässt, verschiebt sich die Beweisführungspflicht. Der allgemeine Rechtsgrundsatz affirmanti incumbit probatio wird in diesen Fällen relativiert. Vertragsstaaten müssen dann einen Exkulpationsbeweis liefern,669 bei dessen Ausbleiben der EGMR Konsequenzen zu ihren Ungunsten ziehen kann. Eine weitere Ausprägung des Konzepts der Verletzlichkeit ist die innere, subjektive Seite: So hält es der EGMR für erwiesen, dass gewisse Behandlungsformen ein überwältigendes Gefühl von Verletzlichkeit („overall sense of vulnerability“) beim Opfer hervorrufen.670 Dies ist eine Subjektivierung des sachlichen Schutzgehalts von Art. 3 EMRK, wobei sich die subjektiv empfundene Herabwürdigung an objektiven Umständen festmachen lassen 666  EGMR, 14.06.2016, Stapanian v. Romania, Nr. 60103/11, Rn. 64 u. 73; EGMR, 02.02.2016, Drăgan v. Romania, Nr. 65158/09, Rn. 91; EGMR, 16.04.2013, Aswat v. United Kingdom, Nr. 17299/12, Rn. 50: „[T]he feeling of inferiority and powerlessness which is typical of persons who suffer from a mental disorder calls for increased vigilance in reviewing whether the Convention has been (or will be) complied with“. 667  EGMR, 27.04.2017, Zherdev v. Ukraine, Nr. 34015/07, Rn. 86: „Police behaviour towards minors may be incompatible with the requirements of Article 3 of the Convention simply because they are minors, whereas it might be deemed acceptable in the case of adults. Therefore, law-enforcement officers must show greater vigilance and self-control when dealing with minors“; EGMR, 12.10.2006, Mubilanzila Mayeka and Kaniki Mitunga v. Belgium, Nr. 13178/03, Rn. 55 u. 58. 668  EGMR, 27.04.2017, Zherdev v. Ukraine, Nr. 34015/07, Rn. 93: „In making an overall assessment, the Court considers that in view of the applicant, a minor facing the criminal justice system for the first time, being left handcuffed and almost without clothes for at least two and a half hours in a state of uncertainty and vulnerability, may be considered to raise on itself an issue under Article 3 (…). Moreover, the applicant’s placement with adult detainees, which immediately followed and which was in violation of domestic law (…), must have contributed to creating in him feelings of fear, anguish, helplessness and inferiority, diminishing his dignity“ (Hervorhebung durch Autor). 669  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 87; EGMR, 27.08.1992, Tomasi v. France, Nr. 12850/87, Rn. 110. 670  EGMR (GK), 25.09.1997, Aydin v. Turkey, Nr. 23178/94, Rn. 84; EGMR, 11.07.2000, Dikme v. Turkey, Nr. 20869/92, Rn. 91–95.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

muss. Dadurch wird eine normative Dimension der Menschenwürde erkennbar, die sich in einem fundamentalen Selbstachtungsanspruch manifestiert.671 Die Würde des Häftlings zu achten, bedeutet mithin, dass der Staat Voraussetzungen zu schaffen hat, unter denen sich der inhaftierte Mensch selbst achten kann.672 Timmer hat dieses Vorgehen folgendermassen auf den Punkt gebracht: „[B]y underpinning dignity with vulnerability considerations, the Court creates a holistic picture of the sufferings of the applicant: a picture that includes contextual factors such as embodiment, location, mental state and material realities.“673 Wenn und soweit der Gerichtshof die Menschenwürde in Haftfällen wie einen Formelsatz674 bemüht, ist dies ein konkreter Gestaltungsauftrag. Diese Rechtsprechung beinhaltet aber auch die grundlegende Aussage, dass Gefangene in erster Linie und vor allem Menschen sind und als solche Achtung verdienen. Angesichts der Tatsache, dass sie in einer verletzlichen Situation sind, muss ihre Würde aktiv geschützt werden, was positive Leistungen seitens des Staates erfordern kann. Staaten haben eine „Garantenpflicht“, die Menschenwürde zu schützen.675 In diesem Sinne tangiert die Menschenwürde spezifische Konstellationen, in welchen die individuelle Würde – in den Augen der Mehrheitsgesellschaft – verletzlicher oder gefährdet(er) ist.676 Diese Würde-Rechtsprechung des Gerichtshofs ist expliziter Ausdruck der Vulnerabilität der Gefangenen, aber auch eines spezifischen Menschenbildes677, einer spezifischen Menschlichkeit678 und der daraus fliessenden hohen Anforderungen, die die Vertragsstaaten im Umgang mit Gefangenen zu erfüllen haben. Personen im Freiheitsentzug gelten generell als verletzlich.679 Die 671  Normativer Zielpunkt dieses positiven Schutzauftrages ist die Selbstachtung des Einzelnen in Haft. 672  Es ist deshalb zentral, dass Menschen die Möglichkeit haben, ein weitgehend autonom gesteuertes Leben zu führen, was ein Mindestmass an Gestaltungsfreiheit in Haft erfordert. 673  Timmer, A Quiet Revolution: Vulnerability in the European Court of Human Rights, S. 147 (166). 674  Statt vieler: EGMR (GK), 26.10.2000, Kudla v. Poland, Nr. 30210/96: „[T]he State must ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for his human dignity“; ferner EGMR, 09.09.2010, Xiros v. Greece, Nr. 1033/07, Rn. 72. 675  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 6 Rn. 15. 676  Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 226. 677  Zum Menschenbild in der EMRK s. 2. Teil A. IV. 2.; weiterführend Bergmann, Das Menschenbild in der EMRK, Baden-Baden 1995. 678  Belda, Les droits de l’homme des personnes privées de liberté, S. 27. 679  EGMR, 12.10.2005, Shamayev and others v. Georgia and Russia, Nr. 36378/02, Rn. 375: „The Court wishes to emphasise that a State is liable for all persons in de-



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 247

vom Gerichtshof festgestellte Verletzlichkeit und die Menschenwürde sind zwei Seiten derselben Medaille. Verletzlichkeitszuschreibungen sind ein Mittel des Gerichtshofs, um spezifische Eigenschaften wie das Alter, den ethnischen Hintergrund, das Geschlecht etc. zu berücksichtigen und das Verständnis für spezielle Umstände zu schärfen, in denen die Würde besonders gefährdet ist und ergo aktiven Schutz erfordert. Dadurch wird letztlich die Menschenwürde auch fortentwickelt bzw. redefiniert. Diese Grundsätze gelten auch im Polizeigewahrsam oder im Asylverfahren bzw. im Rahmen einer ausländerrechtlichen Administrativhaft.680 Nur wenn der Mensch in seiner Abhängigkeit, Schwäche, Hilflosigkeit und Risikoexposition erkannt wird, kann das Mindestmass an Menschlichkeit formuliert werden.681 Diesem Postulat und dieser effektivitätssichernden Auslegung der Konventionsgarantien muss jeder die Menschenwürde achtende Vertragsstaat gerecht werden. Der Gerichtshof hat mit dem Einbezug der Menschenwürde und dem Konzept der Verletzlichkeit zweifelsohne zu einer Schutzverstärkung und Ausdifferenzierung der Konventionsstandards beigetragen. „Verletzlichkeit“ („vulnerability“) und Menschenwürde sind insoweit ineinander verwoben, als ein gleichförmiger Standard humaner Behandlung die Partikularitäten eines Falles nicht immer in objektiver und abstrakter Weise akkurat erfassen kann. Verletzlichkeitszuschreibungen ermöglichen es dem Gerichtshof, die allen gleichermassen zustehende und unverlierbare Würde zu wahren und zu schützen. Es kann keinen glaubwürdigen Würdeschutz geben, wenn kein Verständnis für die Verletzlichkeit des Menschen vorhanden ist. Die Würdejudikatur hat überdies zu einer deutlichen Dynamisierung geführt. Denn das holistische Verständnis und die rechtsethische Ausrichtung an der konkreten Verletzlichkeit des Menschen erlauben es, durch sog.

tention, since the latter, in the hands of the State’s employees, are in a vulnerable position and the authorities are under a duty to protect them (…). However, the Court cannot ignore the potential for violence in a prison setting, nor the threat that disobedience on the part of inmates may well degenerate into bloodshed requiring the prison authorities to enlist the help of the security forces (…). Nevertheless, in respect of a person deprived of his liberty, recourse to physical force which has not been made strictly necessary by his own conduct diminishes human dignity and is in principle an infringement of the right set forth in Article 3“. 680  Vgl. EGMR (GK), 27.05.2008, N. v. United Kingdom, Nr. 2656/05, Rn. 49 ff. 681  Insofern kann von einer „Subjektivierung“ des Schutzstandards gesprochen werden, indem die Eingriffsschwelle von Art. 3 an die individuellen Verletzlichkeitsdispositionen angepasst wird. Timmer, A Quiet Revolution: Vulnerability in the European Court of Human Rights, S. 147 (166): „By underpinning dignity with vulnerability considerations, the Court creates a holistic picture of the sufferings of the applicant: a picture that includes contextual factors such as embodiment, location, mental state and material realities“.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

special clauses konkretere Würdegehalte miteinzubeziehen.682 Die „Verletzlichkeit“ wird als Mass der Empathie des Gerichtshofs eingeführt. Und Empathie ist ihrerseits ein wesentlicher Bestandteil für das Verständnis der Menschenwürdeidee.683 Als Antagonist von Apathie wirkt Empathie als zusätzlicher methodischer Faktor in der Rechtsfindung, der Menschen als Zweck an sich und nicht als Mittel zur Erreichung fremder Zwecke erachtet.684 Ohne zwischenmenschliche Einfühlungsgabe sind Konzepte wie Demütigung auch kaum bewert- und anwendbar. Klar ist, dass sich solch inneren Tatsachen nur über äusserlich wahrnehmbare Umstände konstruieren lassen. Gleichwohl nimmt der Gerichtshof die Position des Opfers ein, etwa indem er feststellt, dass „rape leaves deep psychological scars on the victim which do not respond to the passage of time as quickly as other forms of physical and mental violence“ oder dass „[t]he applicant also experienced the acute physical pain of forced penetration, which must have left her feeling debased and violated both physically and emotionally“.685 Daher bieten über Empathie vermittelte Verletzlichkeitszuschreibungen die Möglichkeit, sich der eigenen Humanität und der Individualität und spezifischen Menschlichkeit des Opfers bewusst zu werden.686 Insofern hat der EGMR ein empathiebasiertes Menschenwürdeverständnis. cc) Schutzbereichserweiterung Um eine Verletzung von Art. 3 EMRK feststellen zu können, wurde bis zur Jahrtausendwende zweierlei gefordert: objektiv erniedrigende Umstände und eine korrespondierende Erniedrigungsabsicht des Staates.687 Mittlerweile ist eine Erniedrigungsabsicht zwar noch immer ein starkes Indiz, j­edoch kein konstitutives Merkmal mehr für eine Verletzung von Art. 3 E ­ MRK.688 682  Die vorliegend wirksamen rechtsethischen Prinzipien sind ebenso „institutionelle Tatsachen“ wie positivierte Rechtsnormen: Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 12. 683  White, JLRS 2014, S. 201 (205 ff.). 684  Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 257 unter Verweis auf den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant. 685  EGMR (GK), 25.09.1997, Aydin v. Turkey, Nr. 23178/94, Rn. 83; vgl. Istanbul Protocol 2004, § 46. 686  Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 262. 687  EKMR, Entsch. v. 15.05.1980, McFeeley v. United Kingdom, Nr. 8317/78, Rn. 54. 688  EGMR, 19.04.2001, Peers v. Greece, Nr. 28524/95, Rn. 74; EGMR (GK), 16.12.1999, V. v. United Kingdom, Nr. 24888/94, Rn. 71; ein solcher Vorsatz trete vollständig in den Hintergrund: Bank, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn. 43.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 249

Um effektiveren Schutz vor Machtmissbrauch durch Vollzugs-, Sicherheits- und Polizeibeamte oder sonstige staatliche Autoritäten in Haftinstitu­ tionen zu gewährleisten, wurde eine Beweislastumkehr eingeführt, die bspw. dann zum Zug kommt, wenn eine Person gesund und unbeschadet in Gewahrsam genommen wurde und verletzt wieder entlassen wird.689 Der Staat hat eine „Garantenpflicht“, die Menschenwürde zu schützen.690 Im Einzelfall sind Verletzungen von Art. 3 EMRK auch dann nicht ausgeschlossen, wenn seitens der staatlichen Organe keine Absicht besteht, Häftlinge zu erniedrigen.691 Anhand der Rechtsprechung lässt sich feststellen, dass mit dem Einbezug der Menschenwürde in Haftsachen eine Zeitenwende eingeläutet wurde.692 Seither gehört die Würde zu den Grundpfeilern der allgemeinen Rechtsdogmatik zu Art. 3 EMRK (meist unter „general principles“). Die spezifische Formulierung des Gerichtshofs legitimiert das von ihm eingeführte Schutzkonzept, das primär auf positiven Leistungspflichten basiert. In evolutiver Auslegung693 postuliert er ein „Recht“ auf menschenwürdewahrende und -schützende Haftbedingungen.694 Dies bedeutet in materieller Hinsicht, dass die Gesundheit und das physische und mentale Wohlergehen adäquat gesichert werden müssen.695 Zudem verschafft sich der Gerichtshof mit dem 689  EGMR, 27.06.2000, Salman v. Turkey, Nr. 21986/93, Rn. 100: „Where the events in issue lie wholly, or in large part, within the exclusive knowledge of the authorities, as in the case of persons within their control in custody, strong presumption of fact will arise in respect of injuries and death occurring during such detention. Indeed, the burden of proof may be regarded as resting on the authorities to provide a satisfactory and convincing explanation“. 690  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 6 Rn. 15. 691  EGMR, 22.03.2016, Kolesnikovich v. Russia, Nr. 44694/13, Rn. 68; EGMR, 15.01.2015, Nogin v. Russia, Nr. 58530/08, Rn. 82; EGMR, 08.01.2013, Torregiani and others v. Italy, Nr. 43517/09 u. a.; EGMR, 20.12.2004, Farbtuhs v. Lithuania, Nr. 4672/02, Rn. 58; EGMR, 29.04.2003, McGlinchey v. United Kingdom, Nr. 50390/ 99, Rn. 47; EGMR, 29.04.2003, Dankevich v. Ukraine, Nr. 40679/98, Rn. 142; EGMR, 15.07.2002, Kalashnikov v. Russia, Nr. 47095/99, Rn. 101. 692  EGMR (GK), 26.10.2000, Kudla v. Poland, Nr. 30210/96; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 55. 693  2. Teil B. I. 2. a); vgl. ferner EGMR, 05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10, Rn. 125. 694  EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 14097/12 u. a., Rn. 87 („right to dignity“). Instruktiv: EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803, Rn. 101: „[The Court] takes the view that the increasingly high standard being required in the area of the protection of human rights and fundamental liberties correspondingly and inevitably requires greater firmness in assessing breaches of the fundamental values of democratic societies“ (Hervorhebung durch Autor). 695  EGMR (GK), 26.10.2000, Kudla v. Poland, Nr. 30210/96, Rn. 94: „His health and well-being are adequately secured by, among other things, providing him with the

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Rückgriff auf dieses Schutzkonzept genügend Flexibilität, um einschlägige Fälle ganzheitlich anzugehen und jeden Fall unter Berücksichtigung aller Umstände zu würdigen.696 Schliesslich sei noch angemerkt, dass sich die Frage, ob die Menschenwürde tatsächlich kausal für eine Schutzbereichserweiterung einzelner Konventionsrechte verantwortlich war, nicht empirisch beantworten lässt. Allgemein ist vor derartigen monokausal-reduktionistischen Hypothesen Abstand zu nehmen. Über die inneren Motive der Richter, die zu einer spezifischen Rechtsfortentwicklung geführt haben, lässt sich ohnehin nur spekulieren. dd) Sozialer Gehalt Im Schrifttum wird rege diskutiert, ob die Menschenwürde zu einer sozialen Erweiterung von Art. 3 EMRK geführt hat. In der Tat können Hunger, Elend, Unwissenheit und Hoffnungslosigkeit die Menschenwürde tangieren.697 Dass die Freiheitsrechte der EMRK im Grundsatz auch eine soziale Dimension enthalten, wurde vom Gerichtshof anerkannt.698 In gefestigter Rechtsprechung wird aus Art. 3 EMRK ein Anspruch auf mit der Menschenwürde vereinbare Haftbedingungen deduziert, was den Staaten positive Pflichten auferlegt. Formell ist eine solche positive Pflicht auf Art. 1 EMRK zurückführbar; die Menschenwürde liefert gleichsam die materielle Kehrseite jener Leistungspflicht. Hinter den Freiheiten der EMRK steckt implizit das Menschenwürdeprinzip, welches einerseits die Zuerkennung von Rechten fordert und zudem den Staat als Garanten dieser Rechte in die Pflicht nimmt.699 Den Signatarstaaten obliegt nicht nur die Gewährleistung der minimalen körperlichen Grundbedürfnisse der Inhaftierten, worunter u.  a. Nahrung, Kleidung und Unterkunft zu subsumieren wären.700 Vielmehr hat der Gerichtshof ein ganzes Pflichtenbündel hergeleitet, welches – dem Normalisierungsgrundsatz entsprechend – die Umstände der Inhaftierung auf das unver-

requisite medical assistance“; Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 184; 3. Teil A. III. 4. e). 696  EGMR, 15.01.2015, Nogin v. Russia, Nr. 58530/08, Rn. 85. 697  Kriele, Recht, Vernunft, Wirklichkeit, S. 220. 698  Bleckmann, FS Bernhardt, S. 309 (309). 699  Vgl. Bleckmann, FS Bernhardt, S. 309 (313), der staatliche Schutzpflichten aus der Menschenwürde herleitet. 700  Vgl. EGMR, 14.12.2006, Tarariyeva v. Russia, Nr. 67263/01, Rn. 73; EGMR, 03.04.2001, Keenan v. United Kingdom, 27229/95, Rn.  113; m. w. N. Grabenwarter/ Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 32.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 251

meidbare Mass an Härte, dass jeder Haft inhärent ist, beschränken soll.701 Konkret hat jeder Europaratsstaat in seinen Haftanstalten für angemessene Gesundheitsfürsorge,702 ein angemessenes Mass an Privatsphäre,703 hinreichende Zellengrössen,704 genügend Tageslicht,705 annehmbare hygienische Zu­stände,706 genügend Frischluft, warmes Wasser, hinreichend nahrhaftes Essen sowie Beheizung zu sorgen.707 Auch der Anspruch auf ein behindertengerechtes Haftumfeld kann aus Art. 3 EMRK hergeleitet werden. So wird etwa die menschliche Würde eines behinderten Häftlings verletzt, wenn er aufgrund einer ungeeigneten Infrastruktur die Haftzelle nicht selbständig mit dem Rollstuhl verlassen kann.708 Eine Haftanstalt, die bspw. keinen Lift und auch sonst keinerlei Einrichtungen und Infrastruktur besitzt, um den alltäglichen menschlichen Bedürfnissen Behinderter zu begegnen, verfehlt dem EGMR zufolge die Mindest­an­for­ derungen an ein zivilisiertes Leben für rollstuhlgebundene Menschen („minimal civilized measure of life’s necessities“).709 Hier nimmt der EGMR besonders dezidiert Bezug auf die menschliche Würde und verurteilt deren Missachtung mit besonderer Strenge („diminishing his human dignity“).710 Allgemein zeigt sich der Gerichtshof wenig zurückhaltend in seinen Formulierungen, wenn Betroffene wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden, und argumentiert stets auch mit zivilisatorischen Standards, die es einzuhalten gelte. Welche Massnahmen dann konkret zu ergreifen sind, liegt wie-

701  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 5: „Life in prison shall approximate as closely as possible the positive aspects of life in the community“. 702  3. Teil A. III. 4. d). 703  Vgl. 3. Teil A. III. 4. c) aa); Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 18.1: „The accommodation provided for prisoners, and in particular all sleeping accommodation, shall respect human dignity and, as far as possible, privacy, and meet the requirements of health and hygiene, due regard being paid to climatic conditions and especially to floor space, cubic content of air, lighting, heating and ventilation“. 704  3. Teil A. III. 4. c) aa). 705  3. Teil A. III. 4. c) cc). 706  3. Teil A. III. 4. c) bb). 707  3. Teil A. III. 4. c) bb)–dd); vgl. European Prison Rules 2006, § 18.1 u. 44. 708  EGMR, 24.10.2006, Vincent v. France, Nr. 6253/03, Rn. 103. 709  EGMR, 10.01.2012, Arutyunyan v. Russia, Nr. 48977/09, Rn. 78 (geh- und sehbehinderte Person, die im 4. Stock eines Gefängnisses ohne Lift untergebracht war; aufgrund ihrer Gesundheit war sie gezwungen, den Gefängnisarzt beinahe täglich im Erdgeschoss aufzusuchen (für die Hämodialyse), was nur mit Hilfe Dritter und unter grossem Schmerz beim Gehen möglich war). 710  EGMR, 10.01.2012, Arutyunyan v. Russia, Nr. 48977/09, Rn. 81.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

derum in der Einschätzungsprärogative der Vertragsstaaten, wobei der normative Gradmesser stets die Menschenwürde ist.711 Dass die Menschenwürde mit ihrer holistischen „Betrachtung“ der Eingriffssachverhalte einer sozialen Dimension den Weg öffnet, erscheint naheliegend, da die konkreten Einzelfallgegebenheiten unzählige Varianten hervorbringen und somit stets neue Aspekte der Haftrealität hinzutreten können.712 Erschwerend kommt hinzu, dass sich Häftlinge in einem „Sonderstatusverhältnis“ befinden und ihre Grundbedürfnisse nicht mehr selbständig decken können. Weil den Insassen die Möglichkeit verwehrt wird, ihre Subsistenzgüter zu erwirtschaften und zu erwerben, trifft den Staat eine Fürsorgepflicht. Da gerade in dieser Situation die Würde des Menschen a priori besonders gefährdet erscheint, erinnert der Gerichtshof die Staaten regelmässig an ihre positiven Leistungspflichten. Sie müssen deshalb eine Verwahrlosung in Haft verhindern und das Wohlergehen der Menschen gewährleisten. Dies umfasst auch die nötige medizinische Versorgung. Denn die Menschenwürde eines Häftlings kann auch dann verletzt sein, wenn die Inhaftierung zu einer lebensgefährlichen Verschlimmerung des Gesundheitszustands führt.713 Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass Art. 3 EMRK über die Menschenwürde eine soziale Komponente erfahren hat bzw. erfährt, soweit menschliche Bedürfnisse im Einklang mit den aktuellen Gesellschaftsverhältnissen durch öffentliche Leistungen gewährleistet werden müssen.714 Nicht ohne Grund hielt der Gerichtshof selbst im Kontext medizinischer Versorgungspflichten der Mitgliedstaaten fest, dass zwischen klassischen politischen Bürgerrechten und sozialen Rechten keine „wasserdichte Trennung“ bestehe, sofern sich Erstere nur durch umfassende positive Leistungspflichten des Staates erfüllen liessen.715 Schliesslich verweist der Gerichts711  EGMR, 10.01.2012, Arutyunyan v. Russia, Nr. 48977/09, Rn. 79: „While reiterating its constant jurisprudence, according to which a State has a sufficient margin of discretion in defining the manner in which it fulfils its obligation to protect the physical well-being of persons deprived of their liberty, inter alia, by choosing an appropriate facility, taking into account ‚the practical demands of imprisonment‘, as long as the standard of chosen care is ‚compatible with the human dignity‘ of a detainee“; EGMR, 22.12.2008, Aleksanyan v. Russia, Nr. 46468/06, Rn. 140; ferner EGMR, 05.04.2011, Vasyukov v. Russia, Nr. 2974/05. 712  Weiterführend Murdoch, The Treatment of Prisoners, European Standards, Strassburg 2006. In diese Richtung auch Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 258 ff. 713  EGMR, 03.05.2007, Hüseyin Yildirim v. Turkey, Nr. 2778/02, Rn. 73; vgl. Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, Rn. 1188. 714  Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 313 m. w. N. 715  Vgl. EGMR, 09.10.1979, Airey v. Ireland, Nr. 6289/73, Rn. 26; medizinische Versorgung ausserhalb eines besonderen Gewaltverhältnisses ist über Art. 3 EMRK nicht zu erhalten; vgl. insb. EGMR, 04.01.2005, Pentiacova v. Moldova, Nr. 14462/03:



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 253

hof selbst auf den sozialen, gemeinschaftsgebundenen Aspekt der Menschenwürde von Personen, die in Abhängigkeit vom Staat leben: „The Court reiterates that it has not excluded the possibility that the responsibility of the State may be engaged [under Article 3] in respect of treatment where an applicant, who was wholly dependent on State support, found herself faced with official indifference in a situation of serious deprivation or want incompatible with human dignity“.716

Im Haftkontext haben Vertragsstaaten oft versucht, finanzielle Verhältnisse als Exkulpations- oder Rechtfertigungsgrund einzubringen.717 Der EGMR akzeptiert dies nicht. In mittlerweile ständiger Rechtsprechung hält er im Sinne eines Grundsatzes fest, dass weder finanzielle noch logistische Schwierigkeiten die absolute Schutzverantwortung des Staates und die Zurechen­ barkeit staatlicher Handlungen aushebeln können.718 Die positive Pflicht, die Haftbedingungen menschenwürdig zu gestalten, bleibt bestehen.719 Auch wenn in einer Haftanstalt die medizinische Infrastruktur fehlt, kann dies als Konventionsverletzung qualifiziert werden.720 Es sei ohne Zweifel wünschenswert, dass jedermann Zugang zu einer medizinischen Behandlung erhalte, einschliesslich zu Notfallmedizin. Entscheidungen über soziale Systeme und Krankenversorgung werden aber aufgrund der Ressourcenknappheit dem politischen Entscheidprozess überlassen. Der EGMR hebt hervor, dass der ohnehin weite Ermessensspielraum noch grösser sei, wenn es um die staatliche Allokation begrenzter Ressourcen gehe. EGMR (GK), 28.10.1998, Osman v. United Kingdom, Nr. 54725/00, Rn. 116; EGMR, Entsch. v. 28.02.2002, O’Reilly and others v. Ireland, Nr. 54725/00. 716  EGMR, 21.01.2011, M. S. S. v. Belgium and Greece, Nr. 30696/09, Rn. 254; relativierend zuvor noch: EGMR, 18.01.2001, Chapman v. United Kingdom, Nr. 27238/95, Rn. 99: „It is important to recall that Article 8 does not in terms recognise a right to be provided with a home. (…) While it is clearly desirable that every human being have a place where he or she can live in dignity and which he or she can call home, there are unfortunately in the Contracting States many persons who have no home“. 717  EGMR (GK), 15.12.2016, Khlaifia and others v. Italy, Nr. 16483/12, Rn. 184; EGMR (GK), 21.01.2011, M. S. S. v. Belgium, Nr. 30696/09, Rn. 223. 718  Statt vieler EGMR, 29.04.2003, Khokhlich v. Ukraine, Nr. 41707/98, Rn. 181; EGMR, 01.06.2006, Mamedova v. Russia, Nr. 7064/05, Rn. 63. 719  Recommendation Rec (2006) 2 on the European Prison Rules, § 4; EGMR, 01.06.2006, Mamedova v. Russia, Nr. 7064/05, Rn. 63; EGMR, 15.11.2017, Grishin v. Russia, Nr. 30983/02, Rn. 90; EGMR, 29.04.2003, Poltoratskiy v. Ukraine, Nr. 38812/97, Rn. 147 f.; EGMR, 22.10.2009, Orchowski v. Poland, Nr. 17885/04, Rn. 153; EGMR, 10.01.2012, Ananyev and others v. Russia, Nr. 42525/07, Rn. 117; EGMR, 27.01.2011, Yevgeniy Alekseyenko v. Russia, Nr. 41833/04, Rn. 87. 720  EGMR (GK), 10.05.2009, Paladi v. Moldova, Nr. 39806/05, Rn. 72: Der Beschwerdeführer litt unter verschiedenen Krankheiten, die z. T. spezielle Therapien erforderten. Im Gefängnis konnten diese, wegen fehlender technischer Ausrüstung, nur unzureichend durchgeführt werden. Der EGMR sah darin eine Verletzung von Art. 3. EMRK; EGMR (GK), 27.06.2000, Ilhan v. Turkey, Nr. 22277/93, Rn. 87; EGMR,

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

IV. Sklaverei, Leibeigenschaft und Menschenhandel als Verletzungen der menschlichen Würde Nachfolgend wird untersucht, inwieweit die Menschenwürde als Argumentationsfigur in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 4 EMRK dient. In quantitativer Hinsicht gehört Art. 4 EMRK zu den weniger relevanten Konventionsgarantien. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade unter Art. 4 EMRK die Menschenwürde eine wichtige Rolle spielt. Durch das Aufkommen des Menschenhandels bzw. die internationale Sensibilisierung für dieses Phänomen, das nunmehr als Menschenrechtsproblem erachtet und bekämpft wird, ist auch Art. 4 EMRK um eine neue Schutzdimension reicher geworden und hat markant an Bedeutung zugenommen. 1. Sklaverei und Leibeigenschaft Das Verbot von Sklaverei und Leibeigenschaft (Art. 4 EMRK) ist gegenüber Art. 3 EMRK lex specialis.721 Es ist zudem in Art. 4 AEMR722 und in Art. 8 IPbpR gewährleistet. Art. 5 GRC, der sich an Art. 4 Abs. 1 und 2 EMRK anlehnt, schützt darüber hinaus explizit vor Menschenhandel.723 Art. 3 und Art. 4 EMRK sind aufgrund übereinstimmender fundamentaler Schutzzwecke als gleichwertig zu erachten.724 Das Verbot von Sklaverei und Sklavenhandel gehört heute zum zwingenden Völkerrecht (ius cogens)725.726 In seiner „Essenz“ schützt Art. 4 EMRK die Menschenwürde und Autonomie des Einzelnen sowie seine physische und psychische Integrität. Art. 4 EMRK soll vor der Aushöhlung dieser Werte infolge von Unterwerfung unter fremde Verfügungsgewalt oder bestimmte 05.03.2013, Gülay Çetin v. Turkey, Nr. 44084/10 (Krebs in fortgeschrittenem Stadium). 721  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 1. Gemäss Art. 4 EMRK sind Sklaverei, Leibeigenschaft sowie Zwangs- und Pflichtarbeit verboten. 722  Ritter, Art. 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, S. 300: Art. 4 AEMR könne ein umfassendes Verbot sowohl der klassischen Sklaverei und Leib­ eigenschaft als auch faktisch gleichwertiger Herabwürdigungen des Einzelnen entnommen werden. Historisch betrachtet orientiert sich Art. 4 EMRK an dem korrespondierenden Art. 4 der AEMR, der seinerseits das Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels in allen Formen statuiert. 723  S. Erläuterungen Charta der Grundrechte, ABl. EU 2007 Nr. C 303/18, Erläuterungen zu Art. 5. 724  Vgl. Meyer F., in: Wolter et al., SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 23; vgl. insb. EGMR, 20.06.2017, M. O. v. Switzerland, Nr. 41282/16, Rn. 89 ff. 725  Weiterfühernd zu ius cogens: Herdegen, Völkerrecht, S.  159 f. 726  Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 4 Rn. 6 m. w. N.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 255

Formen des Arbeitszwangs schützen.727 Genauso wie Art. 3 bietet auch Art. 4 EMRK vom Wortlaut her vorbehaltlosen Schutz. Art. 15 Abs. 2 EMRK gestattet nicht einmal in Zeiten des öffentlichen Notstandes eine Abweichung von Art. 4 Abs. 1 EMRK.728 Die klassische Sklaverei bzw. der klassische Sklavereibegriff bezeichnet den Zustand, dass ein Mensch als Eigentum eines anderen Menschen gilt. Die Arbeitskraft und der Körper werden dadurch gleichsam zur Ware verdinglicht. Die Sklaverei verstanden als Eigentumskonzept war früher weit verbreitet. Sie existierte bereits in den antiken Kulturen Mesopotamiens, Indiens und Chinas; von der antiken Schuldsklaverei729 bis hin zu den im mittelalterlichen islamischen Reich versklavten und gehandelten Mamluken (Kriegssklaven) zentralasiatischer oder osteuropäischer Herkunft.730 Mit der europäischen Kolonisierung Amerikas setzte bis ins 19. Jahrhundert ein reger Sklavenhandel ein, der sich vorwiegend aus dunkelhäutigen Menschen aus Afrika speiste, die nach Nord- und Südamerika als Arbeitskräfte transportiert und verschifft wurden.731 Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich ein sub­ stanzieller Widerstand gegen die Sklaverei, der im 20. Jahrhundert in der Auffassung kulminierte, dass Sklaverei ein schwerer Angriff gegen das Gleichheitsgebot und die Würde des Menschen sei.732 Dies ist ein weiterer Beleg für die Reichweite der Menschenwürde und das sich wandelnde Verständnis dafür, wem Würde und demnach auch Achtung zukommt bzw. welches Verhalten mit dem Eigenwert des Menschen (nicht) vereinbar ist.733 727  Meyer

F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 1. 26.07.2005, Siliadin v. France, Nr. 73316/01, Rn. 112 (NJW 2007, 41); EGMR, 10.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 73316/01, Rn. 283; EGMR, 11.10.2010, C. N. and V. v. France, Nr. 67724/09, Rn. 68. 729  Marauhn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 12 Rn.  1 m. w. N. 730  Weiterführend, Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei, S. 221 ff., 298 ff. 731  Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei, S. 479 ff. 732  Vgl. Frowein, Human Dignity in International Law, S. 121 (121 f.), der völkerrechtliche Quellen bemüht und belegt, dass sklavereiähnliche Problemkomplexe schon früher, konkret: 10. September 1785, völkerrechtlich angegangen wurden („they shall not be confined in (…) prison-ships“). 733  Vgl. Supplementary Convention on the Abolition of Slavery, the Slave Trade and Institutions and Practices Similar to Slavery, Preambule: „Mindful that the peoples of the United Nations reaffirmed in the Charter their faith in the dignity and worth of the human person; Considering that the Universal Declaration of Human Rights…states that no one shall be held in slavery or servitude and that slavery and the slave trade shall be prohibited in all their forms; (…) Being aware, however, that slavery, the slave trade and institutions and practices similar to slavery have not yet been eliminated in all parts of the world; Having decided, therefore, that the Convention of 1926, which remains operative, should now be augmented by the conclusion of a supplementary convention designed to intensify national as well as international 728  EGMR,

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Der Schutz vor solchen Formen der Entrechtung dürfte innerhalb des Konventionsraumes weitgehend obsolet geworden sein – zumindest soweit es um legalisierte Formen von Sklaverei oder sklavereiähnlichen Praktiken geht. Denkbar ist allerdings, dass sich der Staat direkt oder indirekt an ausbeuterischen Praktiken beteiligt, die dem Telos des Verbots der Sklaverei oder Leibeigenschaft gleichermassen zuwiderlaufen. Obwohl dem ursprünglichen Normzweck von Art. 4 EMRK heutzutage wenig Bedeutung zukommt, hat sich in jüngster Zeit ein Wandel vollzogen, der ihm zu erheblicher neuer praktischer Relevanz verholfen hat. Zunächst ist eine Schutzbereichserweiterung unter Bezugnahme auf das Prinzip der Menschenwürde zu konstatieren. Flankiert wird diese Entwicklung durch eine schrittweise Etablierung positiver Schutzstandards. Die zunehmende Ausdifferenzierung positiver Schutzpflichten der Konventionsstaaten in Bezug auf ausbeuterische Praktiken und Angriffe auf die Selbstbestimmung durch Private hat ein neues, nicht explizit in der EMRK enthaltenes Schutzkonzept auf der Basis von Art. 4 EMRK hervorgebracht: das Verbot des Menschenhandels. Primär werden hier „positive obligations“ angesprochen, um eine Pflicht zur strafrechtlichen Bewehrung, Ahndung und effektiven Untersuchung von solchen Freiheitsverletzungen durch Private zu statuieren. Gefordert sind legislative, präventive und repressive Massnahmen zur Bekämpfung des Phänomens.734 2. Menschenhandel a) Hintergrund und internationale Regelungen Der Europarat hat auf regionaler Ebene eine europäische Strategie zur Bekämpfung von Menschenhandel entwickelt. Innerhalb seines Tätigkeits­ feldes wurden diesbezüglich mehrere Empfehlungen an die Mitgliedstaaten herausgegeben.735 Diese rechtlich unverbindlichen Dokumente wurden schliesslich durch die Konvention des Europarates zur Bekämpfung des efforts towards the abolition of slavery, the slave trade and institutions and practices similar to slavery“. 734  Vgl. EGMR, 17.01.2017, J. and others v. Austria Nr. 58216/12, Rn. 106: „The Court has held that a State may be held responsible under Article 4 of the Convention not only for its direct actions, but also for its failure to effectively protect the victims of slavery, servitude, or forced labour by virtue of its positive obligations and to conduct a comprehensive investigation“; Der EGMR hat aus der allgemeinen Schutzfunktion gem. Art. 4 EMRK materielle und prozedurale Verpflichtungen zum Schutz vor Gefährdungen durch Dritte abgeleitet: EGMR, 10.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 73316/01, Rn. 287 ff. 735  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus a. Russia, Nr. 25965/04, Rn. 158.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 257

Menschenhandels aus dem Jahr 2005 ersetzt, um Defizite des „Palermo-Protokolls“ im Bereich des Opferschutzes zu beheben.736 In der EMRK wird Menschenhandel nicht explizit verboten.737 Dem Wortlaut nach verbietet Art. 4 EMRK zwar nebst der Sklaverei und Leibeigenschaft (Abs. 1)738 auch die Zwangs- oder Pflichtarbeit, nicht jedoch den Menschenhandel.739 1949 wurde unter dem Dach der VN die „Konvention zur Unterdrückung des Menschenhandels und der Ausbeutung der Prostitution anderer“740 als Resolution verabschiedet und am 21. März 1950 zur Unterzeichnung aufgelegt. In der Präambel wird ausdrücklich festgehalten, dass „der Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution mit Würde und Wert der menschlichen Person unvereinbar“ sei und nicht nur „das Wohl (…) der Gemeinschaft“, sondern ausdrücklich auch „das Wohl des Einzelnen“ gefährde.741 Die explizite Bezugnahme auf die Menschenwürde und das Wohl des Einzelnen in einem multilateralen völkerrechtlichen Vertrag war zu jenem Zeitpunkt eine Neuheit in der Bekämpfung des Phänomens auf internationaler Ebene.742 Das „Palermo-Protokoll“743 aus dem Jahre 2000 ist das erste auf die umfassende Bekämpfung und Verhütung des Menschenhandels in all seinen 736  Ritter,

Art. 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, S. 219. 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus a. Russia, Nr. 25965/04: „The Court recalls that Article 4 makes no mention of trafficking, proscribing ‚slavery‘, ‚servitude‘ and ‚forced and compulsory labour‘ “. 738  Gemäss Art. 15 EMRK ist Art. 4 Abs. 1 absolut und derogationsfest ausgestaltet. 739  Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, §  20 Rn. 98. Insoweit sich die EMRK im Allgemeinen und das Sklavereiverbot im Einzelnen an der AEMR orientierte, ist es nicht verwunderlich, dass der Normtext der EMRK das Phänomen des Menschenhandels nicht explizit anspricht: EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 277. 740  Convention for the Suppression of the Traffic in Persons and of the Explotation of the Prostitution of Others. 741  Convention for the Suppression of the Traffic in Persons and of the Exploitation of the Prostitution of Others, Preambule: „ Whereas prostitution and the accompanying evil of the traffic in persons for the purpose of prostitution are incompatible with the dignity and worth of the human person and endanger the welfare of the individual, the family and the community“. 742  Ritter, Art. 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, S. 113. Die kurz zuvor feierlich proklamierte Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948, welche ebenfalls die Menschenwürde verbürgt, ist hingegen kein völkerrechtlich bindender Vertrag, sondern als Resolution der Vollversammlung der VN als Empfehlung und Programmschrift verabschiedet worden. 743  Protocol to Prevent, Suppress and Punish Trafficking in Persons Especially Women and Children, supplementing the United Nations Convention against Transnational Organized Crime. 737  EGMR,

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Facetten ausgerichtete völkerrechtliche Abkommen. Sein Ziel ist die Verhütung, Bekämpfung und Pönalisierung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels.744 Von besonderer Bedeutung ist Art. 3 lit. a des Palermo-Protokolls, der erstmals eine völkerrechtlich verbindliche Definition des Menschenhandels statuiert. Demnach beinhaltet Menschenhandel „Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen “ durch „Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder aufgrund der Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person, mit dem Ziel der Ausbeutung“.745 Als ausbeuterische Zwecke werden die „sexuelle Ausbeutung, Zwangs­ arbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen“ erfasst.746 Die Aufzählung ist nicht abschliessend, sondern zeigt nur einige mögliche ausbeuterische Zwecke auf, die unter Art. 3 lit. a relevant sind.747 Die drei Tatelemente müssen kumulativ gegeben sein, damit der Tatbestand des Menschenhandels erfüllt ist. Da die EMRK ein living instrument748 ist und einer teleologischen Auslegung durch den EGMR bedarf, wird nachfolgend in einschlägigen Fällen der 744  Normsystematisch ist es als Zusatzprotokoll zur „United Nations Convention against Transnational Organized Crime“ aus dem Jahr 2000 ausgestaltet (nachfolgend: Palermo-Protokoll). 745  Der authentische englische Vertragstext lautet: „the recruitment, transportation, transfer, harbouring or receipt of persons, by means of threat or use of force or other forms of coercion, of abduction, of fraud, of deception, of the abuse of power or of a position of vulnerability or of the giving or receiving of payments or benefits to achieve the consent of a person having control over another person, for purpose of exploitation“ (Art. 3 lit. a S. 1 Palermo-Protokoll). Vgl. EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus a. Russia, Nr. 25965/04, Rn. 150. 746  Der authentische englische Vertragstext lautet: „Exploitation shall include, at a minimum, the explotation of the prostitution of others or other forms of sexual exploitation, forced labour or services, slavery or practices similar to slavery, servitude or the removal of organs“ (Art. 3 lit. a S. 2). Vgl. EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus a. Russia, Nr. 25965/04, Rn. 150. 747  Travaux Préparatoires zum Palermo-Protokoll, S. 333, Fn. 5; S. 339, Fn. 2; S. 344, Fn. 30. Den Vorschlägen, auch für die Begrifflichkeiten „sexuelle Ausbeutung“ und „Zwangsarbeit“ eine weite Definition ausdrücklich in den Normtext aufzunehmen wurde bei der endgültigen Fassung letztlich nicht entsprochen. Auch die Vorschläge als weitere Ausbeutungszwecke ausdrücklich „Zwangsehe“, „Zweckehe“, „häusliche Zwangsarbeit“ und „Zwangsadoption“ aufzunehmen, konntesich nicht durchsetzen. 748  2. Teil B. I. 2. a).



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 259

jeweilige systematisch-normative Kontext749 untersucht, in dem der Menschenhandel international adressiert wird. Das in diversen menschenrechtlichen Verträgen, namentlich dem „Palermo-Protokoll“ und der Europaratskonvention gegen den Menschenhandel, implementierte Aktionsprogramm ist Indiz für das wachsende Problembewusstsein der internationalen Gemeinschaft und ihren Konsens, das Phänomen des Menschenhandels mit adäquaten Mitteln bekämpfen zu wollen. b) Rechtsprechung Auch für die Bestimmung und Bemessung adäquater Schutz- und Sank­ tionsmechanismen orientiert sich der Gerichtshof an den internationalen Übereinkommen.750 Der Gerichtshof hat eine Pflicht zur strafrechtlichen Bewehrung und Ahndung von Verstössen gegen die Schutzgüter des Art. 4 EMRK durch Privatpersonen bejaht.751 Das nationale Recht muss Handlungen, die gegen Art. 4 verstossen, konventionskonform als rechtswidrig qualifizieren.752 Bei Menschenhandel prüft der Gerichtshof, ob die nationalen Normen mit dem Palermo-Protokoll und der Europaratskonvention zum Menschenhandel konform sind.753 Verstösse macht er über Art. 4 per Individualbeschwerde einklagbar. Allerdings sieht er keine Pflicht, eine universelle Jurisdiktion für Menschenhandel zu begründen.754 Darüber hinaus hat er auch die Verpflichtung zur Durchführung einer effektiven Untersuchung nach behaupteten Verstössen auf Art. 4 EMRK gestützt.755 Eine Verletzung von Art. 4 erfolgt mithin regelmässig in Gestalt der Nichterfüllung positiver Schutzpflichten. 749  Zum

systematische Kontext: 2. Teil B. I. 1. und 2. a) aa). 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 283 ff. 751  EGMR, 26.07.2005, Siliadin v. France, Nr. 73316/01, Rn. 77 ff.; EGMR, 10.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 283 ff.; EGMR, 11.10.2012, C. N. and V. v. France, Nr. 67724/09, Rn. 105 ff. 752  Cullen, HRLR 2006, S. 585 (592); Pati, NJW 2011, S. 128 (131); Ritter, Art. 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, S. 60; unter Umständen neue Straftatbestände schaffen: Zum Menschenhandel EGMR, 21.01.2016, L.E. v. Greece, Nr. 71545/12; EGMR, 10.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 283 f.; zur Leibeigenschaft: EGMR, 26.07.2005, Siliadin v. France, Nr. 73316/01, Rn. 130; EGMR, 11.10.2012, C. N. and V. v. France, Nr. 67724/09, Rn. 105 ff. 753  EGMR, 21.01.2016, L. E. v. Greece, Nr. 71545/12. 754  EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 118. Das Europaratsübereinkommen verlange lediglich, dass die Staaten das Territorialitätsprinzip sowie das aktive und passive Personalitätsprinzip umsetzen. 755  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 288; EGMR, 11.10.2012, C. N. and V. v. France, Nr. 67724/09, Rn. 109 ff. 750  EGMR,

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

In mittlerweile konstanter Rechtsprechung geht der Gerichtshof von vier Verpflichtungsdimensionen aus: (1) Bereitstellung eines adäquaten legislativen und administrativen Rahmens, der geeignet ist, Menschenhandel zu verhindern, die Opfer zu schützen und Täter zu sanktionieren (legislative Dimension);756 (2) Treffen von operativen Massnahmen, sobald der Staat von einer Menschenhandelssituation Kenntnis hat (oder haben müsste), um potenzielle Opfer zu retten (operative Dimension);757 (3) rasches Aufnehmen von Ermittlungen, die geeignet sind, die Täter zu identifizieren und zur Verantwortung zu ziehen (prozedurale Dimension), sowie (4) internationale Kooperation (transnationale Dimension).758 Bei der Strafverfolgung ist mit anderen möglicherweise betroffenen Staaten zusammenzuarbeiten.759 Art. 4 begründet eine prozedurale Verpflichtung zur wirksamen grenzüberschreitenden Kooperation; diese gilt auch für Nicht-Tatortstaaten, insbesondere Herkunft- und Transitstaaten, als Ausfluss ihrer materiellen Grundrechtsbindung.760 In der Rechtssache L. E.761 hat es insgesamt neun Monate gedauert, bis die Staatsanwaltschaft formell die Eigenschaft der Beschwerdeführerin als Menschenhandelsopfer anerkannt hat, obwohl die entsprechenden Tatsachen 756  Ordnungswidrigkeitenrechtliche Tatbestände genügen nicht: Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 4 Rn. 11; EGMR, 11.10.2012, C. N. and V. v. France, Nr. 67724/09; EGMR, 03.09.2013, Kawogo v. United Kingdom, Nr. 56921/09. 757  Hierzu gehören u. a. verwaltungsrechtliche Regelungen zur Verifizierung des Opferstatus, die Suspendierung ausländerrechtlicher Verfahren und ein vorläufiges Bleiberecht während der Abklärung und zur Ermöglichung einer effektiven Verfolgung der Täter oder die Ausgestaltung von Einwanderungsgesetzen, um dem Missbrauch von Visa und der Vortäuschung von Berufstätigkeiten vorzubeugen, die als Deckmantel für Menschenhandel fungieren; EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 284: Behörden ignorierten den Missbrauch sog. „Artisten-Visa“ zwecks Ausbeutung der entsprechenden Personen als Prostituierte. 758  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 287 ff. Die vom Gerichtshof im Urteil Rantsev formulierte Pflicht der Vertragsstaaten zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit beinhaltet damit insbesondere Informationsund Kommunikationspflichten zwischen den verschiedenen beteiligten Staaten bzgl. strafrechtlicher Ermittlungen und Verfahrensabläufe; Ritter, Art. 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, S. 72. 759  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 288 betr. einen Fall von Menschenhandel, bei dem die Tochter des Bf. unter Umständen zu Tode kam, die einen Verdacht auf Mord im Zuhältermilieu geradezu aufzwangen; unter Verweis auf EGMR, P. and A. Edwards v. United Kingdom, Nr. 46477/99, Rn. 69; EGMR, 27.06.2005, Siliadin v. France, Nr. 73316/01, Rn. 89, 112. 760  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 288 (NJW 2010, 3003); Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 103. 761  EGMR, 21.01.2016, L. E. v. Greece, Nr. 71545/12.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 261

schon seit langem (auch durch Zeugenaussagen) bekannt waren. Die lange Dauer kann laut EGMR nicht als zumutbar erachtet werden, zumal dieses Versäumnis (potenziell) negative Folgen für die persönliche Situation der Beschwerdeführerin hatte, so etwa eine verspätete Entlassung aus der Haft.762 Zudem wurde die prozedurale Pflicht verletzt, indem das Dossier schlecht (lückenhaft) geführt wurde und erhebliche bzw. nicht erklärbare Verfahrensverzögerungen auftraten. Insgesamt stellte der Gerichtshof eine Verletzung der operativen und prozeduralen Pflicht fest. Die Schutzpflichten von Art. 4 EMRK stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind aus Sicht des Gerichtshofs als Teilelemente eines globalen Ansatzes zu verstehen, der präventive Massnahmen, Opferschutzmassnahmen und Strafverfolgungsmassnahmen umfasst.763 Am stärksten orientiert sich der EGMR bei den positiven Verpflichtungen an der Europaratskonvention gegen Menschenhandel und ihrer Interpretation durch GRETA; diese dienen ihm als normative Orientierungspunkte und Rechts­ erkenntnisquellen.764 Die Konventionsstaaten haben auch für adäquate Ausbildung des für Grenzschutz und Grenzkontrollen zuständigen Personals zu sorgen.765 Im 21.01.2016, L. E. v. Greece, Nr. 71545/12, Rn. 77. F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 25 ff.; EGMR, 21.01.2016, L. E. v. Greece, Nr. 71545/12, Rn. 65; EGMR, 26.07.2005, Siliadin v. France, Nr. 73316/01, Rn. 112; vgl. eingehend dazu Ritter, Art. 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, S. 35, 44 u. 63, die von einem „Pflichtenbündel“ bzw. einem „umfassenden Pflichtenkanon“ spricht. Für den Menschenhandel firmiert dieser Ansatz leicht abweichend unter der Chiffre „3P“, vgl. Art. 2 Palermo-Protokoll: Prevent (Vorbeugung und Bekämpfung von Menschenhandel), Protect (Schutz der Opfer), Promote (Förderung der Zusammenarbeit zwischen Staaten); Obokata, Human Trafficking, S. 171 (175). 764  EGMR, 30.03.2017 Chowdury v. Greece, Nr. 21884/15, Rn. 104; vgl. zu Auslegung und Rechtserkenntnisquellen: 2. Teil B. I. u. II. 765  Vgl. Art. 10 Abs. 1 Palermo-Protokoll: „Law enforcement, immigration or other relevant authorities of States Parties shall, as appropriate, cooperate with one another by exchanging information, in accordance with their domestic law, to enable them to determine: (a) Whether individuals crossing or attempting to cross an international border with travel documents belonging to other persons or without travel documents are perpetrators or victims of trafficking in persons; (b) The types of travel document that individuals have used or attempted to use to cross an international border for the purpose of trafficking in persons; and (c) The means and methods used by organized criminal groups for the purpose of trafficking in persons, including the recruitment and transportation of victims, routes and links between and among individuals and groups engaged in such rafficking, and possible measures for detecting them“; Abs. 2: „States Parties shall provide or strengthen training for law enforcement, immigration and other relevant officials in the prevention of trafficking in persons. The training should focus on methods used in preventing such trafficking, prosecuting the traffickers and protecting the rights of the victims, including protect762  EGMR, 763  Meyer

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Urteil zum Fall J. and others766 ging es um drei philippinische Frauen, die als Haushälterinnen und Kindermädchen für eine Familie in Dubai gearbeitet hatten. Sie gaben an, dass ihre Arbeitgeber ihnen die Reisepässe entzogen und sie zudem ausgebeutet hatten. Insbesondere seien sie gezwungen gewesen, übermässig viele Stunden täglich zu arbeiten, hätten nicht den vereinbarten Lohn erhalten und seien physisch und psychisch misshandelt und bedroht worden.767 Im Juni 2010 wurden sie von ihren Arbeitgebern für eine Ferienreise nach Wien mitgenommen. Auch während dieses Aufenthalts hätten die Arbeitgeber ihre Reisepässe einbehalten und sie von frühmorgens bis nach Mitternacht oder sogar noch länger auf die Kinder aufpassen und verschiedene Haushaltsarbeiten ausführen lassen. Nach einer Auseinandersetzung flohen die drei mit der Hilfe einer Hotelangestellten. Sie wurden von einer NGO bei der Einreichung der Strafanzeige (etwa neun Monate später) unterstützt. In der Folge wurden sie von spezialisierten Polizeibeamten befragt und machten detaillierte Angaben zu den Ereignissen und ihrer Behandlung durch die Arbeitgeber. Basierend auf den Polizeirapporten eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren wegen Menschenhandels. Nach fünf Monaten wurde dieses jedoch eingestellt, da Österreich keine Jurisdiktion in diesem Fall hatte (mutmassliche Straftaten fanden hauptsächlich in Dubai statt und die Täter waren nicht österreichische Staatsbürger). Der Einstellungsentscheid wurde von einem Gericht bestätigt. In der Folge erhielten die drei eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung für Menschenhandelsopfer. Der Gerichtshof stellt etwas summarisch fest, dass die Ereignisse eindeutig unter Art. 4 EMRK fallen.768 Dann prüfte er, ob Österreich seiner Pflicht, die Beschwerdeführerinnen als potenzielle Opfer von Menschenhandel zu identifizieren und zu unterstützen, nachgekommen war.769 Hierbei wurde erkannt, dass die Behörden die Aussagen der Opfer als glaubhaft erachteten. Sie wurden ohne Verzögerung als potenzielle Opfer von Menschenhandel behandelt ing the victims from the traffickers. The training should also take into account the need to consider human rights and child- and gender-sensitive issues and it should encourage cooperation with non-governmental organizations, other relevant organizations and other elements of civil society“. Art. 11 Abs. 1 Palermo-Protokoll: „Without prejudice to international commitments in relation to the free movement of people, States Parties shall strengthen, to the extent possible, such border controls as may be necessary to prevent and detect trafficking in persons“. 766  EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12. 767  EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 7 ff. 768  EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 108. 769  EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 109: „The Court considers that the instant case essentially raises two questions: whether the Austrian authorities complied with their positive obligation to identify and support the applicants as (potential) victims of human trafficking, and whether they fulfilled their positive obligation to investigate the alleged crimes“.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 263

und von speziell ausgebildeten Polizeibeamten befragt, ihr Aufenthalt wurde legalisiert und ihre persönlichen Daten geheim gehalten, sodass sie für die Öffentlichkeit nicht auffindbar waren. Beide Beschwerdeführerinnen wurden während des Verfahrens von der spezialisierten und staatlich finanzierten NGO „LEFÖ“ betreut und unterstützt, erhielten rechtlichen Beistand, Verfahrensberatung und Integrationsunterstützung.770 Um den Vorgaben von Art. 4 EMRK zu genügen, sei ausschlaggebend, dass die Vorbringen insgesamt ernst genommen würden und der einschlägige rechtliche Rahmen zur Anwendung komme. Der vorhandene Rechtsrahmen wurde als genügend erachtet. Zudem hatte Österreich alles getan, was vernünftigerweise getan werden konnte. Jüngst hatte es der EGMR in Chowdury771 mit Menschenhandel zum Zwecke der Arbeitsausbeutung in Griechenland zu tun. Die Beschwerdeführer hatten für ihre Arbeit keine Entlohnung bekommen; die Arbeitgeber gaben ihnen zu verstehen, dass der Lohn nur ausbezahlt werde, wenn sie weiterarbeiteten. Dazu kam, dass die Arbeits- und Unterbringungsbedingungen besonders hart waren und sie ohne Arbeitsbewilligung beschäftigt wurden. Der Gerichtshof hielt fest, dass die Beschwerdeführer mangels Aufenthaltsbewilligung besonders verletzlich772 und schutzlos waren. In solchen Situationen ist die Menschenwürde besonders gefährdet. Insgesamt liessen die Tatsachen auf das Vorliegen von Menschenhandel sowie Zwangsarbeit schliessen.773 Mit Blick auf die operative Pflicht hielt der Gerichtshof fest, dass die Zustände auf den Erdbeerfarmen in Manolada den Behörden schon länger bekannt gewesen waren. Trotz mehrfacher Inspektionen kam es jedoch nicht zu einer Verbesserung. Insbesondere hätten die Behörden nur punktuell reagiert. Im konkreten Fall hatten sich zudem mehrere der Arbeiter bereits vor den Streiks bei der Polizei über die fehlende Lohnzahlung beschwert, ohne dass sich etwas geändert hätte. Der Gerichtshof kam zum Schluss, dass die operativen Massnahmen nicht ausreichend waren, um Menschenhandel vorzubeugen und die Beschwerdeführer zu schützen. Auch in der prozeduralen Dimension kam der EGMR zu einem negativen Verdikt, da die Staatsanwaltschaft ihren Einstellungsentscheid auf irrelevante Kriterien gestützt habe. So habe sie bspw. zur Begründung angeführt, dass einzelne Beschwerdeführer nicht hospitalisiert wurden und erst nach drei Wochen die Polizei aufgesucht hätten, und dies erst, nachdem sie erfahren hätten, dass sie als Menschenhandelsopfer eine Aufenthaltsbewilligung erhalten würden. Der EGMR wertete 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 110. 30.03.2017 Chowdury v. Greece, Nr. 21884/15. 772  Vgl. Verletzlichkeit von Häftlingen 3. Teil A. III. 4. e) bb). 773  EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 100. 770  EGMR, 771  EGMR,

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

dieses Vorgehen als Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK.774 Damit bringt der EGMR deutlich zum Ausdruck, dass er den Opfern Subjektstellung zuerkennen will, indem er ihnen eine echte Bedenkfrist einräumt, sodass sie eine – den Umständen entsprechende – autonome Entscheidung hinsichtlich des weiteren Verfahrensganges treffen können. Eine weitere Verletzung des materiellen Aspekts besteht im Unterlassen von Vorkehrungen zur Verhinderung verbotener Akte durch Private; zu denken wäre u. a. an arbeitsrechtliche Vorschriften zur Regulierung des Arbeitsmarkts, um Anreizsituationen für Arbeitgeber zur Ausbeutung von Arbeitskräften zu unterbinden, zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und zur Regelung des Prostitutionsgewerbes. Der Staat muss auch der Selbstversklavung entgegenwirken und verhindern, dass Menschen sich ihrer Selbstbestimmungs­ fähigkeit entäussern. Dies ergibt sich daraus, dass der eigene Menschenwürdeschutz ein unverzichtbares Recht ist.775 Der Opferstatus setzt keine offizielle Feststellung voraus, dass ein ent­ sprechendes Delikt begangen wurde, und ist deshalb auch unabhängig von der behördlichen Untersuchungspflicht zu prüfen. Damit der Opferschutz nicht ins Leere läuft, brauchen potenzielle Opfer von Menschenhandel aus ­EGMR-Sicht bereits dann spezialisierte Hilfe, wenn noch nicht festgestellt wurde, ob eine Straftat begangen wurde.776 Dass der EGMR den Opferschutz vom Strafverfahren trennt, kann als wesentlicher Ausfluss des menschenrechtlichen Ansatzes im Kampf gegen Menschenhandel erachtet werden.777 Der EGMR verlangt daher, dass die Vertragsstaaten bei hinreichenden Verdachtsmomenten Vorkehrungen für proaktive Abklärungen des Opferstatus treffen.778 Hierfür muss bereits die potenzielle Erkennbarkeit (dass

774  Vgl. EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 104; demnach loziert er Menschenhandel in diesem Fall bei Zwangsarbeit unter Art. 4 Abs. 2 EMRK. Ferner wurde konstatiert, dass der Tatbestand des Menschenhandels zu eng ausgelegt worden sei, weshalb die Beschuldigten zu Unrecht freigesprochen und zudem zu sehr niedrigen Strafen verurteilt worden seien (43 Euro pro Person). Verletzung des prozeduralen Aspekts von Art. 4 Abs. 2. Immerhin hat der EGMR Art. 4 so ausgelegt, dass dieser nicht im Widerspruch zu der Idee einer Erholungsund Bedenkzeit steht. 775  Es muss zudem ein effektives zivilrechtliches Instrumentarium geschaffen werden, damit Grundrechtsträger ihre Rechte auch gegen Private durchsetzen können. 776  EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 115. 777  EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 107: „an obligation concerning the means to be employed and not the results to be achieved“. Vgl. EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 109: „(…) positive obligation to identify and support the applicants as (potential) victims of human trafficking“. Vgl. Artt. 10 u. 12 Palermo-Protokoll. 778  EGMR, 21.01.2016, L. E. v. Greece, Nr. 71545/12.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 265

also die betroffene Person möglicherweise Opfer von Menschenhandel geworden ist) genügen.779 c) Wirkung und Funktion der Menschenwürde Essentiell für das Verständnis von Art. 4 EMRK ist dessen Normzweck und Grundrechtskern; dieser liegt im Verbot der Ausbeutung eines Menschen.780 Normative Erkenntnisse hierzu vermittelt die europäische Grundrechte-Charta: Die systematische Stellung des unionsrechtlichen Menschenhandelsverbots unter dem Titel I „Die Würde des Menschen“, weist auf dessen Charakter als Fundamentalnorm und auf das Wechselwirkungsverhältnis zwischen Menschenhandelsverbot und Menschenwürde hin, aus dem sich ein teleologisches Erweiterungspotenzial ergibt.781 In qualitativer Hinsicht bedroht Menschenhandel grundlegende Momente menschlicher Freiheit. Insbesondere wird die Verfügungsfreiheit über die eigenen Belange beschränkt, was herabwürdigend ist.782 Durch die Verselbständigung des Tatbestands Menschenhandel hat der EGMR eine Erweiterung des Schutzbereichs über die Wortlautgrenze hinaus vorgenommen,783 die er durch einen international law approach und die Menschenwürdegarantie legitimiert. Der Normzweck erlaubt es, den klassischen Sklavereitatbestand auf sub­ stanziell gleichwertige Erscheinungsformen von Freiheitsverkürzungen, die den Menschenwürdekern treffen, auszudehnen. Dem Normtypus entsprechend muss es sich um physische, psychische, institutionelle oder strukturelle Gewalt zum Zwecke der Ausbeutung handeln.784 Soweit sich Verhaltensweisen durch „selbstbestimmungsfeindliche, die Menschenwürde negierende Gewaltverhältnisse über Menschen“ auszeichnen, lässt sich eine sachliche Anknüpfung an Art. 4 EMRK (und nicht an Art. 3 EMRK) begründen.785 779  EGMR, 13.11.2012, C. N. United Kingdom, Nr. 4239/08, Rn. 68: „not impose an impossible or disproportionate burden on the authorities“; Lindner, ZAR 2010, S. 137 (143). 780  Allain, HRLR 2010, S. 546 (551). Das Konzept der „Ausbeutung“ als solches wird weder völkerrechtlich noch konventionsrechtlich definiert und führt aufgrund seiner Vagheit zu Auslegungsschwierigkeiten; vgl. zum EU-Recht Bosma/Rijken, NJECL 2016, S. 315 (320). 781  Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 5. 782  I. S. einer minimalen (moralischen) Freiheitssphäre. 783  Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 269. 784  So Marauhn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 12 Rn. 1. 785  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 13.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Im Wege teleologisch-extensiver Auslegung erweitert der EGMR Art. 4 Abs.1 daher um die eigenständige Schutzkategorie des Menschenhandels.786 Dadurch schafft er den Anschluss an völkerrechtliche Entwicklungen im Bereich der Bekämpfung des Menschenhandels als besonderer Form der modernen Sklaverei und schliesst eine echte Schutzlücke.787 Schliesslich enthält auch schon Art. 4 AEMR die grundsätzliche und umfassende Aussage, dass sowohl die klassische Sklaverei und Leibeigenschaft als auch eine faktisch (und normativ) vergleichbare Herabwürdigung eines Einzelnen zum blossen Handelsobjekt oder zur Ware verboten sein sollen. Der Menschenhandel ist ein gegenüber den von Art. 4 EMRK aufgelisteten Verletzungsformen wertungsgleicher Verstoss gegen die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen in Form der Negation grundlegender menschlicher Freiheitsrechte.788 Kontrolle, Zwang, Gewalt und Bedrohung können faktische Macht über eine andere Person ausüben, die in ihren Auswirkungen totaler physischer und rechtlicher Verfügungsgewalt gleichkommen können. Laut Meyer F. sind eine Reihe von Faktoren wie „Kontrolle der Bewegungsfreiheit, Kontrolle der räumlichen Umgebung, psychologische Kontrolle, Druckausübung, Vorkehrung zur Fluchtverhinderung (Passwegnahme), Kontrolle der Sexualität, Zwangsarbeit, körperlicher Missbrauch, Dauer der Abhängigkeit u. a.“ ausschlaggebend.789 Die Öffnung für psychische Zwänge, Ausbeutung und personenspezifische Verletzlichkeiten schafft grossen Präzisierungsbedarf und betrifft letztlich

786  Marauhn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 12 Rn. 4; Behnsen, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Art. 4 Rn. 7; EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 73316/01, Rn. 283; Meyer F., Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen, S. 268 ff.; vgl. auch Pati, NJW 2011, S. 128 (129); gänzlich frei von Unklarheiten hinsichtlich des Eigentumskonzepts der Sklaverei ist das Leiturteil freilich nicht; vgl. Allain, HRLR 2010, S. 546 (553). 787  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 73316/01, Rn. 277; zuvor bereits EGMR, 26.07.2005, Siliadin v. France, Nr. 73316/01, Rn. 121: „Sight should not be lost of the Convention’s special features or of the fact that it is a living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions, and that the increasingly high standard being required in the area of the protection of human rights and fundamental liberties correspondingly and inevitably requires greater firmness in assessing breaches of the fundamental values of democratic societies“. Die diskutierten Fälle haben gezeigt, dass der Gerichtshof „die positive Schutzpflichtdimension von Art. 4 EMRK als menschenrechtlichen Transmissionsriemen [nutzt], um die multiplen völkervertraglichen Pflichten zum Vorgehen gegen Menschenhandel auch menschenrechtlich verpflichtend und (per Individualbeschwerde) durchsetzbar zu machen“: so Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 17. 788  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 282; bestätigt in EGMR, 30.03.2017, Chowdury v. Greece, Nr. 21884/15, Rn. 93. 789  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 18.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 267

auch die Frage nach der Eingriffsschwelle.790 Ob der Prüfungsmassstab rein subjektiv oder auch objektiv anzusetzen ist, ist unklar. Klar ist dagegen, dass die Schwelle zum Zwang herabgesetzt wurde. Dies erscheint zwar menschenrechtlich wünschenswert, dürfte aber zu Anwendungsunsicherheit führen.791 Erschwerend kommt hinzu, dass der Gerichtshof bisher nicht festgelegt hat, ab wann man von vollendetem Menschenhandel sprechen kann bzw. „wann die konstitutiven Elemente dieses Rechtsbegriffs als erfüllt zu erachten sind“.792 Beim Menschenhandel steht klar der Aspekt der Ausbeutung im Zentrum, der regelmässig nach Grenzübertritt bzw. Ortswechsel einsetzt,793 auch der erzwungene oder auch nur provozierte Ortswechsel, etwa durch Lockvogel-Taktik, herbeigeführter Ortswechsel der Person zum Zwecke der Ausbeutung,794 könnten als Vollendungszeitpunkt erachtet werden. Die verschiedenen möglichen Einzelfallvariationen lassen jedoch erhebliches Konfliktpotenzial aufkommen. Sklaverei und Leibeigenschaft, einschliesslich sklavereiähnlicher Zwangsbindungen, sind mit der Menschenwürde und der durch sie verbürgten fundamentalen Gleichheit aller Menschen schlechthin nicht vereinbar.795 Das Konzept der „Ausbeutung“ deutet auf den Kern der Objektformel, das In­ strumentalisierungsverbot, hin. Allerdings – und dies ist entscheidend – gilt dies nicht nur im Verhältnis zwischen Bürger und Staat, sondern auch im Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger untereinander, weshalb der Staat auch verpflichtet ist, solche Formen der Ausbeutung abzuwehren. Der Gerichtshof hat in einer Serie von Entscheiden einen kompakten Katalog von materiellen und prozessualen Handlungspflichten entwickelt, denen die Konventionsstaaten in Bezug auf die Gestaltung der innerstaatlichen Rechtslage und die Reaktion ihrer Behörden auf konkrete Verdachtsfälle ge-

790  In diesem Zusammenhang interessant: The Concept of Exploitation in the Trafficking in Persons Protocol, United Nations, Vienna 2015. 791  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 20. 792  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 20. 793  So Zimmermann S., Die Strafbarkeit des Menschenhandels im Lichte internationaler und europarechtlicher Rechtsakte, S. 28 m. w. N. 794  Vgl. Obokata, Evolution of the EU action against trafficking of human beings, S. 422 (425). 795  Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 4 Rn. 8. Eine Begriffserweiterung der Sklaverei findet nicht statt. Moderne Formen der Sklaverei werden zumeist durch den Begriff der Leibeigenschaft erfasst. Der EGMR hat im Wege der evolutiven Auslegung eine eigene Schutzkategorie des Menschenhandels in Art. 4 EMRK gebildet. Mittels teleologisch-extensiver Auslegung hat der EGMR Art. 4 dergestalt erweitert, dass auch der Menschenhandel darunter zu subsumieren ist: vgl. Marauhn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 12 Rn. 4; Behnsen, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Art. 4 Rn. 7.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

nügen müssen. Menschenhandel ist eine grosse Bedrohung für die Würde und die Grundfreiheiten des Menschen: „[T]rafficking threatens the human dignity and fundamental freedoms of its victims“.796

Dieses Phänomen ist mit einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft unvereinbar. Menschenhandel – verstanden i. S. d. Definition des Palermo-Protokolls und der Konvention des Europarats gegen Menschenhandel – wird aufgrund der Menschenwürderelevanz durch die EMRK erfasst und geächtet.797 Insoweit hat die Menschenwürde als Begründungsreservoir zur Fortentwicklung bzw. Schöpfung eines Schutzkonzeptes beigetragen, wenngleich sich der EGMR die normative Orientierung für diesen „jurisgenerativen Vorgang“798 – gestützt auf völkervertragliche Interpretationsregeln799 – auch aus den zwischen den Mitgliedstaaten anwendbaren einschlägigen Regelungen des internationalen Rechts geholt hat.800 Genau ein solcher fundamentaler internationaler Rechtswert europäisch-demokratischer Gesellschaften ist in den Art. 2, 3 und 4 EMRK verbürgt: die Menschenwürde.801

V. Fairness im Strafverfahren als Gebot der Menschenwürde? 1. Menschenwürde und Fairness Das Verbot der Selbstjustiz findet seinen Ausgangs- und Endpunkt in einem justizförmigen, fairen und letztlich Rechtsfrieden und Gerechtigkeit anstrebenden Konfliktentscheidungsmechanismus.802 Gerade im Strafprozess796  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 282; EGMR, 17.01.2017, J. and others. v. Austria, Nr. 58216/12, Rn. 104: „trafficking in human beings was in itself an affront to human dignity“. 797  Diesen Ansatz befürwortend Pati, NJW 2011, S. 128 (130); ferner Lindner, ZAR 2010, S. 137 (142). 798  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 4 Rn. 18. 799  EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04, Rn. 283. 800  Indem der Gerichtshof den Schutzbereich – innerhalb des Wortsinnes – erweitert, schöpft er nicht neue Rechte, sondern er legt die Konvention als living instrument aus: Letsas, The ECHR as a Living Instrument, S. 106 (140): „The Court cannot deny protection in a newly developed problem, if its existing principles are applicable. By ‚expanding the scope of the Convention rights‘, the Court simply applies existing law“. 801  Vgl. EGMR, 26.07.2005, Siliadin v. France, Nr. 73316/01, Rn. 82; vgl. Ritter, Art. 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, S. 62. 802  Eine eigentliche Limitierung der nationalstaatlichen Strafgewalt wird durch diese Garantie nicht bewirkt: Meyer F., in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 4; lediglich wenn eine Strafvorschrift den Kern einer Mindestgarantie aus-



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 269

recht ist die EMRK Garantin einer europäischen Grundrechtskultur.803 Gegenstand eines (europäischen) Strafverfahrens ist – abstrakt formuliert – der Versuch der Feststellung der materiellen Wahrheit in Bezug auf eine strafrechtliche Verfehlung unter Wahrung von Fairnessregeln,804 die es erlauben, einen Einzelnen individuell, unter Feststellung seiner Schuld, zu sanktionieren. Der staatliche Vorwurf der Straftat, ihre Feststellung und die Strafe berühren die Stellung des Individuums in einer denkbar erheblichen Weise. Denn mit dem Schuldspruch und der strafrechtlichen Sanktion erhebt der Staat seine schärfste Waffe zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Der auf Sicherung einer freiheitlich demokratischen Grundordnung ausgerichtete Staat knüpft an die Verantwortungsfähigkeit des Menschen an; die Subjektstellung aktualisiert sich in Form der Bestrafung des Subjekts, dem Täter, durch den Staat. Der Gerichtshof hat die staatliche Bestrafung durch einen in der Konvention angelegten Schuldgrundsatz menschenrechtlich legitimiert.805 Der Täter hat Subjektstellung und wird durch die Strafe angesprochen; über seine Tat wird ein sozialethisches Unwerturteil806 verhängt, Vergeltung und Sühne angestrebt und damit ein gesellschaftlicher (individual- oder generalpräventiver) Zweck verfolgt. Überragendes menschen-

höhlt, begrenzt Art. 6 auch die Kriminalisierungsbefugnis der nationalen Legislative. Fairness ist letztlich Voraussetzung eines gerechten Verfahrens; vgl. Renzikowski, Fair trial als Waffengleichheit, S. 97 (107); vgl. zur Gerechtigkeit als Teilausschnitt der Fairness: Hies, Das fair-trial-Prinzip, S. 21. 803  Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 817. 804  Weiterführend zum Recht auf Teilhabe als Element der Fairness: Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 158 ff. 805  EGMR, 27.05.2003, Skalka v. Poland, Nr. 43425/98, Rn. 41: „there are common standards which this Court has to ensure with the principle of proportionality. These standards are the gravity of the guilt, the seriousness of the offence and the repetition of the alleged offences“ (Hervorhebung durch Autor). 806  Vgl. den vom Gerichtshof akzeptierten „inevitable level of suffering“, der jeder Strafe gleichsam inhärent erscheint: EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 30; EGMR, 25.03.1993, Costello-Roberts v. United Kingdom, Nr. 13134/87, Rn. 30. Eine persönlich empfundene Entwürdigung ist nicht zwingend gleichzusetzen mit einer Menschenwürdeverletzung i. S. der EMRK. Vgl. in diesem Zusammenhang die Bezugnahme des EGMR auf soziales Stigma (zur Abgrenzung des Kernstrafrechts vom Verwaltungsstrafrecht: EGMR (Pl), 25.08.1987, Lutz v. Germany, Nr. 9912/82, Rn. 57 („stigma of a penalty“); EGMR (GK), 23.11.2006, Jussila v. Finland, Nr. 73053/01, Rn. 43 („allocation of criminal responsibility and the imposition of a punitive and deterrent sanction“); ebd., dissenting opinion of Judge Loucaides („criminal responsibility with the consequent stigma“); vgl. EGMR (Pl), 21.02.1984, Öztürk v. Germany, Nr. 8544/79, dissenting opinion of Judge Liesch Rn. 8, 12.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

rechtliches Vollzugsziel ist schliesslich, wie oben bereits erörtert, die Resozialisierung.807 Vor dem Hintergrund dieses erheblichen Eingriffs in die persönliche Rechtssphäre einer betroffenen Person ist die Fundamentalität zu verstehen, die dem Schutzanspruch von Art. 6 EMRK, der ein faires Strafverfahren garantieren soll, eigen ist.808 Das die Strafe mitbegründende Verfahren muss den Tatverdächtigen als Prozesssubjekt einbeziehen, so wie die Strafe den Täter weiter in einem Rechtsrahmen treffen muss, wenn sie nicht Rache, sondern staatliche, menschenrechtskonforme Ahndung sein will.809 Jede Person hat deshalb ein Recht darauf, dass eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Ob ein Strafverfahren fair ist, hängt nicht von der Auslegung einzelner nationaler Normen ab. Vielmehr entscheidet sich diese Frage anhand der Betrachtung des gesamten Verfahrens, einschliesslich des Beweisverfahrens und der Beweisverwertung. Diese müssen „in billiger Weise“ durchgeführt werden.810 Gerade im grundrechtssensiblen und auch komplexen Rechtsfeld des Strafprozesses kann Art. 6 EMRK als „übernationales Korrektiv zur Begrenzung der staatlichen Eingriffsmacht“ herangezogen werden.811 Kernstück von Art. 6 EMRK ist das Fair-trial-Prinzip.812 Fairness ist als Voraussetzung eines funktionierenden Zusammenlebens einer verfassten Gesellschaft zu verstehen.813 Letztlich ist „Fairness“, ähnlich wie „Menschen807  3. Teil

A. II. 2. b) bb) (2). herausragende Bedeutung des fairen Verfahrens in einer demokratischen Gesellschaft wirkt einer restriktiven Anwendung entgegen: so EGMR, 17.01.2008, Ryakib Biryukov v. Russia, Nr. 14810/02, Rn. 37. 809  Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 360. Das Eingriffspotential ist gross; dem Staat steht die eingriffsintensivste Form staatlich-autoritären Handelns zur Verfügung: die staatliche Strafe; Typischerweise in Form von Freiheitsstrafen, Geldstrafen, ­Bussen oder auch gemeinnütziger Arbeit. 810  EGMR, 12.05.2000, Khan v. United Kingdom, Nr. 35394; EGMR, 09.06.1998, Teixera de Castro v. Portugal, Nr. 25829/94. Der EGMR ist keine „Superrevisionsinstanz“; vgl. 2. Teil A. II. 811  Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des EGMR, S. 3. 812  Ott, Der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“, S. 190. Das Grundrecht auf ein faires Verfahren hat sich zum bedeutendsten Grundrecht auf europäischer Ebene entwickelt: Pache, NVwZ 2001, S. 1342 (1342). Das Recht auf ein faires Verfahren wird als Kern der Justizgrundrechte erachtet: Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 66. 813  Hies, Das fair-trial-Prinzip, S. 21 f. 808  Die



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 271

würde“, ein vager, offener und oszillierender Begriff, dessen inhaltliche Ausprägungen sich an den geltenden Rechts- und Wertvorstellungen ausrichten.814 Die Offenheit dieses Konzeptes tut seiner Fundamentalität jedoch keinen Abbruch. Justizgrundrechte wie Art. 6 EMRK sind primär Ausdruck des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit und dienen dem Schutz vor staatlicher Willkür.815 Der Gerichtshof rekurriert denn auch nicht selten im Zusammenhang mit Art. 6 EMRK auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit („rule of law“), um einen effektiven und kohärenten Schutzstandard zu entwickeln.816 So hat er in der Rechtssache Golder817 aus Art. 6 EMRK auch ein Recht auf „Zugang zu einem Gericht“ hergeleitet, das im Normtext nicht explizit verankert ist. Darin folgt der EGMR einer primär prozeduralen Sichtweise auf Art. 6 EMRK, wonach das Prinzip des fairen Verfahrens vor staatlicher Willkür schützen soll.818 Entscheidend ist auch unter Art. 6 EMRK eine autonome, effektive und systematische Auslegung anhand der WVK und im Einklang mit der Rechtsnatur der Konvention.819 Der Gerichtshof begnügt sich denn auch nicht damit, einen kleinsten gemeinsamen Nenner in Europa zu suchen, sondern hat vielmehr durch die diversen normativen Rahmenbedingungen820 ein „Verfahrensideal“ entwickelt, das die Rechtsfortentwicklung anschieben kann.821 Aber auch durch wertende Rechtsvergleichung ist es ihm möglich, Konzepte wie die „verdeckte Ermittlung“ im Lichte eines genuin europäischen Fairnessgedankens zu würdigen. Mit Blick auf die Menschenwürde in der EMRK muss allerdings gesagt werden, dass sie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK nicht effektiv und wirkungsvoll eingebracht hat. Daraus lässt sich schliessen, dass er das Fairnessgebot im Strafverfahren weder primär noch explizit in der Menschenwürde verankert sieht,822 was aber nicht heisst, dass der Ge814  Kühne,

in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Einl. Abschn. I Rn. 103. F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 6 Rn. 134. 816  Meyer F., in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 71. 817  EGMR (Pl), 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70. 818  Fairnessgarantien sind Ausdruck eines fundamentalen europäischen Verfassungsprinzips der Rechtsstaatlichkeit: Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 1; vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 6 Rn. 1, 46 Fn. 177. 819  2. Teil A. I.–II.; vgl. Renzikowski, Fair trial als Waffengleichheit, S. 97 (117). 820  Nationales und internationales Recht. 821  Vgl. Leigh, The Right to a Fair Trial, S. 645 (646). 822  So auch Meyer F. in Bezug auf die kommunikative Autonomie im Strafverfahren, in: Wolter et al., SK-StPO/EMRK, Art. 6 Rn. 182: „Anders als bei der Fundierung anderer Konventionsrechte finden sich keine Anleihen bei einem etwaigen Menschenwürdekern des fairen Verfahrens“. 815  Meyer

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

richtshof die Menschenwürde und Fairnessregeln nicht als miteinander verbunden erachtet. 2. Menschenwürde und Prozesssubjektivität Die Zugestehung der Prozesssubjektstellung ist die axiomatische Voraussetzung dafür, um in einem Strafprozess nicht als Objekt ohne Rechte dazustehen, sondern die Rolle als Partei zugestanden zu bekommen und um (bis zu einem gewissen Grad) in das Verfahren einwirken zu können sowie als eigenständiges Individuum durch staatliche Behörden angesprochen zu werden. Die Prozesssubjektstellung stünde daher prima vista in engem Konnex mit der Menschenwürde bzw. der daraus fliessenden Subjektstellung des Menschen. Doch der Gerichtshof hat einen solchen Konnex in der Rechtsprechung soweit ersichtlich (noch) nicht effektiv fruchtbar gemacht. Die Gründe, weshalb sich der Gerichtshof in Bezug auf den Grundsatz des Fair Trial sowie der Prozesssubjektstellung nicht auf einen übergreifenden Telos festlegen möchte oder kann, können nur erahnt werden. Zentral dürfte sicher der Anspruch sein, einen supranationalen Mindeststandard zu etablieren, der sich in alle nationalen Strafprozesssysteme implementieren lässt. Das weitgehende Fehlen einer Verknüpfung in der Rechtsprechung mit der Menschenwürde könnte seinen Grund auch darin haben, dass Art. 6 EMRK einen weit höheren Differenzierungsgrad aufweist als bspw. das Recht auf Privatleben oder das Folterverbot, weshalb sich ein (expliziter) Rekurs auf die Menschenwürde in den allermeisten Fällen erübrigt. Abgesehen von einer allfälligen Begründungsfunktion – wie sie im Schrifttum zwar diskutiert wird, in der Rechtsprechung des Gerichtshof jedoch nicht zum Ausdruck kommt – liesse sich auch noch fragen, ob sich nicht ein unverfügbarer Teil des fairen Verfahrens i. S. eines Kerngehalts aus der Menschenwürde herleiten liesse.823 Bislang liefert die Rechtsprechung hierzu keine vom Würdegedanken geprägten Anknüpfungspunkte. Schliesslich können auch nationale Denkansätze, denen zufolge die Prozesssubjektivität in der Menschenwürde wurzelt, nicht unbesehen auf die Konvention übertragen werden.824 823  Krit. Wohlers, GA 2005, S. 11 (20): Solche Deduktionsversuche sind dem Einwand ausgesetzt, ihre konkreten Ergebnisse mehr oder weniger unvermittelt aus den Prinzipien herzuleiten, was die Gefahr in sich birgt, die Menschenwürde in einen Topos zu verwandeln, der tatsächlich einzig noch dazu dient, Eingriffe in die Freiheiten des Bürgers mit einem gewissen Pathos zu markieren und zu skandalisieren. 824  2. Teil A. I. und B. II. 3. Jacob, Aspekte der Definition und Bewertung von Verletzungen der postulierten Menschenwürde, S. 253 (253 ff.); Demko, Menschenrecht auf Verteidigung, S. 256; vgl. Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 2, die Verfahrensgarantien im Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 273

3. Menschenwürde(-kern) und Kerngehalt eines fairen Strafverfahrens Ob und inwieweit der konventionsrechtliche Menschenwürdekern mit dem sog. „Kerngehalt von Art. 6 EMRK“ konvergiert, ist umstritten. Es muss konstatiert werden, dass der Kerngehalt des Rechts („very essence of the right“) auf ein faires Verfahren, also die Schranken-Schranke des Rechts, in der Rechtsprechung des Gerichtshofs weitgehend opak geblieben ist.825 Der Gerichtshof hat bislang auch keine Konvergenz hergestellt zwischen den Formulierungen „the very essence of the convention is (…) human dignity“ einerseits und der Unantastbarkeit von „the very essence of the right [Art. 6]“ andererseits.826 Obwohl er in ständiger Rechtsprechung festhält, dass die Konvention als Ganzes und entsprechend ihrer Eigenlogik zu interpretieren sei, hat er bislang keinen Menschenwürdekern in Art. 6 loziert.827

und Menschenwürde wurzeln sehen; Wohlers, GA 2005, S. 11 (20); vgl. Häberle, VVdStRL 1972, S. 43 (89 ff.): Verfahrensrechtliche Subjektstellung des Einzelnen ist dem Rechtsstaatsprinzip angelehnt, könne aber auch aus der Menschenwürde begründet werden. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 356: Die heutige Ausformung des Rechts auf einen fairen Strafprozess erkennt in der neuzeitlichen Philosophie menschlicher Würde eine ihrer zentralen Grundlagen; vgl. Rixen, Würde des Menschen als Fundament der Grundrechte, in: Heselhaus/Nowak, HBdEuGR, § 9 Rn. 9 f.; Rechtsvergleichend kann auf Art. 3 CH-StPO (Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot) verwiesen werden, der einen engen Bezug zwischen beiden Grundsätzen (positiviert) aufweist. 825  Vgl. EGMR, 07.04.2009, Mendel v. Sweden, Nr. 28426/06, Rn. 74 („limitation does not impair very essence of the right“). Vgl. Saliger, ZStW 2004, S. 35 (35 ff.). 826  Vgl. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 366: Das Ausbleiben eines fairen Verfahrens könne dazu führen, dass eine objektiv möglicherweise gerechtfertigte Bestrafung tatsächlich eine „Entwürdigung des Bestraften“ und damit möglicherweise einen Verstoss gegen Art. 3 EMRK darstellen könne. 827  Vgl. statt vieler: EGMR, 12.03.2003, Öcalan v. Turkey, Nr. 46221/99, Rn. 189; „[A]ny interpretation (…) must be in harmony with the logic of the Convention“: EKMR (Pl), 17.5.1985, Leander v. Sweden, Nr. 9248/81, Rn. 91. So auch EGMR, 12.3.2003, Öcalan v. Turkey, Nr. 46221/99, Rn. 189: „[T]he Convention is to be read as a whole“; EGMR (GK), 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, Nr. 34503/97, Rn. 66: “(…) interpreted in such a way as to promote consistency and harmony between its various provisions“. Das Ausbleiben eines fairen Verfahrens könne dazu führen, „dass eine objektiv möglicherweise gerechtfertigte Bestrafung tatsächlich eine Entwürdigung des Bestraften und damit möglicherweise einen Verstoss gegen (…) Art. 3 EMRK“ darstellen könne: Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 366.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

4. Verletzungen der Menschenwürde im Strafverfahren a) Beweisverwertung Grundsätzlich fällt es in die nationale Kompetenz, Beweise zu erheben und zu würdigen. Beweisrecht und -verwertung bleiben Angelegenheiten vertragsstaatlicher Regulierung.828 Der Gerichtshof begnügt sich – gemäss seinem Selbstverständnis – mit der Globalbetrachtung der Gesamtfairness des Strafverfahrens.829 Darunter fällt insbesondere auch die Art und Weise, wie Beweise erlangt werden.830 Die Konvention enthält keine spezifische Norm, die sich explizit der Erhebung und Verwertung von Beweisen im Rahmen eines Strafprozesses widmet.831 Der Gerichtshof kann daher nicht grundsätzlich und abstrakt entscheiden, ob rechtswidrig erlangte Beweise konventionsrechtlich zulässig und damit verwertbar seien.832 Daher übt er im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der Verfahrensfairness grosse Zurückhaltung hinsichtlich der nationalen Prozessrechtsstruktur.833 Dies entspricht auch dem Grundsatz der Subsidiarität.834 828  Meyer

F., forumpoenale 2015, S. 176 (177). (Pl), 06.12.1988, Barberà, Messegué and Jabardo v. Spain, Nr. 10590/83, Rn. 68: „As a general rule, it is for the national courts, and in particular the courts of first instance, to assess the evidence before them as well as the relevance of the evidence (…). The Court must, however, determine (…) whether the proceedings considered as a whole, including the way in which prosecution and defence evidence was taken, were fair“; EGMR (GK), 25.03.1999, Pélissier and Sassi v. France, Nr. 25444/94, Rn. 45 f.; EGMR, 14.02.2002, Visser v. Netherlands, Nr. 26668/95, Rn. 43; EGMR (GK), 12.05.2005, Öcalan v. Turkey, Nr. 46221/99, Nr. 46221/99, Rn. 131, 133, 135. Kritisch mit Blick auf den Gesamtfairness-Test: Goss, Criminal Fair Trial Rights, S. 132. 830  EGMR, 05.11.2002, Allan v. United Kingdom, Nr. 48539/99, Rn. 42: „The question which must be answered is whether the proceedings as a whole, including the way in which evidence was obtained, were fair“. 831  Statt vieler: EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 95: „Article 6 guarantees the right to a fair hearing, it does not lay down any rules on the admissibility of evidence as such, which is primarily a matter for regulation under national law. It is therefore not the role of the Court to determine, as a matter of principle, whether particular types of evidence (…) may be admissible or, indeed, whether the proceedings as a whole, including the way it was obtained, were fair“. 832  EGMR (Pl), 12.07.1988, Schenk v. Switzerland, Nr. 10862/84, Rn. 46; EGMR, 12.05.2000, Khan v. United Kingdom, Nr. 35394/97, Rn. 34. 833  In erster Linie sei es Sache der nationalen Gesetzgebung, das Beweisrecht zu regeln; Schneider, Beweisverbote aus dem Fair-Trial-Prinzip des Art. 6 EMRK, S. 38 m. w. N. 834  S. 2. Teil A. I.–II. 829  EGMR



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 275

Gleichwohl können sowohl die Beweiserlangung als auch die Beweisverwertung gegen die Konvention bzw. das Fairnessgebot verstossen.835 Dabei ist die Art und Weise der Beweiserlangung lediglich ein Kriterium der Gesamtbetrachtung. Soweit eine Beweisverwertung unter Verletzung einer anderen Konventionsnorm erfolgt, wird dies unter Art. 6 EMRK geprüft,836 der in Abs. 1 Satz 1 ein Gesamtrecht auf ein faires Verfahren vorsieht. Dagegen tragen die in Abs. 1 bis 3 enumerierten und die vom EGMR entwickelten unbenannten Teilrechte, wie das Schweigerecht, die Selbstbelastungsfreiheit oder das Konfrontationsrecht, dazu bei, ein faires Verfahren überhaupt erst Realität werden zu lassen.837 Die Menschenwürde, die ihren wirksamsten Ausdruck in Art. 3 EMRK hat, gilt ihrem Schutzgehalt nach im Strafverfahren als zwingender Mindeststandard gegenüber Beschuldigten, Zeugen und anderen Verfahrensparteien. Sie gilt grundsätzlich in jedem Verfahrensstadium und ist von allen staatlichen Organen zu beachten.838 Der EGMR unterscheidet in ständiger Rechtsprechung danach, ob eine Menschenwürdeverletzung zwecks Erlangung 835  Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des EGMR, S.  44 m. w. N. 836  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 95; EGMR, 05.11.2002, Allan v. United Kingdom, Nr. 48539/99, Rn. 42: „The question which must be answered is whether the proceedings as a whole, including the way in which the evidence was obtained, were fair. This involves an examination of the ‚unlawfulness‘ in question and, where violation of another Convention right is concerned, the nature of the violation found“; EGMR, 12.05.2000, Khan v. United Kingdom, Nr. 35394/97, 34. 837  S. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 290 f., 326 ff., 383 ff., 427 ff.; Gaede, HRRS 2008, S. 279 (283). Zwar betrachtet der EGMR das gesamte Verfahren, was aber nicht heisst, dass die Verletzung eines Teilrechts durch eine Betrachtung der Gesamtfairness kompensiert werden kann. Die Verletzung eines Gesamtrechts liegt dann vor, wenn auch nur ein Teilrecht verletzt wurde; vgl. EGMR, 12.03.2003, Öcalan v. Turkey, Nr. 46221/99; EGMR, 15.12.2005, Van-yan v. Russia, Nr. 53203/99; EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00. Umgekehrt bedeutet die Achtung aller Teilrechte nicht automatisch, dass das gesamte Verfahren als fair zu qualifizie­ ren ist; EKMR, Entsch. v. 15.10.1980, Jespers v. Belgium, Nr. 8403/78; EGMR, 06.12.1988, Barberà, Messegué and Jabardo v. Spain, Nr. 10590/83. Die Teilrechte gehen nicht im Gesamtrecht auf: Gaede, JR 2006, S. 292 ff.; die Gesamtbetrachung sei Prüfelement und kein Massstab, d. h. sie sei Mittel des EGMR zur Beurteilung von Gesamtrecht und Teilrechten; Gaede, JR 2006, S. 292 (293). Folglich stehen Teilrecht und Gesamtrecht nebeneinander und sind gleichsam ineinander verwoben: Schneider, Beweisverbote aus dem Fair-Trial-Prinzip des Art. 6 EMRK, S. 48. 838  Schneider, Beweisverbote aus dem Fair-Trial-Prinzip des Art. 6 EMRK, S. 151 unter Verweis auf Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des EGMR, S. 68. Zu Verwertungsverboten: EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 106 ff.; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, S. 223 (speziell zum Brechmitteleinsatz S. 220 ff.); Zaczyk, StV 2002, S. 125 (126).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

(1) einer Aussage begangen wird oder (2) der Beschaffung eines körperlichen Beweises dient. In systematischer Hinsicht prüft der Gerichtshof zunächst, ob effektiv eine Menschenwürdeverletzung vorliegt oder nicht. Bei Bejahung prüft er Beweisausschlussgründe im Rahmen von Art. 6 EMRK, was es ihm erlaubt, weitere für die Verfahrensfairness relevante Gesichtspunkte einfliessen zu lassen.839 An dieser Stelle lässt sich vorab feststellen, dass der Gerichtshof ein anderes Bild der Menschenwürde vor Augen hat als das deutsche BVerfG bzw. das GG. So hat das BVerfG im Fall Jalloh840, in dem es um die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln ging, angedeutet,841 dass es mit Blick auf die deutsche Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) keine Probleme erkenne, während der Gerichtshof dies aus Sicht der Konvention anders beurteilte.842 Allerdings gibt es durchaus auch Überschneidungen.843 Jedenfalls ist Art. 3 EMRK als grundsätzliche Vorgabe für die Beweiserhebung und Beweisverwertung zu verstehen, die es einzuhalten gilt, damit von einem fairen Verfahren gesprochen werden kann.844 Dies ist konsequent, da die Menschenwürde eines der zentralsten Schutzgüter der Konvention ist.845 Der Gerichtshof führt zur Begründung an, dass Art. 3 EMRK einen der fundamentalsten Werte der Konvention schütze und daher eine Kernvorschrift darstelle.846 Bei Geständnissen und Aussagen, die mittels unmenschlicher oder erniedrigender Methoden – und damit unter Verstoss gegen die konventionsrechtliche Menschenwürde – erlangt werden, wird automatisch die Unfairness des Strafverfahrens festgestellt.847

839  Vgl. Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 109; krit. zu diesem Vorgehen Gollwitzer, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 3 Rn. 11. 840  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00. 841  Zum ganzen Sachverhalt s. 3. Teil A. III. 2. b). 842  BVerfG, Urteil vom 15.09.1999, 2 BvR 2360/95. Es handelte sich um einen Nichtanhandnahmebeschluss, der die Annahme der Rechtssache aus Subsidiaritätsgründen ablehnte, sodass eine abschliessende Sachentscheidung nicht vorliegt. 843  Zur lebenslangen Freiheitsstrafe s. 3. Teil A. II. 2.; auch im Fall Gäfgen kam der EGMR zum Ergebnis, dass eine unmenschliche Behandlung vorlag, was sich insoweit mit der zuvor vom BVerfG festgestellten Menschenwürdeverletzung deckt: vgl. EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05 und BVerfG, Urteil vom 14.12.2004, BvR 1249/04. 844  Nowak, CCPR Commentary, Art. 7 CCPR Rn. 37, spricht gar von einer präventiven Pflicht zur Verhinderung von Folter. 845  Villiger, Handbuch der EMRK, Rn. 271; Demko, HRRS 2005, S. 94 (94). 846  EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 81. 847  Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des EGMR, S. 83.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 277

In der Rechtssache Göcmen848 hielt der Gerichtshof fest, dass eine global festgestellte „Misshandlung“ („ill-treatment“) ausreiche, um das Verfahren automatisch insgesamt unfair zu machen – unabhängig davon, ob das Beweismittel für die Verurteilung von entscheidender Bedeutung war.849 Im Urteil Gäfgen850 fand der Gerichtshof schon deutlichere Worte: „[T]he Court has found in respect of confessions, as such, that the admission of statements obtained as a result of torture (…) or of other ill-treatment in breach of Article 3 as evidence to establish the relevant facts in criminal proceedings rendered the proceedings as a whole unfair. This finding applied irrespective of the probative value of the statements and irrespective of whether their use was decisive in securing the defendant’s conviction“.851

Misshandlung zur Erlangung eines Geständnisses wird vom EGMR als schwerwiegender Grundrechtseingriff gewertet. Die Fairness wird dadurch per se verunmöglicht; der rechtwidrig erlangte Vorsprung der Behörden kann nicht mehr geheilt werden. Bei körperlichen Beweisen („real evidence“) hingegen zeigt sich der Gerichtshof nicht geneigt, das Verfahren wegen eines Menschenwürdeverstosses, sei es in Form des Verbotstatbestands der Unmenschlichkeit oder jenem der Erniedrigung, per se als unfair i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK zu qualifizieren.852 In der Rechtssache Jalloh853 betonte der EGMR, dass unter Folter854 erlangte Beweismittel auf keinen Fall verwertet werden dürfen; ansonsten sei das Verfahren unfair.855 In seiner Begründung grenzte er aber die Folter von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ab und stellte ein automatisches Beweisverwertungsverbot ausdrücklich nur für Fälle der Folter auf. Für sonstige Verletzungen von Art. 3 EMRK könne eine Verwertung unter 17.10.2006, Göcmen v. Turkey, Nr. 72000/01, Rn. 74. genüge, wenn die Tatsachenfestellungen unter Anwendung von unerlaubten Behandlungsformen geschehe („ill-treatment“), wobei es der EGMR unterliess, den genau einschlägigen Verletzungstatbestand von Art. 3 EMRK zu nennen: EGMR, 17.10.2006, Göcmen v. Turkey, Nr. 72000/01, Rn. 74. 850  EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05. 851  EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 166 (Hervorhebung durch Autor). 852  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 107: „The general question whether the use of evidence obtained by an act qualified as inhuman and degrading treatment automatically renders a trial unfair can be left open“. 853  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00. 854  Zur Definition von Folter s. 3. Teil A. I. 855  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 105: „In its view, incrimination evidence – whether in the form of a confession or real evidence – obtained as a result of acts of violence or brutality or other forms of treatment which can be characterised as torture – should never be relied on as proof of the victim’s guilt, irrespective of its probative value“. 848  EGMR, 849  Es

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

bestimmten Umständen zulässig sein.856 Immerhin schloss der Gerichtshof nicht aus, dass nach den Umständen des Einzelfalls die Verwertung von Beweisen, die durch eine „vorsätzliche Misshandlung“, welche keine Folter i. e. S. darstelle, erlangt worden seien, das Verfahren ebenso per se unfair werden könnte, und zwar unabhängig von der Schwere des Delikts, der Bedeutung der Beweise und der Möglichkeit der betroffenen Person, deren Zulassung und Verwertung anzufechten.857 Wenn die sonstigen Voraussetzungen eines Beweisverwertungsverbotes aus dem Gesamtrecht gegeben seien oder ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Selbstbelastungsfreiheit vorliege, müsse der Beweis ausgeschlossen werden. Im Fall Jalloh wurde die Unfairness auf mehrere Gründe gestützt: Zum einen waren die Schwere der vorgeworfenen Straftat und auch das öffent­ liche Interesse an der Strafverfolgung in den Augen des Gerichtshofs relativ gering; zum anderen basierte die Verurteilung im Wesentlichen auf den ausgeschiedenen Drogen. Im Resultat konnte die Möglichkeit des Beschwerdeführers, die Beweise anzufechten, das Verfahren insgesamt nicht mehr „heilen“ und fair machen. Die Verwertung war daher im Lichte der Gesamtfairness unzulässig.858 b) Überlange Verfahrensdauer als Missachtung der Menschenwürde? Die Rechtssache Bock liegt rund dreissig Jahre zurück und hat im Schrifttum vereinzelt dazu Anlass gegeben, einen mehr oder weniger engen Konnex zwischen der Menschenwürde und dem Recht auf ein faires Verfahren anzunehmen. Im besagten Fall ging es um einen Zivilprozess i. S. v. Art. 6 EMRK, genauer um ein Scheidungsverfahren. Der Beschwerdeführer klagte beim EGMR gegen das seiner Meinung nach viel zu lange Verfahren wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots. Während des über neun Jahre dauernden Verfahrens war immer wieder die Frage der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers thematisiert worden, ohne dass jemals die Unzurechnungsfähigkeit rechtsgenüglich erstellt worden wäre: „[T]he Court cannot disregard the personal situation of the applicant who, for some nine years, suffered by 856  So hat er festgehalten, dass Aspekte der Deliktsschwere und des öffentlichen Interesses in die Abwägung einfliessen könnten. Immerhin hält der Gerichtshof im gleichen Atemzug fest, dass dem Umstand, dass ein Beweismittel durch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erlangt worden ist, hinreichend Rechnung getragen werden müsse; EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn.  106 f. 857  EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 106. 858  Weiter erkannte der EGMR aufgrund der Misshandlung auch auf eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit und gelangte folglich zu einem entsprechenden Beweisverwertungsverbot.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 279

reason of the doubts cast on the state of his mental health which subsequently proved unfounded. This represented a serious encroachment on human dignity“.859 Hinsichtlich der festgestellten Verletzung von Art. 6 EMRK860 gilt es die besonderen Umstände dieses Einzelfalles zu berücksichtigen. Aus den Formulierungen des Gerichtshofs geht deutlich hervor, dass dieser nicht eine materiell-rechtliche Fundierung von Art. 6 EMRK vornehmen wollte. Vielmehr ging es ihm, wie die soeben zitierte Passage zeigt, darum, das psychische Leid in Form der Demütigung anzuprangern. Das stete Hinterfragen der persönlichen Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers (als Prozessvoraussetzung) während der neunjährigen Prozessdauer könne nicht anders als äusserst entwürdigend gewertet werden. Dass eine überlange Verfahrensdauer – sei dies im Straf- oder im Zivilprozess – ab einem bestimmten Punkt zu einer Menschenwürdeverletzung führt, lässt sich aus diesem Fall nicht abstrakt herleiten, da hierfür weitere Aspekte einzubeziehen wären. Immerhin lässt sich sagen, dass der EGMR bereits im Jahr 1989 in den Rechtserwägungen des Urteils eine normative Bewertung der Einzelfallumstände anhand der Würde für angezeigt hielt. Dass dies im Kontext von Art. 6 EMRK geschah, spricht dafür, dass der Gerichtshof schon früh den Einbezug der Würde des Menschen nicht nur auf Art. 3-EMRK-Fälle beschränken wollte. In casu allerdings hat sich daraus nicht viel Substanzielles zur Auslegung von Art. 6 EMRK ergeben. 5. Wirkung und Funktion der Menschenwürde Ein direkter rechtsnormativer Konnex zwischen der konventionsrechtlichen Menschenwürde und Art. 6 EMRK lässt sich aus der Judikatur des Gerichtshofs nicht herleiten. Dass die Prozesssubjektivität – wie sie in der Konvention verbrieft und angelegt ist – rechtstheoretisch auch Anleihen bei der Würde des Menschen macht, ist ein Gedanke, der sich bislang nur im Schrifttum niedergeschlagen hat. Mit der Praxis des Gerichtshofs haben solche rechtstheoretischen Konstrukte, welche Fairness und Prozesssubjektivität als in der Menschenwürde wurzelnd sehen, nicht viel zu tun, so naheliegend sie auch sein mögen. Vielmehr bestehen Fairnessregeln neben der Menschenwürdegarantie und sind insoweit miteinander verbunden. In der Rechtsprechung liess sich ein starker Konnex zu Beweiserhebungen unter Verletzung von Art. 3 EMRK in Form der Folter belegen. Wird ein Angeklagter gefoltert, bis er gesteht oder belastende Informationen liefert, ist das Staatshandeln als menschenwürdeverletzend und deshalb unfair einzustufen. 859  EGMR, 860  EGMR,

29.03.1989, Bock v. Germany, Nr. 11118/84, Rn. 48. 29.03.1989, Bock v. Germany, Nr. 11118/84, Rn. 49.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Auch eine Fundierung von Art. 6 EMRK durch die Würde lässt sich in der Rechtsprechung nicht belastbar verorten. Die Rechtssache Bock betont stattdessen das degradierende Moment des jahrelangen Hinterfragens der Urteilsfähigkeit des Prozessteilnehmers im Scheidungsverfahren, bietet jedoch keinen Anknüpfungspunkt für eine materiell-rechtliche Abstützung von Art. 6 EMRK. Gleichwohl werden in Minderheitsmeinungen von Richtern des Gerichtshofs gelegentlich explizite und tiefergehende Verbindungen zwischen der Würde und dem Grundsatz der Fairness hergestellt, konkret bspw. im Zusammenhang mit der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare): „A person charged is free to incur a risk of his own choosing, just as he is free to confess or not to confess, and this is a form of respect for human dignity.“861 Auch im Bereich des sog. Kernbereichsschutzes lässt sich keine Konvergenz mit einem allfälligen Menschenwürdekern in Art. 6 EMRK feststellen. Im Bereich von Beweiserhebungs- und -verwertungsfragen zeichnet sich bei Menschenwürdeverletzungen ein deutlicherer Bezug zum Fairnessgrundsatz ab. So schliesst der Gerichtshof aus dem Erzwingen von Aussagen unter Verletzung von Art. 3 EMRK auf ein automatisches absolutes Beweisverwertungsverbot. Geht es dagegen um die Erlangung körperlicher Beweise, die unabhängig vom Willen der betroffenen Person existieren, wird ein absolutes Beweisverwertungsverbot verneint. Des Weiteren unterscheidet der Gerichtshof, ob der Beweis unter Folter erlangt wurde. Diesfalls wird wiederum ein absolutes Beweisverwertungsverbot gefordert. Kam der Beweis hingegen durch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i. S. v. Art. 3 EMRK zustande, wägt der Gerichtshof die Schwere des Delikts, die Bedeutung des Beweises und die Schwere der Beeinträchtigung gegeneinander ab und stellt je nachdem entweder die Fairness oder Unfairness des Strafverfahrens fest.

VI. Recht auf Achtung des (Kernbereichs des) Privatlebens in strafrechtsrelevanten Bereichen 1. Kernbereich des Privatlebens und Menschenwürde Art. 8 EMRK enthält eine Garantie des Schutzes des Privatlebens, aufgegliedert in verschiedene Garantiebereiche. Der Schutzbereich ist weit und wird vom Gerichtshof nicht abschliessend definiert. Geschützt wird der ge861  EGMR (GK), 08.02.1996, John Murray v. United Kingdom, Nr. 18731/91, partly dissenting opinion of Judges Pettiti u. Valticos.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 281

samte Privatbereich in all seinen Facetten und Abstufungen;862 ausdrücklich erwähnt ist der Anspruch auf Achtung des Privatlebens, des Familienlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs. Diese Ausprägungen sind indessen nicht messerscharf voneinander abgrenzbar, sondern weisen in vielerlei Hinsicht Überlappungen auf.863 Sie bilden insgesamt eine umfassende Garantie für die freie Persönlichkeitsentfaltung des Individuums.864 Privatheit wird als ein in stetem Wandel befindliches soziales Konstrukt verstanden, das zur gelungenen Realisierung eines autonomen Lebens abgesichert werden soll.865 Der Schutzbereich von Art. 8 EMRK umfasst neben der körperlichen und mentalen Integrität auch Aspekte der physischen und psychischen Identität.866 Geschützt wird sodann die Autonomie des Individuums, seine Selbstbestimmung,867 persönliche Selbstentfaltung und die Beziehungen zu anderen Menschen.868 Art. 8 EMRK überschneidet sich insoweit mit Art. 3 EMRK, als auch die physische und psychische Integrität des Menschen ge862  EGMR, 25.09.2001, P. G. and J. H. v. United Kingdom, Nr. 44787/98, Rn. 56; EGMR, 28.01.2003, Peck v. United Kingdom, Nr. 44647/98, Rn. 57. Um einen Eingriff in die Privatsphäre zu konstituieren, ist eine gewisse Schwere vonnöten, da nicht jegliche staatliche Anordnung mit Reflexwirkung auf das Privatleben in den Schutzbereich fällt. 863  Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, §  22 Rn.  5; IntKomm/EMRK-Wildhaber/Breitenmoser, Art. 8 Rn. 1; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 8 Rn. 1; vgl. EGMR, 07.07.1989, Gaskin v. United Kingdom, Nr. 10454/83, Rn. 37. 864  Villiger, Handbuch der EMRK, Rn. 555; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 1; EGMR, 24.07.2014, Husayn (Abu Zubaydah) v. Poland, Nr. 7511/13, Rn. 532. 865  Nettesheim, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 9 Rn. 1 ff.; die Frage, ab wann eine persönliche Entfaltungssphäre in den Bereich des grundrechtlich Schützenswerten fällt, ist äusserst bedeutsam und bislang – auch nach einem halben Jahrhundert Rechtsprechung – keinesfalls dogmatisch hinreichend geklärt. Die Grenzen zwischen einer politisch (kontingenten) Entscheidung und dem Grundrechtsschutz verfliessen; Net­tes­ heim, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 9 Rn. 61. 866  EGMR, 28.05.2015, Y. v. Slovenia, Nr. 41107/10, Rn. 101. Art. 8 EMRK überschneidet sich insoweit mit Art. 3 EMRK, als auch die physische und psychische Integrität des Menschen geschützt wird; vgl. zur Nähe von Art. 8 u. Art. 3 EMRK: EGMR, 06.04.2017, A. P., Garçon and Nicot v. France, Nr. 79885/12 u. a., Rn. 128. 867  Der Unterschied zwischen Autonomie und Selbstbestimmung ist kategorialer Natur: Selbstbestimmung ist die Umsetzung von Autonomie über die sog. Selbstgesetzlichkeit in die Selbstgesetzgebung – unter der Bedingung der Beachtung der Selbstgesetzlichkeit aller Mitmenschen: so Beckmann, Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende, S. 27 (34). 868  Diese Schutzbereiche fliessen aus der Menschenwürde (i. V. m. Art. 8 EMRK): EGMR, 10.03.2015, Y. Y. v. Turkey, Nr. 14793/08, Rn. 57 f.; vgl. zuvor bereits: EGMR, 11.12.2014, Dubská and Krejzová v. Czech Republic, Nr. 28859/11 u. 28473/12, concurring opinion of Judge Yudkivska: „[T]he Convention is aimed at safeguarding fundamental rights, and Article 8 covers values that are essential to hu-

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

schützt wird.869 Während bei Art. 3 EMRK eine „Missachtung der Person in ihrem Menschsein“ festgestellt werden muss, um den absoluten Schutzbereich zu aktivieren, liegt der normative Anknüpfungspunkt bei Art. 8 bei Verletzungen, die unterhalb dieser Eingriffsschwere bleiben.870 So schützt Art. 8 EMRK spezifische Sphären, die zur Wahrnehmung, Entwicklung und Konturierung der eigenen Personalität essentiell sind. Der Hauptunterschied zu Art. 3 EMRK besteht darin, dass in das Privatleben nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eingegriffen werden darf, sofern der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist, eines der in Abs. 2 genannten legitimen Ziele verfolgt871 und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Beeinträchtigungen werden vom Gerichtshof grosszügig festgestellt, wenn der Staat die Konventionsrechtsausübung erschwert oder verhindert.872 Dabei ist nach einem gerechten Ausgleich zwischen den involvierten Interessen des Einzelnen, namentlich der Menschenwürde und Selbstbestimmung, und jenen der Allgemeinheit zu sorgen („fair balance“).873 In jüngster Zeit werden Aspekte der Menschenwürde deutlicher in Bezug genommen, wenn auch nur in bestimmten Schutzbereichsausprägungen.874 So hat der Gerichtshof bspw. formuliert: man dignity, personal autonomy, privacy and the ability to develop relationships with other people“. 869  Vgl. zur Nähe von Art. 8 und Art. 3 EGMR, 06.04.2017, A. P., Garçon and Nicot v. France, Nr. 79885/12 u. a., Rn. 128. 870  Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 41. 871  Darunter fallen die nationale bzw. öffentliche Sicherheit, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten, der Schutz der Gesundheit und der Moral sowie der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. 872  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 25 Rn. 4. In der Rechtsprechung und Literatur wird von „Beeinträchtigung“, „Berührtsein“, „Beschneidung“, „Betroffenheit“, „Einmischung“, „Einschränkung“, „Schmälerung“, „Verkürzung“ oder „Verminderung“ gesprochen: IntKomm/EMRK-Wildhaber/Breitenmoser, Art.  8 Rn.  45 m. w. N. 873  Art. 8 Abs. 2 EMRK; EGMR, 23.03.2017, A.-M. V. v. Finland, Nr. 53251/13, Rn. 90: „The Court is mindful of the need for the domestic authorities to reach, in each particular case, a balance between the respect for the dignity and self-determination of the individual and safeguard his or her interests, especially under circumstances where his or her individual qualities or situation place the person in a particularly vulnerable position“. 874  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 25 Rn. 2; Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 8 Rn. 1; EGMR, Entsch. v. 04.04.2017, Cazacliu and others v. Romania, Nr. 63945/09, Rn. 42, 124; s. ferner EGMR, 11.12.2014, Dubská and Krejzová v. Czech Republic, Nr. 28859/11 u. 28473/12, concurring opinion of Judge Yudkivska; EGMR, 20.05.2014, McDonald v. United Kingdom, Nr. 4241/12, Rn. 47; EGMR (GK), 12.11.2013, Söderman v. Sweden, Nr. 5786/08, Rn. 81; ferner EGMR, 24.02.1998, Botta v. Italy, Nr. 21439/93,



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 283 „[T]he concept of private life also comprises respect for human dignity“.875

Auch unter Art. 8 stellt sich nachfolgend die Frage, inwieweit es einen „Kern“ des Privaten gibt, der allenfalls mit dem Menschenwürdekern zusammenfällt. Klar ist, dass ein solcher „Kern“ nicht abstrakt festgelegt werden kann, sondern – gemäss der Logik der EMRK und der Funktion des EGMR876 – immer nur im Einzelfall in Ansehung aller konstituierenden Sachverhaltselemente. Eine erschöpfende Aufzählung aller (potenziellen) Schutzbereichsfacetten würde deshalb den vorliegenden Rahmen sprengen.877 Doch letztlich muss konstatiert werden, dass der Rechtsprechung des EGMR nicht zu entnehmen ist, inwieweit Art. 8 EMRK in strafrechtsrelevanten Bereichen einen uneinschränkbaren Menschenwürdekern (i.  S.  einer Kerngehaltsgarantie) schützt.878 Anstatt eines unantastbaren Kernbereiches operationalisiert er die Menschenwürde vielmehr als Massstab der Auslegung.879 Der Schutz der persönlichen Selbstbestimmung, der Autonomie und Freiheit erfordert einen privaten Rückzugsraum, innerhalb dessen sich das Individuum frei entfalten und verwirklichen kann.880 Dies bedeutet freilich Rn. 27; EGMR, 18.01.2001, Beard v. United Kingdom, Nr. 24882/94, Rn. 110; vgl. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 118; Whitman, YLJ 2004, S. 1151 (1161): „Continental privacy protections are, at their core, a form of protection of a right to respect and personal dignity“; vgl. EGMR, 30.09.2003, Koua Poirrez v. France, Nr. 40892/98, dissenting opinion of Judge Mularoni: „The Courtʼs interpretation of that provision has evolved concerning rights affecting the private and family sphere of human beings, which is the most intimate of spheres, and one in respect of which the Court must ensure that their dignity and their private and family life are protected by the States signatory to the Convention“; EGMR, 04.04.2017, Cazacliu and others v. Romania, Nr. 63945/09, Rn. 124: „amounted to a breach of the applicants’ human dignity and of their rights guaranteed by Article 8 of the Convention“; EGMR, 28.07.2009, Rachwalski and Ferenc v. Poland, Nr. 47709/99, Rn. 73. 875  EGMR, 14.01.2014, Lindström and Mässeli v. Finland, Nr. 24630/10, Rn. 58. 876  2. Teil A. I.–II. 877  Für ausserstrafrechtliche Würdeaspekte von Art. 8 EMRK s. 3. Teil B. I.–II. 878  Verneinend IntKomm/EMRK-Wildhaber/Breitenmoser, Art. 8 Rn. 4. 879  Anstatt aber einen unantastbaren und absolut zu schützenden Kernbereich zu konkretisieren, tritt der EGMR in eine vom Prinzip der Menschenwürde überspannte Abwägung („fair balance“) ein. Daher kommt es, dass die Menschenwürde im Kontext von Art. 8 meist nur als Obersatz in den Rechtserwägungen, unter der Rubrik „General Principles“ figuriert und den allgemeinen Abwägungen des Gerichts vorangestellt wird. Das Prinzip der Menschenwürde nimmt unter Art. 8 EMRK eine „dienende Funktion“ in Form eines Auslegungsmassstabs an. 880  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 115. Letztlich erfordert die Achtung der Menschenwürde, dass dem Menschen ein eigener Handlungs- und Rückzugsraum gesichert wird. Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 8 Rn. 1; vgl. Meyer-Ladewig, NJW 2004, S. 981 (981 ff.).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

nicht, dass diese Schutzkonzepte absolut gelten würden; sie verlangen vielmehr eine Interessenabwägung i.  S. der Verhältnismässigkeit.881 Letztlich kann dieser Konkretisierungs- und Abwägungsprozess nicht ohne einen öffentlichen Diskurs und Verständigungsprozess (politisch wie rechtlich) auskommen.882 Auch im Rahmen von Art. 8 EMRK und dessen Konzept der Privatsphäre orientiert sich der Gerichtshof an den normativen Entwicklungen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene.883 Denn diese normativen Rahmenbedingungen und Tendenzen können das Verständnis in Bezug auf Reichweite und Konturen des zu schützenden Privatlebens beeinflussen.884 Bspw. hat der Gerichtshof in Art. 8 EMRK einen spezifischen Schutz für Opfer von Straftaten loziert, der von den Staaten verlangt, die Würde solcher Opfer zu achten und sie vor Herabsetzungen anderer (privater) Parteien zu schützen.885 Konkret ist damit eine respektvolle Behandlung von Zeugen und Opfern durch die Justiz und im Gerichtssaal gefordert. Auf diese Weise spielt die Menschenwürde in Art. 8 EMRK zweifellos eine Rolle. Art. 8 EMRK fordert positiv die Realisierung der Ansprechbarkeit der Person als Rechtssubjekt (auch) im privaten Verkehr.886 881  Art. 8 Abs. 2 EMRK: „Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“. 882  Nettesheim, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 9 Rn. 67. 883  EGMR (GK), 27.04.2010, Tănase v. Moldova, Nr. 7/08, Rn. 176; EGMR, 23.03.2017, A.-M. V. v. Finland, Nr. 53251/13, Rn. 74; EGMR, 19.05.2016, D. L. v. Bulgaria, Nr. 7472/14, Rn. 104 unter Verweis auf „United Nations Rules for the Protection of Juveniles Deprived of their Liberty“. 884  Insb. die wertende Rechtsvergleichung: EGMR, 25.09.2001, P. G. and J. H. v. United Kingdom, Nr. 44787/98, Rn. 57: „The Court has referred (…) to the Council of Europe’s Convention (…) for the protection of individuals with regard to automatic processing of personal data, (…) whose purpose is ‚to secure in the territory of each Party for every individual … respect for his rights and fundamental freedoms, and in particular his right to privacy, with regard to automatic processing of personal data relating to him‘ (Article 1), such data being defined as ‚any information relating to an identified or identifiable individual‘ (Article 2)“. 885  EGMR, 28.05.2015, Y. v. Slovenia, Nr. 41107/10, Rn. 69 f. u. 112: „[T]he Court is of the view that the authorities are also required to ensure that other participants in the proceedings called upon to assist them in the investigation or the decision-making process treat victims and other witnesses with dignity, and do not cause them unnecessary inconvenience“. 886  Der Staat kann zu positiven Handlungspflichten berufen sein: EGMR, 23.03.2017, A.-M. V. v. Finland, Nr. 53251/13, Rn. 71; EGMR (GK), 12.11.2013, Söderman v. Sweden, Nr. 5786/08, Rn. 78: „These obligations may involve the adop-



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 285

2. Haftbedingungen und Strafvollzug Art. 8 EMRK gewährt auch Schutz in Bezug auf Haftbedingungen. Würderelevante Sachverhalte, die einen Bezug zu Art. 8 EMRK haben, werden aber in der Praxis zumeist schon von Art. 3 EMRK abgedeckt.887 Die Würde und Autonomie des Menschen verlangt nach einer holistischen Betrachtung grundrechtlicher Dimensionen menschlichen Daseins, die dem Individuum einen zur Verwirklichung des Selbstentwicklungs- und Selbstentfaltungsrechts zwingend notwendigen Privatraum zuordnet. Art. 3 EMRK kann zu dessen Schutz laut von Schwichow nur den „natürlichen Anfang“ markieren:888 „The Court would emphasise the positive obligation upon States to ensure respect for private life, including respect for human dignity and the quality of life in certain respects“.889

Dies gilt in besonderem Masse dann, wenn die betroffene Person in Haft ist. So kann der weitgehende Entzug von Sozial- und Familienkontakten sehr problematisch und einschneidend sein, insbesondere wenn er über längere Zeit anhält.890 Aber auch Aspekte der Resozialisierung sowie Kernbereichsverletzungen im Kontext der heimlichen Überwachung fallen unter den Schutzmantel von Art. 8 EMRK und können Überlappungen mit Art. 3 EMRK aufweisen.891 tion of measures designed to secure respect for private life even in the sphere of the relations of individuals between themselves“. Vgl. EGMR, 19.05.2016, D. L. v. Bulgaria, Nr. 7472/14, Rn. 104: „[S]teps must be taken to ensure that they have sufficient contact with the outside world, including by means of written correspondence, as this is an integral part of their right to be treated with dignity and is essential in preparing them for reintegration into society“. 887  EGMR, 03.09.2015, M. and M. v. Croatia, Nr. 10161/13, Rn. 143. 888  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 115; vgl. ferner die Skalierung des Würdeschutzes: EGMR, 14.01.2014, Lindström and Mässeli v. Finland, Nr. 24630/10, Rn. 41, 43 u. 58; EGMR, 15.03.2016, M. G. C. v. Romania, Nr. 61495/11, Rn. 56; EGMR, 11.09.2007, L. v. Lithuania, Nr. 27527/03, Rn. 56. 889  EGMR, 11.09.2007, L. v. Lithuania, Nr. 27527/03, Rn. 56. 890  EGMR, 24.07.2014, Husayn (Abu Zubaydah) v. Poland, Nr. 7511/13, Rn. 532: „Article 8 also protects a right to personal development, the right to establish and develop relationships with other human beings and the outside world. A person should not be treated in a way that causes a loss of dignity, as ‚the very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom‘ (…) the mutual enjoyment by members of a family of each other’s company constitutes a fundamental element of family. [T]he Court would also reiterate that an essential object of Article 8 is to protect the individual against arbitrary interference by the public authorities (…)“; EGMR, 24.07.2014, Al Nashiri v. Poland, Nr. 28761/11, Rn. 538. 891  3. Teil A. II. 2. b) bb) (2). Der Anspruch auf Achtung des Privatlebens sichert einen Freiraum und eine Privatsphäre, die der Einzelne nach eigenem Ermessen gestal-

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Bei einer rechtmässigen Inhaftierung sind die gewöhnlichen Beschränkungen des Privatlebens, welche eine Haftsituation mit sich bringt, nicht als Verstoss gegen Art. 8 EMRK zu qualifizieren, da solche Eingriffe gerechtfertigt sind.892 Zusätzliche Beschränkungen erfordern jedoch eine Rechtfertigung i. S. v. Abs. 2. Im Vordergrund stehen hier meist die im Haftumfeld unerlässlichen Sicherheitserwägungen, insbesondere zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Verhütung von Straftaten.893 Trotz alledem gilt das Recht, Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen, zu unterhalten und zu beenden, als wesentlicher Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung,894 sodass in diesem Bereich ein starker Menschenwürdebezug besteht. „[S]ufficient contact with the outside world, including by means of written correspondence, as this is an integral part of their right to be treated with dignity and is essential in preparing them for reintegration into society“.895

Positive Schutzpflichten erwachsen dem Staat insbesondere dort, wo der Bürger in einer besonderen Position, in einem sog. Sonderstatusverhältnis, steht, namentlich bei Personen im Strafvollzug, aber auch bei Kindern unter staatlicher Obhut.896 Insbesondere die medizinischen Grundbedürfnisse können den Staat zu einem Tätigwerden zwingen. In diesem Zusammenhang ist die Grenze zwischen Artt. 3 und Art. 8 EMRK fliessend. Grenzen der Menschenwürdeargumentation zeigten sich in der Sache Szafrański,897 wo es um schlechte Haftbedingungen ging. Konkret rügte der Beschwerdeführer, dass die Toiletten nicht angemessen vom Schlafraum getrennt waren und nicht einmal über einen Sichtschutz verfügten. Der EGMR hielt fest, dass Staaten zwar positiv verpflichtet seien, die Würde der Gefangenen,898 die in einer Position der Verletzlichkeit stünden, zu achten und zu ten und in denen er ohne Einwirkung des Staates seine Persönlichkeit entfalten kann, ohne dass der Garantie die Bedeutung einer allgemeinen Handlungsfreiheit zukäme. 892  EGMR (GK), 04.12.2007, Dickson v. United Kingdom, Nr. 44362/04, Rn. 68 (Rechtfertigung als notwendige und unvermeidbare Folge der Inhaftierung). 893  EGMR, Entsch. v. 22.01.2008, Beier v. Germany, Nr. 20579/04. 894  EGMR, 28.01.2003, Peck v. United Kingdom, Nr. 44647/98, Rn. 57; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 8 Rn. 3; Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 8 Rn. 72. 895  EGMR, 19.05.2016, D. L. v. Bulgaria, Nr. 7472/14, Rn. 104; s. a. EGMR (GK), 24.07.2014, Al Nashiri v. Poland, Nr. 28761/11, Rn. 538; EGMR, 24.07. 2014, ­Husayn (abu Zubaydah) v. Poland, Nr. 7511/13, Rn. 532. 896  EGMR, Entsch. v. 27.04.2017, Cazagliu and others v. Romania, Nr. 63945/09, Rn. 124: „[T]hose conditions and the general attitude of the authorities, amounted to a breach of the applicantsʼ human dignity and of their rights guaranteed by Article 8 of the Convention“. 897  EGMR, 15.12.2015, Szafrański v. Poland, Nr. 17249/12, Rn. 22 u. 27 f. 898  Der EGMR loziert hier die positve Pflicht, die Würde zu achten, aber nicht in Art. 8 sondern in Art. 3 EMRK.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 287

schützen, dass aber in casu die kumulativen Effekte für eine Würdeverletzung i. S. v. Art. 3 EMRK nicht ausreichten. Gleichwohl wurde unter Bezugnahme auf das CPT moniert: „The domestic authorities failed to discharge their positive obligation of ensuring a minimum level of privacy for the applicant.“899 In der Rechtsprechung zu Strafvollzugsfällen wird deutlich, dass Aspekte des konventionsrechtlichen Resozialisierungsgebots in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fallen. Obwohl auch hier noch vieles unklar ist, zeigt sich doch eine klare Tendenz des EGMR, die soziale Seite des Menschen, die durch den Grundsatz der Resozialisierung gefördert werden soll, auch über Art. 8 EMRK (und nicht nur über Art. 3) zu schützen bzw. Einschränkungen über Abs. 2 zu moderieren.900 Um die Menschenwürde zu wahren, müssen die Vollzugsbehörden alles Machbare tun, um die Sozialkontakte ausserhalb der Haftanstalt zu fördern.901 Dies kann u. U. einen Transfer – i. S. einer positiven Schutzpflicht – in eine andere Haftinstitution erforderlich machen, damit der Kontakt zu Familie und Freunden nicht endgültig abbricht. Auch hier lässt der Gerichtshof zwar finanzielle und logistische Schwierigkeiten im Einzelfall gelten, allerdings nicht zur Rechtfertigung eines Menschenwürdeverstosses.902 In einem anderen Fall, der Ähnlichkeiten zu den bereits unter Art. 3 EMRK abgehandelten strip searches aufweist, wurde eine Verletzung des Rechts auf Privatleben wegen Missachtung der Verhältnismässigkeit bejaht.903 Dabei hat der Gerichtshof die Achtung der Menschenwürde dezidiert angemahnt.904 899  EGMR, 15.12.2015, Szafrański v. Poland, Nr. 17249/12, Rn. 40 (Hervorhebung durch Autor). 900  EGMR, 07.03.2017, Polyakova and others v. Russia, Nr.  35090/09 u. a., Rn. 88: „The Court further reiterates that rehabilitation, that is, the reintegration into society of a convicted person, is required in any community that established human dignity as its centrepiece (…). Article 8 of the Convention requires the State to assist prisoners as far as possible to create and sustain ties with people outside prison in order to promote prisoners’ social rehabilitation“ (Hervorhebung durch Autor); EGMR, 19.05.2016, D. L. v. Bulgaria, Nr. 7472/14, Rn. 104. 901  EGMR, 07.03.2017, Polyakova and others v. Russia, Nr. 35090/09 u. a., Rn. 100. 902  EGMR, 19.05.2016, D. L. v. Bulgaria, Nr. 7472/14, Rn. 104; EGMR, 10.01.2012, Ananyev and others v. Russia, Nr. 42525/07 u. 60800/08, Rn. 229; EGMR, 07.03.2017, Polyakova and others v. Russia, Nr. 35090/09 u. a., Rn. 113: „[A]s the Court repeatedly stressed, it is incumbent on the Government to organise its penal system in such a way that it ensures respect for the dignity of detainees, regardless of any financial or lo­ gistical difficulties“. 903  EGMR, 26.09.2006, Wainwright v. United Kingdom, Nr. 12350/04, Rn. 48. 904  EGMR, 26.09.2006, Wainwright v. United Kingdom, Nr. 12350/04, Rn. 44: „In these circumstances the Court considers that the searching of visitors may be considered as a legitimate preventive measure. It would emphasise nonetheless that the ap-

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

3. Heimliche Ausforschung und Überwachung Art. 8 EMRK steht dem Einsatz von verdeckten Ermittlern grundsätzlich nicht entgegen. Sofern die verdeckten Ermittlungen mit konkreten Eingriffen in die Privatsphäre verbunden sind, lassen sich indes Beweisgewinnungsverbote ableiten.905 Solche Eingriffe müssen gemäss Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein. Vieles ist im Bereich des Privatlebens noch nicht höchst­ richterlich geklärt worden, insb. was die Formulierung von Mindestanforderungen i. S. v. Art. 8 EMRK anbelangt.906 Art. 8 EMRK umfasst die private Kommunikation; der Einzelne soll frei darüber entscheiden können, mit wem er persönliche Beziehungen knüpft und fortentwickelt.907 Heimliches Vorgehen ist nicht per se ausgeschlossen, bedarf jedoch einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Die Eingriffsgrundlagen müssen sich aus zugänglichen Rechtsquellen ergeben und von ausreichenden prozessualen Sicherheiten zum Schutz der tangierten Grundrechtspositionen, namentlich der Persönlichkeitsrechte, flankiert sein.908 Zudem muss die Massnahme „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Liegen alle diese Voraussetzungen vor, können auch schwerwiegende Eingriffe in die Privatsphäre eines Beschuldigten bzw. Inhaftierten gerechtfertigt sein.909 Zwar verbietet das Recht auf Achtung des Privatlebens die heimliche Ausforschung im Rahmen eines Strafverfahrens nicht explizit: Im Fall Lüdi910 ging es um die Zulässigkeit einer verdeckten Ermittlung bei gleichzeitiger Telefonüberwachung, in deren Verlauf Gespräche zwischen dem Betroffenen und dem verdeckt ermittelnden Polizisten aufgezeichnet wurplication of such a highly invasive and potentially debasing procedure to persons who are not convicted prisoners or under reasonable suspicion of having committed a criminal offence must be conducted with rigorous adherence to procedures and all due respect to their human dignity“; ebd., Rn. 28: „(…) comply strictly with those safeguards and by rigorous precautions protect the dignity of those being searched from being assailed any further than is necessary“. 905  Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 168 ff. 906  So hielt es der EGMR im Fall Teixera de Castro für nicht notwendig, nach der festgestellten Verletzung von Art. 6 EMRK eine allfällige Verletzung von Art. 8 EMRK zu prüfen: EGMR, 09.06.1998, Teixera de Castro v. Portugal, Nr. 25829/94, Rn. 43; so auch in EGMR, 15.12.2005, Vanyan v. Russia, Nr. 53203/99, Rn. 69. 907  EKMR, Entsch. v. 05.04.1990, Niemitz v. Germany, Nr. 13710/88; EGMR, 16.02.2000, Amann v. Switzerland, Nr. 27798/95. 908  EGMR, 25.09.2001, P. G. and J. H. v. United Kingdom, Nr. 44787/98, Rn. 44, 61; EGMR (GK), 21.09.2016, Khan v. Germany, Nr. 38030/12, Rn. 26. 909  EGMR (GK), 05.06.2015, Lambert and others v. France, Nr. 46043/14. 910  EGMR, 15.06.1992, Lüdi v. Switzerland, Nr. 12433/86.



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 289

den.911 Dabei hielt der Gerichtshof fest, dass sich der Beschwerdeführer nach seinem Verkaufsangebot bezüglich zwei Kilogramm Kokain hätte bewusst sein müssen, dass er sich auf eine strafbare Handlung und demzufolge auch auf das Risiko eingelassen habe, auf einen verdeckten Ermittler zu treffen. Für den Gerichtshof lag daher nicht einmal ein Eingriff in das von Art. 8 geschützte Privatleben vor.912 Auf die Menschenwürde rekurrierte der Gerichtshof dabei nicht. Weiter hat der Gerichtshof im Haftkontext ein Recht darauf formuliert, in Ruhe gelassen zu werden. Den Vertragsstaaten ist es verboten, Gefangene in ihrer Haftzelle heimlich abzuhören und durch verdeckte Videoaufnahmen zu erfassen.913 Auch hier verzichtet der Gerichtshof auf jegliche Erwähnung der Würde. 4. Wirkung und Funktion der Menschenwürde Die Untersuchung der strafrechtlichen Rechtsprechung des EGMR hat gezeigt, dass in jüngster Zeit zunehmend Verknüpfungen zwischen der Menschenwürde und Art. 8 EMRK hergestellt worden sind. Diese sind aber nach wie vor eher schwach und werden lediglich als interpretationsleitende Wertungselemente einbezogen. Die konkreten Anwendungsfälle, in denen die Würde des Menschen im strafrechtlichen Kontext von Art. 8 EMRK eine Rolle spielte, deuten auf ein potenziell breites Anwendungsspektrum hin. Sie lassen erkennen, dass der Gerichtshof die Menschenwürde als mit dem Schutz des Privatlebens verwoben erachtet. Es besteht also ein normativer Konnex, der nicht negiert werden kann und Auswirkungen auf die Rechtspraxis zeitigen sollte. 911  EGMR, 15.06.1992, Lüdi v. Switzerland, Nr. 12433/86: Konkret ging es um einen verdeckten Polizisten („Toni“), der sich als potenzieller Käufer ausgeben sollte. Es kam zu insgesamt fünf Treffen zwischen ihm und dem Täter, die alle auf Initiative von „Toni“ stattfanden. Nach Tonis Berichten hatte sich der Beschwerdeführer bereit erklärt, zwei Kilogramm Kokain zu verkaufen. Der Beschwerdeführer wurde festgenommen und auf Grundlage der Berichte von Toni, der in der Hauptverhandlung nicht mehr vernommen wurde, und anderer Zeugen sowie der Aufnahmen der Telefonüberwachung, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. 912  Anders hatte zuvor noch die EKMR entschieden, welche einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK bejaht hatte, da sich die abgehörten und verwerteten Gespräche aus der persönlichen Beziehung zwischen dem Beamten und dem Beschwerdeführer ergeben hätten – eine Beziehung, die auf Täuschung und einem absichtlich herbeigeführten sowie aufrecht erhaltenen Irrtum bzgl. der Identität und Beweggründe des Polizisten beruht habe. Durch dieses Täuschungsmanöver habe der Beamte Zugang zum Privatleben erlangt: EKMR, Entsch. v. 06.12.1990, Lüdi v. Switzerland, Nr. 12433/86. 913  EGMR, 05.11.2002, Allan v. United Kingdom, Nr. 48539/99, Rn. 34 ff.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Explizit als Argumentationstopos thematisiert wurde die Würde insb. in Urteilen zu Haftfällen, jedoch ohne dass ihr dadurch klare Konturen und Wirkungsweisen zugeordnet werden können. Insofern ist die Menschenwürde in diesen Bereichen eher schwach ausgeprägt, wenngleich sie klar in rechtsnormativer Verbindung mit dem Privatleben steht. Im Bereich der heimlichen Ausforschung, Tatprovokation und Überwachung ist die Würde bislang nicht oder kaum fruchtbar gemacht worden. Letztlich bleibt vorderhand offen, inwieweit Art. 8 EMRK einen uneinschränkbaren Menschenwürdekern (i.  S.e. Kerngehalts) schützt,914 wenngleich die Würde im Bereich der Haftbedingungen zu einem Auslegungsfaktor wurde. Aber auch zwischenmenschliche Kontakte werden primär über Art. 8 geschützt; dabei besteht ein Wechselverhältnis mit Art. 3 sowie dem aus der Menschenwürde hergeleiteten Konzept der Resozialisierung.915 Obschon die Rechtsprechung hier noch in den Anfängen steckt, kann doch bereits von einem minimalen Anspruch auf Privatheit als Bestandteil der Menschenwürde ausgegangen werden. Einen eigentlichen Kernbereich des Privaten, der von der Menschenwürde geprägt wird, hat der Gerichtshof bislang nicht explizit ausgehärtet. Man muss daher wohl die weitere Rechtsprechung abwarten, um die Fortentwicklung der Wechselwirkung zwischen Würde und Privatleben genauer untersuchen zu können. An dieser Stelle muss es daher mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass die Menschenwürde in den erwähnten Fallgruppen als Wertungsgesichtspunkt zu Art. 8 EMRK eingebracht worden ist.

VII. Legalitätsprinzip und Menschenwürde 1. Rechtsprechung Ein wichtiger Fall, der Fragen zur Fundamentalität höchstpersönlicher Rechtsgüter aufwirft, ist die verbundene Rechtssache S. W.916 In dieser ging es um die strafrechtliche Beurteilung einer Vergewaltigung während der Ehe, die gemäss dem zur Tatzeit geltenden Strafgesetzbuch nicht strafbar war. Der 914  Verneinend

IntKomm/EMRK-Wildhaber/Breitenmoser, Art. 8 Rn. 4. Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonment, S. 212 ff., 214 ff.; Meyer-Ladewig/ Nettesheim/von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 8 Rn. 109; Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 8 Rn. 54; EGMR (GK), 29.04.1999, Chassagnou and others v. France, Nr. 25088/94 u. a., Rn. 112; Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, 33 (48 f.). 916  EGMR, 22.11.1995, S. W. v. United Kingdom, Nr. 20166/92; zuvor EKMR, Entsch. v. 14.01.1994, C. R. v. United Kingdom, Nr. 20190/92. 915  Van



A. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zum Strafrecht 291

Ehemann machte in seiner Beschwerde geltend, dass erzwungener Geschlechtsverkehr in einer Ehe zulässig sei, da durch Eingehen der Ehe der konkludente Wille zu solchen Handlungen geäussert werde. Erzwungener Geschlechtsverkehr sei daher nur ausserehelich als Vergewaltigung zu bestrafen, nicht aber im Rahmen der Ehe. Deshalb liege in einer strafrechtlichen Ahndung von erzwungenem Geschlechtsverkehr während der Ehe eine Verletzung des strafrechtlichen Legalitätsprinzips nulla poena sine lege. Bis zur damaligen Zeit hatte sich der Gerichtshof nur im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK mit der Menschenwürde befasst. In der Argumentation des Ehemannes sah er nun aber einen eklatanten Widerspruch zu fundamentalen Zielen der Konvention, die sich im Schutz- und Achtungsanspruch der Menschenwürde artikulieren. Für den Gerichtshof stellte erzwungener sexueller Kontakt einen Verstoss gegen die Grundzüge und Vorstellungen einer zivilisierten Ehe und somit gegen Elementarwerte der Konvention dar: „What is more, the abandonment of the unacceptable idea of a husband being immune against prosecution for rape of his wife was in conformity not only with a civilised concept of marriage but also, and above all, with the fundamental objectives of the Convention, the very essence of which is respect for human dignity and human freedom“.917

Dies war mithin das erste Mal, dass der Gerichtshof die Würde als „Essenz der gesamten Konvention“ qualifizierte. 2. Wirkung und Funktion der Menschenwürde Die Würde fungierte im oben dargestellten Fall als präpositives Schutzkonzept,918 welches der Gerichtshof legitimierend herangezogen hat, um das in der Konvention absolut (!) ausgestaltete strafrechtliche Legalitätsprinzip zu relativieren bzw. als vorliegend nicht durchschlagend zu qualifizieren. Die Menschenwürde wird durch den Gerichtshof dergestalt in Position gebracht, dass die Gewährleistung eines kollektiven Instruments zum Schutze der individuellen Grundrechte nur einem kohärenten System anvertraut werden kann, in dessen Zentrum eben „Würde und Freiheit“ stehen. An diesen Prinzipien hat sich die Auslegung der Konvention laut Gerichtshof auszurichten. Dies rechtfertige auch das Zurücktreten des Legalitätsprinzips zugunsten individueller Würde und Freiheit.

22.11.1995, S. W. v. United Kingdom, Nr. 20166/92, Rn. 43. damaligen Zeitpunkt waren noch nicht einmal die ZP Nr. 6 und 13 verabschiedet, die die Menschenwürde jeweils in der Präambel positiviert haben. 917  EGMR, 918  Zum

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Das Konzept der Menschenwürde strahlt auf die gesamte Konvention aus.919 Dadurch wird sie in ihrer Bedeutung nachdrücklich und explizit als Teil der konventionsrechtlichen Wertordnung anerkannt.920 Aus heutiger Sicht mag das Ergebnis dieses Falles evident erscheinen und vollkommen zu Recht auf ungeteilte Zustimmung stossen. Doch sollte man schon auch zu bedenken geben, dass die Derogation des strafrechtlichen Legalitätsprinzips nicht leichtfertig angenommen werden darf. Zumindest dort, wo sich die Rechtslage als unklar erweist und der Täter nicht weiss und auch nicht wissen kann, dass ein spezifisches Verhalten auf konventionsrechtlicher Ebene inakzeptabel ist, darf das Legalitätsprinzips nicht vorschnell ausser Kraft gesetzt werden. Die brisante Frage bleibt, wann sich ein gesellschaftlicher Wandel so weit entwickelt und verfestigt hat, dass den Staaten daraus Pönalisierungspflichten im Namen der Würde des Menschen erwachsen. Es wäre daher zumindest wünschenswert gewesen, wenn der Gerichtshof seine Gründe expliziter dargelegt hätte. So hätte er darauf hinweisen können, dass Vergewaltigung in der Ehe (bereits damals) von der überwältigenden Mehrzahl der Europaratsstaaten kriminalisiert wird; aufgrund dieses klaren Wertewandels in Europa wäre es extrem stossend, im Namen des Legalitätsprinzips eine Aufopferung individueller Würde des Opfers zugunsten der Straflosigkeit des Vergewaltigers in Kauf zu nehmen.

B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechungdes EGMR In den vorstehenden Kapiteln wurden die strafrechtliche Würdejudikatur untersucht, die Schutzbereichsausprägungen herausgearbeitet und systematisiert sowie die jeweils spezifischen Wirkungen und Funktionen der Menschenwürde in den entsprechenden Rechtsprechungsbereichen herausgearbeitet, systematisiert und analysiert. Nachstehend wird nun, dem eingangs erwähnten „ganzheitlichen Ansatz“ entsprechend, der Blickwinkel der Forschung ausgeweitet und auch auf die ausserhalb des Strafrechts liegenden Bereiche gerichtet. Durch diese Öffnung des Forschungsgegenstandes soll eine bloss partielle Rechtsprechungsanalyse verhindert und stattdessen ein umfassendes, tiefschürfendes und aktuelles Bild der Ausprägungen der Menschenwürde in der EMRK gezeichnet werden.

Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 169. Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 238. 919  S. a.

920  Blömacher,



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung293

Dabei wird es auch darum gehen, die Wirkungsanalysen der vorangehenden Abschnitte zu bestätigen, zu akzentuieren oder ggf. zu widerlegen. Das Herausarbeiten der Verästelungen des konventionsrechtlichen Würdeverständnisses soll dann in einem weiteren Schritt eine Synthese der Theorieelemente der Menschenwürde in der EMRK ermöglichen. Nachfolgend wird zunächst der Zusammenhang zwischen dem Lebensschutz und der Menschenwürde, in Form des pränatalen und postmortalen Würdeschutzes, untersucht; daraufhin werden Schutzausprägungen im Bereich des Privatlebens und der persönlichen Selbstbestimmung diskutiert; und wiederum anschliessend kommen Würdeausprägungen in Form des Diskriminierungsverbots, der Bekämpfung sozialer Not, der Achtung der persönlichen Ehre sowie der Glaubens-, Gewissens- und Gedankenfreiheit zur Sprache. Schliesslich werden die in den obgenannten Bereichen vorgefundenen Wirkungen und Funktionen der Würde auf eine abstraktere Ebene gehoben. Diese Abstraktion dient als letzter Baustein zur Synthese der Theorieelemente.

I. Menschenwürde und Recht auf Leben 1. Pränataler Würdeschutz Zu prüfen ist, wann das Leben des Menschen im juristischen Sinne anfängt und ob der Beginn der menschlichen Würde mit dem Beginn des menschlichen Lebens zusammenfällt. Fragen dieser Art sind Gegenstand der Bioethik insgesamt und deren rechtlicher Dimension im Besonderen.921 Fragen eines pränatalen Rechtsschutzes wurden im Rahmen des Lebensrechtsschutzes (Art. 2 EMRK) diskutiert und betreffen in erster Linie die zeitliche Komponente des Rechts auf Leben. In den Fällen, die der Gerichtshof zu entscheiden hatte, zeigt sich eine inhaltliche Verschränkung zwischen der Menschenwürde und dem Lebensrecht. In der Rechtssache Vo922 wurde die Beschwerdeführerin bei einer ärztlichen Routinekontrolle mit einer anderen Patientin verwechselt. Anstatt der vorgesehenen Schwangerschaftsuntersuchung wurde wegen einer Namensverwechslung die Entfernung einer Spirale vorgenommen. Dabei durchstach der behandelnde Arzt die Fruchtblase; aufgrund des Verlusts des Fruchtwassers musste ein therapeutischer Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden. Der Fötus verstarb dabei.

921  Mahlmann, 922  EGMR

Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 293. (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Vor den nationalen Gerichten wurde der sechs Monate alte Fötus nicht als strafrechtlich geschütztes menschliches Wesen qualifiziert, weshalb eine Verurteilung des Arztes wegen fahrlässiger Tötung ausblieb. Die Beschwerdeführerin sah darin eine Verletzung des Rechts auf Leben i. S. v. Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK. Der Gerichtshof sucht seine Erwägungen im Lebensschutz sowie der Menschenwürde: „[I]t may be regarded as common ground between States that the embryo/foetus belongs to the human race. The potentiality of that being and the capacity to become a person – enjoying protection under civil law, moreover, in any States, such as France, in the context of inheritance and gifts, and also in the United Kingdom (…) – require protection in the name of human dignity, without making it a ‚person‘ with the ‚right to life‘ for the purposes of Article 2“.923

Damit ist klar zum Ausdruck gebracht worden, dass der Fötus/Embryo nicht als „Mensch“ i. S. v. Art. 2 EMRK erachtet werden kann.924 Die meisten Europaratsstaaten haben die Regulierung des Schutzes von Föten und Embryonen noch nicht abschliessend geklärt. Dadurch fehlt eine entscheidende Grundlage zur Feststellung eines europäischen Konsenses über Natur und Status des nicht geborenen Lebens, obgleich eine Tendenz in den Nationalstaaten erkennbar ist, dem ungeborenen Leben angesichts der Fortschritte in Biotechnologie und Biomedizin sowie im zivilrechtlichen Rahmen zumindest einen gewissen Schutz zuteilwerden zu lassen.925 Doch den Rückgriff auf Konventionsnormen kann letztlich nur der lebende Mensch beanspruchen.926 Daher kommt dem Fötus kein Lebensschutz zu. Dennoch sind Grenzfälle des Lebens, wie jene des Embryos oder des Fötus, nicht gänzlich schutzlos gestellt. Der Fötus geniesst vielmehr Schutz im Namen der Menschenwürde. Inspiriert durch Völkerrecht,927 Soft-Law-Doku-

923  EGMR

(GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00, Rn. 84. in EGMR (GK), 10.04.2007, Evans v. United Kingdom, Nr. 6339/05,

924  Bestätigt

Rn.  53 f. 925  EGMR (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00, Rn. 82 ff.; Urteilsbesprechung: Groh/Lange-Bertalot, NJW 2005, S. 713 (713 ff.). 926  Anders der Schutzansatz der AEMR, die in Artt. 11 und 24 direkt auf die Menschenwürde und nicht auf die Menschenrechte rekurriert. 927  Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine/Biomedizinkonvention (BMK): In Art. 1 des Übereinkommens wird die Zielsetzung beschrieben, wonach „die Würde und die Identität aller menschlichen Lebewesen“ zu schützen sind. Durch Art. 18 Abs. 1 BMK müssen Staaten einen angemessenen Schutz des Embryos gewährleisten, sofern sie die Forschung in vitro zulassen. Wie der angemessene Schutz gewährleistet werden soll, liegt in der Hand der Signatarstaaten; vgl. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 409.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung295

mente des Europarates,928 die Europäische Grundrechtecharta,929 die Rechtsprechung des EuGH930 sowie die Deklaration der VN über Bioethik und Menschenrechte931 zeigt sich der Gerichtshof gewillt, einen rudimentären Schutz im Vorfeld des geborenen Lebens zu proklamieren.932 In Grenzbereichen des menschlichen Lebens geht es um kritische Fragen über das Menschsein, die das „klassische Bild“ des Menschenwesens, das die Menschenwürde per definitionem voraussetzt, in Frage stellen könnten. Wann der Mensch ein Mensch ist und ein Menschenrecht auf Leben und Würde hat, ist in den Konventionsstaaten hoch umstritten und wird kontrovers diskutiert.933 Da es sich bei der rechtsnormativen Festlegung des Lebens um einen (ethisch) hoch sensiblen Bereich handelt, hält sich der Gerichtshof, dem Subsidiaritätsgrundsatz entsprechend, mit autoritativen Festsetzungen zurück und stützt sich lediglich auf den statuierten Schutz, einen abstrakten, losgelösten Vorfeldschutz.934 Dieses Schutzkonzept bleibt weitgehend unsubstantiiert. Mehr als ein vages Schutzziel im Sinne einer menschenwürdigen Entwick928  Recommendation 1046 (1986) of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe on the use of human embryos and foetuses for diagnostic, therapeutic, scientific, industrial and commercial purposes. 929  Art. 1 EU-GRCh: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen“; hierzu instruktiv: Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S.  282 ff. 930  EuGH, Rs. C-34/10, Oliver Brüstle v. Greenpeace, Slg. 2011, I-09821, Urt. v. 18.10.2011. 931  Universal Declaration on Bioethics and Human Rights, Art. 2: „ (c) to promote respect for human dignity and protect human rights, by ensuring respect for the life of human beings, and fundamental freedoms, consistent with international human rights law (…) (d) to recognize the importance of freedom of scientific research and the benefits derived from scientific and technological developments, while stressing the need for such research and developments to occur within the framework of ethical principles set out in this Declaration and to respect human dignity, human rights and fundamental freedoms“. 932  EGMR, 16.01.2018, Nedescu v. Romania, Nr. 70035/10, Rn. 41, 44  f., 69; Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 2 Rn. 22; vgl. allgemein zur Auslegung 2. Teil B. 933  Methodisch ist zu fordern, dass das „Wesen“ des Menschen nicht ohne ausserrechtliche Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften und aus der Philosophie begründet wird; vgl. diesbezüglich (und einleitend) das Kapitel zum Menschenbild sowie zum Wesen des Menschen: 2. Teil A. IV. 2. Die Rechtsordnung hat diese ausserlegalen Determinanten des Menschseins selbständig zu bewerten und in Normen zu giessen und in der Rechtsprechung zu aktualisieren. Dabei handelt es sich um einen (kontroversen) rechtspolitischen Prozess. Vgl. Pernthaler, FS Schäffer, S. 613 (630). 934  S. a. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 2 Rn.22; dieser Vorfeldschutz wurde jüngst bestätigt: EGMR, 16.01.2018, Nedescu v. Romania, Nr. 70035/10, Rn. 69.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

lung lässt sich daraus nicht herleiten. So heisst es in einem Urteil: „Es sind seine Möglichkeit und seine Fähigkeit, ein Mensch zu werden, (…) die im Namen der menschlichen Würde geschützt werden müssen, ohne den Embryo oder Fötus zu einem ‚Menschen‘ zu machen, der ein ‚Recht auf Leben‘ i. S. v. Art.  2 EMRK hätte“.935 Immerhin kann gesagt werden, dass sich die Konvention einem rahmenartigen menschlichen Gattungsschutz und einer menschenwürdigen Existenz künftiger Generationen in Ansätzen verpflichtet sieht.936 Geschützt wird demnach die Potenzialität des Fötus, seine Entwicklungsfähigkeit hin zu einem geborenen Menschen. Ein solcher Gattungsschutz lässt sich durch die konventionsrechtliche Menschenwürde rechtfertigen, wenngleich der rechtliche Schutz nicht jenem des lebenden Individuums gleichkommt.937 Die normative Festlegung, wann der Lebensschutz beginnt, fällt in den Ermessensspielraum („margin of appreciation“) der Nationalstaaten;938 es ist zudem im Rahmen (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00, Rn. 84. Abwägung mit den individuellen Rechten der davon Betroffenen (wie bspw. die schwangere Frau in EGMR (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00. Fun­ diert wird dieser Schutz in der Potenzialität zur Menschwerdung: EGMR (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00, Rn. 84: „The potentiality of that being and its capacity to become a person – enjoying protection under the civil law, moreover, in many States, such as France, in the context of inheritance and gifts, and also in the United Kingdom (…) – require protection in the name of human dignity, without making it a ‚person‘ with the ‚right to life‘ for the purposes of Article 2“. 937  Zwar bezieht der Gerichtshof das vorgeburtliche Leben in den Anwendungsbereich der Menschenwürde mit ein. Allerdings verneint er dem Fötus den Lebensschutz i. S. v. Art. 2 EMRK, wodurch keine klaren Konturen dieses Vorfeldschutzes gezeichnet werden können. Dafür lässt der Gerichtshof erkennen, dass das Recht auf Leben durch die gebotene Achtung der Würde eines jeden menschlichen Lebewesens überhaupt erst positiv konstituiert wird: EGMR (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00, Rn. 80. Ferner Kirste, Menschenwürde und Freiheitsrechte, S. 187 (190), wonach Inhalt der Menschenwürde das aus der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung entspringende Potentialsei. Sie selbst sei aber nicht potenziell, sondern immer schon aktuell vorhanden. Potenziell sei die Freiheitsbetätigung, deren Aktualität dann in den nachfolgenden Grundrechten geschützt sei. 938  EGMR (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00, Rn. 82. Das Urteil war innerhalb der Richterschaft hoch umstritten. Zehn der siebzehn Richter der Grossen Kammer haben Sondervoten verfasst, in denen sie die fehlende Festlegung hinsichtlich des Lebensschutzes kritisierten. Fünf Richter waren der Ansicht, dass dem ungeborenen Kind kein Lebensrecht zukomme; fünf andere Richter vertraten die Ansicht, dass Art. 2 EMRK auch den Nasciturus mitumfasse. Diese Voten legen Zeugnis da­ rüber ab, dass sich rechtliche Vorstellungen wie auch Moralvorstellungen in diesem Bereich stark unterscheiden können. Diese Rechtsprechung wurde nachfolgend bestätigt in EGMR (GK), 10.04.2007, Evans v. United Kingdom, Nr. 6339/05. Zwar liegt es im Aufgabenbereich des EGMR, die Begriffe und Konzepte der EMRK autonom auszulegen und Antworten auf drängende Menschenrechtsfragen der Gegenwart zu liefern. Gleichwohl muss der Gerichtshof darauf bedacht sein, dass seine Rechtspre935  EGMR 936  In



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung297

der Konvention weder wünschenswert noch notwendig, einen einheitlichen Schutz des Fötus oder Embryos in allen 47 Staaten zu statuieren. Dies bedeutet aber nicht, dass das ungeborene Leben schutzlos sein darf. Nur der Rechtsstaat, der an die Menschenwürde gebunden ist, kann die gebotene Pflicht zum Schutz des Fötus hinreichend gewährleisten.939 Der objektiv-rechtliche pränatale Würdeschutz fordert demnach ein Mindestmass an Regulation, Risikokontrolle, Existenzsicherung und freier Entwicklungsmöglichkeit des Fötus sowie einen Mindestschutz vor humanbiologischen Eingriffen.940 Dass der Würdeschutz im Vorfeld, auf unionsrechtlicher Ebene, kein absoluter sein kann, wird auch im Schrifttum festgehalten.941 Für die EMRK zeichnet sich ebenfalls kein absoluter Würdeschutz i. S. eines absoluten Instrumentalisierungsverbots ab, da die Biomedizinkonvention des Europarates die verbrauchende Embryonenforschung zulässt. Zudem impliziert die Rechtsprechung des EGMR lediglich die Pflicht, Mindestvorgaben zu statuieren, um den Nasciturus nicht vollends schutzlos zu stellen. Dies spricht eher für ein Konzept des gestuften Menschenwürdeschutzes, das die Embryo­ nenforschung zulässt, allerdings unter der Voraussetzung, dass willkürliche Versuche und Instrumentalisierungen mittels spezifischer Vorschriften und Garantien verhindert werden.942 Dasselbe hat, um Willkür auszuschliessen, für den Bereich des vorzeitigen Schwangerschaftsabbruchs zu gelten. Als unzulässig dürfte jede Lösung erchung rezeptionsfähig bleibt für die Konventionsstaaten, was nicht bedeutet, dass der Gerichtshof dadurch in einen Konformismus verfällt; vgl. Wildhaber/Hjartarson/Donelly, HRLJ 2013, S. 248 (249 f.); weiterführend zur margin of appreciation und zum Konsensprinzip: Dzehtsiarou, European Consensus and the Legitimacy of the European Court of Human Rights, S. 129 ff. 939  Vgl. Bielefeldt, Menschenwürde und Folterverbot, S. 4 (10). 940  Additional Protocol to the Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine, on the Prohibition of Cloning Human Beings. 941  Vgl. Petersen/Nohlen/Vöneky, Regelungsvorschläge zum Schutz menschlicher extrakorporaler Embryonen im Völker- und Europarecht, S. 605 (634); Vöneky/Petersen, EuR 2006, S. 340 ff.; Ekardt/Kornack, ZEuS 2010, S. 129 f.; Schmidt, ZEuS 2002, S. 639; Jarass, EU-Grundrechte, Art. 2 Rn. 6 („zweifelhaft“); a. A. Höfling, in: Tettinger/Stern, Grundrechtecharta, Art. 1 Rn. 27, der eine weite Auslegung des Art. 1 EU-GRCh fordert, da der Menschenwürdeschutz „teleologisch auf Inklusion“ angelegt sei. 942  EGE, Opinion Nr. 15 from 14. November 2000, Ethical aspects of human stem cell research and use, § 2.4; vgl. aber EuGH-Entscheidung in der Rs. C-34/10, wo der Grundstein eines absoluten Würdeschutzkonzeptes für frühembryonales Leben i.  S. eines umfassenden Instrumentalisierungsverbots gelegt wurde; Bespr. in: Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 301 f.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

achtet werden, die keine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen erlaubt, indem einer Position (jener der Mutter oder des Fötus) allein der Vorrang gewährt wird. Innerhalb dieses Rechtsrahmens sind die Vertragsstaaten aber frei und geniessen einen weiten Ermessensspielraum.943 Die Würde des Menschen scheint in der Würde des Fötus eine Grenze zu finden.944 Dass der Schutz des ungeborenen Lebens (wie auch der Mutter) ein besonderes Gewicht gegenüber dem Recht auf Auskunft über die eigene Herkunft hat, beweist die Rechtssache Odièvre945, in welcher der Gerichtshof in der sog. anonymen Geburt, wie sie in Frankreich möglich ist, ein „Mittel zum Schutz des Embryos“ vor Abtreibung gesehen hat.946 Da eine normative Handlungsanleitung zur Umsetzung dieses Vorfeldschutzes bislang fehlt, ist letztlich von einer lediglich rechtspolitischen Signalwirkung durch den Gerichtshof auszugehen.947 In der Biomedizin will sich der Gerichtshof nicht durch richterlichen Aktivismus hervortun. Aufgrund der zuweilen emotional geführten rechtspolitischen Debatte und einem fehlenden europäischen Standard in diesem Bereich scheut der Gerichtshof davor zurück, auf einen unitarisierenden Standard hinzuwirken. Er belässt den Vertragsstaaten konsequenterweise bei der rechtlichen Regelung dieser Fragen einen weiten Ermessensspielraum.948 Empirisch lassen sich diese Fragen kaum angehen und solange kein europäischer Wertekonsens ersichtlich ist, kann der Gerichtshof nicht im Namen der Menschenwürde einen konventionsrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens statuieren. Denn Fragen des Lebensanfangs greifen tief in politische Überzeugungssätze verfasster Gesellschaften ein, deren rational-diskursive Anpassung Ausdruck politischer Selbstdefinition ist, die keiner endgültigen Antwort durch den Gerichtshof zugänglich ist.

943  Auf eine Abwägung der sich gegenübertretenden Interessen kann nicht verzichtet werden: EGMR (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00; EKMR, 19.05.1976, Brüggemann and Scheuten v. Germany, Nr. 6595/75; Grabenwarter/ Pabel, Europäische Menscherechtskonvention, § 18 Rn. 20 f.; Lux-Wesener, EuGRZ 2005, S. 558 (558 ff.). 944  So hat der EGMR denn auch in einem Fall festgestellt, dass die nationale Gesetzgebung in einem Abtreibungsfall einen fairen Ausgleich zwischen dem Schutz des Fötus und den Interessen der werdenden Mutter andererseits schaffen würde; EGMR, Entsch. v. 05.09.2002, Boso v. Italy, Nr. 50490/99. In der Sache wird das Recht des Fötus mit dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter in Ausgleich gebracht. 945  EGMR (GK), 13.02.2003, Odièvre v. France, Nr. 42326/98; Ress, Würde des Menschen, S. 703 (709). 946  EGMR (GK), 13.02.2003, Odièvre v. France, Nr. 42326/98, Rn. 45, 49. 947  Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 116. 948  EGMR (GK), 16.12.2010, A., B., C. v. Ireland, Nr. 25579/05, Rn. 237 f.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung299

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich der Gerichtshof mit Blick auf den rechtlichen Schutzstatus des Nasciturus vorsichtig und offen zugleich zeigt.949 2. Postmortaler Würdeschutz In der Rechtssache Jäggi950 hatte der Gerichtshof zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer ein aus Art. 8 EMRK gewährleistetes Recht auf Kenntnis seiner Abstammung hat. Konkret verlangte der Beschwerdeführer die Vornahme einer DNA-Analyse an einem Verstorbenen. Laut dem Gerichtshof schützt die Konvention das Interesse des Einzelnen, seine Abstammung und damit die Wahrheit über einen wichtigen Aspekt seiner persönlichen Identität aufzudecken. Der Gerichtshof wog im vorliegenden Fall das Recht Dritter (Angehöriger) auf körperliche Unversehrtheit des Verstorbenen („the right of third parties to the inviolability of the deceased’s body“) und das Recht auf Respekt vor den Toten („the right to respect for the dead“) mit dem Recht des Beschwerdeführers auf Kenntnis seiner Abstammung ab. Er kam zum Schluss, dass das Recht, in Frieden zu ruhen, nur einen zeitlich limitierten Schutz geniesse.951 Ein eigenständiges Recht aus Art. 8 EMRK könne nach dem Tod nicht bestehen.952 Die Rechtsprechung des EGMR gewährleistet demnach kein über den Tod hinauswirkendes Recht, das den Leichnam vor Eingriffen Dritter schützt.953 Im Ergebnis muss festgehalten werden, dass die EMRK keine Grundlage für einen über das Lebensende hinausreichenden Achtungsanspruch des Einzelnen bietet. Vielmehr knüpft der EGMR explizit an die Rechte der Angehörigen an, woraus als Reflexwirkung ein rudimentärer Würdeschutz des Leichnams erwächst.954

949  Schwarzburg,

Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 297. 13.07.2006, Jäggi v. Switzerland, Nr. 58757/00. 951  EGMR, 13.07.2006, Jäggi v. Switzerland, Nr. 58757/00, Rn. 37 ff. 952  EGMR, 13.07.2006, Jäggi v. Switzerland, Nr. 58757/00, Rn. 42. 953  Dies dürfte an den unterschiedlichen Rechtstraditionen des Common law (actio personalis moritur cum persona) und Kontinentaleuropas liegen; vgl. hierzu EGMR, 09.06.2016, Madaus v. Germany, Nr. 44164/14, concurring opinion of Judge Yudkivska; vgl. ferner vgl. EGMR, 24.06.2014, Petrova v. Latvia, Nr. 4605/05, concurring opinion of Judge Wojtyczek: „In my view, protection of family life under Article 8 of the Convention encompasses the right to respect for the dignity of a deceased close relative“. 954  EGMR, 13.01.2015, Elberte v. Latvia, Nr. 61243/08, Rn. 142; zumeist werden solche Fälle aber ohne Rückgriff auf die Menschenwürde gelöst; EGMR, 24.06.2014, Petrova v. Latvia, Nr. 4605/05, Rn. 53 ff. 950  EGMR,

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

II. Menschenwürde und Autonomie Existenzielle Fragen rund um Leben und Tod rühren an das „ethisch-­ moralische Grundverständnis einer menschlichen Gemeinschaft“.955 Die brisante und hochaktuelle Frage, wie die Würde des Menschen am Ende des Lebens gewahrt werden soll, wird in verschiedenen Staaten kontrovers diskutiert.956 In einer Zeit des steten medizinischen Fortschritts und der damit einhergehenden längeren Lebenserwartung fürchten sich viele Menschen davor, mit oktroyierten medizinischen Behandlungen in einem Zustand am Leben erhalten zu werden, der ihrer Auffassung von Selbstbestimmung und Selbstdarstellung zuwiderläuft.957 Hier treffen oft gänzlich unterschiedliche Menschenwürdekonzeptionen aufeinander. Auf der einen Seite des Argumentationsspektrums steht die Überzeugung, dass Würde notwendigerweise den Besitz und die Ausübung menschlicher Fähigkeiten958 umfasse. Auf der anderen Seite wird auf einen intrinsischen Wert abgestellt, der jedem Menschen zukommt, unabhängig davon, ob er seine menschlichen Fähigkeiten effektiv ausüben kann.959 Besonders intensiv wird darüber diskutiert, inwiefern dem Sterbewunsch einer Person nachgekommen werden soll, mit anderen Worten, ob eine Person dem Leben einer anderen Person auf deren Wunsch vorzeitig ein Ende setzen darf. Die Tatsache, dass Fragen der Euthanasie nicht völkervertraglich und zuweilen auch nicht national angegangen und normiert werden, führt dazu, dass diese komplexen Probleme unter dem bestehenden menschenrechtlichen Regelwerk und den ihm zugrunde liegenden Prinzipien gelöst werden müssen.960 955  Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 59 mit Verweis auf Gärditz, Menschenwürde, Biomedizin und europäischer Ordre Public, S. 11 (31). 956  Adorno, Rev. med. 2005, S. 95 (95 ff.). In ethisch heiklen Fragen lässt der EGMR Zurückhaltung walten und löst die Fälle nicht – wie es intuitiv naheliegend wäre – mit der Menschenwürde: s. EGMR (GK), 27.08.2015, Parrillo v. Italy, Nr. 46470/11. 957  So EGMR, 20.05.2014, McDonald v. United Kingdom, Nr. 4241/12, Rn. 47. 958  Verstanden als menschliche Gattungseigenschaften. 959  Vgl. Winslade, Menschenwürde, Bewusstsein und menschliche Existenz, S. 687 (687 f.), der argumentiert, dass bspw. anenzephale Kinder, die kein Bewusstsein haben, keine Menschenwürde besitzen. Selbiges gelte für Menschen im vegetativen Zustand. 960  Als handlungsleitende normative Prinzipien sind dem EGMR Konzepte der Menschenwürde und Autonomie an die Hand gegeben; Negri, Universal Human Rights and End-of-Life Care, S. 1 (18). Diese beiden Prinzipien sind zwar voneinander unterscheidbar, aber nicht voneinander trennbar; Beckmann, Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende, S. 27 (42); vgl. Wicks, MedLR 2001, S. 17



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung301

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats beschäftigt sich seit längerem mit Euthanasie und Menschenwürde und verabschiedete 1999 die Empfehlung über den „Schutz der Menschenrechte und der Würde der Todkranken und Sterbenden“961. Angesprochen wird u. a. der Schutz der Selbstbestimmung Todkranker vor Behandlungen, die gegen ihren Willen vorgenommen werden. Dabei handelt es sich um Soft Law, das bei der Auslegung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle fungieren kann.962 Grundsätzlich aber fallen Fragen der Sterbehilfe in den Verantwortungs­ bereich der Konventionsstaaten; es gehört zur politischen und rechtlichen Selbstdefinition einer verfassten Gesellschaft, in diesem Komplex normative Antworten auszuhandeln. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat das Thema Sterbe­ hilfe in einem Entschluss von 2009 erneut aufgenommen. Darin werden die Europaratsstaaten aufgefordert, sich dem Problemkomplex zu stellen; ein ­liberaler Rechtsstaat dürfe ethische Fragen rund um das Sterben und das Lebensende von Menschen nicht unbeantwortet lassen.963 Aus der EMRK ergibt sich gleichwohl ein menschenrechtlicher Rechtsrahmen, der den Staaten einen Ermessensspielraum belässt. Nachfolgend wird untersucht, welche normative Rolle die Menschenwürde auf konventionsrechtlicher Ebene spielt und inwieweit die Menschenwürde erste Konturen erhalten hat. Tangierte Konventionsrechte sind Artt. 2, 3 und 8 EMRK. Dabei ist eine eingehende Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs äusserst ergiebig, um die Rolle der Menschenwürde bei der Auslegung der konkret einschlägigen Konventionsrechte zu ergründen. 1. Suizid und aktive Sterbehilfe Der (erfolgreiche oder nicht erfolgreiche) Suizid ist in allen Konventionsstaaten weder zivilrechtlich noch strafrechtlich sanktionierbar.964 Vielmehr wurde ein Recht auf Suizid auch konventionsrechtlich anerkannt.965 (39 f.). Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung sei das Fundament der Menschenwürde: Vellguth, Die Geschichte der Menschenwürde und ihrer brutalen Missachtung, S. 129 (135). 961  Recommendation 1418 (1999)1 on the Protection of the human rights and dignity of the terminally ill and dying. 962  2. Teil B. II. 1. b). 963  Resolution 1649 (2009)1, Palliative care: a model for innovative health and social policies. 964  Puppinck/de La Hogue, IJHR 2014, S. 735 (739). 965  EGMR, 20.01.2001, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07, Rn. 51; Marguénaud, RTD Civ. 2011, S. 311 (311).

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Anders sieht die Sache aus, wenn Dritte involviert sind: Als aktive Sterbehilfe wird die gezielte vorzeitige Lebensbeendigung bezeichnet. Die Diskussion rund um Suizid und aktive Sterbehilfe kreist um die Frage, ob es ein eigentliches „Recht auf Sterben“ („right to die“) gebe. Von eminenter Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass Art. 2 EMRK nicht nur das intentionale Töten eines Menschen durch den Staat verbietet, sondern auch adäquate Massnahmen des Staates zum Schutz des Lebens des Einzelnen fordert.966 Staaten haben die Pflicht, einen legislativen Rahmen zu schaffen, der strafrechtliche Verantwortlichkeit bei vorsätzlichen Tötungen einschliesst und bei entsprechendem Verdacht effektive, prompte, unabhängige Ermittlungen möglich macht.967 In gewissen Fällen kann den Vertragsstaaten die positive Pflicht obliegen, geeignete Massnahmen zu treffen, um Personen vor Bedrohungen ihres Lebens durch private Dritte zu schützen.968 Solche Gefährdungen liegen insbesondere in Haftsituationen vor, da sich die inhaftierte Person hier unter der absoluten Kontrolle des Staates und daher in einer verletzlichen Position befindet, was die besondere Schutzbedürftigkeit des Individuums begründet. Dasselbe gilt auch im Bereich der öffentlichen Gesundheit („apply […] also in the public-health sphere“).969 Dabei ist zentral, dass der verpflichtete Staat die Zurechnungs- und Einsichtsfähigkeit einer sterbewilligen Person überprüft („obliges the national authorities to prevent an individual from taking his or her own life if the decision has not been taken freely and with full understanding of what is involved“).970 Unter diesen Bedingungen ist die Regelung bzw. Verrechtlichung der Euthanasie konventionsrechtlich erlaubt; nichtsdestoweniger müssen nationale Normen erlassen werden, die Missbrauch vorbeugen und exponierte Personen schützen.971

966  Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 2 Rn. 31; weiterführend zu den Schutzpflichten: Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 19 ff.; Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of The European Convention of Human Rights, S.  205 ff. 967  Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 2 Rn. 33; EGMR, 27.06.2006, Byrzykowski v. Poland, Nr. 11562/05, Rn. 105. 968  Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 43 ff. m. w. N.; instruktiv EGMR (GK), 28.10.1998, Osman v. United Kingdom, Nr. 23452/94, Rn. 115; weiterführend Mavronicola, MLR 2017, S. 1026 (1031); Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (37). 969  EGMR (GK), 17.01.2002, Calvelli and Ciglio v. Italy, Nr. 32967/96, Rn. 49; EGMR, Entsch. v. 11.07.2006, Burke v. United Kingdom, Nr. 19807/06. 970  EGMR, 20.01.2001, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07, Rn. 54. 971  Vgl. EGMR, 20.01.2001, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07, Rn. 37, 58.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung303

Ein prominenter Fall, der im Lichte von Artt. 2 und 8 EMRK geprüft wurde, ist die Rechtssache Pretty.972 Die Rechtserwägungen dieses Entscheids haben noch immer volle Gültigkeit. In der Sache ging es um eine Frau, die an einer unheilbaren und stetig fortschreitenden Erkrankung der motorischen Zellen im zentralen Nervensystem litt; durch diese Muskelschwächekrankheit973 sah sie einem Tod durch Ersticken, infolge Erschlaffens der Atemhilfsmuskulatur, entgegen. Da die Beschwerdeführerin Diane Pretty einen qualvollen und unwürdigen Tod befürchtete, bat sie ihren Ehemann um aktive Sterbehilfe, die im Vereinigten Königreich unter Strafe steht. Ein Gesuch um einen vorgängig zugesicherten Straferlass wurde von allen nationalen Instanzen abgelehnt; darin sah die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 2 EMRK, denn dieser gewähre ihr auch das Recht, selbst zu wählen, ob sie weiterleben wolle. Ferner rügte sie eine Verletzung von Art. 3 EMRK, da der Staat an ihrer unmenschlichen und erniedrigenden Situation mitverantwortlich sei. Schliesslich rügte Diane Pretty auch eine Verletzung von Art. 8 EMRK, der das Recht umfasse, selbst zu entscheiden, wann und wie man sterben wolle. Der Gerichtshof stellt in seinen Rechtserwägungen fest: „The right to life could not, whithout a distortion of language, be interpreted as conferring the diametrically opposite right, namely a right to die“.974

Mit Blick auf die Menschenwürde und das daraus fliessende Recht auf Selbstbestimmung befindet der Gerichtshof: „[Art. 2 could not be interpreted as a] right to self-determination in the sense of conferring on an individual the entitlement to choose death rather than life“.975

Die Argumentation des Gerichtshofs läuft darauf hinaus, dass eine negative Grundrechtskomponente976 nur bei Handlungsrechten anerkannt werden könne, die dem Grundrechtsträger Optionen zwischen Tun und Unterlassen eröffnen.977 Der EGMR beruft sich dabei auf die begriffliche Unterschei29.02.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02. Erkrankung hatte bereits einen derart negativen Verlauf genommen, dass sie kaum noch sprechen und schlucken konnte, weshalb sie durch eine Sonde ernährt werden musste und vom Hals abwärts gelähmt war. 974  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 39. 975  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 39. 976  Denn im Kern geht es darum, dass der Staat keine strafrechtlichen Normen erlässt, die dem Ehemann von Frau Pretty eine strafrechtliche Verantwortung auferlegen, sollte er seiner Frau beim Suizid helfen. 977  Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 78. Es geht also vorliegend nicht darum, dass Diane Pretty daran gehindert würde, eine tödliche Substanz zu erhalten; vgl. EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 56. 972  EGMR, 973  Ihre

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

dung zwischen „Recht“ und „Freiheit“.978 Während der Terminus Freiheit gewisse Handlungsoptionen eröffne, könne das Recht auf Leben nicht in ein Recht auf Sterben umgedeutet werden.979 Insoweit ist Art. 2 EMRK eher als „statisches Recht des Habens“ und weniger als „dynamisches Recht des Dürfens“ zu qualifizieren.980 Der EGMR hielt weiter fest, dass die Beschwerdeführerin jedenfalls ein Recht auf Respektierung ihrer Entscheidung über die Qualität der letzten Augenblicke ihres Lebens habe. Indem die Beschwerdeführerin vom Gesetz daran gehindert werde, durch den vorzeitigen Tod einem Leiden zu entgehen, das sie persönlich als unwürdig empfinde, liege ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK vor.981 Der EGMR loziert die Prinzipien der persönlichen Autonomie und Selbstbestimmung als Ausflüsse der der Konvention zugrundeliegenden Menschenwürde („the very essence of the convention is respect for human dignity and human freedom“) in Art. 8 EMRK.982 Diese Prinzipien sind für die Auslegung massgebend.983 Sie gelten jedoch nicht absolut.984 Hierin zeigt sich der objektiv-rechtliche Charakter der Menschenwürde, der – als Essenz der gesamten EMRK – in jeder Konventionsgarantie enthalten ist.985 Diese Prinzipien sind mit den legitimen Bedürfnissen einer demokratischen Gesellschaft nach einem adäquaten Lebensschutz in Ausgleich zu bringen. Der Gerichtshof würdigt das britische Sterbehilfeverbot insofern, als er anerkennt, dass das fragliche Gesetz dem Lebensschutz diene, insbesondere demjeniger schwacher und in ihrer Entscheidungsfähigkeit eingeschränkter Personen. Es obliege dem Staat, das mit einer Auflockerung des Sterbehilfeverbots verbundene Risiko und die Wahrscheinlichkeit von Missbrauch abzuschätzen. Letztlich liege es in den Händen der zuständigen Staatsorgane, deren grö978  Vgl. die offizielle Bezeichnung der EMRK, die nach Menschenrechten und Grundfreiheiten unterscheidet. 979  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 39. 980  Merten, in: Merten/Papier, HBdGR, Bd. II, § 42 Rn. 7 f. 981  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 61 ff. 982  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 61 ff.; vgl. weiterführend zur Bedeutung personaler Autonomie im Begriff der Menschenwürde: Muders, Autonomie als Würde?, S. 3–26. 983  Zimmermann, ex ante 2016, S. 41 (47). Aspekte des menschenwürdigen Lebens und Sterbens werden nicht durch Art. 2 EMRK gesichert; Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 2 Rn. 14; vgl. EGMR, Entsch. v. 15.02.2000, S. C. C. v. Sweden, Nr. 46553/99 (Ausweisung eines HIV-Kranken nach Sambia). 984  Wicks, MedLR 2001, S. 17 (18). 985  Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 109; Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 242; vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 167 f.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung305

ssere Nähe zu den vitalen gesellschaftlichen Kräften ihnen ermögliche, Ausnahmen von dem Verbot zu regeln. Deshalb sei der generelle Charakter des Verbots nicht unverhältnismässig und durch Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt. Auch wenn der Gerichtshof in Pretty die Einschränkungsvoraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK als erfüllt und das Verbot deshalb als gerechtfertigt erachtet hat, werden neue Schutzaspekte von Art. 8 EMRK in künftigen Euthanasiefällen zweifelsohne von Relevanz sein: „In the light of [its] case-law the Court considers that an individual’s right to decide by what means and at what point his or her life will end, provided he or she is capable of freely reaching a decision on this question and acting in consequence, is one of the aspects of the right to respect for private life within the meaning of Article 8 of the Convention“.986

Jeder Mensch hat also das Recht, die freie Entscheidung zu treffen, seinem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen und gemäss dieser Entscheidung selbständig zu handeln („act in consequence“).987 Demnach kann der Menschenwürde als Mindestvoraussetzung entnommen werden, dass jemand, der sich bei voller Urteilsfähigkeit und ohne äusseren Druck dafür entscheidet, sein Leben zu beenden, um einer für ihn nicht zumutbaren Lebensphase zu entgehen, in diesem Entscheid zu respektieren ist.988 Dies ist eine Konsequenz des Autonomiegrundsatzes. Nicht restlos geklärt ist allerdings, ob Autonomie als abstufbar zu begreifen ist, mit der Folge, dass ein graduelles „Autonomiedefizit“ durch Fürsorge zu kompensieren wäre. In der Rechtsprechung findet sich eine solche Kompensation im Rechtskleid positiver Schutzpflichten (noch) nicht. Einer allfälligen rechtlich erforderlichen Fürsorge würden aber ohnehin durch den „informed consent“ Grenzen gesetzt.989 So wäre es ein Verstoss gegen die Würde eines Menschen, ihn gegen seinen erklärten Willen zum Weiterleben zu zwingen. Damit ist die bereits aufgeworfene Frage verbunden, ob dem Staat eine positive Pflicht obliegen kann, für einen menschenwürdigen Suizid zu sorgen („to permit a dignified suicide“). Dies hat der EGMR bislang verneint;990 er deutet aber an, dass eine solche Pflicht in der 20.01.2001, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07, Rn. 51. 20.01.2001, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07, Rn. 51. 988  Vgl. Muders, Autonomie als Würde?, S. 3 (4), Respekt vor Personen verlange auch den Respekt vor deren eigenständigen Entscheidungen. 989  Beckmann, Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende, S. 27 (30); Wicks, MedLR 2001, 17 (22); Negri, Universal Human Rights and End-of-Life Care, S. 1 (6); vgl. EKMR, Entsch. v. 05.02.1973, X. v. Denmark, Nr. 5132/71; EGMR, 08.11.2011, V. C. v. Slovakia, Nr. 18968/07, Rn. 176 ff. 990  Er tat dies insbesondere mit dem Verweis auf ein inhärentes Missbrauchs­risiko: EGMR, 20.01.2001, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07, Rn. 56. 986  EGMR, 987  EGMR,

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

EMRK angelegt sein könnte: „Even assuming that the States have a positive obligation to adopt measures to facilitate the act of suicide with dignity, the Swiss authorities have not failed to comply with this obligation in the instant case“.991 Dabei handelt es sich aber eher um eine Hypothese, bestenfalls um ein obiter dictum, ohne direkte rechtliche Folgen.992 Dennoch zeigt die Formulierung exemplarisch auf, dass die Menschenwürde in Art. 8 EMRK eingebettet ist.993 Angesichts des fehlenden europäischen Konsenses in dieser Frage und ihrer moralisch-ethischen Dimension sieht der Gerichtshof von einer Entscheidung ab. Zudem schwingt wohl auch das diffizile Problem mit, dass sich kaum eruieren lässt, was dem Einzelnen als Ausdruck oder Bestätigung seiner Würde am Lebensende gilt. Entsprechend wird den Staaten ein weiter Ermessensspielraum994 bei der Regelung des Problemkomplexes der aktiven Sterbehilfe belassen. 2. Passive Sterbehilfe Passive Sterbehilfe liegt vor, wenn lebensverlängernde Massnahmen entweder nicht eingeleitet oder abgebrochen werden. Die Frage, ob die passive Sterbehilfe im Lichte der Menschenwürde erlaubt oder gar geboten ist, wurde noch nicht abschliessend geklärt.995 Die Menschenwürde kann auch nicht dazu dienen, exakte Antworten auf derart kontroverse Fragen zu geben. Sie kann jedoch einen normativen Rahmen ziehen, in den sich politische und letztlich rechtliche Lösungen einpassen lassen.996 Im Konventionsraum herrscht eine grosse Zersplitterung der Regelungen. Nur in vier Staaten ist die Sterbehilfe bislang erlaubt.997 Es ist daher nachvollziehbar, dass der Gerichtshof auf einen fehlenden rechtlichen Konsens verweist und sich entsprechende Zurückhaltung bei der Judizierung einschlägiger Fälle auferlegt. Konventionsrechtlich von Bedeutung bleibt die Forderung an die Mitgliedstaaten, den Bereich passiver Sterbehilfe gesetzlich zu 20.01.2001, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07, Rn. 61. 4. Teil B. II. 1. c). 993  Negri, Universal Human Rights and End-of-Life Care, S. 1 (24). 994  EGMR (GK), 05.06.2015, Lambert and others v. France, Nr. 46043/14. 995  Vgl. aber die Andeutungen des Gerichtshofes: EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 52 ff. 996  Hilgendorf/Joerden/Thiele, The Importance of Human Dignity in the Field of Medicine, S. 477 (481). 997  In Holland, Luxemburg, Belgien und der Schweiz, wobei lediglich in der Schweiz die aktive Variante der Sterbehilfe verboten ist; Puppinck/de La Hougue, IJHR 2014, S. 735 (736 f.). 991  EGMR, 992  Vgl.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung307

regulieren; so hat der EGMR explizit festgehalten, dass rechtlich nicht verbindliche medizinethische Normen in Bezug auf das Recht auf Sterben den Ansprüchen von Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht genügen.998 Obwohl der Gerichtshof auf die Risiken, die mit einer Legalisierung der Sterbehilfe (sowohl in ihrer aktiven wie auch in ihrer passiven Variante) einhergehen, hinweist,999 zeigt sich seine Rechtsprechung bzw. die Konvention gegenüber passiver Sterbehilfe ziemlich permissiv. Deren Regelung wird weitgehend den Konventionsstaaten überlassen.1000 Medizinische Behandlungen, die gegen den Willen der betroffenen Person vorgenommen werden, sind als Verstoss gegen Würde und Autonomie des Menschen zu qualifizieren.1001 Kein Verstoss gegen die Menschenwürde ist zu konstatieren, wo eine Behandlung therapeutisch indiziert ist.1002 Allerdings muss der Wille einer zurechnungs- und einsichtsfähigen Person geschützt werden: „[T]he imposition of medical treatment whithout the consent of a mentally competent adult patient would interfere with his or her right to physical integrity and impinge on the rights protected under Article 8 of the Convention“.1003

Von einer therapeutisch indizierten Behandlung ist daher nur im äussersten Ausnahmefall auszugehen, um nicht einem illiberalen Paternalismus zu verfallen. Einer solchen Bevormundung Vorschub zu leisten, kann nicht Ziel und Zweck der EMRK sein.1004 Wie irrational oder unvernünftig die Verweigerung einer (lebensrettenden oder lebenserhaltenden) medizinischen Behandlung auch immer erscheinen mag, ist auch ein solcher Wille konven­ tionsrechtlich zu schützen.1005 Auch Handlungen, die für die betroffene Person gefährlich oder gar tödlich sein könnten, sind nach der Rechtsprechung 998  EGMR, 14.05.2013, Gross v. Switzerland, Nr. 67810/10 Rn. 67: „Swiss law, while providing the possibility of obtaining a lethal dose of sodium pentobarbital on medical prescription, does not provide sufficient guidelines ensuring clarity as to the extent of this right“. 999  EGMR, 20.01.2001, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07, Rn. 58. 1000  EKMR, 10.02.1993, Widmer v. Switzerland, Nr. 20527/92; EGMR, 20.01.2011, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07; EGMR, 19.07.2012, Koch v. Germany, Nr. 497/09; EGMR, 14.05.2013, Gross v. Switzerland, Nr. 67810/10. 1001  Wicks, MedLR 2001, S. 17 (22). 1002  EGMR, Entsch. v. 26.03.2013, Rappaz v. Switzerland, Nr. 73175/10, Rn. 65; EGMR, 24.09.1992, Herczegfalvy v. Austria, Nr. 10533/83, Rn. 82: „a measure which is a therapeutic necessity cannot be regarded as inhuman or degrading“. 1003  EGMR, 10.06.2010, Jehovah’s Witnesses of Moscow and others v. Russia, Nr. 302/02, Rn. 135. 1004  Vgl. aber Feststellung von Schwichows, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 188, wonach sich eine „paternalistische Sichtweise des Gerichtshofs unzweideutig nachweisen“ lässt. Dem ist nach dem hier Gesagten nicht zuzustimmen. 1005  EGMR, 10.06.2010, Jehovah’s Witnesses of Moscow and others v. Russia, Nr. 302/02, Rn. 136.

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des EGMR vom Schutzbereich von Art. 8 EMRK erfasst,1006 sofern sie auf Selbstbestimmung beruhen. Die staatliche Pflicht besteht also nicht darin, das Leben eines Menschen (im Zweifel) auch gegen seinen Willen zu schützen.1007 Vielmehr geht es darum, Freiheit vor Fremdbestimmung zu bewahren, ganz besonders am Lebensende. Daher sind lebenserhaltende und -verlängernde Massnahmen, die gegen den Willen der betroffenen Person getroffen werden, mit deren Würde und Autonomie nicht vereinbar. Lebensschutz bedeutet nicht Lebenszwang. Insoweit ist auch die Verortung bei Art. 8 EMRK schlüssig, da dessen Wortlaut offener ist als derjenige von Artt. 2 und 3 EMRK. Die Möglichkeit, gegenläufige öffentliche Belange über eine Schrankenklausel zu berücksichtigen, ist der rechtspolitisch und gesellschaftspolitisch sensiblen Natur der Thematik angemessen. Im Zweifel, d. h., wenn nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob Patienten ihre Entscheidung, lebensbeendende Medikamente nicht einzunehmen oder lebenserhaltende Massnahmen nicht zuzulassen, aus freien Stücken und unter vollständiger Zurechnungsfähigkeit getroffen haben, muss verhindert werden, dass ein Patient seinem Leben ein Ende setzt.1008 Dass Patienten einen in ihren Augen unwürdigen Tod unter vernichtenden Schmerzen erleiden müssen, kann den Staat konventionsrechtlich dennoch nicht dazu zwingen, aktiv lebensbeendende Massnahmen zu treffen.1009 3. Sexuelle Identität Einer der Marksteine in der Würde-Rechtsprechung betrifft den – ebenfalls ethisch-moralisch aufgeladenen – Bereich der sexuellen Selbstbestimmung und der sexuellen Identität. Konkret hatte sich der Gerichtshof mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit Transsexuellen das Recht zusteht, volle rechtliche Anerkennung einzufordern. In früheren Fällen hatte es der Gerichtshof jeweils vermieden, quasi aus supranationaler Warte ein Verdikt in Bezug auf die volle rechtliche Anerkennung von geschlechtlich umgewandelten Personen auszusprechen. 1006  Zur besonderen Nähe zwischen dem Privatleben und der Menschenwürde: Rousseau, Concluding Report, S. 102 (105). 1007  Wicks, MedLR 2001, S. 17 (21). 1008  Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 8 Rn. 51; EGMR, 28.03.2017, Fernandes de Oliveira v. Portugal, Nr. 78103/14, Rn. 67: „authorities must discharge their duties in a manner compatible with the rights and freedoms of the individual concerned and in such a way as to diminish the opportunities for selfharm, without infringing personal autonomy“. 1009  Vgl. EGMR, 20.01.2011, Haas v. Switzerland, Nr. 31322/07.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung309

Zu disparat waren die Auffassungen innerhalb Europas, zu wenig fundiert die medizinische Forschung in dem Bereich. Dies änderte sich aber mit der Rechtssache Christine Goodwin,1010 in der es ebenfalls um die Diskriminierung einer Transsexuellen ging, deren fehlende rechtliche Anerkennung zu erheblichen Benachteiligungen in ihrem Alltag führte. Zwar war es ihr erlaubt, das Geschlecht umzuwandeln und auch die meisten ihrer amtlichen Ausweise, wie Führerschein und Pass, entsprechend anzupassen. Gegenstand der Klage waren einige wenige Dokumente, die weiterhin das alte Geschlecht aufführten und nicht änderbar waren. Deshalb gelangte Goodwins Arbeitgeber via Sozialversicherungsnummer an Daten, denen ihr ursprüngliches Geschlecht zu entnehmen war, und erfuhr somit von ihrer Geschlechtsumwandlung. In der Folge wurde ihr eine Beförderung vorenthalten und sie durfte nicht mit 60 Jahren in Pension gehen, obschon ihr dies als Frau zugestanden hätte. Ferner war ihr der Bezug von Gratisfahrkarten in London verwehrt, solange sie nicht die für Männer geltende Altersgrenze von 65 Jahren erreicht hatte. Vor dem EGMR ging es schwerpunktmässig um die Frage, ob der Vertragsstaat seine positive Pflicht zur Achtung des Privatlebens erfüllt oder ob er durch die fehlende vollständige rechtliche Anerkennung von Transsexuellen die Konvention verletzt hatte. Der Gerichtshof zeigte sich zunächst einmal von der Tatsache irritiert, dass die Geschlechterumwandlung im Vereinigten Königreich zwar rechtlich erlaubt war, der Beschwerdeführerin aber dennoch die volle rechtliche Anerkennung, als letzter entscheidender Schritt in einem langen Prozess der Selbstfindung und -verwirklichung, verwehrt wurde.1011 Da die Konvention als „lebendiges Instrument“ immer vor dem Hintergrund aktueller Gesellschaftsverhältnisse auszulegen ist, konnte der Gerichtshof seine bisherige Linie fortentwickeln.1012 Dabei rezipierte er neue wissenschaftliche Erkenntnisse und kam zum Ergebnis, dass – obwohl Transsexualität und deren Ursachen noch nicht gänzlich geklärt seien – in medizinischen Fachkreisen ein zunehmender Konsens herrsche, dass es sich um eine sexuelle Differenzierung im Gehirn handle, die pränatalen Ursprungs sei.1013 1010  EGMR

95.

(GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/

1011  EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/ 95, Rn. 74. 1012  Zur Auslegungsmethodik: 2. Teil B. I. 1013  Obschon sich diese Theorie noch nicht vollends etabliert habe, gebe es einen eindeutigen Konsens, Transsexualiät als ein medizinisches Anliegen zu betrachten: EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95, Rn.  74 ff.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Diese Theorie sei zwar noch nicht abschliessend erforscht, doch bestehe international Einigkeit, dass die Transsexualität als ein medizinisches Phänomen zu erachten sei. Dementsprechend gebe es in Europa auch einen fortschreitenden Trend in Richtung einer vollen rechtlichen Anerkennung von Transsexuellen.1014 Rechtsvergleichend orientiert sich der EGMR u. a. am EuGH und internationalen Regelungen.1015 Er bündelt diese normativen, gesellschaftlichen, aber auch empirischen Entwicklungen, indem er festhält, dass erst der volle rechtliche Statuswechsel es Transsexuellen erlaube, in Würde und Eintracht mit ihrer sexuellen Identität leben zu können.1016 Dabei bekräftigt er noch einmal, dass letztlich die Menschenwürde die „Essenz der Konvention“ sei und dass persönliche Autonomie und Selbstbestimmung als Auslegungsprinzipien hinzuzuziehen seien.1017 Dadurch versichert sich der Gerichtshof noch einmal seiner normativen Grundlagen. Wie oben dargelegt, hat die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen auch insoweit staatsrechtliche Implikation, als die raison d’être des Staates der Mensch und sein Wohlergehen zu sein hat. Regelungen, die den Menschen in seiner persönlichen Selbstentfaltung einschneidend behindern oder seine Identität negieren, missachten dieses Postulat.1018 Diese Rechtsprechungslinie ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie die Menschenwürde als Kondensationspunkt einer normativen Entwicklung dienen kann, indem sie rechtliche Fortschritte, welche höchstpersönliche Themen berühren, begrifflich konzentriert und festschreibt.1019 Wo fundamentale Aspekte der persönlichen Identität tangiert werden, besteht die Gefahr tiefgreifender Grundrechtseingriffe, die die menschliche

1014  Diese Entwicklung widerspiegle sich in der gesellschaftlichen Akzeptanz und rechtlichen Anerkennung: EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95, Rn. 84. Zuvor sprach der EGMR noch von „little common ground“ in diesem Bereich, oder er stellte einfach fest, dass kein Konsens bestehe, wie man rechtlich einen Geschlechtswechsel bzw. -wandel angehe; EGMR, 30.07.1998, Sheffield and Horshham, Nr. 22985/93, Rn. 57; EGMR (Pl), 17.10.1986, Rees v. United Kingdom, Nr. 9532/81. 1015  EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/ 95, Rn. 92. Zur Auslegungsmethodik s. 2. Teil B. I. 2. a). 1016  EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/ 95, Rn.  90 f. 1017  EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/ 95, Rn. 90. 1018  Vgl. 2. Teil A. IV. 1. 1019  Vgl. EGMR, 10.03.2015, Y. Y. v. Turkey, Nr. 14793/08, Rn. 58: „The Court has also held on many occasions that, as the very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom, the right of transgender persons to personal development and to physical and moral security is guaranteed“.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung311

Würde treffen.1020 Aufgrund dieser Fundamentalität dürfen auch finanzielle Gründe nicht leichthin zur Rechtfertigung von Würdeverletzungen herangezogen werden.1021

III. Menschenwürde und Diskriminierungsverbot In der EMRK wird jede Diskriminierung bei der Anwendung der in der Konvention und in den Zusatzprotokollen gewährleisteten Rechte und Freiheiten verboten (Art. 14 EMRK). Ein allgemeines Gleichheitsgebot1022 existiert hingegen nicht in der EMRK.1023 Die Vorschrift ist akzessorisch und flankiert den Schutzbereich jedes Konventionsrechts durch ein Diskriminierungsverbot.1024 Diskriminierung bedeutet eine Ungleichbehandlung von Menschen in einer ähnlichen Situation ohne objektiven und sachlichen Grund.1025 Fälle rassistischer Diskriminierung werden von den Strassburger Rechtsprechungsorganen seit jeher mit einer besonderen Strenge gerügt.1026 In einem dieser Fälle ging es um in Afrika lebende Inder, die britische Pässe besassen und in der Folge ins Vereinigte Königreich einwanderten. Dieses verweigerte jedoch Angehörigen seiner ehemaligen Kolonien die Niederlassung. Diese unzulässige Herabstufung zu „Staatsbürgern zweiter Klasse“1027 wurde von der EKMR nicht akzeptiert: „The Commission recalls in this connection that, as generally recognised, a special importance should be attached to discrimination based on race; that publicly to single out a group of persons for differential treatment on the basis of race might, in certain circumstances, constitute a special form of affront to human dignity; and that differential treatment of a group of persons on the basis of race might there1020  Vgl. EGMR, 11.09.2007, L. v. Lithuania, Nr. 27527/03, Rn. 56: „The Court would emphasise the positive obligation upon States to ensure respect for private life, including respect for human dignity and the quality of life in certain respects“; EGMR, 12.06.2003, Van Kück v. Germany, Nr. 35968/97, Rn. 69. 1021  EGMR, 11.09.2007, L. v. Lithuania, Nr. 27527/03, Rn. 56. 1022  Eingehend zum Gleichheitsschutz in der EMRK: Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, Heidelberg 2011. 1023  EGMR, 18.07.1994, Karlheinz Schmidt v. Germany, Nr. 13580/88, Rn. 22. 1024  Esser, in: Erb et al., StPO-Grosskommentar, EMRK, Art. 14 Rn. 3. 1025  EGMR, 31.07.2012, M. and others v. Italy, Nr. 40020/03, Rn. 175: „discrimination means treating differently, without an objective and reasonable justification, persons in relevantly similar situations.“ 1026  EKMR, 14.12.1973, East African Asians v. United Kingdom, Nr.  4403/70 u. a., Rn. 207; Costa, Human Dignity in the Jurisprudence of the European Court of Human Rights, S. 393 (394 ff.). 1027  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 94.

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fore be capable of constituting degrading treatment when differential treatment on some other ground would raise no such question“.1028

Ein weiterer historisch bedeutsamer Fall betraf eine Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei.1029 Seit der Besetzung von Nordzypern durch türkische Streitkräfte übt die Republik Zypern keine Hoheitsgewalt mehr über diesen Teil der Insel aus.1030 Im Nachgang der Teilung der Insel wurden Angehörige der verbliebenen griechischen Minderheit teilweise schwerwiegend diskriminiert. Nebst vielen anderen Restriktionen bestand für sie eine beschränkte Bewegungsfreiheit1031 und sie wurden entschädigungslos enteignet. Auch wurden vermisste Zyperngriechen von den Behörden nicht gesucht; entsprechende Ermittlungen wurden ineffektiv oder überhaupt nicht in Gang gesetzt.1032 Zudem durften Zyperngriechen nach der Primarschule nicht in die Sekundarstufe übertreten, weshalb sie gezwungen waren, in den Süden zu gehen (ohne legale Möglichkeit, sich später wieder im Norden niederzulassen).1033 Die Grosse Kammer in Strassburg qualifizierte diese Ungleichbehandlung aufgrund der Ethnie als Verstoss gegen die allen Menschen inhärente Würde.1034 Zuvor hatte die EKMR entschieden, dass rassistische Diskriminierung wegen ihres Bezugs zur Menschenwürde unter dem Schutzschirm von Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 3 EMRK geprüft werden könne.1035 1028  EKMR, 14.12.1973, East African Asians v. United Kingdom, Nr.  4403/70 u. a., Rn. 207. 1029  EGMR (GK), 10.05.2001, Cyprus v. Turkey, Nr. 25781/94. 1030  162‘000 Zyperngriechen, die mit insgesamt 506‘000 Bewohnern knapp 80 % der damaligen Inselbevölkerung stellten, wurden aus dem besetzten Gebiet vertrieben oder flohen; eine Minderheit verblieb auf der Halbinsel Karpas; EGMR (GK), 10.05.2001, Cyprus v. Turkey, Nr. 25781/94, Rn. 30. Von den Umsiedlungen waren 120‘000 Zyperngriechen und 65‘000 Zyperntürken betroffen: EKMR, 10.07.1976, Commission Report. 1031  Sog. Exit-Visa mussten stets beantragt werden. 1032  EGMR (GK), 10.05.2001, Cyprus v. Turkey, Nr. 25781/94, Rn. 13 ff. 1033  EGMR (GK), 10.05.2001, Cyprus v. Turkey, Nr. 25781/94, Rn. 44. 1034  EGMR (GK), 10.05.2001, Cyprus v. Turkey, Nr. 25781/94, Rn. 309: „The treatment to which they were subjected during the period under consideration can only be explained in terms of the features which distinguish them from the TurkishCypriot population, namely their ethnic origin, race and religion. (…) [They are] isolated, restricted in their movements, controlled and with no prospect of renewing or developing their community. The conditions under which that population is condemned to live are debasing and violate the very notion of respect for the human dignity of its members“. 1035  EKMR, Entsch. v. 06.07.1977, 48 Kalderas Gipsies v. Federal Republic of Germany, Nr. 7823/77–7824/77, Rn. 57: „The Commission’s case law establishes that there is no right as such in the Convention to obtain identity papers, but the Commission accepts, in the special circumstances of this case and considering that the applicants are nomads and have other ethnical peculiarities, that questions might arise



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung313

Obschon sich der Gerichtshof in den Folgejahren bei der Feststellung eines subjektiven rassistischen Moments zurückhaltend zeigte,1036 begann er solche Fälle vermehrt auf Ebene des prozeduralen Pflichtenhefts der Mitgliedstaaten abzuhandeln. Diesen Weg hat die Grosse Kammer einige Jahre später bestätigt. In der Rechtssache Nachova1037 ging es um zwei Roma, die dem Militärdienst entflohen waren und von der Militärpolizei beim Versuch, die beiden wieder zurück in die Kaserne zu bringen, erschossen wurden. Ein Nachbar bezeugte, dass sich einer der Militärpolizisten nach der Erschiessung abfällig über die Herkunft der beiden geäussert habe („You damn Gypsies“) und ihn gleichzeitig mit seiner Waffe bedrohte.1038 Eine nachfolgende Ermittlung wurde eingestellt, da sich die ganze Aktion im Rahmen der Regulatorien abgespielt habe und die Beamten zumindest versucht hätten, nicht auf lebenswichtige Organe zu schiessen. Gegenstand des Verfahrens vor dem Gerichtshof war die Frage, ob und inwiefern der Konventionsstaat für eine mutmasslich rassistisch motivierte Tötung zur Verantwortung gezogen werden kann (Art. 14 i.  V. m. Art. 3 EMRK). Die Grosse Kammer festigte dabei die Formel „racial violence is a particular affront to human dignity and, in view of its perilous consequences, requires from the authorities special vigilance“.1039 Die rechtliche Konsequenz ist demnach, dass der betroffene Mitgliedstaat „besonders wachsam“ gegenüber rassistischer Gewalt sein sollte und energisch gegen solche Behandlungsformen vorzugehen hat. Konkret bedeutet dies, dass Mitgliedstaaten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen müssen, um rassistische Gewalt, aber auch Rassismus allgemein, zu bekämpfen. Es reicht also nicht aus, lediglich den Täter zu ermitteln, sondern es müssen zusätzlich allfällige rassistische Beweggründe i. S. der subjektiven Tatkomponente ermittelt werden („whether or not racism was a causal factor in the shoot­ ing“).1040 Diese Ermittlungspflicht, verstanden als prozedurale Schutzpflicht, under Articles 3 and 14 of the Convention concerning the respect for their human dignity and concerning their treatment“. 1036  EGMR, 18.05.2000, Velikova v. Bulgaria, Nr. 41488/98, Rn. 15 f., 18, 26; zuvor bereits EGMR, 28.10.1998, Assenov v. Bulgaria, Nr. 24760/94, wo Art. 14 EMRK gar nicht erst problematisiert wurde. Ferner EGMR, 13.06.2002, Anguelova v. Bulgaria, Nr. 38361/97, Rn. 167. 1037  EGMR (GK), 06.07.2005, Nachova and others v. Bulgaria, Nr. 43577/98. 1038  EGMR (GK), 06.07.2005, Nachova and others v. Bulgaria, Nr. 43577/98, Rn. 153. 1039  EGMR (GK), 06.07.2005, Nachova and others v. Bulgaria, Nr. 43577/98, Rn. 145. 1040  EGMR (GK), 06.07.2005, Nachova and others v. Bulgaria, Nr. 43577/98, Rn. 146, 160: „The Grand Chamber endorses (…) the Contracting State’s procedural obligation to investigate possible racist motives for acts of violence“. Kritisch ge-

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

ist implizit in Art. 14 i. V. m. Art. 2 EMRK enthalten.1041 Dass eine solche Absicht schwer nachweisbar ist, liegt in der Natur der Sache, entbindet aber den Staat nicht von seiner Handlungspflicht.1042 Gerade hierin manifestiert sich die hohe Bedeutung, die der Menschenwürde zuerkannt wird.1043 Angesichts der historischen Erfahrung der vollständigen Entrechtung von Minderheiten verurteilt der Gerichtshof solche Behandlungsformen mit aller Konsequenz: „[H]aving regard to the need to reassert continuously society’s condemnation of racism and ethnic hatred and to maintain the confidence of minorities in the ability of the authorities to protect them from the threat of racist violence“.1044

Der EGMR sieht daher zu Recht in gravierenden Diskriminierungsfällen eine Verletzung der Menschenwürde.1045 Strafrechtlich relevant im Lichte der Konvention sind auch rassistisch motivierte Diskriminierungen durch Polizeibeamte, das sog. Racial Profiling.1046 In beweisrechtlicher Hinsicht muss ein rassistisches Motiv zumindest glaubhaft gemacht werden („proof beyond reasonable doubt“), d. h., dass keine vernünftigen Zweifel über die Motivlage bestehen dürfen.1047 Dabei müssen konkrete Anhaltspunkte präsentiert werden, die eine rassistische Gesinnung hinreichend wahrscheinlich machen („sufficiently strong, clear and concordant inferences or (…) similar unrebutted presumptions of fact“).1048 Der Gerichtshof konstatiert, dass sich genüber diesem strengen Massstab des EGMR: Rubio-Marin/Möschel, EJIL 2015, S. 881 (893). 1041  EGMR (GK), 06.07.2005, Nachova and others v. Bulgaria, Nr. 43577/98, Rn. 146, 161. 1042  Dies erklärt auch, weshalb der EGMR – in Relation zu den Fällen, die vermeintlich rassistisch motivierte Gewalt betreffen – relativ selten zur Feststellung einer materiellen Verletzung von Art. 14 EMRK gelangt; Rubio-Marin/Möschel, EJIL 2015, S. 881 (891). 1043  Vgl. EGMR (GK), 06.07.2005, Nachova and others v. Bulgaria, Nr. 43577/98, Rn. 147: „The Court is also attentive to the seriousness that attaches to a ruling that a Contracting State has violated fundamental rights“. 1044  EGMR (GK), 06.07.2005, Nachova and others v. Bulgaria, Nr. 43577/98, Rn. 160. 1045  Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 125 ff. 1046  Vgl. EGMR (GK), 06.07.2005, Nachova and others v. Bulgaria, Nr. 43577/98 u. a., Rn. 164: „The Grand Chamber considers (…) that any evidence of racist verbal abuse being uttered by law enforcement agents in connection with an operation involving the use of force against persons from an ethnic or other minority is highly relevant to the question whether or not unlawful, hatred-induced violence has taken place. Where such evidence comes to light in the investigation, it must be verified and – if confirmed – a thorough examination of all the facts should be undertaken in order to uncover any possible racist motives“. 1047  EGMR, 12.01.2016, Boacǎ v. Romania, Nr. 40355/1, Rn. 99. 1048  EGMR, 12.01.2016, Boacǎ v. Romania, Nr. 40355/1, Rn. 99.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung315

beim Nachweis einer solchen Motivlage erhebliche Schwierigkeiten ergeben können. Jedenfalls müssen Staaten adäquate Ermittlungen durchführen, um einen möglichen Kausalzusammenhang zwischen staatlicher Misshandlung und rassistischen Motiven festzustellen.1049 Wo es um den gesellschaftspolitischen und sozialen Schutz von Minderheiten geht, agiert der EGMR grundsätzlich zurückhaltend. Er auferlegt den Staaten keine besonderen Schutzpflichten i. S. allgemeiner sozialpolitischer Massnahmen zum Schutze von Minderheiten.1050 Diese Haltung ist kohärent und der Funktion des EGMR geschuldet.1051 Er formuliert denn auch treffend, dass nationale Behörden aufgrund ihres direkten Kontakts zu den vitalen Gesellschaftskräften besser geeignet seien, lokale Bedürfnisse und Umstände zu erfassen und konfligierende Interessen gegeneinander abzuwägen.1052 Besonders in den letzten Jahren hat der Gerichtshof aber erhöhte Schutz­ anforderungen an die Mitgliedstaaten des Europarats gestellt, wenn es um ethnische Segregation in Form rassistischer Diskriminierung geht.1053 So hat er in der Rechtssache D. H.1054 die schulische Ungleichbehandlung von Roma-Kindern als würdeverachtende Diskriminierung („link between the prohibition of racial discrimination and the wider concept of human dignity“)1055 verurteilt.1056 Bemerkenswert ist dabei die generelle Feststellung, dass es sich bei den Roma generell um eine vulnerable Bevölkerungsgruppe handle, die des besonderen Schutzes durch den Staat bedürfe.1057 Die Begründung der Regierung, dass die Eltern der Kinder sich mit der Massnahme einverstanden erklärten, wies der EGMR unter Verweis auf die konventionsrecht­ liche Unverzichtbarkeit der Menschenwürde (Grundrechtsverzicht) ab.1058 12.01.2016, Boacǎ v. Romania, Nr. 40355/1, Rn. 106. (GK), 18.01.2001, Beard v. United Kingdom, Nr. 24882/94, Rn. 109. 1051  2. Teil A. I.–II. 1052  EGMR (GK), 18.01.2001, Beard v. United Kingdom, Nr. 24882/94, rn. 102: „In this regard, a margin of appreciation must, inevitably, be left to the national authorities, who by reason of their direct and continuous contact with the vital forces of their countries are in principle better placed than an international court to evaluate local needs and conditions“. 1053  Rubio-Marin/Möschel, EJIL 2015, S. 881 (881). 1054  EGMR (GK), 13.11.2007, D. H. v. Czech Republic, Nr. 57325/00. 1055  EGMR (GK), 13.11.2007, D. H. v. Czech Republic, Nr. 57325/00, Rn. 173. 1056  EGMR (GK), 13.11.2007, D. H. v. Czech Republic, Nr. 57325/00, Rn. 205 ff. 1057  In etwas paternalistischem Unterton: EGMR (GK), 13.11.2007, D. H. v. Czech Republic, Nr. 57325/00, Rn. 203. 1058  EGMR (GK), 13.11.2007, D. H. v. Czech Republic, Nr. 57325/00, Rn. 204: „In view of the fundamental importance of the prohibition of racial discrimination (…), the Grand Chamber considers that, even assuming the conditions referred (…) 1049  EGMR, 1050  EGMR

316

3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

Dies ist ein weiterer Beleg für die Verquickung zwischen dem Konzept der Verletzlichkeit und dem Schutzanspruch der Menschenwürde. Auch in Fällen der Geschlechterdiskriminierung hat sich der EGMR nicht gescheut, eine traditionelle Rechtslage, die der verheirateten Frau verboten hatte, nach der Heirat den Namen ihrer Herkunftsfamilie zu tragen, als diskriminierend i. S. v. Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK zu bezeichnen. Präzisierend fügte er hinzu, dass eine wahrhaft demokratische Gesellschaft es aushalten müsse, sich von gewissen traditionellen Rechtsinstituten zu lösen, um dem Individuum ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zu ermöglichen.1059 Das Namensrecht muss folglich die Interessen beider Ehepartner in ein austariertes Verhältnis bringen und ihnen die Möglichkeit bieten, den eigenen Familiennamen nach Massgabe ihres frei gebildeten Willens abzulegen oder beizubehalten. Auch hier zeigt sich, dass mit der Würde des Einzelnen nicht zwingend ein absoluter Rechtsanspruch gemeint ist. Vielmehr kann es auch einfach darum gehen, divergierende Interessen ernsthaft und sachlich gegeneinander abzuwägen, um so dem Menschen in der Welt des Normativen „agency“ zuzusprechen und ihn als Rechtssubjekt zu achten und zu schützen. Festzuhalten bleibt, dass das Hervorrufen von Unterlegenheitsgefühlen durch Demütigung sowie verpönte Differenzierungen und Stigmatisierungen aufgrund von Rasse, Religion, Ethnie oder Geschlecht als Verletzungen der Menschenwürde zu qualifizieren sind.1060

IV. Menschenwürde und soziale Not Ausserhalb des relativ eng umgrenzten Bereichs politischer und bürger­ licher Grundrechte finden sich in der Rechtsprechung vereinzelte – und in der Literatur vermehrt – Anknüpfungspunkte, wonach Vertragsstaaten auch die minimalen materiellen Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben garantieren sollen.1061

were satisfied, no waiver of the right not to be subjected to racial discrimination can be accepted, as it would be counter to an important public interest“ (Hervorhebung durch Autor). 1059  EGMR, 16.11.2004, Ünal Tekeli v. Turkey, Nr. 29865/96, Rn. 67. 1060  EGMR, 17.07.2008, Oršuš and others v. Croatia, Nr. 15766/03, Rn. 38 f.; Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, S. 446. 1061  EGMR, 11.09.2007, L. v. Lithuania, Nr. 27527/03, Rn. 56; EGMR, 26.07.2011, Georgel and Georgeta Stoicescu v. Romania, Nr. 9718/03, Rn. 49; EGMR, 24.07.2012, Dordevic v. Croatia, Nr. 41526/10, Rn. 152; EGMR, 20.03.2012, C. A. S. and C. S. v. Romania, Nr. 26692/05, Rn. 82.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung317

Ohne vorliegend vertieft auf den Bereich sozialer Not in der Rechtsprechung des EGMR eingehen zu können,1062 da ansonsten der vorliegende Rahmen gesprengt würde, wird nachfolgend zumindest auf wesentliche Ausprägungen menschlicher Werthaftigkeit im Bereich des Sozialen eingegangen. So stellte der EGMR unter Bezugnahme auf nationale Gerichte einen Würdebezug her in einem Fall, in dem es um gekürzte Fürsorgebeiträge ging.1063 Beschwerdeführerin war eine Frau, die, obwohl nicht im eigent­ lichen Sinn inkontinent, nicht selbständig auf die Toilette gehen konnte. Infolge der Beitragskürzung wurde sie aber nachts nicht mehr betreut, sondern so behandelt, als litte sie an Inkontinenz. Sie war somit gezwungen, eine Einlage zu tragen, um ihre Notdurft verrichten zu können. Der EGMR hielt fest, dass Aspekte der Lebensqualität im Lichte von Menschenwürde und Art. 8 EMRK an Bedeutung zunähmen. Dies gelte speziell in Bezug auf medizinische Fortschritte, welche dem einzelnen Menschen nicht nur ein längeres Leben ermöglichten, sondern ihn zunehmend auch in Lebenslagen führen können, die seinen Vorstellungen von einem menschenwürdigen ­Leben widersprächen.1064 Staaten haben dem Urteil zufolge zwar „[a] wide margin of appreciation (…) in issues of general policy, including social, economic and health-care policies“. Insofern konnte auch der EGMR keine Verletzung feststellen, doch hielt er klar fest, dass solche positiven Schutzpflichten in den Schutzbereich von Art. 8 fallen und daher die prinzipielle Anerkennung grundlegender Bedürfnisse von Personen in besonderen Not­ situationen geboten sei. Trotzdem hat der EGMR bislang im Kontext von Art. 8 EMRK kein eigentliches Recht auf ein Existenzminimum und auf ein Obdach anerkannt.1065 Die Tatsache, dass die Menschenwürde nicht explizit in der EMRK normiert ist, ist sicherlich ein Grund für die Zurückhaltung bei der Auferlegung der­ artiger Zahlungspflichten. Ein anderer Grund dürfte darin liegen, dass die EMRK bürgerliche und politische, jedoch keine sozialen Grundrechte verbrieft. Dennoch mahnt der Gerichtshof mit deutlichen Worten an, dass es 1062  Eine umfassende Analyse hierzu bietet das Werk von Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, Tübingen 2012. 1063  Nationale Gerichte als Inspirationsquelle für die konventionsrechtliche Würde: 2. Teil B. II. 3. 1064  EGMR, 20.05.2014, McDonald v. United Kingdom, Nr. 4241/12, Rn. 47: „[I]n an era of growing medical sophistication combined with longer life expectancies, many people were concerned that they should not be forced to linger on in old age or in states of advanced physical or mental decrepitude which conflicted with their strongly held ideas of self and personal identity“. 1065  EGMR (GK), 18.01.2001, Beard v. United Kingdom, Nr. 24882/94, Rn. 110: „It is important to recall that Article 8 does not in terms give a right to be provided with a home“.

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

sehr wünschenswert wäre, dass alle Menschen innerhalb des Konventionsraumes ein Obdach hätten, um in Würde leben zu können.1066 Ob und wie ein Konventionsstaat seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Obdach zur Verfügung stellt, ist eine genuin politische Frage, die in die na­ tionale Einschätzungsprärogative fällt. Immerhin zeichnen sich in der Rechtsprechung des EGMR Konturen eines aus Art. 3 EMRK fliessenden Rechts auf Schutz vor Existenznot ab. In der Rechtssache Z.1067 knüpfte der EGMR erstmals explizit an den sozialen Zustand schwerster Verwahrlosung an und qualifizierte das staatliche Unterlassen als Verletzung von Art. 3 EMRK. Konkret ging es um zwei Kinder, die von ihren Eltern extrem vernachlässigt wurden, unterernährt waren und in hochgradig unhygienischen Zuständen lebten. Letztlich dürfte auch hier die besondere Verletzlichkeit der Kinder zur schutzbereichsverstärkenden Wirkung beigetragen haben.1068 Ein weiterer Fall sozialer Not war in der Rechtssache Larioshina1069 zu beurteilen. Bezeichnend an diesem Fall war, dass der Gerichtshof explizit festhielt, dass vollkommen unzureichende Renten- bzw. Sozialleistungen grundsätzliche Fragen unter Art. 3 EMRK aufwerfen können. Im konkreten Fall führten die als unzureichend gerügten Rentenleistungen jedoch nicht zu derart schweren physischen und psychischen Schäden oder persönlichem Leid, dass der absolute Schutzbereich von Art. 3 EMRK verletzt gewesen wäre. Ganz allgemein werden sozial geprägte Grundrechtsansprüche vom Grundsatz ultra posse nemo obligatur limitiert; darüber hinaus verbietet auch das Prinzip der Subsidiarität dem EGMR weitgehend, in Fragen der nationalen Ressourcenallokation autoritativ einzugreifen.

V. Menschenwürde, Ehre und Meinungsäusserungsfreiheit Die Würde des Menschen kann auch als implizite Schranke einer Grundrechtsausübung herangezogen werden. In Anerkennung der essentiellen Funktion, die der Meinungsäusserungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, werden auf der Konventionsrechtsebene Informationen 1066  EGMR (GK), 18.01.2001, Beard v. United Kingdom, Nr. 24882/94, Rn. 110: „It is clearly desirable that every human being has a place where he or she can live in dignity and which he or she can call home“; EGMR, 18.01.2001, Chapman v. United Kingdom, Nr. 27238/95, Rn. 99; EGMR (GK), 18.01.2001, Coster v. United Kingdom, Nr. 24876/94, 113; EGMR (GK), 18.01.2001, Jane Smith v. United Kingdom, Nr. 106. 1067  EGMR (GK), 10.05.2001, Z. and others v. United Kingdom, Nr. 29392/95. 1068  Vgl. Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 110  ff., 114 ff. 1069  EGMR, Entsch. v. 23.04.2002, Larioshina v. Russia, Nr. 56869/00.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung319

und Ideen geschützt, die schockierend, anstossend und verstörend sein können („offend, shock or disturb“).1070 In Zusammenhang mit Art. 10 EMRK hielt der EGMR fest, dass Toleranz und Achtung der Würde für alle Menschen in gleicher Weise Grundlage einer wahrhaft demokratischen und pluralistischen Gesellschaft seien.1071 Die Kehrseite dieser Freiheitssphäre ist die Pflicht, nach Treu und Glauben, im Rahmen der journalistischen Ethik und mit dem Ziel, akkurate Informationen zu vermitteln oder über andere zu berichten.1072 In den zahlreichen Fällen, in denen Beschwerdeführer die Verletzung ihrer Ehre und Würde rügen, bezieht sich der EGMR in seinen Erwägungen jeweils auf Aspekte des Privatlebens.1073 Zuweilen rekurriert er dabei aber auch explizit auf die menschliche Würde, um eine Schranke der Meinungsäusserungsfreiheit aufzuzeigen.1074 Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates fordern ebenfalls, dass die Meinungsäusserungsfreiheit an der Menschenwürde ihre Grenze finden muss.1075 Unter bestimmten Umständen kann auch ein Recht auf Replik konventionsrechtlich abgesichert werden.1076

1070  EGMR,

Rn. 32.

30.03.2004, Radio France and others v. France, Nr. 53984/00,

04.12.2003, Gündüz v. Turkey, Nr. 35071/97, Rn. 40. 30.03.2004, Radio France and others v. France, Nr. 53984/00, Rn. 37; vgl. Recommendation 1295 (1993) on Ethics of Journalism Code of Journalistic Ethics in Radio and Televsision Services (Code of Journalistic Ethics) (Regulation 1/1991 of the National Radio and Television Council), zitiert in: EGMR, 22.02.2018, Alpha Doryforiki Tileora Anonymi Etairia v. Greece, Nr. 72562/10, Rn. 23 ff., 62 u. 66 ff. 1073  Statt vieler: EGMR, 18.02.2014, Jalbă v. Romania, Nr. 43912/10, Rn. 22, 27 ff.; EGMR, 05.11.2013, Pauliukienė and Pauliukas, Nr. 18310/06, Rn. 37. 1074  EGMR, 30.03.2004, Radio France and others v. France, Nr. 53984/00, Rn. 39; EGMR, 14.01.2014, Lavric v. Romania, Nr. 22231/05, Rn. 52 f. („[the Court] declares the complaint concerning the infringement of the applicant’s right to protection of her reputation and dignity admissible“); Jeannin, Le principe de dignité dans l’espace de la Convention européenne des droits de l’homme: la construction prétorienne d’un concept, S. 176 (182). 1075  S. insb. Resolution 1577 (2007) Towards decriminalization of defamation, § 17.3. 1076  EKMR, Entsch. v. 12.07.1989, Ediciones Tiempo v. Spain, Nr. 13010/87, Rn. 1: „En effet, le droit de réponse vise a permettre à tout individu de se protéger contre certaines informations ou opinions diffusées par les moyens de communication de masse qui seraient de nature à porter atteinte à sa vie privée, son honneur ou sa dignité“. 1071  EGMR, 1072  EGMR,

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

VI. Glaubens-, Gewissens- und Gedankenfreiheit Das Prinzip der Menschenwürde hat begriffsgeschichtliche Wurzeln in der praktischen Philosophie sowie in der christlichen und jüdischen Religion. Das bringt sie grundrechtsdogmatisch jedoch nicht automatisch in die Nähe des konventionsrechtlichen Schutzes der Glaubens-, Gewissens- und Gedankenfreiheit. Im Kontext der Religionsfreiheit berücksichtigt der EGMR entsprechende Menschenwürdeerwägungen nationaler Gerichte, ohne sie (explizit) in seine eigenen Rechtserwägungen zu integrieren.1077 Dass die Glaubens-. Gewissens- und Gedankenfreiheit eine wesentliche Ausprägung der Menschenwürde sei, hat bislang nur Richter Martens in einem Sondervotum dezidiert geäussert.1078 Seine Forderung, dass Art. 9 EMRK aufgrund der Nähe zur Menschenwürde absolute Geltung habe, dürfte eine Mindermeinung bleiben. Dass es vitales Element einer demokratischen Gesellschaft ist, Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen – seien sie nun Agnostiker, Skeptiker, Indifferente oder Gläubige – gleich zu respektieren, dürfte konventionsrechtlich unbestritten sein.1079 Um aber einen gerechten Interessenausgleich im Einzelfall zu gewährleisten, rekurriert der EGMR nicht auf die Menschenwürde. Insoweit ist ihr Schutzgehalt im Zusammenhang mit Art. 9 EMRK kaum zur Geltung gekommen.

VII. Wirkung und Funktion der Menschenwürde Neben der Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK bildet die Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK wie bereits erwähnt eine der Hauptausprägungen des konventionsrechtlichen Würdekonzepts.1080 Dies hat sich auch in der Herausbildung positiver Schutzpflichten niedergeschlagen. Gewissen Angriffen auf fun­ damentale Aspekte des Privatlebens, wie sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Identität, müssen die Staaten strafbewehrt entgegentreten. Der ­ ­Gerichtshof erachtet die Würde als Elementarwert, den es nötigenfalls mit strafrechtlichen Mitteln zu schützen gilt.1081 Dies führt – ähnlich wie beim 1077  EGMR (GK), 18.03.2011, Lautsi v. Italy, Nr. 30814/06, Rn. 15 ff.; EGMR (GK), 01.07.2014, S. A. S. v. France, Nr. 43835/11, Rn. 78. 1078  EGMR, 25.05.1993, Kokkinakis v. Greece, Nr. 14307/88, partly dissenting opinion of Judge Martens: „The basic principle in human rights is respect for human dignity. Essential for that dignity and that freedom are the freedoms of thought, conscience and religion in Article 9 (…). Accordingly they are absolute“. 1079  EGMR, 25.05.1993, Kokkinakis v. Greece, Nr. 14307/88, Rn. 31. 1080  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 115 mit Verweis auf Zolotas, Privatleben und Öffentlichkeit, S. 158. 1081  EGMR, 15.03.2016, M. G. C. v. Romania, Nr. 61495/11, Rn. 55.



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung321

Menschenhandel1082 – zu einer Pönalisierungspflicht in Bezug auf schwere Missachtungen elementarer Aspekte des Privat- und Familienlebens.1083 Die freie Selbstbestimmung über den eigenen Körper wird als Ausfluss der Menschenwürde durch Art. 8 EMRK geschützt.1084 Ein eigentliches subjektives „Recht auf Sterben“ kann daraus aber dennoch nicht hergeleitet werden.1085 Das Prinzip der Menschenwürde wird in diskriminierungsbezogenen Fällen tangiert, in denen an erniedrigende Behandlung (Art. 3 EMRK) grenzende Formen der Ungleichbehandlung auftreten.1086 Die Verknüpfung von Menschenwürde und Ungleichbehandlung wirkt sich hierbei schutzbereichsverstärkend aus.1087 Häufig hat der Gerichtshof eine würdeverletzende Diskriminierung auch bei (physischem oder psychischem) Gewalteinsatz festgestellt.1088 Die untersuchten Entscheide haben ergeben, dass die Menschenwürde eng verknüpft ist mit der Wertigkeit bzw. der Unverletzlichkeit menschlichen Lebens.1089 Der Würdeschutz reicht aber sachlich und zeitlich weiter als das Recht auf Leben gemäss Art. 2 EMRK. Die Umrisse dessen, was der EGMR unter einem „pränatalen Würdeschutz“ versteht, sind allerdings noch recht undeutlich. Eindeutig ist aber, dass er den Embryo bzw. den Fötus menschenrechtlich nicht vollends recht- bzw. schutzlos sehen will. Insofern ist 1082  3. Teil

A. IV. 2. b). müssten solche Schutzpflichten darauf abzielen, die Würde und Integrität des Kindes zu schützen: EGMR, 15.03.2016, M. G. C. v. Romania, Nr. 61495/11, Rn. 56. 1084  Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 117. Solange eine freie und bewusste Entscheidung respektiert wird, ist die Menschenwürde nicht verletzt; Winsdale, S. 687 (692). 1085  So auch Zimmermann, ex ante 2016, S. 41 (48); a. A. Puppinck/de La Hogue, IJHR 2014, 735 (740). 1086  EGMR (GK), 10.05.2001, Zypern v. Turkey, Nr. 25781/94, Rn. 306, 309. 1087  Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, S.  446; EGMR (GK), 10.05.2001, Zypern v. Turkey, Nr. 25781/94, Rn. 305: „The Court recalls that (…), irrespective of the relevance of Article 14, a complaint of discriminatory treatment could give rise to a separate issue under Article 3“. 1088  EGMR (GK), 06.07.2005, Nachova and Others v. Bulgaria, Nr. 43577/98 u. a., Rn. 48: „Racial violence is a particular affront to human dignity and, in view of its perilous consequences, requires from the authorities special vigilance and a vigorous reaction. It is for this reason that the authorities must use all available means to combat racism and racist violence, thereby reinforcing democracy’s vision of a society in which diversity is not perceived as a threat but as a source of its enrichment“. 1089  Vgl. Millns, GLJ 2002, § 8; abrufbar unter: https://pdfs.semanticscholar.org/3 fdb/7e651bfa7b823459629052eb4188ac54806e.pdf (zuletzt abgerufen am 04.06. 2019). 1083  Letztlich

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3. Teil: Eine Taxonomie des Menschenwürdeschutzes

auch klar, dass der Würdeschutz in der EMRK – in diesem Bereich – nicht absolut und derogationsfest gilt bzw. gelten kann. Als weiteres Ergebnis ist festzustellen, dass in der EMRK kein postmortaler Würdeschutz des Leichnams angelegt ist. Weiter konnte gezeigt werden, dass auch Aspekte der Lebensqualität durchaus würderelevant sein können, sofern der aus der Menschenwürde fliessende Grundsatz der Autonomie und das korrespondierende Recht auf Selbstbestimmung betroffen sind. Die Maximen der Autonomie und Selbstbestimmung sind im Besonderen für die Schutzkategorie des „würdevollen Lebensendes“ relevant.1090 Die menschliche Würde hat in den untersuchten Fällen klar zu einer Anreicherung der Schutzgehalte von Art. 8 EMRK, dem Recht auf Privatleben, geführt. Aspekte der Willensfreiheit, konkret das Recht, darüber zu entscheiden, ob und wie man seinem Leben ein „würdiges“ Ende bereiten will, sind somit klar mitumfasst.1091 Dies beinhaltet auch das Recht, lebenserhaltende Massnahmen einzustellen oder eine medizinische Behandlung abzulehnen. Im Bereich des Suizids wird nebst der freien und zurechenbaren Willensbildung auch die Fähigkeit, entsprechend diesem Willen zu handeln, konventionsrechtlich geschützt. Die Zustimmung des Patienten („informed consent“) ist eine wesentliche Voraussetzung zur Aufrechterhaltung der Subjektstellung und der persönlichen Autonomie.1092 Insoweit bestätigen sich die im Rahmen der Haftbedingungsfälle gewonnenen Erkenntnisse zum Informed-Consent-Prinzip auch hier.1093 Ein subjektives Recht darauf, vom Staat die erforderlichen tödlichen Mittel zu erhalten, besteht hingegen nicht. Gleichwohl zeigt die Rechtsprechung des EGMR, dass die Umstände des Lebensendes und während der letzten Lebensphase anhand der Grundsätze der menschlichen Würde, des Respekts vor der autonomiebasierten Entscheidungsfreiheit und des Schutzes des Lebens der betroffenen Person (nach Massgabe ihres Willens) zu würdigen sind. In Zukunft werden Fälle der Sterbehilfe weiterhin an diesen fundamentalen Rechtsprinzipien zu messen sein.1094 Hierbei wirkt die Menschenwürde 1090  Zimmermann, ex ante 2016, S. 41 (51); Katrina, UWSLR 2006, S. 139 (139 ff.); EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 61: „Although no previous case has established as such any right to self-determination as being contained in Article 8 of the Convention, the Court considers that the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees“. 1091  S. zum Menschenwürdeschutz am Lebensende: 3. Teil B. III. 1092  Vgl. insb. EGMR, 08.11.2011, V. C. v. Slovakia, Nr. 18968/07, Rn. 105 ff. 1093  3. Teil A. III. 4. d) dd). 1094  Sofern Sterbehilfe nicht en détail positivrechtlich reguliert werden. Letztlich müssten sich auch (mehr oder weniger detaillierte) gesetzliche Regulatorien in den



B. Die Menschenwürde in der ausserstrafrechtlichen Rechtsprechung323

in Art. 8 EMRK primär als teleologisches Auslegungsprinzip und wird nicht abschliessend – i. S. der negativen Feststellungstechnik – als verletzt oder nicht verletzt taxiert. Dies führt nicht zu ihrer Banalisierung, sondern zeigt vielmehr ihre Dynamik und Vielschichtigkeit auf. Letztlich ist einem glaubhaften und prinzipienbasierten europäischen Grundrechtsschutz besser gedient, wenn nationalstaatliche Ermessensspielräume in ethisch aufgeladenen Themenbereichen solcherart gewahrt werden. Eine weitere gewichtige Ausformung der Menschenwürde in Art. 8 EMRK ist in der Rechtsprechungslinie zur sexuellen Identität zu sehen. Die den Transsexuellen zuerkannten Rechte auf Anerkennung ihres „neuen“ Geschlechts lassen auch hier keinen Zweifel zu, dass der EGMR Aspekten der Selbstdefinition, Selbstentfaltung und intimster Identitätsbildung einen derart hohen Wert beimisst, dass er sie als von der Menschenwürde mitumfasst erachtet. Negativ gewendet bedeutet dies, dass er eine unvollständige recht­ liche Anerkennung des neuen Geschlechts als Verletzung der Menschenwürde erachtet. Persönliche Autonomie habe im Bereich des Existenziellen – und hierum geht es bei der Wahl des eigenen Sexus – gegenüber den (vermeintlichen) öffentlichen Interessen an wahrheitsgemässer Führung des Geburtenregisters Vorrang. Der EGMR formuliert zwar nicht explizit einen sog. Kernbereich des Privaten in Art. 8 EMRK; seine Rechtsprechung zur sexuellen Selbstbestimmung deutet aber zumindest darauf hin, dass sich ein solcher aushärten liesse. Im Bereich der rassistischen Diskriminierung konnte aufgezeigt werden, dass die Menschenwürde auch ein egalitäres Prinzip ist. Sie schützt zumindest vor extremen Formen der Diskriminierung und stipuliert einen Anspruch auf gleiche Anerkennung und Achtung der Person, der über Art. 3 EMRK i. V. m. Art. 14 EMRK eingefordert werden kann. Die Menschenwürde wirkt in den diskutierten Fällen der Ungleichbehandlung schutzbereichsverstärkend.

bestehenden normativen Rahmen, dessen Eckpfeiler die Menschenwürde ist, einfügen.

4. Teil

Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK Im nachfolgenden Teil der Untersuchung wird gleichsam der „genetische Code“ der gesamten Würde-Rechtsprechung i. S. struktureller Eigenheiten abstrahiert, zusammengefasst und substanziell zu Theorieelementen verdichtet. Um zu verhindern, dass sich die verschiedenen Problemebenen und Facetten der Würde vermischen, und um der Komplexität ihrer Wirkungsweise gerecht zu werden, wird die Identifizierung der Theorieelemente entlang eines Querschnitts durch die zuvor dargestellte Rechtsprechung gegliedert. Die aus den Anwendungsfällen gewonnenen Einzelelemente der Würde des Menschen werden einer Evaluation unterzogen und in einer Weise miteinander verknüpft, die es erlaubt, die Funktion und Wirkungsweise der Würde fundierter darzulegen. Dabei muss stets beachtet werden, dass sowohl die Konvention als auch die Rechtsprechung des EGMR einer autonomen Grundrechtskonzeption folgen.1 „Elemente einer Theorie“ bezeichnet im vorliegenden Kontext eine allgemeine Auffassung vom Wesen und der Funktion der „Menschenwürde in der EMRK“. Damit eine solche Theorie Bedeutung für die Konventionsrechtsordnung entfalten kann, muss sie ihre Wurzeln in der EMRK und der Rechtsprechung des Gerichtshofs haben. Die Elemente und Funktionen der Menschenwürde in der EMRK werden, gleichsam als Versatzstücke, zu Theorieelementen der Menschenwürde abstrahiert. So soll die künftige Anwendung dieses Rechtsbegriffes durch den Gerichtshof angeleitet, beeinflusst und kritisch reflektiert werden. Ziel ist es, die normative Stringenz des Menschenwürdearguments in der Konvention zu festigen, eine fundierte Aussage über ihre Grundrechtsdimensionen und materiellen Gehalte zu machen und, nicht zuletzt, die Rechtssicherheit bei ihrer Anwendung zu vergrössern.2 Durch die Ausdeutung der Menschenwürde als normatives Konzept3 wird sie gleichsam 1  Ungern-Sternberg,

EuGRZ 2011, S. 199 ff. EGMR hat wiederholt festgestellt, dass er keine Theorie der Grundrechte entwickelt. Anhand des Fallrechts lassen sich dennoch Regelmässigkeiten zu Elementen einer Theorie zusammenfassen. 3  Die Feststellung oder Behauptung einer bestimmten Handlung als Menschenwürdeverstoss setzt eine Wertung des Rechtsanwenders voraus. 2  Der



A. Ein analytisches Rahmenkonzept als Ausgangspunkt325

besser handhabbar gemacht und ein bewusster, sachlicher und rationaler Umgang mit ihr gefördert.4 Als theoretischer Ausgangspunkt muss nachfolgend ein analytisches Rahmenkonzept dienen, welches die normative Verortung der „Würde in der EMRK“ ermöglicht. Von diesem Grundverständnis ausgehend wird die Normativität der Menschenwürde untersucht und sodann in einem weiteren Schritt ihre grundrechtsdogmatische Funktion ausgeleuchtet. Daran anschliessend sind die materialen Ausprägungen und Gehalte der konventionsrechtlichen Menschenwürde in den Blick zu nehmen. Dabei werden auch Verbindungslinien zu moralisch-ethischen Aspekten des Wesens des Menschen gezogen. Letztlich geht es bei der Frage, welche Rechte Menschen haben und was Gerechtigkeit und Würde gebieten, um „Kernfragen der menschlichen Kultur, die nicht nur politische Kämpfe in der Geschichte antreiben, die die Menschen auf die Höhen der Zivilisation und durch breite Täler der Barbarei geführt haben“.5 Insoweit gilt es auch auf die mit den verschiedenen Menschenwürdeausprägungen verknüpften Wertungen, wie sie sich in der Rechtsprechung manifestieren, einzugehen. In einem letzten Schritt folgt schliesslich eine kritische Würdigung und Weiterentwicklung der Theorieelemente der Menschenwürde in der EMRK.

A. Ein analytisches Rahmenkonzept als Ausgangspunkt Die nachfolgende Synthese baut auf einem normativen Orientierungsrahmen auf, dem sich eine konsensfähige Aussage darüber entnehmen lässt, was die Menschenwürde positiv beinhaltet.6 McCrudden liefert eine breite rechtstheoretische Analyse der Menschenwürde im Völkerrecht und im nationalen Recht und unterscheidet dabei grundsätzlich zwei Menschenwürdekonzeptionen: i. S. eines „thin concept“ wird Menschenwürde mit einem bestimmten Grundrechtekatalog gleichgestellt. Insoweit besitzt sie keinen eigenständigen, unabhängigen Gehalt, son4  Vgl. Düwell, Human Dignity: concepts, discussions, philosophical perspectives, S. 23 (30 ff.). Klar ist, dass die Menschenwürde von ihrem Gehalt und ihrer Funktion her nicht einfach zu konturieren ist, ihre Begriffskonturen sind vage und ihr normativer Charakter ist mehrdimensional. Dies soll aber nicht bedeuten, dass es unmöglich ist, eine Konzeptualisierung vorzunehmen, die sich auf den Duktus der Konventionsrechtssprechung stützt. 5  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 23. 6  Ansonsten würde man in der Tat Gefahr laufen, dass der Würdebegriff durch politische oder religiöse Ideologien usurpiert wird, s. Mahlmann, Six Antidotes to Dignity, S. 593 (600).

326

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

dern geht gleichsam in den einzelnen Grundrechten auf. Versteht man Menschenwürde hingegen als „thick concept“, hat sie einen vom Grundrechte­ katalog unabhängigen, eigenständigen normativen Charakter und dient der Interpretation und Erhellung einzelner Grundrechte.7 Ganz unabhängig von der Frage, zu welchem Konzept die Menschenwürde in der EMRK tendiert, muss man sich immer auch ihres universalen Charakters bewusst sein.8 Gerade weil der konkrete Gehalt der menschlichen Würde schwer fassbar ist, gilt es festzuhalten, dass sie für die Verfasser diverser Menschenrechtstexte – und auch für die Konvention9 – als „Lösung“ fungierte, oder, wie McCrudden feststellte: „[dignity’s] utility was to enable those participating in the debate to insert their own theory. Everyone could agree that human dignity was central, but not why or how“.10 Ähnliches muss auch über die Konvention gesagt werden; so konnte anhand der Vorbereitungsarbeiten der Gründerväter der Konvention gezeigt werden, dass die Würde zentraler Topos war, und dies, obschon über ihren konkreten Gehalt und ihre Funktion kein Konsens bestand.11 Das elementare Menschenwürde-Grundkonzept, das McCrudden aus internationalen Menschenrechtstexten – inkl. der Konvention – herausdestilliert hat, umfasst (a) einen ontologischen Aspekt, nämlich, dass jedem Menschen qua seines Menschseins Menschenwürde zukommt;12 (b) einen relationalen Aspekt, der in der Menschenwürde einen intrinsischen Wert sieht, der von anderen Menschen geachtet, respektiert und geschützt werden soll; und (c) einen staatsrecht­lichen Aspekt, denn die Menschenwürde beschlägt die raison d’être des Staates, der um des Menschen willen existiert und nicht umgekehrt.13 Dementsprechend lässt sich normativ folgern, dass gewisse Handlungen im ­ zwischenmenschlichen Umgang rechtlich verboten und andere 7  McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (680 f.); ferner Schultziner, Global Jurist Topics 2003, S. 1 (6 f., 8): „thick meaning of human dignity is a particular cultural understanding of what it means to be human and have a dignified life with fellow human beings. In the thick meaning of human dignity, the emphasis is on the particular and subjective, not on the universal and objective“. 8  Ohne dass damit gemeint wäre, sie hätte einen über den Menschenwürdekern hinausgehenden universellen Gehalt. Nach hier vertretener Ansicht ist dies zu verneinen, da die Menschenwürde universell im Prinzip, aber nicht universell in der Konkretisierung ist. 9  Vgl. Auszüge der Travaux Préparatoires zur EMRK: 2. Teil A. IV. 1. 10  McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (678). 11  2. Teil A. IV. 1. 12  So auch Neuhäuser, Personen, Persönlichkeiten und ihre Würde, S.  315 (323 f.), der festhält, dass Würde eine normative Zuschreibung ist, die wir uns selbst geben, um eine bestimmte Lebensform als Menschheit zu realisieren. 13  McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (679). So auch Abs. 2 der Präambel der EUGRCh: „Sie [die Union] stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns



B. Grundrechtsdimensionen327

Handlungen hingegen gefordert sein müssen.14 In diesem Sinne löst sich der menschenrechtliche Schutzanspruch von anderen, spezifischen Eigenschaften, die besondere Rechte gewähren, wie das Geschlecht, das Alter, die Staatsangehörigkeit oder die Ethnie. Während die Menschenwürde jedoch als solche u ­ nverlierbar und unverzichtbar ist,15 kann sie sehr wohl verletzt, gefährdet und angegriffen werden. Ausgehend von diesem Grundverständnis, dass nämlich der Einzelne im Bereich seiner Würde Vorrang vor entgegenstehenden Interessen geniesst, kann Menschenwürde als rechtsethisches Gegenprinzip zum Utilitarismus aufgefasst werden.16 Dieses Verständnis liefert den Ausgangspunkt für die nachfolgende Theorie.

B. Grundrechtsdimensionen I. Normativität der Menschenwürde 1. Menschenwürde als präpositiver, paneuropäischer Wert Die Menschenwürde ist ein Wertprädikat und keine naturgegebene Eigenschaft von Menschen; man besitzt Menschenwürde nicht in gleicher Weise, wie man Arme und Beine besitzt.17 (…)“. Krit. zum intrinsischen Wert qua Menschsein: Winslade, Menschenwürde, Bewusstsein und menschliche Existenz, S. 687 (692). 14  McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (679); vgl. auch Dicke, The Founding Function of Human Dignity in the Universal Declaration of Human Rights, S. 111, 114; Lohmann, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 179 (181). 15  Zumindest bei lebenden Menschen. Die Frage eines postmortalen Würdeschutzes wird auf nationalstaatlicher Ebene kontrovers diskutiert und wurde bislang auf konventionsrechtlicher Ebene offengelassen: EGMR, 13.07.2006, Jäggi v. Switzerland, Nr. 58757/00, Rn. 41: „the right to rest in peace (…) enjoys only temporary protection“; s. 3. Teil B. II. 16  Mastronardi, Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts, S. 55 (71); Heim, The Right to Human Dignity, S. 14, der von der Zuschreibung eines zentralen Werts an ein Wort spricht; Herbert, EuGRZ 2014, S. 661 (663), der Menschenwürde als ethischen Konstitutionsgrund von Art. 3 EMRK erachtet; Greer, HRLR 2015, S. 101 (108); Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Vor Titel I Rn. 3a: Im Bereich der „inherent dignity“ liege ein für die Staatsmacht unantastbarer Kernbereich; Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 3: Rechtsethische Leitprinzipien entstehen in den Gesellschaften selbst durch nicht endgültig rekonstruierbare Prozesse. 17  Vgl. in diesem Zusammenhang Habermas’ kommunikationstheoretischen Würdebegriff: Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 62: Menschenwürde „ist nicht eine Eigenschaft, die man von Natur aus ‚besitzen‘ kann wie Intelligenz oder blaue Augen; sie markiert vielmehr diejenige ‚Unantastbarkeit‘, die allein

328

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Wenn man, gestützt auf die Präambel der Konvention, die AEMR als Ausgangspunkt nimmt, so wird man die Würde des Menschen in erster Linie als Rechtswert verankert sehen. Dabei hat sie im Verhältnis zu den einzelnen Grundrechten einen eigenständigen Charakter – sie transzendiert diese. Sämtliche Menschenrechte und Grundfreiheiten der Konvention sind daher letztlich auch als Ausfluss der menschlichen Würde zu erachten.18 Sie ist letztendlich der Grund, warum Menschen solche Rechte zukommen.19 Die Wertentscheidung der Konvention zeichnet sich dadurch aus, dass die ­Konventionsgarantien neben den grundrechtlich gewährleisteten individuellen Interessenpositionen auch bestimmte „ ‚überindividuell[e]‘ Grundrechtsziel[e]“20 enthält. Die Menschenwürde in der EMRK bildet auch eine solche Wertentscheidung, der zufolge die Würde und ihre normative „Sollensforderung“ möglichst weitgehende Verwirklichung verlangen.21 Die Grosse Kammer in Strassburg hat die Würde sachlogisch als „Elementarwert“ der Konvention qualifiziert;22 sie hat als „Wert“ begriffsdefinitorisch moralisch-sittlichen Charakter, erwächst aus einer spezifischen europäischen Kultur und ist in ihrem materialen Gehalt sowie als Ganzes dem gesellschaft­ lichen Wandel unterworfen. Die Menschenwürde liefert demnach „den wertausfüllenden Massstab für alles staatliche Handeln; denn [die Menschenwürde] bestimmt und beschränkt Staatszweck und Staatsaufgabe, und [sie] bestimmt und beschränkt die Legitimität von Staat und Recht aus den Werten personaler Ethik“.23 Damit ist weder gemeint, dass die Konvention ein lückenloses Anspruchssystem sei,24 noch dass sie eine dem deutschen Grundgesetz entsprechende in den interpersonalen Beziehungen reziproker Anerkennung, im egalitären Umgang von Personen miteinander eine Bedeutung haben kann“. 18  2. Teil A. IV. 1. S. bereits Schorn, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 96, der die Würde früh als „Wesensgehalt“ der EMRK erkannt hatte – ohne dies jedoch weiter zu substantiieren. 19  Vgl. nur AEMR, Präambel; IPbpR, Präambel; IPwskR, Präambel; 2. Teil A. IV. 1. 20  Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, S. 118. 21  2. Teil A. IV. 1 und 3. 22  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 64; EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09, Rn. 113; EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 101; 2. Teil A. IV. 3.; 2. Teil B. I. 2. a) cc); 3. Teil A. I.; 3. Teil A. VII.; 3. Teil A. IV. 2. c); 3. Teil A. III. 4. a), 4. c) aa) und 4. e) cc). 23  Dürig, AöR 1956, S. 117 (123). 24  2. Teil B. III.; vgl. 3. Teil A. IV. 2. c).



B. Grundrechtsdimensionen329

Wertordnung verkörpert.25 Sie verkörpert eine Wertordnung paneuropäischer Natur. Sie ist insoweit eine qualitative Wertordnung, als sie fundamentale Fragen der Konventionsgemeinschaft entscheidet, die nach Kriterien der EMRK bzw. der Menschenwürde entschieden werden können und müssen.26 Der Gerichtshof hat festgehalten, dass es die spezifischen menschlichen Eigenschaften sind, die um der Würde willen zu schützen sind.27 Demzufolge wird dieser Höchstwert (auch) aufgrund spezifischer faktischer Gegebenheiten zugeschrieben und ausgedeutet. Mahlmann nennt als fundamentale Eigenschaften, die menschliche Würde begründen, „die höheren geistigen Fähigkeiten von Menschen als Grundlage ihres Verständnisses der Welt“.28 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs steht das Konzept der Menschenwürde im Zentrum („human dignity as centrepiece“) eines Wertsystems,29 „das sich weitgehend zugleich als ein rechtslogisches Anspruchssystem erweist und in dem sich der Hauptwert zu den Teilwerten wie der rechtliche Obersatz zu den Teilrechtssätzen verhält“30.31

25  Badenhop,

Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 418. seien Rahmenordnung und Wertordnung miteinander vereinbar: Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 417, unter Verweis auf Alexy, VVDStRL 2002, S. 15, insofern könne die Anwendbarkeit der Prinzipientheorie für die EMRK auch nicht mit dem Argument verneint werden, dass sie mit dem Verständnis der EMRK als Rahmenordnung unvereinbar sei. 27  EGMR, 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00, Rn. 84; 3. Teil B. I. 1. 28  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 267: Alle Menschen bildeten auf Grundlage dieser Fähigkeiten ein komplexes Bild der Welt, das bis zur theoretischen Erkenntnis und Wissenschaft gesteigert werden kann, wobei nicht nur die geistigen Fähigkeiten zählten, die diesen Erkenntnissen zugrunde lägen, sondern auch die Haltung zu den Ergebnissen der Wissenschaft. Gemäss Alexy beschreibt ein „Wert“ die Bedeutung oder den monetären Gegenwert eines Gutes, aber zugleich auch Tugenden, Handlungen und Qualitäten eines Menschen: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 189 ff. 29  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09, Rn. 113; EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 47, 81 („universal value of human dignity“; „one of the most fundamental values of democratic societies“). 30  Dürig, AöR 1956, S. 117 (119). 31  2. Teil A. IV. 3.; B. II. 2. a) bb); 3. Teil A. I.; A. VII.; A. IV. 2. c); A. III. 4. a), 4. c) aa) und 4. e) cc). Die ausdrückliche Anerkennung der Achtung und des Respekts vor dem Wert des Menschen ist als wesentlicher Schritt in der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu sehen, der den umfassenden Schutz der Menschenwürde stärkt und ein Schutzkonzept entwickelt; Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 232. 26  Insofern

330

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Die Konventionslogik32 ist auf innere Kohärenz und weitgehende Befreiung von Wertungswidersprüchen ausgerichtet. Die Menschenwürde ist innerhalb dieses Systems als Hauptwert zu sehen, als „archimedischer Punkt“ der Konvention, an dem sich die einzelnen Garantien orientieren. Der einzelne Mensch steht mithin im Zentrum des Konventionsrechtssystems.33 Die Anerkennung von Würde als Wertprädikat führt sachlogisch zu der Folgerung, dass man sie als dem Menschen angeboren zu denken hat. So wird der Mensch als Subjekt mit einem umfassend zu schützenden Eigenwert aufgefasst.34 Die Konvention erhält dadurch eine normative Richtung, die eine systematische, kohärente Entfaltung dogmatischer Zusammenhänge überhaupt erst erlaubt; als rechtsimmanenter Zurechnungspunkt einzelner Konventionsgarantien liefert die Menschenwürde eine Strukturierungsleistung.35 Die richterliche Anerkennung der Würde des Menschen als rechtszivili­ satorischer Wert einer demokratischen Gesellschaft, den es umfassend zu schützen gilt,36 spricht für ihre primär objektiv-rechtliche Funktion.37 Diese Qualifikation verleiht ihr einen dem Rechtssystem übergeordneten Stellenwert, der ihrer „meta-rechtlichen“, präpositiven Bedeutung ent32  S.

2. Teil A. I.–II.; B. I. 2. A.  IV.  1.; EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 239: „Unlike international treaties of the classic kind, the Convention comprises more than mere reciprocal engagements between Contracting States. It creates, over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obligations which, in the words of the Preamble, benefit from a ‚collective enforcement‘ “. 34  3. Teil A. III. 1., 2. a) und 2. d) aa). Sie ist insoweit unantastbar und unveräusserlich: Bergmann, Das Menschenbild in der EMRK, S. 232. 35  Jeannin, Le principe de dignité dans l’espace de la Convention européenne des droits de l’homme: la construction prétorienne d’un concept, S. 176 (186), „élément structurant“. 36  Der EGMR versteht die Menschenwürde als Wert i. S. einer rechtszivilisatorischen Errungenschaft: vgl. EGMR, 04.04.2007, Thuo v. Cyprus, Nr. 3869/07, Rn. 141; ferner EGMR, 10.03.2015, Varga and others v. Hungary, Nr. 14097/12 u. a., Rn. 69; EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 81. Jacob, Aspekte der Definition und Bewertung von Verletzungen der postulierten Menschenwürde, S. 253 (259): Menschenwürde als „moralischer Wert“; Albrecht A., Erosion der Menschenrechte im demokratischen Rechtsstaat, S. 31: Menschenwürde bringe den obersten Achtungs- und Wertanspruch zum Ausdruck, der dem Menschen qua Menschsein zukommt; Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 202. 37  Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen, S. 30, 34: Letztlich sei das Ziel aller grundrechtlichen Schutzkomponenten die tatsächliche Auswirkung der als Wertordnung betrachteten Grundrechte auf das gesamte Rechtssystem, weshalb die Schutzkomponenten wie bspw. die indirekte Drittwirkung oder positive Schutzpflichten im Begriff der objektiven Grundrechtsfunktion aufgehen; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 9 m. w. N. 33  2.  Teil



B. Grundrechtsdimensionen331

spricht.38 Semantisch manifestiert sich dies in dem vom Gerichtshof benutzten Ausdruck „fundamental value“.39 Dadurch wird der Menschenwürde eine Fundierungsfunktion i. S. eines ethischen Konstitutionsgrundes zuteil, und zwar nicht nur für spezifische Konventionsgarantien wie Art. 3 EMRK,40 sondern ebenso sehr für konnexe Rechtsprinzipien und die EMRK als Ganzes.41 Man muss dem Gerichtshof durchaus zugutehalten, dass er konven­ tionsrechtsimmanente Rechtswerte ausspricht und dadurch offenlegt.42 Das Bekenntnis zum elementaren Wert der menschlichen Würde weist auf das im Verhältnis zwischen Staat und Individuum geltende Postulat hin, dass der Mensch im Mittelpunkt des Konventionsstaates zu stehen hat und nicht umgekehrt.43 Die Würde erhält einen besonderen, vom EGMR wiederholt bestätigten44 Schutzstatus als einer der grundlegendsten Werte, der Art. 3 EMRK am sachnächsten ist. Damit wird ihre absolute „Unverrechenbarkeit“ und die grundsätzliche Ausrichtung der demokratischen Rechtsordnung auf unveräusserliche Prinzipien unterstrichen.45 A. VII. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 239. Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, S. 94; vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art.  3 Rn.  1 f. m. w. N. 40  3. Teil A. I.; Herbert, EuGRZ 2014, S. 661 (662); EGMR (GK), 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 107; Greer, HRLR 2015, S. 101 (108); Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 2. 41  Eine solche Fundierungsfunktion ist im universalen Menschenrechtsschutz nicht unbekannt. Auch in den Menschenrechtsdokumenten der VN kommt der Menschenwürde die Rolle der Fundierungsnorm – für den ganzen Vertragstext – zu: s. 2. Teil B. II. 1. a); vgl. Schultziner, Human Dignity: Functions and Meaning, S. 73 (77): „As has been said with regard to most constitutions, human dignity is regarded as the source or the supreme value upon which all rights and duties, and all state actions depend. Because human beings have dignity they should be given certain treatment and human dignity must not be degraded or humiliated“; Cohn, On the Meaning of Human Dignity, Israel Yearbook on Human Rights 1981, S. 231 f. 42  Vgl. von der Pfordten, Rechtsethtik, S. 101; ders., S. 102: „[D]ie Verfassungsrechtsprechung [ist] wegen der Abstraktheit der Verfassungsnormen und der fehlenden übergeordneten Normen naturgemäss stärkeren externen ethischen und moralischen Wertungseinflüssen ausgesetzt als die einfache Rechtsprechung“. 43  S. 2. Teil A. IV. 1.; 4. Teil A.; McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (679). Die Menschenwürde als „fundamental value“ führt bereits zu einer massgeblichen Systematisierung und rangmässigen Zuordnung der EMRK-Garantien, was weit mehr ist als das schlichte Bekenntnis zur Menschenwürde in der Form eines „Pathos europäischer Staaten“: vgl. Callies, JZ 2004, S. 1032 (1041 f.). 44  EGMR (GK), 10.02.2009, Sergey Zolotukhin v. Russia, Nr. 14939/03, Rn. 55 (Menschenwürde als Rechtsgut des Strafrechts anerkannt); bestätigt in EGMR, 12.12.2013, Khmel v. Russia, Nr. 20383/04, Rn. 61. 45  Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 102; Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 194; Bielefeldt, Die Würde des Menschen, Fundament der Menschenrechte, S. 105 (126); vgl. EGMR 38  3. Teil 39  Vgl.

332

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Dieser Rechtswert-Charakter kommt auch darin zum Ausdruck, dass die menschliche Würde bereits in der Präambel der Konvention angelegt ist.46 Sie ist Teil der europäischen Rechtskultur und lässt sich insoweit unter die Begriffe des „gemeineuropäischen Erbes“ und der „gemeinsamen Werte und Traditionen“ subsumieren.47 Die in der Menschenwürde geleistete Abstrahierung verwirklicht sich im einzelnen Menschen und seiner konkreten Befindlichkeit und Verletzlichkeit.48 Da sich der Inhalt der Menschenwürde auf allgemeine, unbestimmte Grundzüge beschränken lässt, wird ein paneuropäisches Bekenntnis zu ihren Werten ermöglicht.49 Allerdings ist das Bekenntnis zum Primat der Menschenwürde als „value“ vom personalen Sein des Wertträgers her, also ausgehend vom einzelnen Menschen und dem spezifischen Menschenbild, zu bestimmen, wobei diese Wechselbeziehung zugleich zur Aktualisierung ebendieses Bildes des Menschen beiträgt. Die Menschenwürde kann so als Wertmassstab auf die Ausgestaltung50 und Anwendung51 der Konventionsrechte ausgerichtet werden. Die Würde des Menschen vermag das in der Konventionsordnung abgebildete Wert­ system weitgehend (aber nicht ganz) „lückenlos“52 zu gestalten und eine gewisse Hierarchie zu etablieren.53

(GK), 15.11.1996, Chahal v. United Kingdom, Nr. 22414/93; EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88. 46  2. Teil A. IV. 1. Dieser Vorgang ist indes nicht völlig unbekannt: Auch der französische Conseil d’état schliesst über einen Präambelverweis der Verfassung von 1958 auf einen ungeschriebenen, objektiven Verfassungsgrundsatz; McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (699); Callies, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 133 (138). 47  Präambel, EMRK (Hervorhebung durch Autor); 2. Teil A. IV. 1. 48  Weiterführend zum Konzept der vulnerability: Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, Zürich 2017. 49  2. Teil A. IV. 1. 50  Insb. als Kerngehalt oder als teleologischer Wertungsmassstab; 3. Teil A. II. 2. c); A. III. 1. b), 2. d), 4. e); A. IV. 2. c); vgl. B. VII.; 4. Teil B. II. 1. a). 51  Vgl. Elemente einer Anwendungsdogmatik; 4. Teil D. 52  Vgl. aber 2. Teil B. III. 53  I. S. einer Wertrangordnung, was sich am Wortlaut des EGMR ablesen lässt („one of the most fundamental values“): EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 81.



B. Grundrechtsdimensionen333

2. Menschenwürde als konventionseigenes Rechtsprinzip Die Menschenwürde hebt sich durch den Essenzcharakter, den sie mit dem Freiheitsbegriff teilt, von anderen (Konventions-)Prinzipien ab.54 Insofern ist die Aussage korrekt, dass sie „die Funktion einer alle Einzelgarantien der EMRK fundierenden normativen (präpositiven) „Hintergrundannahme“ einnimmt.55 Damit wäre der Bogen zu einem weiteren spezifischen Charakteristikum der EMRK als Ganzes geschlagen, der Tatsache nämlich, dass sie eine objektive Dimension besitzt.56 Prinzipien und Werte hängen dergestalt miteinander zusammen, dass Erstere eine weitgehende Realisierung von Letzteren ermöglichen sollen.57 Auch die Menschenwürde ist im Zusammenhang mit der Rechtsnatur und Charakteristik der Konvention zu lesen; ihre Funktion kann nicht losgelöst von der konventionsrechtlichen Gesamtstruktur beschrieben und analysiert werden.58 Die Menschenwürde hat Teil an dieser objektiv-rechtlichen Natur der Konvention.59 Soweit Konventionsrechte als Elemente einer objektiven „Teilverfassung“ zu lesen sind,60 kommt ihnen auch ein objektiver Gehalt zu, der sich in den Grundrechtsfunktionen niederschlägt.61 Das Prinzip der Menschenwürde erfasst alle Konventionsgarantien im Sinne einer Richtlinie bzw. eines normativen Massstabes und vereinigt unter sich auch potenziell widersprüchliche Positionen.62 Sie gibt der Konvention 54  2. Teil A. IV. 3; 3. Teil A. VII.; EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 65. 55  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 181 f.; vgl. ferner Rixen, Würde des Menschen als Fundament der Grundrechte, in: Heselhaus/Nowak, HBdEuGR, § 9 Rn. 7 ff., 33 ff. Ob sich ein Rückgriff – wie Rixen festhält – immer nur dann anbietet, wenn die Menschenwürdegarantie nicht bereichsspezifisch greift, ist eine andere Frage, auf die hier nicht eingegangen werden kann. 56  2. Teil A. I. Die Menschenwürde besitzt eine „Ausstrahlungswirkung“ auf alle anderen Konventionsgarantien. „Menschenwürde als objektiv-rechtliche Grundlage“ auch bei Wallau, S. 103; Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 206. 57  2. Teil A. IV. 3. 58  S. zu Rechtsnatur und Charakterisitik der EMRK: 2. Teil A. I.–III. 59  EGMR (GK), 18.12.1996, Loizidou v. Turkey, Nr. 15318/89, Rn. 75; Sudre, LA Eissen, S. 382 f. 60  2. Teil A. I. 61  4. Teil B. II. 1. 62  Sie ist implizit in den Einzelgarantien enthalten: so auch von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 184; vgl. ferner Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 242; EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Rn. 65.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

eine Tiefenstruktur und beeinflusst die Interpretation einzelner Konventionsrechte.63 In der Rechtsprechung hat sich gezeigt, dass primär der objektiv-rechtliche Gehalt des Menschenwürdegrundsatzes realisiert werden soll, währenddem die Subjektqualität des Menschen und das Instrumentalisierungsverbot als Wertungsparameter eingebracht und beachtet werden.64 Die Staaten haben insbesondere die Pflicht, Verletzungen der Subjektstellung des Menschen, bspw. in Form von Ausbeutung, effektiv zu ahnden, und zwar auch dann, wenn die Verletzung unter Privaten geschieht.65 Verlangt wird eine adäquate Reaktion bzw. die Statuierung eines Rechtsrahmens, da jeder Mensch den gleichen Anspruch auf Anerkennung seiner Würde und Freiheit besitzt.66 Durch diese Form der Operationalisierung offenbart sich normkonkreti­ sierende Prinzipienfunktion der Menschenwürde.67 Indem der Gerichtshof dieses Prinzip mit anderen einschlägigen Rechten kombiniert (Art. 3 EMRK i. V. m. der Menschenwürde), tritt der typische Charakter als allgemeines Prinzip und materielle Grundnorm deutlich zutage.68 Dies gilt insbesondere für die spezifische Wechselwirkung zwischen dem Verletzungstatbestand der Erniedrigung und der Menschenwürde. In ihrer Funktion als objektives Prinzip knüpft die menschliche Würde an ein spezifisches Menschenbild an.69 So ist es dem Gerichtshof möglich, den Menschen in spezifischen Situationen der Abhängigkeit vom Staat als besonders verletzlich zu qualifizieren und ihm deshalb verstärkten Menschenwürdeschutz zuteilwerden zu lassen.70

63  2. Teil A. IV. 1. und 3.; 3. Teil A. II. 2. c); A. III. 1. b), 2. d), 4. e); A. IV. 2. c); A. VII.; B. VII. 64  3. Teil A. I.; A. II. 1. b), 2. c); insb. A. III. 1. b), 2. d) aa). 65  3. Teil A. IV. 2. 66  3. Teil A. IV. 2. b)–2. c); B. III.; 4. Teil B. II. 3. Vgl. ferner zur Statuierung eines Regelwerkes zum rudimentätern Schutzes des ungeborenen Lebens: EGMR, 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00; EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10; zu den positiven Schutzpflichten s. 4. Teil B. II. 3; weiterführend Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMRK, S. 287 ff. 67  3. Teil A. II. 2. c); A. III. 2. d); III. A. 4. e); 2. Teil A. IV. 3. 68  Jeannin, Le principe de dignité dans l’espace de la Convention européenne des droits de l’homme: la construction prétorienne d’un concept, S. 176 (177, 185); so bereits Ermacora, Grundfreiheiten, S. 60. 69  Pernthaler, FS Schäffer, S. 613 (616). 70  3. Teil A. III. 4. e) bb).



B. Grundrechtsdimensionen335

3. Menschenwürde als ungeschriebenes subjektives Grundrecht Der Rechtsprechung des EGMR lässt sich nicht eindeutig entnehmen, ob der Menschenwürde neben ihrer Eigenschaft als objektives Prinzip auch der Charakter eines subjektiven Grundrechts zukommt. Hiergegen spricht, dass ein einklagbares Recht einen präzise bestimmbaren Inhalt aufweisen muss, was auf die Menschenwürde so nicht zutrifft. Insoweit kann ihr der normative Charakter eines eigentlichen Grundrechts nicht zugeschrieben werden. Zudem ist sie nicht selbständig einklagbar.71 Ein weiteres Argument gegen die Qualifikation als eigenständiges Grundrecht liegt in der Tatsache, dass die Menschenwürde nach wie vor nicht positiviert wurde; ohne eine rechtstextliche Normierung würde ihre Qualifikation als subjektiv einklagbares Grundrecht der Errichtung eines neuen Rechts gleichkommen. Solches liegt eindeutig ausserhalb des Kompetenzbereichs des EGMR.72 Die Zurückhaltung des Gerichtshofs ist auch deshalb kohärent, weil sich bei den Mitgliedstaaten kein Konsens hinsichtlich des normativen Charakters erkennen lässt.73 Für die Aushärtung eines subjektiv-rechtlichen Gehalts der Menschenwürde bieten die Verfassungen der Konven­ tionsstaaten keine Grundlage. In der Judikatur geht der Trend in Richtung einer zunehmenden Bedeutung der objektiv-rechtlichen Schutzdimension, sodass diesbezüglich eine Konsolidierung im Gange ist. Einstweilen mag es mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass es in der Rechtsnatur der Menschenwürde als eines fundamentalen objektiven Rechtsgrundsatzes liegt, dass ihr „materieller Gehalt“74 auf dem Umweg über andere Konventionsnormen verwirklicht werden muss und ihre materialen Ausprägungen in und durch die Konventionsgarantien wirken. Eine qualitativ eigenständige Bedeutung kommt in der Menschenwürde vielmehr in Bezug auf die gesamte Konvention, in ihrer Funktion als objektiv-rechtlicher Grundsatz, zum Tragen. Ihre grundsätzliche Bezogenheit auf andere Konventionsgarantien macht ihren eigenständigen normativen Charakter letztlich aus.75 71  4. Teil

II.; D. zu Funktionen des EGMR: 2. Teil A. II. 73  2. Teil B. II. 3. 74  4. Teil D. 75  Es deutet sich an, dass gewisse Richterinnen und Richter am EGMR die Menschenwürde als eigenständiges Grundrecht verstanden wissen wollen: EGMR (GK), 06.07.2010, Neulinger and Shuruk v. Switzerland, Nr. 41615/07, joint separate opinion of Judges Jočiene, Sajó and Tsotsoria: „(…) proper weight to the interests and rights protected by Article 8, together with other Convention rights (in particular Ms Neulinger’s dignity as an autonomous person)“. Als gefestigt kann eine solche Ansicht hingegen sicher (noch) nicht erachtet werden. 72  S.

336

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

II. Grundrechtsdogmatische Funktionen der Menschenwürde Nachdem die normativen Facetten der konventionsspezifischen Menschenwürde herausgearbeitet wurden und ihr primär objektiv-rechtlicher Charakter belegt wurde, ist nun nach ihren grundrechtsdogmatischen Funktionen zu fragen.76 Klar ist, dass die Menschenwürde einen entscheidenden Beitrag bei der Auslegung der EMRK leistet. Sie hat im Interpretationsprozess eine eigene Bedeutung und ist daher ein Rechtsbegriff sui generis. Mit der teleologischen – in Gestalt der evolutiv-dynamischen – Auslegungsmethodik hat der Gerichtshof die Basis dafür gelegt, den Grundrechtsbestimmungen – einschliesslich der Menschenwürde – verschiedene Funktionen zuzuweisen.77 Anhand der untersuchten Rechtsprechung lassen sich ihre spezifischen grundrechtsdogmatischen Funktionen abstrahieren: als „materielles Auslegungsprinzip“,78 als „Wertungsmassstab“,79 der die Subjektstellung bzw. die Instrumentalisierungsfunktion betont, als „Instrument zur Feststellung objektiven Unrechts“,80 als Instrument zur „Zuschreibung von schutzwürdigen Verletzlichkeitsdispositionen“81 und als „Schutzbereichserweiterung“ zur Schliessung von echten „Grundrechtslücken“;82 darüber hinaus diente sie auch zur sozialen Erweiterung von Art. 3 EMRK und (zur Legitimierung) von „positiven Schutzpflichten“, die vonnöten sind, um der menschlichen Selbstzweckhaftigkeit effektive Nachachtung zu verschaffen.83 Schliesslich beförderte die Würde auch die Implementierung der Wertungselemente der persönlichen Selbstbestimmung bzw. der Autonomie des Menschen im Rahmen des Art. 8 EMRK.84 1. Materielle Funktion Eine wesentliche Funktion der Menschenwürde ist jene, die sie als materielles Grundprinzip innehat. Ihre herausragende Stellung verdankt sie der Qualifikation des Gerichtshofs als „Wesenskern“ der gesamten Konven­ Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen, S. 30. B. Vgl. Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der EMRK, S. 155; vgl. ferner Green, The Normativity of Law, S. 1 (2 ff.). 78  So bspw. bei Prügelstrafen: 3. Teil A. III. 1. b). 79  Insb. bei Haftbedingungen: 3. Teil A. III. 4. 80  3. Teil A. III. 2. c); A. III. 4. e) aa). 81  3. Teil A. III. 4. e) aa). 82  3. Teil A. IV. 83  Bspw. in Form des Resozialisierungsauftrages: 3. Teil A. II. 2. a)–2. c). 84  3. Teil B. II. 76  Vgl.

77  2. Teil



B. Grundrechtsdimensionen337

tion.85 Diese Eigenschaft impliziert, dass sich alle anderen Konventionsgarantien nach ihr ausrichten. Sie wird dadurch zur normativen Sinnmitte der Konvention. Nachfolgend wird nun erstmals das positive Funktionsspektrum der menschlichen Würde nachgezeichnet, ohne jedoch damit den Anspruch zu erheben, die konventionsspezifische Würde abschliessend auszudeuten. Jeder Menschenwürdebegriff kann nur dann von den 47 Europaratsstaaten angenommen werden, wenn er in der Lage ist, verschiedene Konzeptionen zu inkludieren und gleichsam als Rahmenprinzip zu fungieren.86 In materieller Hinsicht ist erkennbar, dass sich in einzelnen Konventionsrechten langsam ein fester Grundgehalt und ein Kern an Funktionen ausgehärtet haben und zwar i. S. eines Menschenwürdekerns, der sich vornehmlich auf die Artt. 2, 3 oder Art. 4 EMRK beruft: Beispiele, in denen der EGMR in dynamisch-evolutiver Judikatur einen harten Menschenwürdekern herausgebildet hat, betreffen etwa den Menschenhandel,87 Haftbedingungen,88 das Verbot der Todesstrafe,89 die Prügelstrafe,90 erzwungene Kahlrasur,91 das Einsperren in einen Käfig während der Gerichtsverhandlung,92 strip searches93 oder die vollzugsrechtliche Regulierung lebenslanger Freiheitsstrafen94.95 85  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 2; EGMR (GK), 17.07.2014, Svinarenko and Slyadnev v. Russia, Nr. 32541/08 u. 43441/08, Rn. 118. 86  Vgl. Callies, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 1 EU-GRCh: „Auf Ebene der EU können aus einer europäischen Menschenwürdegarantie rahmenartige Inhalte fliessen, die mit dem gemeinsamen Kern der verschiedenen Menschenbilder und Menschenwürde-Konzepte der nationalen Teilrechtsordnungen korrespondieren“. 87  3. Teil A. IV. 2. 88  3. Teil A. III. 4. 89  3. Teil A. II. 1. 90  3. Teil A. III. 1. 91  EGMR, 11.12.2003, Yankov v. Bulgaria, Nr. 39084/97, Rn. 112 f.; Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 88. 92  3. Teil A. III. 2. c). 93  EGMR, 28.10.2014, Ślusarczyk v. Poland, Nr. 23463/04, Rn. 103: „The Court considers that the practice of daily strip-searches applied to him for one year and nearly six months must have diminished his human dignity and caused him feelings of inferiority, anguish and accumulated distress which went beyond the unavoidable suffering and humiliation involved in the imposition of pre-trial detention“ (Hervorhebung durch Autor). 94  3. Teil A. II. 2. 95  Weiter oben konnte festgehalten werden, dass der EMRK einerseits ein materiales Menschenwürdeverständnis zugrunde liegt. Insoweit haben sich anhand der Menschenwürde als materiellem Grundprinzip inhaltliche Bedingungen herzuleiten, von deren Erfüllung die Gewährleistung der Menschenwürde abhängt. Denn die Menschenwürde, verstanden als Abwehrrecht, formuliert nur den formalen Aspekt i. S. d.

338

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

a) Menschenwürdekern aa) Instrument zur Feststellung objektiven Unrechts Die Menschenwürde hat sich durch die Verwendung des Gerichtshofes regelmässig als Instrument zur Feststellung objektiven Unrechts manifestiert. Die durch den EGMR festgestellten unhaltbaren Zustände oder Verhaltensweisen wurden hernach als absolut verboten verurteilt – ohne dass es auf das subjektive Leidensmoment angekommen wäre. Über diese absolut unzulässigen Handlungen, sei dies in Form von Polizei- und Justizgewalt oder Haftbedingungen, hat sich mittlerweile ein eigentlicher absoluter Menschenwürdeschutz etablieren können. Die Menschenwürde prägt die Normanwendung, insbesondere von Art. 3 EMRK, in massgeblicher Art und Weise. So hat sich in Fällen der Polizeigewalt gezeigt, dass jedwede Gewaltanwendung, die nicht unbedingt notwendig ist, gegen eine ihrer Freiheit entkleidete Person eine Verletzung der menschlichen Würde ist und automatisch zur Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen muss.96 Anhand der Menschenwürde werden objektiv inakzeptable Behandlungsformen identifiziert, die einer automatischen Konventionsrechtsverletzung gleichkommen können, unabhängig vom Ausmass der Gesundheitsschäden bzw. des Schmerzleids der betroffenen Person.97 Weiter hat durch den objektiven Charakter des Würdeprinzips der Begriff „Erniedrigung“ i. S. v. Art. 3 EMRK eine Anreicherung erfahren. Diesem negativen Freiheit. Aufgrund der materialen Lesart wird die Menschenwürde zur normativ massgeblichen Quelle bei der inhaltlichen Bestimmung der von der EMRK geschützten Grundrechte und -freiheiten. 96  3. Teil A. III. 2. a). 97  3. Teil A. III. 2. a); 4. e) aa); vgl. Belda, Les droits de l’homme des personnes privées de liberté, S. 88: „Le respect de la dignité humaine peut ainsi etre posé comme l’intentio operis du juge lorsqu’il applique la Convention aux conditions de détention objectivement inacceptables“; EGMR, 19.04.2001, Peers v. Greece, Nr. 28524/95, Rn. 75: „[T]he competent authorities took no steps to improve the objectively unacceptable conditions of the applicant’s detention. In the Court’s view, this omission denotes lack of respect for the applicant. The Court takes into account, in particular, that, for at least two months, the applicant had to spend a considerable part of each 24-hour period practically confined to his bed in a cell with no ventilation and no window, which would at times become unbearably hot. He also had to use the toilet in the presence of another inmate and be present while the toilet was being used by his cell-mate. (…) [T]hese conditions did (…) affect the applicant in a manner incompatible with Article 3. (…) [T]he prison conditions complained of diminished the applicant’s human dignity and aroused in him feelings of anguish and inferiority capable of humiliating and debasing him and possibly breaking his physical or moral resistance“.



B. Grundrechtsdimensionen339

kommt primär eine teleologische Funktion zu:98 Deutlich wird dies, wenn der Gerichtshof bei der Auslegung von Art. 3 EMRK – unter Bezugnahme auf die Würde des Menschen – verstärkt auf abstrakt-analytische Rechtswürdigungen zurückgreift und anstelle des subjektiv empfundenen Leids eines Menschen vermehrt das objektiv feststellbare Unrecht betont, das in einer einschlägigen Handlung oder Unterlassung des Staates liegt.99 So hat sich gezeigt, dass der Gerichtshof die Menschenwürde innerhalb der Eruierung der Eingriffsschwere bei Art. 3 EMRK, namentlich bei Haftbedingungen, bei Ohrfeigen durch Polizeibeamte, Prügelstrafen oder dem zwangsweisen Verabreichen von Brechmitteln herangezogen hat und dadurch aktuelle gesellschaftliche Wertungsansichten zusammenzieht und durch die Würde-Rechtsprechung absolut verbindlich macht.100 Der objektiven Feststellungsfunktion ist mitunter zu eigen, dass die Frage im Zentrum steht, ob ein Verhalten oder eine Situation objektiv erniedrigend ist. Im Zentrum steht also das Konzept der Demütigung, wie sich in den Fällen, in welchen Verdächtige sich in einem Käfig gefangen verteidigen mussten, emblematisch zeigt. Dadurch wird auf paneuropäischer Ebene festgeschrieben, was aktuell objektiv erniedrigend und daher absolut verboten bzw. geschützt ist. Von einem generell absoluten Schutz der Menschenwürde kann dennoch nicht die Rede sein; denn indem sich ihr Schutzgehalt über die Konventionsrechte realisiert, wirken im Bereich der grundrechtlich geschützten Autono-

98  Vgl. Jeannin, Le principe de dignité dans l’espace de la Convention européenne des droits de l’homme: la construction prétorienne d’un concept, S. 176, 177 f.; EGMR, 22.11.1995, S.  W. v. United Kingdom, Nr. 20166/92, Rn. 44; 4. Teil A. III. 2. 99  3. Teil A. III. 1. b); A. III. 2. a) u. 2. d) bb); A. III. 4. e) aa); EGMR (GK), 17.07.2014, Svinarenko and Slyadnev v. Russia, Nr. 32541/08 u. 43441/08, Rn. 138 (Hervorhebung durch Autor): „Regardless of the concrete circumstances in the present case, the Court reiterates that the very essence of the Convention is respect for human dignity and the object and purpose of the Convention as an instrument for the protection of individual human beings require that its provisions be interpreted and applied so as to make its safeguards practical and effective. It is therefore of the view that holding a person in a metal cage during a trial constitutes in itself – having regard to its objectively degrading nature which is incompatible with the standards of civilised behaviour that are the hallmark of a democratic society – an affront to human dignity in breach of Article 3“. 100  3. Teil A. III. 4. b) ff.; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 164. Eine weitere vom EGMR vertretene Funktion der Menschenwürde ist jene die einer konventionsimmanenten Schranke („Schranken-Schranke“): So von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 186 u. 189; s. dazu insb. EGMR, 22.11.1995, S. W. v. United Kingdom, Nr. 20166/92, Rn. 44.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

mie in Art. 8 Abs. 1 EMRK eher ihre „weichen“ Randbereiche, die nicht als absolut und derogationsfest zu erachten sind.101 bb) Instrument zur Zuschreibung von schutzwürdigen Verletzlichkeitsdispositionen Der Gerichtshof detektiert spezifische Verletzlichkeitsdispositionen und verknüpft diese mit der Menschenwürde als schutzverstärkendes Gut.102 Wann immer der Gerichtshof einen Menschen als verletzlich („position of vulnerability“) bezeichnet, erachtet er auch die Menschenwürde als besonders gefährdet, weshalb er entsprechend strenge Schutzvorkehrungen fordert und umfassende positive Schutzpflichten formuliert. Der Menschenwürdeschutz wird in solchen Situationen besonders hervorgehoben. Verletzlichkeitszuschreibungen eröffnen die Möglichkeit ein empathiebasiertes Menschenwürdeverständnis an den Tag zu legen, was dem betroffenen Individuum schutzbereichsverstärkend zu Gute kommt. Solche Situationen besonderer individueller Vulnerabilität sind typischerweise in Fällen von pointierter Machtimbalance (Bürger-Staat), Abhängigkeit, Krankheit oder allgemein im Kontext von Sonderstatusverhältnissen gegeben – auch als Mitglied einer marginalisierten Ethnie oder einer Minderheit innerhalb eines Konventionsstaates. Dann wirkt die Menschenwürde jeweils schutzverstärkend. Ein anderer, eng abgegrenzter Bereich, in dem ein grundsätzlicher Menschenwürdeschutz wirkt, konnte im vorgeburtlichen Leben identifiziert werden. Auch hier war eine schutzverstärkende Funktion ausschlaggebend, nämlich den ungeborenen Menschen nicht vollständig schutzlos zu lassen.103 cc) Instrument zur Gewährleistung eines allgemeinen Kernbereichschutzes Die grundrechtsdogmatische Diskussion rund um einen Menschenwürdekern innerhalb der einzelnen Grundrechte ist „verwandt“ mit der Diskussion um einen Kerngehalt (oder: Wesensgehalt bzw. Wesenskern) eines Grundrechts im Allgemeinen.104 Und da die meisten Konventionsrechte abwä101  Dennoch härtet sich der absolute Menschenwürdeschutz durch die Rechtsprechung nach und nach aus: von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 164. 102  Vgl. Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 265. 103  Verstärkungsfunktion der Menschenwürde: Jorion, RDP 1999, S. 197 (205); Roman, Le principe de dignité dans la doctrine de droit social, S. 70 (87); EGMR (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00; 4. Teil B. I. 1. 104  Vgl. Örücü, The Core of Rights and Freedoms: the Limit of Limits, S. 37 (38 ff.).



B. Grundrechtsdimensionen341

gungsoffen sind ist insbesondere die Frage aufgeworfen, ob auch die abwägungsoffenen Konventionsrechte über einen absoluten Kernbereich verfügen und ob ein solcher allenfalls mit dem Menschenwürdekern zusammenfällt. Anders gefragt: Ist die verwendete Formel vom „Wesensgehalt der Konvention“ („the very essence of the Convention“) lediglich als Interpretationsmassstab105 oder auch als allen Konventionsrechten inhärenter, harter Menschenwürdekern anzusehen? Gibt es einen Mindestgehalt, der in die Konventionsnormen eingebettet und keiner Einschränkung zugänglich ist?106 Gehen Menschenwürdekern und Kerngehalt ineinander über?107 Letztlich ist dies auf die Frage zurückzuführen, ob der absolute Würdeschutz auf einen abschliessend definierten Bereich unter Art. 3 EMRK aufgeführter Verletzungstatbestände beschränkt ist. Dies ist zu verneinen, wie die Fälle zum Menschenhandel oder zur Todesstrafe bzw. zum Verbot rassistischer Diskriminierung gezeigt haben. Bei den eindeutigen Ausprägungen der Menschenwürde fällt der Wesensgehalt mit dem Menschenwürdekern zusammen.108 Würde man lediglich eine abwägungsoffene Menschenwürde postulieren, so liefe man in der Tat Gefahr, die Menschenwürde zu einem blossen rhetorischen Beiwerk, sozusagen einer „Zierde der Rechtsprechung“ ohne konkrete Wirkung zu machen.109 Die Annahme, dass eine Verletzung jedes Konventionsrechts bei hinreichender Eingriffsschwere auch als Verletzung von Art. 3 EMRK zu deuten ist, leuchtet nicht ganz ein.110 Dies mag im Einzelfall denkbar sein, sofern die konkreten Voraussetzungen eines Verletzungstatbestands von Art. 3 EMRK erfüllt sind. Dass aber bei jedem Eingriff in ein Grundrecht bei hinreichender Schwere immer auch die Menschenwürde (mit-)betroffen sein sollte, ist abzulehnen. Denn dann würde ihr die Funktion eines schutzbereichsübergreifenden Intensitätsmassstabs zukommen, was keine typische Grundrechtsfunktion ist.111 Zudem lässt sich ein solch weitreichender Schluss auch nicht aus der Rechtsprechung des EGMR herleiten.

Klein, LA Delbrück, S. 385 (391). dieselbe Richtung: Giakoumopoulos, The principle of respect for human dignity, S. 11 (12); Gebremariam, Human Dignity and Moral Rights, S. 17 f. 107  Vgl. auf nationaler Ebene BVerfG 34, 238, 245; 80, 366, 373 ff. 108  Cornils, Schrankendogmatik, in: Hatje/Müller-Graff, EnzEuR, § 5 Rn. 105; überzeugend für den Kontext des GG: Volkmann, in: Merten/Papier, HBdGR, Bd. II, § 32 Rn. 44: Bei Eingriffen in die persönliche Freiheit besteht ein „eingriffsfester und jedem Zugriff der Gemeinschaft entzogener Kernbereich der Freiheit, der einerseits durch den Wesens-, andererseits durch den Menschenwürdegehalt der Grundrechte bezeichnet wird“. 109  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 175. 110  Bergmann, Das Menschenbild in der EMRK, S. 121 m. w. N.; in diese Richtung Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 119 f. 111  Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 114. 105  So 106  In

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Es bleibt also dabei, dass bereichs- und schutzgutspezifische Wertungen ausgeklammert werden, die zwecks Wahrung des Kerngehalts Seite an Seite mit der Bewahrung des Menschenwürdegehalts beachtet werden sollten. So treten bspw. unter Art. 8 EMRK die (nicht absolut geltenden) Prinzipien der Autonomie und der Selbstbestimmung stärker in den Vordergrund. Im Kontext von Art. 3 EMRK wird (im Rahmen der „Erniedrigung“) eher auf die Selbstachtung (e contrario Demütigungsverbot) und auf die allgemeine Subjektstellung abgestellt.112 Daher wird hier vertreten, dass bei entsprechend schwerer Aushöhlung spezifischer Würdeausprägungen – bspw. des Selbstbestimmungsrechts – auf eine Verletzung des Menschenwürdekerns in Art. 8, der als lex specialis Art. 3 EMRK vorgeht, erkannt werden sollte.113 Bereits im berühmten Leitfall Golder114 hat der EGMR festgehalten, dass dem Recht auf Gerichtszugang, welches zwar nicht absolut gelte, dennoch ein innerer Kern zukomme, der nicht angetastet werden dürfe. Diesen Gedanken hat der EGMR in den nachfolgenden Jahren weiter ausgehärtet, wobei er die Formel prägte, dass ein Grundrechtseingriff nicht den absoluten Wesenskern beschränken dürfe („cannot impair the very essence of the right“).115 Dabei wird deutlich, dass bei den abwägungsoffenen Konventionsrechten nebst einer Verletzung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes noch eine zusätzliche Komponente hinzutreten muss, damit effektiv von einer Kerngehaltsverletzung die Rede sein kann.116 Die bislang eher zurückhaltende Konturierung des Wesensbzw. Kerngehalts der Konvention mag wohl damit zusammenhängen, dass der EGMR die Reichweite rechtmässiger Einschränkungen anhand der expliziten Grundrechtsschranken selbst steuern kann und daher auf das weitere Argument des Kerngehalts nicht angewiesen ist.117 In der Rechtsprechung wird ­formal nicht immer auf das Menschenwürdeprinzip rekurriert, sondern stattdessen das Verhältnismässigkeitsprinzip bemüht.118 112  3. Teil

A. I.–II.; A. III. 2. d); III. 4. e). von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 178. 114  EGMR, 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, Nr. 4451/70, Rn. 38. 115  EGMR, 24.10.1979, Winterwerp v. Netherlands, Nr. 6301/73, Rn. 60; EGMR, 23.10.1996, Levages Prestations Services v. France, Nr. 21920/93, Rn. 40 f.; EGMR, 29.07.1998, Omar v. France, Nr. 24767/94, Rn. 34, 40. 116  Vgl. EGMR, 29.07.1998, Omar v. France, Nr. 24767/94, Rn. 40: „This impairs the very essence of the right of appeal, by imposing a disproportionate burden on the appellant, thus upsetting the fair balance test that must be struck between the legitimate concern to ensure that judicial decisions are enforced, on the one hand, and the right of access to the Court of Cassation and exercise of the rights of defence on the other“. 117  Klein, LA Delbrück, S. 385 (393). 118  Im Kontext von Art. 3 EMRK ist die Vorgehensweise dergestalt, dass die konkrete Situation daraufhin untersucht wird, ob bestimmte objektive oder subjektive 113  A. A.



B. Grundrechtsdimensionen343

Die Menschenwürde kann in eine Wertung mit gegenläufigen Interessen einfliessen, was insb. im Kontext von Art. 8 EMRK ersichtlich ist. Insoweit behält sich der Gerichtshof eine grössere Flexibilität vor. Nach dieser Lesart kann das Menschenwürdeprinzip bspw. in Fällen relativ niedriger Eingriffsintensität mit anderen Interessen nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip abgewogen werden.119. Demnach ist die Menschenwürde im Grundsatz abwägungsfähig, besitzt aber einen abwägungsresistenten Menschenwürdekern, der sich in verschiedenen Konventionsgarantien findet.120 Somit kann das Prinzip der Menschenwürde mit entgegenstehenden Interessen in Konkurrenz stehen; erreicht aber der Eingriff ein Mindestmass an Eingriffsschwere, wird der absolute Schutzkern getroffen.121 Mit der Dialektik von Grund und Gegengrund ist eine charakteristische Form der Anwendung von Prinzipien angesprochen.122 Dies geschieht zumeist im Kontext des Rechts auf Achtung des Privatlebens, wo bspw. der Aspekte des Staatshandelns eine Person – in den Worten Grabenwarters – „in ihrem Menschsein“ missachten. Die Wertung verläuft auch unter Anwendung des Verhältnismässigkeitsprinzips, wodurch ein irreduzibler Menschenwürdekern, der mit dem sachlichen Schutzbereich von Art. 3 EMRK zusammenfällt, eruiert wird (bzw. dadurch überhaupt erst eruiert werden kann). Letztlich kann die Feststellung einer Menschenwürdeverletzung nur aufgrund einer sorgfältigen Untersuchung der Gesamt­ situation erfolgen; EGMR, 17.04.2018, Karachentsev v. Russia, Nr. 23229/11, Rn. 45: „The assessment of this minimum is relative; it depends on all the circumstances of the case, such as the duration of the treatment, its physical and mental effects and, in some cases, the sex, age and state of health of the victim“. 119  Vielmehr wirkt dann ein Menschenwürdebegriff, der, als Prinzip ausgestattet, weitgehende Realisierung erfordert, aber durchaus auch eingeschränkt werden kann. S. 2. Teil A. IV. 3. Innerhalb der EMRK kann daher von einer begrenzt-relativen Menschenwürdekonzeption gesprochen werden. Letztlich ist die Menschenwürde nach dieser Lesart ein abwägungsbedürftiges Prinzip; vgl. Bäcker, Der Staat 2016, S. 433 (451). 120  3. Teil A. I.–IV. Vgl. BVerfG 47, 239 (247 f.): „Die zwangsweise Veränderung der Haar- und Barttracht eines Beschuldigten zum Zwecke seiner Gegenüberstellung mit Zeugen stellt – sofern dem nicht besondere Umstände des Einzelfalles entgegenstehen – keinen Verstoss gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG) des Beschuldigten dar. Es trifft nicht zu, dass der Beschuldigte hierdurch zu einem blossen ‚Schauobjekt‘ erniedrigt wird. Solche Massnahmen sind – auch bei Eingriffen in die Substanz der Haar- und Barttracht – von verhältnismässig geringer Intensität, zumal sie ihrer Natur nach das Aussehen des Beschuldigten nur vorübergehend verändern. Sie dienen zudem weder seiner Herabwürdigung noch sonstigen rechtlich zu missbilligenden Zwecken, sondern unmittelbar der rechtsstaatlich gebotenen Aufklärung von Straf­ taten und Ermittlung von Straftätern. Der Beschuldigte muss sie deshalb im Interesse überwiegender Belange des Gemeinwohls hinnehmen“. 121  Vgl. von Bernstorff, JZ 2013, S. 905 (905 ff.). 122  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 501: „Deshalb ist die Abwägung die spezifische Form der Anwendung von Prinzipien“.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Aspekt der persönlichen Autonomie am Lebensende mit dem Verbot der aktiven Sterbehilfe abzuwägen ist.123 In jenen Grundrechtssystemen, wo ein Kerngehalt anerkannt wird, wird argumentiert, dass es trotz der grundsätzlichen Abwägungsoffenheit eines harten Kerns bedarf, damit Grundrechte ihres Sinns nicht vollends entleert werden.124 Ein solcher Kerngehalt wurde in der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Grundsatz mehrfach angedeutet.125 Dieser Kern ist nicht durch eine abstrakte Formel fassbar, sondern stets mittels einer wertenden Abwägung verschiedener Ordnungsgesichtspunkte im Einzelfall zu ermitteln.126 Dass der Gerichtshof bei der Erarbeitung der oben herausgearbeiteten und diskutierten (absoluten) Schutzbereiche verschiedene Wertungsaspekte und Prinzipien gegeneinander abwägt, zeigt sich i. d. R. in seinen Urteilen unter der Rubrik „General Principles“, worin er u. a. die Menschenwürde als Wertungsgesichtspunkt formelhaft einbringt und danach konkret auf den Fall anwendet.127 Im Schrifttum wird dieser Abwägungsprozess auch als vorgelagerte Verhältnismässigkeitsprüfung bezeichnet.128 Als Ergebnis wird u. U. ein Verstoss gegen den absoluten Achtungsanspruch der Menschenwürde, bspw. in der spezifischen Form der Verletzungstatbestände von Art. 3 und 4 EMRK, festgestellt.129 Zu begrüssen wäre es, wenn der Gerichtshof den Gedanken der Wesensgehaltsgarantie in Zukunft weiter aushärtete und stringenter konturierte. Sie kann als äusserste Grenze eines Grundrechtseingriffes zur Anwendung kommen und der gesamten Konvention zu einer prinzipiellen und strukturellen Ausrichtung verhelfen. Diese müsste sich dann konsequent in der Prüftechnik des EGMR auszuwirken. Dass ein sog. Wesensgehalt eines Grundrechts gewahrt werden sollte, entspricht nach hiesiger Auffassung auch dem Postulat der effektivitätssichernden Auslegung: „Die Wesensgehaltsgarantie generiert den Verhältnismässigkeitsgrundsatz und zeigt an, dass die Beurteilung der Zweck-Mittel-Relation nicht auf der Grundlage dieses Verhältnisses allein durchgeführt werden darf, sondern berücksichtigen muss, dass die Rechtsgewährleistungen für den ein123  3. Teil

B. II. vieler vgl. nur Art. 36 CH-BV. 125  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsanwendung, Rn.  53, 104 f.; ders., Art. 1 Rn. 93. 126  Vgl. Teifke, Human Dignity as a Principle and as a Constitutional Right, S. 225 (230). 127  Beispiele aus Rechtsprechung: s. 3. Teil A. III. 4. c). 128  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 163; vgl. 3. Teil A. III. 129  3. Teil A. II. 1. a); A. III. 1. a); A. III. 2.; A. III. 4. b) und 4. d); 3. Teil A. IV. 2. b); A. V. 4. b); 3. Teil A. VII. 1 oder 3. Teil B. III. 124  Statt



B. Grundrechtsdimensionen345

zelnen nicht illusorisch wird“.130 Beschränkungen dürfen demnach das Recht nicht zu einer illusorischen und theoretischen Begriffshülse verkommen lassen, denn „[e]s könnte sein, dass unter bestimmten Umständen die blosse Zweck-Mittel-Relation sogar akzeptabel wäre; dem in einer demokratischen Gesellschaft bestehenden Sinn der Garantie als solcher, ihrer Substanz oder Essenz, könnte gleichwohl zuwidergehandelt werden“.131 Klar dürfte sein, dass der Wesensgehalt, ob er nun mit dem Menschenwürdekern zusammenfällt oder nicht, nur anhand einer Würdigung der Einzelfall­ umstände zu gewinnen ist. Das Ergebnis eines Interessenausgleichs zwischen dem Einzelnen und den Interessen Dritter oder der Öffentlichkeit muss seine Grenzen haben. Der Menschenwürdegehalt könnte daher als Ausgangspunkt für eine bereichsspezifische Entwicklung von grundrechtlichen Kernbereichen dienen. b) Menschenwürde als materielles Auslegungsprinzip Ergänzt wird der Menschenwürdekern durch weichere „Randbereiche“ i. S. normleitender Ausprägungen und Ausstrahlungswirkungen: Die Menschenwürde als materielles Auslegungsprinzip und Wertungsmassstab. Denn je nach dem bei welcher Konventionsnorm die Menschenwürde herangezogen wird, entfaltet ihr Schutzkonzept eine andere Struktur und Typizität; insoweit hat sie verschiedene Anwendungsformen.132 Solche Ausprägungen menschlicher Würde sind der Gegenüberstellung von Grund und Gegengrund zugänglich. Allerdings definieren und konturieren sich die Randbereiche zwangsläufig vom Kern her, sodass die menschliche Würde ihren Prinzipiencharakter als ganzheitlich auf die Konventionsrechtsgarantien gerichtete Interpretationsmaxime aufrechterhält. Dies zeigt sich auch in der semantischen Verwendungsweise in der Rechtsprechung.133 Durch diese Form der Operationalisierung offenbart sich die normkonkretisierende Funktion der Menschenwürde.134 Indem der Gerichtshof dieses Prinzip mit anderen einschlägigen Rechten kombiniert, tritt der typische Charakter als allgemeines Prinzip und materielle Grundnorm deutlich zu­ 130  Klein,

LA Delbrück, S. 385 (397). LA Delbrück, S. 385 (398). 132  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 178. 133  EGMR (GK), 11.07.2002, I. v. United Kingdom, Nr. 25680/94, Rn. 70 ff. („Striking a balance in the present case“; „Nonetheless, the very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom“; „the Court considers that society may reasonably be expected to tolerate a certain inconvenience to enable individuals to live in dignity and worth in accordance with the sexual identity chosen by them at great personal cost“). 134  3. Teil A. II. 2. c); A. III. 2. d); III. A. 4. e); 2. Teil A. IV. 3. 131  Klein,

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

tage.135 Dies gilt insbesondere für die spezifische Wechselwirkung zwischen dem Verletzungstatbestand der Erniedrigung und der Menschenwürde. Es konnte aufgezeigt werden, dass Menschenwürde in der Rechtsprechung systematisch als teleologischer Auslegungsmassstab verwendet wird.136 Als Rechtsprinzip ist sie fest im Sinne eines Auslegungstopos verankert und gibt den Konventionsnormen die Richtung an. Sie kann Konventionsgarantien für neue Problem- und Gefährdungslagen sensitiv halten. Insofern ist die Funktion als materielles Auslegungsprinzip eng mit der objektiven Unrechts-Feststellungsfunktion verbunden. McCrudden hat dies wie folgt auf den Punkt gebracht: „More generally (…) dignity becomes an interpretive principle to assist the further explication of the catalogue of rights generated by the principle. Some (or all) of the rights then come to be seen as best interpreted through the lens of dignity.“137 Insbesondere im Rahmen von Art. 8 EMRK ist die Menschenwürde ein Abwägungstopos unter mehreren.138 Sie wird als zusätzliches, durchaus gewichtiges Argument eingebracht und in dialektischer Abwägungen zwischen Individualinteressen und den Interessen der Öffentlichkeit mehr oder weniger umfänglich realisiert.139 Dies entspricht ihrem Prinzipiencharakter. Gewisse Konventionsrechte haben eine besondere Nähe zur Menschenwürde,140 andere eher nicht.141 Aufgrund der hohen inhaltlichen Abstraktion eignet sich die Menschenwürde gut, um die einzelnen Konventionsrechte inhaltlich anzureichern und anzuleiten.142 Der EGMR bedient sich der Menschenwürde u. a. i. S. einer normativen Richtschnur, um den Wesensgehalt anderer Konventionsrechte zu konturieren und auszufüllen.143 135  Jeannin, Le principe de dignité dans l’espace de la Convention européenne des droits de l’homme: la construction prétorienne d’un concept, S. 176 (177, 185); so bereits Ermacora, Grundfreiheiten, S. 60. 136  Tiedemann, Was ist Menschenwürde?, S. 25. 137  McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (707). 138  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 65; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 184. 139  S. 2. Teil A. IV. 3. Vgl. McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (712, 717); vgl. EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 14038/88, Rn. 89: „inherent in the whole of the Convention is a search for a fair balance between the demands of the general interest of the community and the requirements of the protection of the individual’s fundamental rights“. 140  Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, S. 91 nennt Art. 2, 3, 4 und 8 EMRK. 141  Wie bspw. die Versammlungsfreiheit oder die Glaubens- Gewissens- und Gedankenfreiheit. 142  Vgl. Walter, The principle of respect for human dignity, S. 33 (41). 143  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 168 f.



B. Grundrechtsdimensionen347

Als inhaltliche Zielsetzung und Prinzip der Konvention ist die Menschenwürde richtungsweisend bei der Auslegung.144 Die „spezialbereichs- bzw. fallorientiert[e] Konturierung der Menschenwürde [kann] mit Hilfe der Bezüge zu den ihrerseits entwicklungsoffenen Einzelgrundrechten“ gelingen.145 Daher kann das Konzept der Menschenwürde neben den Konventionsrechten existieren. Der EGMR bezieht die Menschenwürde, zumeist ohne auf die spezifische (von ihm zugedachte) Bedeutung einzugehen, in seine rechtliche Argumentation mit ein. In den Urteilen figuriert sie zumeist innerhalb der Rubrik „General Principles“ sowie teilweise auch in den Konklusionen unter „application in the present case“. Ihre Wirkung ist dann am stärksten, wenn die gegenständliche Aussage der Konventionsrechte selbst schwach und unbestimmt ist.146 Es verwundert daher nicht, dass insbesondere Begrifflichkeiten wie Inhumanität und Erniedrigung unter Heranziehung der Menschenwürde ausgelegt werden; dasselbe gilt für das Schutzkonzept des Privat­lebens. Weiter wird die Würde in die Rechtserwägungen miteinbezogen, wo es um abwägungsoffene Grundrechte geht, wie bspw. das Recht auf Familienleben. Bei einem entsprechenden Abwägungsentscheid wird dadurch die Begründung eines besonders hohen anderen Rechtsgutes gestärkt.147 Wie intensiv diese Wirkung letztlich ausfällt, hängt von der Nähe des Konventionsrechts zur Menschenwürde bzw. vom spezifischen Menschenwürdebezug ab.148 Eine besondere Nähe besteht zum Verbot der Folter und der unmensch­ lichen und erniedrigenden Strafe und Behandlung, zum Verbot der Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit, zum Verbot des Menschenhandels, zum Recht auf Leben sowie zum Recht auf Achtung des Privatlebens.149 Andere, 144  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 65; Mahlmann, Menschenwürde in Politik, Ethik und Recht, S. 267 (270). 145  Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage in der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR, Bd. II, § 22 Rn. 58. 146  In der Literatur wird auch von der Nähe einzelner Konventionsnormen zur Menschenwürde gesprochen, womit eine entsprechende Wertigkeit einer Norm bezeichnet werden soll. Je näher eine Norm zur Menschenwürde steht, desto eher wird mit Blick auf den Wertmassstab der Menschenwürde argumentiert, was sich anhand der Judikatur zu Art. 3 EMRK empirisch belegen lässt. Anders als in der Grundrechtecharta, wo die spezifische Menschenwürde-Nähe positivrechtlich normiert wurde, lässt sich eine solche innerhalb der Konventionsrechtsordnung nur anhand der Rechtsprechungsanalyse vornehmen. 147  Wie bspw. das Lebensrecht Dritter; vgl. 4. Teil B. I. 148  Vgl. Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 204 ff.; vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 245. 149  3. Teil A. I.–V.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

ebenfalls fundamentale Rechte, wie jenes auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK), sind weniger würderelevant, wenngleich dies kontraintuitiv erscheinen mag. Wohl aufgrund des relativ hohen Differenzierungsgrades dieser Norm ist ein Rückgriff auf die menschliche Würde hier in den meisten Fällen obsolet. Dasselbe gilt für Art. 6 EMRK, der bisher ohne Rückgriff auf die Menschenwürde auskommt und einen hohen Ausdifferenzierungsgrad aufweist. Eine Inanspruchnahme der menschlichen Würde wird sich dann in den meisten Fällen nicht aufdrängen.150 Diese These wird insoweit durch die Rechtsprechung bestätigt, als die stärkste normative Wirkung im Zusammenhang mit den Normen in Artt. 3, 4 und Art. 8 EMRK auftritt.151 Die Menschenwürde muss sich aber aufgrund ihres unselbständigen Charakters innerhalb der begrifflich-sachlichen Grenzen der jeweiligen Bezugsnorm halten.152 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs zeichnet sich ab, dass vor allem das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) würdegeprägte Schutzbereiche aufweist. Insoweit werden die Randbereiche der Menschenwürde vor allem durch Art. 8 EMRK erfasst.153 Als fundamentaler Grundsatz erfordert die Würde weitgehende Beachtung (Achtung/Schutz) ihrer Randbereiche, namentlich das konnexe Prinzip der Autonomie, das Recht auf Selbstbestimmung und auf soziale Kontakte in Haft.154 Alle diese Schutzbereiche sind würdegeprägt, abwägungsoffen und daher nicht absolut gültig. Der Abwägungsprozess zwischen den verschiedenen Rechtspositionen gestaltet sich im Rahmen der EMRK flexibler, da die Anrufung der Menschenwürde nicht automatisch zur Folge hat, dass sich die betroffene Rechtsposition gegenüber widerstreitenden Aspekten durchsetzt.155 Die berührten Rechtspositionen können durch die Orientierung am jeweils sachnächsten Konventionsrecht offen benannt und miteinander in Ausgleich gebracht werden, ohne dass der Abwägungsprozess durch die vorschnelle Fokussierung auf die Menschenwürde unterbunden würde.156

150  Für einen Vorschlag, die Menschenwürde dennoch als teleologischen Auslegungsmassstab, insb. in Fällen der verdeckten Ermittlung, einzubringen: 3. Teil A. IV. und V. 151  Menschenwürde in der Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK: 3. Teil A. I. und III.; Menschenwürde in der Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK B. III. und IV. 152  Seien dies Art. 8, Art. 6 oder Art. 4 EMRK als Beispiele. 153  Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 176. 154  Vgl. statt vieler: EGMR, 10.04.2007, Evans v. United Kingdom, Nr. 6339/05, Rn. 89: „Respect for human dignity and free will, as well as a desire to ensure a fair balance between the parties (…)“; EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95. 155  Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 11. 156  So Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 13.



B. Grundrechtsdimensionen349

Immerhin müssen, je enger der Konnex zur Menschenwürde ist, die entgegenstehenden öffentlichen Interessen umso schwerwiegender sein, um einen Eingriff in Randbereiche der Menschenwürde rechtfertigen zu können.157 Eine Aufblähung der Randbereiche kann in der Rechtsprechung nicht beobachtet werden; die menschliche Würde wird tendenziell eher restriktiv miteinbezogen. Auch dort, wo die Menschenwürde prominent in den Urteilen platziert wird, kommt ihr zumeist bloss die Funktion der Schutzbereichskonkretisierung zu.158 c) Menschenwürde als Instrument zur Schutzbereichserweiterung In ihrer interpretationsleitenden Funktion kann die Menschenwürde auch eine teleologische Extension einzelner Konventionsrechte methodisch ab­ sichern und legitimieren.159 Der Gerichtshof hat die Menschenwürde als interpretationsleitenden Massstab zur schutzerweiternden Auslegung bspw. des Diskriminierungsverbots herangezogen.160 In Fällen lebenslanger Haft kommt es primär auf den objektiv-rechtlichen Grundrechtscharakter der Menschenwürde an,161 der mithin zum Massstab für konventionskonforme Freiheitsentzüge wird.162 Durch den Schutzgehalt der Würde wird der intrinsische Eigenwert jedes Menschen verstärkt geschützt, sodass dank ihr die absolute Abschaffung der Todessstrafe (sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten) begründet und verwirklicht werden konnte.163 Eine teleologische Erweiterung über die Wortlautgrenze hinaus darf allerdings nur mit äusserster Zurückhaltung und unter strikter Rückbindung der 157  Hinzu kommt eine weitgehende Zurückhaltung in Problemkomplexen ethischer oder hoch emotionaler Natur, wie der Sterbehilfe. In diesen Bereichen gewährt der EGMR den Staaten einen Ermessensspielraum („margin of appreciation“); entsprechend können Randbereiche der Menschenwürde hinter entgegenstehende öffentliche Interessen zurücktreten. 158  Sie kann zudem die Begründung neu entwickelter Grundrechte, wie des Verbots des Menschenhandels, verwirklichen; 3. Teil A. IV. 2. c). 159  3. Teil A. IV. 2. c). 160  3. Teil B. III. 161  3. Teil A. II. 2. b). Allgemein zu objektiven Grundrechtefunktionen und deren Herleitung in der EMRK: Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen, S. 46-181. 162  3. Teil A. II. 2. b)–2. c). Das durch die lebenslängliche Freiheitsstrafe berührte Recht auf persönliche Freiheit könne durch die Konventionsstaaten eingeschränkt werden; jedoch müsse das Vollzugsziel der Resozialisierung implementiert werden, was für jeden Staat gelte, der die Menschenwürde ins Zentrum seines Rechtssystems stelle. So wurde der Aspekt des subjektiven Rechts in den Hintergrund gedrängt und eine objektive Verpflichtung an die Konventionsstaaten formuliert. 163  3. Teil A. II. 1.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Konventionsnorm an das sie unterfütternde Prinzip vorgenommen werden.164 Dies hat der Gerichtshof insbesondere beim Menschenhandel als (relativ neu entwickelte) eigenständige Schutzkategorie in Art. 4 EMRK demonstriert. Die Würde kann aber auf die Anwendung einzelner Konventionsrechte auch limitierend wirken. Klar ist, dass nicht jeder Konventionsnorm ein Menschenwürdekern innewohnt, was einen bedeutenden Einfluss auf die Anwendbarkeit einer Konventionsgarantie hat. d) Rechtspolitische Postulate der Menschenwürde Bisher konnte gezeigt werden, dass die Menschenwürde mehr ist als ein „Hintergrundrauschen“ der spezifischen Konventionsrechte.165 Es stellt sich (dennoch) die Frage, ob der Gerichtshof die Menschenwürde auch als „Stilmittel“, als „feierliche Proklamation“ verwendet hat, oder ob er sie als rechtspolitisches Ziel in den juristischen Diskurs eingebracht hat.166 Neben dem „harten“ Menschenwürdekern und den „weicheren“ Randbereichen i. S. e. materiellen Auslegungsprinzips fordert der Gerichtshof – in seiner spezifischen Funktion als rechtspolitischer Akteur des europäischen Grundrechtsdiskurses – Gewährleistungen, die eigentlich rechtspolitische Zielsetzungen sind.167 Wenn aus der Exegese der Urteile keine hinreichende Evidenz für eine rechtliche Wirkung hervorgeht, kommt der Menschenwürde, wie sie der Gerichtshof in einschlägigen Fällen einbringt, zumindest verminderte Normativität zu. Zwar kann es in Fällen sozialer Not oder des pränatalen Würdeschutzes um zentrale Forderungen des Individualrechtsschutzes gehen, die der Gerichtshof als rechtspolitischer Akteur bzw. „Diskurswächter“ nur moderieren, jedoch nicht letztinstanzlich und rechtsverbindlich entscheiden kann, da ihm die entsprechende Kompetenz und Legitimität fehlt.168 Die Verwendungsweise ist dann zwar auf den ersten Blick präskriptiver Natur, erschöpft sich aber in einem rechtspolitischen Appell.169 EGMR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Nr. 25965/04. Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 185. 166  Meyer-Ladewig, NJW 2004, S. 981 (983). 167  Wenn bspw. von einer Verletzung der Würde gesprochen wird, die allerdings im Ergebnis nicht zu einer Konventionsrechtsverletzung führt; EGMR (GK), 27.06.2017, Medžlis Islamske Zajednice Brčko and others v. Bosnia and Herzegovina, Nr. 17224/11, Rn. 106: „it is conceivable that its publication opened a possibility for public debate and aggravated the harm to M.S.’s dignity and professional reputation“. 168  Eingehend zur Rolle des Gerichtshofs als Diskurswächter: Baade, Der EGMR als Diskurswächter, Heidelberg 2017; 3. Teil B. I. 1.; B. II.; B. IV. 169  Bspw. als symbolischer Ausdruck eines Widerstandes gegen die Staatsgewalt: Jeannin, Le principe de dignité dans l’espace de la Convention européenne des droits 164  Vgl. 165  Von



B. Grundrechtsdimensionen351

Dies ist deshalb bedenklich, weil es die Gefahr birgt, dass der Würdebegriff banalisiert wird. Daher sollte eine derartige Verwendung dem politischen Diskurs oder der Alltagssprache überlassen bleiben, jedoch nicht in die Rechtserwägungen eines internationalen Menschenrechtsgerichtshofs Eingang finden, da dies einem weiteren Verschleifen der Begriffskonturen Vorschub leistet. Dies kann einem effektiven Menschenrechtsschutz kaum dienlich sein. Fälle, in denen das „Menschenwürdeargument“ willkürlich eingebracht wird, sind selten. Der Gerichtshof scheint die Gratwanderung zu meistern, wenngleich die normativen Konsequenzen nicht immer offen zutage treten. So lässt sich der Gerichtshof grundsätzlich nicht zu einer (folgenlosen) Skandalisierung stossender Zustände qua Menschenwürdeargument hinreissen. Die Menschenwürde ist als Rechtsbegriff nicht dazu in der Lage, vor sämtlichen Unwägbarkeiten des täglichen Lebens zu schützen. Sozial- oder gesellschaftspolitisch Verpöntes, das in der Medien- oder Alltagssprache oft auch mit dem Topos „Menschenwürdeverstoss“ angeprangert wird, ist nicht mitumfasst vom konventionsrechtlichen Menschenwürdebegriff. Lediglich im eng umgrenzten Bereich sozialer Grundrechte, wo es um die Gewährleistung eines materiellen Existenzminimums für armutsbetroffene, in Not lebende Menschen geht, argumentiert der Gerichtshof nach hiesiger Einschätzung zuweilen eher politisch.170 Konkret hält er in bestimmten Fällen, die die Gewährleistung von Obdach bzw. Wohnraum betreffen, in mittlerweile ständiger Rechtsprechung besorgt fest, dass es äusserst wünschenswert wäre, wenn jeder Mensch in Europa ein Dach über dem Kopf hätte, um in Würde leben zu können.171

de l’homme: la construction prétorienne d’un concept, S. 176 (185); EGMR, 27.05.2010, Saghinadze and others v. Georgia, Nr. 18768/05, Rn. 160. 170  EGMR, 27.05.2010, Saghinadze and others v. Georgia, Nr. 18768/05, Rn. 160; EGMR (GK), 18.01.2001, Jane Smith v. United Kingdom, Nr. 25154/94, Rn. 106; EGMR (GK), Doğan v. Turkey, Nr. 62649/10, Rn. 154: „For the Court, however, the authorities have the primary duty and responsibility to establish conditions, as well as provide the means, which allow the applicants to return voluntarily, in safety and with dignity, to their homes or places of habitual residence, or to resettle voluntarily in another part of the country“; EGMR (GK), 18.01.2001, Coster v. Beard, Nr. 24876/94, Rn. 113; EGMR (GK), 18.01.2001, Beard v. Turkey, Nr. 24882/94, Rn. 110. 171  EGMR, 10.05.2016, Kashchuk v. Ukraine, Nr. 5407/06, Rn. 53: „[I]t is clearly desirable that every human being should have a place where he or she can live in dignity and which he or she can call home, there are unfortunately many people in the Contracting States who have no home“; EGMR, 02.12.2014, Strzelecka v. Poland, Nr. 14217/10, Rn. 49; weiterführend Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, Tübingen 2012.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Freilich hat der Gerichtshof nicht die Befugnis, soziale Grundrechte zu gewährleisten, wenngleich die Trennlinie zwischen sozialen und wirtschaft­ lichen Rechten und den klassisch-bürgerlichen Rechten nicht scharf verläuft. Da er auch in Fällen extremer Armut, wo Menschen (mehr oder weniger unfreiwillig) auf der Strasse, unter Brücken oder im Wald leben und übernachten müssen, keinen Schutz über die Konvention erwirken kann, versucht er, dennoch eine Signalwirkung auszusenden. So bleibt die Menschenwürde zumindest symbolisches Kapital.172 Damit nimmt der Gerichtshof empathisch teil am Erfahren von Unfreiheit und artikuliert in Form von Menschenwürdegefährdungen, wie solches Leid erlebt und als Unrecht empfunden wird. Im Bezug der Menschenwürde zur Artikulation von (politischen) Ansprüchen gegen als unrechtmässig erfahrene und qualifizierte Handlungen kann zumindest eine Bestärkung der formulierten rechtlichen und politischen Ansprüche erblickt werden. Diese Funktion wird als rechtspolitische Funktion der Menschenwürde bezeichnet. Immerhin kann eine solche Verwendungsweise – ähnlich wie bei Soft Law – den Weg bereiten für künftige Rechtsfortbildung und Gesetzgebung. Nach eingehender und breiter Analyse der Würde-Rechtsprechung lässt sich festhalten, dass Fälle, in denen die Würde des Menschen „lediglich“ Appellcharakter hat, auf die Bereiche Obdachlosigkeit, Schutz der Reputation und Ehre sowie pränataler Würdeschutz begrenzt sind. 2. Ergebnis Die konventionsrechtliche Menschenwürde besitzt einen eigenständigen Rechtscharakter mit verschiedenen Facetten und Funktionen. Sie ist – wie oben bereits erörtert wurde – kein subjektives Grundrecht, sondern objektives Prinzip und Fundamentalwert. Als Wert kommt der Würde ein gleichsam präpositiver, ethischer Charakter zu.173 Sie ist zugleich juridischer Natur und besitzt materielle Funktionen, die sich im verstärkten Schutz einzelner Konventionsrechte und in der Aushärtung von Kernbereichen bzw. der Herausbildung eines Menschenwürdekerns manifestieren. Der Nachweis eines Menschenwürdekerns ist die intensivste Form des Schutzes bzw. der Schutzverstärkung. Durch eine formalinduktive Entfaltung des Würdeschutzes ergibt sich nach und nach ein abso172  Dieses politische Würdeverständnis befindet sich im Fluss der kulturellen Entwicklung, die immer neu auf nationaler Ebene ausgehandelt werden muss: Ahrens, 382; Vgl. Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 12. 173  Die Menschenwürde kennzeichnet den präpositiven Staatszweck an sich, der in der personalen Freiheit eine der wesentlichen Grundaussagen findet.



B. Grundrechtsdimensionen353

luter Schutzkern, der in der Feststellung menschenunwürdiger Behandlungsformen zum Einsatz kommt. Dies gilt insb. für Urteile, in denen eine Verletzung, ein Angriff oder eine Untergrabung der Menschenwürde konstatiert wird („diminishes human dignity“; „affront to human dignity“; „incompatible to human dignity“).174 Inwieweit sich im Einzelfall der Wesensgehalt eines Rechts mit dem Menschenwürdekern deckt, ist jedoch strittig und bedarf einer Klärung durch den Gerichtshof. Dass sich der Gerichtshof über das Verhältnis zwischen dem Wesenskern („very essence of the right“) und dem Menschenwürdekern („very essence of the convention“) ausschweigt, macht die Frage nicht weniger drängend. Teilweise unklar ist auch, welche Konventionsrechte tatsächlich über einen Menschenwürdekern verfügen und welche nicht. Bei Art. 3 und Art. 4 Abs. 1 EMRK ist eine Kongruenz zwischen Schutzbereich und Menschenwürdekern festzustellen. Kein Zweifel besteht dahingehend, dass der Menschenwürdekern auch bei abwägungsoffenen Konventionsrechten nicht tangiert werden darf. Die Würde fungiert daher als Schranke bei Konventionsrechtseingriffen.175 Insoweit verliert die Feststellung, dass die Menschenwürde in der EMRK nicht selbständig geschützt wird, an argumentativer Schlagkraft. Denn in Wahrheit spielt es (in qualitativer Hinsicht) keine Rolle, ob die Feststellung einer Menschenwürdeverletzung über Art. 2,176 Art. 3, Art. 4 oder Art. 8 EMRK (i. V. m. Art. 14 EMRK) erfolgt.177 Wird die Menschenwürde aber nur als zusätzliche „rhetorische Beilage“ in die Urteilserwägungen eingebracht, so führt dies zu einer Schwächung dieses fundamentalen europäischen Rechtsbegriffs.178 Es ist daher zu fordern, dass der Einbezug der Menschenwürde in der Judikatur restriktiv gehandhabt wird und erkennbare rechtliche Konsequenzen führt, um nicht zur blossen Leerformel und Worthülse zu verkommen. Mit Konsequenzen ist nicht gemeint, dass die Menschenwürde jedes Mal zum entscheidenden Wertungsgesichts-

174  3. Teil A. II.; A. II. 2. b) bb) („Right to Rehabilitation“); 3. Teil A. III. 4. b)–4. c) („Conditions which respect human dignity“); 3. Teil B. II. 3. („Right to Self-Determination“). 175  So bereits von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 164  ff. (Menschenwürde als Schranken-Schranke). 176  Wenn bspw. eine Person mit der Tötung zugleich für fremde Zwecke instrumentalisiert wird. 177  Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 170. Als selbständige Beschwerde- und Anspruchsgrundlage kann die Menschenwürde aber nicht fungieren. 178  Vgl. Foster C., Human dignity in bioethics and law, S. 95.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

punkt hochstilisiert werden muss; diese normative Steuerungsfähigkeit vermag sie ohnehin nicht (allein) aufzubringen.179 Insgesamt ist eine menschenwürdegeprägte Rechtskultur zu beobachten, die durch den Gerichtshof konstruktivistisch ins Leben gerufen und fortentwickelt wurde bzw. wird.180 Durch systematische und nachvollziehbare Auslegungsmethodik ist es gelungen, rechtszivilisatorische Entwicklungen zusammenzufassen und rechtlich festzuschreiben. So hat der Gerichtshof bspw. in Fällen der sexuellen Identität nach eingehender Analyse der normativen Entwicklungen und der medizinischen Forschung festgestellt, dass das Konzept der psychischen Sexualität wissenschaftlich anerkannt sei und daher auch die Anerkennung des neuen Geschlechts einer Person ein Postulat der Menschenwürde sei. Dies ist ein gutes Beispiel, um aufzuzeigen, dass die Menschenwürde solche Schutzbereiche nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum prägt bzw. zu prägen beginnt. Der EGMR wirkt als „Motor“ oder „Katalysator“, der auf normative Entwicklungen der Gegenwart zurückgreift.181 Von einer rein zufallsgesteuerten Menschenwürde-Rechtsprechung kann daher nicht gesprochen werden.182 3. Verpflichtungsdimensionen a) Abwehrpflicht und „non-refoulement“-Gebot Historisch haben sich Grundrechte als subjektive Abwehrrechte gegen den Staat entwickelt.183 Die klassische Funktion eines Grundrechts besteht primär 179  Zudem sei hier noch einmal betont, dass sich Entwicklungslinien der Rechtsprechung nicht monokausal auf die Menschenwürde zurückführen lassen. Vielmehr ist diese Teil der komplexen Rechtsfortentwicklung, die sich auf eine stringente Auslegungsmethodik und nachvollziehbare Rechtserkenntnisquellen stützen muss. 180  Mit Blick auf die Menschenwürde kann durchaus die US-amerikanische Rechtskultur als Kontrapunkt erachtet werden; vgl. Grechenig/Gelter, RZaiP 2008, 513 ff.; vgl. aber die allmähliche Inkorporation der Menschenwürde in den Rechtsdiskurs US-amerikanischer Gerichte: In Re Yamashita 327 U.S. 1, 29 (1946) (dissenting opinion Murphy); Gregg v. Georgia 428 U.S. 153 (1976) (Brennan); Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey 505 U.S. 833, 846 (1992); insb. L ­ awrence v. Texas 539 U.S. 558, 567 (2003); Simon, Dignity and Risk: The Long Road from Graham v. Florida to Abolition of Life without Parole, S. 282 (304 ff.); ferner Whitman, YLJ 2004, S. 1151 (1211 ff.). 181  In diese Richtung auch Joerden, Menschenwürdeschutz als prägendes Element einer Rechtskultur, S. 159 (166); von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, 195 ff., 199 ff. 182  Vgl. Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 9; ferner Schwarz, Der Staat 2011, S. 533 (541). 183  Vgl. Hornung, Grundrechtsinnovationen, S.  240 m. w. N.



B. Grundrechtsdimensionen355

darin, dem Einzelnen ein Abwehrrecht vor staatlichen Eingriffen in seine Freiheitssphäre zu sichern.184 Der negative, abwehrende Charakter der Menschenwürde ergibt sich aus der „Objektformel“.185 Er wird durch die Formulierungen des Gerichtshofs, wonach gewisse Zustände oder Eingriffe schlicht nicht mit der Würde des Menschen vereinbar seien („sits ill with human dignity“ oder „incompatible with human dignity“) Schritt für Schritt konturiert. Hier zeigen sich Ansätze eines subjektiv-rechtlichen Grundrechtscharakters i. S. eines Abwehrrechts, das aber vornehmlich über Art. 3 EMRK geltend zu machen ist. In Bereichen, in denen die Würde-Rechtsprechung in Bezug auf den materiellen Gehalt hinreichend klar ist, nähert sich die Abwehrpflicht an ein implizites subjektives Recht an. Von grosser praktischer Bedeutung sind abwehrrechtliche Fallkonstellationen, in denen eine Menschenwürdeverletzung in einem Drittstaat droht.186 Dabei handelt es sich um Fälle der Abschiebung, Auslieferung oder Ausweisung aus einem Konventionsstaat in ein anderes Land, in dem durch Art. 3 EMRK verbotene Massnahmen drohen.187 Da es im Kern um die Handlung eines Konventionsstaates geht, nämlich die Abschiebung oder Auslieferung, hat der sog. Non-refoulement-Schutz einen primär abwehrrechtlichen Charakter,188 obwohl das eigentliche Ziel des dem Konventionsstaat abverlangten Verhaltens im Schutz vor drohender würderelevanter Rechtsverletzung durch Dritte besteht.189 Laut Gerichtshof gilt das Non-refoulement-Gebot 184  Bleckmann,

in: FS Bernhardt, S. 309 (309). A. III. 2. d) aa); Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 105. 186  Vgl. EGMR, 05.04.2011, Toumi v. Italy, Nr. 25716/09, Rn. 52 f. 187  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 90; Alleweldt, Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, S. 16 ff. 188  Lorz/Sauer, EuGRZ 2010, S. 389 (392). Es handelt sich um eine Pflichtverletzung des ausliefernden Mitgliedstaates, die durch die Auslieferungsmassnahme bewirkt wurde: EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 1/1989/161/217, Rn. 91. Ein eigentliches Bleiberecht oder ein Anspruch auf politisches Asyl kann durch Art. 3 EMRK nicht gewährleistet werden: Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 6 Rn. 16; es handele sich um einen „mittelbaren Eingriff“: Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 92. 189  Die Gefahr der Würdeverletzung kann durch eine Zusicherung des Drittstaats neutralisiert werden: EGMR, 05.04.2011, Toumi v. Italy, Nr. 25716/09, Rn. 52: „[L]e ministère des Affaires étrangères tunisien a assuré que la dignité humaine du requérant serait respectée en Tunisie, qu’il ne serait pas soumis à la torture, à des traitements inhumains ou dégradants ou à une détention arbitraire, qu’il bénéficierait de soins médicaux appropriés et qu’il pourrait recevoir des visites de son avocat et des membres de sa famille. Outre les lois tunisiennes pertinentes et les traités internationaux signés par la Tunisie, ces assurances reposent sur les éléments suivants“. 185  3. Teil

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

absolut.190 Diese Abwägungsfestigkeit wird vom Gerichtshof denn auch immer wieder betont, auch im Hinblick auf Massnahmen gegen Terroristen und Asylsuchende.191 Die Vorverlagerung der menschenrechtlichen Haftung der Signatarstaaten wird durch das hohe Schutzgut gerechtfertigt.192 Um in den Genuss des Non-refoulement-Schutzes zu kommen, müssen stichhaltige Anhaltspunkte vorliegen, die den Eintritt der Gefahr als erheblich erscheinen lassen. Gefordert wird also ein „real risk“, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Gefahr konkret gegen den Einzelnen richtet und akut ist. Dieses tatsächliche Risiko bzw. diese echte Gefahr muss sich auf begründete Tatsachen stützen („substantial grounds“).193 Nicht ausreichend sind allgemeine destabilisierte Verhältnisse im fraglichen Land oder in der Region, bspw. Unruhen aufgrund von Bürgerkriegssituationen. Gemäss der Logik des Individualrechtsschutzes der EMRK muss sich die Gefahr einer Menschenwürdeverletzung i. S. v. Art. 3 EMRK individualisiert feststellen lassen. Dass sich hier für den Betroffenen enorme Beweisschwierigkeiten i. S. einer Beweisnot auftun, liegt auf der Hand. Der Gerichtshof zeigt sich aber offen, jedwede Quelle des Nachweises zu akzeptieren, sofern diese plausibel und substantiiert erscheint.194 Im Ergebnis kann die abwehrrecht­ liche Pflicht zur Nicht-Auslieferung zugleich auch den vorübergehenden Aufenthalt im entsprechenden Europaratsstaat bedingen.195 Eine so weitreichende Pflicht ist aber nur bei Gefahren für höchstrangige Schutzgüter – wie die Menschenwürde – anerkannt. Hinzugekommen ist nun aber als jüngste Erkenntnis, dass auch die Gestaltung der Strafvollstreckung und des Strafvollzugs für Konventionsstaaten als absolutes Auslieferungshindernis gelten kann. Die vom Gerichtshof herausgearbeiteten Prinzipien der Vollzugsgestaltung dürften auch in Auslieferungsfällen von grosser Relevanz sein, wie in der Rechtssache Trabelsi196 deutlich wurde.

190  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 3 Rn. 90 m. w. N. Vgl. die Formulierung des BVerfGE, wonach die deutsche Hoheitsgewalt „die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen“ dürfe: BVerfG NJW 2016, S. 1149, Rn. 62. 191  Kromrey/Morgenstern, ZIS 2017, S. 106 (119). 192  Meyer F., in: Wolter, SK/EMRK, Art. 3 Rn. 92; vgl. Kromrey/Morgenstern, ZIS 2017, S. 106 (106 ff.); vgl. Kromrey/Morgenstern, ZIS 2014, S. 704 (714 f.). 193  EGMR (Pl), 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, Nr. 1/1989/161/217, Rn. 91; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 263 f. 194  Vgl. EGMR, 04.09.2014, Trabelsi v. Belgium, Nr. 140/10. 195  Wie die Staaten den Aufenthalt rechtlich regulieren, liegt aber in ihrem Ermessensspielraum. 196  Vgl. EGMR, 04.09.2014, Trabelsi v. Belgium, Nr. 140/10.



B. Grundrechtsdimensionen357

b) Positive Schutzpflicht Die Verpflichtung, die Würde des Menschen zu schützen, bindet Konventionsstaaten in erster Linie im Sinne positiver Pflichten. Dies strahlt nicht nur auf alle Ebenen der Staatsgewalt aus, sondern gilt auch, wenn Gefahr von privaten Dritten droht.197 Der Staat darf seine Bürgerinnen und Bürger, die ihn demokratisch konstituieren, nicht instrumentalisieren und demütigen.198 Aber auch Bürgerinnen und Bürger haben keine Lizenz, dies untereinander zu tun.199 Die besonders hohe normative Wertigkeit der Menschenwürde erfordert einen umfassenden staatlichen Schutz, insbesondere um Übergriffe Privater zu verhindern oder angemessen zu ahnden.200 Durch die spezifische Schutzverpflichtung ist die hoheitliche Gewalt, allen voran die Legislative, gehalten, Gefährdungen der Menschenwürde durch Dritte und andere staat­ liche Gewalten vorzubeugen oder ihnen effektiv entgegenzutreten.201 Eine entsprechende subjektive Berechtigung dürfte ohnehin regelmässig hinter die objektive Dimension der Menschenwürdegarantie zurücktreten.202 Nichts197  Hier nähert sich das Begriffsverständnis, welches der EGMR zum Ausdruck bringt, jenem, das der Menschenwürde den Status einer „unhintergehbare[n] Prämisse rechtlichen Denkens und Argumentierens überhaupt“ zugesteht: Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 62; ferner Bielefeldt, Menschenwürde und Folterverbot, S. 4, 9. 198  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 289; vertiefend Margalit, Politik der Würde, S. 14 ff., 21 ff., 187 ff., wobei er unter Demütigungen alle Verhaltensformen verstehen will, die einer Personen einen rationalen Grund liefert, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen. 199  Dadurch wird keine direkte Drittwirkung postuliert. Die gegenseitige Pflicht, sich nicht gegenseitig zu instrumentalisieren, ergibt sich nach hier vertretener Ansicht indirekt über die positive Pflicht des Konventionsstaates, solche Handlungen zu verhindern und ggf. zu ahnden. Konventionsstaaten haben die positive Pflicht, Bürger vor Menschenwürdeverletzungen anderer Bürger zu schützen, sofern sie von solchen Verletzungen wissen oder hätten wissen müssen. 200  Wie aufgezeigt wurde, müssen staatliche Hoheitsträger tätig werden, wenn die Menschenwürde von Dritten verletzt oder akut bedroht wird. 201  3. Teil A. IV..; B. II. 3. Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 255. 202  Die Unterschiede zwischen einem verbindlichen, objektiv-rechtlichen und einem subjektiv-rechtlichen Menschenwürdeansatz erscheinen nach dem bisher Gesehenen schwer greifbar, und der „Mehrwert“ der Anerkennung auch als Grundrecht scheint von eher geringer praktischer Relevanz zu sein. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch, dass die inhaltliche Konkretisierung unterschiedliche Akzente erhält, je nachdem, ob die Menschenwürde als Prinzip oder als subjektives Recht verstanden wird. Dass die Menschenwürde objekt-rechtlich wirkt, zeigt sich besonders gut in der Rechtssache Vo. Darin wurde klar, dass, obschon noch kein Grundrechtsträger entstanden ist, die Konventionsstaaten aufgefordert werden, den Fötus unter rechtlichen Schutz zu stellen: EGMR (GK), 08.07.2004, 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00, Rn. 84 „require protection in the name of human dignity“; zum Ganzen: 3. Teil B. I. 1.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

destotrotz zeigt sich, dass der Schutz fundamentaler Werte, wie der Menschenwürde, Vertragsstaaten verpflichten kann, strafbewehrte Normen zu erlassen.203 Dies wird gerade dort relevant, wo jemand einer Art. 3-EMRK-widrigen Behandlung unter Privaten ausgesetzt wird, bspw. bei schulischen oder elterlichen Prügelstrafen.204 So kann die Einhaltung von Art. 3 EMRK u. U. spezifische Schutzpflichten einfordern, namentlich in Form von Untersuchungs- oder gar Kriminalisierungspflichten. Der EGMR spricht in solchen Fällen gar von einer Pflicht, abschreckende – also generalpräventive – Sanktionen zu statuieren.205 Insbesondere wo verletzliche Personen involviert sind, wird deren Würde als besonders gefährdet erachtet und entsprechend effektive Massnahmen gefordert, die zugleich präventiv wirken – zumindest dann, wenn Behörden von Angriffen wussten oder vernünftigerweise hätten wissen müssen.206 Dies geht sogar so weit, dass Vertragsstaaten dazu verpflichtet sein können, strafrechtliche Normen zu erlassen, um fundamentale Rechtswerte zu schützen, auch und gerade vor Verletzung von Seiten privater Dritter.207 Auch bei potenziellen Machtübergriffen werden Schutzmechanismen eingefordert, um den inhärenten Wert- und Achtungsanspruch des Betroffenen zu schützen.208

203  Ashworth, Positive Obligations in Criminal Law, S. 206 („the essence of the Convention is that it is intended to protect every person2); EGMR, 04.12.2003, M. C. v. Bulgaria, Nr. 39272/98, Rn. 150: „where fundamental values and essential aspects of private life are at stake, requires efficient criminal-law“; Ashworth, Positive Obligations in Criminal Law, S. 198 ff. 204  EGMR, 23.09.1998, A. v. United Kingdom, Nr. 25599/94, Rn. 22: „The Court considers that the obligation on the High Contracting Parties under Article 1 of the Convention to secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms defined in the Convention, taken together with Article 3, requires States to take measures designed to ensure that individuals within their jurisdiction are not subjected to torture or inhuman or degrading treatment or punishment, including such ill-treatment administered by private individuals (…). Children and other vulnerable individuals, in particular, are entitled to State protection, in the form of effective deterrence, against such serious breaches of personal integrity“. 205  EGMR (GK), 28.10.1998, Osman v. United Kingdom, Nr. 23452/94, Rn. 115. 206  Vgl. EGMR (GK), 28.01.2014, O’Keeffe v. Ireland, Nr. 35810/09, Rn. 144. 207  EGMR, 03.09.2015, M. and M. v. Croatia, Nr. 10161/13, Rn. 132 u. 136; EGMR, 25.05.2014, Rumor v. Italy, Nr. 72964/10, Rn. 58; EGMR, 12.10.2006, Mubilanzila Mayeka and Kaniki Mitunga v. Belgium, Nr. 13178/03, Rn. 55. 208  EGMR, 28.07.2009, Rachawalski and Frenec v. Poland, Nr. 47709/99, Rn. 73: „safeguards should be in place in order to avoid any possible abuse in such circumstances and to ensure the effective protection of a person’s rights under Article 8 of the Convention“.



B. Grundrechtsdimensionen359

In diesem Zusammenhang hält der Gerichtshof allgemein fest, dass die Vertragsstaaten immer dann, wenn eine Person in vertretbarer Art und Weise geltend macht, Opfer einer Misshandlung geworden zu sein, von Amtes wegen (!) verpflichtet sind, effektive Ermittlungen vorzunehmen, die geeignet sind, die Täter zu identifizieren und bestrafen.209 In Bezug auf die Behandlung einer Person als Mensch zweiter Klasse fügt er schutzverstärkend hinzu: „When investigating violent incidents, State authorities have the additional duty to take all reasonable steps to unmask any racist motive and to establish whether or not ethnic hatred or prejudice may have played a role in the events. Admittedly, proving racial motivation will often be extremely difficult in practice. (…). The authorities must do what is reasonable in the circumstances to collect and secure the evidence, explore all practical means of discovering the truth and deliver fully reasoned, impartial and objective decisions, without omitting suspicious facts that may be indicative of a racially induced violence. (…) Treating racially induced violence and brutality on an equal footing with cases that have no racist overtones would be to turn a blind eye to the specific nature of acts which are particularly destructive of fundamental rights“.210

Dementsprechend haben Staaten alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um potenzielle Menschenwürdeverletzungen in Form rassistischer Gewalt aufzudecken.211 Unter rassistischer Gewalt subsumiert der Gerichtshof hierbei nicht nur Akte, die allein aufgrund der Charakteristik des Opfers begangen wurden („hate crimes“), sondern auch solche, die auf „mixed motives, being influenced by situational factors equally or stronger than by their biased attitude towards the group the victim belongs to“ beruhen.212 Weitere, oben bereits analysierte Bereiche positiver Schutzpflichten betreffen Personen, die in einem Sonderstatusverhältnis zum Staat stehen, was insbesondere auf Haft, Polizeigewahrsam oder im Massregelvollzug zutrifft.213 Festzuhalten bleibt, dass der Gerichtshof die Menschenwürde gleichermassen im Sinne ihrer Abwehrdimension als auch aktiv im Sinne ihrer positiven Schutzdimension geschützt sehen will.214 209  EGMR, 20.10.2015, Balázs v. Hungary, Nr. 15529/12, Rn. 51; Gearty, Principles of Human Rights Adjudication, S. 94. Vgl. ferner EGMR, 26.09.2006, Wainwright v. United Kingdom, Nr. 12350/04, Rn. 48; EGMR, 12.06.2007, Frérot v. France, Nr. 70204/01, Rn. 40. 210  EGMR, 20.10.2015, Balázs v. Hungary, Nr. 15529/12, Rn. 52 (Hervorhebung durch Autor). 211  EGMR, 13.12.2005, Bekos and Koutropoulos v. Greece, Nr. 15250/02, Rn. 69. 212  EGMR, 20.10.2015, Balázs v. Hungary, Nr. 15529/12, Rn. 70. 213  3. Teil A. II. 2. b); A. III. 2. a). 214  Die Menschenwürde ist somit Grundlage positiver aktiver wie auch negativer Freiheitsrechte; Kirste, Menschenwürde und Freiheitsrechte, S. 187 (188). Das in der

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Welches die geeigneten Schutzmittel sind ist aber keine Frage der inhalt­ lichen Ausprägung der Menschenwürde, sondern hängt von der Wirksamkeit der Mittel und von der Reichweite der Einschätzungsprärogative der Vertragsstaaten ab.

C. Materieller Gehalt Die Menschenwürde umfasst verschiedene Weltsichten und beinhaltet daher keinen bestimmten Wertekanon. Anders gesagt repräsentiert sie keine natürlich in ihr angelegte Bedeutung; auch gibt es keinen festen und universellen Inhalt, der aus dem Konzept der Menschenwürde entspringt. Deshalb sind Inhalt und Bedeutung in jedem Rechtsdokument gemäss der zum jeweiligen Zeitpunkt erzielten politischen Übereinkunft gesondert zu bestimmen.215 Allerdings ist Mahlmann beizupflichten, dass damit nur eine Relativierung der Erkenntnis, nicht aber eine Relativierung im Prinzip formuliert ist.216 In der untersuchten Rechtsprechung lassen sich (wiederkehrende) mate­ rielle Aspekte und Schutzgüter identifizieren, die einer positiven Ausformulierung bedürfen und als Bausteine zu einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK taugen. Dadurch wird erstmals sichtbar, welche Schutzgüter in positiver Hinsicht von der Menschenwürde umfasst werden. Die einzelnen materiellen Ausprägungen sind eng miteinander verwoben, wechselseitig abhängig und können inhaltlich teilweise übereinstimmen. Insofern sollte die nachfolgende Einteilung nicht i. S. v. messerscharfen Trennlinien zwischen einzelnen positiven Schutzgütern verstanden werden. Dies wäre auch nicht zweckdienlich, denn die Menschenwürde ist ganzheitlich zu verstehen und schützt wesentliche Aspekte menschlichen Daseins als Ganzes. Gleichwohl können die einzelnen materiellen Gehalte die Menschenwürde als Schutzkonzept der EMRK klarer veranschaulichen. Auf diese Weise sollen sie auch der Weiterentwicklung und positiven Definition dessen, was Menschenwürde in der EMRK ausmacht bzw. ausmachen sollte, förderlich sein. Würde enthaltene Freiheitspotenzial ist nicht nur in Abwehrdimension zu achten, sondern ebenso als Grundlage seiner aktiven Betätigung; Kirste, Menschenwürde und Freiheitsrechte, S. 187 (210). 215  Vgl. Schultziner, Human Dignity: Functions and Meaning, S. 73 (77 f.). 216  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 346: Das Instrumentalisierungsverbot und das Verbot der Missachtung elementarer menschlicher Bedürfnisse können nicht historisch wechselnden Inhalt haben. Allerdings müssen die Zeitumstände und kulturellen Interpretationen von Behandlungsformen zu einem gewissen Grad berücksichtigt werden, wo es um den Achtungsanspruch des Menschen geht, der über dieses Instrumentalisierungsverbot hinausgeht.



C. Materieller Gehalt361

Die Menschenwürdekonzeption beruht auf einem weltanschaulichen Rahmen, der sich auf substanzielle moralische Hintergrundannahmen gründet.217 In der Rechtssache Gäfgen sprach der Gerichtshof von einem „philosophischen Kerngedanken“, der hinter dem absoluten Charakter des von Art. 3 EMRK geschützten Rechts steht. Religiöse und allgemein weltanschauliche Menschenbilder und Würdekonzeptionen haben das Völkerrecht, wozu auch die EMRK zählt, beeinflusst.218 Konkrete Gehalte sind das Ergebnis fortwährender politischer Aushandlungsprozesse, was sich gerade am Verbot der Todesstrafe gut aufzeigen lässt.219 Positive Gehalte der konventionsrechtlichen Menschenwürde wurden bislang – soweit ersichtlich – nicht abstrakt formuliert.220 Die analysierten Schutzbereichsausprägungen ermöglichen daher erstmals eine Abstrahierung des positiv zu schützenden materiellen Gehalts.221 Anhand dieser ausdifferenzierten Schutzbereichsausprägungen und Funk­ tionen soll nun der materielle Gehalt, der sich aus rund vierzig Jahren Rechtsprechung ablesen lässt, herausdestilliert werden.222 Nur so kann die „Menschenwürde“ in der zukünftigen Rechtsprechung transparenter, kohärenter und letztlich für die Konventionsstaaten annehmbar(er) einbezogen werden.223 Und nur so kann auch inskünftig der Diskurs für ein menschengeNussbaum (2006), S. 180 (191); vgl. 2. Teil B. Menschenwürde und Völkerrecht, S. 261; vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 187. 219  3. Teil II. 1. Im Verlauf dieser Arbeit konnte die Menschenwürde als zentraler Rechtswert mit Ausstrahlungswirkung auf die gesamte EMRK qualifiziert werden: 4. Teil B. I. 1.–2. Vgl. für das GG: Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier, HBdGR, Bd. IV, § 87 Rn. 121: „[Im Einzelgrundrecht] verkörpert sich die Idee der Menschenwürde in verschiedener Hinsicht und in unterschiedlichem Grade. Man mag von Einstrahlungen der Idee sprechen“. 220  Vgl. Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 548, die ebenfalls festhalten, dass an einem positiven Umschreiben der Menschenwürde in der EMRK gearbeitet werden müsse. 221  Für das Prinzip der Menschenwürde in der EMRK kommt es nicht auf eine allgemeine Definition an. Was diese Untersuchung gezeigt hat, ist, dass es nicht möglich ist, eine abschliessende inhaltliche Definition der Menschenwürde zu entwickeln. Damit schliesst sie sich in diesem Punkt den nationalen Kontroversen rund um eine abschliessende Definition an. Eine solche würde nach hiesiger Ansicht ohnehin nur eine eindimensionale Festlegung bleiben. 222  Dabei soll von den Verhaltensverboten im Umgang Mensch-Staat abstrahiert werden, um zu generell-abstrakten Aussagen über die Bedeutung dieses normativen Konzepts zu kommen. 223  Ohne dass hierbei der Illusion verfallen wird, dass die Rechtswissenschaft irgendwann an den Punkt käme, dass über Funktion und Gehalt der Menschenwürde endgültig Klarheit und Konsens herrschen würde. 217  Vgl.

218  Marhaun,

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rechtes Strafrecht, für eine menschengerechte Rechtsordnung i. S. personaler Rechtsethik sachlich und rational fortgesetzt werden. Primäres Anliegen ist deshalb nachfolgend die „topische Entwicklung“ eines konkreten Beurteilungsmassstabes anhand der Einzelfallbesonderheiten und jeweils zu beurteilenden Verletzungshandlungen, unter Einbezug ihrer Auswirkungen auf den Menschen. Dabei spielt die Deutung des Würdeprinzips in der konkreten Urteilsfindung eine eminente Rolle.224 Denn diese Deutungen bilden gleichsam den Gehalt, der bei der Prüfung der Einschlägigkeit des Menschenwürdebegriffs ratione materiae tangiert sein muss. Dass die Charakteristika menschlicher Würde auf hohem Abstraktionsniveau definiert werden, ist der Natur der Sache geschuldet. Denn alle denkbaren Explikationen werden zu keinem grösseren Bestimmtheitsgrad hinführen, als ihn der auf den Menschen gemünzte Würdebegriff selbst in sich birgt.225 Mit einem schlichten „Recht auf Rechte“ ist es bei der konventionsrecht­ lichen Menschenwürde nicht getan.226 Anhand der diskutierten Einzelfallrechtsprechung wurden Kernbereiche des menschlichen Lebens, die als durch die Würde erfasst zu erachten sind, ermittelt.227 Die Abfolge, in der die Merkmale nachstehend benannt werden, ist in keiner Weise hierarchisch gemeint; vielmehr wird von einer „Ensemble-Konzeption“ der Menschenwürde ausgegangen.228 Insoweit ist die beabsichtigte Inhaltsbestimmung eine normative Momentaufnahme und sollte im Sinne einer „irreduziblen Pluralität“ der Menschenwürdedimensionen aufgefasst werden.229 Innerhalb dieses konventionsspezifischen Würdebegriffs können sich die jeweiligen kulturspezifischen Würdebilder frei entfalten.230

224  Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 132: Letztlich würden sich Rechtsprin­ zipien durch Akte der Jurisprudenz verkörpern lassen und den Charakter positiven Rechts erhalten. 225  Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 11 m. w. N. 226  Vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 501 ff. 227  Vgl. Morgenstern, Internationale Instrumente und Entwicklungen zur Humanisierung im Strafvollzug, S. 35 (50). 228  Weiterführend zur Ensemble-Theorie, allerdings im Kontext des GG: Hilgendorf, FS Puppe, S. 1653 (1653 ff.). 229  Letztlich rahmt dieses Menschenwürdeverständnis die in den 47 Europaratsstaaten aufkommenden Menschenbilder mit unterschiedlicher Bedeutung ein. 230  Insofern ist die Menschenwürde nur so universal wie der Diskurs, der unter den Staaten über sie geführt wird: Mastronardi, Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit im Recht, S. 55 (64).



C. Materieller Gehalt363

I. Menschliche Werthaftigkeit und Freiheit 1. Gleichheit Die Grundaussage von Art. 1 AEMR, wonach jeder Mensch „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ ist, reklamiert auch für die Konvention volle Geltung. Gleichheit vor dem Recht ist ein Status, der allein im Faktum gründet, dass jemand zur Gattung „Mensch“ gehört.231 Dass jeder Mensch frei und gleich an Würde geboren ist, ist ein Gleichheitssatz, der jedem Menschen einen minimalen Status zuspricht.232 „Würde“ bezeichnet den spezifischen Eigenwert des Menschen, den er qua seines Menschseins hat – und zwar unabhängig von Eigenschaften wie Bildung, Herkunft, Aussehen, Nationalität, sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft und dergleichen.233 In der Judikatur des EGMR ist dieses egalitäre Prinzip fest verankert, was sich am Verbot der Ausbeutung, namentlich der Sklaverei, des Menschenhandels und der Leibeigenschaft, sowie im Verbot der (rassistischen) Diskriminierung zeigt.234 Auch bei der Beschaffung von offiziellen Dokumenten müssen Ethnien sachlich und gleich behandelt werden.235 Hier geht es um den Schutz des gleichen Wertstatus, dem durch entschiedenes Vorgehen gegen ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen Nach­ achtung verschafft werden soll.236 Das Diskriminierungsverbot ist eine der am längsten etablierten Grundausprägungen der Würde-Rechtsprechung des Gerichtshofs.237 Trotz dieses Verbots müssen bis heute immer wieder frappierende Ungleichbehandlungen in Form rassistischer Diskriminierung festgestellt werden. Eines der leitenden Motive der EMRK ist, dass niemand aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen, als „Untermensch“ diskreditiert oder sonst wie entrechtet werden 231  Tasioulas, Human dignity and the foundations of human rights, S. 291 (305 f.); 3. Teil B. I. 1. 232  Tasioulas, Human dignity and the foundations of human rights, S. 291 (306) („human dignity consists in an equality of basic moral status among human beings“). 233  Dass jeder Mensch gleich viel wert ist, wird insbesondere an der Rechtsprechung zu rassistischer Diskriminierung deutlich; 3. Teil B. III. 234  3. Teil A. IV.; B. II. 3.; B. III. 235  EKMR, Entsch. v. 06.07.1977, 48 Kalderas Gipsies v. Germany, Nr. 7823/77 u. a., Rn. 7, 57: „(…) considering that the applicants are nomads and have other ethnical peculiarities, that questions might arise under Article 3 and 14 of the Convention concerning the respect for their human dignity“. 236  EKMR, 14.12.1973, East African Asians v. United Kingdom, Rn. 207. 237  Costa, Human Dignity in the Jurisprudence of the European Court of Human Rights, S.  393 ff.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

darf. Vielmehr soll jeder Mensch als gleichwertige Person in der staatlichen Gemeinschaft anerkannt sein und bleiben, auch wenn er sich in Haft befindet und insbesondere wenn er einer Minderheit im Staat angehört.238 Auch der verurteilte Straftäter behält sein aus der Menschenwürde hergeleitetes Recht, als Mensch mit spezifischem Eigenwert geachtet und respektiert und somit in seiner Einzigartigkeit geschützt zu werden. Eine zwangsweise Veränderung seiner Haar- oder Barttracht ist genauso eine Negierung seiner individuellen Einzig- und Andersartigkeit und daher im Lichte der Würde genauso unzulässig, wie es die Versagung jeglicher Hoffnung auf soziale Wiedereingliederung ist, mit der ein Straftäter endgültig exkludiert wird.239 Deshalb muss es jedem verurteilten Menschen möglich sein, sich zu ändern und sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.240 Eine willkürliche Behandlung, wie sie der Gleichheitssatz verbietet, kann daher ein Anhaltspunkt für eine Verletzung der Menschenwürde sein, sofern sie Ausdruck der Missachtung des Subjektstatus des Einzelnen ist, wie bspw. bei staatlichen Körperstrafen.241 Wird ein Mensch aufgrund seiner spezifischen Veranlagung, seiner Religion oder politischen Anschauung als minderwertig qualifiziert, trifft ihn dies nicht nur im Kern seiner Persönlichkeit, sondern auch in seinem Anspruch auf gleichwertige Achtung. Letztlich kann festgehalten werden, dass die Menschenwürde für einen Aspekt des materiellen Gleichheitserfordernisses steht.242 Der Gerichtshof reagiert besonders kontextsensitiv, wenn er substanzielle Benachteiligungen erkennt, die den Eigenwert, die Autonomie und die persönliche Integrität von Personen angreifen. In solchen Fällen nimmt der Gerichtshof grundsätzlich Bezug auf die Menschenwürde; dabei entwickelt er Schutzkonzepte, die primär auf Gewährleistungspflichten basieren. Ungleichheiten moderiert er insbesondere durch das von ihm selbst geschaffene Konzept der „Verletzlichkeit des Individuums“.243 Dadurch adressiert er auch prekarisierende Faktoren wie Ausbeutung, Abhängigkeit und extreme Armut,244 die es im Namen der Gleichwertigkeit aller zu neutralisieren und auszugleichen gilt. 238  3. Teil

A. III. 4.; B. III. A. II. 2. 240  3. Teil A. II. 2. 241  Vgl. Nikolaidis, The Right to Equality in European Human Rights Law, S.  14 f. 242  Art. 3 EMRK i. V. m. Art. 14 EMRK. 243  3. Teil A. II. 2. b) bb); A. III. 2. a); A. III. 4. 244  3. Teil A. II. 2. b); A. III. 4. e) bb). Allerdings wird die Würde bei sozialer Not nur in restriktiver Art und Weise geschützt, da die EMRK (anders als die Sozialcharta) grundsätzlich keine Sozialleistungen garantiert: Peters/Altwicker, Europäische 239  3. Teil



C. Materieller Gehalt365

2. Selbstzweckhaftigkeit Soweit Menschenwürde wie oben dargelegt eine spezifische Werthaftigkeit ausdrückt, besteht unter dem Strich eine qualitative Unterscheidung zwischen Pflichten gegenüber Menschen im menschenwürderelevanten Bereich und Pflichten gegenüber anderen Entitäten, bspw. ethnische Minderheiten. Dadurch werden im Grundsatz spezifische Handlungspflichten gefordert, um den menschlichen Wert – der die Würde ausmacht – zu schützen und zu achten. Wer Würde hat, ist – nach der kantischen Lehre – Zweck an sich selbst. Zweckstellung hat der Mensch zweifellos auch aus der Optik der Konvention, was ihn in der Rechtsordnung kraft seines Menschseins zum Subjekt, zur Person und zur Rechtsperson macht.245 Der Mensch ist in der Welt des Normativen Subjekt, das sich selbst Zwecke setzen oder auch sich selbst als Zweck setzen kann. Der Mensch ist zur Selbstbestimmung fähig. Gemäss der Grundprämisse, dass Menschen aus naturgegebener Notwendigkeit ihre eigene Glückseligkeit als Lebensziel verfolgen, so wird auch plausibel, dass Menschen sich selbst ein Zweck sind.246 Damit ist der allgemeine Bezug zwischen Würde, Freiheit und Selbstachtung angesprochen247 und eine Richtung angegeben, wie der Würdebegriff zu verstehen und zu entfalten ist.248 Der Mensch besitzt die Fähigkeit, Ziele zu bilden und anzustreben, die eine Auffassung des Guten bzw. eine Auffassung von allem, was im Leben persönlich wertvoll erscheint, widerspiegeln.249 Dass der Mensch Zweck an sich Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 38; weiterführend Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 186 ff. 245  Gemeint ist damit der Eigenwert des Menschen (i.  S. eines intrinsischen Werts), der in Art. 3 EMRK loziert ist: EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 181. Es ist darüber hinaus allgemein evident, dass der Mensch ein starkes subjektives Interesse daran hat, dass er in der Welt des Normativen ganz allgemein als Subjekt oder – in anderer Formulierung – als Person anerkannt und behandelt wird: so Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 176. 246  Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S.  339 mit Verweis auf Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 415; ders., Die Metaphysik der Sitten, S. 387. 247  Vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 339. 248  Autonomie und Selbstbestimmung, verstanden als Selbstgesetzlichkeit: Den Menschen als fremdgesetzlich anzusehen, hiesse, ihn ausschliesslich als Objekt, niemals als Träger von Gesetzlichkeit zu betrachten. Insofern ist Autonomie, verstanden als Ausfluss der Menschenwürde, keine Eigenschaft sondern eine Eigentümlichkeit im Sinne einer Verfasstheit des Menschen. Mag der Mensch auch je nach Lebenslage nicht selbstgesetzgebend (s. 3. Teil B. II. 1.–2.) sein, so verliert er dennoch nicht seine Selbstgesetzlichkeit und Würde. 249  Hierzu gehört insbesondere das vom EGMR erarbeitete „Recht auf Hoffnung“; 3. Teil A. II. 2. b); A. III. 1.; A. III. 2. d) aa); Pulido, Die Fundamentalität der Grund-

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

selbst bildet, bedingt auch die Befolgung gewisser Achtungsansprüche.250 Erwähnt sei hier das vom EGMR etablierte „Recht auf Hoffnung“ für Straf­ täter. Auch ihnen muss ein Mindestmass an eigenständiger Zwecksetzung möglich sein, ganz gleich, welche Taten sie in der Vergangenheit begangen haben.251 Es muss für jeden ein Möglichkeitsraum bestehen bleiben, der es ihm erlaubt, seine menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, namentlich die Fähigkeit zur Einsicht und persönlichen Veränderung, zu entfalten, seine Tat effektiv abzubüssen und seine „Gefährlichkeitsdispositionen“ anzugehen.252 Aber auch ein Recht auf „geistige Nahrung“, das ein Mindestmass an kognitiver Stimulanz in Haft erfordert, ist damit angesprochen. Jeder Mensch soll in seine Rechtsstellung, in den Verlauf des eigenen Lebens eingreifen können, auch bzw. gerade in Haft.253 Negativ gewendet darf kein Mensch zur Erreichung eines generalpräventiven Effektes instrumentalisiert, an den Pranger gestellt, vorgeführt oder mit einer Prügelstrafe belastet werden.254 Auch darf niemand zu Zwecken der Vergeltung ohne jegliche Hoffnung auf Freiheit inhaftiert werden.255 In jedem Menschen ist demnach die geistige Fähigkeit angelegt, sich zu verändern und, damit verbunden, sich Vergangenes und Zukünftiges vorzustellen. Der Gedanke an die Vorläufigkeit der Haft ist eine innere Notwendigkeit, die Veränderungspotenziale aktivieren kann. Fehlt diese Perspektive, besteht die Gefahr, dass das Leid schliesslich in Selbstaufgabe mündet. Für den (Langzeit-)Häftling bedeutet Selbstzweckhaftigkeit, dass er seine menschlichen Fähigkeiten durch geistige Beschäftigung stimulieren und an die Endlichkeit des Haftzustandes glauben kann, um nicht zu verkümmern und sich nicht aufgeben zu müssen. Dies ruft nach entsprechenden (Beschäftigungs-)Angeboten – und zwar nicht nur theoretisch, sondern praktisch und effektiv.256

rechte, S. 83 (94); Rawls, Political Liberalism, S. 49, 338; EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72. 250  Vgl. Mahlmann, Konkrete Gerechtigkeit, S. 280. 251  Deutlich wird dies in dem sich jüngst aushärtendem Recht auf Hoffnung („right to hope“), welches als fundamentaler Konstitutionsgrund menschlichen Seins erachtet wird. 252  3. Teil A. II. 2. 253  3. Teil A. II. 2. b) cc). 254  3. Teil A. III. 1. 255  3. Teil A. II. 2. b). 256  3. Teil A. II. 2.; A. III. 4.; vgl. Robinson, Life without Parole under Modern Theories of Punishment, S. 138 (157).



C. Materieller Gehalt367

Bei der „Subjektstellung des Menschen“257 bzw. der Selbstzweckhaftigkeit handelt es sich negativ gewendet um das Verbot der Instrumentalisierung der Person.258 Nach diesem Verständnis ist Instrumentalisierung dann als gegeben zu erachten, wenn die wahren Absichten der handelnden Person für die betroffene Person nicht erkennbar sind und die betroffene Person, auch wenn sie informiert wäre, der Art der Behandlung nicht zustimmen würde.259 Das eindeutigste Beispiel hierfür ist die Folter, die nichts anderes darstellt als das Brechen des Willens des Opfers durch Zufügen von Schmerzleid zwecks Informationsbeschaffung oder persönlicher Satisfaktion.260 Bereits die Behandlung als reines Objekt verletzt die Menschenwürde. Wenn also ein Mensch „lediglich als Mittel“ gebraucht wird, als Werkzeug, um ein Handlungsziel eines anderen zu erreichen, liegt darin ein sehr starkes Indiz für eine Verletzung der Menschenwürde.261 Der Topos der Verobjek­ tivierung ist also eng mit der Zustimmungsfähigkeit des Einzelnen verknüpft.262 Indem der Gerichtshof festhält, dass der Mensch nicht zu einem blossen Mittel für fremde Zwecke herabgewürdigt werden darf, klingt der kategorische Imperativ von Immanuel Kant an, wonach der Mensch so handeln soll, dass er die Menschheit, sowohl in seiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit und zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel braucht.263 Vom Grundsatz her scheint der Gerichtshof Kants Auffassung von Würde als Wert und damit der „Zweck-Formel“ zu folgen.264 Der Einzelne ist nicht nur Mittel zur Verwirklichung eines übergeordneten (Staats-) Zwecks, er leitet seinen Wert nicht von diesem ab, sondern ist selbst das „Entscheidende und Letztgültige“.265 257  Eine aus der Qualität des Subjekts als Bürger und Bürgerin abgeleitete Kategorie der Freiheit: Albrecht, ZStW 2006, S. 852 (855). 258  3. Teil A. I. 1.; A. I. 2. a); A. I. 2. d) aa). Die Subjektqualität umschreibt einen Aspekt der Menschenwürde; die Objektformel formuliert – aufgrund dieser positiven Aussage – das korrespondierende Verbot. 259  Informed consent, s. 3. Teil A. III. 4. d) dd). Aus dem Einwilligungsprinzip folgt u. a. das Recht, über den eigenen Gesundheitszustand informiert zu werden. 260  3. Teil A. I. 261  3. Teil A. III. 1.; A. 2. a) und 2. d) aa); Hilgendorf, FS Puppe, S. 1653 (1665). 262  Hilgendorf, FS Puppe, S. 1653 (1654). 263  Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, S. 429. 264  3. Teil A. I. 1. u. 2. a); s. Habermas, DZPhil 201, S. 343 (351 f.), wonach der Begriff Menschenwürde „bei Kant seine heute gültige Fassung erlangt hat“; s. Maunz/ Dürig, GG-Kommentar, Art. 1 Rn. 16; s. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU; S. 25 u. 105; zur Ambiguität des Konzepts von Kant vgl. Augsberg, On Kant’s Concept of Human Freedom and Dignity as Auto-Heteronomy, S.  55 (56 ff.). 265  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 263.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Das Konzept der auf Selbstbestimmung basierenden bzw. wechselseitig auf sie bezogenen Würde geht vom Konzept reziproker Beziehungen ­zwischen einzelnen Menschen aus.266 Gemeint ist damit, dass der Mensch jede seiner Handlungen vor seinem Gegenüber legitimieren muss. Dies wird im Bekenntnis zu menschlicher Selbstzweckhaftigkeit deutlich zum Ausdruck gebracht. Die menschliche Selbstbestimmung führt, wenn man ihre Bedeutung von der praktischen Philosophie auf das Recht ausweitet, zu einem einzigen, aber umfassenden Menschenrecht auf Freiheit.267 Insofern, als der Mensch Rechtssubjekt mit eigenem intrinsischem Zweck ist, besitzt er Anspruch auf Rechtfertigung staatlicher Einwirkungen, die ihn betreffen.268 3. Selbst- und Fremdachtung a) Moralische Freiheit Die Menschenwürde will den Schutz des Existenziellen schlechthin – physisch wie psychisch.269 Ihr Schutzmantel umfasst mithin Aspekte der geistigen und physischen Integrität, wobei mit Integrität die den Menschen kennzeichnenden Eigenschaften gemeint sind, auch wenn diese nicht zwingend ausgeübt werden können.270 Hierzu gehören Eigenschaften oder Zustände wie die persönliche Gesundheit und Hygiene, das eigene (moralische) Wohlbefinden,271 ein Mindestmass an Entscheidungsfreiheit und Autonomie, sich um die eigenen Belange zu kümmern,272 ferner auch eine minimale mora266  Gaede,

Fragilität des Folterverbots, S. 155 (181). Einteilung der Rechtslehre, B, 237 f.: „Freiheit (Unabhängig von eines Anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit, zustehende Recht. (…) mithin seine Qualität des Menschen sein eigener Herr (…) zu sein“: 268  Vgl. Gaede, Fragilität des Folterverbots, S. 155 (181) („Grund, Kriterium und Rechtfertigung der staatlich anzuerkennenden Rechte“). 269  Aspekte, die essentiell sind für die menschliche Konstitution, in: EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02; EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95. 270  Auch Kranke, Demente, Alte, Imbezile, usf. sind Berechtigte des Schutz- und Achtungsanspruches menschlicher Würde. 271  Der Erhalt dieser Eigenschaften und Zustände wird gut anhand des Strafvollzugs bzw. der materiellen Haftbedingungen, die es zu erhalten gilt, illustriert: 3. Teil A. II. 2.; A. III. 4. c). 272  Vgl. 3. Teil A. III. 4. d) dd). Minimale persönliche Autonomie im Haftalltag; etwa in Bezug auf Wahl des Lesestoffs; ein Minimum an Gestaltungsfreiheit im Rahmen der ohnehin stark limitierten Freizeit. 267  Kant,



C. Materieller Gehalt369

lisch-sittliche Freiheit.273 Menschliche Attribute wie die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die Fähigkeit den eigenen moralischen Imperativen zu folgen, das menschliche Bedürfnis nach Selbstachtung274 wie auch nach Achtung durch sein Gegenüber,275 die Fähigkeit und der Wunsch nach Kommunikation und Sozialkontakten,276 freie Rede und das Recht auf Widerspruch gehören zu den fundamentalen menschlichen Belangen, und genau über diese sollte der Mensch autonom entscheiden dürfen, ohne den fremden Willen des Staates oktroyiert zu bekommen.277 Würde haben bedeutet im Lichte der EMRK daher auch normative Autorität über sich selbst besitzen. All diese Ausprägungen menschlicher Kommunikation und Lebensführung unter einen Begriff zu fassen, ist nicht einfach. Doch es konnte anhand der Rechtsprechung dargelegt werden, dass Verknüpfungen bestehen. So konnte aufgezeigt werden, dass die Menschenwürde mit einer spezifischen Vorstellung des Privaten,278 der Selbstbestimmung,279 der Identität,280 der Zeichnung eines eigenen Lebensentwurfs verbunden wird.281 Das Prinzip der 273  Freiheit vor massiver Beschämung, etwa wenn sich jemand in Haft nackt vor einer Person anderen Geschlechts ausziehen muss oder gezwungen wird, eine demütigende Position im Rahmen von Leibesvisitationen einzunehmen. Selbiges dürfte gelten, wenn jemand entgegen seiner tiefen religiösen Überzeugung gezwungen würde, unkoschere Nahrung zu sich zu nehmen, oder wenn jemand zu gewissen Praktiken gezwungen wird, die gegen seine fundamentalen Moralvorstellungen verstossen. Vgl. EGMR, 12.06.2007, Frérot v. France, Nr. 70204/01, Rn. 38: „With regard to the specific issue of strip-searches of prisoners, the Court has no difficulty in accepting that a person obliged to submit to treatment of this nature might view that procedure in itself as undermining his (…) dignity, particularly where (…) he has to place himself in embarrassing positions“. 274  Es kann reichen, wenn man sich in seinen eigenen Augen als erniedrigt erachtet, um in seiner Würde nach Art. 3 EMRK verletzt zu sein: 3. Teil A. III. 1.; A. III. 2. a)–2. d). 275  Durch den Staat: 3. Teil A. I.; A. II.; A. III.; durch Private A. IV. 1.; A. IV. 2. 276  Daher das Recht auf Sozial- und Familienkontakte in Haft, das auch für die Resozialisierung essenziell ist: 3. Teil A. II. 2. b) bb); A. VI. 1.; A. VI. 2. 277  3. Teil A. I.; A. III. 1.; A. III. 4. d) dd); EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 68 („or when it was such as to drive the victim to act against his will or conscience“). „Denn was anderes sind die moderne Menschenwürde und die auf ihr basierenden Menschenrechte als sittliche Hegungen einer Freiheit, deren Vernunft sie im Namen der Freiheit aller und aller Einzelnen anmahnen“, Lembcke, Die Würde des Menschen, frei zu sein, S. 159 (181). Waldron, Torture, Terror and Trade-Offs, S. 307; vgl. Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 192 f. 278  3. Teil A. VI.; B. II. 279  3. Teil B. II. 280  3. Teil B. II. 281  Letztlich ist Menschenwürde mit einem spezifischen Bild des Menschen verknüpft: 2. Teil B. s. zum Thema Menschenwürde und Identität: 3. Teil B. II. 3.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Menschenwürde steht folglich in engem Konnex zum Rechtsbegriff der Freiheit, wodurch beide Begriffe wechselseitig befruchtet und konturiert werden.282 Darauf gründet die wechselseitig gebotene Achtung der Freiheiten anderer; denn Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen bedeuten zugleich auch Zurechnung und Verantwortlichkeit für sein Verhalten.283 In der Rechtsprechung zeigen sich Verbindungslinien zu „anthropologische[n] Grundannahmen und Erfahrungen mit der Bedürftigkeit und Verletzlichkeit des Menschen“.284 Genau hier hat sich der Gerichtshof als Pionier erwiesen, indem er sensitiv ist für neue Bedrohungslagen, die spezifische menschliche Verletzlichkeitszuschreibungen generieren.285 Was den Menschen als besonders verletzlich erscheinen lässt, ist kontextabhängig und kann nicht losgelöst von aktuellen Gesellschaftsverhältnissen und Erkenntnissen wissenschaftlicher Natur beurteilt werden.286 Neuen Bedrohungslagen ist Rechnung zu tragen, um menschliche Selbst- und Fremdachtung überhaupt erst real werden zu lassen; ansonsten bliebe der auf Menschenwürdeschutz abzielende Charakter der Konvention zahnlos. An diese Bedingtheit des Menschen knüpfen die EMRK und der EGMR normative Konsequenzen im Sinne materieller Plausibilität.287 282  Legutke, Erfahrungen verletzter Würde in historischer Perspektive, S. 75 (84); EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 65. 283  Gaede, Fragilität des Folterverbotes, S. 155 (183). Freiheit verstanden als verantwortliche Selbstbestimmung, was eben auch die Möglichkeit strafrechtlicher Verantwortlichkeit und letztlich staatliche Bestrafung implizert. Der auf Freiheitssicherung ausgerichtete Staat knüpft an der Verantwortungsfähigkeit des Menschen an; die Subjektstellung aktualisiert sich bruchlos durch eine Bestrafung durch den Staat. Menschenrechtlich legitimiert wird die staatliche Bestrafung auch durch den in der EMRK angedeuteten Schuldgrundsatz: EGMR, 27.05.2003, Skalka v. Poland, Nr. 43425/98, Rn. 41. Der EGMR statuiert konventionsrechtliche Standards bei der Strafzumessung: Demnach sind die Schwere der Schuld, die Bedeutung der Straftat sowie die mögliche wiederholte Begehung einer Straftat für die Verhältnismässigkeitsprüfung von eminenter Bedeutung. 284  Insbesondere das Verbot der Demütigung durch objektives Handlungsunrecht zeugt von einem spezifischen Menschenbild: 3. Teil A. III. 2. d) bb). Zur Verletzlichkeit des Menschen vgl. nur 3. Teil A. III. 4. e) bb). Vgl. Hörnle, Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut, S. 91 (100 f.); vgl. Ladwig, Zeitschrift für politische Theorie 2010, S. 51 (62 ff.). 285  Weiterführend Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, Zürich 2017. 286  Instruktiv die Fälle zur sexuellen Identität, worin deutlich wird, wie der Gerichtshof Transsexuelle als „neue“ Minderheit anerkennt und ihnen verstärkt Individualrechtsschutz bzw. volle rechtliche Anerkennung zuspricht: 3. Teil B. II. 3. Zur aktuellen Auslegung und dem Living-instrument-Ansatz des EGMR; vgl. 2. Teil B. 287  Vgl. Lindner, RW 2011, S. 1 (12); Menschenwürde und menschliche Grundbedürfnisse.



C. Materieller Gehalt371

In ihrer stärksten Form hat sich der Schutz der persönlichen Integrität in den Artt. 3, 4 und 8 EMRK ausgeformt.288 Die Würde ist Ausdruck der Anerkennung des Menschen als Person und Rechtsperson;289 geschützt wird das Menschsein an und für sich.290 Der Schutz der physischen und psychischen Integrität im Zusammenhang mit der Menschenwürde zeigt sich deutlich im Kontext der Folter,291 der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung,292 deren spezifischer Schutzbereich sich auf Körperstrafen,293 Schamstrafen, die Todesstrafe,294 lebenslange Freiheitsstrafe,295 aber auch auf Haftbedingungen296 und rassistische Gewalt297 und viele weitere Angriffe auf die Subjektstellung bzw. Selbstzweckhaftigkeit der Person erstrecken. Im Lichte der Würde verboten sind Behandlungen, die den moralischen Widerstand einer Person brechen („breaking an individual’s moral resistance“)298 oder sie dazu zwingen, in einer Form zu agieren, die gegen (eigene) fundamentale Sittlichkeitsvorstellungen299 verstösst.300 Dazu gehört bspw. das zu schützende Interesse, frei von Scham zu sein.301 So sind „strip searches“ in Gegenwart von Personen des anderen Geschlechts – unabhängig von Sicherheitserwägungen – menschenwürdewidrig, da sie extreme Scham hervorrufen und gegen den Willen und die Sittlichkeitsvorstellungen der betroffenen Person erfolgen.302 288  Vgl. EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 81; 3. Teil A. I.; A. II.; A. III.; A. IV.; A. VI. 289  Griffin, On human rights, S. 32 ff. 290  Tasioulas, Human Dignity and the Foundations of Human Rights, S. 291 (305). 291  3. Teil A. I.; EGMR, 01.06.2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, Rn. 87, 107. 292  3. Teil A. II.; A. III. 293  3. Teil A. III. 1. 294  3. Teil A. II. 1.; EGMR, 02.03.2010, Al Saadoon and Mufdhi v. United Kingdom, Nr. 61498/08, Rn. 115. 295  3. Teil A. II. 2. 296  3. Teil A. III. 4. 297  3. Teil B. III. 298  EGMR (GK), 20.10.2016, Muršić v. Croatia, Nr. 7334/13, Rn. 98; vgl. auch EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 68. 299  Intersubjektiv geteilte Interessen. 300  Wenn sich eine Person bei einer Leibesvisitation vor einer Person des anderen Geschlechts ausziehen muss; zahlreich sind auch die Rügen in Fällen, wo Häftlinge ihre Notdurft vor den Mithäftlingen verrichten müssen: 3. Teil A. III. 4. c) bb). 301  Zu den Leibesvisitationen: 3. Teil A. VI. 2.; vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 160: „Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen“. 302  EGMR, 12.06.2007, Frérot v. France, Nr. 70204/01, Rn. 39: „[o]bliging [a male prisoner] to strip naked in the presence of a woman, and then touching his

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Die Bandbreite des Würdeschutzes ist denkbar weit. Darunter kann man nach hiesiger Einschätzung auch Zwangsausübung fallen, etwa wenn ein Vegetarier im Gefängnis stets Fleisch essen oder eine streng religiöse Person in massiver Art gegen ihre Glaubensvorstellungen leben muss, indem sie bspw. nie beten darf, wenn eine Person jüdischen Glaubens unkoschere Mahlzeiten zu sich nehmen muss oder ein Moslem gezwungen wird, gegen die Vorschriften des Fastenmonats zu verstossen.303 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Würde den Schutz der Integrität und der „minimalen moralischen Freiheit“ garantiert, sowie den Schutz garantiert, dank dieser Freiheit zu tun, was man soll304 bzw. zu sollen glaubt.305 Dadurch wird die Selbstachtung zu einer minimalen Selbstgesetzlichkeit erweitert, völlig unabhängig davon, ob diese auch effektiv ausgeübt wird oder werden kann.306 Damit eng verknüpft und normativ zum Teil kongruent ist der Teilaspekt des Verbots der Demütigung. b) Sakralität307 der Person Wesentlich für den Erhalt der Selbstachtung ist die Sicherheit vor spezifischen Erniedrigungs- und Diskriminierungshandlungen. „Demütigung“ im hier verstandenen Sinne verweist nicht auf Handlungen, die den graduellen und kontingenten charakterlichen Wert dessen, was eine Person leistet, missachten. Demütigung ist auch nicht mit dem Begriff der „Ehrverletzung“ zu verwechseln.308 Vielmehr geht es um die Versagung jener Achtung, die jeder Person qua Menschsein geschuldet ist.309 „Demütigung ist somit ein Begriff, sexual organs and food with bare hands showed a clear lack of respect for the applicant, and diminished in effect his human dignity“. 303  Diese Aspekte wären auch unter der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu würdigen. Träten aber noch intendierte Zwecke, wie eine spezifische Verächtlichmachung hinzu, wäre wohl auch die Menschenwürde getroffen. 304  Im Sinne selbstgesetzter Moralität, sofern sie nicht die Freiheitssphäre anderer tangiert. 305  Die Freiheit, nicht gegen das eigene Gewissen oder den eigenen Willen zu handeln: Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 199; EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00. 306  Angesprochen ist damit auch die Nähe zur Subjektstellung des Menschen bzw. dem Instrumentalisierungsverbot (3. Teil A. III. 2. b); A. III. 2. d) aa). Die materialen Gehalte sind eng miteinander verzahnt, gehen gleichsam ineinander über. 307  In Anlehnung an ein grundlegendes Werk von Hans Joas: Die Sakralität der Person: Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2015. 308  3. Teil B. V.



C. Materieller Gehalt373

der auf seinen Gegenbegriff angewiesen ist, und dieser lautet Achtung“.310 Es geht also um eine spezifische Bekundung von Verachtung, wie sie in besonders krasser Form bei der Anwendung von Folter beobachtbar ist.311 Aber auch bei Missachtung des Einwilligungsprinzips wird eine bestimmte Selbstdarstellung erzwungen.312 Demütigung ist überdies gegeben, wenn eine Behandlung Furcht, Todesangst oder Gefühle der Inferiorität auslöst, die geeignet sind, den Betroffenen herabzusetzen oder seinen moralischen und physischen Widerstand zu brechen.313 Dadurch wird in evidenter Weise der Status des Individuums als Person, als freier und verantwortlicher Akteur negiert. Hier also besteht die Würdeverletzung gerade in der Verletzung der Achtung des Gegenübers als selbstbestimmtes Wesen. Im Zentrum steht das Innenleben des einzelnen Menschen. Denn insofern, als Grausamkeit verpönt, ja verboten ist, muss die Vermeidung von Grausamkeit als hohes moralisches und rechtliches Gebot anerkannt sein. Demütigung ist als „Ausdehnung der Grausamkeit vom physischen auf den psychischen Bereich“ zu werten.314 Damit wird die subjektive Ebene in das Konzept der Menschenwürde einbezogen.315 Die innere Dimension des Menschen, seine Gefühle und Emotionen bzw. seine Psyche werden zum Wertungsmassstab, aus welchem funktional eine äussere Grundfreiheitsordnung deduziert wird. Die Frage bleibt, ob sich Akte der Demütigung abgestuft beurteilen lassen und ob die Bewertung einer Handlung von der Schmerzempfindlichkeit des Opfers abhängt. Dies scheint der Gerichtshof jedenfalls dann anzudeuten, wenn er festhält, dass es für eine Würdeverletzung reichen könne, wenn sich das Opfer „in seinen eigenen Augen“ als erniedrigt erachtet.316 Ob ein Eingriff vorliegt, hängt also auch vom Selbstverständnis der betroffenen Person 309  Demütigung weist auf grundlegende Versagung von menschlichen Achtungsansprüchen und damit auf „einen diese Achtung gebietenden Wert“ des einzelnen Menschen hin: Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 181. Wie hoch dieser menschliche Eigenwert ist bzw. ob dieser Eigenwert als höchster aufgefasst wird, bleibt dabei a priori offen. 310  Margalit, Politik der Würde, S. 152. 311  3. Teil A. I. 312  3. Teil A. III. 4. d) dd). 313  EGMR (Pl), 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, Nr. 5310/71, Rn. 167. 314  Margalit, Politik der Würde, S. 92 („Demütigung ist seelische Grausamkeit“; insoweit bestehe ein Nexus zwischen Grausamkeit und Demütigung). 315  Vgl. dazu krit. Hilgendorf, FS Puppe, S. 1653 (1665). 316  S. hierzu die Fälle zu Körperstrafen: 3. Teil A. III. 1.; sowie EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 87 (Ohrfeige durch Polizeibeamten auf Polizeistation); EGMR (Pl), 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 32; EGMR (GK), 21.01.2011, M. S. S. v. Belgium and Greece, Nr. 30696/09, Rn. 220.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

ab. Letztlich geht es (auch) darum, die Individualität selbst zu schützen, so wie sich der konkrete Mensch selbst begreift und sich seiner selbst bewusst ist.317 Dies ist als Ausfluss der Einzelfallbetrachtung des Gerichtshofes zu erachten. Es kommt allein darauf an, dass Menschen nicht schwerer Demütigung ausgesetzt werden dürfen – und zwar unterschiedslos.318 Eine menschengerechte (humane) Ordnung orientiert sich demnach am Menschen in einem ganzheitlichen Sinn bzw. an dem ihm zugeschriebenen Menschenbild.319 Weil es bei der Demütigung um eine mentale Form der Misshandlung geht, gibt sie dem betroffenen Menschen einen Grund, sich in seiner Selbstachtung i. S. einer normativ-sozialen Komponente verletzt zu fühlen.320 Geschützt wird mithin ein Anspruch auf elementare Fremd- und Selbstachtung des Einzelnen; entsprechender Verletzungstatbestand ist das Verbot der Demütigung bzw. Erniedrigung.321 Kritisch anzumerken bleibt, dass es durchaus problematisch ist, wenn der Gerichtshof subjektive Empfindungen einer Person genügen lässt, um eine hinreichende Demütigungsintensität zu bejahen. Ob sich jemand in konven­ tionsrechtlich relevanter Weise gedemütigt fühlt, hängt damit letztlich von ihrem mentalen Status und ihrem Temperament zum Zeitpunkt der fraglichen Handlung ab. Gerade deshalb sind objektive Massstäbe eminent wichtig, damit der rechtliche Gehalt einigermassen stabil bleibt.322 Doch Gefühle haben immer auch Gründe; der Gerichtshof definiert denn auch Situationen oder Handlungen, die einer Person einen rationalen Grund liefern, sich gedemütigt zu fühlen. Der Gerichtshof scheint in jüngster Zeit vermehrt auf die Bedeutung zwischenmenschlicher Interaktion abstellen zu wollen, um die symbolische Bedeutung intersubjektiver Kommunikations- und Handlungsabläufe für Dritte rekonstruierbar zu machen.323 So lässt er in seiner Rechtsprechung nicht Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 232. Politik der Würde, S. 92. 319  Ohne des Aspekt des Menschenbildes zum alleinigen Wertungsmassstab hochstilieren zu wollen. 320  „Obgleich Selbstachtung die Selbstbeziehung einer Person meint, hängt sie von der Einstellung anderer ab, und zwar nicht nur kausal, indem unsere Einstellung zu uns dadurch beeinflusst ist, wie andere über uns denken und sich uns gegenüber verhalten, sondern auch konzeptuell“: Margalit, Politik der Würde, S. 129. 321  3. Teil A. III. Andenas/Bjorge, National Implementation of ECHR rights, S. 207 f.; EGMR, 08.01.2009, Filiz v. Turkey, Nr. 7496/03, Rn. 32; Gebremariam, Human Dignity and Moral Rights, S. 17 ff. 322  3. Teil A. III. 4. e) aa)–bb). Hörnle, How to Define Human Dignity, S. 561 (573). 323  3. Teil A. III. 2. a) und 2. c); vgl. ferner EGMR (GK), 01.07.2014, S. A. S. v. France, Nr. 43835/11 (Bedeutung des Gesichts in einer demokratischen Gesellschaft); 317  S.

318  Margalit,



C. Materieller Gehalt375

immer nur subjektive Kriterien gelten, um das Schutzgut der Selbstachtung adäquat einzufangen, da ansonsten für unterschiedlich empfindliche Individuen differierende Schutzrechte statuiert würden.324 Stattdessen orientiert sich der EGMR weitgehend an den objektiv feststellbaren Umständen des Einzelfalls und letztlich auch an einer gewissen Sozialadäquanz staatlichen Handelns.325 Die Handlungsbedeutung wird so von der Aussenperspektive her rekonstruiert.326 So liefert er den Individuen innerhalb des Konventionsraumes einen rationalen Grund, sich gedemütigt zu fühlen. Dies wurde auch an den Fällen von Justizgewalt deutlich, die die symbolische Bedeutung von Handlungen jenseits von materialisierbaren Schäden oder Verletzungen bewerten.327 In Fällen, in denen Angeklagte im Gerichtssaal in einen Metallkäfig gesteckt wurden, wurde festgestellt, dass eine derartige Würdeverletzung in einer „zivilisierten Gesellschaft“ inakzeptabel sei.328 Dasselbe gilt für die Vorführung vor Gericht in Gefängniskleidern. Der Mensch wird durch diese Rechtsprechung auch und gerade als „animal symbolicum“ gedacht und geschützt.329 Insofern meint Demütigung (auch) die Ausschliessung aus einer legitimen identitätststiftenden Gruppe.330 Dass der Einzelne nicht als ein vollkommen autonomes und autarkes Individuum aufgefasst und geschützt wird,331 zeigt sich anhand des Verbots von Hassreden („hate speeches“), die geeignet sind, die Identität und Menschlichkeit einer politischen oder ethnischen Gemeinschaft in Frage zu stellen.332 hierzu auch: EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 104: „A slap to the face affects the part of the person’s body which expresses his individuality, manifests his social identity and constitutes the centre of his senses – sight, speech and hearing – which are used for communication with others“. 324  Obschon der Wortlaut etwas anderes insinuieren mag: EGMR (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 87: „It should also be pointed out that it may well suffice that the victim is humiliated in his own eyes, even if not in the eyes of others“. 325  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25083/94, Rn. 100: „[I]t depends on all the circumstances of the case, such as the duration of the treatment, its physical or mental effects and, in some cases, the sex, age and state of health of the victim, etc.“ 326  Objektiv feststellbares Handlungsunrecht: 3. Teil A. III. 4. e) aa). 327  3. Teil A. III. 2. c). 328  3. Teil A. III. 2. c)–2. d). Daneben führt eine solche Behandlung auch zu einer Unterminierung der Unschuldsvermutung bzw. zu einer Vorverurteilung des Beschuldigten. 329  Margalit, Politik der Würde, S. 85. 330  Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 140 ff. 331  So auch schon Bergmann, Das Menschenbild in der EMRK, S. 111. 332  Schutz der Würde der Armenier: EGMR (GK), 15.10.2015, Perinçek v. Switzerland, Nr. 27510/08, Rn. 155: „Protecting the dignity on the other hand including

376

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Problematisch wird eine solche Lesart nur, wenn die Verächtlichmachung und Demütigung nicht in den Kernbereichen, sondern auch an deren äusseren Rändern stattfindet. Sowohl für Art. 3 als auch für Art. 8 EMRK wird ein Mindestmass an Eingriffsschwere verlangt,333 um eine Bagatellisierung würderelevanter Schutzbereiche zu verhindern.334 Klar ist, dass Diffamierungen, Herabsetzungen und gewisse Formen sozialer Exklusion335 als „Herabwürdigung“ im Sinne der Konvention verboten sind.336 Die bewusste Verleugnung des Genozids an einer Volksgruppe kann als Würdeverletzung qualifiziert werden und individuell einklagbar sein.337 Zu prüfen bleibt aber, ob ein einzelner Mensch aus einer identitätsstiftenden Gruppe ausgeschlossen wird. Werden also ganze Gruppen in einer Gesellschaft diskriminiert, verspottet oder allgemeiner formuliert: ausgeschlossen, so kann diese Behandlungsform zur Demütigung führen, die den einzelnen Gruppenmitgliedern einen rationalen Grund liefern, sich verletzt zu fühlen.338 Allerdings verfolgt der Gerichtshof nicht einen absoluten „Humiliationismus“, da nicht alles, was mit dem Phänomen der Selbstachtung zu tun hat, auch tatsächlich menschenwürderelevant sein kann.339 So hat der Gerichtshof denn auch wiederholt betont, dass eine sozialadäquate Erniedrigung, wie sie einer Haftstrafe wegen ihres expressiven Charakters, d. h. aufgrund des damit ausgedrückten sozialethischen Unwerturteils, inhärent ist, nicht als men-

the identity, of present-day Armenians as their descendants. (…) the Court accepts that the interference with the applicant’s statements, in which he denied that the Armenians had suffered genocide, was intended to protect that identity, and thus the dignity of present-day Armenians“. 333  Beide schützen u. a. die physische und psychische Integrität des Menschen, allerdings haben sie einen normativ anders gepolten Anknüpfungspunkt; während bei Art. 3 eher der Aspekt der Demütigung in den Vordergrund steht, ist bei Art. 8 eher die Autonomie und Selbstbestimmung prävalent; vgl. 3. Teil A. I.; A. II.; A. III.; A. VI. 1.; B. II. 334  Vgl. Hörnle, Zeitschrift für Rechtsphilosophie, S. 41 ff. 335  Rassistische Diskrimierung: 3. Teil B. III. 336  Instruktiv die Formel des EGMR: „Treatment is considered to be ‚degrading‘ within the meaning of Article 3 when it humiliates or debases an individual, showing a lack of respect for, or diminishing his or her human dignity, or when it arouses feelings of fear, anguish or inferiority capable of breaking an indivual’s moral and physical resistance“: EGMR (GK), 17.07.2014, Svinarenko and Slyadnev v. Russia, Nr. 32541/08 u. a., Rn. 115. 337  Vgl. EGMR (GK), 15.10.2015, Perinçek v. Switzerland, Nr. 27510/08 (in casu verneint, da durch Meinungsäusserungsfreiheit gedeckt). 338  Margalit, Politik der Würde, S. 145. 339  Vgl. dazu weiterführend Horn, Information Philosophie 2011, S. 30 ff. Vgl. ferner Margalit, Politik der Würde, S. 55 ff., 145, der zwischen Selbstwertgefühl und Selbstachtung unterscheidet.



C. Materieller Gehalt377

schenwürderelevant zu erachten ist.340 Solchermassen formalisierte soziale Ächtung und Missbilligung ist nicht als Menschenwürdeverletzung, sondern als sozialadäquates Staatshandeln zu taxieren. 4. Identität Der Gedanke der Freiheitlichkeit wird um die Gehalte der Selbstdefinition, Selbstdarstellung und Selbstbestimmung angereichert.341 Eng mit dem Aspekt der minimalen Freiheit verbunden ist die materiale Dimension der persönlichen Lebensgestaltung als Ausdruck der Autonomie. Die Möglichkeit des Menschen, sich selbst zu definieren, „sein eigener Bildhauer“342 und „Erfinder“ zu sein, werden durch die Würde-Rechtsprechung des Gerichtshofs mitumfasst, was sich gut an den Judikaten zur sexuellen Selbstbestimmung, insbesondere zur Transsexualität ablesen lässt.343 Auf dem Rechtsboden von Art. 8 EMRK bildet der EGMR würdegeprägte Aspekte persönlicher Lebensgestaltung, insbesondere „gender identification, name and sexual orientation and sexual life“, aber auch „a right to personal development, and the right to establish and develop relationships with other human beings“.344 Die Auffassung, der Mensch solle sich seiner Würde gemäss vervollkommnen, deckt sich mit der Grundhaltung Kants, wonach die freie Entwicklung der Persönlichkeit ermöglicht werden soll.345 Es muss einen Raum des Privaten geben, in dem der Staat nichts zu suchen hat. Eine solche Sphäre

340  3. Teil

A. II. 2.; A. III. 1. AöR 2005, S. 71 (99 ff., 105). 342  Vgl. 2. Teil A. IV. 1. 343  3. Teil B. II. 3.; EGMR, 12.06.2003, Van Kück v. Germany, Nr. 35968/97, Rn. 69; ferner EGMR, 12.04.2016, M.C. and A.C. v. Romania, Nr. 12060/12, Rn. 119. 344  EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95, Rn. 91: „[T]he Court considers that society may reasonably be expected to tolerate a certain inconvenience to enable individuals to live in dignity and worth in accordance with the sexual identity chosen by them at great personal cost“; EGMR, 12.06.2003, Van Kück v. Germany, Nr. 35968/97, Rn. 69; EGMR, 22.02.1994, Burghartz v. Switzerland, Nr. 16213/90, Rn. 24; EGMR, 24.07.2014, Husayn (Abu Zubaydah) v. Poland, Nr. 7511/13, Rn. 532: „Article 8 also protects a right to personal development, the right to establish and develop relationships with other human beings and the outside world. A person should not be treated in a way that causes a loss of dignity, as ‚the very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom‘ “. 345  Bergmann, Das Menschenbild in der EMRK, S. 114; die Menschen- und Würdekonzeptionen weltanschaulicher bzw. philosophischer Art haben auch die EMRK geprägt; vgl. Marhaun, Menschenwürde und Völkerrecht, S. 261; 2. Teil A. IV. 1.; C. I. 3. 341  Nettesheim,

378

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

persönlicher Lebensgestaltung, i. S. v. Eigensphäre oder Wertsphäre,346 lässt sich nur vom Wesen des Menschen bzw. vom Menschenbild her bestimmen.347 Obwohl die EMRK keine allgemeine Handlungsfreiheit kennt, anerkennt sie einen Anspruch auf persönliche Lebensgestaltung. Eine solche Möglichkeit, den eigenen Lebensentwurf zu leben, impliziert ein Minimum an Handlungs- und Entscheidungsfreiheit.348 Angesprochen wird hier eine individuell-kulturelle Dimension des Menschen, der als vernunftbegabtes Wesen danach strebt, sich zu entfalten, seine Ideen zu entwickeln und auszuleben, mit anderen zu kommunizieren und zu kooperieren, mithin über sich selbst hinauszuwachsen.349 So erachtete es der Gerichtshof als Verletzung von Art. 8 EMRK, wenn eine Person ihre sexuelle Identität nicht frei, gemäss ihrem eigenen Willen und ihrer vernunftgeleiteten Entscheidung, wählen kann.350 Dies muss auch im Falle der Transsexualität dergestalt akzeptiert werden, dass die Rechtsordnung der jeweils selbstgewählten Identität volle rechtliche Anerkennung ermöglicht.351 Entgegenstehende öffentliche Interessen treten im Bereich des Intim(st)en zurück, soweit ein Menschenwürdebezug besteht.352 Individualität und Identität des Menschen sind Sphären, die vor allem durch Art. 8 EMRK geschützt werden und der Menschenwürde zuzuordnen sind.353 Zur Anreicherung des Inhalts und der Reichweite des Konzepts „Privatleben“ konnte die Menschenwürde namentlich im Bereich des Suizids und auch Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 144. B.; 3. Teil A. VI.; eingehend zum Menschenbild der EMRK; Bergmann, Das Menschenbild in der EMRK, Baden-Baden 1995. 348  3. Teil B. II.; EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95, Rn. 89. In der verantwortlichen Selbstbestimmung kommt die Würde des Menschen zum Ausdruck: Brugger, Das Menschenbild der Menschenrechte, S. 121 (129 ff.). 349  Lindner, RW 2011, S. 1 (11). 350  EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95, Rn. 90 f.; vertiefend 3. Teil B. II. 3. 351  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 181; EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/95, Rn. 77: „A conflict between social reality and law arises which places the transsexual in an anomalous position, in which he or she may experience feelings of vulnerability, humiliation and anxiety“. 352  EGMR (GK), 11.07.2002, Christine Goodwin v. United Kingdom, Nr. 28957/ 95, Rn. 91: „[T]he Court considers that society may reasonably be expected to tolerate a certain inconvenience to enable individuals to live in dignity and worth in accordance with the sexual identity chosen by them at great personal cost“. 353  Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S.  192 f. 346  So

347  2. Teil



C. Materieller Gehalt379

der aktiven Sterbehilfe,354 der passiven Sterbehilfe,355 der sexuellen Identität bzw. der Anerkennung des Sexus einer Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat,356 aber auch im Rahmen persönlicher Kontakte in Haft zwecks Ermöglichung der Resozialisierung357 als normative Richtschnur dienen. Sie fördert und fordert damit ein holistisches Verständnis des Privatlebens.

II. Soziale Aktualisierung: Recht auf ein materielles Existenzminimum? Das Menschenbild der EMRK zeichnete sich auch durch den Sozialbezug aus: Der Mensch wird als soziales und daher auch in Teilen als abhängiges Wesen anerkannt. Zwar verbürgt die EMRK keine sozialen Grundrechte. Für die Gewährleistung von Sozialrechten sind in erster Linie die nationalen Verfassungsgarantien und die europäische Sozialcharta einschlägig, wobei Letztere aber aufgrund ihres rechtlich nicht verbindlichen Charakters zahnlos geblieben ist.358 Originäre Leistungsrechte zum Schutz eines materiellen Existenzminimums lassen sich durch Rückgriffe auf die Menschenwürde nur äusserst restriktiv begründen.359 Zwar dürfte unbestritten sein, dass die Menschenwürde bestimmte ökonomische und soziale Bedingungen voraussetzt, die zu ihrer Aufrechterhaltung unabdingbar sind.360 Nichtsdestotrotz hat der Gerichtshof wiederholt festgehalten, dass dort, wo die effektive Gewährleistung einer Konventionsgarantie von positiven Leistungen des Staates abhängt, keine messerscharfe Unterscheidung zwischen bürgerlichen, politischen und sozialen Grundrechten mehr möglich sei.361 Der Gerichtshof gewährleistet daher über Art. 3 EMRK 354  3. Teil

B. II. 1. B. II. 2. 356  3. Teil B. II. 3. 357  3. Teil A. VI. 2.; van Zyl Smit/Appleton, Life Imprisonment, S. 212 ff.; Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK; S. 33 (48 f.). 358  Gleichwohl kann die Sozialcharta dem EGMR als Auslegungshilfe dienen. 359  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 519. 360  Extreme Armut schliesst aus der Gesellschaft aus und diese Exklusion kann zu einer Verletzung des intrinsischen Wert- und Achtungsanspruchs führen: Maurer, Le principe de respect de la dignité humaine et la Convention européenne des droits de l’homme, S. 353; Imbert, RDP 1989, S. 739, 746; vgl. auch Roman, Le principe de dignité dans la doctrine de droit social, S. 70 (81 ff.). 361  Weiterführend Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, Baden-Baden 2012. 355  3. Teil

380

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

in sozialen Notlagen und unter (sehr) restriktiven Bedingungen ein menschenwürdiges Dasein in Form eines Existenzminimums.362 Damit trägt er der Tatsache Rechnung, dass der Mensch zur Verwirklichung seiner Grundrechte und zur Wahrnehmung seiner Grundfreiheiten auf gewisse materielle Ressourcen angewiesen ist.363 Ein selbstverantwortetes und menschenwürdiges Leben kann nicht einzig dadurch verwirklicht werden, dass die formale Gleichheit anerkannt wird und der Staat nicht in Freiheitssphären eingreift. Dass der Gerichtshof in gewissen Extremsituationen menschlicher Not ein Mindestmass an Solidarität einfordert, ist nicht zuletzt auch eine Folge der menschlichen Selbstzweckhaftigkeit.364 Wo der Einzelne vom Staat abhängig ist, hat der Gerichtshof Leistungsrechte etabliert, die sozialen Grundrechten sehr ähneln. Denn soziale Not bedeutet stets auch eine schwerwiegende Form sozialer Exklusion, indem sie die Teilnahme an Gesellschaftsaktivitäten einschränkt oder verunmöglicht. Im Haftbereich, wo Menschen in vollständiger Abhängigkeit vom Staat leben müssen, hat der Gerichtshof mit der Statuierung des menschenrecht­ lichen Resozialisierungsansatzes der endgültigen gesellschaftlichen E ­ xklusion von Straftätern eine normative Grenze gesetzt.365 Unter Umständen können solche Leistungspflichten so weit reichen, dass Staaten verpflichtet sind, für Palliativpflege in Haft zu sorgen.366 In gleicher Weise müssen auch die Lebensbedingungen in Flüchtlings­ lagern dergestalt sein, dass ein menschenwürdiges Existenzminimum gesichert ist.367 Unter radikalen Subsistenzsorgen oder in einer dem Selbst entfremdeten Sozialstruktur scheint es schwerlich denkbar, den Menschen als verantwortlichen Akteur mit Belangen höherer Ordnung bzw. als selbstgesetzgebendes Wesen im Reich der Zwecke hinreichend zu achten. Die Selbstachtung und der für jegliche individuelle Identitätsbildung notwendige Freiraum, von festen Rollen abzuweichen, sind in einem solchen ökonomischen oder sozialen Korsett stets erheblich beeinträchtigt. Die Herstellung substanzieller Gleichheit bei der Wahrnehmung politischer und bürgerlicher Rechte kann Leistungen erfordern, die phänotypisch zu den sozio-ökonomischen Massnahmen zu zählen sind, namentlich materielle Unterstützung, Bildung und Sicherung 362  Weiterführend zur Rechtsprechung der EGMR in sozialer Not: Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 54 ff. 363  Lindner, RW 2011, S. 1 (12). 364  Vgl. Mahlmann, Konkrete Gerechtigkeit, S. 280 (eine Folge der menschlichen Selbstzweckhaftigkeit sei ein Mindestmass an mitmenschlicher Solidarität). 365  3. Teil A. III. 2. 366  Negri, Universal Human Rights and End-of-Life Care, S. 1 (31). 367  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 181.



D. Anwendungsdogmatik381

eines Existenzminimums.368 Logischerweise implizieren solche Ausgleichsmechanismen sozio-ökonomische Massnahmen des Staates. Der Gerichtshof selbst kann die Problematik der strukturellen Ungleichheit sowie der mangelnden Chancengerechtigkeit bestenfalls punktuell angehen, indem er Personen, welche „besonders verletzlich“ sind, im Lichte der Menschenwürde zu schützen versucht.369 Extremes Leid, Demütigungen und Misshandlungen können über Art. 3 EMRK eingefangen werden.370

D. Anwendungsdogmatik Zu einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK gehört auch eine anwendungsbezogene Sichtweise. Nur so können die Rechtsanwender und die Rechtsunterworfenen vor Gericht künftig besser mit Menschenwürdeargumenten operieren. Damit die Diskussion der Würde bei einem rein theoretischen Diskurs Halt macht, werden nachfolgend allgemeine, anwendungsbe368  Um ein autonomes, selbstbestimmtes Leben zu führen, sind gewisse institu­ tionalisierte Leistungen unabdingbar, vgl. Furusho, UCL JLJ 2016, S. 175 (185, 189 u. 191): „[human beings are] essentially social, relational, and interdependent. [Their] ability to exercise freedom and agency cannot be conceived apart from socio-material reality“. 369  Wenn er bspw. bestimmte Minderheiten als besonders gefährdet qualifiziert und ihnen besonderen Individualrechtsschutz zuteilkommen lassen will: 3. Teil B. III. (Diskrimierung von Roma). 370  EGMR, Entsch. v. 30.05.2017, E. T. and N. T. v. Switzerland and Italy, Nr. 79480/13, Rn. 10 u. 23; EGMR, 30.06.2015, A.S. v. Switzerland, Nr. 39350/13, Rn. 30: „whether a situation of extreme material poverty could raise an issue under Article 3, (…) not excluded the possibility that the responsibility of the State [might] be engaged [under Article 3] in respect of treatment where an applicant, who was wholly dependent on State support, found herself faced with official indifference in a situation of serious deprivation or want incompatible with human dignity“; EGMR, Entsch. v. 18.06.2009, Budina v. Russia, Nr. 45603/05. Menschen sind letztlich auf andere angewiesen, um in den vollen Genuss ihrer Rechte zu kommen; vgl. die philosophischen Ausführungen von Nussbaum, Feminist Economics 2003, S. 33 (51): „Real people begin their lives as helpless infants, and remain in a state of extreme, asymmetrical dependency, both physical and mental, for anywhere from ten to twenty years. At the other end of life, those who are lucky enough to live on into old age are likely to encounter another period of extreme dependency, either physical or mental or both, which may itself continue in some form for as much as twenty years. During the middle years of life, many of us encounter periods of extreme dependency, some of which involve our mental powers and some our bodily powers only, but all of which may put us in need of daily, even hourly, care by others. Finally, and centrally, there are many citizens who never have the physical or mental powers requisite for independence. (…) In short, any real society is a caregiving and care-receiving society, and must therefore discover ways of coping with these facts of human neediness and dependency that are compatible with the self-respect of the recipients and do not exploit the caregivers“.

382

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

zogene Regeln formuliert, die ihren materiellen Forderungen zu besserer Durchsetzbarkeit verhelfen sollen. Zu diesem Zweck wird nachfolgend auf Berechtigte, Verpflichtete und die prozessualen Eigenheiten des konventionsrechtlichen Menschenwürdeschutzes eingegangen.

I. Berechtigte Die Frage, wem der Menschenwürdeschutz zusteht, scheint auf den ersten Blick klar zu sein. Jeder Mensch ist – unabhängig von seinen Anlagen, Eigenschaften, Fähigkeiten, seinem Alter oder der Staatsbürgerschaft – Träger der Menschenwürde und ihres Achtungsanspruches.371 Die Zuschreibung dieses Wertprädikats kann an nichts anderes geknüpft sein als an das Menschsein.372 Nicht berechtigt sind juristische Personen. Von hoher praktischer Relevanz ist daher die Definition des „Menschseins“ bzw. die Frage, wann menschliches Leben im juristischen Sinne beginnt und wann der konventionsrechtliche Würdeschutz seinen Anfang nimmt. Ein­ fache Antworten gibt es hier nicht. Denn es geht dabei nicht um die simple Feststellung eines biologischen Faktums, sondern um das Formulieren von Gründen dafür, einen bestimmten, naturwissenschaftlich beschriebenen Zeitpunkt, dessen konstitutive Eigenschaften ihn für eine solche Entscheidung geeignet machen, als normativ relevant zu qualifizieren.373 371  Adorno, JMP 2009, S. 229 (229). Aufschlussreich ist auch die AEMR: Art. 1: „All men are born free and equal in dignity and rights“; vgl. Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Verfahrensrecht Rn. 34; vgl. Leisner, Personalismus, Individualethik im Staatsrecht, S. 125. 372  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 294. Vgl. Düwell, Human Dignity: concepts, discussions, philosophical perspectives, S. 23 (33); Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Art. 1 Rn. 36. So hat der EGMR die Anwendung von Art. 3 EMRK auf eine Handelsgesellschaft verneint: EGMR, Entsch. v. 04.12.2006, Vasil Mironov and Agromodel Ood v. Bulgaria, Nr. 68334/01 (Unzulässigkeit der Rüge einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch eine Handelsgesellschaft); EGMR, 02.02.2016, Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete and Index.hu ZRT v. Hungary, Nr. 22947/13, Rn. 66 u. 84. Denn solche juristischen Gebilde sollten nur dann berechtigt sein, wenn die Konventionsrechte ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 16. Massgeblich ist die materielle Konventionsrechtsberechtigung: Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Verfahrensrecht Rn. 34. Juristische Personen des Privatrechts müssen an das Wesen der Konventionsgarantie anknüpfen, so bspw. an die physische Existenz des Menschen. Konsequent weitergedacht würde dies bedeuten, dass der Grundsatz des „nemo tenetur“ lediglich für natürliche Personen und nicht für juristische Personen gilt. In der Rechtsprechung des EGMR wird aber der Nemo-tenetur-Grundsatz auch juristischen Personen zugeschrieben, was aber eher dafür spricht, dass Art. 6 EMRK nicht in der Menschenwürde wurzelt. s. 3. Teil A. V. 373  So Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 295.



D. Anwendungsdogmatik383

Konventionsrechtlich fällt der Lebensschutz in zeitlicher Hinsicht nicht mit dem Menschenwürdeschutz zusammen. Der pränatale Würdeschutz wird im Grundsatz konventionsrechtlich anerkannt.374 Der Gerichtshof postuliert einen konventionseigenen „Vorfeldschutz“375 im Namen der Menschenwürde. In rechtlicher Hinsicht ist dies Ausfluss der objektiv-rechtlichen Dimension der Menschenwürde.376 Staaten sollen demnach den Embryo nicht vollkommen schutzlos stellen. Dieser Schutz ist bislang aber opak und weitgehend zahnlos geblieben. Mangels eines ausgebildeten Grundrechtssubjekts lässt sich keine Klagbarkeit (über Art. 3 oder Art. 2 EMRK) konstruieren. Das vom EGMR erhobene Postulat eines pränatalen Würdeschutzes ist de facto appellativer bzw. rechtspolitischer Natur.377 In der Sache ist der vom Gerichtshof gewählte Ansatz überzeugend: Der Gedanke von der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen kann auf vorgeburtliches Leben wegen dessen personaler Zukunft erstreckt werden.378 Im Kern geht es um den qualitativen Einschnitt, der in der Befruchtung und der Bildung eines diploiden Chromosomensatzes liegt; dieser einschneidende Moment setzt einen zu Beginn auf externe Umstände angewiesenen, aber doch in entscheidenden Zügen intern moderierten biologischen Ablauf in Gang und schafft eine genetisch individuierte Entität, die sich zu einem Menschen entwickeln kann.379 Letztlich verdichten sich diese Eigenschaften zu einem Potenzial zur Menschwerdung. Damit markieren sie den normativen Einschnitt und begründen den (wenngleich schwach ausgeprägten und in die Einschätzungsprärogative der Vertragsstaaten gelegten) rechtlichen Schutzanspruch des Fötus/Embryos.380 Ein weiterer Punkt, der von grosser Bedeutung ist, wenn es um die Berechtigung bzw. Einschlägigkeit des Würdeschutzes geht, ist die „Verletzlichkeit“ des Menschen.381 Je nach Konstellation kann eine Verletzlichkeitsdisposition zum schutzbereichsverstärkenden Einbezug der Menschenwürde führen.382 Der Gerichtshof verlangt in solchen Fällen angesichts der immanenten Gefahr einer Würdeverletzung besondere staatliche Vorkehrungen 374  3. Teil

B. I. 1. F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 2 Rn. 22. 376  Vgl. 4. Teil B. I. 2. 377  Zur rechtspolitischen Verwendungsweise der Menschenwürde: 4. Teil B. II. 1. c). 378  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 299. 379  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 306; so auch EGMR (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00. 380  EGMR (GK), 08.07.2004, Vo v. France, Nr. 53924/00, Rn. 84. 381  Zu den einzelnen „Verletzlichkeitsdispositionen“ vgl. 3. Teil A. III. 4. e) bb). 382  Statt vieler s. EGMR, 30.11.2010, Hajduova v. Slovakia, Nr. 2660/03, Rn. 41. 375  Meyer

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

(„active State involvement in their protection“) i. S. positiver Schutzpflichten.383 Dies ist, neben der materiellen Wertigkeit menschlicher Würde, auch ein Ausfluss der effektivitätssichernden Auslegung des Gerichtshofs.384 Die Berechtigung bzw. Trägerschaft der Konventionsgarantien endet mit dem Ende des Lebens.385 Dies hat im Grundsatz auch für die Menschenwürde zu gelten, zumal ihre Realisierung konventionsrechtsakzessorisch verläuft. In gewissen Ländern wird der Grundrechtsschutz über den Tod hinaus ausgedehnt, um Mindeststandards im Umgang mit dem Leichnam bzw. dem Pietätsempfinden der Angehörigen zu garantieren.386 Dies wurde bislang konventionsrechtlich nicht anerkannt.

II. Verpflichtete Eine weitere Frage ist, wer alles durch den Menschenwürdesatz verpflichtet wird. Als Rechtsbegriff der EMRK bindet die Menschenwürde zunächst einmal sämtliche Staatsorgane (Judikative, Exekutive und Legislative). Jedes staatliche Tun oder Unterlassen kann würderelevant sein.387 Etwas anderes widerspräche der Rechtsnatur und Charakteristik der Konvention, die einen kollektiven Individualrechtsschutz garantieren möchte.388 Der materielle Verpflichtungskern menschlicher Würde ergibt sich aus der Urteilsanalyse und beinhaltet Abwehrpflichten sowie positive Schutzpflichten seitens des Staates.389 Grundsätzlich beschlägt die Garantie der Würde des Menschen das Verhältnis Bürger–Staat. Gleichwohl kann unter gewissen Umständen auch das Verhältnis Bürger–Bürger indirekt tangiert sein, und zwar insofern, als gewisse menschenwürdenegierende Verhaltensweisen dem Staat bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen.390 Staaten haben demnach die positive 30.11.2010, Hajduova v. Slovakia, Nr. 2660/03, Rn. 41. B. I. 2. b). Vgl. EGMR (GK), 18.02.1999, Matthews v. United Kingdom, Nr. 24833/94, Rn. 34; zur effektivitätssichernden Auslegung s. Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 42. 385  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 15; Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Verfahrensrecht Rn. 35 m. w. N. 386  3. Teil B. I. 2. 387  EGMR, 06.02.1976, Swedish Engine Driver’s Union v. Sweden, Nr. 5614/72, Rn. 37. 388  2. Teil A. I.–III. 389  Vgl. den 3. Teil mit den entsprechenden (vielfältigen) Schutzbereichsausprägungen. 390  Vgl. insb. Menschenhandel: 3. Teil A. IV. 383  EGMR, 384  2. Teil



D. Anwendungsdogmatik385

Pflicht, ihre Rechtsunterworfenen vor Ausbeutung,391 Misshandlung392 oder schwerer Demütigung393 zu schützen.394 Insofern geht die Frage einer allfälligen Drittwirkung des Schutz- und Achtungsanspruches menschlicher Würde in der Schutzpflichtendogmatik des Gerichtshofes auf.

III. Verzichtbarkeit Grundsätzlich kann ein Grundrechtsinhaber auf die Gewährleistungen eines Konventionsrechts verzichten, sofern dieses seiner Dispositionshoheit unterliegt und der Verzicht klar und freiwillig erklärt wurde.395 Die Unmöglichkeit des Verzichts auf eine Gewährleistung wurde vom Gerichtshof bislang nur in Fällen rassistischer Diskriminierung explizit formuliert.396 Da in ihnen der Kern der Menschenwürde397 getroffen ist, kann – sachlogisch weitergedacht – gesagt werden, dass dort, „wo der Menschenwürdekern eines Grundrechts berührt ist“, die Verzichtbarkeit endet.398

IV. Prozessuales Der Menschenwürdeschutz der EMRK sieht sich mit einigen prozessualen Hindernissen konfrontiert. Aufgrund der fehlenden direkten Einklagbarkeit ist es angemessen, von einem „indirekten Menschenwürdeschutz“ zu sprechen.399 Das Verfahren der Individualbeschwerde ist streng konventionsrechtsakzessorisch ausgestaltet.400 Die herrschende Meinung im Schrifttum geht davon aus, dass die Menschenwürde nicht zu den eigenständig gewährleisteten Rechten der EMRK gehört.401 Dem ist beizupflichten. Daraus erge391  3. Teil

A. IV. A. I.–II. 393  3. Teil A. III. 394  Vgl. nur 2. Teil A. I.–III. 395  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsauslegung, Rn.  59 f. 396  EGMR (GK), 13.11.2007, D. H. and others v. Czech Republic, Nr. 57325/00, Rn. 204; EGMR, 11.12.2012, Sampanis and others v. Greece, Nr. 32526/05, Rn. 93 ff. 397  4. Teil B. II. 1. a). 398  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Methodik der Grundrechtsauslegung, Rn. 60. 399  Vgl. Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 8 ff. 400  Die Menschenwürde in der EMRK wird in Verbindung mit den Einzelgrundrechten geschützt. 401  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Verfahrensrecht Rn. 157; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 1 Rn. 15; vgl. Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 3 Rn. 1 ff.; Bank, in: Dörr/Grote/ 392  3. Teil

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

ben sich prozessuale Hindernisse für ihren Schutz. Die Geltendmachung eines Rechts, das nicht in der EMRK enthalten ist, wäre ein Ausschlussgrund ratione materiae.402 Wenn jedoch ein Individuum den innerstaatlichen Rechtsweg mit einer Rüge der Menschenwürdeverletzung durchlaufen hat, lässt der Gerichtshof eine entsprechende Individualrechtsbeschwerde zu:403 „At least one of the responsible State agencies must have been informed of the applicant’s subjective assessment that the conditions of the detention in question constituted a lack of respect for, or diminished, his or her human dignity.“404 Der Gerichtshof prüft dann jeden Fall im Lichte des jeweils sachnächsten Konven­ tionsrechts, also bspw. Art. 8 oder Art. 3 EMRK.405 Auch bei Rügen einer persönlichen Würde-, Ehr- oder Geschäftsreputationsverletzung schloss sich der EGMR der Ansicht der Regierung nicht an, wonach innerstaatlich explizit Art. 8 EMRK hätte angerufen werden sollen.406 Die innerstaatliche Anerkennung, dass jemand Opfer einer würdeverletzenden Äusserung durch einen Richter geworden ist, kann im Umkehrschluss und konsequenterweise als Prozesshindernis für eine Beschwerde von Art. 8 EMRK oder Art. 3 EMRK vor dem EGMR geltend gemacht werden.407 Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  5; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 65 ff.; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 103 ff.; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 1 f., 26; Meyer-Ladewig, NJW 2004, S. 981 (981 ff.); Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 185 ff.; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 35 ff. s. auch Renucci, Droit européen des droits de l’homme, S. 110, 138. 402  EGMR, 13.07.2006, Jäggi v. Switzerland, Nr. 58757/00, Rn. 155 ff. 403  Der EGMR zeigt sich denn auch in seiner Rechtsprechung, mit Blick auf explizite Menschenwürderügen der Beschwerdeführer nicht immer responsiv; so auch Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 35 f. 404  EGMR, 01.06.2017, Mindadze and Nemsitsveridze v. Georgia, Nr. 21571/05, Rn. 96; ferner EGMR, 15.10.2013 Gutsanovi v. Bulgaria, Nr. 34529/10, Rn. 93. 405  EGMR, 20.06.2017, Bogomolova v. Russia, Nr. 13812/09, Rn. 43: „The Court observes that in her statement of claim submitted to the District Court on 20 March 2008, the applicant complained that her honour, dignity and professional reputation had been damaged by the unlawful publication of her minor son’s photograph in the booklet. (…) the Court considers that the applicant raised her complaint of unlawful publication and dissemination of her son’s photograph before the domestic courts and therefore provided them with an opportunity to put right the alleged violation of her and her son’s rights under Article 8 of the Convention“. Es sind letztlich die Konventionsrechte, die es ermöglichen, den objektiven Menschenwürdeschutz zu subjektivieren. Letztlich ist es die Dogmatik der Einzelgrundrechte, die die Bedingungen des bereichsspezifischen Würdeschutzes umschreiben. Ihnen kommt eine prozessuale Brückenfunktion zu. 406  EGMR, 18.04.2013, Ageyevy v. Russia, Nr. 7075/10, Rn. 212. 407  EGMR, Entsch. v. 03.09.2013, Papp v. Hungary, Nr. 35999/11.



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 387

E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente Im nachfolgenden letzten Teil der Untersuchung wird die konsolidierte strafrechtliche Würde-Rechtsprechung sowie die Theorie der Menschenwürde in der EMRK kritisch gewürdigt und weitergedacht. Es folgt ein Plädoyer für einen konsequenteren und kohärenteren Schutz menschlicher Würde in Europa.

I. Ein „Recht auf Hoffnung“ im Strafvollzug Die emanzipatorische Kraft des Subjektgedankens im Strafvollzug kommt auch in der untersuchten EGMR-Rechtsprechung zum Zug, indem der Gerichtshof sich gegen die endgültige und hoffnungslose Exklusion des ­ Straftäters aus der freien Gesellschaft und gegen ein deterministisches Menschenbild wendet, das dem Straftäter jegliches Veränderungspotenzial abspricht.408 Dass sich der Gerichtshof zugunsten eines menschenrechtlichen Konzepts der Resozialisierung ausspricht, ist grundsätzlich zu begrüssen. Das Bekenntnis zum überragenden Vollzugszweck der Resozialisierung des Täters kann kaum unterschätzt werden. Es manifestiert einen längeren Prozess innerhalb des Tätigkeitsfeldes des Europarates im Bereich des Strafvollzugs409 und ist 408  3. Teil A. II. 2.; 2. Teil B.; Padfield, The Sentencing, Management and Treatment of Dangerous‘ Offenders, Final Report, CDPC, Rn. 31: „By using the term ‚dangerous‘ offenders, we are well aware that there is a danger that we are seen to validate its use. There will be false positives (those who are predicted to re-offend, and who don’t) and false negatives (those who are predicted not to re-offend, but who do so)“. Vgl. zum Menschenbild auch Ronc, Lebenslängliche Verwahrung im Lichte der EMRK, S. 331 (341 u. 350). 409  Die Liste der vom Ministerkomitee propagierten Empfehlungen im Zusammenhang mit dem Strafvollzug ist lang: Vgl. CM/Rec (2014) 4 on electronic monitoring; CM/Rec (2014) 3 concerning dangerous offenders; CM/Rec (2012) 12 concerning foreign prisoners; CM/Rec (2012) 5 on the European Code of Ethics for Prison Staff; CM/Rec (2010) 1 on the Council of Europe Probation Rules; Rec (2008)11 on the European Rules for juvenile offenders subject to sanctions or measures; Rec (2006) 13 on the use of remand in custody, the conditions in which it takes place and the provision of safeguards against abuse; Rec (2006) 2 on the European Prison Rules; Rec (2003) 23 on the management of life-sentence and other long-term prisoners; Rec (2003) 22 concerning conditional release (parole); Rec (2000) 22 on improving the implementation of the European rules on community sanctions and measures; R (99) 22 concerning prison overcrowding and prison population inflation; R (99) 19 concerning mediation in penal matters; R (98) 7 concerning the ethical and organisational aspects of health care in prison; R (97) 12 on staff concerned with the implementation of sanctions and measures; R (93) 6 concerning prison and criminological aspects of the control of transmissible diseases including AIDS and related health

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

ein Kulminationspunkt der Rechtsprechungslinie des Gerichtshofs in diesem Bereich, welche archaischen, nur auf Retribution zielenden Strafen bis ans Lebensende eine Absage erteilen und der Veränderungsfähigkeit des Individuums Raum geben will.410 Im Kern geht es bei den durch den Gerichtshof etablierten Grundsätzen darum, dass ein zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe Verurteilter in einem entscheidenden Aspekt kein (Rechts-)Subjekt mehr ist, wenn er kein Verfahren anstrengen kann, das ihm die Freiheit wiederbringen kann.411 Daher erfordert ein menschenwürdiger Strafvollzug die Implementierung und Absicherung des Rechts auf Hoffnung412 durch entsprechende Überprüfungs- und Entlassungsmechanismen.413 Bei den lebenslangen Haftstrafen bezieht sich der Gerichtshof auf die Hoffnung der Gefangenen, eines Tages wieder in Freiheit leben zu können, sofern gewisse Voraussetzungen erfüllt sind. Doch Hoffnung ist ein subjektives Konzept, ein subjektives Empfinden, das nur sehr schwer objektivierbar ist. Der EGMR knüpft daher (objektiv) an eine De-jure- und De-facto-Reduzierbarkeit der Haft an. Da aber in praxi zumeist in irgendeiner Form eine De-jure- und De-­factoReduzierbarkeit bestehen dürfte, sind kaum Fälle einer nicht reduzierbaren Freiheitsstrafe denkbar; denn zumeist dürfte zumindest eine Entlassungsmöglichkeit in Form eines Gnadenrechts durch die Exekutive bestehen – was u. U. für die Konven­ tionskonformität ausreicht.414 Wie die Überprüproblems in prison; R (92) 18 concerning the practical application of the Convention on the transfer of sentenced persons; R (92) 16 on the European rules on community sanctions and measures; R (89) 12 on education in prison; R (88) 13 concerning the practical application of the Convention on the transfer of sentenced persons; R (84) 11 concerning information about the Convention on the transfer of sentenced persons; R (82) 17 on the custody and treatment of dangerous prisoners; R (79) 14 concerning the application of the European Convention on the supervision of conditionally sentenced or conditionally released offenders; Res (70) 1 on the practical organisation of measures for the supervision and after-care of conditionally sentenced or conditionally released offenders; Res (67) 5 on research on prisoners considered from the individual angle and on the prison community; R (62) 2 on electoral, civil and social rights of prisoners. 410  3. Teil A. II. 2. 411  3. Teil A. II. 2. b) cc). Vgl. auch Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 344. 412  Vgl. zuletzt in: EGMR, 23.05.2017, Matiošaitis and Others, Nr.  22662/13 u. a., Rn. 175, 179 („entertaining a real hope“); EGMR (GK), 12.02.2008, Kafkaris v. ­Cyprus, Nr. 21906/04, Rn. 98: („it could not be said that the life prisoners in question had been deprived of any hope of release“). 413  3. Teil A. III. 2. b) cc). Kromrey/Morgenstern, ZIS 2014, S. 704 (714); vgl. Weigend, Strafrecht und Zeitgeist, S. 60. 414  EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08, Rn. 49. Allerdings deutet der EGMR an, dass er dies nur akzeptiert, wenn der Exeku-



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 389

fung einer vorzeitigen Entlassung konkret ausgestaltet ist, liegt aber in der Einschätzungsprärogative der Nationalstaaten, und genau dies unterhöhlt das genannte Schutzkonzept des Gerichtshofs.415 Wenn und soweit der Gerichtshof die Menschenwürde mit einem „Recht auf Hoffnung“ verknüpft, sollte diese Hoffnung keine abstrakt-theoretische416 Formel bleiben. Insoweit als der Gerichtshof die Resozialisierung als Leitprinzip des europäischen Strafvollzuges anerkennt und stärken möchte,417 müsste endgültig ein justizförmiger, mit der Menschenwürde vereinbarer Entlassungsmechanismus, der ein unparteiisches und unabhängiges Gericht garantiert, eta­ bliert werden. Denn nur wenn die Gefahr der Willkür weitestgehend gebannt ist, besteht Grund zur Hoffnung, und nur dann kann Resozialisierung gelingen.418 Resozialisierung bzw. die damit verbundene soziale Wiedereingliederung des Strafhäftlings sind Schlüsselprinzipien des europäischen Strafvollzugstiventscheid einer gerichtlichen Überprüfung unterliegt; EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08, Rn. 52: „Furthermore, the Secretary of State’s decisions on possible release are subject to review by the domestic courts, themselves bound by the same duty to act compatibly with Convention rights“. 415  EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08, Rn. 45: „ As for the nature of the review, the Court has emphasised that it is not its task to prescribe whether it should be judicial or executive, having regard to the margin of appreciation that must be accorded to Contracting States (…). It is therefore for each State to determine whether the review of sentence is conducted by the executive or the judiciary“. 416  Vgl. zur effektivitätssichernden Auslegung 2. Teil B. I. 2. b). 417  3. Teil A. II. 2. b) bb) (2); EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08, Rn. 42 „The importance of the ground of rehabilitation is underlined, since it is here that the emphasis of European penal policy now lies, as reflected in the practice of the Contracting States, in the relevant standards adopted by the Council of Europe, and in the relevant international materials“. 418  Vgl. zur Unterminierung des Resozialisierungsgedankens durch unklare Entlassungskriterien: EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/ 08, Rn. 44: „Certainty in this area is not only a general requirement of the rule of law but also underpins the process of rehabilitation which risks being impeded if the procedure of sentence review and the prospects of release are unclear or uncertain“; folgende Verfahrensgarantien wurden durch Recommendation Rec(2003)22 on conditional release (parole) in § 32 gefordert: „(a) convicted persons should have the right to be heard in person and to be assisted according to the law; (b) the decision-making authority should give careful consideration to any elements, including statements, presented by convicted persons in support of their case; (c) convicted persons should have adequate access to their file; (d) decisions should state the underlying reasons and be notified in writing“. § 33: „Convicted persons should be able to make a complaint to a higher independent and impartial decision-making authority established by law against the substance of the decision as well as against non-respect of the procedural guarantees“.

390

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

rechtes.419 Diese sind nunmehr über die EMRK in ihren spezifischen Schutzbereichsausprägungen420 individuell einklagbar.421 Anzumerken bleibt, dass die vom EGMR entwickelte Würde-Rechtsprechung nicht so verstanden werden darf, dass der staatliche Zugriff auf die verurteilte Person im Laufe der Zeit zwangsläufig einer stetigen (grundrechtsbedingten) Abnahme unterliegt und insofern auch immer milder bzw. berechenbarer wird.422 Diesbezüglich sei nur erwähnt, dass sich der Prozess der Abschaffung der Todesstrafe in Europa bis ins Jahr 2002 hingezogen hat423 und dass die Diskussion um ihre Wiedereinführung in Teilen Europas inzwischen bereits wieder salonfähig geworden ist.424 Auch die mittlerweile rund 200 Jahre andauernde Kontroverse rund um die Institution „Gefängnis“ zeugt davon, dass man sich im Zusammenhang mit Strafvollzugs- und Strafvollstreckungsfragen auf lange Entwicklungszeiträume einstellen muss.425 Es ist daher nicht ratsam, in linearen Entwicklungstendenzen zu denken, auch wenn die Logik der Konvention, der zufolge der Grundrechtsschutz stets anspruchsvoller wird bzw. höhere Standards erfordert, dies insinuiert.426 Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Gerichtshof in den einschlägigen Strafrechtsfällen mit der Menschenwürde argumentiert und dadurch den spezifischen Eigenwert des Häftlings stärkt. Durch die Forderung nach einer Reduzierbarkeit der Haft, und nach humanen materiellen Haftbedingungen427 und Sozialkontakten wird auch ein Mindestmass an Selbstbestim419  Van Zyl Smit/Snacken, Principles of European prison law and policy, S. 106; van Zyl Smit, Taking Life Imprisonment Seriously in national and international law, S. 470. 420  3. Teil A. II. 2. b). 421  S. 2. Teil A. I.; 2. Teil A. III. 422  Vgl. Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, S. 41. Dies gilt umso weniger, als in Europa seit der Jahrtausendwende wieder vermehrt punitive Strömungen feststellbar sind: Redondo/Frerich, in: FS Killias, S. 879 (881). Zudem zeigt sich eine zunehmende Akzentuierung des Spannungsverhältnisses zwischen Sicherheit und Freiheit im Zuge des Phänomens des „Terrorismus“: Reck, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat, S. 427 (427 f.). 423  3. Teil A. II. 1. 424  S. nur WOZ Nr. 9 vom 28.02.2019, S. 17: „Für mich gehört eine solche Forderung [Wiedereinführung der Todesstrafe] zur freien Meinungsäusserung“. 425  Weiterführend Foucault, Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses, 15. Aufl., Frankfurt a. M. 1993. 426  EGMR (GK), 28.07.1999, Selmouni v. France, Nr. 25803/94, Rn. 101: „[The Court] takes the view that the increasingly high standard being required in the area of the protection of human rights and fundamental liberties correspondingly and inevitably requires greater firmness in assessing breaches of the fundamental values of democratic societies“. 427  3. Teil A. III. 4. c).



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 391

mung und -entfaltung im Vollzug angestrebt. Daher hat der Gerichtshof mittlerweile auch Aspekte der Resozialisierung in Art. 8 EMRK loziert: „In the context of Article 8 of the Convention, ‚emphasis on rehabilitation and reintegration has become a mandatory factor that the member States need to take into account in designing their penal policies‘ “.428 Wenngleich die Rechtswirklichkeit von teilweise desolaten Zuständen zeugt,429 tritt in normativer Hinsicht ein spezifisches Menschenwürdeverständnis zutage, das von einem Menschenbild getragen wird, in dem das Individuum sich entwickeln, ändern und bessern kann und sich in der Gesellschaft (mithin nicht in Isolation) entfaltet bzw. entfalten muss.430 Schliesslich, so der Gerichtshof, muss der Täter die Chance haben, seine Tat eines Tages tatsächlich „abzubüssen“ („atone for their crime“).431 Demnach erscheint es für den Gerichtshof klar, dass nur der effektive Gedanke an die Endlichkeit der Haft es ermöglicht, die Menschenwürde zu wahren.432 Überdies korreliert dieser Ansatz mit psychologischen und strafvollzugswissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach nur der Gedanke an die Vorläufigkeit der Haft betroffene Menschen vor einer Zerstörung ihrer Persönlichkeit bewahren kann.433 Insoweit erachtet der Gerichtshof das Streben nach Sinnhaftigkeit als unabdingbare Notwendigkeit für ein menschenwürdiges Leben in Haft. Dennoch ist nach hiesiger Auffassung die Rechtsprechung nicht konsequent genug: Ein Mensch, der wahrhaftig als Zweck an sich selbst gedacht wird und im Vollzug stets als Subjekt angesprochen werden muss, sollte in den Genuss eines rechtsförmigen Überprüfungsmechanismus kommen. Dadurch würde die Menschenwürde kraft Subjektstellung des Menschen zu einem echten und effektiven Recht auf Rechtfertigung erweitert, da sich der Konventionsstaat verpflichtet sähe, eine Haftverlängerung rechtsgenüglich zu begründen.

428  EGMR (GK), 17.01.2017, Hutchinson v. United Kingdom, Nr. 57592/08, Rn. 43 unter Verweis auf EGMR (GK), 30.06.2015, Khoroshenko v. Russia, Nr. 41418/04, Rn. 121. 429  Menschenunwürdige materielle Haftbedingungen untergraben letztlich den Resozialisierungsgedanken; 3. Teil A. III. 4. 430  Die persönlichen Eigenschaften können sich demnach im Verlaufe der Zeit verändern und damit kann auch die Gefährlichkeit eines inhaftierten Täters dahinfallen, sodass eine Fortdauer des Freiheitsentzugs konventionswidrig wäre. 431  EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u. a., Rn.  112. 432  Laut EGMR kann man auch nicht von einem Inhaftierten erwarten, eine unbestimmte Anzahl an Jahren im Gefängnis auszuharren, bis er eine Klage anhängig machen kann, um eine Konventionsverletzung feststellen zu lassen: EGMR (GK), 09.07.2013, Vinter and others v. United Kingdom, Nr. 66069/09 u.a, Rn. 122. 433  Ronc, Lebenslange Verwahrung im Lichte der EMRK, S. 333 (350) m. w. N.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

II. Resozialisierung und Präventionsdogma im Strafrecht Zwar bemüht der Gerichtshof im Zusammenhang mit lebenslanger Haft immer wieder den Grundsatz der Resozialisierung des Häftlings.434 Während das Wegsperren von „gefährlichen Straftätern“ unter dem Titel des „Massnahmenrechts“ oder des „Massregelvollzugs“ in Europa stark zunimmt,435 propagiert der Gerichtshof das Bild eines auf Resozialisierung und soziale Wiedereingliederung hinarbeitenden europäischen Strafvollzugs. In normativer Hinsicht muss dem Gerichtshof zugestimmt werden, dass in Europa zumindest bis nach der Jahrtausendwende ein klares Bekenntnis zum Resozialisierungsgedanken vorherrschte. Dies unterstreicht er durch eine rechtssystematische Analyse der Entwicklung in Europa, die er als europäisches Bekenntnis zum Resozialisierungsgedanken zusammenfasst.436 In dynamisch-evolutiver Auslegung hat der Gerichtshof in den letzten Jahren eine prinzipielle Annäherung an die Thematik gewagt und dabei nicht bloss die Strafe an und für sich, sondern auch die Strafzwecke menschenrechtlich gewürdigt. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Nach alldem könnte man meinen, dass sich die Lage in menschenrecht­ licher Hinsicht insoweit verbessert, als übermässig langen Freiheitsentzügen ein konventionsrechtlicher Riegel vorgeschoben wird. Dies stimmt insofern, als die Freiheitsstrafe in Europa mehr und mehr zur Ausnahme geworden ist, was sich als Trend hin zu einer Abschwächung des Strafniveaus lesen ­liesse.437 Tatsächlich muss man aber konstatieren, dass gesamteuropäisch eine klare Tendenz in Richtung einer Präventions- und Sicherheitsgesellschaft überwiegt.438 Der Anspruch des Gerichtshofs auf soziale Wiedereingliederung stellt im Lichte solcher Tendenzen gewissermassen einen freiheitsrechtlichen Anachronismus dar. In der Literatur spiegelt sich die Entwicklung in markanten Thesen: es wird von „punitiver Segregation“,439 vom „Feindstraf434  3. Teil

A. II. 2. b) bb) (2). spricht zuweilen auch von einer punitiven Strömung. 436  Morgenstern, RW 2014, S. 153 (178). 437  Statistisch gesehen dominiert in westeuropäischen Staaten die Geldstrafe, während in den USA seit 40 Jahren eine neue punitive Gegenströmung zu verzeichnen ist; Bommer, ZStrR 2018, S. 117 (119). 438  Vgl. statt vieler: Albrecht P.-A., Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft, S.  667 ff.; Garland, Kultur der Kontrolle, S. 353 ff. 439  Garland, Punishment and modern society, S. 2016  f.; ders., The culture of control, S. 11; Fortete/Cesano, The Role of Victimization, Punitive Attitudes and the Mass Media, S. 53 (66 ff.); vgl. auch zum italienischen „diritto penale di emergenza“ M. Donini, ¿Una nueva edad media penal?, in: J. M. Terradillos Basoco/M. Acale Sánchez (Hrsg.), Temas de Derecho Penal Económico, Madrid 2004, 214 f. m. w. N. 435  Man



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 393

recht“440 und von der „Präventions- oder Sicherheitsgesellschaft“441 gesprochen. Akzentuiert hat sich die Situation durch das Phänomen des „Terrorismus“, das zu einem extremen Ruf nach Sicherheit – verstanden als Grundrecht – für die Mehrheitsgesellschaft geführt hat und dessen Präponderanz noch immer wächst.442 Das Strafrecht wird im Zusammenhang mit diesen Gefahrenquellen vermehrt als Sicherheitsgarant zweckentfremdet.443 Strafrecht kann aber nur begangenes Unrecht sanktionieren und bietet keinen Garant für künftige Sicherheit.444 Der Versuch, über das Strafrecht ein diffuses Sicherheitsbedürfnis der Mehrheitsgesellschaft zu befriedigen, ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Die Gewährleistung von Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft ist – ganz abgesehen von den multifaktoriellen politischen Bedingungen dieses Phänomens – eine genuine Aufgabe des Polizeirechts und daher dem Verwaltungsrecht angegliedert. Eine Verquickung des Sicherheitsgedankens mit dem Strafrecht führt in der Tendenz zu einer steten Verschärfung des Letzteren, insbesondere zu einer Fokussierung auf potenzielle Rückfalltäter, wie das vage (und zuweilen auch umstrittene) Konzept der „Gefährlichkeit“ eindringlich zeigt. Natürlich ist das Bedürfnis der Gesellschaft nach Sicherheit legitim.445 Es ist, wie bereits erwähnt, eine der wesentlichen Aufgaben und Legitimationsgründe des Strafrechts einer demokratischen Gesellschaft, für die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung und für Rechtsfrieden zu sorgen.446 Dennoch ist auf konventionsrechtlicher Ebene das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und Sicherheit von äusserster Brisanz. Die Konventions440  Jakobs, ZStW 1985, S. 751 (753); ders., Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, S. 47 ff. „Feinde“: Wenn und soweit Individuen bekämpft werden sollen, die sich in ihrer Haltung „vermutlich dauerhaft, zumindest aber entschieden vom Recht abgewandt haben, also die kognitive Mindestgarantie nicht leisten, die für die Behandlung als Person erforderlich ist: ders., Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 2004, S. 88 (92); ders., Strafrecht. Allgemeiner Teil: die Grundlagen und die Zurechnungslehre: Lehrbuch, 2. Aufl., Berlin 1991, 2/25c. Krit. bzgl. des Feindbegriffs und seiner analytischen Leistung: Ambos, ZStrR 2006, S. 1 (12 ff.). 441  Weiterführend Albrecht P.-A., Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft, Berlin 2010. 442  Vgl. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit: zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verrfassungsstaates, Berlin 1983; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S.  97 ff.; vgl. Klement, in: Hatje/Müller-Graff, EnzEuR, § 8 Rn. 91 ff. 443  Niggli, Vom Repressions- zum Präventionsstrafrecht, S. 13 (43). 444  Albrecht P.-A., ZStW 2006, S. 852 (852). 445  StGB PK-Trechsel/Borer, Art. 64 Rn. 2. 446  Hassemer, Warum Strafe sein muss, S. 115 ff. Zum Strafrecht als Instrument staatlicher Ordnungsfunktion vgl. Meyer F., ZStW 2011, S. 1 (3).

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

staaten sind nicht zuletzt im Bereich mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse verpflichtet, ihre Bürgerinnen und Bürger vor konkreten und unmittelbar bevorstehenden Angriffen oder Gefahren gegen deren körperliche und mentale Integrität zu schützen.447 Folglich haben Staaten nicht nur das Recht sondern u. U. auch die Pflicht, auf die Verletzung fundamentaler Rechtsgüter mit dem Schwert des Strafrechts zu reagieren.448 Die EMRK darf aber in diesem Konfliktlösungsprozess ihre Funktion als Garantin eines subsidiär greifenden europäischen Mindeststandards nicht aufgeben.449 Denn dadurch würde sie zu einem bedeutungslosen Minimalstandard verkümmern, mit dem sich ein glaubwürdiger und rational verankerter Menschenrechtsschutz nicht mehr betreiben liesse. Es ist daher eine elementar wichtige Frage, inwieweit das lebenslange, endgültige Wegsperren eines Menschen aus der freien Gesellschaft zu Zwecken der Retribution und der Verfolgung relativer Strafzwecke gerechtfertigt werden kann. Wird dem Individuum dadurch nicht seine menschliche Würde geraubt? Wenn ein Straftäter nicht mehr als Bürger mit Grundrechten und Grundfreiheiten gesehen wird, sondern (vorwiegend) als blosse Gefahrenquelle, als Objekt der Verbrechensbekämpfung, wird er in seiner Subjektstellung verletzt.450 Mit der Überzeichnung der Gefährlichkeit des „Feindes“ und der damit einhergehenden Einstufung des Häftlings als Gefahr kommt es zu einer (rechtlichen) Entpersonalisierung.451 Aus der Optik eines menschengerechten Strafrechts sind solche Entwicklungen höchst besorgniserregend. Denn eine strafrecht­liche Massnahme (Sanktion) gilt immer dem Menschen und muss 447  Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2012, S. 116 (123); ein Staat kann sich aus grundrechtlichen Erwägungen haftbar machen: Coninx/Mona, ZStrR 2017, S. 1 (3); zu mehrpoligen Grundrechtskonstellationen in der Rechtsprechung des EGMR s. Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (37); Mavronicola, MLR 2017, S. 1026 (1031). 448  Günther, Responsibility to Protect and Preventive Justice, S. 69 (86 ff.); vgl. Meyer F., ZStW 2011, S. 1 (13); Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 3 ff.; Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK-Handkommentar, Art. 2 Rn. 12; vgl. auch Pönalisierungspflichten im Zusammenhang mit Art. 4 EMRK: 3. Teil A. IV.; EGMR, 26.07.2005, Siliadin v. France, Nr. 73316/01. 449  Zum subsidiären Schutzcharakter der EMRK: 2. Teil A. I.–III. Verschiedene Einzelfragen rund um Entlassungsmechanismen und strafvollzugsrechtliche Spezifika eines Staates können hier nicht erörtert werden. Solche komplexen Fragen in einem Mehrebenensystem müssen in einem Verbundverhältnis zwischen Verfassungsrecht, den einschlägigen Gesetzen und der EMRK aufgelöst werden. 450  Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 26; Ronc, Lebenslange Verwahrung im Lichte der EMRK, S. 333 (350). 451  Ambos, ZStrR 2006, S. 1 (19) mit Verweis auf Jakobs., Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck in: Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge 390, Paderborn 2004, S. 44.



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 395

unter Achtung seiner Würde, die aus der menschlichen Existenz an sich folgt, auferlegt werden.452 Ein am Menschen und an der Menschenwürde orientiertes Strafrecht verbietet jedenfalls ein Feindstrafrecht, welches das Individuum als „Unperson“ qualifiziert. Ein Strafrecht für alle Menschen im hier verstandenen Sinne ist ein Strafrecht, das vom Einzelnen und seiner „unverbrüch­ lichen Menschenwürde ausgeht“453 sowie von der Selbstzweckhaftigkeit im Rahmen freier, gleicher und reziproker Anerkennungsverhältnisse beruht.454 Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich ein Paradigmenwechsel im Strafrecht vollzogen hat, der bis heute anhält. Auch der Gerichtshof vermag dem um sich greifenden Sicherheitsdogma der europäischen Mehrheitsgesellschaften im Strafrecht keine effektiven menschenrechtlichen Grenzen zu setzen. Der etwas schale Beigeschmack der konventionsrechtlichen Judikatur wurzelt zum einen darin, dass sich die EMRK gegenüber freiheitsentziehenden Massnahmen (insbesondere schuldübergreifender Teil der Haft, Massregelvollzug und Sicherungsverwahrung) äusserst permissiv zeigt: „States may fulfil that positive obligation to protect the public by continuing to detain life prisoners for as long as they remain dangerous“.455 Die Formel des EGMR, wonach ein (lebenslänglicher) Freiheitsentzug irgendwann (nach Ablauf des tat- und schuldproportionalen Teils) nur noch aufgrund der vom Täter ausgehenden „Gefährlichkeit“ legitimiert werden könne, nennt die Dinge beim Namen. Hinter dem gemeinhin als menschenrechtsfreundlich und fortschrittlich geltenden Vollzugsziel der Resozialisierung lauern daher insoweit Gefahren, als deren Wurzeln im Präventionismus liegen.456 Dadurch wird das Augenmerk einseitig auf die Gefährlichkeit des Täters gerichtet, verbunden mit einer sehr ausgeprägten (und vielleicht zu einseitigen) Fokussierung auf Therapieangebote und Therapiesettings.457 Daher wird hier plädiert, dass man sich des Risikos gewahr sein muss, dass die Rechtsprechung des EGMR in einen faktischen Therapiezwang für die betroffenen Personen umgedeutet werden kann, weil die Gefährlichkeit des untherapierten Täters einen lebenslänglichen Vollzug zu legitimieren vermag. Das Hauptproblem hierbei ist, dass Konventionsstaaten die materiellen Aus452  Ambos,

ZStrR 2006, S. 1 (20). ZStrR 2006, S. 1 (27) m. w. N. 454  Eser, FS Lüderssen, S. 195 (196 f., 203). 455  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 111. Vgl. zur nachträglichen Anordnung eines Massregelvollzugs: Ronc, Urteilsbesprechung Nr. 15, forumpoenale 2018, S. 156 (159 f.). 456  Weiterführend Coninx, Life whithout Parole for Preventive Reasons? Lifelong Post-sentence Detention in Switzerland, S. 435 (448 f.); Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (55 f.). 457  EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10; 3. Teil A. II. 2. b) bb) (3). 453  Ambos,

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

sagen von Sachverständigengutachten sozusagen als Passepartout nutzen können, um Häftlinge beliebig lange in Haft zu belassen. Nach Verbüssung des schuldangemessenen und tatproportionalen Teils der Strafe darf dies einzig aus Gründen der Gefährlichkeit und des daraus präsumierten Risikos für die Gesellschaft vorkommen. Dass der individuelle Menschenrechtsschutz in Bezug auf verbindliche Feststellungen des Rückfallrisikos durch Sachverständige zahnlos ist, zeigt sich deutlich in der Rechtssache Léger458. Der Beschwerdeführer wurde während über 40 Jahren in Haft belassen, da Experten der Ansicht waren, man könne nicht mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit ausschliessen, dass er eines Tages erneut delinquiert.459 Bei diesem Massstab dürfte man aber, so der unterlegene Richter Mularoni, keinen zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Menschen je wieder aus der Haft entlassen. Daher ist die eigentliche Crux in solchen Fällen die Risikobeurteilung. Inwieweit ein Risiko konkret und substantiiert sein muss, fällt in die nationale Entscheidhoheit der Mitgliedstaaten. Deren Beurteilung wird vom EGMR – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – materiell nicht hinterfragt. Entscheidend ist lediglich, dass überhaupt eine Risikobeurteilung vorgenommen wird. Nach dem Gesagten ist nur schwerlich ersichtlich, wie das „Recht auf Hoffnung“ aufrechterhalten werden kann, wenn diese Hoffnung aufgrund angeblich höher zu gewichtender Sicherheitsinteressen der Gesellschaft stets enttäuscht wird. Unklar ist, inwieweit das Mittel der Neutralisierung von Tätern (zugunsten grösserer Sicherheit für die Öffentlichkeit) als prädominantes oder gar ausschliessliches Vollzugsziel menschenrechtlich zulässig sein kann. Hierbei stellt sich angesichts der EGMR-Judikatur die berechtigte Frage, ob man einen Menschen als „nicht therapierbar“ einstufen darf, um ihn dann eben deswegen (potenziell) lebenslang zu inhaftieren.460 Soweit 11.04.2006, Léger v. France, Nr. 19324/02. Urteilsbesprechung bei Ronc, Das Konzept der Resozialisierung in der EMRK, S. 33 (53 ff.). 460  Vgl. aber den Wortlaut des Gerichtshofs in: EGMR (GK), 26.04.2016, Murray v. Netherlands, Nr. 10511/10, Rn. 108: „the likely chances of success of any identified forms of treatment, given that Article 3 cannot entail an obligation for a State to enable a life prisoner to receive treatment that is not realistically expected to have any significant impact in helping the life prisoner to rehabilitate himself or herself. For this reason, account is to be taken of the life prisoner’s individual situation and personality. The Court, moreover, recognises that certain mental health conditions are not, or not easily, amenable to treatment. Given that, owing to their mental health situation, such life prisoners may not themselves be sufficiently aware of a need for treatment, the aforementioned assessment should be conducted regardless of whether any request for treatment has been expressed by them“ (Hervorhebung durch Autor). 458  EGMR, 459  S.



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 397

aber der EGMR zu akzeptieren scheint, dass nationale Instanzen mit dem Argument der fehlenden positiven Behandlungsperspektive operieren, gilt es zu bedenken, dass das Etikett „nicht behandelbar“ keineswegs einzig und allein der jeweiligen inhaftierten Person angeheftet werden kann; vielmehr hängt es in massgeblicher Art und Weise vom therapeutischen Angebot und Umfeld ab und ist insoweit „gesellschaftlich mitverursacht“.461 Diese Pro­ blemlage verschärft sich noch vor dem Hintergrund der anzunehmenden Fehlerquote bei Gefährlichkeitsprognosen. Und genau hier müsste ein effektiver, glaubwürdiger Schutzanspruch der Menschenwürde ansetzen, um einer vorwiegend utilitaristischen Optik im Strafrecht ontologische Grenzen zu setzen. Inwieweit die Rechtsprechungslinie des EGMR effektiv zu einer die Menschenwürde wahrenden Haft beigetragen hat, bleibt abzuwarten. Es sind jedenfalls einige kritische Punkte aufgedeckt worden, die der Gerichtshof aufmerksam begleiten sollte, um dem Ziel eines gerechten und vor allem menschengerechten Freiheitsentzugs näher zu kommen. Die zuvor als anachronistisch bezeichnete Stossrichtung hat daher, wenn man die Dinge realistisch betrachtet, einer Rechtsprechungslinie Platz gemacht, die sich viel eher in die momentan vorherrschende Präventionslogik einpasst. Zu fordern ist jedenfalls, dass unverhältnismässig hohen Sicherheitserwägungen der Öffentlichkeit auch auf Ebene der EMRK Grenzen gesetzt werden. Denn menschenrechtlich problematisch ist der lebenslange Verbleib in Haft eigentlich nur dann, wenn dahinter nicht retributive Gründe stehen, sondern vielmehr mangelnde Resozialisierung (Spezialprävention) aufgrund nicht erreichter Präventionsziele. Weiter bleibt kritisch anzumerken, dass aus der Rechtsprechung nicht hervorgeht, bis zu welcher Haftdauer abstrakte Gefährlichkeits- und Risikokalkulationen gemessen an der Konventionswidrigkeit „grob unverhältnismässiger Strafen“462 und dem konventionsrecht­ lichen Menschenwürdeschutz zulässig sind. In anderen Zusammenhängen hat der EGMR festgehalten, dass der menschenrechtliche Standard nicht einem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis geopfert werden dürfe.463 Hierzu eignet sich die in Art. 3 EMRK eingebettete Verhältnismässigkeitsprüfung464 bei Freiheitsstrafen.465

461  Albrecht

P., ZStrR 2006, S. 68 (80). 10.04.2012, Babar Ahmad and others v. United Kingdom, Nr. 24027/07 u. a., Rn.  235; Habibzadeh/Rahiminejad/Mirmajidi, Intl. J. H.S.S. 2012, S. 43 (44 ff.). 463  Leutheusser-Schnarrenberger, Zwischen Freiheit und Sicherheit, S. 175 (178). 464  Konventionswidrigkeit grob unverhältnismässiger Strafen. 465  Oder über Art. 5 Abs. 1 EMRK. 462  EGMR,

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

III. Menschenwürde und Isolationshaft Grundlegende Kritik ist angebracht in Bezug auf Einzelhaft. Der Mensch ist von Natur aus kein isolierter Einzelgänger, sondern konstituiert sich in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft in kommunikativem Austausch. Daher erscheint es auch im Lichte der Menschenwürde im Grundsatz kohärent, wenn der Gerichtshof fordert, dass für adäquate mentale und körperliche Stimulierung gesorgt wird, um Folgeschäden der Einzelhaft entgegenzuwirken.466 Klar ist, dass Sinnesisolierung, verbunden mit einer absoluten sozialen Isolierung, welche zur Zerstörung der Persönlichkeit führen kann, den Menschenwürdekern verletzt und daher konventionswidrig ist.467 Dass sich aber im Graubereich der relativen sozialen Isolation Probleme auftun, wurde bereits angesprochen. Der Gerichtshof sieht in einem solchen Haftregime keine Konventionsverletzung, wenn hinreichende sachliche Gründe vorliegen und die Gefangenen genügend Möglichkeit haben, sich über Zeitungen und dergleichen zu informieren und Kontakte zu den Aufsehern unterhalten.468 Zu fordern ist, dass Isolations- bzw. Einzelhaft nur im äussersten Notfall angeordnet und zeitlich auf das absolut Notwendige beschränkt wird. Nicht zulässig ist ein restriktiveres Strafregime, das am Sanktionstyp bzw. der Strafhöhe und nicht an einer etwaigen individuell-konkreten Gefährlichkeit des Strafhäftlings anknüpft.469 In der Rechtsprechung zeigt sich eine Tendenz, die Evaluation des individuellen Gefährlichkeitspotenzials mehr oder weniger unhinterfragt den Konventionsstaaten zu überlassen. So hat es der Gerichtshof in einem Fall, bei dem ein Häftling durch Verlegung in einen Hochsicherheitstrakt einer relativen sozialen Isolation ausgesetzt wurde, für ausreichend erachtet, dass sich der Betroffene früher einmal der Verhaftung entzogen hatte und wegen mehrerer schwerer Verbrechen verurteilt worden war.470 Die Anerkennung des Menschen als soziales Wesen muss auch im Bereich der relativen sozialen Isolationshaft zu einer restriktiveren Praxis führen.471 Hierzu sollte sich der Gerichtshof im Bereich der relativen sozialen Isolation dezidiert mit der vermeintlichen individuellen Gefährlichkeit des Häftlings 466  3. Teil A. III. 4. c) ee); EGMR, 10.04.2012, Babar Ahmad v. United Kingdom, Nr.  24027/07 u. a., Rn.  200 ff. 467  3. Teil A. III. 4. c) ee); EGMR (GK), 04.07.2006, Ramirez Sanchez v. France, Nr. 59450/00, Rn. 120 ff. 468  EGMR, 04.02.2003, Lorsé and others v. Netherlands, Nr. 52750/99, Rn. 65 ff. 469  EGMR, 08.07.2014, Harakchiev and Tomulov v. Bulgaria, Nr. 15018/11 u. 61199/12, Rn. 204; s. CPT, 11. General Report (CPT/Inf [2001] 16). 470  EGMR, 04.02.2003, Lorsé and others v. Netherlands, Nr. 52750/99, Rn. 67. 471  Zum Menschenbild und Wesen des Menschen: 2. Teil A. IV. 2.



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 399

befassen und sich auch über die Substantiiertheit und Begründetheit einer solchen Massnahme ein Bild machen. Ferner ist dem CPT zuzustimmen, wenn es festhält, dass auch eine relative soziale Isolation im Lauf der Zeit schwerwiegende negative Folgen hat, die nicht einfach durch Fernsehen und Telefonkontakte kompensiert werden können.472 Isolations- und Einzelhaft sind meist mit Routinekontrollen verbunden, bei denen sich Insassen ausziehen müssen und u. U. einer Kontrolle des Analbereiches unterzogen werden (Strip Searches). Auch das Anlegen von Handschellen bei jedem Verlassen der Haftzelle, ohne dass dies durch eine reelle vom Häftling ausgehende Gefahr gerechtfertigt wäre, degradiert diesen zu einer reinen mutmasslichen Gefahrenquelle.473 In ungerechtfertigten Leibesinspektionen sieht der Gerichtshof eine Verletzung der Menschenwürde („diminishes human dignity“).474 Wenn Gefangene ohnehin anderweitig kontrolliert und überwacht werden, können strip searches von den Gefangenen als extrem schikanös erlebt werden und Stress und Minderwertigkeitsgefühle auslösen, welche die Demütigungsschwelle von Art. 3 EMRK überschreiten.475

472  EGMR (GK), 12.05.2005, Nr. 46221/99, Rn. 195: „The Court notes the CPT’s recommendations that the applicant’s relative social isolation should not be allowed to continue for too long and that its effects should be attenuated by giving him access to a television and to telephone communications with his lawyers and close relatives“. 473  Vgl. EGMR, 20.01.2011, Kashavelov v. Bulgaria, Nr. 891/05, Rn. 39. 474  Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Verhinderung von Straftaten sind strip searches erlaubt; sie müssen allerdings angemessen durchgeführt werden: EGMR, 26.09.2006, Wainwright v. United Kingdom, Nr. 12350/04, Rn. 45 ff.; EGMR, 04.02.2003, Lorsé and others v. Netherlands, Nr. 52750/99, Rn. 74; ferner EGMR, 05.10.2017, Artur Pawlak v. Poland, Nr. 41436/11, Rn. 56: „The Court has even more misgivings with regard to the full body search to which the applicant was likewise subjected daily, or even several times a day, whenever he left or entered his cell. Strip searches were carried out as a matter of routine and were not linked to any specific security needs, or to any specific suspicion concerning the applicant’s conduct. It has not been shown by the Government that such systematic searches were necessary to ensure prison security“. 475  EGMR, 03.11.2015, Chyla v. Poland, Nr. 8384/08, Rn. 99: „Having regard to the fact that the applicant was already subjected to several other strict surveillance measures and that the authorities did not rely on any specific or convincing security requirements, the Court considers that the practice of daily strip-searches applied to him for three years and ten months must have diminished his human dignity and caused him feelings of inferiority, anguish and accumulated distress which went beyond the unavoidable suffering and humiliation involved in the imposition of pretrial detention“.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

IV. Menschenwürde und Beweisverwertung Die Würde wird bei der Beurteilung verfahrensrechtlicher Fragen i. S. v. Art. 6 nicht explizit interpretationsleitend herangezogen. Lediglich im eng begrenzten Problemkomplex der Verwertung von durch Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung erlangter Beweise spielt die Würde im Zusammenhang mit Art. 6 EMRK eine gewisse Rolle. Allerdings unterscheidet der Gerichtshof, wie bereits dargelegt, zwischen Folter auf der einen Seite und unmenschlicher und erniedrigender Strafe und Behandlung auf der anderen Seite. Der Gerichtshof hat bislang keine überzeugenden Gründe angegeben, weshalb bei einer Würdeverletzung in Gestalt unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung eine Kompensation – etwa in Form der Anfechtbarkeit des Beweises – möglich sein soll, hingegen nicht bei der Folter.476 Gemäss der Konventionslogik und der Normstruktur von Art. 3 EMRK ist eine norminterne Differenzierung nicht überzeugend; sie führt zu Wertungswidersprüchen und zu einer Relativierung des Schutzanspruches. Daher ist Meyer F. zuzustimmen, wenn er fordert, dass die Absolutheit des Schutzanspruchs sich konsequent auch in der „Wiederherstellung des beweistechnischen Status quo ante“ widerspiegeln sollte.477 Zudem fehlt auch ein überzeugender Grund, warum die Erlangung eines körperlichen Beweises („real evidence“) in jedem Fall weniger schwer wiegen soll als die Erzwingung einer Aussage. Die Unterscheidung insinuiert, dass die Verletzungstatbestände der Unmenschlichkeit und Erniedrigung von geringerer Relevanz sind als Folter i. e. S. und dass beide daher gegeneinander aufgewogen werden könnten.478 Dagegen muss eingewandt werden, dass der in Art. 3 EMRK enthaltene Menschenwürdekern in dieser Hinsicht nicht graduierbar ist. Unterschiedlich ist lediglich der jeweilige normative Anknüpfungspunkt. Während die Schutzdimension bei der unmenschlichen Behandlung eher auf Aspekte der physischen Grausamkeit und Schmerzleiden gerichtet ist, liegt der Schwerpunkt bei der Erniedrigung in der Missachtung des sozialen Achtungsanspruchs und im psychischen Leid, das bspw. von einer schweren Demütigung bewirkt wird. Soweit das für den absoluten 476  Nur bei körperlichen Beweisen ist Folter als absolutes Beweisverwertungsverbot der EMRK zu erachten: vgl. Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des EGMR, S. 83. 477  Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 6 Rn. 133; unter Verweise auf Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, S. 78 (79); vgl. ferner Esser, NStZ 2008, S. 657 (658 ff., 662). 478  Dies wird zuweilen auch im Schrifttum so reproduziert, indem wiederholt festgehalten wird, dass eine staatliche Erniedrigung die schwächste Stufe von Art. 3 EMRK sei; statt vieler: Schneider, Beweisverbote aus dem Fair-Trial-Prinzip des Art. 6 EMRK, S. 153.



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 401

Schutzkern relevante Mindestmass an Eingriffsintensität – in welcher Form auch immer – erreicht wurde, ist eine interne Abstufung nicht mehr zulässig. Dies sollte sich auch im Beweisrecht niederschlagen; nach hier vertretener Ansicht kommt als adäquate Reaktion auf derartige Menschenwürdeverletzungen einzig ein selbständiges Beweisverwertungsverbot aufgrund einer Würdeverletzung nach Art. 3 EMRK in Betracht. Es ist letztlich schwer nachvollziehbar, wie ein rechtswidriges Verhalten staatlicher Behörden, welches diesen einen wesentlichen „Vorsprung“ ermöglicht, dennoch fair werden soll – umso mehr, als es sich bei einer Menschenwürdeverletzung stets um einen qualifizierten Rechtsverstoss handeln dürfte. Immerhin hat sich der EGMR alle Türen offengehalten, indem er es vermied, sich in eine dogmatisch allzu starre Beweisverwertungsregel hineinzumanövrieren. Ebenso ist zu begrüssen, dass der Gerichtshof anerkannt hat, dass in bestimmten Fällen die automatische Feststellung der Unfairness möglich sei.479 Gleichwohl wäre ein klares und deutliches Bekenntnis zur Menschenwürde wünschenswert und der Rechtsstaatlichkeit förderlich gewesen. Ein Staat, der glaubt, seine legitimen Strafverfolgungsinteressen (nur) unter Missachtung der Würde des Menschen realisieren zu können, droht zu einem Unrechtsstaat zu mutieren. Der betroffenen Person ist überdies wenig geholfen, wenn zwar ein Verstoss gegen die Menschenwürde i. S. v. Art. 3 EMRK festgestellt wird, die Verwertung des Beweises im Strafverfahren aber trotzdem zulässig ist. Dies stellt einen eklatanten Wertungswiderspruch dar, der wohl einzig einer ergebnisorientierten Herangehensweise geschuldet ist. Eine solche ist hier aber fehl am Platz, soll doch der Menschenwürdekern gerade als ontologisches Gegenprinzip zum Utilitarismus wirken, was einem grenzenlosen Interessenausgleich – zumindest im Kernbereich – entgegensteht. Dies muss ein liberaler Rechtsstaat aushalten können. Soweit Art. 3 EMRK absolut gilt, darf er nicht mit anderen Interessen in Ausgleich gebracht werden. Deshalb sollten Verletzungen des Art. 3 EMRK nach hier vertretener Ansicht ein selbständiges Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen. Denn soweit ein Schutzgut wie die Menschenwürde – in der konkreten Form des Verbotstatbestandes von Art. 3 EMRK – einer Abwägung nicht offensteht, muss das unter Verstoss gegen dieses Recht gewonnene „kontaminierte“ Beweismittel einem unbedingten Verwertungsverbot unterliegen. Alles andere kann nicht mehr als fair i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK erachtet werden. Es ist daher zu fordern, dass dem Menschenwürdekern, wie er insbesondere in Art. 3, aber auch in 8 EMRK statuiert ist, im Strafprozess hinreichend Rechnung getragen wird. Das Gebot jemanden menschenwürdig bzw. anstän479  EGMR

(GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 106.

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

dig im Strafverfahren zu behandeln, ist letztlich der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen geschuldet – ihm wird dadurch der Respekt erwiesen, der ihm qua seines Menschseins zusteht. Diese Forderung lässt sich substanziell aufgrund der besonderen Wertigkeit des Menschenwürdeschutzes begründen. Aber auch aus der Rechtsprechung des EGMR, welche effektive und praktikable Rechte garantieren soll, lässt sich dieses Postulat begründen.480 Würde man massive Einschränkungen des privaten Nahbereichs, der persönlichen Lebensgestaltung oder der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen (in Form einer vollkommenen Instrumentalisierung durch Polizei- oder Strafverfolgungsbehörden) zwar als Verletzung des Menschenwürdekerns verurteilen, aber dann im Rahmen der Beweisverwertungsfrage in Art. 6 EMRK unbeachtet lassen, käme dies einer massiven Relativierung dieses Schutzkonzeptes gleich. Letztlich würde dadurch auch die effektive Wirkung von Art. 3 und 8 EMRK unterminiert. Von einem glaubwürdigen Menschenwürdeschutz könnte so nur schwerlich die Rede sein. Als pragmatischer Weg wird deshalb hier vertreten, dass nicht jegliche konventionsrechtswidrige Beweiserlangung, wohl aber jene, die den Menschenwürdekern treffen, per se die Unfairness des Strafverfahrens konstituieren sollten und demzufolge zu einem Beweisverwertungsverbot führen müssen.481

V. Kerngehalt des fairen Strafverfahrens Dem EGMR zufolge müssen im Strafverfahren effektive Teilnahme- und Einwirkungsmöglichkeiten bestehen.482 Der Beschuldigte soll auf das Verfahrensergebnis einwirken können. Die konkreten Verteidigungsrechte gründen im Anspruch auf menschliche Autonomie,483 „Selbstbestimmung im Sein und Handeln“ und Anerkennung des Angeklagten als „Subjekt im Prozess“.484 480  S. bereits EGMR, 13.05.1980, Artico v. Italy, Nr. 6694/74, Rn. 37: „The Court recalls that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective“. 481  Vgl. Schneider, Beweisverbote aus dem Fair-Trial-Prinzip des Art. 6 EMRK, S. 65, der lediglich fordert, dass bemakelte Beweise bzw. Verletzungen von Art. 3 und 8 EMRK im Strafverfahren hinreichend gewürdigt werden müssen. 482  EGMR, 14.01.2003, Lagerblom v. Sweden, Nr. 26891/95, Rn. 49: „The Court notes that Article 6, read as a whole, guarantees the right of an accused to participate effectively in his criminal trial“. Er ist kein Instrument nationaler oder europäischer Kriminalpolitik, sondern Prozesssubjekt. 483  Vgl. zum Zusammenhang von Menschenwürde und Autonomie nur 2. Teil A. IV. 2. 484  Demko, Menschenrecht auf Verteidigung, S. 256. Das Konzept der aus der Würde des Menschen fliessenden Selbstbestimmung geht von der Legitimationsper­



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 403

Trotz alledem findet sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 6 EMRK kein normativ verankertes, aus der Menschenwürde fliessendes, die Prozesssubjektsstellung wahrendes Teilnahmerecht des Angeklagten am Strafprozess zu seiner effektiven Verteidigung.485 Das Strafverfahrensrecht ist Teil der gesamten Rechtsordnung und hat selbstredend die Menschenwürde und den Eigenwert des Individuums sicherzustellen.486 Die Achtung der Menschenwürde verlangt von den Strafverfolgungsorganen und Gerichten, dass sie die am Verfahren beteiligten oder von ihm betroffenen Privatpersonen als mit eigenen Rechten ausgestattete Subjekte des Verfahrens zu behandeln haben.487 Wenn und soweit man die Achtung der Würde ernst nehmen will, muss dieser Anspruch nach hier vertretener Auffassung auch in Art. 6 EMRK wirken. Dies impliziert unter anderem eine effektive Anerkennung des Menschenwürdekerns auch im Kontext von Art. 6 EMRK.488 spektive gegenüber jedem einzelnen Menschen aus; Gaede, Fragilität des Folterverbots, S. 155 (181). 485  A. A. Demko, Menschenrecht auf Verteidigung, S. 261; vgl. die bestehende Verbindung zwischen zu wahrender Menschenwürde des Angeklagten im Strafverfahren und dessen Anspruch auf ein faires Strafverfahren am Beispiel der schweizerischen StPO: Art. 3 (Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot), Abs. 1: „Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen“. Der Staat und seine Ziele stehen nicht als Selbstzweck da. Im Zentrum des Staates und seiner Rechtsordnung stehen das Wohlergehen und der Schutz des einzelnen Menschen (Botschaft zur StPO, S. 1128). Aus dem Fairnessgebot folgt, dass die Behörden die Verfahrensbetroffenen korrekt und unter Beachtung der Menschenwürde zu behandeln haben, wobei namentlich der Beschuldigte den Strafverfolgungsbehörden in besonderer Weise unterworfen ist und deshalb des Schutzes bedarf (Botschaft StPO, S. 1129). Mit dem nicht abstrakt definierbaren Fairnessgebot ist der Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör eng verbunden (Botschaft StPO, S. 1129). 486  EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02, Rn. 65: „The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom“. 487  Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 2; Meyer F., in: Wolter, SK-StPO/EMRK, Art. 6 Rn. 1, 15, 60, 61. Mit Blick auf das Strafrecht folgt aus dem Würdegedanken, dass der Mensch keine ungerechtfertigten Eingriffe in seine Subjektstellung erfahren darf; Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 277; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 357; vgl. EGMR, 21.06.2016, Ramois Nunes de Carvalho e sà v. Portugal, Nr. 55391/13 u. a., Rn. 96 („protection of the applicant’s dignity“). 488  Vgl. Meyer-Ladewig, NJW 2004, S. 981 (983), der vertritt, dass die Menschenwürde auch Art. 6 EMRK zugrunde liegt; vgl. Gaede, Angst und Streben nach Sicherheit, S. 155, 164 ff., 181 ff.; vgl. Ott, Der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“, S. 190. Vgl. auch BVerfG, NJW 2003, S. 1926: „Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern (…) vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Rechtliches Gehör sichert den Parteien ein

404

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Vorliegend ist danach zu fragen, was denn die Menschenwürde im Kontext von Art. 6 EMRK überhaupt zu leisten vermag. Zumindest kann der Rekurs auf die menschliche Würde begründen, dass der Beschuldigte Subjekt des Verfahrens zu sein hat.489 Dem Beschuldigten muss nach dieser Lesart – unabhängig davon, ob dies der Wahrheitsfindung entgegensteht oder nicht – sein Status als autonome Person und ein supranational geltender Mindestbestand an prozessualen Rechten gewährleistet werden.490 Prozesssubjektivität und damit die Subjektqualität des Menschen werden zuweilen auch mit der Autonomie des Menschen, sich im Prozess frei zu verteidigen und letztlich sein eigenes Verteidigungsdispositiv aufzustellen, gleichgesetzt.491 Das ist nicht nichts. Noch hat sich der Gerichtshof allerdings nicht bereit gezeigt, Art. 6 prinzipienbasierter auszulegen. Das Prinzip der Menschenwürde hat bislang bei der Auslegung dieses Justizgrundrechtes keine markante Rolle gespielt. Dies ist insoweit verständlich, als sich Art. 6 als relativ detaillierte Vorschrift präsentiert, die scheinbar ohne Rückgriff auf fundamentale Rechtsprinzipien handhabbar ist.492 Die Menschenwürde ist indessen zu offen und zu abstrakt, um komplexe Einzelfallfragen innerhalb einer nationalen Prozessrechtsstruktur lösen zu können. Diesen Anspruch muss man aber gar nicht erheben. Die Würde kann immerhin ein grobes Raster liefern, das bei der Auslegung der Einzelgarantien oder bei der Evaluation der Gesamtfairness heranzuziehen ist.493 Damit liesse sich viel gewinnen: Stringenz der Konventionsrechtsstruktur, normative Kohäsion über die einzelnen Konventionsgarantien hinaus und Stärkung eines glaubwürdigen, prinzipienbasierten Menschenrechtsschutzes im Kontext von Art. 6 EMRK. Recht auf Information, Äusserung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Insbesondere sichert es, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen auch gehört werden“. 489  Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 357: Der Subjektstellung muss auch im Strafverfahren dadurch entsprochen werden, dass dem Beschuldigten infolge seines umfassenden Freiheitsanspruchs im Verfahren Rechtspositionen zugewiesen sind, die zeigen, dass er als Subjekt und nicht als reines Objekt angesprochen und behandelt wird. Hiermit ist ein entscheidender Wertungsaspekt für ein faires Verfahren gelegt, der zudem durch den umfassenden Anspruch auf Behandlung als Rechtssubjekt eine qualitativ bedeutsame und nicht zu unterschätzende Grundaussage trifft. Wohlers, GA 2005, S. 11 (20). 490  Wohlers, GA 2005, S. 11 (22). 491  Vgl. EGMR (GK), 08.02.1996, John Murray v. United Kingdom, Nr. 18731/91, partly dissenting opinion of Judge Pettiti joined by Judge Valticos. 492  Mit Ausnahme des Rechtsstaatsprinzips, das regelmässig hinzugezogen wird. 493  Dahs, JR 2004, S. 96 (97).



E. Weiterentwicklungspotenziale der Theorieelemente 405

VI. Heimliche Ausforschung und der Kernbereich des Privaten Das grösste Potenzial für einen Einbezug der Würde besteht im Kontext des Instrumentalisierungsverbots, bspw. im Bereich verdeckter Ermittlungen. Dies könnte bei der Konturierung eines Kerngehalts des fairen Verfahrens („very essence of the right“) dienlich sein,494 der bislang als Konzept nebulös geblieben ist.495 Im Sinne des Rechtsstaatsprinzips ist zu fordern, dass dieser „harte Kern“ inskünftig von der „weicheren Peripherie“ besser abgegrenzt wird. Immerhin lässt sich festhalten, dass damit ein letztes Bollwerk gemeint ist, das niemals überschritten werden darf, auch nicht um der Interessen der Öffentlichkeit willen.496 Nach hier vertretener Ansicht wäre eine systematischere Betrachtung der tangierten Grundrechte insbesondere bei Lockspitzeleinsätzen wünschenswert. So müsste das zulässige Mass an Zwang bei einer verdeckten Ermittlung seine absolute Grenze in der Behandlung des Menschen als Objekt finden; umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass jedwede Verwehrung des Respekts vor der Subjektqualität eines Menschen unzulässig ist.497 Die Subjektqualität wird stets dann negiert, wenn dem Einzelnen die Fähigkeit genommen oder abgesprochen wird, sich selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu verhalten und sein Schicksal zu gestalten.498 Massgeblich ist somit auch das Ausmass an Beeinträchtigung der Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheit. Hier wäre an eine qualifizierte Willensbeeinträchtigung zu denken, die einer „Ausschaltung der Willensfreiheit und des Selbstbewusstseins gleichkommt“.499 Vorliegend interessiert lediglich, inwiefern würdegeprägte Kerngehalte ausdifferenziert und systematisiert werden könnten. Die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR ist noch sehr überschaubar. Zu den wenigen Erkenntnissen gehört, dass im Bereich höchstpersönlicher Intimität die Grenze des zulässigen Eingriffs in die Privatsphäre überschritten sein dürfte.500 Insbesondere sexuelle Beziehungen oder ein fingiertes Liebesverhältnis zwi494  Zum Konzept „the very essence“ von Art. 6 s. Goss, Criminal Fair Trial Rights, S.  191 m. w. N. 495  Goss, Criminal Fair Trial Rights, S. 192. 496  Vgl. EGMR, 21.12.2000, Heaney and McGuinness v. Ireland, Nr. 34720/97, Rn. 58; EGMR (GK), 11.07.2006, Jalloh v. Germany, Nr. 54810/00, Rn. 97. 497  „Jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt, ist schlichtweg verboten“: BVerfGE 115, 118 (153). 498  Tyszkiewicz, Tatprovokation als Ermittlungsmassnahme, S. 48. 499  Tyszkiewicz, Tatprovokation als Ermittlungsmassnahme, S. 51. 500  Hierzu bereits 3. Teil A. IV. 4. c) aa).

406

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

schen der betroffenen Person und einem verdeckten Ermittler sind daher als Verstoss gegen den Menschenwürdekern zu taxieren.501 Ein derartiger Übergriff stellt einen groben Missbrauch des menschlichen Bedürfnisses nach Sozialkontakten dar und erschüttert das Vertrauen der betroffenen Person auch in Bezug auf zukünftige Intimbeziehungen. Dasselbe trifft auf fingierte Freundschaftsbeziehungen zu, die nur zum Zweck der Informationsgewinnung über einen gewissen Zeitraum unterhalten werden. Auch hier wird die menschliche Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbestimmung, in Form der Freiheit, Sozialbeziehungen selbständig zu wählen, grob missachtet. Die Nähe von Art. 8 zur Menschenwürde besitzt das Potenzial, eben diesen Kernbereich um eine weitere Dimension anzureichern: Mit der „freien Entfaltung der Person“ muss nämlich auch die Entfaltung eines persönlichen Kernbereichs gemeint sein, der das Wesen des Menschen als autonomen und gemeinschaftsbezogenen Bürger ausmacht.502 Deshalb ist in Art. 8 EMRK i. V. m. der Menschenwürde ein unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit angelegt, der der öffentlichen Gewalt entzogen sein sollte. Diesen Kern bilden die Intimsphäre und die engere Sozialsphäre.503 Dadurch wird das Privatleben nicht vollständig einem derogierenden Utilitarismus nationaler ­Gesetzgebung überlassen. Dabei geht es, um die treffende Formulierung von Luhmann zu zitieren, um die private Regie der Selbstdarstellung:504 Wo immer diese verhindert oder umfunktioniert wird, soll in Wahrheit die ­ ­geistig-seelische Identität und Integrität verletzt, das Individuum in seinem Selbstbewusstsein gekränkt und letzten Endes zerstört werden.505 Ein solches Grenzen missachtendes, zweckgerichtetes Handeln ist letztlich ein Charakteristikum des totalen Staates, der den Menschen bis in sein Innerstes vereinnahmen will; mit dem Geist der Konvention sind derartige Praktiken nach Auffassung des Autors absolut unvereinbar.

F. Zusammenfassende Schlussbetrachtungen In den Debatten der Entstehungszeit der EMRK wurde die Menschenwürde als Begriff zur Begründung und Anerkennung sittlich verbindlicher Inhalte insb. Meyer F., ZStrR 2016, S. 445 (460 f.). zum Menschenbild der EMRK: 2. Teil A. IV. 2. Die Interpretation des Privatlebens ist nicht allein eine Frage der subjektiv-rechtlichen Gewährleistung des Art. 8 Abs. 1 EMRK, sondern sie ist in ein Gesamtgefüge einzubetten und in einen dogmatischen Zusammenhang mit der Menschenwürde, insb. mit ihren materialen Ausprägungen (s. 4. Teil C.), zu bringen. 503  Nettesheim, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 9 Rn. 24. 504  Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 53 ff., 73 f. 505  Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 73 f. 501  S.

502  Vgl.



F. Zusammenfassende Schlussbetrachtungen407

staatlicher Ordnung verwendet.506 Der Staat soll nicht alles tun dürfen, was ihm beliebt, und auch der Gesetzgeber soll nicht alles regeln können, wie es ihm beliebt. Dies setzt aber einen vorstaatlichen Zweck voraus, der in der EMRK selbst nicht explizit enthalten, jedoch in den Gründerdebatten deutlich zum Ausdruck gekommen ist: die Menschenwürde.507 Auf allgemeiner Ebene hat dieses präpositive, vorstaatliche Wertverständnis508 – im Verbund mit anderen Konstitutionsprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – zur Folge, dass der Staat um des Menschen willen existiert und nicht umgekehrt.509 Der EGMR hat die Menschenwürde zur Wertentscheidung europäischer Demokratien erhoben, die auf die gesamte EMRK ausstrahlt. Ihr prominenter Einbezug führt zu einem „Denken vom Menschen her“.510 Der Menschenwürdeansatz wurde in der Rechtsprechung zwar früh eingebracht, aber nur allmählich in seinem Gehalt entwickelt und in der Rechtskultur der EMRK konkret verankert. Der Rechtsinhalt der Menschenwürde ist „zeit-, raum- und kulturabhängig“.511 Ihre Entfaltung und Konturierung erfolgt im Rahmen der Systematik und Logik der EMRK.512 Dadurch zeichnet sich allmählich ein immer ganzheitlicheres Bild der Menschenwürde in der Konvention ab. Es ist jedenfalls zu begrüssen, wenn der EGMR die ihn leitenden materiellen Grundprinzipien in seinen Urteilsgründen offenlegt, so wie er es in jüngster Zeit getan hat. Dies macht die Urteile rationaler und nachvollziehbarer und fördert die Herausbildung eines paneuropäischen Menschenwürdekonzepts. Die vorliegende Arbeit hat eine flächendeckende und vertiefte Analyse der Würde-Rechtsprechung des EGMR vorgenommen, ohne den Forschungsblick einseitig auf Art. 3 EMRK zu verengen und ohne einen konsequenten Abgleich mit Art. 1 GG herzustellen. Vielmehr wurde die Eigenlogik der Konvention, die einer autonomen Grundrechtskonzeption folgt, berücksich506  2. Teil

A. IV. A. Präambel, welche auf die AEMR („jeder ist frei und gleich an Würde und Rechten geboren“) verweist, liefert einen normtextlichen Anknüpfungspunkt. Ferner ZP Nr. 13. 508  Zum präpositiven Charakter vgl. ferner Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 1 N 57 f.; Lauterpacht, International Human Rights Law, S. 154  ff.; vgl. EGMR, 29.04.2002, Pretty v. United Kingdom, Nr. 2346/02. Für Kriele bildet die Würde das letzte, alle anderen rechtsethischen Prinzipien integrierende, Grundprinzip: Kriele, Recht, Vernunft, Wirklichkeit, S. 532. 509  Vgl. 2. Teil A. IV. 1. So bereits McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (679). 510  Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 101 unter Verweis auf Borowsky, in: Meyer, Kommentar EU-GRCh, Vor Titel I Rn. 1. 511  Mastronardi, Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit im Recht, S.  55 (55 ff.). 512  Insb. im Lichte der Auslegungsmethodik des EGMR; 2. Teil A. u. B. 507  Die

408

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

tigt.513 Einer der Schwerpunkte der Untersuchung lag auf der Aufdeckung würdegeprägter positiver Schutzgarantien in der Rechtsprechung des EGMR im Bereich des Strafrechts i. w. S. Ergänzend wurde auch die ausserstrafrechtliche Judikatur vertieft analysiert, um dem Anspruch einer ganzheitlichen Untersuchung gerecht zu werden. Nur so konnten der Begriff und die Funktion der Menschenwürde hinreichend erhellt werden. Die Menschenwürde in der EMRK ist eine normative Kategorie sui generis. Sie hat in den untersuchten Urteilen den Charakter von objektivem Recht.514 Die Konkretisierungen, die in der vorliegenden Untersuchung systematisch gewürdigt wurden, haben sich als durchaus heterogen erwiesen. Daher muss die Heterogenität der Menschenwürdekonkretisierung als prägender Teil ihrer Wirklichkeit (in der EMRK) taxiert werden.515 Da das menschliche Leben unendlich viele Facetten aufweist, verwundert es auch kaum, dass das Menschenwürdeverständnis zuweilen historisch und (rechts-)politisch bedingt ist.516 Idee und Begriff der Menschenwürde wurden und werden nicht in der Theorie entwickelt, sondern vielmehr durch die praktische Lebensrealität vieler Menschen genährt – durch jene Leben, die die menschliche Würde gegen Dritte, gegen sich selbst oder gegen den Staat behaupten.517 Der Gehalt der Würde lässt sich nicht auf eine Konventionsgarantie zurückführen oder mit ihr gleichsetzen.518 Sie hat verschiedenen Funktionsweisen. Ihr materialer Gehalt lässt sich nicht auf eine begriffliche Formel reduzieren, weil sie, wie sich gezeigt hat, zu vielschichtig ist.519 Die oben formulierten, induktiv gewonnenen materiellen Ausprägungen umkreisen mithin den Gehalt menschlicher Würde, ohne ihn zu erschöpfen. Insofern ist der Inhalt der Menschenwürde veränderlich.520 Die im Umkreis der Menschenwürde entstandenen Schutzbereichsaus­ prägungen bieten ein Bild rechtszivilisatorischer Errungenschaft, hinter die 513  Ungern-Sternberg,

EuGRZ 2011, S. 199 (199 ff.). B. I. Vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 399; ferner Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 182 f., der von einem subjektiven Grundrecht ausgeht. 515  S. insb. a. Mahlmann, Menschenwürde in Politik, Ethik und Recht, S. 267 (272). 516  Gearty, Principles of human rights adjudication, S. 87: „While human dignity seems to be a constant value, what gives human beings human dignity will be constituted by social and historical factors“. 517  Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 263. 518  So sind Versuche, die Menschenwürde mit Art. 3 EMRK gleichzusetzen, abzulehnen. 519  Eingehend zum materiellen Gehalt der konventionsrechtlichen Würde: 4. Teil C. 520  Allerdings sind die Prinzipien der Selbstzeckhaftigkeit und des intrinsischen menschlichen Eigenwertes überzeitlich zu verstehen. Was sie konkret beinhalten, ist hingegen dem Wandel der Zeit unterworfen. 514  4. Teil



F. Zusammenfassende Schlussbetrachtungen409

es kein Zurückfallen geben darf. Diesen Fortschritt gilt es zu erhalten und durchzusetzen. Ohne effektive Durchsetzung sind die Menschenwürdeurteile nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben stehen. Entscheidend sind daher die lokalen bzw. nationalen Grundrechtsregime, welche die Menschenwürde effektiv verbürgen müssen. Der EGMR hat den normativen Rahmen der Menschenwürde, der vorliegend anhand der Rechtsprechung nachgezeichnet wurde, vorgegeben. In der konkreten Umsetzung verbleibt den Staaten je nach Kontext ein systemadäquater Ermessensspielraum. Die nationalen Regime werden aber in ihrer Grundrechtskultur nicht nur von den internationalen und supranationalen Institutionen, wie dem EGMR, geprägt. Umgekehrt leisten die nationalen Grundrechtsregime einen geistig-­ kulturellen Beitrag zur Konventionsrechtsordnung, was anhand der Urteile zur lebenslangen Freiheitsstrafe exemplarisch aufgezeigt werden konnte.521 Was aus der Rechtsprechung deduziert werden kann, ist die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Als weiterer Baustein kommt das Wesen des Menschen hinzu, der in spezifischen Situationen als „besonders verletzlich“ und im empirischen wie im normativen Sinne achtungsbedürftig erscheint. Durch die Applikation eines minimalen Gleichheitssatzes wird die Idee, dass jeder Mensch einen intrinsischen Eigenwert besitzt, untermauert. Der Gerichtshof hat klar gemacht, dass er auf eine kohärente(re) und prinzipielle Rechtsprechungslinie hinarbeitet.522 Das Menschenwürdeargument ist demnach kein schlichtes rhetorisches Beiwerk, kein Hintergrundrauschen, sondern wesentlicher Bestandteil der Grundrechtsdogmatik des EGMR. Die Menschenwürde ist Begrenzung und Aufgabe staatlicher Gewalt und Macht­ ausübung zugleich; sie ist eine Grundbedingung der Möglichkeit einer normativen Ordnung paneuropäischer Prägung, die die Zustimmung aller Bürgerinnen und Bürger finden kann. Zwar liefert der Gerichtshof keine positive Definition der Menschenwürde; dafür gibt er diverse Anwendungsbeispiele eines konventionseigenen Achtungs- und Schutzanspruches der menschlichen Würde. So offenbart sich die Menschenwürde in der EMRK in der Zusammenschau aller Urteile des EGMR, aber auch der Normen und Dokumente, die er für seine Falllösung heranzieht. Der Gerichtshof entscheidet i. d. R. im Sinn eines Feststellungsurteils vom Verletzungsvorgang her. Diese negative Feststellungsmethodik wird auch in den meisten Staaten, welche die Menschenwürde als Grundrecht, Grundsatz oder oberstes Konstitutionsprinzip kennen, verwendet. Sie kann daher als taugliche und mittlerweile gefestigte Methodik des Gerichtshofs gelten. 521  2. Teil

B. II. 3.; 3. Teil A. II. 2. a) und 2. b). (GK), 28.09.2015, Bouyid v. Belgium, Nr. 23380/09, Rn. 45 („the concept of dignity“). 522  EGMR

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4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

Ob der Gerichtshof nicht willens oder nicht in der Lage ist, die mensch­ liche Würde materiell genauer zu definieren, kann vorliegend nicht endgültig beantwortet werden. Es ist anzunehmen, dass sich innerhalb der Richterschaft kein vollständiger Konsens über einen positiven Begriffsgehalt herausgebildet hat.523 Offensichtlich möchte sich der Gerichtshof auch künftig alle Türen offenhalten und bringt deshalb die Menschenwürde in gewohnter herantastender „Case-law-Manier“ fallbezogen ein. Dies verschafft ihm einerseits den Vorteil, dass er autonom darüber entscheiden kann, wann er mit der Menschenwürde argumentieren will und wann nicht.524 Andererseits leidet darunter die Rechtssicherheit, da es schwierig ist, vorab einzuschätzen, wie der Gerichtshof einen Fall – mit Blick auf einen potenziellen Menschenwürdebezug – bewerten wird. Allerdings haben sich mittlerweile Schutzbereiche ausgeformt und ausgehärtet, an welchen man sich als Rechtsanwender orientieren kann und an die sich der Gerichtshof gemäss seiner selbstreferenziellen Bindung halten muss.525 Weiter konnte eine normative Verknüpfung zwischen der Menschenwürde und der „Verletzlichkeit des Menschen“ („vulnerability of the person“) festgestellt werden. Die Kategorie der besonderen individuellen Verletzlichkeit dient dem EGMR dazu, Menschen in Situationen, die in seinen Augen immanent menschenwürdegefährdend sind, besonderen Schutz zuzusprechen. Dadurch anerkennt der Gerichtshof zum einen, dass wir grundsätzlich alle verwundbar sind, zum anderen aber auch, dass wir in unterschiedlichem Masse verwundbar sein können. Dank dieser binären Herangehensweise („vulnerable; not vulnerable“) kann er kontextsensitiv eine fehlende Machtbalance oder eine besondere Verwundbarkeit und Hilflosigkeit feststellen,526 ohne dadurch den Massstab der Menschenwürde aufzugeben. Indem der Gerichtshof spezifische Szenarien und Bedrohungslagen analysiert, kann er besser und empathischer auf den spezifischen Einzelfall eingehen.527 Unabhängig von der – zuweilen gerechtfertigten – Kritik am Konzept der Menschenwürde entwickeln sich Schritt für Schritt neue Schutzbereiche, die durch sie beeinflusst, gefordert oder legitimiert werden. Der Vorteil dieser schrittweisen Herangehensweise ist klar: Der EGMR braucht jeweils auf 523  Dies ist angesichts der unterschiedlichen rechtskulturellen Hintergründe der Richterinnen und Richter auch kaum denkbar. 524  Breuer, Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter, EnzEuR, § 7 Rn. 13, 17. 525  Der EGMR darf von einer geronnenen Rechtsprechungslinie nur unter restriktiven Bedingungen abweichen („compelling reasons“). 526  Vgl. Furusha, UCL JLJ 2016, S. 175 (184 ff.). 527  Heri, The rights of the vulnerable under Article 3 ECHR, S. 223: „[V]ulnerability means ensuring equal protection of dignity, and there can be no respect for dignity whithout an understanding of how vulnerable human beings are both to the denial of their dignity and to dignity-related harms“.



F. Zusammenfassende Schlussbetrachtungen411

hoch umstrittene Fragen „nur“ negative Antworten zu liefern,528 ohne positiv umschreiben zu müssen, was geschützt werden soll. Wenn man sich die von McCrudden anfangs erläuterte Unterscheidung zwischen einem „thick“ und einem „thin concept“ noch einmal vergegenwärtigt und auf die EMRK münzt, so kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass die Menschenwürde primär i. S. eines „thick concept“ zu verstehen ist.529 Die Würde nimmt eine massgebende Rolle im Auslegungsprozess ein.530 In der Rechtsprechung kommt ihr überdies eine dogmatische Funktion zu: Bei der Begründung einer teleologischen Extension über die Wortlautgrenze hinaus verhilft sie zur Schliessung echter Schutzlücken und als Menschenwürdekern zur Feststellung absolut inakzeptabler Handlungsformen und zur Legitimierung bzw. Begründung positiver Schutzpflichten.531 Die Untersuchung hat auch aufgezeigt, dass sich die Rechtsprechung insb. zu Art. 8 EMRK vermehrt mit Aspekten menschlicher Werthaftigkeit und Selbstzweckhaftigkeit auseinandersetzt. Dank dieser Judikate konnte es zur Aushärtung eines aus der Menschenwürde fliessenden Grundsatzes der Autonomie und persönlichen Selbstbestimmung kommen. Dabei hat sich die Menschenwürde als dynamischer Grundsatz erwiesen, der im Rahmen von Art. 8 nicht als starre und absolute Norm, sondern als richtungsweisender teleologischer Massstab erachtet werden kann, der bei der Schutzbereichskonkretisierung herangezogen wird.532 Wie bei allen fundamentalen Prinzipien – namentlich Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie –533 sind in der Menschenwürde keine klar deduzierbaren inhaltlichen Ausprägungen auszumachen. Würde man aus der Men528  Ist es erlaubt, jemanden in einem Metallkäfig vor Gericht aussagen zu lassen? Ist es einem Polizisten erlaubt, jemanden auf der Polizeiwache zu ohrfeigen? Etc. 529  Zu beiden Konzepten 4. Teil A. 530  Insbesondere bei der Schutzbereichskonturierung von Art. 3 EMRK: EKMR, 14.12.1973, East African Asians v. United Kingdom, Nr. 4403/70 u. a., Rn. 189; EGMR, 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, Nr. 5856/72, Rn. 33. 531  4. Teil B. II. von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 192. 532  4. Teil B. II. 1. b). Vgl. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 182. 533  In der Rechtssache Müsüm Gündüz werden Verbindungslinien zwischen Menschenwürde und Demokratie deutlich: EGMR, 04.12.2003, Müsüm Gündüz v. Turkey, Nr. 35071/97, Rn. 40: „Having regard to the relevant international instruments (see paragraphs 22-24 above) and to its own case-law, the Court would emphasise, in particular, that tolerance and respect for the equal dignity of all human beings constitute the foundations of a democratic, pluralistic society. That being so, as a matter of principle it may be considered necessary in certain democratic societies to sanction or even prevent all forms of expression which spread, incite, promote or justify hatred based on intolerance (including religious intolerance), provided that any ‚formalities‘, ‚conditions‘, ‚restrictions‘ or ‚penalties‘ imposed are proportionate to the legitimate aim pursued“; vgl. Meyer-Ladewig, NJW 2004, S. 981 (984).

412

4. Teil: Elemente einer Theorie der Menschenwürde in der EMRK

schenwürde einfach unbesehen ein Vollzugsziel der Resozialisierung deduzieren, würde man sich zumindest dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetzen. Um einen glaubhaften und sachlich nachvollziehbaren Würdestandard zu etablieren, muss sich der EGMR auf normative Massstäbe stützen, die sich der Integrität, der Verletzlichkeit oder schlicht dem eigentlich Menschlichen verschrieben haben. Diese Massstäbe müssen zudem in den europäischen Staaten von einem Konsens getragen werden. Insoweit kann auch die Menschenwürde in der EMRK nicht im luftleeren Raum erklärt und verstanden werden. Daher bestand ein zweites Standbein dieser Arbeit im Einbezug der Auslegungsmethodik des EGMR. Dabei wurden jeweils abwechslungsweise ein Menschenwürdeargument – sei dies unter Art. 3, 4 oder 8 EMRK – und die dahinterliegenden Rechtserkenntnisquellen in den Blick genommen.534 Durch eine schrittweise Konkretisierung dessen, was akzeptabel oder inakzeptabel bzw. zur Wahrung und Aufrechterhaltung des Menschlichen erforderlich ist, trägt der EGMR zur inhaltlichen Auffüllung der Menschenwürde bei. Um seine vereinheitlichende Würde-Rechtsprechung voranzutreiben, ist er auf eine Tendenz bzw. einen Konsens innerhalb der Europaratsstaaten angewiesen.535 Ein Zuviel an Progressivität kann letztlich auf Ablehnung der Konventionsstaaten stossen und das System der EMRK schwächen. Denn die Menschenwürde allein liefert wie bereits erwähnt keine genügend klaren Antworten, um komplexe Rechtsfragen lösen.536 Die vorliegende Arbeit wollte keine Letztbegründung der Würde erarbeiten, nicht zuletzt aufgrund der Einsicht, dass eine (unanfechtbare) Letzt­ begründung normativer Prinzipien ohnehin nicht erreichbar ist. Auch eine 534  Menschenwürde ist auf ein normatives Menschenbild als Ausgangs- und Endpunkt angewiesen, s. 2. Teil A. IV. 2. Wenn und soweit die Begründung von Normen unter Rekurs auf die Menschenwürde auf normativen Menschenbildern beruht, ist dies klarzumachen und offenzulegen. Nur so ist eine rationale Auseinandersetzung möglich. Diese Hintergrundannahmen sind soweit es geht offenzulegen, ansonsten sich der EGMR der Kritik der Beliebigkeit aussetzt. 535  Denn der EGMR muss sich der normativen Entwicklungen auf nationaler und/ oder internationaler Ebene vergewissern, bevor er rechtsfortbildend wirkt. Gerade bei offenen Rechtsbegriffen hat er sich eines Mindestmasses an Zustimmung der Vertragsstaaten zu vergewissern, sofern er das Konventionsrechtssystem auf lange Sicht nicht schwächen möchte. Dies gilt umso mehr, als sich mit der konventionsspezifischen Menschenwürde dezidiert rechtliche Bewertungen verbinden. 536  Adorno, JMP 2009, S. 223 (234). Allein kann sie kein zureichendes System bilden, welches es dem Rechtsanwender ermöglicht, zur unvermittelten Fallentscheidung anzusetzen. Der normative Orientierungsgehalt entwickelt sich gleichsam evolutiv – und ist insoweit historisch und politisch kontingent –, muss im Lichte der einschlägigen Konventionsnorm konkretisiert werden und entwickelt sich nach Massgabe der anerkannten Auslegungsmethoden. Über die Jahrzehnte hat sich so ein Aussagegehalt entwickelt, der nicht zu unterschätzen ist.



F. Zusammenfassende Schlussbetrachtungen413

endgültige Begriffsexplikation ist nicht möglich, wäre kaum zielführend und darüber hinaus auch praxisfern. Was hingegen definitiv gezeigt werden konnte, ist, dass sich der Anwendungsbereich der Menschenwürde weit über Art. 3 EMRK hinaus erstreckt. Es stimmt nicht, dass Art. 3 einfach zu einer allgemeinen Menschenwürdegarantie entwickelt wird, wie zuweilen behauptet wird.537 Dies griffe eindeutig zu kurz und ist daher in dieser Form falsch. Vielmehr entwickelt sich langsam, aber kontinuierlich eine eigene, umfassende Begrifflichkeit bzw. ein eigener Normtypus.538 Weiter konnte gezeigt werden, dass die Würde sehr funktional eingesetzt wird: als (vorstaatlicher) Fundierungsgrundsatz, zur Feststellung objektiven Unrechts, zum besonderen Schutz verletzlicher Personen, zur Schutzbereichserweiterung, als materielles Auslegungsprinzip oder als rechtspolitisches Postulat. Die Kritik, dass es zu einer möglichen Banalisierung des Rechtsbegriffs Menschenwürde kommen könnte, muss man ernst nehmen. Es besteht durchaus die Gefahr einer Entwertung dieses Begriffes, und zwar genau dann, wenn der Gerichtshof konzeptlos mit ihm herumhantiert und keine sorgfältige Differenzierung der würderelevanten von den nicht würderelevanten Sachverhalten vornimmt.539 Der Gerichtshof zeigt aber bislang grosses Fingerspitzengefühl und lässt sich nicht auf Schnellschüsse oder unbesehene Anpassungen an irgendeinen gerade grassierenden Zeitgeist ein. Solange er sich am Bedeutungskern der Menschenwürde orientiert und auf interpretatorische Experimente an den Rändern des Begriffs verzichtet, ist die Menschenwürde nicht in Gefahr, jeglichen semantischen Gehalt zu verlieren. Vielmehr bieten engere Schutzbereiche, die nicht alle legitimen privaten Interessen erfassen, besseren Schutz und sorgen zudem für eine klarere Gewaltenteilung zwischen Judikative und politischem Prozess, was letztlich dem EGMR zu mehr Legitimität verhilft.

537  Morgenstern, RW 2014, S. 153 (187). Zu vielfältig ist ihr Anwendungsbereich: Jeannin, Le principe de dignité dans l’espace de la Convention européenne des droits de l’homme: la construction prétorienne d’un concept, S. 176 (186). 538  Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 359; Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 201. 539  Vgl. Meyer F./Wieckowska, forumpoenale 2016, S. 376 (376  f.): „Einfache Grundrechtsverstösse (z. B. Verhältnismässigkeitsüberschreitungen) werden zu Dignitätsverletzungen überhöht, wollte man bei jedem Zusammentreffen mit Strafverfolgungsbehörden eine besondere Unsicherheit und Verletzlichkeit annehmen. Das wird weder dem Begriff der Menschenwürde noch dem Kern des Schutzgehalts von Art. 3 gerecht. Man trivialisierte damit die Mindestschwereschwelle für die erniedrigende Behandlung. Es ist zu begrüssen, wenn der EGMR durch die schärfere Herausarbeitung des Menschenwürdebezugs das Wesen der erniedrigenden Behandlung besser konturiert. Er sollte sie aber nicht im nächsten Schritt gleich wieder banalisieren, sondern auf eine Mindestgravität achten“.

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Materialienverzeichnis Europarat/Council of Europe und Europäische Union/European Union Additional Protocol to the Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine, on the Prohibition of Cloning Human Beings from 12. January 1998, ETS No 168 Collected edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, Bd. I–XIII, Council of Europe, Le Haye 1975–1985 (zit. Travaux Préparatoires zur EMRK) Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine from 4 April 1997, ETS No 164 Council of Europe Annual Penal Statistic, PC-CP (2011)3, SPACE I – Prison Population, Survey 2009 Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings from 16 May 2005, ETS No 197 Explanatory Report to Protocol Nr. 13 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, Concerning the Abolition of the Death Penalty in all Circumstances from 3 Mai 2002, ETS No 187 Framework Convention for the Protection of National Minorities from 1 February 1995, Council of Europe, ETS No157 Guidelines H (2002) 4 on Human Rights and the Fight against Terrorism, adopted by the Committee of Ministers at its 804th meeting on 11 July 2002 Guidelines of the Committee of Ministers of the Council of Europe on child friendly justice, adopted by the Committee of Ministers of the Council of Europe on 17 November 2010 and explanatory memorandum Recommendation 1046 (1986), Use of human embryos and foetuses for diagnostic, therapeutic, scientific, industrial and commercial purposes, adopted by the Assembly on 19 and 24 September 1986 (13th and 18th Sittings) Recommendation No R (87) 3 of the Committee of Ministers to Member States on the European Prison Rules, adopted by the Committee of Ministers 12 February 1987 Recommendation No R (92) 18 of the Committee of Ministers to member states concerning the practical application of the convention on the transfer of sentenced persons, adopted by the Committee of Ministers on 19 October 1992 at the 482nd meeting of Ministers’ Deputies

446 Materialienverzeichnis Recommendation No R (93) 6 of the Committee of Ministers to member states concerning prison and criminological aspects of the control of transmissible diseases including AIDS and related health problems in prisons, adopted by the Committee of Ministers on 18 October 1993 at the 500th meeting of Ministers’ Deputies Recommendation 1295 (1993) on Ethics of Journalism, Parliamentary Assembly, Assembly debate on 1 July 1993 on 42nd Sitting Recommendation No R (97) 12 of the Committee of Ministers to member states on staff concerned with the implementation of sanctions and measures, adopted by the Committee of Ministers on 10 September 1997 at the 600th meeting of Ministers’ Deputies Recommendation No R (98) 7 of the Committee of Ministers to member states concerning the ethical and organisational aspect of health care in prison, adopted by the Committee of Ministers on 8 April 1998 at the 627th meeting of Ministers’ Deputies Recommendation 1418 (1999), Protection of the human rights and dignity of the terminally ill and the dying, adopted by the Assembly on 25 June 1999 (24th Sitting). Recommendation No R (99) 19 of the Committee of Ministers to member states concerning mediation in penal matters, adopted by the Committee of Ministers on 15 September 1999 at the 679th meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation No R (99) 4 of the Committee of Ministers to member states on principles concerning the legal protection of incapable adults, adopted by the Committee of Ministers on 23 February 1999 at the 660th meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation No R (99) 22 of the Committee of Ministers to member states concerning prison overcrowding and prison population inflation, adopted by the Committee of Ministers on 30 September 1999 at the 681st meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation Rec (2000) 22 of the Committee of Ministers to member states on improving the implementation of the European rules on community sanctions and measures, adopted by the Committee of Ministers on 29 November 2000 at the 731st meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation Rec (2003) 22 of the Committee of Ministers to member states on conditional release (parole) and explanatory memorandum, adopted by the Committee of Ministers on 24 September 2003 at the 853rd meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation Rec (2003) 23 of the Committee of Ministers to member states on the management by prison administrations of life sentence and other long-term prisoners, adopted by the Committee of Ministers on 9 October 2003 at the 855th meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation 1666 (2004) Europe wide ban on corporal punishment of children, adopted by the Assembly on 23 June 2004 (21st Sitting)

Materialienverzeichnis447 Recommendation Rec (2006) 2 of the Committee of Ministers to member states on the European Prison Rules, adopted by the Committee of Ministers on 11 January at the 952nd meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation Rec (2006) 13 of the Committee of Ministers to member states on the use of remand in custody, the conditions in which it takes place and the provision of safeguards against abuse, adopted by the Committee of Ministers on 27 September 2006 at the 974th meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation CM/Rec (2008) 11 of the Committee of Ministers to member states on the European Rules for juvenile offenders subject to sanctions or measures, adopted by the Committee of Ministers on 5 November 2008 at the 1140th meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation CM/Rec (2010) 1 of the Committee of Ministers to member states on the Council of Europe Probation Rules, adopted by the Committee of Ministers on 20 January 2010 at the 1075th meeting of Ministers’ Deputies Recommendation CM/Rec (2012) 5 of the Committee of Ministers to member States on the European Code of Ethics for Prison Staff, adopted by the Committee of Ministers on 12 April 2012 at the 1140th meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation CM/Rec (2012) 12 of the Committee of Ministers to member States concerning foreign prisoners, adopted by the Committee of Ministers on 10 October 2012 at the 1152nd meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation CM/Rec (2014) 3 of the Committee of Ministers to member States concerning dangerous offenders, adopted by the Committee of Ministers on 19 February 2014 at the 1192nd meeting of the Ministers’ Deputies Recommendation CM/Rec (2014) 4 of the Committee of Ministers to member states on electronic monitoring, adopted by the Committee of Ministers on 19 February 2014, at the 1192nd meeting of the Ministers’ Deputies Resolution 1577 (2007), Towards decriminalisation of defamation, adopted by the Assembly on 4 October 2007 (34th Sitting) Resolution 1649 (2009), Palliative care: a model for innovative health and social policies, adopted by the Assembly on 28 January 2009 (6th Sitting) European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishmen (CPT) CPT/Inf (92) 3, 2nd General Report on the CPT’s activities covering the period 1 January to 31 December 1991, Strasbourg, 13 April 1993 CPT/Inf (93) 12, 3rd General Report of the CPT, covering the period 1 January to 31 December 1992, Strasbourg, 4 June 1993 CPT/Inf (2001) 16, 11th General Report on the CPT’s activities covering the period 1 January to 31 December 2000, Strasbourg, 3 September 2001 CPT (2003) 35, 13th General Report on the CPT’s activities covering the period 1 January 2002 to 31 July 2003, Strasbourg, 10 September 2003

448 Materialienverzeichnis CPT/Inf (2008) 3, Report to the Government of Greece on the visit to Greece carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 20 to 27 February 2007, Strasbourg, 8 February 2008 CPT/Inf (2008) 26, Report to the Government of Denmark on the visit to Denmark carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 11 to 20 February 2008, Strasbourg, 25 September 2008 CPT/Inf (2009) 30, Report to the Government of the United Kingdom on the visit to the United Kingdom carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 18 November to 1 December 2008, Strasbourg, 8 December 2009 CPT/Inf (2012) 7 Report to the Government of Switzerland on the visit to Switzerland by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 10 to 20 October 2011, Strasbourg, 25 October 2012 CPT/Inf (2015) 44, Living space per prisoner in prison establishments: CPT standards, Strasbourg, Strasbourg, 15 December 2015 Vereinte Nationen/United Nations Convention for the Suppression of the Traffic in Persons and of the Exploitation of the Prostitution of Others, approved by General Assembly Resolution of 2 December 1949, UN Doc. Res. 317 (IV) Convention on the Rights of the Child, Committee on the Rights of the Child, General comment No. 13 (2011), The right of the child to freedom from all forms of violence, UN Doc. CRC/C/GC/13 Convention on the Rights of Persons with Disabilities, General Assembly Resolution of 13 December 2006, UN Doc. Res. A/61/611 Convention on the Rights of the Child, General Assembly Resolution of 20 November 1989, UN Doc. Res. 44/25 Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, UN Doc. A/56/10 (2001), YILC 2001, Vol. II, text adopted by the International Law Commission at its 5rd session in 2001 ILC, Fourth report on subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties, Special Rapporteur, UN Doc.A/CN.4/694, 7 March 2016 ILC, Report of the International Law Commission on the work of its eighteenth session, UN Doc. A/6309/Rev.1, YILC 1966, Bd. 2, S. 172 Istanbul Protocol, Manual on Effective Investigation and Documentation of Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, Submitted to theUnited Nations High Commissioner for Human Rights on 9 August 1999

Materialienverzeichnis449 Protocol to Prevent, Suppress and Punish Trafficking in Persons Especially Women and Children, supplementing the United Nations Convention against Transnational Organized Crime, GA Res 55/25 of 15 November 2000 Second Report on the Law of Treaties by Sir Gerarl Fitzmaurice, Special Rapporteur, UN Doc. A/CN.4/107/Add. 1, YILC 1957, Vol. II, Documents of the ninth session including the report of the Commission to the General Assembly Supplementary Convention on the Abolition of Slavery, the Slave Trade, and Institutions and Practices Similar to Slavery, adopted by a Conference of Plenipotentiaries convened by Economic and Social Council resolution 608 (XXI) of 30 April 1956 and done at Geneva on 7 September 1956 The Concept of ‚Exploitation‘ in the Trafficking in Persons Protocol, UNODC, ­Vienna 2015 Third Report on the Law of Treaties (agenda item 4), UN Doc. A/CN.4/115, by Sir Gerarld Fitzmaurice, Special Rapporteur, YILC 1958, Vol. II, Documents of the tenth session including the report of the Commission to the General Assembly Travaux Préparatoires of the negotiations for the elaboration of the United Nations Convention against Transnational Organized Crime and the Protocols thereto, United Nations Publications, UNODC, New York 2006 (zitiert: „Travaux Préparatoires zum Palermo-Protokoll“) United Nations General Assembly, Report of the Special Rapporteur on the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health, A/64/272 United Nations Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners (the Nelson Mandela Rules), Resolution adopted by the General Assembly on 17 December 2015, UN Doc. A/RES/70/175 Universal Declaration on Bioethics and Human Rights, Resolution adopted on the report of Commission III at the 18th plenary meeting on 19 October 2005 Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights, adopted unanimously and by acclamation at UNESCO’s 29th General Conference on 11 November 1997 Internetquellen und Zeitungsartikel Bolsonaro, Jair, https://www.survivalinternational.org/articles/3540-Bolsonaro (zuletzt abgerufen am 12.06.2019) Dupré, Catherine, What does dignity mean in a legal context?, The Guardian 24.03.2011, S. 1 Dzehtsiarou, Kanstantsin, Is there hope for the right to hope?, http://echrblog.blog spot.ch/2017/01/guest-post-on-grand-chamber-judgment-in.html (zuletzt abgerufen am 06.04.2018) European Court of Human Rights, Rules of Court from 1 August 2018, https://www. echr.coe.int/Documents/Rules_Court_ENG.pdf (zuletzt abgerufen am 11.06.2019)

450 Materialienverzeichnis Faigle, Philip/Lobenstein, Caterina, Der Mann, der uns abschottet, Die Zeit Nr. 7/2015, https://www.zeit.de/2015/07/fabrice-leggeri-frontex (zuletzt abgerufen am 11.06. 2019) Fukuyama, Francis, Liberale Gesellschaften müssen sich auf nationale Bekenntnis­ identitäten verständigen, NZZ vom 13.10.2018. Green, Leslie, The Normativity of Law, What is the Problem, https://www.uvic.ca/ victoria-colloquium/assets/docs/Green_Normativity.pdf. (zuletzt abgerufen am 05.06.2019) Mavronicola, Natasa, Bouyid and Dignity’s Role in Article 3 ECHR, Strasbourg Observers blog 08.10.2015, http://strasbourgobservers.com/2015/10/08/bouyid-anddignitys-role-in-article-3-echr (zuletzt besucht am 08.06.2018) Millns, Susan, Death, Dignity and Discrimination: The Case of Pretty v. United Kingdom, GLJ 2002, https://pdfs.semanticscholar.org/3fdb/7e651bfa7b823459629052e b4188ac54806e.pdf (zuletzt abgerufen am 04.06.2019). Novak, Michael, Human Dignity, Human Rights, 1999 First Things, S. 39–42, https:// www.firstthings.com/article/1999/11/human-dignity-human-rights (zuletzt besucht am 05.06.2019) OHCHR, Need for transparency, investigations, in light of „alarming“ reports of major violations in south-east Turkey – Zeid, 10. Mai 2016, www.ohchr.org/EN/ NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=19937&LangID=E (zuletzt abgerufen am 11.06.2019) Pinker, Steven, The Stupidity of Dignity, The New Republic, 28.05.2008, S. 1 Steinberg, Jonny, Prison Overcrowding and the Constitutional Right to Adequate Accommodation in South Africa, http://www.csvr.org.za/docs/correctional/prison covercrowding.pdf (zuletzt besucht am 11.06.2019) Tausende tote Migranten im Mittelmeer: Weltstrafgericht soll ermitteln, Focus online vom 04.06.2019, https://www.focus.de/politik/ausland/juristen-uebergeben-anklage -200-seiten-dossier-tausende-tote-migranten-im-mittelmeer-weltstrafgericht-sollgegen-eu-ermitteln_id_10789170.html (zuletzt abgerufen am 11.06.2019)

Sachwortverzeichnis Abwehrpflicht  52, 203, 354 ff. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte  1 ff., 53 f., 71, 98 f., 127, 254, 363 Antifolterkonvention  105, 136 Ausbeutung  265, 267, 334, 363, 385 Auslegungsmethode – allgemein  29, 32, 44, 77 ff., 196 – autonom  78, 92 f., 95, 266, 271, 324 – dynamisch-evolutiv/teleologisch  37, 61, 77, 81, 83 f., 87, 90, 95, 128, 146 f., 169, 175, 177, 187, 190, 208, 266, 336, 392 – effektivitätssichernde  78, 92, 95, 247, 271 – systematisch  79, 103, 230, 271, 294, 310 – völkerrechtliche  41, 77 ff., 80 f., 95, 136, 175, 268, 271, 294 Autonomie(prinzip)  232, 281, 283, 285, 300 ff., 305, 339, 364 Äquivalenzprinzip  230 ff. Befolgungspflicht  51 Beweisrecht  siehe Beweisverwertung Beweisverwertung  186, 274 f., 280, 400 ff. Biomedizinkonvention  106, 295 CPT/Europäisches Antifolter-Komitee  111 f., 157, 199 f., 202, 207 f., 220, 223, 287, 399 Death row phenomenon  siehe Todesstrafe Demokratieprinzip  55 Demütigung  169 ff., 175, 186 ff., 192, 229, 248, 279, 316, 339, 357, 373, 385, 400

Demütigungsintensität  siehe Demütigung Diskriminierungsverbot  311 ff., 363 EGMR – „Diskurswächter“  48, 350 – Funktion  43 ff., 124 – Kompetenzbereich  45, 49, 96, 124 – Subsidiaritätsprinzip  45 ff., 274, 318 – Vierte Instanz/Superrevisionsinstanz  45 Einwilligungsprinzip (informed consent)  231, 235, 305, 373 EMRK – Auslegung  29, 32, 41, 49, 77 – Eigenlogik  31 f., 120, 273, 283 – Gesetzesvertrag (Law making treaty)  41 f., 83 – Lücken  127 f. – Mindeststandard  45, 57, 88, 230 f., 272 – Präambel  53 ff., 61, 72, 77, 328 – Ratifikation  40 – Rechtsnatur  32, 39 f. Erniedrigende Bestrafung/Behandlung  167 ff., 173 – Eingriffsschwere  169, 178, 182, 213, 216, 231 f., 282 EuGH  siehe Europäische GrundrechteCharta Europäische Grundrechte-Charta  113 f. Europäisches Antifolter-Komitee  siehe CPT Europarat  39, 104, 107 f., 114, 146, 157, 176, 194, 199, 207 f., 251, 256, 295, 301, 387 ff.

452 Sachwortverzeichnis European Prison Rules/Europäische Strafvollzugsgrundsätze  109, 197 ff., 207, 210 Exkulpationsbeweis  49, 183, 245 Fairness  270 f., 274 f., 278, 280 Fair-Trial-Grundsatz  71, 268 ff., 272 Feststellungsurteile  50 Folter  133 ff., 169 – absolutes Verbot  139 f. – Eingriffsschwere  133, 135 – Legaldefinition  136 Gedanken-, Gewissen- und Religionsfreiheit  71 Genfer Konventionen  2, 86, 98 Genugtuung  52 Gesamtfairness  siehe Fairness Gesundheitsversorgung  225 ff., 228, 251 Gewalteinwirkung  siehe Polizeigewalt Grundrechtskern  129, 273, 283, 290, 337, 340 ff., 353, 405 Grundrechtstheorie  29, 77 Haftbedingungen  193 ff., 285 – Hygienestandards  211, 218 – Isolation  siehe Isolationshaft – Luft- und Lichtverhältnisse  213, 218 – materiell  201, 205 ff. – medizinische Versorgung  221 ff. – Überbelegung  206 f., 219 Hafterstehungsfähigkeit  236 ff. Haftüberprüfungsmechanismus  162, 164 f. Hoffnung auf Wiedererlangung Freiheit  123, 165 f., 366, 387 ff. Immaterielle Unbill  siehe Genugtuung Individualbeschwerde  47, 259 Informed Consent  siehe Einwilligungsprinzip Instrumentalisierungsverbot  140, 172, 191, 297, 334, 357, 405 Interessenabwägung  47

Internationale Arbeiterorganisation  56 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte  2, 86, 100, 196, 254 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte  2, 86, 100 Irreducibel Life Sentence  siehe Lebenslange Freiheitsstrafe Isolationshaft  214 ff., 398 ff. Kern(bereich) der Menschenwürde  siehe Menschenwürdekern Kernbereich, des Grundrechts  siehe Grundrechtskern Körperstrafen  89, 143, 168 ff. Konventionsrechtsstruktur  30 f. Konventionsraum  48, 89 Konsens(methode)  37, 65, 86 f., 90, 96, 103, 105, 147, 292, 298, 306, 310, 335 Kumulative Grundrechtseingriffe  213, 217 f., 221, 287 Lebenslange Freiheitsstrafe  90, 92, 149 ff. Legalitätsprinzip  290 Living instrument  87 f., 93, 137, 173, 190, 208, 236, 258, 309 Margin of appreciation  48, 71, 296, 317 Meinungsfreiheit  71, 124 Menschenbild  36, 56 f., 59, 65 ff., 174, 242, 332, 334, 361, 374, 387, 391 Menschenhandel  105, 254 ff., 257, 259, 266 Menschenwürde – Definition  35 f., 360 ff. – Doppelfunktion  97, 333 – europäischer Standard  29, 65, 238 – Fundierungsfunktion  53, 97, 280, 331, 334 – Gattungsschutz  296

Sachwortverzeichnis453 – Gehalt  29, 72, 77, 96, 101, 120, 173, 332, 335, 360 ff. – Hintergrundannahme  54, 94, 327 ff., 333, 361 – Letztbegründung  36 – materielles Auslegungsprinzip  173, 188, 192, 283, 289, 304, 345 – Randbereiche  77, 340 ff. – special clause  105, 248 – subjektives Recht  97, 335, 355 – Theorieelemente  29, 327 ff. – Übersicht in Mitgliedstaaten  114 ff. – (ungeschriebener/objektiver) Rechtsgrundsatz  65, 327 ff., 333 f., 345 f. Menschenwürdekern  123, 129, 134, 265, 273, 283, 290, 337, 341, 353, 404 Menschenwürdekritik/-krise  25, 124 ff. Menschenwürdeprinzip  26, 55, 63, 76, 97, 146, 320, 342, 346 Menschenwürdebegriff, konventionsrechtlicher/autonomer  28 f., 30, 116, 337 Non-Refoulement-Gebot  354 ff. Objektformel  172, 188, 191, 240, 242, 267, 355 Ordre public  42, 46, 83, 134 Palermo-Protokoll  siehe Menschen­ handel Persönlichkeitsentfaltung  281, 286 Polizeigewalt  178 ff. Postmortaler Würdeschutz  299 f. Pränataler Würdeschutz  293 Prinzipientheorie  75 Privatsphäre  184, 204, 212, 251, 281 Privat- und Familienleben  71, 280 ff., 288, 319, 378 Prozesssubjektivität  270, 272, 279 Prügelstrafen  siehe Körperstrafen Rechtsstaatsprinzip  55, 271 Rechtserkenntnisquelle(n)  96 ff., 120, 199, 301

Regeln und Prinzipien  73 ff., 78, 121, 192, 220 Resozialisierung  91, 123, 153, 155, 156 ff., 162 f., 167, 196, 202, 270, 285, 287, 290, 364, 387 ff., 391, 392 ff. Richterrecht  24, 35, 38, 65 Right to hope/Recht auf Hoffnung  siehe Hoffnung auf Wiedererlangung Freiheit Schranken-Schranke  siehe Grundrechtskern Schutzpflicht(en), positive  52, 150, 161, 182 f., 203, 223, 246, 250 ff., 256, 259, 261, 286, 302, 305, 313, 357 Selbstbestimmung  59, 184, 216, 281 f., 300, 304, 308, 316, 369, 377, 390 f. Selbstachtung  193, 195, 211, 246, 300, 369, 373, 376 f. Selbstentfaltung  281, 285, 300, 377, 390 f. Selbstzweckhaftigkeit  57, 106, 131, 166, 235, 248, 365 ff. Sklaverei-, Leibeigenschaft- und Pflichtarbeit  71, 105, 255 Soft Law  107 ff., 110, 157, 196, 201, 208, 241, 294, 301, 319 Sterbehilfe  301 ff., 304 Strafzwecke  162 f. Subjektstellung  186, 188, 195, 214, 269, 272, 334, 354, 394 Todesstrafe  142 ff. – Abschaffung  145 f., 150 – Todeszellensyndrom/Death row phenomenon  144 f. Travaux Préparatoires  53 ff., 55, 72, 77 Unmenschliche Bestrafung/Behandlung  141 ff., 217 – Behandlung  141 – Definition  142 – Strafe  141

454 Sachwortverzeichnis Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit  71 Verletzlichkeit (vulnerability) – allgemein  49, 61, 101, 135, 183, 187, 191 f., 244, 315, 334, 340 f., 358, 364, 370, 383 – Häftlinge  161, 179 f., 221, 223, 230, 242 ff., 244 f., 286 – Kinder  318 – psychische Kranke  160 f., 223 Verwertungsverbot  siehe Beweis­ verwertung Vollzugsplan  164

Wert(e)/Wertvorstellung  42, 57 f., 61, 65, 76, 77, 94, 110, 139, 177, 214, 243, 254, 271, 276, 298, 328, 332 Werteordnung, europäische  40, 42, 58, 61, 104, 110, 127, 292, 298, 328 f., 332 Wesen des Menschen  58 ff. Wiener Vertragsrechtskonvention  44, 54, 81, 95, 136 Zellengrösse  siehe Haftbedingungen – Überbelegung Zwangsernährung  232