Vom Werden der neuen Gemeinde [Reprint 2019 ed.] 9783111388021, 9783111026725

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Vom Werden der neuen Gemeinde [Reprint 2019 ed.]
 9783111388021, 9783111026725

Table of contents :
1. Die Voraussetzungen der neuen Gemeinde
2. Stadien des neuen Werdens
3. Die neue Gemeinde und das Objektive
4. Vom Zormwillen der neuen Gemeinde
5. Vom Dienst und Kampf der neuen Gemeinde
6. Die neue Gemeinde und die Masse
Inhaltsübersicht

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Praktisch-theologische Reihe: 1:

Prof. D. Friedrich Mebergall, Moderne Evangeli­

2:

sation. 1924 Mk. -.70 D. Dr. Rudolf Gtto, Zur Erneuerung und Ausgestal­

3:

tung des Gottesdienstes 1925 Mk. 3.50 D. Dr.Rudolf Gtto u. Lic. Gustav Mensching, Lhorgebete für Kirche, Schule und Haus, insonderheit auch für Iugendfeiern 1925 Geb. MK. 1.50

Reutestamentltche Reihe: 1:

Bultmann,

Die Erforschung der

synoptischen Evangelien. 1925

Mk. —.70

Prof.

D. Rudolf

Religionsgeschichtliche Reihe: 1:

Lic. Gustav Mensching,

Die Bedeutung des Leidens

im Buddhismus und Christentum. 1924

Prof.

Lic.

Mk. —.30

Es werden weiterhin erscheinen: Dr. Baumgartner, Israel in der vorder­

asiatischen Religionswelt. Prof. D. Faber, Psychologie u. Phänomenologie der Religion. Prof. D. Dr. Frick, Mission, aber nicht Propaganda!

Prof. D. Dr. Hölscher, Die Propheten. Lic. Mensching, Luthers Galaterkommentar von 1535 in

Auszügen übersetzt. Prof. D. Mebergall, Religionspädagogik der Gegenwart, privatdoz. Lic. Odenwald, Nietzsche u. das heutige Christentum. Prof. D. Dr. Gtto, Indische Religionstexte. Pfarrer D. Pfister, Die Psychoanalyse und die theoretischen Fächer der Theologie. Prof. Dr. Schaeder, Vie orientalisch-hellenistische Gnosis. Prof. D. v. Soden, Das Lutherbild im Wandel der Zeiten, privatdyzent Lic. Wünsch, Barth und Gogarten.

vom werden der neuen Gemeinde von

Ludwig Heitmann Pastor in Hamburg

1925 Verlag von HIfreb Töpelmann in Gießen

Aus

der

Veit

der

Religion

Forschungen und Berichte, unter Mitwirkung von Rudolf Gtto und Friedrich Niebergall, herausgegeben von Gustav Mensching praktisch-theologische Reihe, heft 4

Die Inhaltsübersicht befindet sich auf Seite 32

Corpus sumus de conscientia religionis et dis» ciplinae unitate et spei foedere. Tertullian.

1. Vie Voraussetzungen der neuen Gemeinde. Der folgende Bericht aus der Praxis gemeindlicher Arbeit will kein „Programm" entwickeln. Wir sind über die Seit hinaus, in der wir glaubten, Gemeinde konstruieren zu können. Das Zeit­ alter der Gemeindeorganisation ist gewiß noch nicht äußerlich abgelaufen, aber es ist innerlich überholt. wenn wir von „neuer Gemeinde" sprechen, so meinen wir nicht eine neue Hilfskonstruktion für die Kirche. Die Kirche soll die Krisis, in die ein unentrinnbares Zeitschicksal sie hinein­ gestoßen hat, gründlich und tief durchleben, damit sie langsam wieder zum wesentlichen durchstoße. (Eine neue Betriebsamkeit, die nur auf wirksame praktische Wege sänne, um Menschen für sich in Bewegung zu setzen, würde sie nur über ihre wirkliche Lage hinwegtäuschen. Die neue Gemeinde, die wir meinen, ist selbst aus der Krisis geboren und ist darum zunächst weniger eine Hülfe für als eine Frage an die Kirche. Sie ist ein Kind der Not, dessen Geburtsstätte das Wüstenland großstädtischer Zersetzung ist. Sie ist wahrlich kein fertiges Gebilde, das besichtigt werden könnte wie etwa die gesegneten Werke wicherns oder Bodelschwinghs. Ihr irdisches Gewand ist noch so fadenscheinig, ihre menschliche Wirkungskraft so gering, ihr Ruf unter den Menschen so schlecht, daß es nach den Grundsätzen, die sonst in der Zeit und auch in der Kirche Geltung haben, fraglich erscheinen mag, ob man überhaupt von ihr reden oder gar schreiben solle. .Die innerste und dunkelste Hot der Zeit gehört so sehr zu ihrem Wesen, daß sie am liebsten in ihrer verborgenen Stille bleibt. Trotzdem liegt unter aller ihrer Armseligkeit eine letzte Nö­ tigung, von ihr zu reden. (Es ist das Schicksal derer, die dies Kind der Not kennen, daß sie sich zu ihm bekennen müssen. Denn an seiner wiege steht neben der Not noch eine andere Parze: die Hoffnung. Nicht irgend eine menschliche Hoffnung, daß „wir es doch noch schaffen werden", sondern ein Strahl der Gottesverheißung, die über alle (Erbennot hinwegleuchtet.

q Das ist das Kennzeichen der neuen Gemeinde, daß sie nicht geschaffen und organisiert wird, sondern daß sie wird, daß sie aus einer inneren Notwendigkeit in der Stille wächst. Für diese innere Notwendigkeit, die unserer Zeit als Gabe und Aufgabe zuwächst, möchte der folgende Bericht -en Blick ein wenig zu schärfen versuchen. Denn wir dürfen nicht vorübergehen an Zeichen, di« uns gegeben sind. Die Gefahr einer solchen Gleichgültigkeit gegen das, was durch die Todesspuren der Zeit hindurchbrechen will, ist in der allgemeinen Ermattung unserer Tage nur zu deutlich vorhanden. Droht doch die „Theologie der Krisis" einem ganzen jungen Geschlecht das Auge dafür zu verschliefen, daß in Gottes Welt das Stirb und das werde immer ineinanderliegen. Wer freilich die Zeichen des Todes, die über unserer Zeit liegen, nicht in ihrer unentrinnbaren Deutlichkeit sieht, wird auch die Linien des Lebens nicht sehen, die den ersten Schimmer durch das Dunkel senden. Vie Grundvoraussetzung des neuen Werdens, um das es sich hier handelt, ist der Ablauf und Bankrott eines Lebenswillens, der, einst aus dem Mittelalter geboren, über die Jahrhunderte hinweg sich zu glanzvoller Entfaltung erhob und nun seine Todesstunde erlebt. Der Ichmensch der Re­ naissance, der, wie wir heute rückschauend mit voller Klar­ heit sehen, der ganzen Epoche, die wir als Neuzeit bezeichnen, das geistige, kulturelle, politische, wirtschaftliche Gepräge gegeben und auch die Wirkungen -er Reformation zum guten Teil in sich verschlungen hat, liegt im Sterben. Ein furchtbarer Todeskampf! Seine Tragik und seinen Um­ fang zu beschreiben, ist weder möglich noch notwendig. Er gehört zu den Tatsachen, die uns umklammern. Man stößt auf allen Lebensgebieten ohne irgendeine Ausnahme auf feine Zuckungen. Db wir die verzweifelten Ausbrüche nationalen Wollens oder das Kettenrütteln der wirtschaftlichen und sozialen Gruppen oder die bizarren Linien der Kunstentwicklung oder die innere Zerrissenheit des Familienlebens oder das dumpfe Sichaufbäumen des Einzel­ menschen gegen die zerreibende Macht eines erbarmungslos mecha­ nisierenden Massenlebens anschauen — es sind überall die gleichen Todesspuren, die auf den gekrampften und verzerrten Zügen eines ablaufenden Zeitalters sichtbar werden. Damit ist nicht gesagt, daß dieses Todesschicksal auch bereits überall ins Bewußtsein getreten sei. (Es gibt große Lebensgruppen, die noch heute in der Aufschwungshaltung stehen, ja, wie etwa umfassende Schichten der aufstrebenden Masse, erst jetzt in sie hineinwachsen. Andere Schichten befinden sich im reaktionären Zurückdrängen auf vergangene Aufschwungsstimmungen. Es gibt

zudem die ungeheure Masse derjenigen, die erst unter den 3er. setzungserscheinungen der Zeit in den Lebensrausch geraten sind, der dem Renaissancezeitalter das Gepräge gibt. Gegenwärtig stehen wir in einer Atempause des großen Sterbeprozesses, die ein Zurück, besinnen auf ältere Lebenskräfte und -werte heraufzuholen scheint. Derartige rückläufige Bewegungen gehören zu den Selbstverständ. lichkeiten sterbender Zeitalter. Man täuscht sich selbst über die Tragweite des Geschehens, indem man es unter dem engeren pro. blemkreise Idealismus-Aufklärung zu betrachten sucht. 3n Rirche und Theologie beobachten wir, neben dieser idealistischen Romantik, die sich in die Zeit vor 100 Jahren flüchtet, einen sehr lebendigen Repristinationsversuch reformatorischer Gedanken, der freilich seinen wesentlich literarischen TharaKter nur schwer verleugnen kann. Das alles kann über die wirkliche Gesamtlage nicht hinweg­ täuschen. Mag der Sterbeprozetz selbst noch über di« Jahrhunderte laufen, seine Symptome sind in unverkennbarer Rlarheit gegeben. Wir wollen drei der wichtigsten in kurzen Sätzen andeuten. Die Individualisierung und die damit gegebene Klassifizierung des Lebens ist im westlichen Kulturpreise — zu dem auch wir im gegenwärtigen Stadium trotz aller Ressentiments gehören — soweit fortgeschritten, daß eine Rückbildung dieses Prozesses, selbst wenn sie versucht werden könnte, nicht mehr möglich ist. Die Autonomisierung der einzelnen Lebensgebiete — Wirtschäft, Wissenschaft, Kunst usw. — ist bis zu einem Stadium der Erstarrung vorgedrungen, daß ein rücklenkendes oder vorwärlsschauendes Einbauen in eine Gesamtschau des Lebens eine Utopie ist. Die Loslösung vom Urgründe, die Entgottung des Lebens» ganzen ist bereits heute so radikal vollzogen, daß eine Umkehr des Ganzen ohne das Zuendesterben ausgeschlossen ist. Das bewußte Stehen in diesem Todesschicksal ist die Voraussetzung der neuen Gemeinde. Ehe wir das darin schlummernde neue Werden im einzelnen beschreiben, müssen wir eine zweite, tieferliegende Voraussetzung wenigstens kurz andeuten. Es gibt nämlich eine ganz klare Schau dieses Todesschicksals, ohne daß aus ihr der Zwang geboren wird, von dem wir hier berichten wollen. Die neue Gemeinde wächst durchaus nicht automatisch, naturnotwendig aus der Todesschau heraus. Der Blitz der Erkenntnis, der den Blick in den Abgrund aufreiht, braucht durchaus nicht zu zünden. (Er kann zu jener Haltung führen, die uns etwa aus der Spenglerschen Schau einer untergehenden Kultur bekannt ist: man bejaht das allgemeine Sterben, zieht aber daraus keine andere Konsequenz, als dah man das durchaus diesseitig bleibende Leben praktisch danach ein-

6 richtet. Er kann aber auch die andere Haltung zeitigen, die uns aus der „Theologie der Krisis* vertraut ist, die aber bereits im Vuch des Predigers deutlich heraurgebildet ist. hier wird das Todesschickfal zur allbeherrschenden, das ganze Leben bis ins Innerste erschütternden Wahrheit. Es wird gleich, sam in die Unendlichkeit projiziert und gewinnt entscheidende religiöse Bedeutung. 3m Todesschicksal der Zeit offenbart sich die letzte Krisis von Gott her, über die hinaus es keine andere Krisis mehr gibt. Alles Menschliche, alles Endliche, alles Kreatürliche wird als solches gegenüber Gott, dem Ursprung alles Seienden, als das Nichtseiende erwiesen. Wie beim Prediger gibt die (Er« fahrung der Vergänglichkeit alles Irdisch-Menschlichen die letzte Deutung des Lebens. Daß „wir sterben müssen*, ist die eine Wahrheit, um die alles kreist, bzw. in die alles hinabsinkt. 3n der Konsequenz dieser Verabsolutierung des Todesschicksals liegt eine radikal negative Gottesanschauung, für die Praxis des Lebens aber die Haltung des „Gratwanderers", der zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden in der Schwebe bleibt oder — anders ausgedrückt — nur in der dialektischen Spannung verharren kann. Einen positiven Sinn und ein konkretes Ziel des Handelns kann es innerhalb dieser Endlichkeit nicht geben, da alles in gleicher und in gleichförmiger Weise unter der Krisis vom „ganz Andern" her steht. Dementsprechend gehört alle Ethik in das Gebiet des Menschlich-Endlichen, höchstens daß sich auf diesem Gebiete das rein negative Gerichtetsein des Menschen, sein Todes­ schicksal, besonders deutlich offenbart. Eine positiv« Neugeburt innerhalb der menschlichen Sphäre kann es hier nicht geben. Das Göttliche, das „ganz Andere" liegt jenseits aller Geschichte und geht auf keine Weise in die Geschichte ein — es sei denn in der Form der absoluten Krisis, d. h. der radikalen Aufhebung aller Geschichte. Diese Anschauung ist selbst ein Stück der Krisis unserer Zeit. Sie ist die scharfe Gegenwirkung gegen die Vergottung des Lebens, di« im Nenaiffancezeitalter die Welt beherrscht hat, und macht nun umgekehrt den Tod zum Götzen, indem sie ihm die Gesamt­ heit alles Lebens bis hin zu den höchsten formen religiösen Lebens, ja den lebendigen Gott selbst zum Dpfer bringt. Dadurch aber trägt sie auch den Tod in sich selber. So groß der Dienst ist, den sie dem theologischen Denken und der kirchlichen Dberslächlichkeit unserer Tage geleistet hat, indem sie über die in ihnen schlummernden Todesmächte die Augen öffnete, so schwerschwiegend bleibt ihr versagen an dem entscheidenden Punkt«: sie hat die Krisis des Lebens, um die es sich heute handelt, nicht

konkret und darum nicht tief genug durchschaut. Sie hat Tod und Vergänglichkeit losgelöst von dem Hintergründe dessen, der als der ewig Lebendige durch die Geschichte schreitet. Sie hat den Abgrund des absoluten Seins, in dem alles Menschliche verschwindet, an die Stelle des heiligen und Lebendigen gesetzt, der nicht Ge­ fallen hat am Tode des Gottlosen, sondern daß er sich bekehre und lebe. Sie hat an die Stelle der radikalen Butzpredigt eine philosophische Dialektik gesetzt, die wohl das „Kreatürliche" trifft, nicht aber die konkrete Grundsünde der Seit. Die wirkliche, die durchschlagende Krisis von Gott her bedeutet Butze; sie greift weiter, als die Vernichtung des Menschlich-Lndlichen reicht. Das Todesschicksal ist lediglich Symptom eines tieferen Gerichtes. (Es ist der „Sünde Sold", d. h. Konsequenz einer ganz konkreten Willensabkehr von Gott. In dem Augenblicke aber, wo hinter dem Todesschicksal der tiefere Abgrund aufgerissen wird, die Schuld, wo hinter dem Sterbeprozetz der Seit der Luziferwille, der sich gegen den heiligen willen Gottes aufbäumte, sichtbar wird, wird der weg schicksalsmätzig ein anderer. Da wird das Todesschicksal, in das wir hinein­ schreiten, zu jenem uralten Drama zwischen Gott und dem Menschen, von dem uns die Bibel Kunde gibt. (Es kommt Handlung in das Ganze. (Es tritt Wille gegen willen: der Wille, der im Totesschicksal gebrochen wird, steht dem willen gegenüber, der im gleichen Todesschicksal sich selbst durchsetzt, nicht datz er vernichte, sondern datz er überwinde und siege über den Men­ schenwillen und im Menschenwillen und durch den Menschenwillen. Erst wo diese Grundhaltung int prozetz des Sterbens auftritt — wie sie wird, bleibt ein ewiges Geheimnis — ist die letzte und tiefste Voraussetzung der neuen Gemeinde gegeben. Da aber wird sie auch mit jener Notwendigkeit, für die es keine weitere Ableitung mehr gibt; wie sie wurde in dem Leben des grotzen Apostels, der Tieferes erlebte als das Todesschicksal seiner Seit, dem eine alte Lebensrichtung zerbrochen und eine neue aufge­ zwungen wurde, aus der ein feuerdurchglühtes Lebenswerk erwuchs, dos mitten in einer sterbenden Welt wecken, sammeln, bauen mutzte — die neue Gemeinde.

2. Stadien des neuen werdens. (Es wird schon aus dem Bisherigen deutlich geworden sein, datz es sich in dem werden der neuen Gemeinde nicht etwa um das Auftauchen abgezirkelter Menschengruppen handeln kann, die (ich durch eine eindeutig bestimmte oder gar begriffsmätzig faß-

8 bare Einstellung von ihrer Umwelt abheben. Vie neue Gemeinde ist etwas grundsätzlich anderes als eine Sekte, die in ihrer Grund» Haltung eine Absonderung von dem allgemeinen, als gottlos be» trachteten Lebensprozetz ist. Vas Wesen der neuen Gemeinde liegt gerade darin, datz sie im engsten inneren Zusammenhang« mit dem Todesprozetz steht, der das Ganze der Welt durchzieht, und datz sie sich dieses Zusammenhanges ganz stark bewutzt ist. Es ist gerade di« Beugung unter dar Gesamtschicksal, die sie zusammen» führt und zusammenhält und, wie wir später sehen werden, praktisch entscheidend bestimmt, nicht aber das Gefühl, diesem Gesamtschicksal entronnen zu sein, das ja immer zu irgendeiner Form des Hochmuts führt. Ihr „herausgerufensein" beginnt ge» rode damit, dah sie das Todesschicksal der Welt durchschaut und dadurch ein unentrinnbares „hineingerufensein" in diese Welt mit auf den Weg bekommt. Das eben ist das Kennzeichen der sterbenden Welt, in der wir stehen, datz mitten durch sie hindurch, blitzartig auftauchend, das Erwachen zi«ht. Es ist freilich ganz anderer Art als jene Erweckungsbewegungen, die die ablaufende, die individualistische Epoche des Geschehens kennzeichnen. Diese treten gewitz, unter den Erschütterungen der Zeit, gerade heute wieder besonders aufdring, lich hervor. Aber sie tragen in ihrer.zunehmenden verzerrtheit, in ihren immer gewaltmätziger werdenden Methoden, in ihrem jähen Auf» und Abwogen immer deutlicher die Merkzeichen des sterbenden Zeitalters, insbesondere den Massencharakter, an der Stirn. Das Erwachen, das wir im Auge haben, vollzieht sich in ganz anderen Formen als die Bekehrungen der individualistischen Frömmigkeitsepoche. Ls ist selten im persönlichen „Durchbruch" festzustellen, sondern es steigt im einzelnen wie im Gesamtleben auf wie eine Reifung, die sich in gewissen Symptomen offen» bart, wie sie in ganzen Menschengruppen in überraschender Par­ allelität auftreten. Wer über Jahre hinweg etwa die Jugend» bewegung ober die Entwicklung von Generationen verfolgt hat, der ist auf das Tiefste betroffen gewesen über den gleichartigen Gang, den einander ganz fernstehende Gruppen und Menschen eingefchlagen haben. Wir wollen uns einige Stadien dieses Rei­ fungsprozesses vergegenwärtigen. Wir haben uns im Blick auf die Jugendbewegung und die damit zusammenhängenden Entwicklungserscheinungen daran ge­ wöhnt, zwischen robuster und sensibler Jugend zu unterscheiden. Jene steht dem Leben in ungebrochenem Eroberungsdrange gegen­ über, indem sie sich in Sport, Wettkampf und allerhand körper­ licher und geistiger Rrastbetätigung, die oft allerdings zu ver»

sprühender Sinnlichkeit ausartet, durchsetzt. Diese beginnt in einem bestimmten Stadium, dessen Kommen man oft mit voller Sicherheit voraussehen kann, den Blick nach innen zu richten und in einen schweren Kampf mit der Problematik des eigenen und des Ge­ samtlebens zu geraten, wir wissen heute, daß dieser Gegensatz der Einstellung nicht nur auf verschiedene Lharaklertypen junger Men­ schen zutrifft, sondern ein Symptom des Bruches im Zeitgeschehen ist, das durchaus nicht auf junge Menschen beschränkt bleibt, wenn es auch in der Jugend zunächst am greifbarsten heraustritt. Vie bohrende Innenbetrachtung des Lebens, die heute immer mit stärkster Kritik an der Umwelt verbunden ist — eine ganz wesent­ liche symptomatische Erscheinung — ist das erste Unzeichen dafür, daß hier ein bedeutsamer Umlagerungsprozetz sich anbahnt, wie lange dies „dialektische" Stadium andauert, ob es über­ haupt ausreift oder in Verbitterung und Müdigkeit endet, ist nie mit Sicherheit zu sagen. Soviel steht fest, daß heute eine stetig wachsende Unzahl von Menschen in diese chiobsproblematik hineingestotzen wird. Unter ihnen werden Ungezählte sein, die nie aus diesem Gedankenstrudel wieder auftauchen — wahrlich, ein schmerz­ liches Stück Tragik in unsern todernsten Übergangstagen. Ullem Zweifel entrückt aber ist die Tatsache, daß aüs diesem gärenden Chaos ein Innenkreis ausreift, der durchstoßt zu einer abgeklärten Form der Lebenseinstellung. Ihr wesentliches Kenn­ zeichen ist die sinnende Lebensbetrachtung. Vie weit­ tragenden Konsequenzen dieser Neueinstellung werden wir in einem späteren Abschnitt behandeln.*) hier müssen wir die noch durch­ aus wogenden formen des Überganges in dies neue Stadium ins Auge fassen, was wir in dem Geschehen der Zeit mit dem un­ klaren, und eben deswegen ganz geeigneten Sammelnamen „Mystik" bezeichnen, ist das Merkzeichen dieses Übergangsstadiums. Uns interessiert hier nicht, was die Mystik im religions-historisch ab­ gegrenzten Sinne bedeutet, stuf abendländischem Boden ist die Mystik immer Übergangsstadium, sowohl im individuellen wie im Gesamtleben.**) Sie ist der weg, auf dem das Leben von der Autzenbetrachtung der Dinge in die radikale Innenbetrachtung hinübergleitet, hier wogt es wirklich heute durch die Gemüter: von Meister Ekkehard bis zum quäkerischen Schweigen, von der Anthroposophie bis zum Buddhismus. Ungezählte Menschen gibt es auch, die von allen diesen Dingen nie etwas gehört und dennoch dies Stadium der „Mystik" voll durchschritten haben. Das *) vgl. bas Kapitel: Pom Zormwillen der neuen Gemeinde. **) Besonders instruktiv auch für die heutige Lage ist die Übergangs» bebeutung der Mystik in Luthers Entwicklung.

10 Endergebnis dieses Prozesses ist die Schau des Lebens „vom Mittel, punkte* her, ist die sich mehr und mehr abklärende Welt des „Sinnes", die das dialektische Vohren endgültig ablöst.

In beiden bisher erwähnten Stadien ist ein merkwürdiger Grundzug zu beobachten, dem eine hervorragende Zukunftsbedeutung für das weitere werden innewohnt. So radikal individualistisch in ihnen die Lebenshaltung noch ist, so datz sie durchaus noch als das letzte Ausschwingen der individualistischen Lebensepoche betrachtet werden können, so überraschend offenbart sich hier schon ein neuer 3ug zur „Gemeinschaft", wir erwähnten schon, datz bereits im dialektischen Stadium die pröblematik des eigenen Lebens in voller verschlungenheit mit den Nöten des Gesamtlebens geschaut wird. Noch kennzeichnender aber ist in diesem Stadium ein geradezu fanatischer Drang zur „Aus­ sprache", der in den vekehrungsstadien älterer Frömmigkeits­ epochen wohl gelegentlich in dem Suchen eines oder einzelner feelforgerlicher Gespräche hervortrat, aber nie so stark sich durch­ setzte, oder wohl gar völlig fehlte. Cs geht ein Schrei nach Gemeinschaft durch die dialektisch umgetriebenen Menschen unserer Tage. So starke Anklagen gegen das Fehlen von freundschaftlicher Aussprache habe ich nie vernommen wie bei Menschen dieses Stadiums. Ls ist das Gefühl der hülflosigkeit auf der einen Seite, aber ebenso stark auf der andern Seite der Instinkt dafür, datz die eigene Hot unauflöslich verschlungen ist mit der Gesamt­ not, wodurch dieser Drang innerlich ausgelöst wird. Dieser Zug tritt nun nicht etwa, wie man erwarten sollte, im mystisch-sinnenden Stadium zurück, sondern kommt hier nun erst zur vollen Entfaltung. Er offenbart sich hier in der Sehn­ sucht nach der gemeinsamen „Feierstunde", nach gemeinschaftlichem „Schweigen". Das quäkerische Schweigen..wird hier zur Dffenbarung. Gerade dann, wenn das dialektische Stadium im Ab­ klingen begriffen ist, wird es als eine erlösende Wohltat emp­ funden. Und zwar das gemeinsame Schweigen! Und die Gemeinschaftssqmbolik! 3um ersten Male wird hier im Innersten erlebt, was Gemeinschaft schenkt: Zuwachs an Kraft, die nicht aus dem Eigenen stammt. Gft genug wird auf diesem Wege den Menschen zum ersten Mal klar, was das Gebet bedeutet und schenkt: Kraft aus einer andern Welt, die mit'in in unsere Not hineintritt. Don hier aus öffnet sich dann ganz von selbst auch das Tor zum innersten Verständnis des Wortes Ehristi:„wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen." Doch damit stehen wir bereits an den Pforten eines

11 grundlegend neuen Stadiums. Bevor wir unsern Slick darauf richten, mutz noch eine andere Linie ins fluge gefaßt werden. Beiden erwähnten Stadien entspricht eine ganz bestimmte Haltung nach außen. Das dialektisch« Stadium ist die Zeit der mit Eifer und Leidenschaft betriebenen lebensreforrnerischen Bestrebungen. Der Zusammenhang zwischen der Rot des eigenen Lebens und der der Umwelt findet darin seinen Ausdruck, der in seinem Fanatismus, seiner Selbstgerechtigkeit und häufig auch seiner Äußerlichkeit ein getreues Spiegelbild des inneren Zustandes ist. Die tragische Verkettung des Lebens in «in Filzwerk der Entartung und Sünde — Alkoholismus, Sexual­ not, wirtschaftliche Verantwortungslosigkeit — wird hier klar durchlebt und findet ihren heißen Protest in der Leidenschaft der Anklage. Der Blick für diese sittliche Gesamtnot, in die das eigene Leben unrettbar verstrickt ist, bleibt im zweiten Stadium und vertieft sich hier zu jenem Schuldgefühl, das „für die neue Lebenseinstellung charakteristisch ist. Die ganze Tragik des Lebens geht der sich langsam abklärenden sinnenden Lebensbetrachtung auf: wir alle sind hineingeboren in eine Zeit, die bis in die Wur­ zeln hinein sittlich entartet ist; wohin wir schauen, wo immer wir auch unsere Hände anzulegen versuchen — es ist ein Meer -er Selbstsucht, der krankhaften Entartung, der Unreinheit, der Hoffnungslosigkeit, das uns umbrandet. Die eschatologische Grund­ stimmung ist im Anzuge. Erst wer weiß, wie furchtbar diese Durch­ schau des Gesamtlebens, in dem wir dennoch unser Tagewerk voll­ bringen müssen, auf den sinnend gewordenen Großstädtern lastet, versteht die Sehnsucht nach den Feierstunden der Kraft und der Besinnung. An diesem Punkte schlummern zwei Gefahren, die heute be­ reits ganz deutlich sichtbar sind: die Gefahr des Abgleitens in eine rein kultische Frömmigkeit — die Ehristengemeinschaft ist dafür das uns gesetzte Paradigma — und jene labil-passive Haltung des „Wartens*, die hinter der „Theologie der Krisis" steht. Wenn an diesem Punkte nicht der Blitz Gottes zündet und die Durchschau der Gesamtnot in jenes Schuldg e f ü h l wandelt, das die G e s a m t s ch u l d, in die wir alle ver­ strickt sind, in den persönlichen Jnnenpunkt wirft, dann kann nie Gemeinde werden. Darum ist es von schicksalhafter Bedeutung, daß in dem Stadium der mqstisch-sinnenden Betrachtung jene praktische Ge­ meinschaft des Dienstes werde, von der wir später noch sprechen werden, die wahrlich nicht das Reich Gottes auf die Erde bringen

12 will, die aber der allein durchschlagende Ausdruck der gemein­ samen Verantwortung und der gemeinsam getragenen Schuld ist.

(Es ist eine bekannte Streitfrage, ob es ein durchschlagendes Schuldgefühl als Gefühl der Gesamtschuld geben, oder ob ernst­ haftes Schuldbewußtsein sich nur auf das persönlichste Leben be­ ziehen könne. 3n dieser Frage scheiden sich die Zeiten. Selbst­ verständlich schlägt alles Schuldbewutztsein in den persönlichsten Innenpunkt, aber der Umkreis der (Erlebnisse und verantwortungen, an dem es sich entzündet, liegt heute — darin liegt das wesentlich Neue — nicht nur im persönlichen, sondern im Gesamt­ leben. Das Wissen um die Gesamtschuld und der Wille, sich unter sie zu beugen, ist entscheidend für das werden der neuen Gemeinde. In dem allen ist bereits angedeutet und vorbereitet die ent­ scheidende Wendung, die nun in das dritte Stadium führt. Leide Vorstadien sind nur die Vorbereitung für einen letzten grotzen Lruch, der sich allerdings in keiner Weise abrupt voll­ zieht, sondern in langsamer Reifung immer klarer heraustritt. Die bohrende Dialektik ist das letzte Selbstverteidigungsstadium, die sinnende Mystik das letzte Zurückziehen in den innersten Punkt, an -em die Wandlung sich vollzieht: das (Objektive tritt die Herrschaft an.

Diese radikale Umstellung bleibt in ihrem innersten Wesen ewig geheimnisvoll. Wir können nur die Symptome feststellen, in denen sie sich kundtut. Schon die sinnende Haltung, die die sich aufbäumende dialektische ablöste, war die Ubergangsstufe zu dem schweigenden Sichbeugen vor einem „Andern", das man nicht er­ zwingen oder suchen, sondern dem man sich nur öffnen kann. Das Schweigenmüssen gibt die erste Runde von dem, der allein reden kann.

Der innere Zwang zur Gemeinschaft ist das zweite Symptom der Wendung, die sich hier anbahnt. Die innere hülflosigkeit, die sich darin kundtut, das Sich-anseilen-müssen, der tiefe Instinkt dafür, datz es sich um eine Not handelt, die weit über das per­ sönliche Leben hinausreicht, die Erfahrung des Rraftzustromes in der Gemeinschaft, das Schuldbewutztsein, das aus einer Sphäre, die jenseits des eigenen Daseins liegt, geheimnisvoll in den persön­ lichen Innenpunkt hineinblitzt, das Schauenmüssen der „grotzen Not", die uns alle umklammert, das Dienen-müsfen, von dem das Leben innerlich ergriffen wird — das alles weist hin auf eine objektive Welt, die, zunächst oft ganz unbewußt, das Leben stärker und stärker zu bestimmen beginnt.

3n den Feierstunden treten nach und nach die lyrisch-mystischen Lesungen zurück hinter die objektiven Stoffe der Bibel, deren unabhängige Urast und Fülle langsam aufzuleuchten beginnt. Vie monumentale Größe der neutestamentlichen Welt wird richtig „ent­ deckt". Vas Vaterunser in seiner herben (Objektivität offenbart seine über alle Gebete erhabene Uraft.