Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau: Neuausgabe. Originalausgabe: Vom neuen Kirchbau, 1919, Bruno Cassirer Verlag [1 ed.] 9783412516574, 9783412516550

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Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau: Neuausgabe. Originalausgabe: Vom neuen Kirchbau, 1919, Bruno Cassirer Verlag [1 ed.]
 9783412516574, 9783412516550

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Peter Schüz (Hg.)

OTTO BARTNING Vom neuen Kirchbau

Peter Schüz (Hg.)

BARTNING Vom neuen Kirchbau

K

aum ein architekturtheoretisches Werk hat das Ringen um die Gestaltung des Sakralraums im 20. Jahrhundert mehr geprägt als der 1919 erschienene Klassiker Vom neuen Kirchbau des damals noch jungen und später weltbekannten Architekten Otto Bartning, der zu dieser Zeit auch im Umfeld von Walter Gropius und des frühen Bauhaus tätig war. Verbunden mit autobiographischen Elementen und in eindrucksvoller Darstellung gelang ihm ein wegweisender Wurf, der in seinem hochsensiblen Problembewusstsein für das Verhältnis von Raum und Religion in der Moderne bis heute fasziniert und inspiriert. Die Neuausgabe macht den Text mit zahlreichen Skizzen und Fotografien Bartnings nun nach 100 Jahren erstmals wieder vollständig zugänglich. Beigefügte Anmerkungen, die eingetragene Originalpaginierung und eine editorische Hinführung erleichtern die Erschließung und Benutzung. Im Anhang skizziert ein architekturhistorisches Nachwort der Bartning-Expertin Sandra Wagner-Conzelmann die Bedeutung von Bartnings Buch vor dem Hintergrund der Kirchenbaugeschichte des 20. Jahrhunderts, das Nachwort des Herausgebers hebt dessen theologische Bedeutung und bleibende Aktualität hervor.

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01.10.19 12:08

Peter Schüz (Hg.)

OTTO BARTNING

Vom neuen Kirchbau

Mit Anmerkungen und Nachworten versehene Neuausgabe der 1919 im Bruno Cassirer Verlag, Berlin erschienenen ersten Auflage

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Publikation gefördert durch die Thüringer Staatskanzlei zum Bauhaus-Jubiläum 2019 im Projekt »Kirche(n) und Bauhaus: Eine Spurensuche« Evangelische Prediger­gemeinde zu Erfurt und Otto Bartning-Arbeits­gemeinschaft Kirchenbau e. V. (OBAK)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­https://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln  Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Reprografie der Buchdeckelprägung von 1919. Die Skizze zeigt die im Buch beschriebene Friedenskirche in Peggau von Otto Bartning. Lektorat: Becker und Schütz, Kassel Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51657-4

Inhalt

Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919] Erlebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Begriff des Sakralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Das Sakrale in der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Das radikale Bauprogramm der protestantischen Kirche . . . . . . . . 37 Das konservative Bauprogramm der protestantischen Kirche . . . . . 63 Zeichen der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Anhang Anmerkungen zur Neuausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Nachwort des Herausgebers (Peter Schüz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 »Vom neuen Kirchbau« von Otto Bartning (Sandra Wagner-Conzelmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Geleitwort der Otto Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau (OBAK) (Immo Wittig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

6 Ev. Kirche mit Gemeindehaus in P. von Otto Bartning

Erlebnisse

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Jahrelang habe ich mich gegen diese Niederschrift gewehrt. Wenn ich mich heute entschließe und statt des Zeichenstiftes die minder vertraute Feder nehme, geschieht es aus dem allmählich zum Zwange gewordenen Bedürfnis heraus, die mir auf der Seele brennende Frage des evangelischen Kirchbaues wo nicht zu beantworten, so doch zu umschreiben, wie sie sich mir aus der beruflichen Tätigkeit heraus immer deutlicher als Pro­ blem entgegengestellt hat. In praktische Berührung mit der Frage brachte mich die »Los-vonRom-Bewegung« in Österreich. Ein junger evangelischer Vikar, mit dem ich aus der Schulzeit befreundet war, hatte Anfang des Jahrhunderts seine friedliche und auch wohl etwas schläfrige Odenwaldgemeinde verlassen, um sich mit aller Lebenskraft dem minder friedlichen Neuaufbau einer steirischen Diasporagemeinde zu widmen, und kam auf einer seiner Vortragsreisen, durch die er bare Mittel für diesen Neuaufbau heranschaffen mußte, in unsere gemeinsame Heimat. Den Abend nach seinem Vortrage und schließlich den größten Teil der Nacht verbrachte er in meiner Arbeitsstube. Hier schilderte er mir lebhafter, dabei | tendenzloser und daher 8 überzeugender, als es ihm in seinem Vortrage geglückt war, die Zustände in seiner Diasporagemeinde: die Gottesdienste im Saale einer Brauerei, abhängig von der unsicheren Gunst des Wirtes, im Nebenraume die sonntägliche Gastwirtschaft, so daß der noch ungeübte und von einem asthmatischen Harmonium gestützte Gemeindegesang schweren Stand hatte gegen das Geklapper der Bierkrüge und das Gegröl der Gäste, die manchmal während der Predigt sogar lärmend hereindrangen. Dann nachmittags im abgelegenen Gebirgsweiler die Andacht im Hause einer, in der Überschwemmung der Gegenreformation als Insel übriggebliebenen Familie, deren Hausvater dem neuen Geistlichen die Hände küßte, die gute Stube ausräumte, die Gleichgesinnten im Orte zusammenrief zur ersten Predigt. Anderen Ortes zuerst das Mißtrauen und Abwarten, dann vereinzelter Zulauf oder plötzlicher Massenübertritt; die anfängliche GeringErlebnisse

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schätzung, dann der versteckte, schließlich der offene Widerstand der eingesessenen katholischen Geistlichen. Das Dasein der eigenen Familie in einem gemieteten Häuschen am äußersten Ende des Dorfes, in knappsten Verhältnissen, auf das Gehalt des reichsdeutschen Evangelischen Bundes angewiesen, zwischen fremden Bergen, am Eingange fast unbetretener Täler, aber getragen vom Glauben an die Zukunft der Sache, an die stille Macht und vor allem an die Kulturkraft des Evangeliums. Zur Herberge all dieser verfolgten Not, all dieser Hoffnung und all dieser Kraft sollte eine kleine Kirche, ein Gemeindesaal, ein Pfarrhaus gebaut werden; der Sammlung der hierfür nötigen Geldmittel hatte der Vortrag gedient, gleichwie viele Vorträge, Reisen, Werbeschriften und demütigende Bittgänge ihm noch dienen mußten. | 9 Ich stand damals in den ersten Semestern meines Architekturstudiums und hielt es darum unter meiner Würde, ein ernstliches Baugespräch zu führen, ohne den wohlgespitzten Koh-i-noor aus der Brusttasche zu ziehen, und als mein Freund mit seiner Schilderung zu Ende kam, lag der einfache Bauplan seiner Kirche fertig. Über die Zeichnung hin sahen wir uns an und wurden uns mit einem Blicke bewußt, daß wir diese Kirche zusammen bauen mußten. Praktische Hemmungen oder gar den – doch immerhin nicht ganz unbegründeten – Zweifel am eigenen Können kannten wir damals noch nicht. Mit dem Baubeschlusse gingen wir in dieser Nacht auseinander. Nun begann eine reiche Zeit. Viele Wochen brachte ich in der Steiermark zu, im Pfarrhause meines Freundes und auf Reisen in verschiedene Gemeinden. Ich nahm teil an den Notgottesdiensten im Wirtshaussaale, in der Bauernstube, in der Kantine einer Fabrik, über dem Eiskeller einer Brauerei, auf einem Berge, in einem Lagergewölbe, das so niedrig war, daß der nur um drei Stufen erhöhte Prediger mit dem Kopfe die Decke berührte. Ich sah die allgemeine Bedrängnis und fühlte den allgemeinen Drang. Und so entstand unser kleiner Gemeindebau. Die Kirche, ein rechteckiger Raum von bescheidenstem Ausmaß, mit einer Holzdecke, deren gewölbte Form ich den Händen des Dorfzimmermanns durch tägliches Zureden abringen mußte, und deren Anstrich mit himmelblauer und ockergelber Leimfarbe unter dem Kopfschütteln des Malermeisters vor sich ging. Daß der Altar nicht in einer Chornische, sondern nahe an der Gemeinde, daß die Kanzel nicht seitwärts, sondern in der Mitte stehen, daß das Gestühl gegenüber der Kanzel geschlossen, also ohne Mittel8 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

gang sein müsse, daß | auch die Orgel oder das Harmonium hinter Kan- 10 zel und Altar, d. h. der Gemeinde gegenüber zu stehen habe, daß nur ein schlichter Dachreiter, kein Turm, den bescheidenen Mitteln angemessen sei, darüber waren wir beide uns ohne weiteres so einig, daß wir die hierüber entbrennenden Kämpfe in den Sitzungen der vorgesetzten Kirchenbehörde mit einiger Rücksichtslosigkeit und, wie mich heute bedünkt, mit einer glücklichen Blindheit für die Vielseitigkeit des Problems durchfochten. Eine Empore ergab sich aus dem Bedürfnis, in kleinem Raume viele Hörer unterzubringen. Bunte Fenster kamen nicht in Betracht; Ausblick in die Gebirgsnatur, Eintritt von Licht und Sonne, frische Blumen am Altar, kurz, ein heller, froher Eindruck galt uns seiner praktischen wie seiner symbolischen Bedeutung wegen als unmittelbares Ziel der ganzen Raumausstattung. Auch Bilder sollten nicht fehlen. Die Stirnwand, von dunkelrot und saftgrün gestrichenen Holzpfeilern gegliedert, bot rechts und links von der Orgelempore zwei Felder dafür. Ein Teil des eigentlichen Baukörpers der Kirche war der Gemeindesaal, mit ihr sowohl wie mit dem Pfarrhause verbunden. Darüber, also ebenfalls im Kirchenkörper, lag die Studier- und Amtsstube des Pfarrers, Wand an Wand mit der Orgelnische der Kirche. Im Winkel an die Kirche angebaut, teilweise in sie hinübergreifend, folgte die Pfarrwohnung: der Rückhalt des Geistlichen und seiner Familie, zugleich das gastfreie Heim für die aus der Umgebung, aus der Schweiz und aus dem Deutschen Reiche zahlreich zureisenden Gäste der jungen Gemeinde. Der Pfarrgarten umschloß Pfarrhaus und Kirche von allen Seiten bis auf den | Kircheneingang, vor dem wir einen Sammelplatz mit 11 Bäumen und Bänken anlegten. Im Spätherbste unseres glücklichen Baujahres wurden, nach einer Abschiedsfeier im alten Wirtshaussaale, die Altargeräte in festlichem Zuge mit Bläserchor und Fahnen, an der erstaunten Bevölkerung vorbei, unter strömendem Regen und dem dünnen Geläut der geschenkten Glöcklein zum ersten Gottesdienste in die neue Kirche getragen. Die Gäste in der Kirche klebten an den in der Nacht erst fertig gestrichenen Bänken fest, die Nässe der vom Turme hereingeholten Fahnen tropfte durch die himmelblaue Decke, draußen auf dem Platze predigte ein auswärtiger Pfarrer vor einer riesigen Schildkröte von Regenschirmen, aber trotz Sintflut und Geprassel, keiner wich und wankte, weder drinnen noch draußen. Erlebnisse

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Beim anschließenden Festschmause eröffnete mein Freund in einer Rede seinen Plan, die Mitglieder unserer kleinen Bauhütte, den biederen Schlosser, den Tischler, den Zimmermann und die anderen, übrigens meist katholischen Handwerker, zum Grundstock eines Volksbildungsvereins zu machen, dem er feierlich den Gemeindesaal übergab. Und die kompakte Einheit unseres Gebäudes erwies sich in den folgenden Jahren als Gehäuse eines kompakten und einheitlichen Gemeindelebens. In Sicherheit und daheim fühlte sich die Hörerschaft bei den Predigten und rückte gern zusammen und machte gastlich Platz, wenn aus der gegenüberliegenden katholischen Kirche, die eine halbe Stunde früher schloß, ein gut Teil der Kirchgänger zu den »Evangelern« kam, um die Predigt zu hören. Auch am Werktage stand die Kirche immer und 12 jedermann offen, | ebenso wie der Gemeindesaal, in dem sich eine aus Geschenken gesammelte umfangreiche Bücherei sowie eine Galerie wohlfeiler Bilder in Wechselrahmen auftat; geschichtliche, wissenschaftliche und erbauliche Vorträge wurden gehalten, Dozenten der nahen Universität kamen voll Freuden dazu herangefahren, dem ungeübten Publikum das ihre zu bieten; Sonntags verwandelte sich der kleine Saal in eine Lesehalle, Abstinenz und Temperenz spielten mit herein. In der Gartenveranda des Pfarrhauses kamen Mitglieder der Gemeinde, auswärtige Freunde und Gönner, zugereiste Neugierige, auch allerlei Vaganten und Sonderlinge der Bewegung zusammen; im Garten wurde die einzuführende Imkerei, wurden gemeinsam bestellte Samen und Obstsorten erprobt; die Pfarrfrau aber hatte neben der Kinderstube, dem Haushalt mit widerspenstigen Dienstmädchen und der stets unberechenbaren Tafelrunde für jeden ein hilfreiches und freundliches Wort, und manchem konnte sie, die selbst erst zur evangelischen Kirche übergetreten war, mit wenig Worten gut raten. So war das kleine Bauwerk wirklich das Haus und die Burg der kleinen Gemeinde, ein Sammelpunkt und Ausgangspunkt ihres Lebens geworden. Aber auch darüber hinaus erwies es sich als wirksam. Wohl ein Dutzend Geistlicher, fast alle gleich meinem Freunde um der neuen Aufgabe und des Kampfes willen aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands nach Österreich gekommen, hatten sich zu der Einweihung eingefunden. Scherzend zeigte mir dabei einer von ihnen, wie jeder im Festzuge ein anders geformtes Barett, jeder eine andere Agende und eine andere Lehrmeinung mit sich trage. Jeder hatte seine heimatlichen Anschauungen 10 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

mitgebracht und sie unbekümmert zur Grundlage der ihm zum Wiederoder | Neuaufbau übergebenen Gemeinde gemacht. Nicht nur bei den 13 erregten Disputen jenes Einweihungstages, sondern auch späterhin auf mancher Pfarrkonferenz, zu der ich meinen Freund begleitete, lernte ich diese verschiedenen Meinungen, Thesen, Dogmen, Gefühlsrichtungen, historischen Gebundenheiten und ästhetischen Ambitionen kennen, lernte sie um so gründlicher kennen, als die jeweilige Mischung derselben, vorgetragen von einem aus ehrlichstem Wollen wirkenden Menschen, jeweils eine Bauaufgabe für mich bedeutete. Denn was mein Freund und ich in der Einfalt des ersten Gefühls ergriffen hatten: die innigste Durchdringung von Kirche, Gemeindesaal und Pfarrhaus und zugleich die technisch billigste Zusammenfassung des Notwendigen zu einem, trotz der Kleinheit seiner Teile im ganzen doch leidlich ansehnlichen Bau, das war gewiß keine große Erfindung, in seiner Einfalt aber wohl gerade geeignet, zu einem Programm erhoben zu werden, das man wortreich bekämpfen und verteidigen konnte. Unversehens ward ich mit diesem Programm auf die Wasserscheide der Meinungen gestellt. In den folgenden Jahren ergab sich für mich daraus die schöne Aufgabe, einfache evangelische Kirchen und Gemeindehäuser für siebzehn verstreute Gemeinden in Steiermark, Niederösterreich, Österreichisch-Böhmen und -Schlesien, ja eine an der Mündung der Donau zu bauen, die Idee des »Gemeindehauses« mit den verschiedenen örtlichen Überlieferungen, Bedürfnissen, Wünschen und Vorurteilen zu durchsetzen und also nach jeder Richtung durchzuproben. Immer aber war es der persönliche Austausch, häufig die Freundschaft mit dem geistlichen Bauherrn, sein Werben um die junge Gemeinde, was die Aufgabe neu und lebendig | machte. In mancher Gemeindekirchenratssitzung im 14 Hinterzimmer des Dorfwirtshauses und bei manchem nächtlichen Spaziergange waldein, wenn der Pfarrer und ich uns die verräucherten Köpfe noch etwas lüfteten, diskutierten wir so lange, bis der Pfarrer die architektonischen und der Architekt die theologischen Gründe mit Eifer vertrat. In keinem Falle aber haben wir leichtfertig oder konventionell uns entschlossen. Aber je gründlicher wir den Gedanken des »Gemeindehauses« und der »Predigtkirche« zu verwirklichen strebten, desto häufiger fühlten wir ganz andere Sehnsüchte vom dunklen Grunde des Problems heraufsteigen, während wir uns auf dem Eise bewegten. Erlebnisse

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Unsere bauliche Zusammenfassung von Kirche, Gemeindesaal und Pfarrhaus drückte, wo nicht eine Gleichstellung, so doch eine vergleichende Bewertung der drei Bestandteile aus. Es handelte sich nicht um einen ­ästhetischen Gruppenbau, wie er Anfang des vorigen Jahrhunderts gepflegt worden ist; Abbildung 1 und 2 zeigen zwei solcher aus Kirche, Pfarr- und Schulhaus gebildeter Anlagen, die wohl für die Kirche innerhalb des Häusermeeres ein stimmungsvoller Bezirk, weniger aber der Ausdruck einer besonderen Lebensform der Gemeinde sind. Das Wesen unseres »Gemeindehauses« dagegen bestand weder in der Schaffung einer architektonischen Folie für die Kirche, noch erschöpfte es sich in der praktischen Angliederung aller notwendigen Gemeinde­ räume, Konfirmandensäle, Pfarr- und Küs­terwohnungen an die Kirche, sondern es lag in dem Ausdruck des Wertverhältnisses. Aller­dings kam dem bei dem Diaspo­rabauten (Titelbild sowie Abbil­dung 3 und 4) die praktische Rücksicht auf das tatsächliche Größenverhältnis und auf die technische Ersparnis sehr zu Hilfe. Wenn uns dogmatische |

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Abb. 1: Ev. Jakobskirche in Berlin von Stüler

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Abb. 2: Ev. Stadtkirche in Karlsruhe von Weinbrenner

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Abb. 3: Ev. Kirche mit Gemeindehaus in K. von Otto Bartning

Abb. 4: Ev. Kirche mit Gemeindehaus in R. von Otto Bartning

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19 Bedenken aufstiegen, verscheuchten wir sie mit diesen praktischen Gründen, und wenn praktische Mängel sich ergaben, wogen wir sie mit ideellen Gründen auf. Oder, wer uns Profanation der Kirche vorwarf, dem hielten wir die Ersparnis an Mauerwerk und Heizmaterial entgegen, und wer die Gedrungenheit des Baues und die geringe Turmhöhe tadelte, den schlugen wir mit der demokratischen Idee. Äußere, d. h. äußerliche Anfeindung schreckte uns nicht. Die mit Abbildung 3 gezeigte Kirche z. B. erregte während des Bauens bei einigen Stadtvätern solche Entrüstung, daß ernsthaft der Antrag eingebracht wurde, man solle dieses Ärgernis inhibieren und wieder abtragen. Schließlich begnügte sich der Verschönerungs-Verein damit, die prachtvollen alten Akazien vor der Kirche wegzuschlagen. Der mit Abbildung 4 gezeigte Rundbau wurde von der vorgesetzten Kirchenbehörde als »Judentempel« verworfen und wäre verworfen geblieben, wenn nicht mein dortiger Bauherr, ein mannhafter Christ, mit der dem benachbarten Klosterarchiv entnommenen Beschreibung einer am selben Orte von der Gegenreformation zerstörten evangelischen Rundkirche und mehr noch mit seiner guten Überzeugung bewaffnet, eine schneidige Attacke für unser Projekt geritten hätte. Bei Wort- und Spottgefechten mit den Gegnern, beim Diskutieren und Schwärmen unter uns, am häufigsten aus dem entstehenden Werke selbst flüsterte mir aber allmählich immer deutlicher eine Stimme zu, daß wir planten und auf dem Fundamente unserer Zeit aufbauten, was wir im Grunde unserer Seele schon verwarfen. 20 Kurz gesagt: ob im gruppierten oder nicht-gruppierten, ob im | Langhaus- oder im bevorzugten Zentralbau, wir suchten gleich anderen unserer Tage die konsequente Lösung des Predigtraumes, der in praktischer Anordnung die Hörer um die Kanzel versammelte. In diesem Programm lag nicht nur kein Unterschied von dem eines Hörsaales, sondern wir waren auch bereit, die Kirche für Vorträge, Konzerte, Versammlungen zu öffnen. Ein Schritt nur fehlte zu jenen Kirchen in England und Amerika, wo ich an Ostern z. B. Films der Oberammergauer Passionsspiele mit Orchester und einleitender Andacht vorgeführt sah. Den verschiedensten Formen dieser Bestrebung nach sichtbarer Darbietung und nach vermehrter Wirkung auf die Gemeinde bin ich auch bei meinen geistlichen Bauherren begegnet, ja in einer unserer Kirchen traf ich einmal den sogenannten Wartburgfilm, eine teils rührende, teils historische, teils agitatorische Zusammenstellung 16 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

aus der Reformationsgeschichte. Wo aber lag die Schwelle des Zulässigen zwischen solchen Darbietungen und der Aufführung etwa der Matthäuspassion? Sollte man den Kunstwert prüfen und also der Kunstkritik oder dem schwankenden Geschmack und Taktgefühle sich ausliefern? Ich selbst hatte in einer meiner Kirchen aus ehrlichem Gefühle heraus von der Orgel herab die Geige gespielt, ich war für und wider bunte Fenster, für und wider Bilderschmuck mit Eifer eingetreten. Einer meiner Bauherren, der Pfarrherr der auf Abbildung 4 wiedergegebenen Kirche, mit dem die reine Übereinstimmung der Bauabsichten mich zu Freundschaft und jahrelanger gemeinsamer Arbeit verband, hatte ein so feines Verständnis für den Stimmungswert der künstlerischen Form, sowohl in seiner Predigt wie im architektonischen Bau, daß ich mit ihm zusammen glaubte, der harmonisch abgestimmte Raum | als Hintergrund des gepredigten Wortes sei 21 das letzte Ziel der evangelischen Kirchbaukunst, und jede ästhetisch wirksame Zutat aus dem Reiche der Künste sei berechtigt, soweit sie dieser gemessenen Aufgabe diene. Das höchste und einzig mögliche Ergebnis unseres Eifers war ein ästhetisch wohlabgestimmter Nutzbau, ein Profanbau. Wir hielten unsere Kirche offen, damit jederzeit der nach Andacht und Erhebung Bedürftige eintreten könne. Was aber boten wir ihm? Ein Predigthaus, das ohne Predigt ein leeres Gehäuse, das im Winter nicht einmal die primitive Annehmlichkeit einer Wärmehalle bot und dessen zum bloßen Hintergrund herabgestimmte Gestalt und Ausschmückung nicht genug zu sagen hatte, um der Schale einen Kern, dem Gehäuse einen Inhalt zu geben. Und dennoch hielten wir die Kirchentüren offen, dennoch verlangten wir nach Bildschmuck und nach würdevoller, das Auge beruhigender, den Geist sammelnder, die Seele erhebender Abstimmung des Raumes. Wo aber neben uns evangelische Kirchen in neugotischer oder neuromanischer Aufmachung das profane Gesicht der Predigthalle hinter einer unwahren, symbolisch-sakralen Maske verbargen, wo mächtige Quadertürme eine gestorbene Ekstase nachäfften, dämmerige Innenräume und Altarnischen, in denen die Bibel nur bei elektrischem Lichte zu lesen war, Stimmung vortäuschten, der nur das Weihrauchfaß fehlte, da erhob sich unser spott- und kampflustiger Angriff nicht nur gegen die künstlerische Unwahrheit, sondern vor allem gegen die »Stimmung«, und das um so heftiger, als wir fühlten, daß hier mit falschen und oberflächlichen Mitteln das gegeben wurde, was wir uns ebenso streng versagten wie wir es unbewußt innig ersehnten. |  Erlebnisse

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Meine letzte österreichische Baureise vor Ausbruch des Krieges führte mich in der Steiermark an jener ersten Kirche vorüber, und ich überschlug dort einen Zug, um den neuen Pfarrer aufzusuchen, der inzwischen an die Stelle meines Freundes getreten war. Als ich die wohlbekannte Straße hinaufging und zum kleinen Turme aufschaute, sah ich, daß die Zeiger der Uhr stillstanden. Ich legte meine Hand auf die Klinke der Kirchtür und fand sie verschlossen. Hinten herum durch den Gemeindesaal fand ich meinen Eingang; statt der Büchertische standen dort Wäschekörbe und eine Nähmaschine; durch die Fenster sah ich, daß im Garten das Bienenhaus ausgestorben, die Beete und Wege im Obstgarten anders, wenn auch unleugbar zweckmäßiger angelegt waren. Ich schritt durch die Kirche, wo am Altar die Blumen fehlten und eine mißfarbene Decke aufgelegt war, stieg auf die Empore und setzte mich dort auf die oberste Bank beim schwärzlichen Glockenseile. Mit den Augen durchlief und betastete ich den Raum und jede Form, in die wir einst unsere ganze Seele gelegt und für die wir gekämpft hatten wie fürs ewige Leben. Und, nahezu objektiv das Werklein prüfend, verspürte ich einen Hauch der Idee, die damals uns erfüllt und getrieben hatte: die Kirche als Predigthaus, den Saal als Heim der Gemeinde, das Pfarrhaus als Wohnung des ersten Dieners der Gemeinde und zugleich als Zuflucht aller, und all diese Nutzzwecke zusammengefaßt zu einem Nutzbau, der nicht nur die Befriedigung dieser Zwecke, sondern ihre Erfüllung, ihre Erscheinung darstellte. Denn plötzlich sah ich, daß viel deutlicher, als wir es mit Worten damals begriffen hatten, hier unsere Idee in Form und 23 Gestalt dastand, | viel deutlicher, viel stärker, viel unerbittlicher und also auch viel vernichtender. Wir hatten gemeint, eine Raumgestalt unseres Glaubens, unserer Überzeugung hinzustellen, und siehe, es war nur ein Gehäuse des Glaubens, ein Gehäuse der Predigt, heute dieser, morgen jener individuellen Predigt, und ohne Predigt eine Schale ohne Kern. Unsere Frömmigkeit war nicht in dem Bau enthalten, sie hatte sich nur darin aufgehalten. Unsere Kunst war weltlich gewesen, sie war neben, sie war außer der Religion gewesen. Wie eine zweite Austreibung aus dem Paradiese erschien mir diese Erkenntnis. Ungesehen und ungekannt schlich ich mich aus meiner Kirche hinaus und fuhr mit dem nächsten Zuge davon. Aus dem Problem aber konnte ich nicht so leicht davonschleichen. In der Muße der Bahnfahrt verließ mich die Frage nicht mehr, warum unsere 18 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Kirche nur zweckmäßiges Gefäß und nicht Ausdrucksform der Religion, warum sie profan und nicht sakral sei; und ob nur unsere Gemeindehäuser oder die evangelischen Kirchen überhaupt von dieser Einschränkung getroffen würden. Daß es an der Spannung des Bauwillens nicht liegen konnte, sagte ich mir aus der Erinnerung unseres eigenen inbrünstigen Wollens, das doch den Pfeil nicht über die menschlichen Notzwecke hinauszuschnellen vermocht hatte. Vielmehr fühlte ich, daß eine Besonderheit der Religion selbst und damit eine Besonderheit des Bauprogramms entscheidend sei, und daß diese Besonderheit für den geistigen Inhalt der Religion vielleicht von nebensächlicher, für den baulichen Ausdruck der Religion aber von entscheidender Bedeutung sein müsse. |  Obwohl ich zu dieser theologisch-architektonischen Frage nur zur 24 Hälfte berufen bin, darf ich ihr nicht ausweichen auf der Suche nach dem Wege, der, wenn nicht durch, so doch vor das Tor des zum zweiten Male verlorenen Paradieses führen möge. | 

Erlebnisse

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Begriff des Sakralen

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Sowohl bei historischer wie bei psychologischer Betrachtung darf man wohl annehmen, daß der Mensch durch die innere Erfahrung der eigenen Seele zur Annahme von Naturseelen und zur Beseelung der Naturerscheinungen geführt wurde, – durch die äußere Erfahrung von der Macht der Naturerscheinungen aber sich gezwungen sah, zu diesen beseelten Naturerscheinungen, d. h. also zu den Naturgöttern ein religiöses Verhältnis zu suchen. Die primitive Form solcher Naturreligion bedarf zunächst keiner Bauten. Der Geist einer Quelle, eines Berges, eines Baumes wird an der Quelle, auf dem Berge, unter der Krone des Baumes am besten verehrt, auch dann, wenn dieser Geist in der Gestalt z. B. einer Schlange, die in der Höhle des Berges wohnt, angesehen wird. Auch die Anbetung des Himmels oder der Himmelsgestirne auf den ihnen nahegerückten Bergeshöhen erfordert an sich keine bauliche Gestaltung dieser Bergeshöhen. Wichtig aber ist die Tatsache, daß die Naturgeister oder Naturgottheiten nicht überall, sondern eben nur an dem bestimmten Orte ihrer Gegenwart oder ihrer größten Nähe verehrt werden können. Dadurch kommt diesem Orte eine besondere Bedeutung | zu, und seine feste Umzirkung, sein Abschluß vor 26 Blick und Zutritt Unberufener wird über den reinen Schutz- und Nutzzweck hinaus zum Ausdruck der Bedeutung und Weihe, die ihm als einzigartiger und einzig möglicher Stätte der Anbetung zukommt. Die Erfahrung der eigenen Seele schloß unmittelbar auch die Annahme einer Seele im Nebenmenschen in sich. Die Erfahrung der seelischen oder geistigen Gewalt, die fühlbar vom Nebenmenschen ausging, erzeugte notwendigerweise den Wunsch, sich zu dieser Gewalt in ein günstiges Verhältnis zu setzen, zumal dann, wenn mit dem leiblichen Tode des Nebenmenschen seine geistige Gewalt uneingeschränkter und dadurch in höherem Maße gefahr- oder segenbringend wurde. Dieses Aufsuchen eines günstigen Verhältnisses zu einer Macht, die über uns Gewalt hat, ist aber der Grundtrieb aller Religion. Wie die Naturreligion an die NaturBegriff des Sakralen

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objekte, so ist der Toten-, Ahnen- oder Manenkult naturgemäß an die Gebeine und an die Bestattungsstelle oder an die Wohn- und Wirkungsstelle des Verstorbenen gebunden. Über das Bestreben, diese Stätte vor fremdem Eingriff zu schützen, also über den Nutzzweck entsprechender Bauten hinaus wirkt der ausschließlich von dem religiösen Verhältnis eingegebene Wunsch, die Stätte auszuzeichnen und zur Freude des Verehrten zu schmücken. Wo man zur symbolischen Darstellung der Naturgötter in Tier- oder Menschengestalt vorschritt und dadurch die Gottheit zwang, bei oder in dieser symbolischen Gestalt anwesend zu sein, wurde wiederum der Aufstellungsort des Götterbildes zum besonders oder ausschließlich geeigneten Orte der Verehrung, und auch seine Ausgestaltung und Pflege 27 wurde über das praktische | Erfordernis hinaus zur religiösen Pflicht. Wo gar das symbolische Götterbild infolge populärer Denkabkürzung selbst zur Gottheit erhoben wurde, da kam seinem Aufstellungsorte als materiellem Wohnsitze der Gottheit sakrale Bedeutung im handgreiflichsten Sinne zu. Die rein praktische Not, den heiligen Ort zu schützen vor Eingriff fremder Gewalt, unberufenem Zutritt oder Einblick, war nicht wesentlich verschieden von der des primitiven Wohnungsbaues und ließ sich in beiden Fällen durch eine einfache Pallisade, ein Dach, eine Lehmhütte oder dergleichen befriedigen. Erst das aus der Seelennot entspringende religiöse Bedürfnis, den heiligen Ort zur besonderen Freude und Ehre der Gottheit herauszuheben und auszustatten und dadurch eine neue und feste Beziehung zur Gottheit herzustellen, erhob das Bauen selbst zu einem eigentlichen Akte der Verehrung, machte aus der Lehmhütte einen Tempel, aus der Erdhöhle ein Gruftgewölbe. Baukunst und Musik boten sich als besonders geeignete Ausdrucksmittel dar. Kann man doch die Musik als die dem Menschen faßbare Auseinandersetzung mit der in ihrer Unendlichkeit unfaßbaren, ewig entfliehenden Zeit ansprechen, und kann man doch mit Worringer*) die Baukunst als die greifbare Auseinandersetzung mit dem unendlichen ungreifbaren Raume ansehen, insofern sie ein Stück dieses Raumes nicht nur umschließt, sondern als ein in sich abgeschlossenes, harmonisch gefügtes Ganzes wahrnehmbar und begreifbar macht. Ihrem Wesen nach ) W. Worringer, »Abstraktion und Einfühlung«, Piper & Co.

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eine Auseinandersetzung mit dem Unendlichen ist sie in besonderem Sinne religiösen Ursprungs. Ein Tempel, ein Säulenhof, ein | Grabgewölbe 28 umfaßt nicht nur räumlich ganz genau die Kultstätte, sondern ist seinerseits von der Heiligkeit des Kultes, von dem anwesenden Geiste bis in den äußersten Winkel seiner Raumgestalt, aber keine Handbreit darüber hinaus, harmonisch ganz erfüllt. Der Bau umgreift nicht nur die Heiligkeit, den Geist der Stätte, sondern er stellt in seiner Wohlgestalt oder in seiner Willensgebärde*) den Geist der Stätte selbst dar, er ist die Erscheinung, die Form dieses Geistes. Daß z. B. die indische Pagode mit ihren abgestuften Geschossen symbolische Darstellung der Weltsphären, daß der Grundplan der Stiftshütte in Jerusalem Symbol der Welteinteilung, daß die griechische Säulenhalle Abbild des Haines wie das gotische Rippengewölbe das des Waldes sein soll, ist mehr ein accidentielles Spiel der Phantasie und tritt als solches nur spezialisierend zu der Grundtatsache hinzu, daß die Pagode, die Stiftshütte, die Säulenhalle und der gotische Dom ein sichtbar gewordenes, ganz und gar vom Geiste des Ortes durchtränktes Stück des unendlichen Raumes, d. h. die räumliche Erscheinungsform dieses Geistes sind. Wir können also die den sakralen Bautrieb auslösende Besonderheit des Bauprogrammes darin erblicken, daß eine bestimmte Stätte durch ihren leiblichen oder geistigen Zusammenhang mit dem Gegenstande der Verehrung ausschließlich oder doch hervorragend zum Kult geeignet ist. Dieser örtliche Zusammenhang besteht entweder darin, daß der zu verehrende Geist die Kultstätte zur Wohnung hat, sie mit Vorliebe aufsucht oder von ihr aus am leichtesten zugänglich ist, oder aber dadurch, daß er sich durch Symbole oder Pfänder an den Ort gebunden fühlt | wie durch 29 die Gebeine im Totenkult oder durch die Abbilder im symbolischen Bilderdienste), oder endlich dadurch, daß er körperlich-reell (z. B. im Fetisch) oder geistig-real (z. B. in der Hostie) an den Ort schlichthin gebunden ist. Nur diese örtliche Gebundenheit der Religionsübung macht die räumliche Umzirkung und Gestaltung dieses Ortes zu einer sakralen Aufgabe, nur die Baugestalt eines solchen sakralen Ortes ist Sakralbau. Diese Aufgabe faßt so ganz alle darstellenden Kräfte des Menschen in sich, daß sie wohl überhaupt zuerst aus dem Notwerk des Menschen das Kunstwerk machte,

) Karl Scheffler, »Geist der Gotik«, Inselverlag.

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indem sie die Not in die Idee verklärte, und insofern ist die sakrale Baukunst wohl der Ursprung der Baukunst als Kunst überhaupt. Wir haben dem Worte »Sakralbau« eine Definition gegeben, die, wie mehr oder minder jede Definition eines Begriffes, nicht von ihm abgeleitet, sondern ihm beigelegt ist, d. h. also keinen Beweis, sondern eine These, eine Forderung darstellt. Vitruv teilt im dritten Kapitel des ersten Buches seiner »Architectura« die Baukunst in zwei Gruppen, die der öffentlichen und der privaten Bauanlagen, und unterscheidet wiederum in jener Gruppe Verteidigungs-, Religions- und Nützlichkeitsbauten. Dieser Einteilung und ihrer Definition pflegt man sich bis heute allgemein zu bedienen, wobei man vielleicht die Verteidigungsbauten mit zu den Nützlichkeitsbauten zählt und nun kurz zwischen Sakral- und Profanbauten unterscheidet. Diese Einteilung geht vom Zweck aus. Wenn sie außer der registrierenden Benennung eine Rangordnung herstellen soll, so bestimmt sie dieselbe einfach nach der Rangordnung der Zwecke, d. h. nach der in verschiedenen Zeiten unterschiedlichen Bewertung der Zwecke. |  30 Sakralbauten in diesem Sinne waren natürlich auch unsere Kirchlein und Gemeindehäuser, nämlich dem religiösen Zwecke nach. Nun strebt jedes Werk angewandter Kunst, insofern es Handwerk ist, nach Befriedigung des Zweckes, und insofern es Kunstwerk ist, nach Erfüllung, Bezwingung und letzten Endes Überwindung des Zweckes. Dabei muß hier gesagt werden: Handwerk und Kunstwerk, oder sagen wir besser: Notwerk und Kunstwerk sind im Wesen ebenso ferne Gegensätze, wie sie im Wirken unlösliche Teile des Werkes sind. Aber auch Inhalt und Ausdruck, Idee und Form sind nur Gegensätze des Denkens. Wir begreifen das Leben des Kunstwerkes nicht, oder wir haben kein urtümliches Kunstwerk vor uns, wenn wir den Inhalt als etwas der Form Eingefülltes, die Form als etwas dem Inhalte Übergezogenes sehen. Die Form ist die sichtbare Erscheinung des Inhaltes, gleichwie der Gedanke seine abstrakte Erscheinung ist. So wenigstens verhält sich der Dichter und der bildende Künstler zur Idee, denn ich gehe nicht von der naheliegenden Erinnerung an Platon und Aristoteles aus, sondern möchte hier wie überhaupt nur versuchen, dem eigensten Erlebnis und einem, sei es als Erbe oder als Ahnung auf dem Grunde der Seele ruhenden Wissen tastend Ausdruck zu geben. Und ich glaube, daß es ein Stück vom Erlebnis, von der Erbschaft und der Ahnung unserer Tage ist. So z. B. fiel mir, als 24 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

die vorliegenden Betrachtungen abgeschlossen waren, eine viel zu wenig bekannte Schrift von Rudolf Pannwitz*) in die Hand, und Sätze sprangen mir bestätigend daraus entgegen, wie: |  »Zweckkunst in irgendeinem Sinne ist fast jede Kunst. Aber es ist ein 31 Unterschied, ob der Zweck die Form beherrscht oder die Form den Zweck. Daß die Form aus dem Zweck mit zwingender Notwendigkeit hervorgehen könne, sogar müsse, ist nur ein oberflächlicher Irrtum, der von der Urwelt der Form gar nichts weiß, in der Welt der Mittel und Zwecke aber mehr als jeder wirkliche Handwerker gefangen steckt. Ein Übergewicht der Kunst aber erwächst überall da, wo die Form beherrscht. Jede Form, die einen Zweck beherrscht, macht ihn ideal, reiht ihn erst ins Urlebendige hinein.« »Ohne die nötigen Einschränkungen einzeln zu erwähnen, läßt sich nun sagen, daß innerhalb der Baukunst der Kirchenbau das Äußerste geschichtlich geleistet hat.« »Kunst und Religion, so oft einander sich entgegensetzend, aber nicht minder oft, fast öfter sogar zusammenklingend, beanspruchen jedes für sich eine gleichermaßen ursprüngliche Einheitlichkeit des Erlebnisses. So ist es wohl kein Zufall, daß eben Kunst und Religion, nächst dem elementaren, die ersten Mythen schaffenden Grauen aus dem Raumerlebnisse hervor das Gewaltigste gestaltet haben.« »Die Kirche ist das Haus Gottes. Aber Gott ist in der Seele. Aus ihr baut er im Raume sein Haus.« Insofern es sich nun für uns um begriffsmäßiges Überlegen handelt, müssen wir die soeben als im Werke unlösbar bezeichneten Teile Inhalt und Ausdruck, Idee und Form getrennt ansehen und könnten so – wie Vitruv von den Zwecken – von den Inhalten, den Ideen ausgehen und danach die Formen einteilen: |  Profanbau, weltliche Baukunst, Ausdruck weltlich-menschlicher 32 Inhalte, eine Erscheinungsform der Weltlichkeit im allgemeinen. Im besonderen könnte man Königsburgen, Schatzhäuser, Gerichtshallen, Wohnhäuser die, nach dem jeweiligen Ausdruckswillen und Vorstellungs-

) »Zur Formenkunde der Kirche«, Verlag Ziemssen, Wittenberg.

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kreise sich bedingende Erscheinungsform der Königsmacht, des Reichtums, des Rechtes, der Familie nennen. Sakralbau, heilige oder religiöse Baukunst, Ausdruck heiliger, religiöser Inhalte, eine Erscheinungsform der Religion. Sakralbau ist religiöse Opfertat. Je nach der Wertschätzung des Bauanlasses, d. h. also je nach der Bewertung der Königsmacht, des Schätzereichtums, des Rechts und der Wissenschaft, des Sozialen und der Familie, bemißt sich die ideelle Spannung der auf die Bauaufgabe gerichteten Kräfte und mithin der Schwung der Leistung, d. h. das Maß der Kunstleistung eines Bauwerkes. In allen Zeiten, wo die herrschende Religionsform alle anderen Lebenswerte überwog, war daher der Sakralbau naturgemäß die höchste Kunstleistung der Zeit, während für uns z. B. Verkehrsbauten, technische Anlagen, Kaufhäuser und soziale Bauten infolge der darauf gerichteten Willensspannung ausschließlich zu baulichen Kunstleistungen bisher geführt haben. Baukunst, Raumkunst einerseits kann aber nur dann Ausdruck und Form der Religion sein, wenn die Religion selbst raumartig, raumhaft ist, d. h. irgendwie am bestimmten Raume haftet. Andernfalls verschmäht es die religiöse Idee, Raumform zu sein, und versagt dem bauenden Menschen ihre ekstasierende Hilfe. 33 Religion anderseits findet nur dann und nur insoweit einen | eigentlichen baulichen Ausdruck, als sie raumhaft ist, d. h. als die Religionsübung räumlich gebunden ist. Diesen baulichen Ausdruck nennen wir, sowohl aus der Erfahrung wie aus der Forderung heraus, Sakralbau. Die örtliche Gebundenheit der Religionsübung ist gegeben mit der Bestattungsstelle der Gebeine beim Totenkult, mit der symbolischen oder realen Anwesenheit der Gottheit im Götterbilde, endlich mit der geistigen Nähe der Gottheit an bestimmter Stelle, nicht also nur vermöge ihrer Allgegenwart. Erst diese Bindung an den Ort macht die Umzirkung, Überdachung und Ausschmückung eben dieses Ortes über die Notwendigkeit hinaus zu einer selbständigen religiösen Pflicht und Aufgabe und steigert die Errichtung des Gebäudes zu einem Teile der Religionsübung. Die Größe des Bauwerkes z. B. bemißt sich dann nicht mehr nach dem erforderlichen Maße der Sicherheit oder der erforderlichen Anzahl der Sitzplätze und dergleichen Notzwecken, sondern ist ein Resultat der Willens- und Gefühlsspannung. Daß diese Spannung oft nicht nur über die praktische Notwendigkeit, sondern auch weit über das praktische Vermögen hinaus 26 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

führen kann, wird durch unvollendete Kathedralen und Turmbauten deutlich genug bewiesen. Unter diesen Voraussetzungen werden immer dann, wenn die Religion die Summe der Lebensäußerungen einer Zeit ist, die Sakralbauten zugleich die höchste Leistung der jeweiligen Baukunst darstellen und die anderen Künste in freiwilliger Einordnung umschließen, da auch diese in solchen Zeiten keine höhere Aufgabe kennen als Aufbau, Gestaltung und Schmückung des heiligen Ortes. In Zeiten dagegen, die auf andere Lebensäußerungen, wie weltliche Pracht- und Machtentfaltung, Bequemlichkeit, Verkehr, |  sozialen Austausch und dergleichen mehr Wert als auf 34 die Religionsübung legen, muß die religiöse Baukunst vom Willensniederschlage der Vergangenheit zehren; es gibt dann zwar noch einen Sakralbau, sofern er nach wie vor den notwendigen Ort der Religionsübung darstellt, aber einen Sakralbau geringeren Grades. Wenn endlich die Religionsvorstellungen sich dahin ändern, daß die eigentliche Religionsübung nicht mehr notwendig an einen heiligen Ort gebunden bleibt, vielmehr in die Brust des einzelnen zurückverlegt wird, gleichzeitig aber aus überwiegend praktischen Gründen an dem Bau von Räumen für gemeinsame Religionsübungen festgehalten und diesen Räumen aus Gewohnheit noch die Würde eines an sich heiligen Ortes beigelegt wird, so entsteht notwendigerweise ein Kirchbau, den wir als scheinbar oder pseudosakral bezeichnen müssen. Von unserem Standpunkte aus erkennen wir also folgende Arten des Kirchbaues: 1. den Sakralbau höchsten Grades bei örtlicher Gebundenheit der Religionsübung und Hochspannung des Religionstriebes; 2. den Sakralbau geringeren Grades bei örtlicher Gebundenheit der Religionsübung und Neben- oder Unterordnung des religiösen Triebes gegenüber anderen Lebenstrieben; 3. den pseudosakralen Bau bei Loslösung der Religionsübung von einer örtlichen Gebundenheit, aber gewohnheitsmäßiger Bewertung der Kirche als eines an sich heiligen Ortes. 4. Mit der Erkenntnis dagegen, daß der kirchliche Raum nur praktisch bedingt, ideell aber zufällig und belanglos ist, wird der Kirchbau zum Profanbau. | 

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Das Sakrale in der katholischen Kirche

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Da eine anschauliche Vorstellung der vorhin bezeichneten Stufen des Sakralen in Kirchbau und Religionsform uns dem Ziele unserer Betrachtung – einem deutlichen Programm des zukünftigen evangelischen Kirchbaues – näherbringen muß, möchte ich dieselben in kurzem Überblick durch die Wandlungen der christlichen Kirche verfolgen. Die weiten Gebiete der theologischen und der kunsthistorischen Fachwissenschaft liegen außerhalb meiner persönlichen Grenzen, und ich bitte betonen zu dürfen, daß ich hier wie im folgenden fern davon bin, auf diesen Gebieten mich dilettantisch zu produzieren oder zur kritischen Verantwortung zu stellen. Die Ideen, von denen ich hier sprechen möchte, stammen vielmehr aus der Anschauung, die natürlich lückenhaft ist. Aber gerade die stille Gewalt des Angeschauten zwingt mich ja zu sprechen, und die schaubare, d. h. die bauliche Erscheinungsform dieser Ideen ist es, auf die ich letzten Endes abziele. Ohne Schaden, ja vielleicht nicht ohne Nutzen für die Sache glaube ich meinem Leser diese meine Beschränkung hier auferlegen zu dürfen. Die Evangelien und Briefe des Neuen Testamentes und die Schriften der Kirchenväter möchte ich für die Zeiten ihrer | Entstehung allerdings auch als Anschauungsmaterial in Anspruch 36 nehmen, zumal die unkritische, aus der Jugend stammende, bildhafte Vorstellung derselben mich auf meinen Reisen unwillkürlich begleitete. Der historisch-kritische Streit um Dasein und Leben der Person Jesu ist hierbei unfruchtbar, da wir es nicht mit der Entstehungsursache, sondern mit den Wirkungsformen des Christentums zu tun haben. Aus der Größe der historischen Folgen auf die Größe des historischen Anlasses, aus der Macht der persönlichen Wirkungen auf die persönliche Macht der Ursache zurückzuschließen, ist für das Denken nur fruchtbar, wenn Glaube und Erlebnis vorangehen, nicht umgekehrt. Die erste Erscheinungsform des Christentums als einer Religion, das sogenannte Judenchristentum, wie es in den drei synoptischen Evangelien und der Apostelgeschichte sichtbar ist, anerkannte zwar als Stätte Das Sakrale in der katholischen Kirche

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der Anbetung den Zionstempel in Jerusalem; die Worte aber in der Bergpredigt vom Gebet im Kämmerlein und zahlreiche andere, wie Matth. 18, 20: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen«, und Joh. 4, 21 u. 23: »Es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. Aber es kommt die Zeit, und ist schon jetzt, daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geiste und in der Wahrheit …«, kurz, das im Christentum dargestellte Gottesreich auf Erden, in dem ein jeder Gottes Kind und sein eigener Priester ist, schloß jede örtliche Gebundenheit der Religionsübung, mithin auch jeglichen Anlaß sakraler Bauten vollständig aus. Auch blieb bei dem Glauben an die baldige Wiederkehr Christi 37 kaum Zeit übrig, sich mit solchen Bauten aufzuhalten. Nicht ein|mal an der Leidensstätte Golgatha oder an der Grabstätte ließ der Glaube an die leibliche Auferstehung und Wiederkehr Jesu einen Kult, geschweige denn einen Kultbau zu, so natürlich ein solcher sonst gewesen wäre. Aber selbst die nach Jahrhunderten erst erbaute Grabeskirche in Jerusalem hat, außer in den Kreuzzügen, nie eine ungewöhnliche Bedeutung angenommen. Man betrachte daneben nur den Kult am Grabe des Propheten Mohammed und die daraus entstehende sakrale Bedeutung der Moschee in Mekka, von deren örtlicher Gebundenheit alle anderen Moscheen erst ihre Richtung und Eignung als Stätten des Gebetes ableiten. Das Paulinische Heidenchristentum, wie es sich in den Briefen des Paulus darstellt, löste den letzten Rest der jüdischen Gesetzesgerechtigkeit und der Bedeutung des Tempels in Jerusalem auf. Doch auch Taufe und Abendmahl sind ihm, soweit ich sehe, kaum mehr als sichtbare Zeichen, Symbole des Eintritts in die Gemeinde und der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft mit Christus. In diesem Sinne wird ihre Feier den Gemeinden ans Herz gelegt, kann aber überall da stattfinden, wo die Gemeinde im rechten Geiste zusammenkommt, ist also an keinen Ort, an keinen irgendwie sakralen Raum gebunden. Die römischen Christen der ersten Jahrhunderte zogen sich vor der Verfolgung in die Katakomben zurück. Auch die Gebeine der Verstorbenen, insbesondere der Märtyrer, wurden dort begraben, um sie vor heidnischen Händen zu schützen. Kapellenartige Raumerweiterungen der schmalen Katakombengänge dienten dem Aufenthalte und den Gebetsversammlungen, entstanden also aus reinen Nutz- und Schutzzwecken, d. h. in unserem Sinne als Notbauten. Die Raumerweiterungen finden 30 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

sich nun vorzugsweise bei den | Grabstätten der Märtyrer und zeigen 38 eine Ausgestaltung und Ausschmückung, die auf den heutigen Besucher noch den Eindruck einfacher Darbietungen der Frömmigkeit macht. Diese Beobachtung deutet uns den Weg, wie diese Räume teils wegen der nur dort vorhandenen Sicherheit, teils aber auch wegen der Nähe der Märtyrergebeine allmählich zu bevorzugten und einzigartigen Orten der Religionsübung wurden. Übrigens ist noch heute bei Gemeinden, die in Verfolgung oder Zerstreuung (Diaspora) leben, dieser Übergang der Schutzgefühle beim Kirchbau in die Gefühle örtlicher Anhänglichkeit, ja Gebundenheit an den Bau zu bemerken. Diese Gefühlsmischung ist es auch, die in den »Los-vonRom«-Gemeinden eine so viel stärkere Anspannung des religiösen Willens auf den Kirchbau hervorruft als in der gesicherten Landeskirche. Sobald nun aber die ersten Christen am Grabe ihrer Lehrer und Vorkämpfer, die ihnen Führer zu Christus gewesen waren, sich näher bei Christus fühlten als anderwärts, war jene örtliche Gebundenheit aus rein religiösen Gründen gegeben, die zum eigentlichen Sakralbau ganz ursprünglicher Art führen mußte. Die reale Gegenwart der Gebeine der Märtyrer oder Heiligen wurde der Ausgangspunkt christlichen Sakralbaues und ist der Angelpunkt des gesamten katholischen Kirchbaues geblieben. Ist doch ein Gebet in der über dem Richtplatze St. Peters erbauten Kirche und ein Segensspruch des an diesen Ort gebundenen Nachfolgers Petri von so direkter göttlicher Wirkung, ist doch also für diese Wirkung der Ort so wichtig, daß durch die Jahrhunderte hindurch die Pilger dahin wallen. Auch aus der Benennung und vor allem aus der verschiedenen Bewertung der | Kirchen je nach der Bedeutung des dort anwesenden Heiligen geht 39 hervor, wie wichtig der Ort für das an diesen Heiligen gerichtete oder ihm als Vermittler aufgetragene Gebet ist, wie sehr also die Anwesenheit der heiligen Gebeine oder Reliquien der eigentliche Grund der sakralen Bedeutung der katholischen Kirche ist. Das Meßopfer, die in ihm sich vollziehende real-leibliche Gegenwart Christi, tritt zu diesem Grunde erst in zweiter Linie hinzu, da es weniger an den kirchlichen Raum, als vielmehr an die Person des Geistlichen gebunden ist. Immerhin stellt die ewige Lampe, die über dem Sakramente brennt, die Gegenwart des göttlichen Geistes dar, nicht so sehr aber seine Allgegenwart, als seine besonders intensive Gegenwart an diesem Aufenthaltsorte der Hostie. Das Sakrale in der katholischen Kirche

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Daß weitere Fürbitter und Heilige in der Kirche durch Bildwerke vertreten, und daß diese Bildwerke dann selbst als heilig oder gar als die betreffenden Heiligen angesehen werden, führt zwar zur denkbar stärksten Gebundenheit der Religionsübung an den Standort dieser Bildwerke und dadurch zur sakralen Bedeutung jeder Kapelle und Nebenkapelle, ist aber doch eine – wenn auch von der Kirche bewußt geförderte – so doch ausschließlich populäre Vergröberung. Sie fällt daher weniger für unsere Untersuchung des Begriffes ins Gewicht, als sie uns auf die Kraft eines primitiven Triebes aufmerksam macht. Prüfen wir, auch mit aufgeklärtestem Verstande, unsere eigenen Gefühle, wenn wir am Grabe unseres Vaters oder eines verehrten Lehrers stehen. Angenommen, wir pflegen die Grabstätte nur der Sitte wegen, wir wissen, daß Sarg und Leichnam unter der Erde zur Unkenntlichkeit zerstört sind, 40 wir wissen, daß der | Verstorbene in uns, an jedem Orte und zu jeder Zeit lebt, regt sich dennoch eine primitive Scheu in unserer Brust und hindert uns, gerade an der Grabstätte unfreundlich oder nur gleichgültig von dem Begrabenen zu reden. Und solange wir wirklich eine Erinnerung an ihn pflegen, werden wir an seinem Schreibtische oder vor seinem Bilde uns nicht nur in gesteigertem Maße an ihn erinnert fühlen, sondern letzten Endes ganz einfältig eine Art von Gegenwart verspüren, auch ohne Zuhilfenahme der Mystik. Ob es sich dabei um einen vererbten Aberglauben, ein Fortleben des Urgefühls oder eine mystische Tatsache handelt, ist hier unwichtig neben der Beobachtung, daß ein solches Gefühl in uns lebendig ist. Auch kann man wohl an sich bemerken, daß man über das Grab oder die Reliquien eines Kindes freier verfügt, als über die verstorbener Eltern, Lehrer oder solcher Personen, deren Schutz und Unterweisung man bedurfte und weiter bedarf. Daß eine Mutter die Reliquien ihres Kindes zu Altären erhebt, ist eine Sache für sich; das Kind ist ihr Wunder und ihr Gott. Wir haben uns nur kurz in diese Falte des eigenen Gefühls begeben, um deutlicher zu verstehen, wie die Nähe der Märtyrergebeine in den Katakomben und später in den Kirchen eine örtliche Gebundenheit der Religionsübung und mithin eine sakrale Baukunst im höchsten Grade hervorrufen mußte, deren Antrieb einem ganz primitiven und darum ganz starken Urgefühle entsprang. Die objektive Echtheit der Gebeine und Reliquien ist dabei natürlich belanglos, soweit und solange die subjektive Annahme der Echtheit besteht. Für die Erhaltung dieser subjektiven Annahme trug der Klerus umfassende Sorge. |  32 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Der Klerus selbst, oder vielmehr das in seine Hand gelegte Meßopfer 41 bedingte, wie wir sahen, neben der Anwesenheit der Reliquien eine sekundäre örtliche Gebundenheit der Religionsübung, aus der allmählich aber die katholische Kirche nicht minder starke sakrale Bauanlässe gewann, entsprechend der Entfaltung des Klerus im Gottesdienste. Die Religionsübung der ersten Christen bestand aus Gebet, Psalmengesang, Vorlesung aus dem Alten Testament und den Schriften der Apostel oder Ansprachen der Apostel, baute sich also auf der jüdischen Synagoge auf und fand in Hallen, auf Plätzen, vor allem aber in Privathäusern statt. Die sogenannte Agap¯e, das Liebesmahl, erscheint als ein in dem Begriff antiker Gastfreundschaft beruhendes gemeinsames Mahl, das in den Häusern und aus den Mitteln der Begüterten regelmäßig veranstaltet wurde und also ebenso eine Betätigung christlicher Gütergemeinschaft wie überhaupt des Gemeinschaftsgefühls darstellte. Zu besonderen Anlässen wurde bei diesen Mahlzeiten unter Gebeten der Kelch herumgereicht und das Brot gebrochen zur Erinnerung an das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern. So erst wurde wohl das Liebesmahl zu einem Symbol und einem Bekenntnis der Gemeinschaft mit Jesus wie auch der Gemeinschaft untereinander. Bei der Verwaltung der Gemeinden und ihrer Zusammenkünfte bildeten sich die Ämter der Diakonen, Presbyter und Bischöfe heraus, deren Träger aber bis Anfang des dritten Jahrhunderts ausdrücklich noch als Laien bezeichnet werden. Erst im Laufe des dritten Jahrhunderts entstand, teilweise als Folge der die »Lehre« feststellenden Synedrien, eine Sonderstellung der die Lehre verwal | tenden Bischöfe und damit die Grundlage 42 der ganzen Hierarchie. Und die Bischöfe, die einst beim gemeinsamen Mahle den Vorsitz geführt und Kelch und Brot an der Tafel in Umlauf gesetzt hatten, wurden jetzt naturgemäß die Verwalter des inzwischen zum Wunder und Sakrament erklärten Symbols. Sie verlegten das Wunder der Messe in ihren eigenen klerischen Kreis und zogen sich dazu von den Laien in einen besonderen Raum der Kirche zurück, der in den frühchristlichen Kirchen als ein rings von halbhohen Schranken umgebener Bezirk, später als der die Kirche querdurch teilende Lettner oder als besonderer Chorbau auftritt. Und wie in den frühesten Kirchbauten Italiens, Kleinasiens und Nordafrikas die noch nicht in die Gemeinschaft aufgenommenen Zuhörer, die »Proselyten des Tores«, in Vorhöfen, also außerhalb der eigentlichen Kirche sich aufhalten mußten, so verblieb nun dem Laienpublikum der Kirchenraum vor und außerhalb des Chores. Daß ihm die Hälfte des SakraDas Sakrale in der katholischen Kirche

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mentes, der Kelch, entzogen wurde, war nur ein weiterer Schritt zur Bindung des Meßopfers an den Klerus. Außer dem Altar als dem Orte des Meßopfers wurde dadurch der Zusammenkunftsort des Klerus, das hohe Chor, zum sakralen Orte. Obwohl wir schon erkannt haben, daß die Messe nicht der entscheidende Faktor der örtlichen Gebundenheit des katholischen Kirchendienstes und also der sakralen Bedeutung des Kirchengebäudes ist, bleibt sie für unser Problem doch von besonderem Interesse, weil das ihr zugrunde liegende Abendmahl neben der Taufe als einziges Sakrament in die protestantische Kirche aufgenommen worden ist. 43 Eine in unserem Sinne sakrale Bauaufgabe stellt das Meß|wunder dadurch, daß es an die Vollziehung innerhalb des Klerus gebunden ist. Voraussetzung des Wunders und seiner Wirkung aber ist, daß Christus Gott ist. Schon im Jahre 325 in Nicäa kam bekanntlich der Streit um diese grundlegende Frage zum Austrage, indem die Lehre des Arius, welcher Christus, den Logos, als Geschöpf und vollkommensten Menschen ansah, verworfen und Arius selbst exkommuniziert wurde. Der arianische Streit aber ruhte nicht. Auf ihn geht die zweierlei Auffassung der Abendmahlsverwandlung, der Transsubstantiationslehre, innerhalb des Protestantismus zurück, die uns späterhin wegen der aus ihr entspringenden zweierlei Baugesinnung des Protestantismus beschäftigen wird. Zuvor aber vergegenwärtigen wir uns in kurzer Zusammenfassung: Während sich die ersten Griechengemeinden in jedem praktisch geeigneten Raume zur Abhaltung des Liebesmahles versammelten, waren die Raumerweiterungen der römischen Katakomben bei den Gräbern der Märtyrer schon sakraler Natur. Die frühchristlichen Kirchen mit ihren schützenden Vorhöfen einerseits (wie sie hauptsächlich bei den kleinasiatischen und afrikanischen Bauten der ersten Jahrhunderte hervortreten) und ihren Sarkophag-Altären andrerseits stellten gleich den Katakomben eine Mischung von Schutzbau und Sakralbau dar. Die praktischen Momente des Schutzes minderten sich auf das normale Maß, je weniger Verfolgung die Gemeinde bedrohte. Die sakralen Momente aber steigerten sich mit der konsequent steigenden Bedeutung der Heiligen und des Meßopfers bis zu höchster örtlicher Gebundenheit 44 der Religionsübung. In den Jahrhunderten des| Mittelalters, wo das kirchliche Bewußtsein eine der stärksten, häufig die stärkste Triebfeder der Zeit 34 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

bildete, stellten die Kirchen Sakralbauten im höchsten Sinne dar. In den Zeiten der Kreuzzüge stieg diese Willensspannung und damit auch ihr Ausdruck in den gotischen Domen auf einen wohl nie wieder erreichten Höhepunkt. Für diejenigen, die am Kreuzzuge nicht teilnahmen, war es Religion, Jahrzehnte ihres Lebens dem Bau und der Ausstattung einer Kirche zu weihen, und jeder Meißelstich ist wörtlich ein Stempel dieser Inbrunst. Dabei ist nicht so viel verschlungene Mystik im Spiele, wie man in den vergangenen Jahrzehnten der Aufklärung wohl meinte, sondern mehr die ganz geradlinige und rückhaltlose Hingabe an eine große und wunderbare Lebensaufgabe. Hat nicht – auf anderem Gebiete – der Sommer 1914 bei uns und mehr oder minder auch bei anderen kriegführenden Völkern das Wunder der Kriegsfreiwilligen gezeitigt, und hat nicht der Zurückbleibende mit aller Inbrunst sich seine gleichgerichteten Aufgaben in der Heimat gesucht oder geschaffen aus reiner Hingabe, sein verhätscheltes Individuum plötzlich vergessend, ja opfernd? Wir sehen heute, im vierten Kriegsjahre, nur, daß diese Hingabe egoistisch durchmischt ist. Ich habe die Hoffnung, der klare Hauptstrom wird in seiner Tiefe wieder erkennbar werden, wenn der trübe Schaum der Zeitstrudel zerplatzt ist. Auch die religiöse Strömung der Gotik war gewiß menschlich-allzumenschlich durchmischt; dennoch zeugen ihre Dokumente von den ungemischten Grundströmen. Und daß gerade heute es uns wie Schuppen von den Augen fällt beim Anblick dieser Werke des inbrünstigsten Ausdrucks, der letzten Hingabe um der Erlösung | willen, läßt die Hoffnung auf eine Wesensverwandtschaft offen, 45 trotz allem, was täglich und banal dagegen zeugen will. Diese mittelalterliche Kirche als Gebäude ward Ziel und Sammelplatz und darum auch wieder Ausgangspunkt aller Lebensrichtungen: Treffpunkt, Aufenthalt und Ruheort der Bürger am Markte (der »Messe«), selbverständliche Werk-Vereinigung aller Handwerker und Künstler mit Einschluß der Gelehrten. Nicht deshalb, weil der Klerus kunstverständig oder macht- und also prachtliebend war und dadurch einen tüchtigen Mäzen abgab, arbeiteten alle Künste für die Kirche mit höchster Anspannung des Willens, sondern: weil der Inhalt der Zeit in der Religion restlos enthalten war und alle Kunst doch nur den Inhalt ihrer Zeit darstellen will, darum mußte die Kunst der Religion dienen und sie ausdrücken. Weil diese Religion aber raumhaft war, darum mußte die Kunst Baukunst schlichthin sein. Das Sakrale in der katholischen Kirche

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Dieses Zusammentreffen stärkster örtlicher Gebundenheit der Religionsübung mit höchster Spannung der religiösen Lebenstriebe und inbrünstigstem Verlangen nach Äußerung um der Selbstentäußerung willen stellt einen solchen Idealfall der Bedingungen für sakrale Kunst und Baukunst dar, daß wir ihn um seiner Deutlichkeit willen stets vor Augen haben müssen. An ihm gemessen sinken die katholischen Kirchbauten der Renaissance, des Barock und der folgenden Zeiten bis heute zusammen zu Sakralbauten zweiter und dritter Ordnung. Sakralbauten sind und bleiben sie, da die Anwesenheit der Reliquien und das Meßopfer als Gründe der örtlichen Gebundenheit bestehen bleiben. Die Willensspannung der Zeit aber wendet sich anderen Lebensgebieten als gleichwertigen oder überwertigen 46 Zielen | zu. Lange zwar behält noch die Kirche Macht und Mittel, um der wichtigste Mäzen der Künste zu bleiben. St. Peter in Rom und die Jesuitenkirchen sind Beispiele dieses Mäzenentums, das heißt gut gewählter, gut bezahlter virtuoser Kunstleistungen. Innere Hingabe des Künstlers, in den verschiedenen Epochen verschieden stark, ist wohl am Werke, aber nicht als erster Grund und als letztes Ziel des Bauens. Der kirchenbauende katholische Klerus der Neuzeit endlich kann, selbst wenn er das nötige Kunstverständnis besitzt, mit allem Gelde wohl keinen Künstler mehr gewinnen. Denn sofern derselbe sich als Künstler wahrhaft seiner Zeit verpflichtet fühlt, baut er eher für halben Lohn einen Bahnhof, eine Markthalle, eine Kaserne, als für doppelten Lohn eine Kirche. Wir haben also in der Geschichte des christlichen, das heißt des katholischen Kirchbaues von den Tagen der Katakomben bis zur Neuzeit den Weg des eigentlichen Sakralbaues vom Primär-Sakralen über das Hochsakrale bis zum Sekundär-Sakralen vor uns. | 

36 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Das radikale Bauprogramm der protestantischen Kirche

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Ich wiederhole, daß es nicht im Rahmen dieser Betrachtung liegt, verschiedene Kirchenformen oder gar die ihnen zugrunde liegenden Religionsformen gegeneinander abzuwerten, vielmehr handelt es sich hier darum, die Elemente des Kirchengebäudes, mit denen die junge Reformation sich abzufinden hatte, zu verstehen und sie auf ihre Raumhaftigkeit hin zu prüfen. Es waren im wesentlichen folgende: 1. Der Altar, und zwar als Behälter der heiligen Gebeine oder Reliquien, ferner als Stätte des Meßopfers und Aufbewahrungsort der Hostie. Die raumhafte Bedeutung des Altars fand ihren baulichen Ausdruck durch die Aufstellung in einem besonderen, von der Gemeinde abgetrennten Raumteile, der sich allmählich aus einer einfachen Apsis zum selbständigen, den übrigen Kirchenraum an Ausstattung, zuweilen auch an Höhe und Größe weit übertreffenden Raume entwickelte. Die mit dem Dogma des Meßopfers verbundene Sonderstellung des Klerus prägte sich in den Hauptkirchen ebenfalls durch Absonderung eines Chorgestühls aus, das meist mit dem Altar|raume 48 zusammenfiel, zuweilen aber ein eigenes Raumgebilde der Kirche ausmachte. 2. Die mit den Reliquien oder Bildern gegebene Anwesenheit der Heiligen machte den Meßdienst und das Gebet an den Nebenaltären zu einer ebenfalls örtlich gebundenen Gottesdienstübung. Der Raum vor jedem Nebenaltar erhielt daher eigene Bedeutung und wurde zur Nische, zur Kapelle, zum Nebenschiff ausgebildet. Die wundervolle Gliederung des katholischen Kirchengebäudes, die Vielheit der Blickpunkte und Sehachsen ist also ebensowohl eine Folge der gegliederten Dogmatik, wie umgekehrt die Dogmatik sich in der zunehmenden konstruktiven Vielgliedrigkeit ausbreiten konnte. 3. Orgelspiel und Sängerchor mußten, als Bestandteile einer Zeremonie, vollkommen geschult, also nicht laienhaft, und – ähnlich dem OrchesDas radikale Bauprogramm

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ter Wagnerscher Weihespiele – für die Gemeinde möglichst unsichtbar sein. Die Aufstellung der Orgel im Rücken der Gemeinde, in großer Höhe oder in verborgenen Teilen des Gebäudes ließ ihr wenig oder keinen Einfluß auf die Raumgestalt. 4. Das Gestühl entsprach nur dem praktischen Bedürfnis und der Bequemlichkeit der Gemeinde und ist noch nicht als ein baulicher Ausdruck der Gemeindeversammlung anzusprechen. Das dem Hochaltar zugewendete Hauptgestühl wurde so angelegt, daß die erhobene Hostie gesehen werden konnte. Die Erhöhung des Altarraumes um mehrere Stufen und die Einrichtung, daß mit dem die Verwandlung anzeigenden Schellengeläute an Stelle des Auges das Gehör trat, ließ in 49 Bezug auf Entfernung und Stellung des Gestühls zum Altar sehr | weite Grenzen zu. Vor den Nebenaltären genügten wenige, meist bewegliche Betstühle. Da Raum für den Verkehr nach allen Richtungen innerhalb der Kirche und für Ansammlungen vor den Beichtstühlen und Altären erforderlich war, so wurden weite Abstände des Gestühls, breite Gänge und Plätze offen gelassen. Da überdies die Größe der Kirche durchaus nicht nach der Seelenzahl der Gemeinde, sondern nach dem Opfersinn der Gemeinde oder des Stifters, nach dem Schwung oder dem Machtentfaltungswillen des Kirchenregiments bemessen wurde, so spielte das Gestühl keine irgendwie formbestimmende Rolle im Bauorganismus der Kirche. Es fügte sich demselben. Häufig, vor allem in dem an das fluktuierende Marktplatzleben gewöhnten Süden, fehlte es ganz. 5. Die Kanzel endlich diente einem relativ nebensächlichen Teil der Gottesdienstübung, der Predigt. Der kirchenfüllende Zulauf einzelner Kapuziner- oder Jesuitenpredigten bestätigte als Ausnahme nur die Regel. Ebensowenig wie die Predigt ein notwendiger Bestandteil des Kirchendienstes, war die Kanzel ein fester Bestandteil des sakralen Kirchenraumes. Aus akustischen, d. h. also praktischen Rücksichten wurde sie möglichst in der Mitte des Hauptraumes der Kirche, meist also an einem der Pfeiler des Mittelschiffes angebracht, ihre rituelle Bedeutung war aber nicht stark genug, um das feste Gestühl des Mittelschiffes, wo solches vorhanden war, aus seiner Richtung zum Hochaltar im mindesten abzulenken. Auch die Kanzel war also in der katholischen Kirche kein raumbildendes oder auch nur raumbestimmendes, sondern ein indifferentes Stück des Gebäudes. |  38 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Diese baulichen Elemente – Hochaltar und Chorraum, Nebenaltäre und 50 Kapellen, Orgelempore, Gestühl und Kanzel – fand die Reformation vor, als sie mit ihrem neuen Gottesdienste zunächst in die alten Kirchen einzog. Darin, wie sie sich im Bestehenden einrichtete, und noch deutlicher darin, wie sie ihre eigenen Kirchen baute, offenbarte sich sinnfällig der zweifache Geist, der in der Reformation wie in jeder Erneuerung treibend war und ist: der konservative Geist, der alles beibehält und erhält, was dem Neuen nicht geradeswegs zuwiderläuft, und der radikale Geist, der von den Wurzeln her seine Ideen neu entwickelt und alle Schößlinge und Ranken abschneidet, die nicht unmittelbar aus der Wurzel kommen. Jede einseitig konservative oder radikale Idee spitzt sich zum Fanatismus zu und verpufft. Die bleibende Tat aber beruht wohl immer auf einer lebendigen Mischung beider. Auch Luther war als Mann der praktischen Wirkung höchst radikal und zugleich höchst konservativ, und gerade diese Mischung ist es wohl, die seine Schriften noch heute so unglaublich wirklich macht. So führt uns zum Beispiel seine Rede zur Einweihung der Schloßkirche in Torgau mitten in unser Problem, und einige Sätze daraus mögen hier folgen (Luthers sämtl. Werke, Verlag Heyder u. Zimmer, Frankfurt a. M. 1881. XX. Band, 2. Abtlg.): »Meine lieben Freunde, wir wollen itzt dieß neue Haus einsegnen und weihen unserm Herrn Jhesu Christo … Damit es recht und christlich eingeweihet und gesegnet werde, nicht wie der Papisten Kirchen mit ihrem Bischofs-chresem und Räuchern, sondern nach Gottes Befehl und Willen, wollen wir anfahen Gottes Wort zu horen und zu handeln …« |  »Kann es nicht geschehen unterm Dach oder in der Kirchen, so 51 geschehe es auf eim Platz, unter dem Himmel, und wo Raum dazu ist. Wie St. Paulus am Wasser predigte zu Philippis und zu Troade in einem Saal …« »Also soll dies Haus solcher Freiheit nach gebauet und geordent sein für die, so allhie im Schloß und zu Hofe sind, oder die sonst herein gehen wollen: nicht, daß man daraus ein sondere Kirchen mache, als wäre sie besser, denn andere Häuser, da man Gottes Wort predigt. Fiele aber die Noth fur, daß man nicht wollte oder künnte hierin zusammenkommen, so möcht man wohl draußen beim Brunnen oder anderswo predigen. Denn die Propheten haben auch den Tempel zu Jerusalem Das radikale Bauprogramm

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nicht so groß geachtet, noch allzeit darinne gepredigt; sondern hie und da, wie und wo sichs zugetragen hat: als in ihren Schriften wohl zu sehen ist. Aber gleichwohl begehrten sie oft zu sein bei dem Haufen, und an der Stätte, da man öffentlich zusammenkam, wie der 42. Psalm (V. 5) saget: Ich wollt gerne hingehen mit dem Haufen, und mit ihnen wallen zum Hause Gottes, mit Frohlocken und Danken, unter dem Haufen, die da feiern. Nu muß ja derselbige Haufen etwo einen Raum, und sein Tag oder Stunde haben, so den Zuhörern bequem sei: darumb hat es Gott wohl geordnet und angericht, daß er die heiligen Sacramente eingesetzt zu handlen in der Gemeine, und an einem Ort, da wir zusammenkommen …« »Und ist hie der Vortheil dabei, wenn die Christen also zusammenkommen, daß das Gebet noch einmal so stark gehet, als sonst. Man kann und soll wohl uberall, an allen Orten | und alle Stund beten; aber das Gebet ist nirgend so kräftig und stark, als wenn der ganze Haufe einträchtiglich mit einander betet.« »… welches wir wissen, daß es der rechte Gottesdienst ist, so ihm herzlich wohlgefället, und selbs dabei ist: daß wir ihm keine sondere Kirchen noch Tempel dürfen bauen mit großer Kost oder Beschwerung, und an keine Stätte noch Zeit aus Noth gebunden sein, sondern daß er uns die Freiheit gönnet, daß wir solchs thun mögen, wenn, wo und wie oft wir können, und deß uns vereinigen …« »… daß wir miteinander Gottes Wort hören, miteinander beten und danken. Welches am besten in der Sammlung geschiehet, da man allein umb deßwillen zusammenkompt, und Herz und Gedanken weniger zurstreuet sind, weder sonst, da ein jeder fur sich selb oder mit andern zu thuen hat. Also und dazu soll auch itzt dieses Haus geweihet sein, nicht umb sein-, sondern umb unsernwillen, daß wir selb durch Gottes Wort geheiligt werden und bleiben.« Die Mittlerschaft der Heiligen, mithin die örtliche Gebundenheit der Religionsübung an den Altar, den Sarkophag der Märtyrergebeine, oder an die stellvertretenden Heiligenbilder war aufgehoben, aber auch der Ort des geheimnisvollen Vorganges der Abendmahlsverwandlung war vom Altar weg auf die Lippen oder in das Herz des Gläubigen verlegt. Mithin war auch die besondere Stellung und räumliche Absonderung des Klerus ihres Grundes beraubt, jeder Gläubige war sein eigener Priester und dazu

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berufen, brüderlicher Helfer und Priester seines Nächsten zu sein. An die Stelle des die Messe feiernden Klerus trat die Ge|meinde der Gläu- 53 bigen, an die Stelle des Altars der Gläubige selbst. Daraus aber ergibt sich, wie wichtig die Unterweisung der Gemeinde im Glauben und in der Lehre, wie wichtig die Erbauung und Zubereitung des Gläubigen zur rechten Stätte des Abendmahlopfers notwendigerweise wurde. Sie trat recht eigentlich an die Stelle der sorgfältigen Erziehung des Klerus. So mußten die Predigt, der gemeinsame Gesang und das gemeinsame Gebet die wesentlichen Faktoren des Gottesdienstes werden, da sie grundlegende Bedeutung für die Wirksamkeit und damit, nach protestantischer Lehre, überhaupt für die Wirklichkeit des Sakramentes hatten. Predigt, gemeinsamer Gesang und gemeinsames Gebet aber waren an keinen geheiligten Ort gebunden. Wo Gläubige, der Lehre Bedürftige zusammenkamen, konnten sie einen Gottesdienst abhalten, auch die Anwesenheit eines geschulten Predigers war zwar wünschenswert, aber nicht Bedingung, nach dem Worte: »wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter euch«. Unter anderen Himmelsstrichen hätte die Reformationsbewegung darum wohl zu Predigten am Brunnen, auf dem Markte, auf dem Berge, im Walde geführt. (Die »Los-von-Rom«-Bewegung hat in unseren Tagen ihre lebendige Beziehung zu den Quellen, zum Evangelium, durch derlei Versuche dokumentiert, wobei allerdings eine gewisse Romantik und eine gern hergestellte Beziehung zu unseren heidnischen Vorvätern mitwirkte.) Wenn daher die Protestanten der ersten Reformationszeit entweder vorhandene Kirchen benützten oder selbst Kirchen bauten, so handelten sie dabei lediglich aus praktischer Not: sie suchten Schutz | vor Regen und 54 Kälte und unberufener Störung und bildeten den Raum so aus oder um, daß er einer möglichst großen Zahl von Gemeindegliedern möglichst ungehindert das Hören der Predigt und die Feier des Abendmahls erlaubte. Die protestantische Kirche entsagte also von Anfang an allen in dem von uns erkannten Sinne sakralen Bestandteilen. Der kirchliche Bau war nicht mehr der religiös geeignetste, d. h. also sakrale Ort des Gottesdienstes, sondern der praktisch geeignetste Raum, und nichts gab ihm den Vorzug vor jedem anderen Raume, der in derselben Weise den praktischen Anforderungen und den ästhetischen Bedürfnissen genügte. Die Befriedigung dieser Notzwecke und die ästhetische Gestaltung der sie umfassenden Idee stellte natürlich eine genau umrissene Bauaufgabe dar, Das radikale Bauprogramm

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ebenso wie Schule, Rathaus und Theater. Nichts aber lag in der Aufgabe, was den Kirchbau an sich, d. h. die bauliche Darstellung eines bestimmten und besonderen Raumteiles des Universums forderte und zur religiösen Pflicht und Sehnsucht erhob, ihn also zum Sakralbau machte. So entspricht die protestantische Baugesinnung jenem Falle, den ich im zweiten Kapitel auf Seite 34 an letzter Stelle bezeichnete: der Kirchbau ist bewußtermaßen Profanbau, wenigstens soweit der radikale Geist des Protestantismus wirksam ist. Der konservative Geist dagegen, insbesondere die konservative, d. h. weniger aus den Wurzeln des Evangeliums unmittelbar stammende, als aus der geschichtlichen Reife der katholischen Kirche gepflückte und geläuterte Auffassung des Altarsakramentes bedingt ein Bauprogramm, wie ich es an derselben Stelle als dritten Fall genannt und als scheinbar sakral bezeichnet habe und später näher betrachten werde. |  55 Es ist klar, daß ich hier und in der Folge die Bezeichnungen radikal und konservativ niemals im parteipolitischen, sondern stets nur im Wortsinne meine, also im Sinne von »vom Ursprung ausgehend« und »beibehaltend«. Gerade da nun der radikale und der konservative Geist des Protestantismus eine lebendige, sich ergänzende Einheit bilden, und also auch das radikale und das konservative Bauprogramm sich praktisch vielfach mischen, wie z. B. ihre ungeklärte Mischung in der »Los-von-Rom«-Bautätigkeit den Anstoß zu diesen Betrachtungen gegeben hat, – so erscheint es nützlich, jedes der beiden Bauprogramme gesondert zu behandeln. Eine kurze Beurteilung der Elemente des protestantischen Kirchbaues vom radikalen Standpunkte aus gibt das 1906 erschienene 17. Flugblatt des Dürerbundes von R. Bürckner. Von Luthers Torgauer Rede bis zu dieser Flugschrift und dem auf ähnlicher Grundlage stehenden sogenannten »Wiesbadener Programm« war der Radikaltrieb immer beteiligt, zuweilen aber einzig bestimmend bei Aufstellung des Kirchbauprogrammes und gibt wohl auch in moderner Zeit den Ausschlag. Kurz gesagt ist danach die Kirche ein Versammlungsraum. Die Größe der Kirche bestimmt sich nach der Seelenzahl der Gemeinde und der hiernach erforderlichen Anzahl solcher Sitzplätze, die in guter Hör- und Sehverbindung zur Kanzel stehen und die nötige Helligkeit zum Ablesen der Lieder bieten. Gestühl und Emporen sind also wesentliche Bestandteile des Raumes, sowohl ihrer Bedeutung wie ihrem Volumen nach. Die Kanzel ist der Richtpunkt des Raumes. Orgel und Sängerchor haben nicht aus mystischer 42 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Verborgenheit zu ertönen, denn sie sind nicht | Faktoren einer Zeremonie, 56 sondern ganz und gar Bestandteil und Ergänzung des Gemeindegesanges. Ob dabei Orgel und Chor im Rücken oder zur Seite der Gemeinde sich befinden, also gewissermaßen gleichgerichtet mittönen, oder ob sie mehr als eine Darbietung der Gottesdienstleitung von einer gegenüberliegenden Bühne oder Empore herab erklingen, erscheint nicht als wesentlicher Unterschied. Sind doch z. B. auch den verschiedenen Stellungen des Geistlichen am Altar beim gemeinsamen Gebete Abwandlungen ein und desselben Gedanken zugrundegelegt: entweder er ist der Vorsprecher und wendet sich an die Gemeinde, steht also ihr zugekehrt, oder er ist ihr Fürsprecher wendet sich betend mit ihr an Gott, steht also gleichgerichtet mit ihr und kehrt ihr den Rücken zu. Einer der eifrigsten Anhänger Luthers, der Bischof Amsdorf z. B. hatte aus solchen Erwägungen in allen Kirchen seines Sprengels die Altäre umgedreht, so daß der Pfarrer, hinter dem Altar stehend, sich der Gemeinde zuwendet. Immer aber ist der Altar der Tisch, zu dem die Gemeinde herantritt, um das Liebesmahl zu feiern. Für den räumlichen Ausdruck, den dieses radikale Programm gefunden hat, mögen hier einige Grundrißbeispiele verschiedener Typen folgen; naturgemäß haben wir dieselben nicht auf ihren sakralen Ausdruck hin zu untersuchen, denn solchen besitzen sie nicht; sondern, wie bei jedem Profanbau, handelt es sich – begrifflich zerlegt – um praktische Eignung und um räumliche Gestalt, und – im Werke vereinigt – um künstlerische Durchdringung und Einheit von praktischer Eignung und räumlicher Gestalt. Der einfachste Fall ist das längliche Rechteck mit Kanzel und | Altar 57 in der Längsachse an einer Schmalseite des Raumes und mit der Orgelempore an einer der beiden Schmalseiten (Skizze 5).

Das radikale Bauprogramm

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Hierbei kann das Rechteck eine Ausbuchtung für die Kanzel oder auch für Kanzel und Altar erhalten, doch nur von so gemessener Tiefe, daß die Kanzel nicht in unzweckmäßiger Weise den seitlichen Sitzplätzen entrückt wird (Skizze 6). Sofern man übrigens an dem Gedanken festhält, daß die Chorsänger nur die durch ihre Schulung zur Gesangsführung geeigneten Gottesdienstteilnehmer sind, ist ihre Aufstellung ebenfalls in guter Sehund Hörbeziehung zur Kanzel, also an der entgegengesetzten Seite des Raumes, sinngemäßer.

58 Aus dieser Grundform lassen sich verschiedene Abwandlungen herstellen, der Raum kann quadratisch, er kann breit statt lang, also mit der Kanzel an der Langseite angeordnet werden (Skizze 7), oder zwei Seitenarme fügen sich an (Skizze 8). Aber schon bei diesen Abwandlungen zeigen sich Abirrungen vom konsequenten räumlichen Ausdruck des Zweckes. Die Achsen der Gebäudeflügel treffen nicht mehr die Kanzel. Wo man dem Ausdruck des radikalen Zweckes weiter untreu wird und die symbolische Kreuzform als etwas für den Kirchbau an sich Gegebenes übernimmt, wird ein vierter Kreuzarm, kürzer oder länger, angefügt. Was zuvor (wie in Skizze 6) nur eine Schallnische war, wird jetzt notwendigerweise eine formalistische Wiederholung des katholischen Chorraumes, und die Kanzel wird den Achsen der Seitenarme ganz entrückt, so daß eine nicht nur raumkünstlerisch undeutliche, sondern alsbald auch praktisch unbrauchbare Form entsteht (Skizze 9).

44 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Die aus dieser Notlage folgende Anbringung der Kanzel an einem der Eckpfeiler (Skizze 10) stellt dann das radikale Baupro|gramm vollständig 59 auf den Kopf und führt, wenn auch aus ganz anderen Gründen, doch zu ähnlichen Anordnungen, wie wir sie weiterhin beim konservativen Bauprogramme finden werden. Die neueste Zeit hat einen Ausweg gesucht, bei dem sie die Kreuzform konservieren und doch die radikale Achsenstellung der Kanzel durchführen wollte, und hat einen Grundrißtyp geschaffen, der neben anderen von Curjel u. M ­ oser in Karlsruhe und in der Schweiz ausgebildet wurde. Der um des kreuzförmigen Grundrisses willen angefügte vierte Arm wird im Innern der Kirche wieder abgeschnitten durch eine halbhohe Wand, an welcher Kanzel und Altar stehen (Skiz­ze 11). In Emporenhöhe öffnet sich der vierte Arm jedoch wieder als Raum für Orgel und Sänger, so daß im Deckengewölbe die kreuzförmige Grundform gerettet wird. Diese Anordnung kommt einer praktischen Lösung nahe, scheitert aber an ihrer raumkünstlerischen Divergenz. Den Begriff der räumlichen Konvergenz und Divergenz, oder, um es deutsch auszudrücken, der räumlichen Einhelligkeit und Vielspältigkeit, müssen wir uns genau vergegenwärtigen, da er für eine ganze Gruppe von evangelischen Kirchen entscheidend ist, und müssen uns dabei auch mit Gestühl und Empore als wichtigen Faktoren des Raumbildes beschäftigen. Das radikale Bauprogramm

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Der Begriff räumlicher Einhelligkeit hilft uns natürlich nichts, wenn er nicht auf Vorstellung und Gefühl beruht. Diese aber sind, wie alle spezi60 fischen Raumvorstellungen und Raumgefühle, bei uns meist | schwach und undeutlich entwickelt und daher ohne Anschauung schwierig zu diskutieren. Dennoch können wir an dieser Stelle uns nur mit Worten und schematischen Liniendarstellungen verständigen, die, für sich betrachtet, spielerisch erscheinen, tatsächlich aber plastischen Vorstellungen und lebhaften Gefühlen entsprechen. Wenn wir den räumlichen Ausdruckswert eines Bauteiles prüfen, so untersuchen wir dabei nicht, ob dieser Bauteil an sich schön oder unschön, praktisch oder unpraktisch ist, sondern ob er den Raumgedanken, der Raumbewegung, der Raumrichtung des ganzen Gebäudes verstärkend und verdeutlichend folgt, sich indifferent oder entgegengerichtet verhält. Ich greife hier aus der reichen Harmonie der Raumelemente, wie Proportion, Rhythmik, Farbaufbau, Lichtführung, nur das der Raumrichtung heraus, weil bei ihr Lehre, Ritus und praktisches Bedürfnis entscheidend mitsprechen. Raumrichtung, Raumbewegung aber ist etwas, das dem Raumfühlenden wie ein magnetischer Strom oder wie ein System magnetischer Ströme Leib und Seele durchdringt. Zwei einfache und grobe Beispiele vermögen vielleicht den Begriff zu verdeutlichen. Ein runder Raum wird durch eine Kuppel in seiner zentrischen Bewegung verstärkt. Ein von der Mitte herabhängender Kronleuchter oder ein ringsum hängender Kranz von Lampen kann diese Wirkung steigern, vier im Quadrate hängende Lampen würden nahezu indifferent, eine exzentrisch hängende Lampe aber entgegengerichtet, d. h. raumzerspaltend wirken. 61 Oder: ein gleichmäßiger Aufmarsch hoher schmaler Fenster | an den Längswänden eines Saales verstärkt dessen Längswirkung. Durchführung derselben Fenster auch an der Schmalseite des Saales wird meist indifferent, Anbringung eines Rosettenfensters an der Schmalseite aber pointierend, die Raumbewegung nochmals verstärkend wirken. Dasselbe Rosettenfenster dagegen in der Langwand wird die einfache Längsrichtung stören, ja vielleicht ihr so stark entgegenwirken, daß eine ganz neue zweite Raumbewegung, nämlich eine Querhalle, vom Auge gefordert wird. Das Gestühl ist nun infolge der Dauer des evangelischen Gottesdienstes und wegen der zum Erfolge der Predigt unerläßlichen Aufmerksamkeit 46 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

der Hörer von so großer praktischer Wichtigkeit und hat durch seinen Umfang – da ja die größtmögliche Sitzezahl stets untergebracht werden soll – eine so wesentliche, um nicht zu sagen aufdringliche Wirkung, daß man ihm auch raumkünstlerisch die größte Aufmerksamkeit schenken muß. Wenn der Raum eine einfache Längsrichtung hat, die auf die Kanzel zustrebt, und wenn das Gestühl, dem Raume folgend, der Kanzel sich zuwendet, so ergibt sich eine einfache Beziehung, die in der reinen Rechteckkirche (wie in den Skizzen 5 und 6 auf Seite 57) meist besteht. Sind bei der dreiarmigen Form die zwei Seitenarme untergeordnet, d. h. von geringerer Höhe oder durch Bogen deutlich abgetrennt, so ergibt sich für unser Beispiel 8 (siehe Seite 57) die hier umstehend mit 8a bezeichnete Anordnung des Gestühls. Das Gestühl der Seitenarme fügt sich zwar dem Raumbilde, zielt aber an der Kanzel vorbei. Fühlbarer wird die Vielspältigkeit, wenn die drei Kreuzarme gleichwertig sind und gemeinsam | einen Mittelraum schaffen, wie er in Skizze 8b durch die 62 punktierten Gewölbelinien angedeutet ist. Das in den Mittelraum allein vordringende Hauptgestühl drängt die Seitenarme in untergeordnete Stellung, während baulich die drei Kreuzarme gleichwertig am Mittelraum beteiligt sind. Das Hauptgestühl zerstört also den Raum, und die Seitengestühle treffen nicht die Kanzel. Räumlich folgerichtig müßte die Anordnung so sein, wie sie in Skizze 8c dargestellt ist, ohne daß ich auf die praktischen Konsequenzen derselben hier eingehe.

Die in der Skizze 8b gezeigte räumliche Divergenz trifft nun in höchstem Maße auf alle zentralen Kirchen zu. Die Zentralkirche ist sowohl des Wortklanges als auch des architektonischen Reizes wegen immer wieder und insbesondere in letzter Zeit zur Lieblingsidee des evangelischen Das radikale Bauprogramm

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Kirchbauers geworden. Man ging dabei von dem Gedanken aus, daß beim Zentralbau die größte Zahl von Sitzen in gleichmäßiger Entfernung von einem Zentrum, nämlich von der Kanzel, möglich sei. Daß das Zentrum des Raumes nicht mit der Kanzel in eins fällt, wird praktisch erst bei gro63 ßen Räumen störend empfunden, ergibt dagegen raum|künstlerisch stets eine Vielspältigkeit, die man nur einmal empfunden zu haben braucht, um sich ihr nie wieder verschließen zu können. Es ist klar, daß, rein geometrisch gesprochen, die beiden Zentren um so weiter, d. h. um so peinvoller auseinanderrücken, je größer das Gebäude ist, je weiter also die Kanzel von der Gebäudemitte entfernt ist. Bei zunehmender Größe und Monumentalität des Bauwerkes tritt allerdings das an menschliches Maß gebundene Gestühl in der Wirkung zurück. In gotischen Domen betont der Rhythmus der einhermarschierenden Pfeilerriesen so gewaltig die Richtung des Baues, daß die vielfältigsten Richtungen des Gestühls scheinbar bedeutungslos ihren Fuß umspülen. Doch braucht man nur einmal in einem einhelligen Raume oder Raumsysteme das durchdringende körperliche Behagen und die übersinnliche Lust des Raumgefühls genossen zu haben, um immer und überall sich danach zu sehnen. Mit einem kühnen Bilde möchte ich sagen: Die raumempfindende Seele strahlt in alle Teile eines Raumes aus, bis sie ihn ganz erfüllt. Im einhelligen Raume entfaltet sich die Seele zur kosmischen Gestalt, im vielspältigen Raume verwirrt sie sich zum chaotischen Knäuel. Im einen Raume wird ihr schöpferisch wohl, im anderen wehe. Wenn ich nun fortfahre, mit Grundrißskizzen und mit verschiedenen Stricharten Nachweise zu führen, so halten wir dabei im Sinne, daß diese Linien stenographische Zeichen räumlicher Formen und daß diese räumlichen Formen Gestalt und Gebärden der Seele im Raume sind. Die vorhin als moderner Typ der zentralen Kreuzkirche gezeigte Skiz­ze 11 lasse ich hier nochmals folgen, und zwar sind die Mauerformen 64 wie bisher ohne Rücksicht auf Fenster und | Türen durch starke Linien angegeben, die Gestühle durch dünnere Linien, ihre Richtungsachsen ergeben sich aus dem Verlauf der Bänke. Die bauliche Richtung und Bewegung der Räume ist durch stark punktierte Hilfslinien verdeutlicht, welche ungefähr den sichtbaren Konstruktionsgliedern, Gewölberippen und dergleichen entsprechen mögen. Die Kanzel ist wie bisher als schwarzer Punkt, der Altar als Rechteck mit Kreuz dargestellt. Außer den Formen und Achsen des Gebäudes und den nicht minder materiellen Formen 48 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

und Achsen des Gestühls ist mit fein punktierten Linien noch das magnetische Netz angedeutet, mit welchem die aufmerksame Spannung der versammelten Gemeinde den Raum fühlbar durchwebt.

Die Skizzen 11a und 11b sind solchermaßen nur Schemata, und zwar nach einer im Jahre 1907 von Curjel u. Moser, Skizzen 12a und 12b nach einer im Jahre 1913 von mir erbauten Kirche. Jedes der Gebäude ist als Zentralgebäude auf seine Mitte, das Gestühl als das einer Predigtkirche auf die (exzentrisch liegende) Kanzel, das Emporengestühl wieder auf die bauliche Mitte, die geistige Spannung da | gegen auf die exzentrische 65

Kanzel gerichtet. Wenn man sich die Emporengrundrisse, die leider getrennt dargestellt werden müssen, auf die Erdgeschoßgrundrisse gelegt denkt, wird man erkennen, welche Zersplitterung der räumlichen Beziehungen gerade in den Zentralbauten herrscht. Wer offenen Auges Das radikale Bauprogramm

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einem solchen Raume sich hingibt, fühlt sich verwirrt statt gesammelt. Werfen wir dagegen nur einen einzigen Blick auf die Skizzen 13 und 14, die 66 Schemata einer Taufkirche und einer Grabkirche, so empfinden | wir ohne alle Hilfslinien die unabweichliche Einhelligkeit des Raumes, aller Raumteile und der geistigen Spannung. Auf Baptisterium und Mausoleum geht übrigens die Entstehung kirchlicher Zentralbauten geschichtlich zurück. Die Empore ist eine Sonderform des Gestühls in baulicher Zusammenfassung und daher von räumlich stärkstem Ausdruck. Praktisch erlaubt sie nicht nur die Unterbringung einer größeren Hörerzahl auf kleinerer Baufläche, also mit geringeren Baukosten, sondern sie ordnet diese vergrößerte Hörerzahl in gleichmäßigeren Abständen von der Kanzel an, als dies im ausgedehnten Schiffe möglich ist. Ich glaube daher auch nicht, daß sie ihre Entstehung der anfänglichen Notwendigkeit verdankt, sich in katholischen Kirchen, die im Mittelschiffe zu wenig Hörerplätze boten, einzurichten, sondern daß sie eine aus dem Wesen der protestantischen Kirche hervorgehende Form ist. Die sechs Anfang des 18.  Jahrhunderts nach schwedischem Muster von schwedischen Baumeistern in Schlesien gebauten Gnadenkirchen bestätigen dies. Man stelle sich an Hand 50 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

der Skizze 15 und der Abb. 16 den Innenraum der Gnadenkirche in Hirschberg vor Augen, dessen konstruktive wie raumkünstlerische Idee geradezu auf den dreifachen, bis unter die Decke wachsenden Emporen beruht. Dieselben fügen sich nicht nur, sondern sind ein eigener und wesentlicher Bestandteil des ganzen Raumgebildes. Diese Gna | denkirchen 67   

Abb. 16: Ev. Gnadenkirche Hirschberg i. Schl. Das radikale Bauprogramm

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68 Abb. 17: Ev. Stadtkirche in Karlsruhe i. B.

galten offenbar als Typ eines billigen Holzbaues für große Gemeinden und 69 zugleich als Typ einer Predigtkirche, denn die Kanzel bemühte sich, ins bauliche Zentrum vorzurücken. Von ihrer und der Anordnung des Altares aber wird an anderer Stelle noch zu sprechen sein. Solche Fälle, in denen die Emporen wirklich zu einem besonderen und in sich ruhenden Raumgebilde wuchsen, sind leider bis in die neuere Zeit hinein selten. Meistens ist vielmehr der Kirchenraum als freie Halle empfunden, und die Emporen sind entweder indifferent oder gar störend eingeklebt. Dabei spreche ich nicht von dem Sonderfalle, daß die Emporen später eingebaut wurden, um die Sitzezahl nachträglich zu erhöhen, sondern von jener Mehrzahl der Fälle, wo der Erbauer von einer vorgefaßten, nicht speziell protestantischen und insofern unsachgemäßen Raumidee ausging und dieselbe nun zum Plane einer Emporenkirche mehr oder weniger zurechtformte. So entsteht kein harmonisches Ganzes. Ich erinnere nur an die gewohnheitsmäßige Unart, Emporen quer über Langfenster zu führen oder sie zwischen aufstrebende Säulen eines Hallenschiffes einzuzwängen. (Vgl. Abb. 17.) Eine Parallele, die man mit größerer Unbefangenheit betrachtet, bietet der Theaterbau. Wenn zum Beispiel die Stützsäulen der Ränge bis zur Decke laufen, also dort ein entsprechendes Teil der Decke ausschneiden, so besteht das Theater aus dem frei über dem Parkett sich erhebenden Mittelraum und den als Raumerweiterungen sich ringsum anschließenden Logen. Ich erinnere mich, das Teatro Carlo Felice in Genua bei Tage, d. h. ohne Vorstellung und ohne festliches Licht gesehen und als derartiges Raumgebilde deutlich empfunden zu haben. Sobald aus praktischen | Gründen 70 die Stützen der Ränge wegfallen oder doch weit nach hinten verlegt werden und damit auch die Logen verschwinden, sieht man sich folgerichtig gezwungen, nicht mehr den innerhalb der Ränge liegenden Mittelraum des Theaters, sondern den von den Außenwänden umschlossenen Gesamtraum darzustellen. Man gelangt zu einer über das Ganze ausgespannten Gesamtdecke, ja zu Wandpfeilern und Lisenen, die nun an der Hinterwand der Ränge herunterlaufen, drei- oder viermal von diesen quer durchschnitten. Die hereinragenden Ränge und Galerien selbst aber wirken nun nicht mehr als Angliederungen und Erweiterungen des Mittelraumes, sondern als Einschnürungen und Durchkreuzungen des Gesamtraumes. Ganz unbefangen und rein raumkünstlerisch betrachtet ist jedes Theater, das diese Halbheit nicht überwindet, ein verwirrendes, unklares, in allen Teilen sich selbst Das radikale Bauprogramm

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aufhebendes Raumgebilde, in dem man vergeblich nach einem Standorte sucht, von dem aus es sich mit einem Blick begreifen ließe. Das moderne Bestreben, durch Holzpaneele, durch Farben- und Materialrausch unser ohnedies schon abgestumpftes Auge darüber hinwegzubringen, sucht einen dekorativen Mantel für die raumkünstlerische Blöße und bekennt dadurch erst recht deren Vorhandensein. Aber auch das Problem der Zwiespältigkeit von materieller Raumrichtung und ideeller Raumspannung kehrt beim Theaterbau wieder. Betrachten wir die beiden Ursprungsformen des Theaters in den Grundrißskizzen 18 und 19, so ergibt sich schon linear eine einhellige Beziehung, indem die Raumachsen und die Nutzachsen, die materielle und 71 die ideelle Raumbewegung in eines | fallen. Daß die ideelle Raumspannung sogar den leeren Sitzreihen gegenüber fühlbar und daß ihre Vergleichung mit der materiellen Raumrichtung kein Formalismus ist, sondern elemen-

taren Raumgefühlen entspricht, wie wir sie zum Beispiel als elementare Zeitgefühle in der Musik längst kennen und pflegen, das bestätigt sich jedem, der ein antikes Theater betritt. Selbst die Reste eines solchen (dazu nach oben offenen) Amphitheaters wecken, ganz abgesehen von allen romantischen Nebengefühlen, eine überwältigende Raumvorstellung. Ich denke dabei nicht nur an das Kolosseum in Rom oder das Theseustheater in Athen, sondern an minder berühmte Reste kleiner griechischer Theater und letzten Endes an Palladios Theater in Vicenza, dessen Grundriß hier in Skizze 20 folgt. 54 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Man versuche sich dagegen die Raumbilder zu vergegenwärtigen, die man von neuzeitlichen Theaterbauten, etwa der Scala | in Mailand, der 72 Grand Opéra in Paris, dem Covent Garden in London, dem Schauspielhause und dem Opernhause in Berlin in Erinnerung trägt, und betrachte dazu die nachfolgende Grundrißskizze 21 eines dieser Gebäude. Auch das

Berliner Lessingtheater (Skizze 22) mit seiner bewußten und ausdrücklichen Betonung der einfachsten geometrischen Form, nämlich des Kreises, vermag trotz dieses zentrierten Raumbildes nicht die exzentrische, auf die Bühne gerichtete Spannung zu überwinden. Es ergibt sich, daß der große Theaterbau mit Rängen und tiefer Bühne vorläufig in eine ähnliche Sackgasse führt, wie der Bau protestantischer Zentralkirchen bei exzentrischer Aufstellung der Kanzel. Beide Formen ergeben allerlei praktische Vorteile, allerlei Möglichkeiten reicher oder geschickter Aufmachung, aber niemals ein durch sich selbst und seine Klarheit bezwingendes Raumbild. Auf die Gefahr hin, damit allein zu bleiben, muß ich gestehen, daß ich keine evangelische Zentral|kirche und kein neuzeitliches Theater kenne, 73 in denen die Seele sich erlöst und nicht vielmehr irgendwie gequält und verwirrt gefühlt hätte. Noch einen Hinweis auf die Beziehung der baulichen Raumrichtung zu der durch die Benutzung gegebenen Raumspannung möchte ich hier anfügen, und zwar an einem Verkehrsbau, bei dem natürlich diese durch die Benutzung gegebene Spannung in einer ganz handgreiflichen, nicht geistigen, sondern ebenfalls materiellen, Verkehrsbewegung besteht. Angenommen, eine Stadtverwaltung begeistert sich an dem Gedanken, Das radikale Bauprogramm

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ihren Zentralbahnhof als Zentralbau aufzuführen; entweder entsteht, schematisch gesprochen, ein Rundbau mit quer durchlaufenden Schienensträngen (Skizze 23), wie er für die Führung der Züge notwendig, für die Führung des Baues aber völlig unsinnig wäre; oder es entsteht ein

Rundbau mit konzentrischer Zuführung der Schienenstränge, ähnlich einem Lokomotivschuppen (Skizze 24), was der Raumbewegung gemäß, der Verkehrsbewegung aber vollkommen zuwider wäre. Es ergibt sich daraus in Kürze, wie unsinnig eine nicht aus der Sache, sondern vielleicht aus dem Klange eines Wortes abgeleitete Raumidee sein kann. |  74 Wäre unser Gefühl für Raum nicht so unentwickelt oder verwildert, so bedürfte es hier keiner umständlichen Überlegung, und wir würden unmittelbar empfinden, ob und warum manche Räume uns zusagen, andere uns beunruhigen, ja quälen. Sollen wir an dieser Stelle auch noch davon sprechen, warum ein Raum (praktisch) eine Raumgestalt (künstlerisch) sein soll? Warum errichten wir, wenn eine Kirche gebraucht wird, nicht ein wohlimprägniertes Zelt oder eine Baracke, oder führen vier Mauern auf und legen ein paar T-Schienen darüber usw.? Warum wird ein »Bauwerk« errichtet? Weil es einmal so üblich ist, weil man ein übriges tun möchte, weil Kunst angenehm ist und angenehm macht? Tausend Menschen zu einer Gebetsgemeinschaft vereinigt, das ist ein Ding, ist ein Neues. Es sind nicht nur tausend Seelen, es ist ein Stück der Weltseele. Viele tausend Steine zu Mauern vereinigt, sind auch ein Ding. Sie bilden einen Körper und einen Raum, der ein sichtbares Stück des unendlichen Raumes ist, je erkennbarer, klangvoller, reicher und dabei einfältiger von Gestalt, desto befriedigender für den Schaffenden wie für den Schauenden, indem wir uns in einem Teile dessen dabei fühlen, woraus wir stammen und wohin wir zurückkehren. 56 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Daß Musik-, Bild- und Dichtwerke diesem heiligen Erlösungszweck, dieser Befreiung aus der Formlosigkeit mit Urgewalt entspringen, geben wir leichter zu, als daß auch die raumbildende Baukunst diesem Zwecke dient. Denn sie hat zugleich praktische Bedürfnisse zu erfüllen, ja deren Erfüllung ist, wenn auch nicht ihr Grund, so doch ihr jeweiliger Anlaß, und die Verwechslung des Anlasses mit dem Grunde führt zur falschen Bewertung. | Wir dürfen uns daher an dieser Stelle nicht dabei beruhigen, daß die 75 Zentralkirche wirklich eine leidliche Anordnung der Hörer ergibt. Denn solange sie kein reines Raumbild erzeugen kann, ist sie nicht im letzten Sinne eine Lösung der Aufgabe des protestantischen Kirchbaues, sondern, cum grano salis, eine steinerne Baracke. Daß man sich in verschiedenen Perioden des evangelischen Kirchbaues um die Einheit der baulichen Raumbewegung mit den räumlichen Beziehungen zwischen Kanzel, Gestühl und Empore bewußt bemüht hat, ist aus zahlreichen Bauten, Umbauten und unausgeführten Entwürfen zu entnehmen, deren ich einige in den Grundrißskizzen 25–28 hier wiedergebe. Ihre Vorzüge wie ihre Mängel weisen gleichermaßen auf die vorhin schon erkannte Problematik der Aufgabe hin.

Mit dem radikalen Kirchbauprogramme ist die Flucht der Künste unmittelbar verbunden.Wir denken dabei weniger an Bilderstürmerei, die als reine Abkehr vom Bilderdienste zu ver|stehen ist, sondern an das je nach Zeit und 76 Gegend verschieden starke, stets aber wirkende Puritanertum im evangelischen Kirchbau, das die wohlbekannte Nüchternheit zur Folge hat. Sie Das radikale Bauprogramm

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liegt scheinbar im Bauprogramme begründet. Denn die Forderung zurückhaltender Würde des Raumes, wie sie der Art und Würde des Zweckes entspricht, hat keine beflügelnde Kraft, die etwa über die Aufgabe des Gerichtssaales oder Hörsaales hinausführte, keine Kraft also, die Bau und Ausstattung der Kirche zur höchsten Aufgabe aller Künste einer Zeit machen könnte.

Bunte Fenster verdunkeln den Raum. Da das Tageslicht zum Lesen des Gesangbuches, zum Sehen des Redners erforderlich und dabei oft durch Emporeneinbauten ohnedies stark beeinträchtigt ist, kommen gemalte Scheiben nicht oder doch nur in ganz blassen Tönungen in Frage, nicht anders also als bei einem Saale, Treppenhause oder dergleichen. Die in zahlreichen Kirchen notwendige künstliche Beleuchtung am hellen Tage, die womöglich während der Predigt gelöscht und nachher wieder angezündet werden muß, wird niemand als eine Lösung des Lichtproblems bezeichnen wollen. |  77 Darstellungen erzählender oder symbolischer Art, die den Beschauer beschäftigen könnten, bilden ebenso wie Sprüche Ablenkungen der Hörer von der Predigt und dem Wortlaute des Gebets. Kein Geistlicher wünscht, daß die Wände predigen, während er redet. Da die gesamte Gottesdiensthandlung ungeteilte Aufmerksamkeit der Hörer voraussetzt, und da ohne und außerhalb der Gottesdiensthandlung die Predigtkirche ein gleichgültiger, meist sogar verschlossener Raum ist, so kann kirchliche Kunst weder als religiöse Opfergabe des Künstlers und Stifters naiv und unmittelbar sich äußern, noch kann sie eine dienende, administrierende Rolle im Gottesdienste einnehmen, sondern sie wird mit mehr oder weniger Verlegenheit geduldet oder gar aus rein historisch-ästhetischen Rücksichten gefristet, wie Volkstrachten und dergleichen. 58 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Zeiten wie das Barock, mit reichem Safttriebe der Gestaltung und üppigem Blütenansatz, schmückten natürlich auch ihre Kirchbauten, ohne daß man aber von kirchlicher Kunst sprechen könnte. Bewundernswert vielmehr ist hierbei die Urwüchsigkeit des Kunsttriebes, der alle, mithin auch die kirchlichen Lebensformen gleichmäßig durchdringt, im Gegensatz zu romantischen oder historisch eklektischen Perioden, die gewisse Formen, gewisse Farben und Symbole (z. B. Spitzbogen, Vierpaß, Violett) einer spezifisch-sakralen Wirkung reservieren möchten, einer Wirkung, die, ganz abgesehen von ihrem ästhetischen Unwert, immer nur pseudo-sakral sein kann. Dennoch wird die Entstehung einer pseudo-sakralen Dekorationskunst, wie sie heute noch spukt, von hier aus erst verständlich. Neben dem Neubau evangelischer Kirchen nämlich | läuft eine bunte und wechselvolle 78 Reihe der Adaptionen her. In bestehenden katholischen Kirchen richteten die evangelischen Gemeinden sich ein. Natürlich entschwand solchen Räumen die sakrale Pointe der Reliquiengegenwart, des Allerheiligsten und der ewigen Lampe, wohl aber verblieb ihnen der Stempel der Inbrunst und der religiösen Willensspannung, aus der heraus sie ursprünglich als hochsakrale Räume geschaffen worden waren, und man genoß diese Hinterlassenschaft als Stimmung. Unter Verkennung der Ursache glaubte man dann in den Neubauten die Wirkung reproduzieren zu können, indem man die erprobten Stilarten, Formen und Farben reproduzierte; natürlich mit mehr als negativem Erfolge. Dieser romantische Ästhetizismus jedoch, der bei bewußt profaner Bauabsicht doch nach sakralen Nebenwirkungen schielt, ist auf gewisse Zeitabschnitte beschränkt und fällt nicht ins Gewicht neben jener anderen Kraft, die vom Beginn der Reformation an neben der radikalen Entwicklung des Bauprogrammes herlief, dieselbe kreuzte und umlenkte. Diese Kraft ist der (in Luther sowohl wie in der ganzen Reformation mitwirkende) konservative Trieb, der sich baulich hauptsächlich auf Altar und Altarraum richtete, während der radikale Trieb der Reformation sich vorwiegend dem Kanzeldienste zuwandte. Denn der in unserem Wortsinne radikale Protestantismus konnte nur die Unterweisung und Zubereitung des einzelnen freien Christenmenschen pflegen, auf daß dieser Jesum durch den Glauben in sich aufnehme, mußte also die Predigt als wichtigste Form der Unterweisung in den Mittelpunkt der Religionsübung stellen. Auch das Abendmahl, das von diesem Standpunkte nur eine Erneuerung, eine Bestärkung, eine Hilfe Das radikale Bauprogramm

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79 zum gleichen Endziele, nämlich zur | Aufnahme Jesu durch den Glauben darstellt, wird durch die Predigtunterweisung vorbereitet. Denn wenn der Glaube fehlt, ist das Abendmahl wesenlos. Wenn mithin der Glaube der entscheidende Faktor im Abendmahle, und die Seele des Gläubigen der Ort des Vorganges ist, so gilt der Altar, von dem aus das Abendmahl gereicht wird, nicht höher als die Kanzel, von der aus die Lehre verkündet wird. Das radikale Kirchbauprogramm kennt darum keinen mit besonderer Weihe umgebenen Altar in abgesondertem Raume, sondern den Tisch des gemeinsamen Mahles inmitten der Gemeinde, vor der Kanzel oder sogar mit dieser fest verbunden. Dieses Programm hat den Vorzug, für den Altar- wie den Kanzeldienst nur eine Richtung des Gebäudes, des Gestühles und der ideellen Spannung, also nur eine einheitliche Raumbewegung zu bedingen. Räumlich trifft also hier all das für den Altar ebenfalls zu, was vorhin über die Beziehung des Raumes zur Kanzel gesagt wurde. In Zentralkirchen, nebenbei bemerkt, die so klein sind, daß der für den Umgang angemessene Abstand des Altars von der Kanzelwand annähernd gleich dem Halbmesser des Zentralraumes ist, kommt der Altar in die Mitte zu stehen. Es ist dies ein glücklicher Sonderfall, wo die vorhin aufgezeigte Vielspältigkeit sich in eine teilweise Einhelligkeit des baulichen und rituellen Zentrums auflöst. Doch kommt diesem Falle keine prinzipielle Bedeutung zu, denn je mehr der Halbmesser des Zentralraumes größer als der Abstand zwischen Kanzel und Altar wird, desto mehr entweicht wieder der Altar aus der zentrischen in die exzentrische Stellung. Wo bestehende katholische Kirchen in radikalem Sinne adaptiert wur80 den, ist meist vor den ehemaligen Chorraum ein schlich|ter Altartisch gestellt, der Chorraum selbst aber geschlossen oder ebenfalls mit Gestühl besetzt worden. Ich erinnere mich eines Falles in Marbach in Württemberg, wo außer dem Schiffe sogar der ehemalige Chor mit einer Empore besetzt war, so daß die ursprünglich als Langhaus mit angesetztem Chore gebaute Kirche nun allseitig von Emporen umzogen war, in deren offener Mitte der Altar stand. Anbringung der Kanzel in der Hauptachse war bei Adaptierung katholischer Kirchen fast immer unmöglich, da an Stelle einer die Kanzel tragenden Stirnwand sich der Triumphbogen zu dem tiefen, schallverschlingenden Chorraume öffnete. So übernahm man meist die seitliche Kanzel. Daß die radikale Baurichtung damit aber durchaus keine Nebenoder Unterordnung der Kanzel im Verhältnis zum Altar anerkannte, geht aus der häufig anzutreffenden Anlage eines umklappbaren Gestühls hervor, 60 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

das für die Dauer der Predigt an Stelle eines nach dem Altar gerichteten Langhauses ein nach der Kanzel orientiertes Breithaus mit zweiseitig konzentrischen Sitzreihen herstellt. Während des Altardienstes verbleibt also für einen Teil der Gemeinde die Kanzel, und während des Kanzeldienstes für denselben Teil der Gemeinde der Altar im Rücken. (Vgl. Skizze 29.) Am bezeichnendsten für diese radikale Betonung der Kanzel trotz und entgegen der ursprünglichen Altarrichtung eines übernommenen Raumes scheint mir die im 13. bis 15. Jahrhundert erbaute, jetzt evangelische Kilianskirche in Heilbronn, der das Grundrißschema der Skizze 29 entnommen ist. Dort, wie auch an einigen anderen Orten Schwabens wird, um das geräuschvolle Umklappen der Bänke zu vermeiden, die Altarliturgie gekürzt | von der Kanzel ausgeübt, so daß für die überwiegende 81 Zahl der Sonntage Altar und Altarraum seitab unbenützt liegenbleiben. Nur zur Abendmahlsfeier wird die vordere Gruppe der Bänke umgeklappt. Dann aber wird nicht nur von einem, sondern, unter Zuziehung des früheren Hochaltars und zweier Nebenaltäre in den Kapellen der Chorwand, von vier Altären durch zehn Geistliche das Abendmahl zugleich ausgeteilt.

»Da sind wir als bald fertig«, erläuterte mir der Kirchendiener, nicht eben geschmackvoll, aber um so bezeichnender für den naiv praktischen Geist dieser radikalen Bauanordnung. Weitere Beispiele für die Unabhängigkeit der Abendmahlsfeier vom Altar finden sich in Schweizer Gemeinden, wo teils eine wirkliche Tafel mit vielen Kelchen und Broten aufgedeckt wird, an welche die Gemeinde in großen Gruppen herantritt, teils der Kelch von Hand zu Hand durch die Reihen der Gestühle wandert. So zeigt sich immer von neuem, wie das radikale Kirchbauprogramm des Protestantismus von der Predigt, also von den praktischen Erfordernissen des Kanzeldienstes ausgeht, eine besondere Eigenschaft des Altars Das radikale Bauprogramm

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82 nicht kennt (wie wir bei Luther | auch ausdrücklich betont fanden), mithin eine Unterordnung der Kanzel gegenüber dem Altar nicht gelten läßt, selbst wo diese bei einer übernommenen seitlichen Kanzelstellung baulich scheinbar vorhanden ist. Eine örtliche Bindung der Religionsübung an den Altar, d. h. eine sakrale Weihe des Altarraumes und von da aus der Kirche, ergibt sich also nicht. | 

62 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Das konservative Bauprogramm der protestantischen Kirche

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Der konservative Geist der Reformation bildet seine Abendmahlslehre nicht nur aus dem, was radikal, wurzelhaft, aus den Evangelien hervorgeht, sondern auch aus jenen Bestandteilen der reifen katholischen Meßlehre, denen von den Evangelien nicht widersprochen wird. Bei unbefangener Betrachtung wenigstens will mir folgendes scheinen: Wer ohne alle Kenntnis von der Dogmatik der ersten fünfzehn Jahrhunderte des Christentums die Berichte vom Abschiedsmahle Jesu und von den Liebesmahlen der ersten Christengemeinden in Apostelgeschichte und Briefen des Neuen Testamentes läse und zur Grundlage einer Religionsübung erheben wollte, der käme wohl immer nur auf ein gemeinsames, vielleicht in symbolisch vereinfachter Form abzuhaltendes Mahl zur Erinnerung an Jesus, zur Stärkung in der Dankbarkeit und Hingabe an ihn und in der Liebe untereinander. Wer dagegen die ausgereifte katholische Meßlehre prüfte und in dem Sinne reformierte, daß er sie von quellenwidrigen Bestandteilen reinigte, der könnte sehr wohl vom einmal bestehenden | Begriff der Verwandlung 84 ausgehend die Textworte: »Dies mein Leib, dies mein Blut« aussprechen: »Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut«, und also den Grundgedanken des Meßopfers festhalten, obwohl er ihn aus dem stofflich Wunderbaren ins geistig Wunderbare läuterte, reformierte. Beide Auffassungen waren und sind wirksam, wie die Geschichte der Reformation und des Protestantismus zeigt. Wenn ich den für unser Bauproblem wichtigen Unterschied kurz ausdrücken darf, möchte ich sagen: Der von den Wurzeln ausgehende, radikale Protestantismus lehrt, Brot und Wein sind und bleiben Brot und Wein, die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Abendmahls beruht auf der Intensität des Glaubens und der Hingabe, die wiederum durch den Abendmahlsgenuß eine augenblickliche Steigerung und dauernde Stärkung erhält. Der in unserem Sinne konservative Protestantismus lehrt, Brot und Wein werDas konservative Bauprogramm

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den in der Abendmahlsfeier wirklich Christi Leib und Blut, ihre Wirksamkeit aber haftet nicht dem Kelche und der Hostie real an, sondern besteht nur durch den Glauben und in dem Glauben des Empfangenden. Damit ist während der Abendmahlsfeier eine Anwesenheit des Leibes und Blutes Christi, also eine besondere Weihe des Altars gegeben, die Stätte der Wirksamkeit von Leib und Blut ist aber so ganz in die Brust des Gläubigen verlegt, daß daneben die örtliche, d. h. sakrale Bedeutung des Altars verblassen muß. Nur diejenigen Linien der Transsubstantiationslehre habe ich mich unterfangen, mit ungeübtem Finger nachzufahren, die auf das Bauprogramm hinlaufen, und beeile mich, zu dem baulichen Korrelat die85 ser Lehre, dem Altar, zurückzukehren. Und wie wir | schon in der einleitenden Schilderung der Los-von-Rom-Bautätigkeit Kanzel und Altar als die Brennpunkte eines praktisch-ästhetischen Streites erlebten, so haben sie sich aus der theologischen Betrachtung heraus als die Pole zweier Bauprogramme ergeben. Die in unserem Sinne sakrale Bedeutung des Altars besteht zwar für das konservative Bauprogramm, ist aber zeitlich auf die Dauer der Abendmahlsfeier beschränkt, und auch die ritusmäßige Wiederholung dieser Feier macht den Altar nur scheinbar zum dauernd sakralen Orte. Ferner ist die sakrale Bedeutung dem Wesen nach eingeschränkt dadurch, daß der Ort der Wirksamkeit des Abendmahls (nach konservativer wie nach radikaler Auffassung) die gläubige Gemeinde ist. Der Glaube der Gemeinde aber ruht vor allem auf der Offenbarung des Wortes Gottes, das von der Kanzel verkündet und ausgelegt wird. Indem das konservative Bauprogramm jedoch von der noch so eingeschränkt sakralen Bedeutung des Altars ausgeht, muß sie ihn, notwendigerweise eine Stelle im Raume reservieren, die ihm während der Predigt eigentlich nicht zukommt. Und hier entspringt die Zwitterung des konservativen Bauprogramms, der Widerstreit zwischen Kanzel und Altar. Den Richtpunkt der ganzen Kirche, der Achsen des Gebäudes wie der Gestühle, nimmt der Altar ein, während die Kanzel, bildlich wie räumlich gesprochen, zur Seite tritt. Der Standort des Altars bildet möglichst einen Raumteil oder Raum für sich. Ein solcher verträgt oder verlangt außer der Absonderung eine besondere Ausstattung, die je nach der Zeitrichtung bis 86 zur mystischen Abstimmung geht. Bei Übernahme katholischer | Kirchen konnte also das hohe Chor ohne weiteres mit fast all seinen Eigenschaften 64 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

beibehalten werden, bei Neubauten war es naheliegend, die erprobte Form der Chornische oder Chorapside zu wiederholen, wenn auch in etwas verkürzter Form; denn da das vom Altar gesprochene Gebet allen wörtlich verständlich sein soll, ist allzu großer Abstand des Altars, d. h. allzu große Tiefe des Chorraumes nicht angebracht. Die seitliche Stellung der Kanzel fügt sich hier also nicht nur der praktischen Unzuträglichkeit, sie achsial, d. h. in der Tiefe des Altarraumes anzubringen, sondern vor allem dem religiösen Wertunterschiede. (So ähnlich in dieser Hinsicht, nebenbei bemerkt, eine nach radikalem Programm vom Katholischen ins Evangelische adaptierte Kirche mit tiefem Chor und seitlicher Kanzel aussehen mag, so verschieden ist sie dem Wesen nach.) Wäre dabei das sakrale Übergewicht des konservativen Altars über die Kanzel nur annähernd so groß, wie in der katholischen Kirche, so stellte das konservative Bauprogramm überhaupt keine prinzipiell neue Aufgabe dar, sondern nur eine Fortbildung und Abwandlung der katholischen Pfarrkirche. Das Übergewicht aber ist tatsächlich kleiner, als es auf den ersten Blick scheint. Denn neben der zeitlich wie wesentlich beschränkt sakralen Bedeutung des Altars ist andererseits die Wichtigkeit der Kanzel als Ort der Predigt und der Verkündigung des gerade nach konservativer Auffassung »offenbarten« Gotteswortes so groß, daß man meinen sollte, nur ein geringer Gewichtsausgleich müsse Gleichstellung von Kanzel und Altar und Vereinigung beider in der Hauptachse des Gebäudes, mithin ein Bauprogramm ergeben, das dem radikalen Programm, wenn auch nicht abso|lut, so doch relativ gleich wäre. Das konservative Bauprogramm 87 ist aber eben »konservativ«, und so sind es mit den Positiven gerade die Lutheraner und Altlutheraner, die diesen Gewichtsausgleich nicht vornehmen. Die Kanzel soll nicht die Besonderheit des Altars und des Altarraumes beeinträchtigen; aus demselben Grunde wird auch die Aufstellung der Orgel im Rücken oder zur Seite der Gemeinde bevorzugt, obwohl praktisch und architektonisch kaum etwas gegen ihre Aufstellung in der Fortsetzung und Vertiefung des Altarraumes einzuwenden wäre. Solange das konservative Bauprogramm die zwei religiös beinahe gleichwertigen und praktisch mindestens gleichstarken Richtpunkte, Kanzel und Altar, an zwei divergente Stellen seines Gebäudes setzt, bleibt es praktisch wie künstlerisch ungelöst; es richtet die Hauptachse seines Gebäudes ausschließlich nach dem Altar, die Achsen des Gestühls teils nach dem Altar, teils nach der Kanzel. Während wir also beim radikalen Das konservative Bauprogramm

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Bauprogramm grundsätzliche Einhelligkeit und nur bei gewissen Sonderformen den Verlust derselben feststellten, treffen wir hier auf einen grundsätzlichen Zwiespalt und von da aus auf eine ganze Reihe von praktischwie ästhetisch-räumlichen Ungereimtheiten, Zwiespalten. Sobald man übrigens ein Gebiet von Lebenserscheinungen zu verstehen trachtet, indem man seine Polarität aufspürt, zeigt sich stets auf dem Kraftfelde zwischen den beiden Polen jede Art von Zwischenformen und auch eine Zone des Kraftausgleiches, also des scheinbaren Gegenbeweises. Doch auch diese Zwischenformen deuten ja wieder auf das Vorhandensein der beiden Pole hin. Als Beispiel hierfür möge man noch einmal auf Seite 66, Skizze 15, den Grundriß der Gnadenkirche in Hirsch88 berg be|trachten: zentrale Kreuzform, dreifache Emporen, die Kanzel an einer der Ecksäulen dieser Emporen möglichst nach der Mitte des Raumes vorgeschoben, also radikale Predigtkirche. Am Ende des einen Kreuzarmes aber, in stärkster Betonung durch Helligkeit, Bilderschmuck und Schnitzwerk, der Altar, der einerseits das Gestühl des halben Langhauses auf sich zu und von der Kanzel weg richtet, andererseits von den größten Teilen der beiden Querschiffe, also für nahezu die Hälfte der Gemeinde überhaupt nicht sichtbar ist. Der normale Fall aber ist mit dem Schema der Skizze 30 wiedergegeben und erklärt sich aus dem vorhin Gesagten von selbst; mit Emporen stellt er sich wie in Skizze 30a dar.

Anordnungen mit Querschiffen sind nur insoweit üblich, als sie den Blick auf den Altarraum noch zulassen, drängen aber nicht prinzipiell zum Zentralbau hin. Diesen pflegt das konservative Bauprogramm nicht, da 66 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

ein besonderer Altarraum oder auch nur eine abgesonderte Altarstellung den Zentralgedanken, noch ehe er deutlich gefaßt ist, auch schon aufheben würde. Eine absonderliche Form ist die zweischiffige Kirche, die von | Jenen 89 bevorzugt wird, die zugleich mit der konservativen Bewertung des Altars der praktischen Bedeutung der Kanzel baulich Rechnung tragen möchten. Sie ist aber ebenfalls keine Lösung sondern ein Kompromiß, das sich als solches auch räumlich deutlich genug darstellt, wie aus den Skizzen 31 und 31a hervorgehen mag.

Stets augenfällig und darum auch allgemein zugegeben ist und bleibt der praktische Übelstand, daß die seitliche Aufstellung des Redners für ihn wie für die Hörer unbequem ist. Weniger Rechenschaft pflegt man sich über das raumkünstlerische Unbehagen zu geben, das aus der Zersplitterung der Achsen und aus der Assymmetrie achsial, d. h. an und für sich symmetrisch bedingter Räume entsteht. Wer jedoch aus Beruf oder Neigung sich über solche Raumempfindungen Rechenschaft gibt, der bemerkt den Grund des Unbehagens, das alle Sehenden quält. Der Versuch, mit dem Taufstein ein symmetrisches Gegengewicht zur Kanzel herzustellen (vgl. Abb. 32), oder nach dem Muster der alten Ambonen zwei Kanzeln aufzustellen (vgl. Abb. 34), beweist | gerade das Vorhanden- 90 sein und das Bewußtsein des Zwiespaltes. Natürlich kann eine solche Regulierung der Bauachse durch rein ästhetisch-formale Symmetrie den Zwiespalt nicht überwinden, der aufklafft, sobald während der Predigt die Achse der ausschließlich zur einen Kanzel gerichteten Spannung sich fühlbar macht. Das konservative Bauprogramm

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Das konservative Bauprogramm ist also so lange nicht harmonisch erfüllbar, bis es nicht den letzten Gewichtsausgleich in der Bedeutung von Kanzel und Altar vornimmt, wobei dann der Altar als Ort des Abendmahlswunders und die Kanzel als Ort der Verkündigung der wunderbaren Offenbarung sich in die sakrale Bedeutung teilen und im Richtpunkte des Gebäudes vereinigen müßten, was schließlich zur Aufstellung eines sogenannten »Kanzelaltars« führen könnte, wie ihn das radikale Bauprogramm herausgebildet hat und wie ihn in schlichtester Form die Abb. 33 zeigt. | 

68 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Abb. 32: Luth. Kirche in E. von Otto Bartning

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92 Abb. 33: Ev. Kirche in L. von Otto Bartning (Grundriß hierzu Seite 57, Skizze 6)

Für die andere Lösungsmöglichkeit, daß nämlich Kanzel und Altar je einen 93 Raum für sich beherrschen, bieten sich vereinzelte Beispiele, jedoch nur in Gestalt evangelisch adaptierter, ehemals katholischer Kirchen. Das mit Skizze 35 gezeigte Schema, wie es der Barfüßerkirche in Erfurt abgenommen ist, kommt häufiger vor. In der dreischiffigen Kirche ist das Gestühl in der bekannten Weise auf die übernommene Seitenkanzel gerichtet, Doppelbänke nach Art von Eisenbahnabteilen sowie für die Kinder Bänke ohne Lehnen treten hier an Stelle von umklappbaren Bänken und ermöglichen so die zeitweilige Umorientierung nach dem Altar.

Dieser Altar ist neu und steht innerhalb des Schiffes, unmittelbar vor den Chorstufen und dem Chorabschlußbogen. Aus der gotischen Höhe dieses Bogens hängt in langen Falten ein Vorhang herab, der, zugezogen, das Chor zu einem Raume abschließt. In diesem dem Schiff an Länge kaum nachstehenden Raume ist der ehemalige Hochaltar belassen, mit Kniebänken versehen und so zum Abendmahlsaltar gemacht. Unter dem Gehäus des Altarbildes ist tunnelartig der Umgang für die Kommunikanten durchgeführt. | Im selben Chorraume steht der Taufstein. Die Abendmahls- und 94 Taufgemeinde wie auch die Traugemeinde nimmt in den geschnitzten Chorstühlen Platz. Einer Variante zu dieser Anordnung erinnere ich mich aus Aschersleben, wo in der adaptierten Stephans-Kirche der tiefe Chorraum ebenfalls die Abendmahlskirche bildet. An der alten Chorschranke, einem Schmiedegitter, ist aber kein neuer Altar, sondern nur ein einfaches Lesepult aufgestellt, das also für den Predigtgottesdienst den Altar ersetzt. Aber auch dieses stellvertretende Pult lenkt das Gestühl ausschließlich auf sich, während eine neue Kanzel vorne seitwärts sitzt und die ehemalige Kanzel Das konservative Bauprogramm

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außerdem noch an einem der Pfeiler im Schiff besteht. Das Grundrißschema dieses Kuriosums, dem sich andere anreihen ließen, ist in Skizze 36 wiedergegeben. Seltener dürfte schon die Anordnung sein, wie sie Skizze 37, das Grundrißschema des Halberstädter Domes, zeigt, wo der durch einen hohen Lettner rings umschlossene Chorraum die Abendmahlskirche ergibt. |   95

Einen Sonderfall endlich stellt der Naumburger Dom dar, dessen Grundrißschema Skizze 38 wiedergibt. Hier bildet das Querhaus mit der alten seitlichen Kanzel und einem neuen Altar die Predigtkirche. Das durch eine hohe Lettnerwand abgeschlossene Westchor mit freistehendem Altar und im Viereck stehenden Sesseln ist die Traukirche. Das um etwa drei Meter höher liegende und ebenfalls von hohen Lettnermauern umgebene Ostchor mit dem alten Hochaltar und Chorgestühl ist die Abendmahlskirche. Der Spieltisch des Organisten befindet sich auf der Höhe des einen Lettners, von der aus er alle drei Kirchenteile zu überschauen vermag. |  72 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Unfertig sind alle diese Anordnungen, insofern sie im Predigtraume nicht 96 von der alten seitlichen zu einer neuen achsialen Kanzel vorschreiten, sondern in der Achse einen neuen Altar aufstellen, der die alte Zwiespältigkeit des Raumes herbeiführt, obwohl er doch neben dem Trau- und Abendmahlsaltar sicherlich nicht so gewichtig ist, daß er der Kanzel die Orientierung des eigentlichen Predigtraumes streitig machen dürfte. Immerhin taucht hier die Frage auf, ob die getrennte Ausbildung einer Altar- und einer Kanzelkirche, also einer Abendmahls- und Andachtskirche gegenüber einer Predigthalle, ein gangbarer Weg der Entwicklung sein könnte; unwillkürlich wird man dabei an die im Judentum bestehende Trennung zwischen Tempel und Synagoge, zwischen Heiligtum und Lehrstätte erinnert, die Jesus beide anerkannte nach der Überlieferung in den Evangelien, wo erzählt wird, daß er am Sabbattage »in die Schule ging nach seiner Gewohnheit und dort lehrte«, und an anderer Stelle, daß er aus dem Tempel als dem »Bethause und dem Hause seines Vaters« die Krämer und Wechsler austrieb. Für jegliche Lösung des konservativen Bauprogramms aber bleibt, wie wir eingesehen haben, die Tatsache bestehen, daß der Altar ohne Abendmahlsfeier nicht sakraler Ort, die Abendmahlsfeier ohne Gläubigen nicht wirksam ist. Das praktische Bedürfnis, die Gemeinde der Gläubigen zu versammeln, ist daher der eigentliche Bauanlaß und überwiegt bei weitem das religiöse Bedürfnis, den Standort des Altars zur einzigartigen Raumgestalt aus dem Universum herauszuheben. Der konservative Kirchbau bleibt dadurch so wesentlich profan, daß er, wenn er eine sakrale Wirkung anstrebt, stets in Gefahr gerät, scheinhaft und unwahr, | d. h. pseudo- 97 sakral zu sein. Hiervon wird die Baukunst wie die bildende Kunst lähmend betroffen, sobald sie über den Ausdruck der profanen Raumidee hinaus nach einer an sich religiösen Raumgestalt strebt. Das konservative Bauprogramm

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Das radikale Bauprogramm, das bewußt und folgerichtig von der Versammlung der Gemeinde als Anlaß und Zweck des Bauens ausgeht, erkannten wir schon als profan. Die Einhelligkeit der Richtpunkte, Kanzel und Altar, hat es vor dem konservativen Programm voraus, und hat auch in verschiedenen Epochen zu baukünstlerisch reinen Lösungen geführt. Wenn wir zugeben, daß der programmatisch angestrebte Zentralbau das beste Sinnbild der Predigtversammlung wäre, so ist seine von uns erkannte Vielspältigkeit nur zu überwinden durch konsequente Zentralanlage mit Altar und Redner in der baulichen Mitte, wobei dann Kanzeldach und Kanzelrückwand wegfallen müßten; das heißt, der Redner könnte vor oder hinter dem Altäre stehend sprechen. Der Übelstand, daß ein Teil des Gestühls in seinem Rücken bliebe, wäre dadurch zu mildern, daß in diesem Ausschnitte sich die Orgel und der somit ganz zum Kreise der Gemeinde gehörende geschulte Chor einfügte. Der gemeinsame Gesang würde dadurch wieder ganz das, was er sein will: der Teil des Gottesdienstes, der eben seiner Gemeinsamkeit wegen unmittelbarster und sinnfälligster Ausdruck der Gemeinde ist. Es ist wohl nicht zu leugnen, daß auf dieser Grundlage Räume entstehen könnten, die durch den gesammelten Schwung ihrer Nutz- und ihrer Ausdrucksformen, ihrer materiellen und ihrer ideellen Raumspannungen sich unmittelbar als etwas Würdiges, Erhabenes darstellen 98 könnten und damit in ihrer Art | ebensowohl Raumform des kirchlichen Lebens der Gegenwart würden, wie wir etwa von einem modernen Warenhaus oder Bahnhof sagen, daß sie Raumformen des Handels- oder des Verkehrslebens unserer Tage sind. Solange aber die Willensspannung unserer Epoche sich mindestens ebenso stark, wenn nicht stärker auf die Aufgaben des Handels und des Verkehrs richtet, nimmt der Kirchbau kaum die ihm auch unter den Profanbauten zukommende erste, sondern eher eine zweite oder dritte Stelle ein. Weit entfernt davon, etwa die höchsten Leistungen der zeitgenössischen Kunst auszulösen und so die spontane Opferstätte der Zeitkunst zu sein, muß der Kirchbau froh sein, wenn er Künstler findet, die für die Aufgabe des Kirchenbauens oder der Kirchenausschmückung eine gewisse Gefühls- und Willensdisposition mitbringen. Denn kirchliche Religiosität ist im heutigen Menschen den anderen Willensrichtungen untergeordnet, obwohl der Strom religiösen Wollens fühlbar schwillt. Niemand, am wenigsten die Kirche selbst, wird dies bestreiten

74 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

können und auch nicht bestreiten wollen, da Selbsttäuschung hier wie in allen Dingen nicht weiterhilft. Daraus aber steigt die viel umfassendere Frage auf: Fließt heute das religiöse Leben durch die Ufer der Kirche, wird von ihnen gefaßt, formt sie und läßt sie grünen, oder hat sich der Strom in tausend Nebenarme verlaufen, oder wühlt er sich ein neues Bett und läßt das alte vertrocknen? Das Bett ist um des Stromes willen und nicht der Strom um des Bettes willen. Mag sein Lauf gehen, wie er muß; möge er gehen, wie wir es innig wünschen: Sicherlich wird eines Tages das Strömen wieder Strom, das religiöse Leben wieder Form und Gestalt werden. | 

Das konservative Bauprogramm

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Zeichen der Zeit

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Warum aber beruhigen wir uns nicht bei dem Ergebnis, daß der evangelische Kirchbau eben Profanbau ist, der bei einer Steigerung der kirchlichen Religiosität auch wieder an Bedeutung neben den anderen Bauaufgaben der Zeit gewinnen kann und in den letzten zwei Jahrzehnten sogar gewonnen hat? Warum beruhigen wir uns nicht dabei, die formalen Bedingungen erkannt zu haben, unter denen der evangelische Kirchbau die einhellige Raumgestalt der von einer einhelligen Idee umfaßten praktischen Zwecke ist? Denn wenn auch nicht der bare Zweck der Predigtversammlung den Raum schafft, so wirkt sich doch die Idee der Predigtgemeinde praktisch in ihm aus, also daß die evangelische Kirche die räumliche Erscheinung, d. h. die Raumform der Predigtgemeinde ist. Solches alles habe ich, wenn ich wieder die eigene Erfahrung heranziehen darf, samt meinen Bauherren bei unseren Kirchbauten im Sinne gehabt, und solches haben wir, den gegebenen Kräften gemäß, zum Ausdruck gebracht, also müßte ich zurückkehren in die kleine steirische Kirche, zurückkehren zum Anfänge unserer Betrachtungen und sagen: Es gilt wohl schrittweise, aber nicht grund|sätzlich die Lösung zu bessern, und 100 der Streit um die Gestalt der Predigtkirche bleibt ein praktischer Streit, von Fall zu Fall aus den weltlichen Zwecken zu lösen. Aus jener kleinen Kirche aber, die aus dem praktischen Zweck, aus der geistigen Not und aus einem vollen Herzen entstanden war, hatte ich mich dennoch davongeschlichen. Und es hatte uns, meinen Bauherren und mir, bei all unseren Arbeiten auf dem Herzen gebrannt, als ob wir nicht nur eine Verbesserung, eine Ausfeilung der alten Form, nein, als ob wir eine neue Form suchten; als ob wir oder unsere Söhne oder unsere Enkel eine neue Kirche bauen müßten. Tun wir dem Problem nun Gewalt an, stellen wir den Werdegang auf den Kopf, wenn wir einen Sakralbau fordern, nachdem wir doch erkannt haben, daß der Protestantismus nicht raumhaft, über die praktische Not hinaus nicht raumbedürftig, nicht örtlich gebunden, nicht sakral sein will und kann? Zeichen der Zeit

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Ist die Sehnsucht nach dem Sakralbau vielleicht eine bloße Architektensehnsucht, ein ästhetischer Atavismus? Wird die neue Kirche eine neue Gemeinde haben? Fordern wir den Kern vielleicht nur um der Schale willen oder wollen gar eine Schale ohne Kern? Doch nur wo ein Kern im Werden ist, bildet sich organisch eine Schale, nur wo eine Idee ist, entsteht eine lebendige Form. Wohl aber kann ein Kern in seiner Bildung lebensfähig werden durch eine sichtbar grob ihn umgebende Schale; wohl kann eine Idee in ihrem zarten Entstehen wahrnehmbar werden durch eine in ahnungsvollen Umrissen sie umschließende Form. So kann die Form wohl der Idee zur Geburt in die Sichtbarkeit verhelfen. Wie zum Beispiel gerade 101 aus der durchgeformten | Predigtkirche das dem Erdentage des Menschen zugewandte Gesicht des Protestantismus uns klaräugig anschaute, so könnte schon die Sehnsucht nach einer anderen Raumform die Züge eines anderwärts gewandten Gesichtes ahnen oder gar deuten lassen. Die Zeichen der eigenen Zeit zu logischen Schlüssen, zu objektiven Gewißheiten zusammenzustellen, ist unmöglich. Denn nur jene Stimmen erkennen wir als Zeichen, die in uns selbst anklingen oder doch widerhallen; andere vernehmen wir nicht. Ein anderer aber vernimmt vielleicht Stimmen, über die wir noch hinweghören. Wenn ich aber Herz und Sinne öffne, so vernehme ich aus dem rauschenden Klange der Tage etwa dies: Die Form bewegt sich in Krämpfen unter dem Drange der Idee, und die Idee drängt nach Gestalt. Die Kunst irrt heut umher mit den verzerrten Zügen, der schmerzvollen Mißgestalt einer Gebärenden und sucht den Stall, die Krippe, da sie das Kind hineinlege, und nur der von Mitleiden bebende Vater vermag die Schönheit zu erkennen. Der Künstler will nicht mehr der Unwelt sich werbend oder herrisch bemächtigen, indem er sie in Abbilder bannt, sondern will, selbst ein Teil der Allwelt, mit ihr sich vereinigen im Rausche der Hingabe. Er will opfern und sucht den Opferaltar. Wenn er häufig wieder nach biblischen Stoffen greift, so besagt das freilich gar nicht, daß er der Bibel als kirchlicher Religionsunterlage und also der bestehenden Kirche zugewandt sei. Er sucht nur das unbedingt, das einfach und groß Menschliche und hat es in der Bibel gleich wie in einer höheren Gegenwart neu erlebt. 102 Die bestehende Kirche strebt den Anschluß an ihre Zeit zu|gewinnen, indem sie den Erscheinungen nachfolgt und sie versuchsweise zu einzelnen Darbietungen zu sich einladet. Sie könnte alles, das ganze Leben haben, 78 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

wenn sie in die brodelnde Form sich selbst als Inhalt hineinstürzen wollte, bereit, mit unterzugehen, mit aufzugehen. Das Individuum, das durch die Reformation mündig gewordene, in die Heimatlosigkeit der Aufklärung ausgewanderte, in der Wüste des Materialismus verirrte Ich will Buße tun und sich heimkehren. Es schaut aus, wo am Horizonte die Kuppeln auftauchen, daß es sich aufmache, sei es in die alte, sei es in die neue Heimat; möge es nur keine Fatamorgana sein. Die Reformation und Renaissance bezeichnet man als die Wiedergeburt des Individuums, als die Geburt des Einzelnen aus der mittelalterlichen Gemeinschaft, und zwar aus der Gemeinschaft der Kirche, des Berufes, des bürgerlichen Standes und auch der Sippe. Auf den jedem Werdegange eigenen Schraubenbahnen hat sich das Individuum bis in unsere Tage entwickelt und hat – oder soll ich schon sagen, hatte – sein Recht zum Höchsten gesteigert. Immer schärfer war dabei der natürliche Gegensatz zur Umwelt geworden. Die Form der Auseinandersetzung mit ihr, mit der Gesellschaft, die nun einmal weder zu meiden, noch zu entbehren ist, heißt Organisation, und ihre Folge: Spezialisierung. Organisation im Sinne möglichst reibungsloser Mechanisierung der menschlichen Gemeinschaftsbeziehungen ist nicht etwa, wie es scheinen könnte, eine neue Art von Gemeinschaft, sondern der Triumph des Individuums. Wird doch eben darum »Organisation« als das Heiligste und Größte, als das | wahre 103 Machtmittel angebetet, und es erscheint fast als ein Sakrileg, ihr Wesen kritisch zu betrachten. Das Wort ist vom Lebendigen, vom organischen Leben abgeleitet, es vergleicht die spezialisierte Arbeit der Arme und Beine und ihr Verhältnis zum Gesamtkörper mit dem Verhältnis der einzelnen Menschen zur Gesellschaft oder zum Staate. Ist nur dabei vergessen, daß der Mensch in seiner unerlösten Einzelheit das Grundphänomen des Problems ist. Denn tatsächlich verhält sich vermittels der Organisation der Einzelmensch zur Menschheit so, als ob z. B. der Arm vermittels des Organismus die Beine nur als sein Verkehrsmittel, den Magen als seine Zentralküche, den Kopf als seine von ihm gewählte Regierung betrachten wollte. Organisation ist bis heute die Methode, wie ich nicht als ganzer Mensch der Gemeinschaft gehöre und nicht in ihr bin, was ich bin (Mittelalter), sondern wie ich ein wohlabgemessenes, speziell geschultes und herangezüchtetes Teil meines Selbst zwar einem Berufe und durch den Beruf der Gemeinschaft widme, dabei aber den ganzen Rest meines IndiZeichen der Zeit

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viduums möglichst unbeteiligt, möglichst unhingegeben für mich behalte, in Reserve für mein nur auf mich und in mich gerichtetes Individualleben. Schließlich wird auch der Beruf statt eines austauschenden Organes einseitig zum Saugrüssel, den das Individuum an die Allgemeinheit ansetzt. Daß auch die alltägliche, unabweisliche Forderung der Umwelt, der Gemeinschaft dem Individuum nicht in sein Privat- oder Berufsleben hineinfasse, dafür sorgt wiederum die »Organisation«: Der Individualist läßt das arme Kind auf der Straße erfrieren, vielleicht vor seinen Augen, nicht aus kaltem Herzen, sondern weil er die mechanisierte Arbeitsteilung 104 anbetet und | seinen Monatsbeitrag zur Wärmehalle bezahlt. Eine der entschiedensten Äußerungen menschlicher Gemeinschaft, die Wohltat, die wirklich das ganze runde Herz, nicht mechanisierte Werkzeuge oder spezialisierte Kanäle erfordert, ist untergegangen in der Organisation. Und so lügt das Wort. Wäre Organisation, wie sie durch ihren Namen vorgibt, eine Form des Lebens, sie müßte lebendig wirken, gleichwie jede einfachste schamhafte Tat der Nächstenliebe zauberhaft belebend wirkt auf beide Teilnehmer, die sich plötzlich nicht mehr als die meilenweit getrennten Geber und Nehmer, sondern als die im heiligen Akte der Nächstenliebe Verbundenen und also gemeinsam vor Gott Stehenden fühlen. »Ich habe eine gute Tat getan. Voll Freude und Wohlwollens bin ich Und nicht mehr einsam, Nein, nicht mehr einsam. Frohlocke, mein Herz« singt Franz Werfel, und es ist nicht zufällig, daß gerade ein Heutiger diese Töne findet. Die Organisation aber beleidigt, wenn sie fragt, verwundet, wenn sie pflegt, würgt, wenn sie tränkt, tötet, wenn sie rettet; also ist sie eine Form der Krusten- und Stachelbildung im Kampfe ums Dasein, eine sinnreiche Absonderung des Schaltieres Mensch. Arbeitsteilung, auf das feinste organisiert und zugespitzt, um in kürzester Zeit bei geringstem Aufwande die höchste Leistung zu erreichen, ist das Ideal für Fabrikation, Handel und Verkehr und scheint daher der Inbegriff menschlicher Gemeinschaft. Sein Antrieb und Ziel aber ist Wettbewerb, Propaganda, Konkurrenz, Diebstahl und Totschlag, kurz das tren105 nende Prinzip an Stelle des | verbindenden Prinzips zunftmäßiger, d. h. aus 80 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

gemeinsamem Wollen erwachsender Qualitätsarbeit. Wird doch selbst die Qualität heute nur um ihrer Konkurrenzfähigkeit willen gepflegt, wobei man vergißt, daß es zum Wesen und zur Wirkung der wahren Qualität gehört, daß sie sich um ihrer selbst willen darbringt. Die Begriffsverwirrung geht hierin so weit, daß der »Werkbund«, der das gemeinsame Wollen als Nährboden der Qualität erkannte und seinen Bund darauf gründete, sich nun als nützliches Glied der Industrie, des Handels und der Politik erweisen zu müssen glaubt, indem er die Qualität zum Vorspann der Auslandspropaganda und der Weltkonkurrenz macht. Daß aber die Konkurrenz das trennende Prinzip ist, zeigt der Kampf ums Dasein in der Natur, zeigt der Krieg in der Geschichte. Die Pflanzen-, die Tier- und Menschenindividuen, die Arten, Gattungen und Völker entfalten sich, indem sie einander verschlingen, und steigen auf, indem sie einander hinunter treten. Der Schöpfer aber – wenn wir die uns erkennbare Welt in einen solchen begreifen – liebt nicht die Starken und haßt nicht die Schwachen, sondern wirkt und ist Schöpfung, indem die Schwachen in den Starken aufgehen und die Starken die Schwachen in sich aufnehmen. – »Das Recht des Stärkeren über jeden und alle« folgert der geschöpfmäßige Selbsterhaltungsverstand aus dem Kampfe ums Dasein; »die Pflicht des Stärkeren«, seine Schuld an jeden um aller willen und an alle um des Alls willen erfühlt aber daraus der schöpferische Trieb der Selbsthingabe, genannt Liebe. Arbeitsspezialisierung zum Zweck konkurrenzfähiger Produktion als siegreicher Selbstbehauptung über andere ist das feindselige | Prinzip. 106 Austausch und sinnvolle Verteilung der Kräfte und Mittel zum gemeinschaftlichen Zweck wertvoller Leistung – als einer Menschheitsäußerung schlichthin – ist das liebende Prinzip. Beide, im Zenith der Tat oft einander nahe und scheinbar gleich, in erstem Grunde und letzter Wirkung aber fern und verschieden wie Morgen und Abend. Wir werden hier so wenig von einer Schuld einzelner Völker am Kriege sprechen, wie wir bei einem Erdbeben nach der Schuld einzelner Gesteinsarten fragen. Aber der Weltkrieg ist der Paroxysmus der Weltkonkurrenz, in ihm ist dieser Sinn der Organisation ganz reif geworden. Nicht nur reif zum Abfallen und Verfaulen, sondern reif, um einen neuen Samen aus der zerborstenen Frucht in die aufgewühlte Erde zu streuen. Reinhard Goehring läßt in seinem Drama »Seeschlacht« den fünften Matrosen am Geschütz zwischen Schuß und Schuß etwas von dem sagen, was ich hier meine, mit den Worten: Zeichen der Zeit

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»Gleichviel. Jetzt kennt sich wieder Mann und Mann, jetzt erwächst etwas zwischen Männern, das alle Not aufwiegt.« Aber, wende ich mir selber ein, bewies nicht Organisation dennoch belebende, einigende Kraft und feierte ihren höchsten Triumph in der Mobilmachung des August 1914? Man denke sich denselben wunderbaren Mechanismus von Mobilmachungskalender, Aufmarschsäulen usw. mit lauter eigenwilligen, auf die Reservierung ihres Individuums bedachten Menschen, und der August 1914 wäre eine gespenstische Maschinerie gewesen. Das unerhörte, das 107 unverlöschbare Erlebnis | aber war die plötzliche, flammende Hingabe und Drangabe eines jeden und jeden mit Einschluß seines Individuums. Die tot in den Schränken liegende Organisation war durch einen Funken der Idee zur lebendigen Gemeinschaft aufgeflammt, und was wir erlebten, alle mit tiefster Erschütterung erlebten, war das plötzliche Dasein, die Wirksamkeit der geordneten Gemeinschaft. Der Zusammenhalt der Mannschaft im Schützengraben, das einheitliche Vorgehen der Sturmtrupps, das Zufassen hilfsbereiter Hände am Verbandplatz und in der Heimat, das still da hilft, wo es not tut, das ist Gemeinschaft, nicht Organisation. Die Lebensmittelverteilung aber ist Organisation, nicht Gemeinschaft. Diese trennt, jene eint. Was das Heer zur Tat einigt, ist – bei aller Disziplin – Gemeinschaftsgefühl, das in der persönlichen Führung seinen Ausdruck findet. Was uns in der Heimat trennt, ist Organisation, die in der mechanischen Verwaltung ihren Ausdruck findet. Hier hat sich, in primitiver Notwehr des Leibes und der Seele, nur eine Gemeinschaft wirklich gehalten und sogar verstärkt und scheint so immer wieder die Arche Noah sein zu sollen: die Familie. Was darüber hinaus uns einigt, ist die Erinnerung an das Erlebnis der Gemeinschaft der Deutschen und ist die Hoffnung eines herandringenden neuen Erlebnisses, das aus jenem hervorwachsen und es ganz überschatten soll: der Gemeinschaft der Menschen, die wir ahnen. Sie ist es, deren Vorzeichen in allen Ländern auftauchen, nicht parteipolitisch, bolschewistisch oder sonstwie, sondern menschlich; und wahrlich, ehe nicht diese Vorzeichen zu einer großen Offenbarung der Menschheitsgemeinschaft 108 zusammenschießen, wird es nicht »Frieden« geben. Wer | weiß, wie fern, wer weiß, wie nahe die Stunde ist. Kommt sie aber, so wird dieser 82 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Inhalt, aber nur dieser Inhalt wert all der Opfer, Schmerzen und Grausen erscheinen. Wenn die zündende Idee des August 1914 die Verteidigung der Grenzen gegen andringende Feinde war, so schlummerte darin unerkannt die Idee der über die Grenzen greifenden menschlichen Gemeinschaft, der Gemeinschaft des Leides, der Tränen, der Liebe und der Erlösung; gleich wie in der geschäftigen Zweiheit des rechten Gebers und des rechten Nehmers unsichtbar die Einheit der göttlichen Liebe aufleuchtet. Wie aber die Gemeinschaft von 1914 ganz auf der gegenseitigen, opferbereiten Hingabe beruhte, die Vaterlandsliebe heißt, so kann eine lebendige Gemeinschaft des Friedens nach dem Weltkriege nur auf der allseitigen wahren Menschenliebe beruhen, die man Nächstenliebe und Gotteskindschaft nennen mag. Es werden nicht Tiger und Lamm miteinander wandeln. Aber wenn vorher Gleichgültigkeit die Herzen erschlaffte, Selbstsucht des Individuums und Haß des Feindes die Taten scharf und die Blicke eng machte, so könnte Liebe die Blicke weit, die Taten rund und die Herzen stark machen. Und wie jeder wachsende Individualismus den Stachel zur Religionsflucht in sich birgt, so treibt er das Individuum, wenn das Maß voll wird, aus Überfülle und tiefster Angst zu jener Hingabe, die stets den Keim der Religion bildet. Das Mittelalter hatte Gemeinschaft, ihr stärkster Ausdruck war die mittelalterliche katholische Kirche, die bis in unsere Zeiten monumental hineinragt. Die Erlösung des Individuums durch die | Reformation, seine 109 Erweckung zum Selbstbewußtsein ist in ihrer elementaren Explosionskraft wohl nur dadurch verständlich, daß die mittelalterliche Gemeinschaft eine starre Enge, ein unleidlicher Gewissenszwang geworden war und also in ihr Gegenteil ausbrechen mußte. Luther hat wohl nicht unmittelbar an diesen Umschlag gedacht, sondern vielmehr eine Durchdringung der katholischen Gemeinschaft mit individueller Freiheit, gewissermaßen eine freiwillige Gemeinschaft der durch die Glaubensgerechtigkeit auf sich selbst gestellten Individuen im Sinne gehabt. Aber die dialektische, polarisierende Gewalt der Idee war stärker. Luther war zum »Protestantismus« in Worms gezwungen, und die Entwicklung des Individuums in der Kirche nahm ihren Lauf, bis das Individuum die Kirche aufhob. Auch die katholische Kirche konnte sich der Wirkung nicht entziehen. Der Jesuitenorden, aus der geistigen Spannung des ReformationszeitZeichen der Zeit

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alters entsprungen, zur Bekämpfung der Reformation ausgebildet, griff den Kampf auf unter Aneignung der Waffen: höchste Steigerung des Individualismus durch straffe, umfassende, stofflich uneingeschränkte Geisteserziehung der Mitglieder des Ordens, und Einwirkung wiederum auf das erwachende Selbstbewußtsein der Gemeinde durch Unterricht und Predigt, wobei der Prediger und Lehrer sein geschultes Individuum ganz in die Wagschale wirft. Durch die Reformation ist der Jesuitenorden die Blüte der katholischen Kirche und damit der schärfste Konkurrent des Protestantismus geworden und bis heute, bis in den Schützengraben hinein erfahrungsgemäß geblieben. 110 Die Selbsterfahrung des Individuums, das Selbstbewußtsein | ist da; es um der Gemeinschaft willen wieder einschläfern, hieße wahrlich rückwärts gehen. Die dumpfe, vielfach absonderliche religiöse Bewegung unserer Tage aber deutet darauf hin, daß das Individuum sich in seiner Losgelöstheit einsam und kraftlos und wie im luftleeren Raume eingefangen fühlt und sich sehnt, die Schranken seiner Freiheit zu brechen, indem es sein freies Ich opfert und darbringt. Solange die Kirche dieses Sehnen nicht begreift und nicht erfüllt, wird es nicht in die Kirche, sondern aus der Kirche führen. Das beste, gesündeste und reichste Streben geht so der Kirche verloren, zum Schaden der Kirche ebensowohl wie zum Schaden des umherirrenden Strebens. Auch vor dem Kriege bestand eine gewisse übernationale Verbindung der Völker, aber sie beruhte auf dem Individuum, auf dem wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Interesse des einen Individuums für die Besonderheiten des anderen und auf einer bequemen Übereinkunft des sich Gewähren- und Geltenlassens. Mit Recht bezeichnete Emerson zum Beispiel den Weltpostverein, der die Unantastbarkeit des schwächsten Briefumschlages über die ganze Erde gewährleistete, als ein Stück Religion der Zeit. Die Menschheitsidee war eine zweckmäßige und zugleich nachlässige Gewohnheit geworden und führte ein befristetes Dasein neben dem Wettbewerbe und dem Wettrüsten. Der Krieg riß die Nationen auseinander, ballte sie in feindliche Gruppen zu »Unteilbarkeiten«, Individuen zusammen: innerhalb der einzelnen Gruppen oder Nationen aber geschah jenes Aufgehen aller einzelnen in der Gemeinschaft. Auch der religiös Individuelle, der eigentlich nur engste 111 Zwiesprache oder | wortlosestes Verhältnis zur Gottheit kannte, ging ein84 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

mal den Weg zur Kirche in dem bewußten oder unbewußten Drange, sein Ich in den großen Mischkessel der Gemeinschaft zu stürzen; in der Hoffnung, nicht nur seine Zunge mit tausend anderen Zungen zu denselben Worten zu vereinigen, sondern zugleich seinem Schrei aus tiefster Not tausend Zungen zu verleihen und einen tausendfachen Mund. Hat die evangelische Kirche ihre Aufgabe verstanden? – Sie besann sich ihres Amtes als Staatskirche und stärkte den Aufschwung der staatserhaltenden, national individualisierten Vaterlandsliebe; aber wenn sie von ihren christlichen Kanzeln herab den Feind nur Feind nannte, machte sie, ohne es zu wollen, aus Völkerfeindschaft Menschenfeindschaft, war kriegerischer als der Krieger und wurde drum von diesem gerade gering geachtet; und wenn sie schwieg von Feindeshaß, dämpfte sie oft auch ihre Worte von der Feindesliebe zum Geflüster herab neben dem Geklirr der Straße. – Was erwarteten wir denn, wenn wir von der Straße zu ihr eintraten? Wollten wir vielleicht Friedensvorschläge, Aufrufe und Wohlfahrtsbeschlüsse vernehmen? Ach nein, auch die gehören ja zum Geklirr der Straße, von solchen schwieg sie mit Fug und Recht fein still. Warum aber schwieg sie zugleich so oft und so peinlich still von jenem Frieden, der Bruderliebe und Bruderzwist, Völkerhandel und Völkerkrieg mit weiten Mantels unergründlich tiefen Falten ganz umfängt? Zu Kriegsbettagen haben wir uns versammelt, gleichwie am 4. August 1914, haben unser Herz in der Hand getragen und haben gebetet, nicht nur jeder allein, sondern die gesamte Gemeinde, ja, zur gleichen Stunde alle Gemeinden der zahlreichen | Kirchen des Landes, und diese Gemein- 112 schaft gab das überindividuelle Gefühl der Kraft über das Leid und über die Schuld; auch über die Feindschaft? Wie, wenn zur gleichen Stunde Franzosen, Engländer und Russen Kriegsbettage hielten, wenn auch dort wahrhafte Menschen im rechten Geiste um Kraft über ihr Leid und über ihre Schuld beteten, wir machten uns gewiß nicht das Ohr der Gottheit streitig, nein, wir waren eine große Beterschaft. Und diese – ganz gewiß nicht nationalitätslose oder nationalitätswidrige, wohl aber übernationale menschliche Gemeinschaft ist Erlebnis, ist Gewißheit (so deutlich, wie in Henri Barbusses »Le Feu« von oben her der Flieger hinter beiden Fronten einen Bittgang ziehen sieht). Sie ist da, ist nur heute weniger denn je offenbar, und ist uns allen doch heute mehr denn je not. Diese ganz menschliche, darum, recht verstanden, ganz christliche Gemeinschaft, dieser eine Himmel über der zerrissenen Erde, diese Sonne über Zeichen der Zeit

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Gerechten und Ungerechten, glänzt sie strahlend und wärmend, heilend und erleuchtend in unseren Kirchen? Aus einem Wort, aus dem Klange eines Wortes leuchtet wohl da und dort ein Strahl dieser Sonne auf, aber – es ist bitter zu sagen – nur selten und nur verstreut. Und doch waren es die mannhaftesten, die treuesten und die deutschesten Worte, aus denen dieser Glanz hervorbrach. Da war der Krieg eine bittere Form des Daseins, wie Leben und Tod, Hunger und Liebe in Natur und Geschichte, gleich diesen nicht zu segnen und nicht zu verfluchen, unausweichlich und doch zu überwinden; nicht aber ein Haß oder eine Machtgier oder eine Rache für Erlittenes oder ein Vorrecht der Strafe über andere; nicht ein Trennendes, sondern eine allen gemeinsame, schwere und blutige Aufgabe. |  113 Inzwischen änderte sich im Kampfe ums tägliche Brot das Kräftebild. Das Ideal der nationalen Gemeinschaft trat in schärfsten Widerstreit mit dem Idol des Individuums; Vaterlandsliebe und Egoismus, durch tausendfache Argumente notdürftig aneinander gebunden, klafften immer weiter auseinander, je mehr der Krieg von der ekstatischen Ausnahme zur schrecklichen Gewohnheit und organisierten Einrichtung wurde, und führten sich gegenseitig ad absurdum und also über sich selbst und ihre Grenzen hinaus; und das in allen Ländern. Wo die Krisis sich noch nicht vollzog, da wird, da muß sie sich vollziehen. Ich meine nicht eine Krisis der Staatsform, sondern eine Krisis des Herzens! Denn die Gemeinschaft der Menschen, vorher eine Nachlässigkeit, ist eine blutige Sehnsucht, ein jähes Aufflammen im Menschenherzen geworden, ein widerwilliges Sicherkennen, ein widerstrebendes, dennoch unaufhaltsames Sichaufgeben, Sichgeben. Der Infanterist mit erhobener Waffe erkennt es plötzlich im Auge seines Feindes, der Übersetzer begreift es aus den Briefen des Kriegsgefangenen, der Arzt weiß es längst vom Operationstisch, der gequälte Zeitungsleser abstrahiert es aus all den krampfhaften Täuschungen und Selbsttäuschungen. In vielfacher und rätselhafter Gestalt schließen sich die Anzeichen zu einem magischen Ringe, der über Nationen, Rassen und Konfessionen hinweg die arme Menschheit umfaßt zu einer Gemeinschaft der Schuldigen aneinander, der Hilfsbereiten, der Liebenden, der schuldig Unschuldigen in Gott. Nur als freiwilliges Glied der Menschheit können wir wieder Mensch werden nach dem unseligen Zustand eines werktäglichen Berufstieres 86 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

und Maschinenhebels und eines sonntäglichen Ich-|Meiner-Mir-Michs. 114 Die Nation kann sich nun nicht ihrerseits als Individuum abschließen und (soweit ihr dumpfes Wollen in Einzelnen bewußter führender Wille wird) sich nur selbst wollen innerhalb der Welt, sonst wäre der Egoismus der Person nur um einige Grade erweitert zu dem der Nation, und wäre statt Hingabe doch nur ein Egoismus zweiter Dimension. Und so scheint mir das Nationalitätenprinzip in dem Augenblicke menschlich überschritten zu werden, da es politisch anerkannt und abgesteckt ist. Oder müssen wir auch dieses in seinem ganzen Ausmaß erst durchwirken, ehe wir es überschreiten dürfen? Und die Menschheitsidee, die sich nur selber wollte innerhalb der Welt, wäre sie nicht statt Hingabe doch erst ein Egoismus dritter Dimension? Aber die nach Erlösung von sich selbst, nach Erlösung vom ewigunseligen Wollen tastende, lechzende, aufschreiende, stillbetende, ahnende Sehnsucht des Einzelnen für sich wie für Volk oder Menschheit, denen er sich stellvertretend verantwortet fühlt, zielt auf das Ganze, zielt aufs Göttliche schlichthin. Ob die Einzelindividuen eine Gemeinschaft bilden können und ob ein Inhalt begriffen werden kann, der so stark und umfassend und so einfach ist, daß alle Individuen darin aufzugehen vermögen; ob ein werktätiges, stilles Menschentum diesen Inhalt darstellen, ob eine Religionsform diese Gemeinschaft vorbereiten oder ob diese Gemeinschaft eine Religionsform aus sich gebären kann, wage ich nicht zu erwägen: es ruht darin aber die Lebensfrage unserer Kunst, unserer Kultur, unserer Religion, kurz unseres Zeitalters. Und in solchem Sinne ist dieser Krieg eine Krisis, gebe Gott die Krisis unserer Menschheit. Nur ein solcher Sinn des Krieges vermag wohl zu erklären, | warum 115 fast alle Völker wider besseres Wissen und Wollen, trotz aller Schrecken und neben aller politischen Verführung, eines nach dem anderen dumpf dahin drängten, sich mit in den blutigen Mischkessel zu stürzen, um mit aufzugehen in dem Entstehen. Jede Religionsform enthält in ihrem innersten Kerne die Ahnung oder den Gedanken der Unseligkeit des Individuums und der Erlösung durch die Hingabe, der Gemeinschaft im Göttlichen, der Auflösung im Allgöttlichen. In dem Maße, wie eine Religionsform von diesem Kerne aus ihre historischen Verkrustungen, Verzweigungen und Angliederungen lebendig durchdringt, mag sie imstande sein, der heilige Mischkrug zu sein und Zeichen der Zeit

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mehr oder weniger des Urinhaltes zu fassen. Natürlich kann sie dabei nicht sich für alleinseligmachend halten und alles außer ihr als Ketzerei verfolgen oder verachten. Natürlich aber kann sie dabei auch nicht Staatsreligion, d. h. Dienerin, Deuterin und Umdeuterin der jeweiligen Staatsraison sein. Wenigstens nicht, solange der Staat seine Einrichtung, seine Gesetze und Handlungen von der baren Zweckmäßigkeit ableitet, d. h. solange er »wertfremder Zweckstaat« ist. Ich beziehe mich hier auf die Begriffsbestimmungen Leopold Zieglers in seinem Traktat über »Volk, Staat und Persönlichkeit«*), wo er dem Zweckstaate den »zweckfreien Wertstaat« gegenüberstellt, dessen Einrichtung, Gesetze und Handlungen durch moralische Werte und Ideen bestimmt sind. Wir unsrerseits sind auf unserem bisherigen Wege dahin gelangt, zu unterscheiden zwischen einem Gebäude, dessen Anordnung, Gestalt und 116 Größe ganz oder vorwiegend von Zwecken abgeleitet | ist und einem solchen, dessen Anordnung, Gestalt und Größe durch die Idee eines zweckfreien Raumwertes entscheidend bestimmt ist. – So werden wir nun die Vitruvsche Unterscheidung der Bauten nach Bauanlässen, d. h. die Unterscheidung von Profan- und Sakralbauten im landläufigen Sinne endgültig verlassen und das Ergebnis unserer bisherigen Betrachtungen in die Unterscheidung der Begriffe Zweckbau und Wertbau hineinpressen können. Dieselbe läßt natürlich sinngemäße Anwendung auf alle Baugattungen zu, für die kirchliche Gattung aber ergibt sich, daß der Begriff des religiösen Wertbaues, der Wertkirche, mit dem von uns zuvor abgegrenzten und bedingten Begriffe des Sakralbaues wesentlich zusammenfällt. Übertragen wir endlich die Begriffe Zweckkirche und Werkkirche aus dem Bereiche der sichtbaren Bauformen in das der unsichtbaren Religionsformen, so tritt auch hier eine analoge, begrifflich reine Scheidung von Zweckreligion und Wertreligion ein, und scheinbar ergibt sich, daß Zweckreligion den Zweckbau, Wertreligion aber den Wertbau, d. h. also den Sakralbau bedingen müßte; wir erinnern uns aber, daß ein Sakralbau nur dann mit zwingender Gewalt entsteht, wenn die Religion raumhaft ist, so daß ihre geistigen Werte in räumlichen Werten aufgehen können. Historisch finden wir alle Mischungen und Übergänge vor: von der Zweckreligion, die so raumhaftend ist, daß sie Raumwerte schafft und in diesen Raumwerten erst die vielleicht in ihr schlummernde Wertidee offenbart – ) S. Fischer. 1917.

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bis zur Wertreligion, die so raumentbunden ist, daß sie keine Bauten oder nur Zweckbauten hervorbringt und in ihnen erstarrt. Begriffsmäßig aber gelangen wir zu der Feststellung, daß Raum|haftigkeit und Werthaftigkeit 117 der Religion vereinigt die vollkommenste Vorbedingung des Sakralbaues sind, und daß solcher Sakralbau die reinste Verbindung eines Bauinhaltes mit einer Bauform, also die höchste Baukunst darstellt. Endlich aber, um zum Ausgange dieser begrifflichen Unterscheidung zurückzukehren, ist zu erkennen, daß Zweckstaat und Wertreligion in verschieden gelagerten Ebenen verlaufen und keinen Schnittpunkt haben, während Wertstaat und Wertreligion parallel verlaufen und ihren Schnittpunkt im Unendlichen finden. Gegen einen Zweckstaat also, neben und in einem Wertstaate aber könnte wohl die evangelische Kirche aus ihrem christlichen Wert und Kern: der Gemeinschaft der Liebe und der Erlösung durch die Hingabe an die göttliche Gemeinschaft, ein Gefäß der Zeit werden; ist sie doch einmal imstande gewesen, das ganze geistige Leben einer Zeit in sich aufzunehmen; möge sie sich nun fähig zeigen, das aufgenommene ihrem ureigensten Wesen zu einem Ganzen zu verschmelzen. Zu den Menschen möchte ich sagen: Klopfet an die Tür der Kirche, bringt euch und euer Alles herein und fügt daraus die große Opfergabe der Menschheit an die Gottheit, tretet heran zu dem großen Liebesmahle, dem Sakrament der Hingabe und Gemeinschaft. Und zur Kirche möchte ich sagen: 1914 traten wir bei dir ein, wir sahen und warteten, wir hörten von deinen Kanzeln, was wir zu hören erwarteten, hörten vom Segen der Waffen, von der Herrlichkeit des Vaterlandes und der Schnödigkeit der Christen anderer Nation, hörten aber selten von dem, das wir nicht erwarteten und doch ahnten. Und die Sehnsucht nach diesem führte uns von den Kanzeln weg. Tue deine Tore | weit auf, lade mit einer einzigen Gebärde der Liebe 118 alle, die noch Feinde sind, zu deinem Abendmahlstische, auf daß wir noch einmal bei dir eintreten mögen, noch einmal unsere Herzen dir anvertrauen mögen. Aber wahrlich, die Stunde wird darnach nicht wiederkehren, da du deine Mauern mit Leben füllen kannst.Versäumst du die Stunde, so bleibst du Gemäuer, und das Leben irrt draußen umher, oder es wird Form und Gestalt werden auf deinen Trümmern. Erkennst du die Stunde, so wird das Leben dich wieder umspülen, dein schlummernder Kern wird wieder Keime treiben und eine lebensvolle junge Gestalt hervorbringen, und diese Gestalt wird sichtbar werden in einer neuen Gestalt deiner Kirche. Zeichen der Zeit

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Wofür aber bedarf der frei gewordene, aus seinem freien Willen sich hingebende Mensch einer solchen Kirche? Nicht für sein tägliches Wirken, nicht für die stille Tat der Liebe, nicht für seine Selbstzucht, seine Selbstbesinnung oder sein Gebet im Kämmerlein; auch nicht für die aus der Predigt fließende Belehrung. Dies alles bildet den Bezirk des auf sich selbst gestellten Ich, den es erobert hat und besitzt; in diesem Bezirke hat es sich entfaltet und aus einem Objekte zum Subjekte des religiösen Verhältnisses sich entwickelt; mit eben dieser Entwicklung aber drängt es über die Grenzen des Bezirkes hinaus. Das Urwollen, das die tausendfache Welt ins Sein stellte und sie durchdringt, tausendfältig zerstrahlt zu tausend Formen und Wesen, die sich selber wollen so lange, bis das bewußt leidende Ich aus sich selbst herausspringen, sich seiner selbst entäußern, sich darbringen will und also den Urstrahl des Wollens umwendet und ihn, tausendfältig vereinigt, wieder 119 auf | Gott richtet: das ist die Erlösung des Einzelwillens im göttlichen Willen, das ist die Erlösung des Einzelseins in der Erlösung des Seins vom Sein. Das ist die Religion der Menschenliebe und der Gottesliebe, geboren aus dem dreimal heiligen Leid. Mag dies auch nur eine der vielen Formen der Deutung und Vorstellung sein, unvollkommen und anfechtbar gleich vielen anderen Formen, so wurzeln sie doch alle in der dunklen Scholle der Brust, sind gewachsen im Tau der Tränen und recken die Äste und zarten Blätter zum Lichte des Himmels. Die freiwillige Hingabe des Ich als des neuen Subjektes nun, die wirksame Vereinigung der Einzelseele mit der Vielheit der Mitseelen zu einer höheren Einheit, das Aufgehen des einzelnen Willens in der Einheit des göttlichen Urwollens, das ist die Gemeinschaft der Heiligen, d. h. derer, die den Willen der Gottheit wollen, täglich und stündlich, in sich und außer sich, in der Kirche und außer der Kirche. Ort dieser sichtbaren Gemeinschaft aber und ihrer stärkenden Wirklichkeit ist der Kirchbau; er ist nicht nur das Gehäuse der Versammlung, er ist die sichtbare Form und Gestalt der Gemeinschaft. Wie der Gang zu dieser Kirche ein sichtbarer Schritt zur Opferung des Ich, so ist ihr Bau eine sichtbare und spontane Gebärde der Gemeinschaft, eine Selbstdarbringung durch die Baukunst um der Erlösung willen. Als Erscheinungsform, als Raumform dieser Opferung und Darbringung der Vielen an die Einheit wäre die Kirche der Ort der Gemein90 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

schaftsversammlung und der Ort des die Gemeinschaft der Liebe seienden Abendmahls in besonderem Sinne, sie wäre sakraler Ort. Sakral nicht wie bisher aus Raumfurcht | oder Machtfurcht, durch Fetisch oder Reliquien, 120 durch Materie oder Dogma. Solches schuf bisher zuerst die Bedeutung des Ortes und erweckte dann den religiösen Drang, diesen Ort zur Raumform zu erheben. Nun aber quillt der Drang, die Kirche als eine Raumform der Gemeinschaft zu bauen, unmittelbar aus dem religiösen Erlösungstriebe und zieht umgekehrt erst daraus die sakrale Bedeutung des freigewählten Ortes. Also nicht infolge örtlicher Gebundenheit der Religionsübung entstünde dieser Sakralbau, sondern die zur Raumform drängende religiöse Idee bände sich freiwillig an den Ort, also daß dieser dadurch zu jeder Stunde, jedem Auge sichtbar, jedem Herzen fühlbar und heilsam, sakraler Ort würde. Keimhaft ruht diese Idee schon in der materiell gebundenen katholischen Raumhaftigkeit, zuweilen fast fühlbar, noch nicht aber wirkend; triebhaft regt sie sich auch in der raumentbundenen protestantischen Formflucht; hier aber würde sie sich entfalten zu Blüte, Frucht und neuem Samen. Solch ein Kirchbau wäre in einem neuen, freien und geistigen Sinne Sakralbau. | 

Zeichen der Zeit

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Ausblicke

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Die letzte Vergeistigung der Kirche und der Kirchbaukunst weist auf eine Vergeistigung der menschlichen Gesellschaft und ihre Entfaltung zur wirklichen Gemeinschaft hin, fällt also irgendwie zusammen mit einer geistigen Ordnung des staatlichen und sozialen Lebens, mit einer Rangordnung des Wertes an Stelle der des Erbes oder jener des Maßes, bedeutet also eine Religion des Geistes auf umfassender Grundlage und von umgreifender Form. Auch nur der Versuch, die Umrisse dieser unmöglichen Möglichkeiten und, wie ich glaube, latenten Notwendigkeiten des Christentums in die Luft zu zeichnen, würde unsere bisherigen Betrachtungen wie ein riesiges Gewölk überschatten und zugleich nebelhaft und höchst phantastisch wirken. Ich beschränke mich daher abschließend auf die Behauptung, daß die hier aufgeworfene und behandelte Frage nach dem neuen Sakralbau vom Standpunkte der protestantischen Kirche für heute verneint werden muß, von einem konfessionell und parteilich weitesten, religiös strengsten Standpunkte dagegen für die Zukunft – und sei es für die fernste Zukunft der europäischen Menschheit – bejaht werden muß. |  Wenn nun auch das Auge des Architekten sich vom spekulativen Mor- 122 gen und Übermorgen zurück zum empirischen Heute wendet, um dessen Aufgaben praktisch zu erfassen und zu Gebrauchsformen zu verdichten, so steigen doch diese Formen aus der Erinnerung des – bewußt oder unbewußt – zuvor Erschauten auf und wirken, je mehr sie das Heute erfüllen, das Morgen. Welcherlei Aufgaben aber stellt ihm heute die evangelische Kirche? Das Bauproblem, aus dem diese Betrachtungen entsprungen sind, und das, nach den äußeren und inneren Zerstörungen, Versäumnissen und Wandlungen des Krieges, uns von neuem auf dem Herzen liegt, klärt sich nun. Zwei Gruppen des Programmes, die sich bisher darin durchkreuzten und widerstritten, lösen sich voneinander ab, nämlich die Bauaufgaben der Seelsorge, Lehre und Predigt von jenen der Anbetung und des Sakramentes. Ausblicke

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Die Seelsorge ist die vornehmste Aufgabe des Pfarrers als eines persönlichen Menschen; ihr baulicher Ausdruck ist das Pfarrhaus. Es nicht nur zur Dienstwohnung im gewöhnlichen Sinne, sondern zur Werkstatt der Seelsorge zu schaffen (wofür ich ein bescheidenes Beispiel im einleitenden Kapitel zu schildern versucht habe), sei der gemeinsame Wille von Bauherr und Architekt, gewissermaßen ihr »immanentes Bauprogramm«. Die Seelsorge des Pfarrers aber ist nur die berufliche und berufene Ausübung dessen, was letzten Endes jeden Menschen mit seinem Nächsten, seiner Familie, seinen Freunden und Schutzbefohlenen verbindet und dadurch jedes Menschen Haus nicht nur zu einer Ruhestatt, son123 dern zu einer Werkstatt seiner Seele | macht. So könnte das »immanente Bauprogramm« des Pfarrhauses klärend auf das technisch und ästhetisch übersättigte Bauprogramm des Wohnhauses wirken. Ich habe selbst genug Wohnsitze gebaut, um hier nichts Unpraktisches, nichts Formfeindliches, nichts Freudloses im Sinne zu haben. Um aber auch in dem, was ich hier unter Seelsorge verstehe, nicht ganz mißverstanden zu werden, möchte ich als ihr konträres Zerrbild nur Ibsens »sittliche Forderung« nennen. Diese zersetzt, jene faßt zusammen und ist die liebende Sorgfalt um jede einzelne Seele und also die aufs Geistige übertragene helfende Nächstenliebe. Die praktische Nächstenliebe und Gemeinschaft findet ihren baulichen Ausdruck in sogenannten sozialen Anlagen, wie Schulen, Krankenhäusern, Lesehallen, Kleinwohnungen, Wohnkolonien, Stadtanlagen, und sollte das »immanente Bauprogramm« derselben sein. Nur dieses Bauprogramm der tätigen Nächstenliebe, nicht Spekulation, Propaganda, Konkurrenz oder Eitelkeit, kann die Grundstimmung geben, aus der heraus Bauherr und Baukünstler heute das schaffen, was heute und morgen not tut. Bauaufgaben der Kirche auf eben diesem Gebiete sind die Versammlungs- und Unterrichtssäle, die der Lehre und Unterweisung durch den Geistlichen dienen, die Diensträume zur Verwaltung der Gemeinde und die Wohnungen kirchlicher Beamter und Helfer. Sie alle bilden mit dem Pfarrhause eine Wesenseinheit und drängen daher nach baulicher Einheit, sei es in einem Gebäude oder in einer Baugruppe, die mit dem Worte »Gemeindehaus« treffend bezeichnet wird. Wichtig für die Erfüllung des »immanenten Bauprogrammes« der einzelnen Teile ist der künstlerische Ausdruck ihrer Werteinheit. |  124 Ganz und gar zu dieser Einheit gehört der Predigtraum, das Predigthaus. Die Predigt möchte ich die gehobene Form der Lehre und Unter94 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

weisung und die Sammelform der Seelsorge nennen, sie ist die Verbindung dieser beiden Grundtätigkeiten des evangelischen Geistlichen, und auch in ihr ist seine Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung. Ob er in all diesen Formen ganz und gleichmäßig zu wirken vermag, oder ob er in einer derselben sich vorwiegend entfaltet, hängt von der besonderen Art der Begabung ab und dürfte wohl an sich noch keinen Maßstab für den Wert seines Wirkens abgeben. Es scheint jedoch, als seien die Gemeindeglieder leicht geneigt, die Gabe der Kanzelrede ohne weiteres höher und wichtiger zu erachten als jene der Lehre oder der Seelsorge an sich. Ja die Beziehung der Gemeindeglieder zur Kirche und damit zum Gemeinwesen ist geradezu von ihrer Stellung zur Predigt abhängig geworden. Denn da für den gebildeten Hörer die Predigt, sowohl der Form wie dem Inhalte nach, Gegenstand der Kritik ist, so braucht ihm nur eines von beiden nicht zuzusagen (was bei individuell freiem Vortrage einer Lehre ohne Dogmen immer möglich ist), damit er sich in eine fremde Gemeinde oder Ideengemeinschaft verlaufe und so der Tatgemeinschaft seiner eigenen Gemeinde verloren gehe. So gibt es je nach Talent und Mode des Redners volle und leere Kirchen, und die Berechnung der Sitzezahl nach Prozenten der Seelenzahl erweist sich immer als ganz falsch, da in dieser Rechnung die Potenz des Redners vergessen ist. Es ist damit nicht anders als mit vollen und leeren Hörsälen. Sobald man sich aber entschließt, es so anzusehen, braucht man nicht mehr mit Emphase von »leeren Kirchen« zu reden, man wird auch | nicht mehr die Predigthäuser mit Emphase als 125 »Kirchen« erbauen, deren Leersein als ein religiöses Übel gelten muß. In alledem liegt eine Überspannung der Predigt. Ihre Bewertung ist im Ursprunge der Reformation so fest verankert, daß ich nicht wagen würde, von einer Überspannung zu reden, wenn ich nicht meine eigene Erfahrung hierin von mancherlei Seite bestätigt fände. Auch bin ich mir klar, daß ein Problem, das so nahe an die Grundlagen der evangelischen Gottesdienstordnung rührt, nicht einseitig oder vorwitzig vom Kirchbaumeister angepackt werden darf. Klare Durchbildung des Predigthauses, enge Verbindung mit dem Gemeindehause und bauliche Auswägung der Werte vermag jedoch einer Lösung des Problems vorzuarbeiten. Wenn das Predigthaus wegen seiner Größe sich auch nicht ohne weiteres den übrigen Teilen des Gemeindehauses einfügt, so bildet es doch mit ihnen eine wesentliche Einheit und verlangt nach bautechnischer und vor allem nach baukünstlerischer Einheit. Mit dieser Einheit ist natürlich Ausblicke

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etwas anderes als nur Gleichheit des Materials oder der »Stilart« gemeint. Aus ihr kann vielmehr der Architekt für das »immanente Bauprogramm« der Teile und des Ganzen die fruchtbarsten Anregungen gewinnen. Der evangelische Gottesdienst besteht aber neben der Predigt aus Gemeindegesang, Schriftlesung, Gebet, Segen und Sakrament, die alle weniger dem Bedürfnis des Verstandes nach Belehrung und Erbauung als vielmehr dem unmittelbaren Bedürfnis des religiösen Gefühls nach Hingabe, Darbringung, Anbetung, Versöhnung, Erlösung entsprechen, und so eine von der Predigt grundsätzlich getrennte Gruppe bilden, die ich in 126 Er|mangelung einer treffenderen Bezeichnung die »religiöse Feier« nennen möchte. Die Predigt beruht ganz auf der Eigenart des Geistlichen, die Feier ist – vergleichsweise – unabhängig davon. Die Predigt wird vom Verstande aufgenommen und reflektiert (falls sie nicht ein dichterischer Versuch am ungeeigneten Objekte sein will), die Feier ist Impuls und aktive Leistung des Gefühls, und zwar des im Kollektivgefühl der versammelten Gemeinde sich entfaltenden und aufgehenden Einzelgefühls. In dieser seltsamen Drängung passiver Rezeptivität und aktiven Impulses in die Spanne einer kurzen Stunde liegt die Besonderheit und, wie ich aus reiner Erfahrung behaupten möchte, die Problematik des evangelischen Gottesdienstes. Es kann auch sein Zauber darin liegen, wenn nämlich die persönliche und schöpferische Kraft des Geistlichen und die Übereinstimmung mit seiner Hörerschaft es ermöglichen, den aus Predigt und Feier gemischten Gottesdienst als ein Ganzes zu schaffen und zu erleben. Es bleibt aber die Frage, ob auf einem solchen Ausgleiche widerstrebender Teile, wie er zwar nicht nur als Ausnahme, aber auch bei weitem nicht als Regel gelingt, eine ganze Gottesdienstform sicher genug ruht, und ob ein solcher Ausgleich eine Addition und nicht vielmehr eine Subtraktion der Wirkungen bedeutet. Wenn immerhin erfahrungsgemäß mancher Feierbedürftige sich durch seine Kritik an der Predigt vom Kirchenbesuch abhalten und mancher Anhänger eines Redners sich durch das »Drum und Dran« der Feier stören läßt, so mögen beide Urteile einseitig irren, dennoch aber geht allerlei Nachdenkliches aus ihnen hervor: 1. Das echte Bedürfnis nach Predigt und nach Feier ist in verschiedenen 127 Menschen verschieden, aber auch im selben | Menschen heute und morgen, früh und abends nicht gleich, und also auch die Aufnahmefähigkeit. 96 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

2. Die Abhängigkeit des ganzen Gottesdienstes von den persönlichen Überzeugungen und Talenten des Pfarrers und von der Kritik der Gemeinde an denselben ist gefährlich nicht nur für den Kirchenbesuch, sondern für die religiöse Gemeinschaft der Gemeinde. 3. Auf der Predigt ruht heute der Kirchenbesuch. Je mehr aber der Gebildete Ersatz der Predigt nach eigener Wahl in Literatur und Wissenschaft sucht, und das um so eher, je eifriger ihrerseits die Predigt sich in das Gewand von Literatur und Wissenschaft zu hüllen liebt, desto ungewisser wird Unterlage und Aufbau des Kirchenbesuches. 4. Die Verkümmerung der »religiösen Feier« beraubt die Kirche der festen Unterlage. Noch einmal drängt mich das Problem einen Schritt über das Heute hinaus. Ein Schritt nur vorwärts, und die religiöse Feier trennt sich von der Predigt, beiden zum Gewinn, die sich nun aus eigener bisher nie ganz entfalteter Kraft heraus potenzieren, statt einer problematischen Addition, wenn nicht gar einer Subtraktion. Zeitliche Trennung ist natürlich auch im bisherigen Kirchengebäude möglich, doch findet die religiöse Feier in dem vorwiegend als Predigtkirche empfundenen Bau wenig Rahmen und Widerhall. Die zeitliche Trennung drängt vielmehr zur räumlichen Trennung, und mit einem Aufatmen wird der Baumeister die beiden getrennten und geklärten Aufgaben ergreifen: das Gemeindehaus mit Predigthaus und die Feierkirche. Das Bauprogramm des Predigthauses ergibt sich einfach und einhellig aus dem Zwecke; von der Bewegung des Raumes | auf die Kanzel, von der 128 daraus sich ergebenden Mannigfaltigkeit und Beschränkung ist im 4. Kapitel bei der Behandlung des radikalen Bauprogrammes die Rede gewesen. Auch dieses Programm aber ist nun befreit von der Forderung, doch nebenher und irgendwie eine »Kirche« für den Altardienst darzustellen, und ist bereichert für die innere und äußere Gestalt durch das »immanente Bauprogramm« des Gemeindehauses. Die historisch herangewachsene Form der vielfachen Emporenhalle kann sich ganz neu entfalten. Das Bauprogramm der Feierkirche, oder wie ich jetzt kurz sagen möchte, der »Kirche« ergibt sich einfach und einhellig aus dem Altardienste. Der Altar, der Ort des Gebetes, des Segens und des gemeinschaftlichen Mahles, steht entweder an der einen Seite eines Längsbaues, von hier aus den Raum beherrschend, oder in der wirklichen Mitte eines ZentralAusblicke

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baues, von der Gemeinde allseitig umgeben. Mit dem Wegfall der Kanzel verschwindet nicht nur die Zwiespältigkeit der Raum- und Gestühlrichtungen, sondern der Raum folgt nun an Gestalt und Größe seinem eigenen monumentalen Gesetz, das Gestühl erfüllt ihn nicht mehr notwendigerweise bis in den letzten Winkel, sondern wird lockerer und fügsamer, Emporen kommen kaum in Betracht. Unendliche bauliche Möglichkeiten eröffnen sich. Die eigentliche Entwicklung des Bauprogrammes aber kann erst aus der ritusmäßigen Entfaltung all der religiösen Kräfte folgen, die in den jetzigen Bestandteilen der Feier noch schlummernd oder schon entschlafen ruhn: Der Gemeindegesang als einfältigster Ausdruck frohen Aufgehens des 129 Einzelnen in der Gemeinschaft, der Wechselgesang mit | dem geschulten Chore, die Schriftlesung und das gesangweise Vortragen der biblischen Erzählungen, fortschreitend bis zur Kantate und zum Oratorium. Diese Kirche wird dennoch nicht zum Konzertsaale werden, sondern Musik und Dichtkunst werden gern das glänzende Licht der Bühne missen, wo sie mehr geben, als sie empfangen, und in die selbstlose, ruhmlose Dämmerung der Kirche untertauchen, aus der sie reicher wieder auftauchen. Das stille und das gemeinsame Gebet, nicht als Formel, sondern als ein Opfer des Herzens aus dem Drange der Stunde und aus der Not der Zeit, gipfelnd in der Feier des Liebesmahles wie in den Feiern der Taufe, Einsegnung der Konfirmanden, Trauung und Aussegnung der Toten. Diese Kirche wird jederzeit und jedem offen stehen, und wer eintritt, wird nicht ein leeres Gehäuse, sondern eine stille Stätte der Selbstbesinnung und des Untergehens, des Trostes und der Stärkung des Guten in seiner Seele, kurz des Gebetes, finden. Denn diese Kirche wird in jenem freigewählten, geistigen Sinne sakraler Ort sein. Die Baukunst wird mit all ihrer technischen Kühnheit und steinernen Inbrunst Mauern und Pfeiler im Kreise aufrecken und Gewölbe spannen zur Kuppel über dem Altar und so erst ihrer ursprünglichen, raumschaffenden, raumheiligenden Kraft wieder innewerden. Die bildenden Künste werden gern dem kühlen Museum entrinnen und ihre glühenden Gestalten den Mauern der Kirche aufprägen. Sie werden alles geben und mehr empfangen. Die Kirche wird diese und alle Quellen des Lebens, auch die verschütteten Brunnen alten Christentums, in sich sammeln, und daraus die Predigt und die Lehre und die Seelsorge speisen. 98 Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau [1919]

Zum Zeichen aber, daß ich hier nicht mit klingenden Worten | von 130 einer unerreichbaren Zukunft rede, sondern wirklich nur einen Schritt über das Heute tue, will ich mit dem Berichte eines unscheinbaren und sicher an manchem Orte sich wiederholenden Erlebnisses schließen: Eine schnell herangewachsene Gemeinde besitzt ein vierhundert Jahre altes Kirchlein, das ihr vertraut und wert, aber viel zu klein ist. Es soll abgebrochen und an seiner Stelle eine fünfmal größere neue Kirche aufgeführt werden. Alle sehen die Notwendigkeit und alle sind betrübt. Da taucht folgender Plan auf: Die alte Kirche mit ihren dicken Mauern und ehrwürdigen Gewölben soll stehenbleiben; an sie anschließend, dreiseitig sie umflügelnd, soll ein neuer Gebäudezug errichtet werden, bestehend aus Pfarrei, Gemeindehaus und großer lichter Predigthalle, und zwar so, daß die Predigtgemeinde zum Abendmahl in die alte Kirche übergehen kann. Diese aber, am Platze im Schatten der alten Bäume, von Noteinbauten befreit, behutsam instand gesetzt wird die »Kirche«, ein neuer starker Turm hilft ihr die ganze Baugruppe beherrschen. Die Gesamtkosten aber sind trotz Zufügung des Gemeindehauses nicht höher als beim ursprünglichen Plane, da das Predigthaus keine Kirche, dafür aber um so besser das wird, was es sein will. Eine Nachbargemeinde, die keine alte Kirche zu bewahren hat, sondern völlig neu bauen will, geht von diesem Beispiele aus, formt und ordnet alles freier und klarer und schafft so einen neuen Typ. Hier aber ist der Punkt erreicht, wo ich die Feder niederlege und ungeduldig nach dem Stifte greife.

Ausblicke

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Anmerkungen zur Neuausgabe1

6 (6): Titelbild] Die Fotografie zeigt das erste Kirchenbauprojekt Bartnings, die 1906 fertiggestellte Evangelische Friedenskirche in Peggau (nördlich von Graz, Österreich) im Neubauzustand. Im intensiven Austausch mit dem jungen Pfarrer Hermann Heisler entstand das bis heute erhaltene, aber durch Umbaumaßnahmen mehrmals innen wie außen deutlich veränderte Ensemble aus Kirche, Pfarrhaus und Gemeinderäumen für eine Gemeinde der österreichischen Los-von-Rom-Bewegung. Bildquelle: Originalfoto aus dem Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt. In der Originalausgabe von 1919 ist die Portalseite der Peggauer Kirche auch als Zeichnung auf dem Buchdeckel abgebildet.

Erlebnisse 7 (7): »Los-von-Rom-Bewegung« in Österreich] Im ausgehenden 19. Jahr­hundert einsetzende Konversionsbewegung vom Katholizismus zum Pro­ testantismus (teilweise auch zum Altkatholizismus), die nicht zuletzt auch durch deutschnationale Strömungen gegen das seit der Gegenreformation vorwiegend katholische Habsburgerreich begünstigt und von deutscher Seite durch den protestantischen Gustav-Adolf-Verein und den Evangelischen Bund unterstützt wurde. 7  (7): junger evangelischer Vikar] Die Rede ist von Hermann Heisler (1876–1962), einem aus Mannheim stammenden Theologen, den Bartning von der gemeinsamen Schulzeit in Karlsruhe her kannte und der sich seit 1903 in der Steiermark für die protestantische »Los-von-Rom-Bewegung« einsetzte. Bereits 1912 gab Heisler sein Diaspora-Pfarramt in der Steiermark auf und widmete sich in Tübingen 1 Alle Anmerkungen sind nach der Seitenzählung der vorliegenden Neuausgabe (sowie in Klammern und kursiv nach der Originalpaginierung der Erstausgabe von 1919) sortiert und beziehen sich auf das jeweils vor der eckigen Klammer angegebene Stichwort. Anmerkungen zur Neuausgabe

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verstärkt der Anthroposophie. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er zu einer zentralen Figur der an Rudolf Steiner orientierten Dreigliederungsbewegung und beteiligte sich 1922 maßgeblich an der Gründung der Christengemeinschaft, einer spirituellen Erneuerungsbewegung im Geiste der Anthroposophie, als deren Prediger und Vordenker er in den Folgejahren intensiv wirkte. Über das gemeinsame Bauprojekt mit Bartning in Peggau vgl. die kleine Schrift Heisler, Hermann: Wie baut man eine evangelische Kirche auf dem Lande?, München 1908. Nach der philosophischen Promotion 1917 folgten dann besonders im Jahr 1919 zahlreiche anthroposophisch-theologische Programmschriften, vgl. darunter insbes. Heisler, Hermann: Anthroposophie und Christentum. EinVersuch zurVerständigung, Konstanz/Leipzig 1919 und Ders.: Kirche und Religion im neuenVolksstaat, Konstanz/Leipzig 1919. 12 (15): Abb. 1] St. Jacobi Kirche in Berlin-Kreuzberg, ab 1844/1845 im Stil einer byzantinischen Basilika nach Plänen von Friedrich August Stüler (1800–1865) als Ensemble mit Arkadengängen und Gemeindegebäuden erbaut, 1945 zerstört und in den 1950er-Jahren mit völlig neuer Innenraumgestaltung wiedererrichtet. Reprografie aus der Buchvorlage, Original der Zeichnung unbekannt. 13 (16): Abb. 2] Fotografie der nach Plänen von Friedrich Weinbrenner 1816 fertiggestellten Evangelischen Stadtkirche in Karlsruhe, vermutlich vom gegenüberliegenden Rathausturm aus aufgenommen. Nach Kriegszerstörungen mit grundlegenden Innenraumveränderungen wiedererrichtet in den 1950er-Jahren. Reprografie aus der Buchvorlage, Fotograf und Originalvorlage unbekannt. 14 (17): Abb. 3] Fotografie der 1913 von Otto Bartning fertiggestellten und bis heute erhaltenen evangelischen Heilandskirche in Krems an der Donau. Bildvorlage: Originalfotografie aus dem Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt. Bildunterschrift: Mr. Will Potter No. 2167, Berlin W. 35 Steglitzerstr. 58I. 15 (18): Abb. 4] Modell einer Kirche mit Gemeindehaus für die 1906 gegründete evangelische Kirchengemeinde Rottenmann (Steiermark). Realisiert wurde nur das bis heute erhaltene Gemeindehaus. Bildvorlage: Originalfotografie aus dem Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt. Bildunterschrift: Mr. Will Potter No. 2165, Berlin W. 35, Steglitzerstr. 58I.

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Begriff des Sakralen 22 (27): Worringer] Wilhelm Worringer (1881–1965), bedeutender Kunsthistoriker, früh bekannt durch seine 1907 bei Arthur Weese in Bern verfasste und in den folgenden Jahrzehnten vielfach neu aufgelegte und überarbeitete Dissertation. Die bei Piper & Co. erschienene Erstausgabe trug den Titel: Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 1908. 23 (28): Willensgebärde] Vgl. das vielbeachtete und mehrfach neu aufgelegte Werk des Kunstkritikers Karl Scheffler (1869–1951): Der Geist der Gotik, Leipzig 1917. 24 (29): ­Vitruv] Marcus Vitruvius Pollio, römischer Baumeister und Architekturtheoretiker im 1. Jahrhundert v. Chr., hinterließ mit seinen Zehn Büchern über Architektur das erste umfassende Kompendium zu allen Bereichen der antiken Architektur. Vgl. insbes. die Ausgabe Vitruvii De architectura libri decem, hrsg. von Fritz Krohn, Leipzig 1912. 25 (30): Pannwitz] Rudolf Pannwitz (1881–1969), Philosoph und Schriftsteller, bekannt insbes. durch sein Werk Die Krisis der europäischen Kultur, Nürnberg 1917. Die hier zitierte Schrift Zur Formenkunde der Kirche erschien 1912 in Wittenberg.

Das Sakrale in der katholischen Kirche 34 (43): im Jahre 325 in Nicäa] Gemeint ist das von Kaiser Konstantin 325 n. Chr. einberufene, sog. Erste Ökumenische Konzil von Nicaea, aus dem das die Lehre des Arius ausschließende Nicaenische Glaubensbekenntnis hervorging.

Das radikale Bauprogramm der protestantischen Kirche 39  (50): Rede zu Einweihung der Schloßkirche in Torgau] Die nach Luthers Tod 1546 veröffentlichte Predigt über Lk 14,1–6 zur Einweyhung eines Newen Hauses zum Predigampt Göttlichs Worts erbawet hielt Luther 1544 in der Schlosskapelle des kurfürstlichen Schlosses zu Torgau, dem gemeinhin ersten protestantischen Kirchenneubau (vgl. Weimarer Ausgabe, Bd. 49, S. 588–614). 42 (55): 17. Flugblatt des Dürerbundes von R. Bürckner] Gemeint ist der Titel: Bürkner, Richard: Vom protestantischen Kirchenbau (Dürerbund Flugschrift Nr. 17), München 1906. Der Anmerkungen zur Neuausgabe

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Dürerbund war eine durch den Dichter Ferdinand Avenarius (1856– 1923) gegründete kulturpolitische Vereinigung, die von 1902–1935 bestand und neben der Zeitschrift Der Kunstwart ab 1905 auch eine Reihe von Flugschriften in hoher Auflage vertrieb. 42  (55): »Wiesbadener Programm«] Leitidee für ein neues Kirchenbauprogramm, das die stark an mittelalterlichen Stilformen orientierten Baugrundsätze des bisher gültigen Eisenacher Regulativs von 1861 überwinden sollte und seit 1890 durch den Wiesbadener Pfarrer Emil Veesenmeyer (1857–1944) entwickelt und in Kirchenzeitungen propagiert wurde. Die vor allem auf die gottesdienstliche Praxis und die Gemeindeversammlung gerichteten Programmideen wurden erstmals durch den Architekten Johannes Otzen in Wiesbaden (Ringkirche) umfassend umgesetzt und prägten fortan den evangelischen Kirchenbau bis zum Ersten Weltkrieg entscheidend. 43  (56): Bischof Amsdorf] Nikolaus von Amsdorf (1483–1565), Theologe der Reformation, erster lutherischer Bischof in Naumburg. 43 (57): Abb. 5] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. 43 (57): Abb. 6] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Es handelt sich um den Grundriss der von Bartning ab 1908 geplanten, 1911 eingeweihten und bis heute erhaltenen evangelischen Kurfürstenkirche in Leibnitz (Steiermark). Vgl. hierzu die Altarfotografie auf S. 70  (92). 44  (57): Abb. 7 und 8] Skizzen von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Zu Skizze  8 vgl. auch die Ergänzungen in den Abb. 8a–c auf S. 47  (62). 45  (58): Abb. 9 und 10] Skizzen von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. 45 (59): Curjel u. Moser in Karlsruhe] Der deutsche Architekt Robert Curjel (1859–1925) und der Schweizer Architekt Karl ­Coelestin Moser (1860–1936) bildeten von 1888 bis 1915 die Bürogemeinschaft Curjel & Moser in Karlsruhe und entwarfen einige vielbeachtete Kirchenneubauten in Deutschland und in der Schweiz. 45 (59): Abb. 11] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Die Skizze umreißt das deutlich am »Wiesbadener Programm« orientierte Schema der von Robert Curjel und Karl Moser im Kreuzgrundriss gebauten Kirchen. Vgl. hierzu insbes. die für den Schweizer Jugendstil bedeutende, 1902–1905 gebaute Berner Pauluskirche, ferner die 1898– 1901 gebaute neuromanische Pauluskirche in Basel und die 1896–1900 gebaute Christuskirche in Karlsruhe. 47  (62): Abb. 8a–c] Skizzen von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Vgl. hierzu auch Skizze 8 auf S. 43  (57). 49  (64): Abb. 11a und 11b] Skizzen von Otto Bart106 Anhang

ning, Reprografie aus der Buchvorlage. Die Grundrisse beziehen sich auf die 1905–1907 von Robert Curjel und Karl Moser gebaute Lutherkirche in Karlsruhe. Siehe hierzu die Anmerkung zu Abb. 11, S. 45 (59). 49 (65): Abb. 12a und 12b] Grundriss-Skizzen der bis heute erhaltenen, 1913 von Otto Bartning im Zuge der »Los-von-Rom-Bewegung« gebauten evangelische Heilandskirche in Krems an der Donau. Reprografie aus der Buchvorlage; vgl. hierzu auch die Originalfotografie in Abb. 3 auf S. 14  (17). 50  (65): Abb. 13] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Das mit einem sechzehneckigen Umgang mit Kreuzgratgewölbe umgebene karolingische Oktogon wurde nach byzantinischem Vorbild zwischen 795 und 803 als Palastkapelle der Kaiserpfalz in Aachen errichtet und bildet bis heute das Herzstück des Aachener Doms. 50 (65): Abb. 14] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Das spätantike Baptisterium von Nocera dei Pagani aus dem 6. Jahrhundert gehört heute zur Kirche S. Maria Maggiore in Nocera Superiore in der Provinz Salerno. 50 (66): Abb. 15] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Kreuz-Grundriss der evangelischen Gnadenkirche in Hirschberg, Schlesien (heute: Jelenia Góra, Polen), 1709–1718 von Martin Frantz im Rahmen der Altranstädter Konvention gebaut und bis heute im Originalzustand erhalten, 1957 zur römisch-katholischen Kreuzerhöhungskirche umgewidmet. 51  (67): Abb. 16] Fotografie des Innenraums der evangelischen Gnadenkirche in Hirschberg, Schlesien. Siehe hierzu den kreuzförmigen Grundriss (Abb. 15) auf der vorherigen Seite und die diesbezügliche Anmerkung. Fotograf unbekannt, Reprografie aus der Buchvorlage. 52  (68): Abb. 17] Innenansicht der 1816 fertiggestellten Evangelischen Stadtkirche Karlsruhe. Nach der Zerstörung von 1944 wurde der Innenraum ab 1953 durch den Architekten Horst Linde (1912–2016) in Sichtbeton völlig neu gestaltet. Fotograf und Originalvorlage sind unbekannt, Reprografie aus der Buchvorlage. Zur Außenansicht vgl. Abb. 2 auf S. 13  (16). 53  (69): Teatro Carlo Felice in Genua] Das von Carlo Barabino (1768–1835) entworfene Opernhaus im Zentrum von Genua wurde 1828 eröffnet und zählte lange zu den größten und bedeutendsten seiner Art. Nach fast vollständiger Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde 1991 an seiner Stelle ein bis auf die Außenfassade gänzlich neu konstruierter Bau von Aldo Rossi (1931–1997) eröffnet. 54 (71): Abb. 18 und 19] Skizzen antiker Theater und Arenen von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. 54  (71): Abb. 20] Skizze von Otto Anmerkungen zur Neuausgabe

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Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Das von Andrea Palladio entworfene Teatro Olimpico in Vicenza wurde 1585 als erster Theaterneubau römischen Stils seit dem Ende der Antike fertiggestellt. 55 (71 f.): Scala in Mailand, der Grand Opéra in Paris, dem Covent Garden in London] Gemeint sind das 1778 erbaute und nach Kriegsbeschädigungen teilweise neu errichtete Teatro alla Scala in Mailand, das heute nach seinem Erbauer Charles Garnier (1825–1898) benannte, nach seiner Eröffnung 1875 lange Zeit größte Theater der Welt Palais Garnier in Paris und das nach mehreren Bränden der Vorgängerbauten von 1732 und 1809 im Jahre 1858 im bis heute weitgehend erhaltenen Zustand errichtete Royal Opera House in Covent Garden, London. 55 (72): Abb. 21 und 22] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Die Königliche Oper Berlin wurde 1743 fertiggestellt und beherbergt heute, nach mehrfachen Umbauten und Zerstörungen, die Staatsoper Unter den Linden. Das 1888 als Neorenaissancebau fertiggestellte Lessingtheater in Berlin wurde 1945 bei einem Bombenangriff zerstört und nach dem Krieg abgetragen. 56 (73): Abb. 23 und 24] Skizzen von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. 57 (75): Abb. 25 und 26] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Die Evangelische Stadtkirche von Freudenstadt wurde vermutlich 1608 fertiggestellt. Die von Bartning 1908 entworfene Fächerkirche für die evangelische Gemeinde im Böhmischen Königgrätz (heute: Hradec Králové, Tschechien) wurde nie realisiert. 58 (76): Abb. 27 und 28] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Die klassizistische Reformierte Kirche in Lübeck wurde 1826 fertiggestellt. Die evangelische Kirche von Bentschen, damals Provinz Posen (heute: Zba˛szyn´, Polen), wurde 1904 als Kuppelbau mit zwei Flügeln fertiggestellt und nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissen. 61 (81): Abb. 29] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Die Kilianskirche in Heilbronn ist eine gotische Hallenkirche, deren romanische Wurzeln bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen; nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg vollständig wiedererrichtet.

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Das konservative Bauprogramm der protestantischen Kirche 66 (88): Abb. 30 und 30a] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. 67 (89): Abb. 31 und 31a] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. 68  (90): Abb. 34] Nach einem Entwurf von Karl Friedrich Schinkel für die 1831 fertiggestellte Friedrichswerdersche Kirche in Berlin, gezeichnet Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. 69 (91): Abb. 32] Die Originalfotografie aus dem Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt zeigt den Altarraum der 1910 von Bartning fertiggestellten Altlutherischen Kirche am Moltkeplatz in Essen, der nach Kriegszerstörungen und Umbaumaßnahmen heute in dieser Form nicht mehr erhalten ist. 70 (92): Abb. 33] Originalfotografie aus dem Otto-Bartning-Archiv, TU Darmstadt. Das Bild zeigt den Altar der 1911 eingeweihten und bis heute erhaltenen ev. Kurfürstenkirche von Otto Bartning in Leibnitz (Steiermark). Vgl. hierzu auch den Grundriss (Abb. 6) auf S. 43  (57). 71  (93): Abb. 35] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Ursprünglich als Klosterkirche der Franziskaner von Erfurt im 14. Jahrhundert erbaut, wurde die Barfüßerkirche im Zuge der Reformation zur evangelischen Gemeindekirche; 1944 durch einen Bombenangriff zerstört, seither Ruine mit restauriertem Chorraum. 72 (94): Abb. 36] Grundriss der ab 1408 anstelle einer romanischen Basilika als gotische Hallenkirche errichteten St.-Stephani-Kirche in Aschersleben, Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. 72 (95): Abb. 37] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Der im frühen 13. Jahrhundert an der Stelle vorromanischer und romanischer Vorgängerbauten nach französischem Vorbild begonnene und in zahlreichen Bauabschnitten realisierte gotische Dom St. Stephanus und St. Sixtus in Halberstadt wurde im späten 16. Jahrhundert evangelisch. Die starken Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg wurden weitgehend originalgetreu rekonstruiert. 73 (95): Abb. 38] Skizze von Otto Bartning, Reprografie aus der Buchvorlage. Der Dom St. Peter und Paul in Naumburg (Saale) stammt sowohl in seinen spätromanischen (Ostchor) wie in seinen frühgotischen (Westchor) Teilen weitgehend aus dem 13. Jahrhundert und wurde 1542 zur ersten Bischofskirche der Reformation.

Anmerkungen zur Neuausgabe

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Zeichen der Zeit 80  (104): Ich habe eine gute Tat getan.] Die zitierten Zeilen bilden die letzte Strophe des Gedichts Ich habe eine gute Tat getan von Franz Werfel (1890–1945), erstmals abgedruckt im für den österreichischen Expressionismus wichtigen Gedichtband Werfel, Franz: Der Weltfreund. Gedichte, Berlin 1911. 81  (106): Reinhard Goehring läßt in seinem Drama] Es handelt sich bei dem Zitat um eine Schlüsselstelle aus dem 1918 mit großem Erfolg uraufgeführten, aber auch umstrittenen Seekriegsdrama des expressionistischen Schriftstellers Reinhard Goering (1887–1936). Vgl. die Erstausgabe Goering, Reinhard: Seeschlacht.Tragödie, Berlin 1918. 84 (110): zum Beispiel den Weltpostverein] Der in Bern ansässige Weltpostverein (Universal Postal Union) wurde 1874 gegründet und regelt bis heute die internationale Zusammenarbeit der Postbehörden. 85 (112): Barbusses »Le Feu«] Der 1916 erstmals erschienene, im Stil eines Kriegstagebuchs gehaltene Weltkriegs-Roman von Henri Barbusse (1873–1935) war schon bald ein Welterfolg. Der Originaltitel der Erstausgabe lautet: Barbusse, Henri: Le Feu. journal d’une escouade, Paris 1916 (dt.: Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft, Zürich 1918). 88 (115): Begriffsbestimmungen Leopold Zieglers] Leopold Ziegler (1881–1958), freischaffender Philosoph und politischer Schriftsteller, bekannt besonders durch seine kultur- und religionsphilosophischen Werke wie Gestaltwandel der Götter, Berlin 1920, und das zweibändige Spätwerk Menschwerdung, Olten 1948. Der hier zitierte Titel lautet: Ziegler, Leopold: Volk, Staat und Persönlichkeit, Berlin 1917.

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Nachwort des Herausgebers

Welcher »Kirchbau wäre in einem neuen, freien und geistigen Sinne Sakralbau« zu nennen?1 Als Otto Bartning (1883–1959) kurz nach dem Ersten Weltkrieg die ebenso kühne wie tiefsinnige Frage nach dem Wesen des Sakralbaus in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte, war die gesellschaftliche und kulturelle Lage seiner Zeit in einem tiefen Wandel begriffen. Was der junge Architekt in seinem 1919 erschienenen Frühwerk Vom neuen Kirchbau schrieb, ist daher heute – 100 Jahre später – zweifellos auch vor dem Horizont jener Zeitumstände zu lesen, aus welchen heraus sich die Schrift in die Reihe der architekturtheoretischen Klassiker der Moderne einreiht. Jedoch erschöpft sich die Bedeutung des Werkes keineswegs allein in seiner historischen Bedeutung für den Neuaufbruch in der Kirchenarchitektur des frühen 20. Jahrhunderts. Was das Buch bis heute lesens- und bedenkenswert macht, sind nicht zuletzt auch die über historische und architekturtheoretische Aspekte hinausgreifenden Gedanken über die Wesensverbindung zwischen Sakralraum und Religion, denen Bartning sprachlich, methodisch und inhaltlich in ganz eigener und inspirierender Weise nachging.2 1 Vom neuen Kirchbau, S. 91 (120). Der Kurztitel verweist im Folgenden auf das Werk Bartning, Otto: Vom neuen Kirchbau, Berlin 1919. Die erste Seitenangabe bezieht sich auf die vorliegende Neuausgabe, die zweite in Klammern gesetzte Ziffer auf die jeweilige Stelle in der Erstausgabe von 1919. 2 Vgl. aus der Sekundärliteratur der letzten Jahre u. a. Grundmann, Friedhelm: Otto Bartning (1883−1959). Der Erneuerer des protestantischen Kirchenbaus, in: Kampmann, Jürgen (Hrsg.): Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte, Bd. 4: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Teilung Deutschlands, Frankfurt am Main 2011, S. 191–210; Röttger, Martin: Protestantischer Kirchenbau und säkulare Freiheit – Otto Bartning: »Vom neuen Kirchbau« 1919, in: Bockermann, Dirk/Friedrich, Norbert/Illian, Christian/Jähnichen, Traugott/Schatz, Susanne (Hrsg.): Freiheit gestalten. Zum Demokratieverständnis des deutschen Protestantismus. Kommentierte Quellentexte 1789–1989, Göttingen 1996, S. 214–222. Zum weiteren Zusammenhang vgl. insbes. Wagner-­Conzelmann, Sandra, »… sichtbare Form Nachwort des Herausgebers

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Kirchenbau als »zur Raumform drängende religiöse Idee« In einem Vortrag im Rahmen des 9. Evangelischen Kirchbautags in Berlin blickte Bartning 1957 nochmals auf die Gedanken in jenem »1919 verfaßten kleinen Buch« zurück, dem er damals »naiverweise den Titel ›Vom neuen Kirchbau‹« gegeben hatte.3 Die kritische Distanz gegenüber dem jugendlichen Eifer des Frühwerks hält den nunmehr übersiebzigjährigen und längst berühmten Architekten bei seinem Rückblick jedoch nicht davon ab, in der damals ausgerufenen Suche nach »dem Grund und der Grundform anbetender Versammlung und also sakraler Raumbildung« die letztlich bleibende und zeitlose Grundfrage nach dem Wesen des Kirchbaus überhaupt zu erblicken.4 Die Spur, auf die der junge Bartning vor und während dem Ersten Weltkrieg stieß, zielt auf die Annahme einer und Gestalt der Gemeinschaft« – Die Kirchenbauten von Otto Bartning, in: Kunst und Kirche 3/2017, S. 14–21; Durth, Werner/Pehnt, Wolfgang/Wagner-Conzel­ mann, Sandra (Hrsg.): Otto Bartning. Architekt einer sozialen Moderne, Darmstadt 2017; Wagner-Conzelmann, Sandra: »Alles Bauen muß von einem Zwecke aus begriffen werden, … so auch der Kirchenbau.« Die Aufgaben von Architektur nach Otto Bartning, in: Körner, Hans/Wiener, Jürgen (Hrsg.): Liturgie als Bauherr? Moderner Kirchenbau in Deutschland, Essen 2010, S. 183–190. 3 Bartning, Otto: Vom neuen Kirchenbau, in: Kunst und Kirche 21 (1958), S. 6–13, hier S. 7 [vgl. hierzu den gleichen Wortlaut im teilweise deutlich abweichenden Text Bartning, Otto: Vom neuen Kirchbau (1957), in: Ders.: Vom Raum der Kirche. Aus Schriften und Reden (= Baukunst des 20. Jahrhunderts, 2), hrsg. von Alfred Siemon zum 75. Geburtstag von Otto Bartning, Bramsche 1958, S. 107–118, hier S. 112 sowie den mit Änderungen versehenen Auszug Bartning, Otto: Vom neuen Kirchenbau, in: Giefer, Alois/Meyer, Franz Sales/Beinlich, Joachim (Hrsg.): Planen und Bauen im neuen Deutschland, Köln/Opladen 1960, S. 158 f.]. Das Thema des 9. Evangelischen Kirchbautags, der zeitgleich zur Interbau Berlin 1957 stattfand, lautete: »Der Kirchenbau in der Stadt der Zukunft«. 4 Vgl. Bartning, Otto: Vom neuen Kirchbau (1957, oben Anm. 3), S. 112 und in abweichender Formulierung den bereits zitierten Artikel Vom neuen Kirchenbau in Kunst und Kirche 21 (1958), S. 7. Bartning kam auch in zahlreichen kleineren Veröffentlichungen auf den Inhalt seiner frühen Programmschrift zurück. Genannt seien aus der bis heute nur lückenhaft aufgearbeiteten Bibliografie die Beiträge Bartning, Otto: Predigtkirche, Altarkirche, Feierkirche, in: Kunstwart und Kulturwart 32 (1919), S. 56–58; Bartning, Otto: Begriff des Sakralbaus (1919); in: Ders.: Vom Raum der Kirche (oben Anm. 3), S. 31–38 sowie die in den Zwanzigerjahren verfassten Beiträge Bartning, Otto: Religion und Kirchbau, in: Kunst und Künstler 21 (1923), S. 84–91; Bartning, Otto: Der evangelische Kultbau, in: Horn, Curt (Hrsg.): Kultus und Kunst. Beiträge zur Klärung des evangelischen Kultusproblems,

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genuin religiösen Wurzel der Baukunst in Verbindung mit dem Gedanken des »Sakralen« als einer selbstständigen und unableitbaren Kategorie sui generis. So schrieb Bartning 1919 im Rückgriff auf Wilhelm Worringers bahnbrechende Studie über Abstraktion und Einfühlung von 1908, man könne »die Baukunst als die greifbare Auseinandersetzung mit dem unendlichen ungreifbaren Raume ansehen, insofern sie ein Stück dieses Raumes nicht nur umschließt, sondern als ein in sich abgeschlossenes, harmonisch gefügtes Ganzes wahrnehmbar und begreifbar macht. Ihrem Wesen nach eine Auseinandersetzung mit dem Unendlichen ist sie in besonderem Sinne religiösen Ursprungs.«5 Dahinter steht der Gedanke, im Sakralraum keineswegs nur eine Behausung oder einen Ort für das Heilige, sondern vielmehr dessen elementares Ausdrucksmittel zu erblicken: »Der Bau umgreift nicht nur die Heiligkeit, den Geist der Stätte, sondern er stellt in seiner Wohlgestalt oder in seiner Willensgebärde den Geist der Stätte selbst dar, er ist die Erscheinung, die Form dieses Geistes.«6 Damit ließ Bartning die damals maßgeblichen protestantischen Kirchenbauprogramme hinter sich, durch welche einheitliche Stilvorgaben festgelegt oder der Sinn des Kirchbaus in erster Linie auf den praktischen Nutzen der Wortverkündigung und Gemeindeversammlung konzentriert werden sollte.7 Im ersten Kapitel »Erlebnisse« schildert Bartning eindrücklich, wie ihm seine programmatischen Ideen zum Verhältnis von Religion und Sakralraum dabei keineswegs aus rein theoretischen ÜberBerlin 1925, S. 47–54; Bartning, Otto: Vom evangelischen Kirchbau in der Fremde, in: Schubert, Ernst: Auslanddeutschtum und evangelische Kirche, München 1936, S. 134–142. 5 Vom neuen Kirchbau, S. 22 f. (27). 6 Ebd., S. 23 (28). 7 Maßgeblich waren besonders das sogenannte Eisenacher Regulativ von 1861 mit Fokus auf mittelalterlich-gotische Bauformen sowie das für Bartnings frühe Bauprojekte wichtige Wiesbadener Programm der 1890er Jahre. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Sandra Wagner-Conzelmann in diesem Band. Nachwort des Herausgebers

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legungen, sondern aus der Bauaufgabe selbst und aus der Erkenntnis einer spirituellen Problemlage in den Gemeinden erwuchsen. Die Erzählung vom Scheitern seines ersten Kirchenbauprojektes in der Steiermark ist letztlich eine Dokumentation über den Zweifel an der vorwiegend von Aspekten der Nützlichkeit für Predigt und Gemeindeleben geleiteten Kirchbaupraxis seiner Zeit.8 Im kritischen Blick auf seine eigenen frühen Bauprojekte macht sich beim jungen Bartning ein Krisenbewusstsein bemerkbar, das deutliche Parallelen zu Entwicklungen der protestantischen Theologie des frühen 20. Jahrhunderts aufweist. Immer deutlicher kommt auch hier in der Zeit um 1900 ein Unbehagen am bürgerlich-liberalen Christentum des 19. Jahrhunderts zum Durchbruch, dem man nun vorwarf, die dunklen und urtümlichen Tiefendimensionen der Religion voreilig in eine kulturoptimistische Alltagsethik der kaiserzeitlichen Gesellschaft transformiert zu haben.9 Führende Theologen wie Adolf von Harnack (1851– 1930) und Wilhelm Herrmann (1846–1922) traten zunehmend für ein Christentum jenseits der bürgerlichen Kirchenlehre und Dogmatik ein, dessen »Wesen« man nun in den zeitlosen Tiefen religiösen Erlebens und in individueller Innerlichkeit auszumachen hoffte.10 Fortschritte der historischen Forschung und modernen Wissenschaft führten bald darauf und zeitgleich mit Bartnings ersten Entwürfen zu fundamentalen Akzentverschiebungen in den theologischen Disziplinen, die vor allem Ernst ­Troeltsch (1865–1923) pointiert in den Blick zu nehmen und in seinen zeitdiagnostischen und religionsphilosophischen Werken zu verarbeiten verstand.11 Besonders die religionsgeschichtliche Forschung rückt das Christentum in den Rahmen jahrtausendealter Ausdrucksformen religiö  8 Vgl. hierzu ebenfalls den nachfolgenden Beitrag von Sandra Wagner-Conzelmann.   9 Zum weiteren Zusammenhang vgl. Pollak, Ernst: Der Baumeister Otto Bartning. Unser Lebensgefühl gestaltet sich in seinem Werk, Bonn 1926. 10 Vgl. die Schlüsselwerke Harnack, Adolf von: Das Wesen des Christentums (1899), hrsg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 22007 und Herrmann, Wilhelm: Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluß an Luther dargestellt, Halle 1886 (Tübingen 71921). 11 Vgl. aus dem umfassenden Werk u. a. die zeitdiagnostischen Schriften Troeltsch, Ernst: Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart 4 (1903), S. 385–398 und Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernenWelt (Historische Bibliothek 24), Mün-

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ser Intuition, deren Grundlagen und Wesensprinzipien man nun als zeitlosen Urgrund der Religion freizulegen und in neuen, der Gegenwart angemessenen Darstellungsformen anzueignen versuchte.12 Hinter dem zunehmend als schal und profan empfundenen Kirchenchristentum der Moderne vollzog sich damit etwas im liberalen Protestantismus jener Jahre, was man als Wiederentdeckung der Religion im Lichte ihrer unmittelbaren und zuweilen dunkel-dämonischen Ausdruckskraft bezeichnen könnte.13 Zu den bekanntesten Beispielen für diese Entwicklung gehört besonders auch das 1917 erschienene Buch über Das Heilige von Rudolf Otto (1869–1937), das sich in einigen Punkten geradezu als theologische Vorlage von Bartnings zwei Jahre später erschienener Programmschrift ausnimmt.14 Der zentrale Gedanke, die Geschichte des Kirchenbaus vor dem Horizont des »Sakralen« in den Blick zu nehmen, trifft das Herzstück von Ottos Religions- und Frömmigkeitstheorie, die mit Begriffen wie dem »Numinosen« und dem »mysterium tremendum et fascinans« schnell weltberühmt wurde. Ottos weitreichende Neubestimmung der Bedeutung mystischer und intuitiver Momente der heiligen »Scheu«, des Dunklen, Dämonischen und Prophetischen für die Idee des Heiligen bzw. Sakralen in der Wesensstruktur des christlichen Glaubens fand in Bartnings Sakralraum-Programm gewissermaßen ein architekturtheoretisches Pendant.15

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chen/Berlin 1911 (in kritischer Edition in: KGA 8, S. 183–317) sowie ferner die das große Hauptwerk Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen bildenden Studien (= Troelsch, Ernst: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Tübingen 1912). Vgl. hierzu insbes. die wegweisende Studie Troeltsch, Ernst: Christentum und Religionsgeschichte (1897), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 1913, S. 328–363 vor dem Hintergrund und im Rahmen der Religionsgeschichtlichen Schule in Göttingen. Vgl. hierzu und insbes. zum Begriff des »Dämonsichen« den Programmaufsatz Duhm, Bernhard: Das Geheimnis in der Religion (1896), Tübingen 21927 sowie im weiteren Kontext Troeltsch, Ernst: Zur theologischen Lage, in: ChW 12 (1898), S. 627–631 und 650–657. Zum Hintergrund vgl. den Band Danz Christian/ Schüssler, Werner (Hrsg.): Das Dämonische. Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs (Tillich Research 15), Berlin/Boston 2018. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917 (Auflage letzter Hand: München 23–251936). Auch Otto hat sich später intensiv mit Erneuerungsimpulsen zu Liturgie und Sakralraum beschäftigt, vgl. hierzu nur Otto, Rudolf: Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes, Gießen 1925. Nachwort des Herausgebers

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Wie für Bartning markierte dann das Ende des Ersten Weltkriegs auch für die protestantische Theologie einen Wendepunkt.16 Im Erscheinungsjahr des Büchleins Über neuen Kirchbau traten auch die aufsehenerregenden Programmschriften und Neuansätze der Theologie der Zwanzigerjahre an die Öffentlichkeit und boten für Bartnings Wende zum Verständnis des Kirchenraums als Sakralraum ein äußerst spannungsreiches Wirkungsumfeld: Während mit dem Schweizer Theologen Karl Barth (1886– 1968) und der Dialektischen Theologie eine mächtige Bewegung auftrat, die mit ihrer »Theologie des Wortes Gottes« die grundsätzliche Krisenkonfiguration zwischen Christentum und Kultur in den Blick nahm und alles Religiöse, Mystische und Sakrale vom Offenbarungsbegriff fernzuhalten versuchte,17 beschritt das ebenfalls 1919 entwickelte Programm einer »Theologie der Kultur«18 von Paul Tillich (1886–1965) mit seiner Affinität zum Expressionismus und zu Begriffen wie »Sinn«, »Symbol« und dem »Unbedingten« einen Weg, der Bartnings zeitgleichen Überlegungen ebenso nahe stand wie die im gleichen Jahr erschienene, aufsehenerregende religionspsychologisch-religionsgeschichtliche Studie über Das Gebet von Friedrich Heiler (1892–1967).19 Letztlich war es demnach eine grundlegend neue Haltung im Zusammenspiel von Architektur und Theologie, um die Bartning in seinem Frühwerk rang und die das Problem religiöser Darstellung und Innerlichkeit unmittelbar in den Gestaltungs- und Bauprozess einzubeziehen 16 Vgl. hierzu den bemerkenswerten, namhafte Vertreter der protestantischen Theologie zur Frage nach der Zukunft von Kirche und Christentum nach dem Ersten Weltkrieg versammelnden Band Thimme, Friedrich/Rolffs, Ernst (Hrsg.): Revolution und Kirche. Zur Neuordnung des Kirchenwesens im deutschen Volksstaat, Berlin 1919. 17 Vgl. besonders die den Autor schlagartig berühmt machende Römerbriefauslegung Barth, Karl: Der Römerbrief, Bern 1919 (zweite, umgearbeitete Fassung München 1922) sowie den Programmvortrag Barth, Karl: Der Christ in der Gesellschaft. Eine Tambacher Rede, Würzburg 1920. 18 Vgl. bes. den Programmaufsatz Tillich, Paul: Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919), in: Ausgewählte Werke, hrsg. von Christian Danz und Werner Schüssler, Berlin/New York 2008, S. 25–41 (= Gesammelte Werke IX, S. 13–31). 19 Heiler, Friedrich: Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München 1919. Auf dem Gebiet der Kunst wäre außerdem das ebenfalls 1919 erschienene Buch von Bartnings Freund und Gesinnungsgenossen Gustav Friedrich Hartlaub (1884–1963) zu nennen: Hartlaub, Gustav Friedrich: Kunst und Religion. Ein Versuch über die Möglichkeit neuer religiöser Kunst, Leipzig 1919.

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versuchte.20 Einen Sakralraum schaffen heißt bei Bartning nun, das religiöse Geschehen selbst und die sich in ihm verwirklichende Gemeinschaft als Ereignis in den Fokus der Bauaufgabe zu nehmen und in den »Zeichen der Zeit« zu spiegeln.21 Das eigentliche »Sakrale« ist damit nichts, was im Ort, in Gegenständen oder dogmatisch aufgeladenen Symbolen gefasst werden könnte, sondern es kommt allein im religiösen Vollzugsgeschehen, in der »sichtbaren Gemeinschaft […] und ihrer stärkenden Wirklichkeit« zur Entfaltung.22 Echter Sakralraum im eigentlichen Sinne ist ein Kirchenbau demnach nur dann, wenn sich »zur Raumform drängende religiöse Idee« in ihm »freiwillig an den Ort« bindet, sodass dadurch »zu jeder Stunde, jedem Auge sichtbar, jedem Herzen fühlbar und heilsam, sakraler Ort würde.«23 Im Begriff der »Spannung« schwebte Bartning dabei etwas vor, was an Paul Tillichs Vision des »protestantischen Prinzips«24 erinnert: eine letztlich ebenso produktive wie unabgeschlossene Problematisierung religiöser Darstellungsprozesse, die in das Zentrum protestantischer Frömmig20 Es handelt sich damit, wie eine Rezension von 1919 festhält, um nicht weniger als um eine »neue Kirchbautheorie« in Verbindung mit »einem förmlichen Bruch mit der ganzen Vergangenheit des protestantischen Kirchenbaues einschließlich des von B. selbst bisher Geschaffenen«, so in Stuhlfauth, Georg: Rez. zu Bartning, Otto: Vom neuen Kirchbau (1919), in: Theologische Literaturzeitung 46 (1921), S. 66–68, hier S. 66. 21 Vgl. hierzu insbes. das gleichnamige Kapitel in Bartnings Kirchbaubuch von 1919 und die treffende Bemerkung in Stuhlfauth: Rez. zu Bartning, Otto (oben, Anm. 20), S. 67, der zufolge Bartnings Vision des neuen Kirchbaus ein »Programm« verkörpert, »das über das Gestern und Heute vorwärtsweist in eine neue, aber sichtlich bereits im Werden begriffene Zukunft.« 22 Vom neuen Kirchbau, S. 90 (119). Vgl. hierzu die vielzitierte Bemerkung aus Bartnings Ansprache zur Einweihung der »Stahlkirche« am 31. Mai 1928: »Der Kirchenbau soll sich auf seine uralte Aufgabe besinnen, die, in jedem Material und jeder Technik, so auch in der modernen Materialtechnik schlummernde Geistigkeit in den Dienst der Religion zu stellen, die Materie zur Form zu erlösen.« (Bartning, Otto: Vorwort, in: Girkon, Paul: Die Stahlkirche. Evangelischer Kultbau auf der Pressa Köln, Berlin 1928, S. 5–7, hier S. 6). 23 Vom neuen Kirchbau, S. 91 (120). 24 Vgl. u. a. Tillich, Paul: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip (1929), in: Gesammelte Werke VII, S. 29–53 mit dem zentralen Gedanken der Dialektik von »Rechtfertigung und Zweifel«. Zur »protestantischen Haltung« Bartnings vgl. u. a. Siemon, Alfred, Zum Geleit, in: Bartning: Vom Raum der Kirche (oben, Anm. 3), S. 7. Nachwort des Herausgebers

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keit rückt.25 Schon die ersten Rezensenten nahmen jenen Hang zum dynamisch-unabgeschlossenen Ringen um die Adäquatheit religiöser Darstellungsformen in Bartnings Kirchbaubuch deutlich wahr. Die am existentiellen Erlebnis orientierte Darstellung wurde als »in einer wirksamen Unmittelbarkeit geschrieben«26 wahrgenommen und ließ das Werk als geradezu »reines und frommes Bekenntnisbuch« erscheinen, das in seiner Wende zum Sakralen die Frage nach dem Wesen des Kirchbaus »ausgehend von einem besonderen persönlichen Erlebnis […] in Beziehung zu den großen Menschheitsfragen« setzt.27 Nicht wenige ahnten, dass das Buch damit weit mehr ist, als ein architekturtheoretisches Reformprogramm: Es ging Bartning um die sich an der Bauaufgabe in besonderer Weise entzündende Frage nach dem eigentlichen Wesen christlicher Frömmigkeit in der modernen Welt.28 Besonders die ausführliche Besprechung des Karlsruher Oberhofpredigers Ernst Fischer (1862–1940) hat jene theologische Idee reformatorischer »Geistigkeit und Innerlichkeit« in Bartnings Werk deutlich gesehen und betont die »protestantisch gesinnte und sehr freiheitlich denkende« Prägung des aus dem klassischen liberalen Bildungsprotestantismus des späten 19. Jahrhunderts stammenden Autors.29 Auch Fischer beobachtet eine neue »Sehnsucht nach dem Sakralbau«30 im unter der »Übermacht der Predigt« leidenden Protestantismus der Moderne, in dem der Kirchenraum »für die meisten kein wesentlicher Faktor ihres 25 Vgl. hierzu auch Schüz, Peter: Das Darstellungsproblem des Christentums und das explo­rative Wagnis des »freien Protestantismus« im Spiegel von Kunst und Kirchenbau – ein Versuch, in: Lauster, Jörg/Schmiedel, Ulrich/Schüz, Peter (Hrsg.): Liberal Theology Today – Liberale Theologie heute, Tübingen 2019, 169–183. 26 Vgl. die Rezension des katholischen Priesters und Kunsthistorikers Fritz Witte (1876–1937): Witte, Fritz: Rez. Vom neuen Kirchbau.Von Otto Bartning, in: Zeitschrift für christliche Kunst 32 (1919), S. 47 f. 27 Vgl. die Rezension Behrendt, Walter Curt: Vom neuen Kirchbau, in: Kunst und Künstler 17 (1919), S. 422 f. 28 Zur Einbettung dieser Grundidee und weltoffenen Haltung in Bartnings gesamtem Werk und Leben vgl. Wagner-Conzelmann, Sandra: Otto Bartning (1883–1959), in: Hänsel, Jessica u. a. (Hrsg.): Baumeister, Ingenieure, Gartenarchitekten. Historische Kommission zu Berlin, Berlin 2016, S. 319–341. 29 Vgl. die ausführliche Rezension Fischer, Ernst: Vom neuen Kirchbau, in: Protestantische Monatshefte 23 (1919), S. 119–129, hier S. 119 f. 30 Ebd., S. 126.

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religiösen Lebens« mehr sei.31 In Bartnings Programm der Wiedergewinnung des protestantischen Kirchenbaus als »sakrale[m] Ort im Geiste der Innerlichkeit«32 sieht Fischer damit nicht zuletzt auch einen theologischen Erneuerungsimpuls: In offensichtlicher Anlehnung an zeitgenössische Religionstheorien wie derjenigen Rudolf Ottos ist es auch bei Fischer das religiöse »Erlebnis«, das den neuen Brennpunkt des in die Krise geratenen Christentums markieren soll. Es geht ihm darum, das religiöse »Symbol« wieder in seiner eigentlichen, nämlich »mystischen Bedeutung« verstehen zu lernen.33 »Mystik und Symbol!«, so der emphatische Ausruf Fischers am Ende des Beitrags, bilden damit gewissermaßen die theologischen Schlüsselkategorien, in denen der Sakralraum nun »als ›Offenbarungsmittel‹« neben Wort und Sakrament verstanden werden soll.34 Auch wenn Fischers religionstheoretische Begründung dabei sicherlich unterkomplex ausfällt, macht er dennoch deutlich, dass Bartnings Entwurf nicht bloß als architektonische Innovation, sondern auch als religiöser Erneuerungsimpuls verstanden wurde, der in tiefer Verbindung zu den theologischen Debatten der Zeit steht: »Gott suchen auch in dem Sinnlichen und seinem unmittelbaren Eindruck, im Symbol ihn nicht verstandesmäßig erfassen durch dessen Deutung, sondern ihn im Gefühl erleben, ihn durch die Mystik in diesem Gefühl des Symbols haben und genießen!«35 Bartnings Versuche, jene ganzheitliche Innerlichkeitsdimension des Sakralbaus in Entwürfen umzusetzen, mündeten bald darauf in den berühmten Projekten der Zwanzigerjahre. Bereits 1924 hatten ihm seine frühen Schriften und sein Entwurf der »Sternkirche« eine bezeichnenderweise theologische Ehrendoktorwürde eingetragen.36 Bartnings Bauten und das 31 Ebd., S. 120 f. 32 Ebd., S. 127. 33 Ebd., S. 128. 34 Ebd., S. 129. 35 Ebd. 36 Zu den Projekten der Zwanzigerjahre, insbes. dem Sternkirchenmodell (1922) und der »Stahlkirche« (1928) vgl. den Aufsatz von Sandra Wagner-Conzelmann im vorliegenden Buch. Zur Königsberger Ernennung zum Dr. theol. h. c. (1924) vgl. den Bericht in: Zentralblatt der Bauverwaltung 44 (1924), S. 222: »Die Würde eines Nachwort des Herausgebers

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dahinter stehende Programm von 1919 sind dabei keine raumgewordenen theologischen Aussagen oder kirchlichen Konzepte, sondern Ausdrucksformen einer besonderen Haltung, die den Kirchenbau als Ermöglichungsraum für das Sakrale zu verstehen versucht. Das Ergebnis ist kein auf bestimmte Formen und Konzepte festlegbarer Stil, sondern eine unabgeschlossene und letztlich nie zur Ruhe kommende Suchbewegung nach dem, was Bartning das zu immer wieder neuen Formen und Räumen drängende »Geistige« in Gemeinschaft und Innerlichkeit nennt. So steht am Ende von Bartnings Vision des neuen Kirchbaus auch die Vision eines neuen, weltoffenen und freien Protestantismus der Moderne, der das religiöse Geheimnis als uralte und dennoch zeitlose Mitte des Christentums begreift.

Über diese Neuausgabe Die Erstausgabe von Bartnings Schrift Vom neuen Kirchbau erschien 1919 im Berliner Bruno CassirerVerlag. Gemessen an den technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten im Gründungsjahr der Weimarer Republik handelte es sich um ein durchaus hochwertiges, mit zahlreichen Fotografien und Skizzen ausgestattetes Buch.37 Warum das Werk dann in den Zwanzigerjahren trotz der bemerkenswerten Erfolge Bartnings als Architekt keine Neuauflage erlebte, liegt im Dunkeln. Spätestens in den Dreißigerjahren verunmöglichten dann nicht zuletzt die von den Nationalsozialisten erzwungene Auflösung des Verlags und die Emigration Bruno Cassirers (1872–1941) nach England eine neuerliche Drucklegung. Obwohl das Buch fortan über Jahrzehnte als vergriffen galt, fanden die darin entfalteten Gedanken auch über den Zweiten Weltkrieg und über Fachgrenzen hinaus ein breites Echo.38 Doktors der Theologie ehrenhalber hat die theologische Fakultät der Albertus-­ Universität in Königsberg i. Pr. dem Architekten Otto Bartning in Berlin verliehen, der in Wort und Tat neue Wege weist, Kirchen erstehen zu lassen.« 37 Die exzellente Bild und Druckqualität des damals für 5 Mark vertriebenen Bändchens konnte durch die seit 1877 bestehende und aus dem traditionsreichen Otto SpamerVerlag hervorgegangene Spamersche Buchdruckerei in Leipzig realisiert werden, die in erster Linie auf die hochwertige Herstellung technischer und aufwändig ­illustrierter Literatur spezialisiert war. 38 Als Beispiel für die disziplinenübergreifende Rezeption vgl. unter den zahlreichen Rezensionen aus unterschiedlichsten Bereichen erneut diejenigen des Berliner Kirchenhistorikers und Archäologen Georg Stuhlfauth: Stuhlfauth: Rez. zu Bart-

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In der 1958 zu Bartnings 75. Geburtstag von Alfred Siemon besorgten Schriftenauswahl39 wurden dann neben Vorträgen und Aufsätzen aus der Feder des Architekten erstmals auch Teile des Frühwerks von 1919 wieder abgedruckt.40 Bedauerlicherweise nahm der Herausgeber dabei jedoch stillschweigend gravierende Eingriffe vor, die seither die Rezeptionsgeschichte nicht unwesentlich beeinflusst haben. Neben zahlreichen Textabschnitten, Anmerkungen, Skizzen und Fotografien wurde in Siemons Wiederabdruck auch das gesamte letzte Kapitel »Ausblicke« kommentarlos gestrichen, hinzu kommt eine Vielzahl orthografischer und formaler Abweichungen gegenüber der Originalvorlage.41 Damit hat die ansonsten sicherlich verdienstvolle Siemon-Ausgabe, die erstmals eine größere Zahl von Bartnings Schriften zusammentrug, das Werk zwar wieder in Erinnerung gerufen, die ursprüngliche Gestalt des schwer zugänglichen Originals von 1919 dabei aber noch weiter aus dem Blickfeld geraten lassen und der Rezeptionsgeschichte von Bartnings früher Programmschrift einen eher fragwürdigen Dienst erwiesen. Demgegenüber kehrt die vorliegende Neuausgabe nun zum 100. Jubiläum ihres ersten Erscheinens zur ursprünglichen Gestalt zurück und gibt die orthografischen und sprachlichen Eigenheiten des Textes originalning, Otto (oben, Anm. 20), S. 66–68 und Stuhlfauth, Georg: Ein neuer Kirchbautyp, in: Theologische Blätter 8 (1923), S. 194–198. 39 Die Zusammenstellung erschien in zwei Bänden: Bartning, Otto: Spannweite. Aus Schriften und Reden ausgewählt und eingeleitet von Alfred Siemon (Baukunst des 20. Jahrhunderts. Quellen und Monografien, Forschungen und Berichte, Bd. I), Bramsche 1958 und Bartning, Otto: Vom Raum der Kirche. Aus Schriften und Reden ausgewählt und eingeleitet von Alfred Siemon (Baukunst des 20. Jahrhunderts. Quellen und Monografien, Forschungen und Berichte, Bd. II), Bramsche 1958. Zu bemängeln ist an der grundsätzlich verdienstvollen Unternehmung die konzeptionell undurchsichtige Textauswahl und die editorische Überarbeitung. Bibliografisch sind die Vorlagen teilweise kaum identifizierbar und wurden durch den Herausgeber ohne Kennzeichnung in erheblichem Maße gekürzt, erweitert oder umgearbeitet. Für die Bartning-Forschung der folgenden Jahrzehnte waren damit zwar einige schwer zugängliche Schriften Bartnings wieder lesbar, – jedoch um den Preis zahlreicher Ungereimtheiten in Inhalt, Zitation und Textgeschichte, die seither und bis in die Gegenwart in der Forschungsliteratur auftauchen. 40 Vgl. die irritierenderweise als Einzelschriften ausgewiesenen Kapitel in den Abschnitten 3–8 in: Bartning: Vom Raum der Kirche (oben, Anm. 39), S. 21–86. 41 Ob die Eingriffe und Änderungen womöglich mit Bartning abgesprochen und autorisiert waren, geht aus der Ausgabe nicht hervor und muss offen bleiben. Nachwort des Herausgebers

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getreu wieder. Die Seitenzählung der Erstausgabe wurde in Marginalien am Textrand und im Fließtext durch Trennstriche am Ort der ursprünglichen Seitenumbrüche vermerkt, sodass mit der Neuausgabe auch die Vorlage von 1919 zitiert werden kann. Hervorhebungen, die im Fraktur-­ Text des Originals gesper r t gedruckt wurden, gibt die Neuausgabe aus drucktechnischen Gründen kursiv wieder. Außerdem wurden zur besseren Orientierung im Text Kolumnentitel ergänzt. Das Hauptmotiv der Neuausgabe war es, das seit vielen Jahren vergriffene Buch in seiner ursprünglichen Gestalt und in aktueller Drucktype zunächst überhaupt wieder zugänglich zu machen. Da das private Handexemplar Bartnings nicht erhalten und von einer geplanten Neuauflage auf Initiative des Autors nichts bekannt ist, wurde auf einen umfassenden wissenschaftlichen Apparat und Kommentar zur Erschließung von Nachlass und Rezeptionsgeschichte verzichtet, um den handlichen Charme des Originals weitgehend zu bewahren. Lediglich einige inhaltliche und editorische Hintergrundinformationen zu den im Text genannten Namen, Werken, Gebäuden und Begriffen wurden, nach Seitenzahlen und Stichwort sortiert, im Anmerkungsteil am Ende des Buchs vermerkt und mögen gegebenenfalls die Lektüre etwas erleichtern.42 Den überwiegenden Teil der Anmerkungen bilden dabei die Nachweise und Erläuterungen zu den 9 Abbildungen und 30 Skizzen, die im Text nach Möglichkeit an originalgetreuer Stelle platziert wurden. Da die Vorlagen der für das Buch angefertigten Skizzen Bartnings nicht mehr im Original vorhanden sind, musste für den Wiederabdruck auf Reprografien aus der Buchvorlage zurückgegriffen werden. Von den abgedruckten Fotografien konnten hingegen dank der Hilfe von Frau Dr. Sandra Wagner-Conzelmann in Verbindung mit dem Otto-Bartning-Archiv der TU Darmstadt einige bis heute erhaltene Originale im Nachlass Bartnings ermittelt und für die Neuausgabe verwendet werden. Schließlich ist all jenen zu danken, die das Erscheinen der Neuausgabe maßgeblich unterstützt und damit überhaupt erst möglich gemacht haben. An erster Stelle sind mit großem Dank die Nachkommen und Erben Otto Bartnings zu nennen, die der Editionsinitiative mit großem Wohlwollen 42 Im Mittelpunkt stehen neben Erläuterungen besonders Hinweise auf die im Text und in den Abbildungen erwähnten Kirchen und Gebäude, von denen einige heute nicht mehr im von Bartning beschriebenen Zustand von 1919 erhalten sind.

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zugestimmt und die Erlaubnis zum Wiederabdruck des Textes erteilt haben. Die großzügige Finanzierung der Druckkosten wurde durch die Otto Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau e. V. (OBAK) in Berlin im Rahmen der Förderung durch die Thüringische Staatskanzlei anlässlich des Bauhausjubiläums 2019 für das Projekt „Kirche(n) und Bauhaus: Eine Spurensuche“ mit der Ev. Predigergemeinde zu Erfurt ermöglicht. Zu danken ist in diesem Zusammenhang dem OBAK-Vorstand und besonders Herrn Immo Wittig, der auch ein Geleitwort für die vorliegende Ausgabe verfasst hat. Ein ganz herzlicher Dank geht an Frau Dr. Sandra Wagner-Conzelmann, die nicht nur das nachstehende architekturhistorische Nachwort verfasst, sondern die Neuausgabe als wissenschaftliche Bartning-Expertin auch durch wertvolle Hinweise, Vermittlungen und Hilfestellungen unterstützt hat. Herr Dr. Meinrad von Engelberg stand als Leiter des Otto-Bartning-Archivs der Technischen Universität Darmstadt mit Rat und Tat zur Seite. Am EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in Marburg haben sich Herr Prof. Dr. Thomas Erne und besonders Frau Claudia Breinl beratend und unterstützend für die Neuausgabe eingesetzt. Die Erstellung des Manuskripts und die hierfür notwendigen Text- und Digitalisierungsarbeiten wären schließlich nicht ohne meine beiden Münchner Hilfskräfte, Frau stud. theol. Leonie Wingberg und Frau stud. theol. Elisabeth Woehlke, zu bewältigen gewesen – beiden danke ich ganz herzlich für ihr verlässliches und unermüdliches Engagement. München im Juli 2019 Peter Schüz

Nachwort des Herausgebers

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SandraWagner-Conzelmann

»Vom neuen Kirchbau« von Otto Bartning Architekturhistorische Überlegungen

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg befand sich Otto Bartning an einer entscheidenden Wegmarke seines jungen Architektenlebens. 1886 in eine liberale, protestantisch geprägte, bürgerliche Familie in Karlsruhe geboren, studierte er ab 1902 Architektur in Berlin und Karlsruhe. Kaum von seiner achtmonatigen Weltreise zurückgekehrt, errichtete er bereits ab 1905 Kirchen für evangelische Gemeinden – oft für Diasporagemeinden. Da er schon bald sehr erfolgreich war, brach er das Studium 1907 ab und widmete sich ganz der praktischen Berufsausübung. Innerhalb des Deutschen Reichs war er hauptsächlich für Landhäuser und Villen bekannt, die er seit 1909 vor allem in Düsseldorf, Köln und in Berlin gebaut hatte. Nicht zum Kriegsdienst einberufen, konnte Bartning beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Architekt tätig bleiben, jedoch aufgrund der Kriegsereignisse nur wenig bauen. Stattdessen begann er, seine Gedanken zum evangelischen Kirchenbau niederzuschreiben. Ein wichtiger Auslöser hierfür war eine Reise in die Steiermark nach Peggau, um dort die von ihm von 1905 bis 1906 errichtete Friedenskirche zu besuchen. Sie war seinerzeit viel gelobt worden und wurde zur Initialzündung für seine Karriere als Kirchenbauer. Gleichwohl erlebte Bartning den Besuch in Peggau als Enttäuschung. Fast erschüttert stellte er fest, dass dem Bau die »Stimmung« fehle, dass mit der Friedenskirche lediglich »ein ästhetisch wohlabgestimmter Nutzbau, ein Profanbau« entstanden sei.1 Dieser Gedanke wurde zum Ausgangspunkt für Bartnings Suche nach neuen Gestaltungsprinzipien für den Kirchenbau, welche schließlich 1919 in die Schrift Vom neuen Kirchbau mündete. Ein Leitmotiv dieser Schrift war dabei die Frage, wie ein evangelischer Kirchenbau wieder ein Sakralbau werden könne. Über die Beschäftigung mit einer Vielzahl zeitgenössischer und histori1 Vom neuen Kirchbau, S. 17 (21). Wagner-Conzelmann: »Vom neuen Kirchbau«

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scher Kirchenbauten gelangte Bartning dabei schließlich zu einer überraschenden Lösung für dieses Problem. Seine dabei entwickelten Ideen übten entscheidenden Einfluss auf den Kirchenbau in der Weimarer Republik und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Den Auftrag für die Peggauer Friedenskirche hatte Bartning 1905 eher zufällig erhalten. Als Student der Architektur an der TH in Berlin traf er in Karlsruhe seinen Schulfreund Hermann Heisler, der als Vikar der evangelischen Los-von-Rom-Gemeinde in Peggau vorstand. Diese jüngst gegründeten Los-von-Rom-Gemeinden waren meist deutschnational und theologisch liberal und wollten durch moderne, nach den neuesten protestantischen Reformen konzipierte Kirchenneubauten einen Kontrapunkt zu den katholisch geprägten und eher konservativ-traditionellen Gemeinden in Österreich setzen. Da der neu gegründeten Gemeinde in Peggau kein Gotteshaus zur Verfügung stand, planten der junge Architekt und der junge Vikar einen Kirchenneubau. Sie folgten dabei den Vorgaben des Wiesbadener Programms und den Postulaten der Dresdener Kirchenbautagung von 1906, deren Gestaltungsprinzipien zeitgenössisch weite Verbreitung fanden. Beide waren der Auffassung, dass der Peggauer Kirchenbau ein »Gemeindehaus höchsten Sinnes«2 werden sollte, er sollte den »Mittelpunkt der Gemeinde« bilden und ihr auch »Raum für Veranstaltungen, Unterricht, Bibliothek etc.«3 geben. So plante Bartning eine Kombination aus Kirchenbau mit Gemeinderaum und Pfarrhaus. 1919 fasste er die Intentionen des Peggauer Entwurfs wie folgt zusammen: »die Kirche als Predigthaus, den Saal als Heim der Gemeinde, das Pfarrhaus als Wohnung des ersten Dieners der Gemeinde und zugleich als Zuflucht aller, und all diese Nutzzwecke zusammengefasst zu einem Nutzbau, der nicht nur die Befriedigung dieser Zwecke, sondern ihre Erfüllung, ihre Erscheinung darstellte«.4 Für die Konzeption des Kirchenraums stand die von 1892–1894 errichtete Ringkirche in Wiesbaden von Johannes Otzen Pate, die als gebautes Manifest des Wiesbadener Programms galt, in Peggau freilich 2 Bartning, Otto: Kirchenbau auf dem Lande mit geringen Mitteln, 29.09.1907, handschriftlicher Text, S. 2, Otto Bartning-Archiv, TU Darmstadt. Heisler vertrat die Position, evangelische Kirchen seien »nicht Gotteshäuser, sondern Gemeindehäuser«. Heisler, Hermann: Wie baut man eine evangelische Kirche auf dem Lande?, München 1908, S. 16. 3 Ebd. 4 Vom neuen Kirchbau, S. 18 (22).

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auf die Größenverhältnisse und die finanziellen Möglichkeiten einer Dorfgemeinde übertragen. In dem hell belichteten Kirchenraum verzichtete Bartning auf einen Chor und stellte den Altar in den Gemeinderaum ein. Axial hinter ihm erhöht platzierte er die Kanzel, über der sich im ersten Geschoss eine Orgelempore befand. Schon bald nach Fertigstellung der Kirche verstärkten sich Bartnings Zweifel, dass der evangelische Kirchenbau als allein zweckmäßiger Bau die richtige »Behausung« für die Religionsausübung sein könne. Bereits 1909 vermutete er, dass »nicht für alle Zeiten dieses allein praktische Gemeindehaus unserem religiösen Bedürfnis zur Behausung dienen wird.«5 Jedoch war ihm noch nicht klar, wie sich der zukünftige Kirchenbau gestalten könne, welche räumliche Konstitution die Liturgiereform fordern würde: »Jetzt aber schon einen anderen Raum zu bauen, hieße ein Kleid schaffen für einen Körper, der nicht existiert – wie sollte man zu diesem Kleide ›Maß nehmen‹, ehe der Körper, das heißt in diesem Falle die zukünftige protestantische Christenheit, da ist?«6 Erst ab 1914 begannen sich bei Bartning nach und nach diese Gedanken zu klären. Ein wichtiger Ausgangspunkt in der Schrift Vom neuen Kirchbau war für Bartning der »Begriff des Sakralen«. Beim katholischen Kirchenbau sei eine kultische Stätte auf verschiedene Weisen (Heiligenerscheinungen, Begräbnisplatz etc.) örtlich gebunden, wodurch »die räumliche Umzirkung [sic!] und Gestaltung dieses Ortes zu einer sakralen Aufgabe«7 werde. Im evangelischen Kirchenbau seien solche sakralen Stätten jedoch nicht ohne weiteres vorhanden. Durch Luthers Reformen und die Betonung des Wortes sei »die eigentliche Religionsübung nicht mehr notwendig an einen heiligen Ort gebunden […], vielmehr in die Brust des einzelnen zurückverlegt«.8 Wenn nun trotz der fehlenden Ortsgebundenheit der Religionsausübung am Bau von Kirchen festgehalten würde, dann entstehe hier kein 5 Bartning, Otto: Zur Frage des evangelischen Kirchenbaus, in: Der Kunstwart 22 (1909), S. 241. 6 Ebd. 7 Vom neuen Kirchbau, S. 23 (29)., ähnlich S. 26 (33). 8 Ebd., S. 27 (34). Wagner-Conzelmann: »Vom neuen Kirchbau«

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Sakralbau im eigentlichen Sinne mehr, sondern nur noch ein »Kirchbau, den wir als scheinbar oder pseudosakral bezeichnen müssen«.9 An diesem Problem müsse der evangelische Kirchenbau ansetzen, um einen Kirchenraum zu vermeiden, der »nur praktisch bedingt, ideell aber zufällig und belanglos ist«10 – so wie Bartning es bei der Friedenskirche in Peggau, jedoch auch allgemeiner beim gegenwärtigen evangelischen Kirchenbau empfunden hatte. Als Voraussetzung für einen evangelischen Sakralbau sah Bartning die Feier der Gemeinschaft der Gläubigen an. Inmitten der Nationalitätstrunkenheit des Ersten Weltkrieges sprach er von »Anzeichen zu einem magischen Ringe, der über Nationen, Rassen und Konfessionen hinweg die arme Menschheit umfaßt zu einer Gemeinschaft der Schuldigen aneinander, der Hilfsbereiten, der Liebenden, der schuldig Unschuldigen in Gott.«11 In dieser Gemeinschaft sei ein neues Programm zu spüren. Der Einzelne könne in der Feier des Glaubens Gemeinschaft erfahren und in der Gemeinschaft aufgehen. Der Versammlungsort der Gläubigen sollte, so Bartning, der Kirchenbau sein, er sollte jedoch »nicht nur Gehäuse der Versammlung« sein, sondern »die sichtbare Form und Gestalt der Gemeinschaft.«12 Der Architektur wird hier die Funktion zugewiesen, zugleich die Gemeinschaft zu beherbergen und ihr Ausdruck zu verleihen. Wenn die Gemeinschaft konstituierendes Moment der Formfindung wäre, dann könne auch der evangelische Kirchenbau ein sakraler Ort werden, obwohl seine Glaubensausübung nicht ortsgebunden ist. Dieser Kirchenbau sei dann für den Einzelnen »nicht ein leeres Gehäuse, sondern eine stille Stätte der Selbstbesinnung und des Untergehens, des Trostes und der Stärkung des Guten in seiner Seele, kurz des Gebetes […]. Denn diese Kirche wird in jenem freigewählten, geistigen Sinne sakraler Ort sein.«13 Anhand dieser Überlegungen unternahm Bartning in Vom neuen Kirchbau eine umfassende Untersuchung einer Fülle von historischen und zeitgenössischen katholischen und evangelischen Kirchenbauten. Besondere Aufmerksamkeit widmete er der Anordnung von Kanzel und Altar, den  9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 86 (113). 12 Ebd., S. 90 (119). 13 Ebd., S. 98 (129).

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jeweiligen räumlichen Ausdruckswerten sowie den Grundrissformen, ohne jedoch zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Immer wieder stießen sich in Bartnings Analyse die »Raumspannung« und die »geistige Spannung« der Kirchenbauten, harmonierten die Raumform und die Orte der Liturgie nicht, verfehlten die Entwürfe das von Bartning gesetzte Ziel, die »architektonische« und die »liturgische Spannung« in einem »einhelligen Raum« zu vereinen.14 Ebenfalls wichtig war für ihn die Frage, wie die Anforderungen an eine Predigtkirche, also eine große Anzahl von Sitzplätzen mit einer guten Sicht- und Hörbeziehung zur Kanzel, mit den Erfordernissen einer Feierkirche in Einklang zu bringen seien, in der sich die Gläubigen für das Abendmahl um den Altar versammelten. Während im »radikalen« evangelischen Kirchenbau diese Spannung durch eine nahezu gleiche Bewertung von Altar und Kanzel gelöst werde, trete im »konservativen« Bauprogramm der »Widerstreit zwischen Kanzel und Altar« umso deutlicher hervor.15 Durch die Entscheidung, die »zwei religiös beinahe gleichwertigen und praktisch mindestens gleichstarken Richtpunkte, Kanzel und Altar, an zwei divergente Stellen« seines Gebäudes zu setzen, erzeuge das konservative Bauprogramm eine Tendenz zu »praktisch- wie ästhetisch-räumlichen Ungereimtheiten, Zwiespalten.«16 Zur Lösung dieses Problems diskutierte Bartning im abschließenden Kapitel »Ausblicke« zwei Möglichkeiten. Ein erster Weg schien ihm die Zusammenführung von Kanzel und Altar an einer Stelle des Raumes zu sein, beispielsweise durch den Kanzelaltar, wie er bereits seit dem 17. Jahrhundert vorwiegend in protestantischen Kirchenbauten und auch von ihm selbst in den Kirchen in Schenkenhahn (1909) und Krems (1912/1913) ausgeführt worden war. Eine zweite, wesentlich radikalere Lösung sah Bartning in der baulichen Trennung von Predigt- und Feierkirche. Für die Predigtkirche sei die Bauaufgabe »Seelsorge, Lehre und Predigt«.17 Sie sei eng mit der Person des Seelsorgers selbst verknüpft. Konsequenterweise sei das »Predigthaus« deshalb mit der Pfarrwohnung und dem Gemeindehaus zu verbinden, und zwar sowohl in bautechnischer als auch in baukünstlerischer Hinsicht. Auf der anderen Seite steht für Bartning die 14 15 16 17

Ebd., S. 48 (63). Ebd., S. 64 (85). Ebd., S. 65 (87). Ebd., S. 93 und 94 (122 und 124). Wagner-Conzelmann: »Vom neuen Kirchbau«

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architektonische Umsetzung »der Anbetung und des Sakraments«, also von Gesang, Schriftlesung, Gebet, Segen und Abendmahl in einer baulich getrennten »Feierkirche«. Sie erfülle das Bedürfnis der Gläubigen nach religiöser Feier, Hingabe und Anbetung. Durch die konsequente, nicht nur zeitliche, sondern auch bauliche Trennung von Predigtkirche und Feierkirche ergebe sich die Möglichkeit, einen neuen Typus zu schaffen. Am Ende des Buchs legte Bartning die Feder nieder, um »ungeduldig nach dem Stifte zu greifen«18 und diesen Ideen in Architektur Ausdruck zu verleihen. Das Buch Vom neuen Kirchbau fand 1919 rasch großen Anklang und wurde breit rezipiert. Es wurde ihm nachgesagt, dass es die Diskussionen über den evangelischen Kirchenbau, die »zu einem gewissen Stillstand […] oder gar auf den toten Punkt«19 gekommen seien, wieder neu beflügeln könne. Eine besondere Qualität wurde darin erkannt, dass sich das Buch des theologisch gebildeten Architekten als Aufruf sowohl an die Geistlichen als auch an die Architekten verstand und für diese »in hohem Masse anfassend und lehrreich«20 sei. Gleichzeitig wurde Bartnings Vorschlag der baulichen Trennung von Feier- und Predigtkirche mehrfach widersprochen. Die Kritik bezog sich auf den wesentlich größeren Bauaufwand und auf die Praktikabilität: »Soll z. B. an einem Fest die Gemeinde nach der Predigt zur Abendmahlsfeier in eine andere Kirche wandern?«21 und »wäre es nicht unnatürlich und peinlich, wenn an ein und demselben Feiertag die Gemeindemitglieder alle oder auch nur ein Teil derselben zuerst in dem einen und nachher in dem anderen sich versammeln müssten?«22, fragten Vertreter der Geistlichkeit. Bartning selbst entwickelte ab 1919 verschiedene Modelle und Zeichnungen, die sich mit der praktischen Umsetzung der von ihm formulierten Ideen beschäftigten. Am berühmtesten wurde das Modell der Sternkirche, das er als Gedankenkonstrukt und ohne Auftrag 1922 ausarbeitete. Hierbei handelte es sich um einen konsequenten Zentralbau mit Altar und Kanzel in der geometrischen Mitte eines siebeneckigen Grundrisses – 18 Ebd., S. 99 (130). 19 Kühner, Karl: Vom neuen Kirchbau, in: Christliches Kunst-Blatt für Kirche, Schule und Haus 61 (1919), S. 66–72. 20 Ebd. 21 Vgl. den Aufsatz des Oberhofpredigers Fischer, Ernst: Vom neuen Kirchbau, in: Protestantische Monatshefte 23 (1919), S. 119–129. 22 So der Waldkircher Pfarrer Kühner, Karl: Vom neuen Kirchbau, in: Christliches Kunst-Blatt für Kirche, Schule und Haus 61 (1919), S. 66–72.

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eine Konzeption, die bereits in Vom neuen Kirchbau angedacht23 und nun weiterentwickelt worden war. Der Innenraum war in eine Predigt- und eine Feierkirche unterteilt, wobei die Feierkirche zwei und die Predigtkirche fünf Segmente des Grundrisses einnahm. Auf diese Weise wurden beide Bereiche zwar räumlich getrennt, jedoch in einem Innenraum vereint. Denn auch Bartning hatte sich von der Idee der baulichen Trennung distanziert. Den Grundriss überspannte eine weite Kuppel, deren höchster Punkt sich über der Kanzel und dem Altar befand, so dass die architektonischen und liturgischen Spannungen konform gingen und sich gegenseitig steigerten. Hierdurch wurde die Sternkirche nach Bartnings Verständnis zu einem Sakralbau im reinen Sinne. 1923 definierte Bartning die Aufgabe des evangelischen Kirchenbaues darin, die Kirche »als sichtbare Gestalt der heiligen Gemeinschaft für einen Gottesdienst [zu bauen], in welchem Verstand und Gefühl, Predigt und Feier eine lebendige Einheit bilden.«24 Zwei Jahre später bezeichnete er es als zentrale Bauaufgabe des evangelischen Kirchenbaus, »das Gleichgewicht zwischen Predigt und Feier, Kanzeldienst und Altardienst, also das bauliche Gleichgewicht zwischen Kanzel und Altar und die völlige Einheit ihrer räumlichen Funktion mit dem architektonischen Raume«25 zu schaffen. 1928 schließlich formulierte Superintendent Paul Brathe auf dem 3. Evangelischen Kirchenbaukongress in Magdeburg acht Leitsätze für den evangelischen Kirchenbau, welche die Ergebnisse der Diskussionen aufnahmen: »Der evangelische Kultraum ist nicht schlechthin ›Predigtkirche‹, sondern Stätte einer Selbstkundgebung Gottes und des Verkehrs mit ihm und daher als Ganzes sakraler Raum und einheitlich als solcher zu gestalten.«26 23 Vom neuen Kirchbau, S. 73 (97). 24 Bartning, Otto: Religion und Kirchbau, in: Kunst und Künstler 21 (1923), S. 84–91, hier S. 87. 25 Bartning, Otto: Der evangelische Kultbau, in: Horn, Curt (Hrsg.): Kultus und Kunst. Beiträge zur Klärung des evangelischen Kultusproblems, Berlin 1925, S. 47–54, hier S. 51. 26 Brathe, Paul: DasWesen des evangelischen Gottesdienstes und die sich daraus ergebenden Grundforderungen für den ev. Kultraum, in: Neuzeitlicher Kirchenbau. Die Verhandlungen des III. Kongresses für evangelischen Kirchenbau. Magdeburg, den 2.–4. Mai 1928, Halle 1928, S. 43 f. Wagner-Conzelmann: »Vom neuen Kirchbau«

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Bartning suchte auch weiterhin raumhafte Lösungen für diese Zusammenhänge. Die 1927 entworfene und 1928 auf der Pressa-Ausstellung in Köln gebaute Stahlkirche entwickelte er auf einem parabelförmigen Grundriss, in deren Scheitelbereich er die Kanzel axial vor den Altar aufstellte, so dass sich nun Predigtkirche und Feierkirche überlagerten. Konstituierendes Moment der Planung war auch hier die Einbindung der Gemeinde in die Feier des Gottesdienstes und die Feier der Gemeinschaft. Vom Standpunkt des Geistlichen aus breite sich der Raum »gleich den ausgebreiteten Armen eines Liturgen« strahlenförmig aus, und »diese Form, diese Bewegung des Raumes will eine handelnd sich verbindende, zum Sakrament sich sammelnde und erhöhende Gottesdienst-Gemeinschaft herstellen und darstellen«27, erläuterte Bartning in der Einweihungsrede des Kirchenbaus. Die Fragen des Verhältnisses von Kanzel und Altar und die Übereinstimmung der liturgischen und architektonischen Spannungen im Kirchenbau blieben bestimmende Themen in Bartnings baulichem Werk wie auch im zeitgenössischen Kirchenbau insgesamt. Seine Programmatik diffundierte in die Diskussionen und war nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein akzeptiert. So wurden in den 1946 eingerichteten evangelischen Kirchenbautagen Referate über die Geschichte des evangelischen Kirchenbaus gehalten, häufig mit dem Ziel, die bereits vor dem Krieg erarbeiteten Leitlinien als Ausgangspunkt für die zeitgenössischen Diskussionen herauszustellen. In diesen Rückblicken wurden in der Regel die Kernthesen von Bartnings Schrift Vom neuen Kirchbau und seine Kirchenbauten der 1920er-Jahre als epochale Leistungen herausgehoben und als Grundlage für den zeitgenössischen Kirchenbau bezeichnet. Ab 1950 setzte nach der Währungsreform und der Konsolidierung der politischen und wirtschaftlichen Lage auch im Kirchenbau ein Bauboom ein. Um den Architekten Hilfestellung bei der Entwurfsarbeit zu leisten, fassten die Teilnehmer des Arbeitsausschusses der Kirchenbautage die Erkenntnisse der ersten vier Kirchbautage zusammen und formulierten die »Grundsätze für die Gestaltung des gottesdienstlichen Raumes der evangelischen Kirchen«, die sogenannten Rummelsberger Grundsätze, die auf Bartnings Thesen aufbauten. 27 Bartning, Otto: Vorwort [Ansprache des Architekten D. Otto Bartning bei der Einweihung der Kirche in Köln am 31. Mai 1928], in: Girkon, Paul: Die Stahlkirche. Evangelischer Kultbau auf der Pressa Köln, Berlin 1928, S. 5.

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Geleitwort der Otto Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau (OBAK) 100 Jahre Vom neuen Kirchbau, 100 Jahre Bauhaus-Gründung

Die Bauhaus-Gründung durch Walter Gropius 1919 in Weimar steht in der öffentlichen Wahrnehmung wie kaum ein Datum sonst für die Kultur der Moderne und ist zum diesjährigen Bauhausjubiläum in zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen wieder allenthalben präsent. Im gleichen Jahr veröffentlichte Otto Bartning damals Vom neuen Kirchbau, was zu einer Gründungsschrift für modernen protestantischen Sakralbau wurde. Gestalt bekamen seine Überlegungen sodann im Modell der Sternkirche, wofür die Albertus-Universität Königsberg ihm 1924 den Ehrendoktor der Theologie verlieh. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde als existenzielle Katastrophe erlebt. In Kultur, Politik, Kunst und Gesellschaft agierten mehr oder weniger radikale Gruppierungen und Einzelpersonen aus dem Bewusstsein heraus, angesichts einer untergegangenen Epoche vor einem absoluten Neuanfang zu stehen. Die Deutsche Evangelische Kirche blieb teilweise dem obrigkeitsstaatlichen Denken verhaftet und trauerte vielfach dem Bündnis von Thron und Altar hinterher. Otto Bartning kritisierte sie mit deutlichen Worten – und übertrug aus dem Geiste des Expressionismus geborene Utopien einer neuen Menschheitsgemeinschaft auf ein erneuertes evangelisches Kirchenverständnis – Vision einer Gemeinschaft »freiwilliger Hingabe des Ich« zu einer »Religion der Menschenliebe und der Gottesliebe«. Eben das ergibt einen Schlüssel zu seiner Architektur und darf wie damalige Neuaufbrüche in der Theologie als originärer Ansatz betrachtet werden, das Daseinsgefühl vieler Menschen als »zwischen den Zeiten lebend« zu erreichen. Vielfach wurde die vergangene Epoche im Bild eines ruinös gefallenen Gebäudes beschrieben. Zerstörte Mauern vermögen nichts mehr zu bergen; sie sind sinnlos geworden. Der Gedanke lag nahe, das Denken in neuen Bahnen mit Vokabeln aus der Welt der Architektur Geleitwort der OBAK

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zu versuchen, pars pro toto stand diese als Sinnbild allen menschlichen Strebens. Otto Bartning ging noch einen Schritt weiter, indem er sein Konzept des Neu-Baus nicht nur als das eines kreativen, sondern auch eines sozialen und sinnstiftenden Prozesses entwickelte, den Um-Raum des Menschen in einer gewandelten Gestalt unter den neuen Bedingungen der Zeit zu begreifen. Otto Bartning war in dieser aufgeregten Zeit einer von jenen, die Kirche und Moderne nicht als Gegensatz, sondern als Schnittstelle sahen – gerade auch vor diesem Hintergrund gilt es, Vom neuen Kirchbau neu zu entdecken. Im Regelfall spiegelt sich in der Architekturgeschichte der Moderne die Entfremdung von Kirche und moderner Gesellschaft auf beiden Seiten wider: Innerhalb der Kirche hatte es die »sakrale Moderne« nie leicht, und in der modernen Architektur war sie eher Randthema. »Bauhäusler« haben zwischen 1919 und 1933 keine einzige Kirche errichtet. Die »sakrale Moderne« mit Protagonisten wie Otto Bartning, Dominikus Böhm und Rudolf Schwarz hatte ihren eigenen Weg (und letzterer exponierte sich sogar als dezidierter Bauhauskritiker: »Das Schlimme am Bauhaus war überhaupt nicht sein Versagen im Technischen, sondern seine unerträgliche Phraseologie«). Bauhaus wurde Mythos seiner selbst, in Architektur und Kunst vielfach geradezu Synonym für die Moderne schlechthin. Otto Bartning war nicht »Bauhausarchitekt«, wie mitunter zu lesen ist. Freilich aber wesentlicher, manche sagen der eigentliche Ideengeber zur Bauhausprogrammatik, und der »Alleingang« von Gropius bei der Gründung des Bauhaus hat ihn menschlich tief getroffen, ihm einen »echten Schmerz« bereitet. Als Gropius das Staatliche Bauhaus in Weimar aufgeben musste und in Dessau unter kommunaler Trägerschaft weiterführte, kam Bartning doch noch zum Zuge: Er konnte 1926 in Weimar als Nachfolgeeinrichtung die Staatliche Hochschule für Handwerk und Baukunst (kurz: Bauhochschule) etablieren. Julius Posener, der Architekturkritiker, hat sie das »andere Bauhaus« genannt. Im Unterschied zum in der Weimarer Zeit hauptsächlich auf Kunstgewerbe ausgerichteten Bauhaus – ohne Architektur-Fachbereich – wurde hier von Anfang an tatsächlich gebaut. Es gab eine Bauabteilung mit systematischer Architektenausbildung inklusive dem praxisbezogenen »aktiven Bauatelier« (in dem Studierende an konkreten Bauaufgaben mitwirkten), womit Bartning den Kern der Bauhausidee ein Jahr früher umgesetzt hat als Gropius. In die kurze Zeit des Bestehens der Bauhochschule (1926 bis zur Auflösung 134 Anhang

1930 durch den nationalsozialistischen Volksbildungsminister Thüringens) fallen Bartnings Gründungsbauten der Sakral-Moderne wie die Christuskirche in Brandenburg/Havel und die 1928 für das Kölner Messegelände konzipierte »Stahlkirche«. Auch Ausstattungsstücke stammten damals aus den Werkstätten der Bauhochschule. Die Rezeption und Wirkungsgeschichte der frühen Sakral-Moderne in Bezug auf ihre substanziell eigenständige Bedeutung und im Kontext von Religion, Kirche und gesellschaftlicher Moderne aufzuhellen, widmet sich zum Bauhausjubiläum 2019 das Projekt Kirche(n) und Bauhaus: Eine Spurensuche von OBAK und Ev. Predigergemeinde zu Erfurt. Das Anliegen ist, den (im evangelischen Kirchenbau vornehmlich durch Otto Bartning gezogenen) roten Faden von Religion zur Moderne mit ihren Errungenschaften (und nicht erfüllten Hoffnungen) in Hinblick auf Demokratie, Partizipation und Emanzipation im Bewusstsein zu halten und Sakralbauten unter eben dieser Perspektive als Erinnerungsorte zu thematisieren – für den Diskurs um Identität in der Gesellschaft von heute, als kulturelles Kapital, nicht etwa zwecks Musealisierung. Für die Praxis des Umgangs mit Sakralarchitektur ist aus aktuellen Anlässen in einer Zeit von Kirchenabrissen und Umgestaltungen hier unbedingt hervorzuheben, dass Bartning Kirchenbau stets als – symbolbehaftete  – Sinngebung verstanden hat, identitätsstiftend und in der Tradition verankert. Über ein liturgisch-funktionales Verständnis von Kirchenbau, wie in dem einige Jahre zuvor formulierten »Wiesbadener Programm« (Emil Veesenmeyer 1891) oder bei Clemens Gurlitt 1906 (»Liturgie als Bauherrin«), ging Bartning hinaus. »Form« leitet er letztlich ab als »sichtbare Erscheinung des Inhaltes«, Sakralarchitektur wird demnach »sichtbare Form und Gestalt der Gemeinschaft« – aber mehr noch, und das kann uns in der Diskussion über die Rolle der Kirche im 21. Jahrhundert Orientierung geben: Mit der Funktion, gleichsam der Form folgend, jene »Gemeinschaft der Menschen, die wir ahnen« antizipieren. In diesem Sinne und mit einem solchen Ziel vor Augen wünschen wir allen eine inspirierende Lektüre der 100 Jahre jungen Schrift Vom neuen Kirchbau, deren Neuedition einen wichtigen Beitrag für die Wiederentdeckung Bartnings für die Gegenwart leistet. Immo Wittig

Geleitwort der OBAK

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