Phänomenologie und Erfahrungswissenschaft vom Menschen: Grundgedanken zu einem neuen Ideal der Wissenschaftlichkeit 9783110832334, 9783110032420

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Phänomenologie und Erfahrungswissenschaft vom Menschen: Grundgedanken zu einem neuen Ideal der Wissenschaftlichkeit
 9783110832334, 9783110032420

Table of contents :
Erste Untersuchung. Auf der Suche nach einem dritten Weg
I. Einführung in die Problemstellung
Was ist empirische Menschenkunde?
„Geisteswissenschaften“ oder „Wissenschaften vom Menschen“?
Menschenkunde und Naturkunde
Das anthropologische Dilemma
Die Aporie der Freiheit
Die Zwecksetzung als Aporie
II. Objektivismus als „Erster Weg“
Techniker und Theoretiker
Der „wissenschaftliche Apparat“
Eingeklammerte Freiheit
Suspendierte Zwecksetzungen
Die objektivistische Reduktion
Was ist „Objektivität“?
Das Prinzip der Verifizierbarkeit
Das reduzierte Universum der Wissenschaften
III. Kritik des Objektivismus
Die Einheit der Wissenschaften als philosophisches Problem
Die Sprache – kein neutrales System von Zeichen
Keine Tyrannei der Methode
Zweideutigkeit der „behavioristics“
IV. Der „Zweite Weg“: Der Absolutismus der Freiheit
Warum ein „zweiter Weg“?
Sartres Begriff des Bewußtseins
Selbstanwesenheit, keine Selbsterkenntnis
Polarität
Negativität
‘Nichtheiten’
Freiheit
Sartres Idee einer existenziellen Psychoanalyse
‘Verstehen’ als Erfassen des transzendenten Zieles
Postulate der existenzialistischen Menschenkunde
Der existenzielle Entwurf
Existenzialistische und psychoanalytische Menschenkunde
Existenzialistische contra psychoanalytische Menschenkunde
V. Der „Absolutismus der Freiheit“ im Lichte der Kritik
Zweierlei Kritik
Was ist eine Situation?
Was ist ‘vorontologisches Verständnis’?
Das unmenschliche Bewußtsein
Abschließende Betrachtung
VI. Erste Orientierung
Die zerbrochene Welt der Philosophen
Stereotype Polemik
Diskussion ohne Denkanstrengung
Typische Zweideutigkeiten
Vorläufige Unterscheidungen
Programmatische Grundgedanken
Auf dem Weg zu einer phänomenologischen Philosophie
Zweite Untersuchung Wesen und Gestaltwandel der Objektivität
A. Objektivität der Lebenswelt
I. DieLebenswelt als Fundament des wissenschaftlichen Denkens
Husserls „Lebenswelt“
Eine subjektivistische Interpretation
Jeansons Verurteilung der Objektivität
Der Subjektivismus als Skeptizismus
Objektivismus und Objektivität
Jenseits von Scientismus und Antiscientismus
Doppelsinn der „Lebenswelt“
„Außerwissenschaftliche Welt“ oder „außerwissenschaftliches Niveau“?
Problematik der „Eigenheitssphäre“
„Wahrnehmen“ und „wahrnehmen als“
II. Objektivierung und Objektivität
Das Entstehen des Ding-Objektes
Drei objektivierende Leistungen
Skepsis hinsichtlich der Sprache
Die Bedeutung der Objektivierung
Enthüllende Erfahrung, entschleiernder Dialog
Angewiesen-sein
Grundbegriff der Objektivität
Objektivierende Praxis
III. Die Lebenswelt als primitive Welt
Die Objektivität des primitiven Menschen
Natur – nicht die Gesamtheit der „Objekte“
Einheit von Kultur und Natur
Kosmische und gesellschaftliche Ordnung
Das mythische Weltbild
Mythische Zeit
Coincidentia oppositorum
B. Universelle Objektivität
I. Die wissenschaftliche Aufklärung
Auflösung der Lebenswelten
Historie gegen Prähistorie
Der Prozeß der Universalisierung
Die wissenschaftliche Aufklärung
Die doppelte dialektische Funktion der Aufklärung
Rückzug der Doxa
Mythos, Religion, Mythologie
Universale Theorie gegen lebensweltliche Perspektiven
Wissenschaftliche „Tatsache“ und Verifikation
II. Tatsache und Methode auf dem Gebiet der Naturwissenschaften
Die Methode der Idealisierung
Idealisierung der Natur
„Formen“ und „Füllen“
Die Konstruktion der naturwissenschaftlichen Tatsache
Im Banne der Ziffer
Pseudoexaktheit
III. Tatsache und methodische Idee auf dem Gebiet der empirischen Menschenkunde
Intuitive Typologien auf dem Gebiet der Naturkunde
Orientierungspunkte für menschenkundliche Forschung
„Tatsache“ – ein Grundbegriff der Wissenschaftstheorie
Isolierbarkeit der Tatsache
Unveränderlichkeit der Tatsache
„Gegen-ständlichkeit“ der Tatsache
„Tatsache“ und „methodische Idee“
Die Tatsache – eine künstlich erzielte Evidenz
Naturkundliche und menschenkundliche Tatsache
Formale methodische Ideen im Dienste der Menschenkunde
Max Weber und die religionssoziologische Tatsache
Was ist eine „inhaltliche Idee“
Künkel und die charakterologische Tatsache
Selbstüberschätzung der Orthodoxien
Weder Idealismus noch Konventionalismus
Schlußfolgerungen
IV. Eigenart der Erfahrungswissenschaften vom Menschen: „Die Doppelgeleisigkeit“ der menschenkundlichen Untersuchungen
Analyse einer Testsituation
Rorschachs methodische Idee
Kasuistik als Methode
Vergleichbar-machen
Tatsachen mit Sinn
V. Eigenart der Erfahrungswissenschaften vom Menschen: Menschenkundliche Untersuchung als Begegnung
Subjekt–Objekt oder Subjekt–Subjekt?
Subjekte oder Automaten
Was ist eine Begegnung?
Begegnen und Begegnen-lassen
Zweisprachigkeit
Künstlich, aber nicht gekünstelt
VI. Problematik des Verstehens: Die vorwissenschaftliche Intuition
Das Ende des uninteressierten Zuschauers
Der verstehende Zeuge
Was ist eine verwissenschaftliche Intuition?
Undurchführbarkeit der empiristischen Reduktion
Operationalistische Scheindefinitionen
Die Schattenseite der empiristischen Reduktion
Fundamentale Formen vorwissenschaftlicher Intuition
Verstehen und Mißverstehen
Umweg oder Ausgangspunkt?
VII. Problematik des ‘Verstehens’: Hypothese und Interpretation
Intuition und Interpretation
Die Hypothese
Interpretation im engeren Sinne
Explizites und implizites „Nach-Fühlen“
VIII. Problematik des „Verstehens“: Die „Sicht“
Unentbehrlichkeit der „Sicht“
Drei Formen von „Verstehen“
Verstehen des Verstehens
Die Tatsachen sprechen
An der Grenze der „zweiten Objektivität“
Der Baum der Wissenschaft
C. Wissenschaft und Weisheit
I. Kritik der wissenschaftlichen Aufklärung: Versagende Universalität
Gemeinschaft der Spezialisten
Die babylonische Situation
Das Entstehen der babylonischen Situation
Zersplitterte Wahrheit
II. Kritik der wissenschaftlichen Aufklärung: Naivität des Scientismus
Scientismus
Die „zweite“ Naivität
Die axiologische Naivität
Existenzielle Naivität
Die metaphysische Naivität
III. Kritik der wissenschaftlichen Aufklärung: Krisis der „Zweiten Objektivität“
Resignation der Spezialisten
Funktionsverlust moderner Wissenschaft
Bedürftige Wissenschaft
Das freie Spiel der „Weltanschauungen“
Aktivitätsneurose der Wissenschaft
IV. Möglichkeit und Notwendigkeit einer „Dritten Objektivität“
Moderne Wissenschaft an der Schwelle eines neuen Zeitalters
Sicht und metaphysische Vorentscheidung
Die Frage nach dem Sinn der Welt
Was ist Sinn?
Sinn, Unsinn, Sinnlosigkeit
Die Welt als Sinn-Horizont
Ambivalenz der Welt
Vor-Sinn und Bedeutung
Warum Metaphysik?
Drei Niveaus von Objektivität
Freiheit und Gebundenheit des Philosophierenden
Prekäres Gespräch
V. Menschenkunde und Philosophie
Alte Vorurteile
„Diskretion“ statt Resignation
Universale Theorie oder Hermeneutik?
Notwendigkeit des philosophischen Pluralismus
„Liebender Kampf“
Philosophischer Pluralismus und hermeneutischer Horizont
Die Bedeutung des hermeneutischen Horizontes
Erfahrungswissenschaftler mit philosophischem Interesse – Philosophen mit erfahrungswissenschaftlicher Einsicht
Blick in die Zukunft
Dritte Untersuchung. Phänomenologie und Erfahrungswissenschaft vom Menschen
I. Dialektische Phänomenologie
Historische Einführung in die Problemstellung
Was ist Phänomenologie?
Der hermeneutische Charakter der phänomenologischen Philosophie
Der intuitive Charakter der phänomenologischen Philosophie
Grenzen der Intuition
Der dialektische Charakter der phänomenologischen Philosophie
Dialektik als Dialog
II. Krisis der Evidenz
Der Zweifel des Merleau-Ponty
Formale und intuitive Evidenzen
Erfahrung, Intuition, Evidenz
Radikalisierung und Überwindung des relativistischen Zweifels
Urevidenzen
Aufhebung der natürlichen Evidenzen durch die Dialektik
Schlußfolgerungen
III. Zwischen philosophischer und empirischer Menschenkunde
Beitrag der Phänomenologie zur Erfahrungswissenschaft vom Menschen
Beitrag der empirischen Menschenkunde zur Phänomenologie
Ein existenzphilosophischer Einwand
Der Endlichkeitsaspekt der freien Existenz
Die Zurückbezogenheit der Menschenkunde auf sich selbst
Relative Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit
Das Grenzgebiet
IV. Irrwege der Phänomenologie
Mangel an Wahrheitsethos
Phänomenologischer Impressionismus
Suggestion als „phänomenologische Methode“
„Literarische“ Phänomenologie
Verantwortungsbewußte Synthese
V. Wie ist die Erfahrungswissenschaft vom Menschen möglich?
VI. Wie ist Erfahrungswissenschaft vom Menschen auf phänomenologischer Grundlage möglich?
Reinigung der Empirie
„Aufheben“ als Begrenzen
Aufheben als Bewahren
Aufheben als Erheben
Einem neuen Ideal der Wissenschaft entgegen
Anhang
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis

Citation preview

STEPHAN STRASSER PHÄNOMENOLOGIE UND

ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT

VOM MENSCHEN

PHÄNOMENOLOGISCH-PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNGEN

HERAUSGEGEBEN VON

C. F. GRAUMANN U N D J. LINSCHOTEN f

BAND 5

1964 WALTER

DE

G R U Y T E R

& CO.

/

B E R L I N

V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G - J. G U T T E N T A G . V E R L A G S BUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - K A R L J. T R Ü B N E R - V E I T & C O M P .

PHÄNOMENOLOGIE UND ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT VOM MENSCHEN GRUNDGEDANKEN ZU EINEM NEUEN IDEAL DER WISSENSCHAFTLICHKEIT

VON

STEPHAN

STRASSER

1964 W A L T E R

DE

G R U Y T E R

& CO.

/

B E R L I N

V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G - I. G U T T E N T A G , V E R L A G SBUCHHANDLUNG - G E O R G R E I M E R - K A R L J . T R Ü B N E R - V E I T fc C O M P .

Vom Verfasser aus dem Niederländischen übersetzte und gleichzeitig bearbeitete Ausgabe. Titel der niederländischen Originalausgabe: „Fenomenologie en empirisdie Menskunde"

ArAiv-Nr.: 3499 6 4 1 © 1962 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung * J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp. Berlin 30 (Printed in Germany) Alle Redite, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nidit gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomechanisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Drude: Thormann & Goetsdi, Berlin.

VORWORT Es geschah wahrend der Diskussion über eine historische Doktorarbeit.1 Im Laufe der kritischen Erörterung wurde von einem der Opponenten der Einwand gemacht, der junge Doktor in spe habe eine wichtige historische Quelle unbenützt gelassen. Derartige Einwände werden bei solchen Diskussionen öfter erhaben. Die Weise jedoch, wie sich der zur Doktorwürde zu Befördernde gegen diesen Einwurf verteidigte, erweckte allgemeine Verwunderung: er berief sich nämlich auf „die phänomenologische Methode". Der Phänomenologe, so versicherte er, könne sich mit der Analyse eines einzigen exemplarischen Falles begnügen; das Suchen nach Quellen und ihre Benützung erübrige sich demnach für ihn. Kurz darauf fragte mich ein prominenter Historiker, ob der Standpunkt des jungen Mannes tatsächlich mit den Grundsätzen der phänomenologischen Philosophie übereinstimme. In diesem Augenblick entstand in mir der Plan zu der vorliegenden Arbeit. Meine Untersuchungen werden, dies ist bereits aus jener Vorgeschichte ersichtlich, zu mancherlei kritischen Ergebnissen führen. „Kritisieren" gilt mir aber dabei keineswegs als sinnverwandt mit „herabsetzen", „vernichten", „lächerlich machen". Es ist meine Absicht, die Kunst des „krinein" im ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes auszuüben, das heißt als Kunst der „Unterscheidung". Eis wird sich vor allem darum handeln, drei verschiedene Haltungen des nach Erkenntnis strebenden Menschen zu unterscheiden, ohne sie zu scheiden: die archaisch-mythische, die wissenschaftliche und die philosophische. Diese drei wesensverschiedenen menschlichen Haltungen können meiner Überzeugung zufolge nicht auf beliebige Weise „gewählt", „vertauscht" und „kombiniert" werden. Auf Grund dieser Unterscheidung hoffe ich einen Weg weisen zu können, der unsere Studenten — und nicht sie allein — aus dem Labyrinth der geistigen Verwirrung führen wird, die hinsichtlich der phänomenologischen Philosophie herrscht. Sie sollen dabei die Freiheit einer geistigen Haltung kennen lernen, die von einer selbstzufriedenen Wissenschaftsvergötterung ebensoweit entfernt ist wie von einer unwahrhaftigen Verwerfung aller wissenschaftlichen Bemühung. Gleichzeitig hoffe ich einen Tadel abweisen zu können, den die phänomenologische Bewegung als solche nicht verdient. 1

In den Niederlanden ist es üblich, daß eine Doktordissertation von dem „Promovendus" öffentlich gegen die Einwände verteidigt wird, die die Professoren der Universität erheben. V

Eine Arbeit wie diese, in der philosophische und erfahrungswissenschaftliche Einsichten — wobei die letzteren ihrerseits den verschiedensten sich mit dem Menschen beschäftigenden Wissenschaften entnommen sind — zu einer Synthese vereinigt werden müssen, kann nicht „vollständig" sein. Dies ist zunächst vom technischen Standpunkt aus unmöglich, da auf dem Gebiet einer jeden im weitesten Sinne des Wortes „anthropologischen" Wissenschaft Jahr für Jahr hunderte Publikationen erscheinen, die nur der Spezialist ordnen und beurteilen kann. Vollständigkeit kann ferner auch aus persönlichen Gründen nicht verwirklicht werden, da ein ganzes Menschenleben erforderlich ist, um auch nur einen einzigen Zweig , der Menschenkunde geistig zu beherrschen. Wer starr an einem enzyklopädischen Erkenntnisideal festhält, muß die Hoffnung aufgeben, sich jemals zu einer synthetischen Zusammenschau wissenschaftlichen Lebens erheben zu können. — Eine solche Vollständigkeit ist aber auch nicht erforderlich. Es handelt sich ja im folgenden nicht um die Durchforschung eines bestimmten Erfahrungsbereiches, sondern um das Erlangen von Wesenseinsichten. Darum habe ich auch überall da, wo ich zwischen mehreren Beispielen zu wählen hatte, das einfachere dem komplizierteren vorgezogen. Dies ist u. a. der Grund, warum ich die Charakterologie Künkels verhältnismäßig ausführlich besprochen habe. Die Durchsichtigkeit der methodischen Idee Künkels erlaubt es, gewisse Zusammenhänge deutlicher aufzuzeigen. Kompliziertere Analysen würden mehr Raum einnehmen, ohne andere Ergebnisse zu zeitigen. — Ich habe mich auch ganz bewußt der Methode der Kontrastbilder bedient. Dabei habe ich vorzugsweise „klassische Vertreter" geistiger Strömungen kritisch miteinander verglichen, um zu zeigen, zu welchen Resultaten gewisse philosophische und wissenschaftstheoretische Voraussetzungen führen. So bin ich mir ζ. B. der Tatsache bewußt, daß es zwischen der extrem existenzphilosophischen und der logisch-positivistisdien Betrachtungsweise8 hunderte Ubergangsschattierungen gibt. Die verschiedenen Kompromißlösungen sind jedoch weniger lehrreich als die Versuche, auf wissenschaftlichem Gebiet einen radikalen Grundgedanken kompromißlos zur Durchführung zu bringen. — Ebendarum habe ich vielfach nur einen repräsentativen Namen genannt, wo die Namen vieler erwähnt zu werden verdienten. Ich habe das letztere unterlassen, da die Aufzählung von vielen Autoren und Publikationen nichts zur Einsicht beigetragen hätte, um die es mir einzig zu tun ist. Die Tatsache, daß manche Teile dieser vielseitigen Untersuchung weniger gründlich ausgearbeitet werden konnten, gibt mir dagegen Anlaß zu ernster Besorgnis. Dies gilt vor allem für die Frage nach dem Wesen der phänomenologischen Philosophie. Ich habe die Absicht, die Grundgedanken, 2

s. S. 9 bis S. 52.

VI

die auf diesen Problemkreis Bezug haben, in einer folgenden Publikation auf eine Weise zu entwickeln, die auch den Philosophen vom Fache Befriedigung gewähren wird. Während des Schreibens dieses Textes erschien der erste Teil von Sartre's „Critique de la raison dialectique".* Idbi habe hierin keinen Anlaß gesehen, an meinen kritischen Betrachtungen Veränderungen anzubringen. Diese beziehen sich auf den Existenzphilosophen Sartre, der seine Lehre in zahlreichen früheren Veröffentlichungen auseinandergesetzt hat, nicht auf den neugebackenen Marxisten oder Halbmarxisten Sartre. Der Versuch des Ersteren, die Prinzipien einer existenziellen Psychoanalyse zu formulieren, bleibt lehrreich, auch wenn der Letztere es vorgezogen hat, gänzlich andere Wege einzuschlagen. Es war mir gleichfalls unmöglich, drei anderen wichtigen Veröffentlichungen Rechnung zu tragen, nämlich HansGeorg Gadamers: „Wahrheit und Methode"4, Herbert Spiegelbergs: „The Phenomenological Movement",5 und Georges Gusdorfs: „Introduction aux Sciences Humaines".' Alle drei Publikationen ergänzen in glücklicher Weise meine mehr grundsätzlichen Darlegungen. Gadamer vertieft die auch von mir zur Sprache gebrachte Problematik der methodischen Hermeneutik. Spiegelberg tritt als erster Geschichtsschreiber der gesamten phänomenologischen Bewegung auf. Im besonderen mache ich den Leser auf das Werk von Gusdorf aufmerksam. Gusdorf unternimmt nämlich einen groß angelegten Versuch, das zu geben, was ich nicht geben wollte: ein einigermaßen vollständiges Bild vom Entstehen der Erfahrungswissenschaften vom Menschen im Laufe der Geistesgeschichte. Nimwegen, im April 1961 STEPHAN STRASSER

' Paris 1960. 4 Tübingen 1960. s 2 Bände, Den Haag 1960. • Paris 1960. VII

INHALTSVERZEICHNIS Erste

Untersuchung

Auf der Sudie nach einem dritten Weg I. Einführung in die Problemstellung Was ist empirische Menschenkunde? „GeistesWissenschaften" oder „Wissenschaften vom Menschen"? . . Menschenkunde und Naturkunde Das anthropologische Dilemma Die Aporie der Freiheit Die Zwecksetzung als Aporie II. Objektivismus als „Erster Weg" Techniker und Theoretiker Der „wissenschafdiche Apparat" Eingeklammerte Freiheit Suspendierte Zwedcsetzungen Die objektivistische Reduktion Was ist „Objektivität"? Das Prinzip der Verifizierbarkeit Das reduzierte Universum der Wissenschaften

3 3 4 5 7 8 9 9 9 11 13 14 15 16 17 18

III. Kritik des Objektivismus Die Einheit der Wissenschaften als philosophisches Problem Die Sprache — kein neutrales System von Zeichen Keine Tyrannei der Methode Zweideutigkeit der „behavioristics"

20 20 21 22 23

IV. Der „Zweite Weg" : Der Absolutismus der Freiheit Warum ein „zweiter Weg"? Sartres Begriff des Bewußtseins SelbstanwesenHeit, keine Selbsterkenntnis Polarität Negativität 'Niditheiten' Freiheit Sartres Idee einer existenziellen Psychoanalyse 'Verstehen' als Erfassen des transzendenten Zieles Postulate der existenzialistischen Menschenkunde Der existenzielle Entwurf Existenzialistische und psychoanalytische Menschenkunde Existenzialistische contra psychoanalytische Menschenkunde

25 25 28 29 30 31 31 32 33 34 35 36 37 38 IX

V. Der „Absolutismus der Freiheit" im Lichte der Kritik Zweierlei Kritik Was ist eine Situation? Was ist 'vorontologisdies Verständnis'? Das unmenschliche Bewußtsein Abschließende Betrachtung VI. Erste Orientierung Die zeibrochene Welt der Philosophen Stereotype Polemik Diskussion ohne Denkanstrengung Typische Zweideutigkeiten Vorläufige Unterscheidungen Programmatische Grundgedanken Auf dem Weg zu einer phänomenologischen Philosophie

Zweite

39 39 40 44 48 51 52 52 52 53 54 55 56 57

Untersuchung

Wesen und Gestaltwandel der Objektivität A. Objektivität der Lebenswelt I. DieLebenswelt als Fundament des wissenschaftlichen Denkens Husserls „Lebenswelt" Eine subjektivistische Interpretation Jeansons Verurteilung der Objektivität Der Subjektivismus als Skeptizismus Objektivismus und Objektivität Jenseits von Scientismus und Antiscientismus Doppelsinn der „Lebensweit" „Außerwissenschaftliche Welt" oder „außerwissenschaftliches Niveau"? Problematik der „Eigenheitssphäre" „Wahrnehmen" und „wahrnehmen als" II. Objektivierung und Objektivität Das Entstehen des Ding-Objektes Drei objektivierende Leistungen Skepsis hinsichtlich der Sprache Die Bedeutung der Objektivierung Enthüllende Erfahrung, entschleiernder Dialog Angewiesen-sein Grundbegriff der Objektivität Objektivierende Praxis III. Die Lebenswelt als primitive Welt Die Objektivität des primitiven Menschen X

61 61 61 62 63 63 65 65 65 66 67 69 70 70 72 74 75 76 78 79 81 82 82

Natur — nicht die Gesamtheit der „Objekte" Einheit von Kultur und Natur Kosmische und gesellschaftliche Ordnung Das mythische Weltbild Mythische Zeit Coincidentia oppositorum B. Universelle Objektivität I. Die wissensdiaftlidie Aufklärung Auflösung der Lebenswelten Historie gegen Prähistorie Der Prozeß der Universalisierung Die wissenschaftliche Aufklärung Die doppelte dialektische Funktion der Aufklärung Rückzug der Doxa Mythos, Religion, Mythologie Universale Theorie gegen lebensweltliche Perspektiven Wissenschafdiche „Tatsache" und Verifikation

83 84 85 86 88 90 92 92 92 92 94 95 96 97 98 99 100

II. Tatsache und Methode auf dem Gebiet der Naturwissenschaften Die Methode der Idealisierung Idealisierung der Natur „Formen" und „Füllen" Die Konstruktion der naturwissenschaftlichen Tatsache Im Ranne der Ziffer Pseudoexaktheit

101 101 103 103 105 106 107

III. Tatsache und methodische Idee auf dem Gebiet der empirischen Menschenkunde Intuitive Typologien auf dem Gebiet der Naturkunde Orientierungspunkte für menschenkundliche Forschung „Tatsache" — ein Grundbegriff der Wissenschaftstheorie Isolierbarkeit der Tatsache Unveränderlichkeit der Tatsache „Gegen-ständlichkeit" der Tatsache „Tatsache" und „methodische Idee" Die Tatsache — eine künstlich erzielte Evidenz Naturkundliche und menschenkundliche Tatsache Formale methodische Ideen im Dienste der Menschenkunde . . . . Max Weber und die religionssoziologische Tatsache Was ist eine „inhaldiche Idee" Künkel und die charakterologische Tatsache Selbstüberschätzung der Orthodoxien Weder Idealismus noch Konventionalismus Schlußfolgerungen

110 110 111 111 112 113 114 115 116 117 118 118 119 121 122 124 126 XI

IV. Eigenart der Erfahrungswissenschaften vom Menschen: „Die Doppelgeleisigkeit" der menschenkundlichen Untersuchungen Analyse einer Testsituation Rorschachs methodische Idee Kasuistik als Methode Vergleidibar-machen Tatsachen mit Sinn V. Eigenart der Erfahrungswissensdiaften vom Menschen: Menschenkundliche Untersuchung als Begegnung Subjekt—Objekt oder Subjekt—Subjekt? Subjekte oder Automaten Was ist eine Begegnung? Begegnen und Begegnen-lassen Zweisprachigkeit Künstlich, aber nicht gekünstelt

126 126 127 128 129 130

131 131 132 134 135 137 138

VI. Problematik des Verstehens: Die vorwissenschaftliche Intuition 139 Das Ende des uninteressierten Zuschauers 139 Der verstehende Zeuge 141 Was ist eine vorwissenschaftlidie Intuition? 143 Undurchführbarkeit der empiristischen Reduktion 145 Operationalistische Scheindefinitionen 146 Die Schattenseite der empiristischen Reduktion 148 Fundamentale Formen vorwissensdiafdicher Intuition 149 Verstehen und Mißverstehen 152 Umweg oder Ausgangspunkt? 154 VII. Problematik des ΎβΓβΐβΙιε^': Hypothese und Interpretation 155 Intuition und Interpretation 155 Die Hypothese 156 Interpretation im engeren Sinne 158 Explizites und implizites „Nadi-Fühlen" 159 VIII. Problematik des „Verstehens": Die „Sicht" Unentbehrlidikeit der „Sicht" Drei Formen von „Verstehen" Verstehen des Verstehens Die Tatsachen sprechen An der Grenze der „zweiten Objektivität" Der Baum der Wissenschaft C. Wissenschaft und Weisheit I. Kritik der wissenschaftlichen Aufklärung: Versagende Universalität Gemeinschaft der Spezialisten XII

162 162 164 165 166 168 170 171 171 171

Die babylonische Situation Das Entstehen der babylonischen Situation Zersplitterte Wahrheit II. Kritik der wissenschaftlichen Aufklärung: Naivität des Scientismus Scientismus Die „zweite" Naivität Die axiologische Naivität Existenzielle Naivität Die metaphysische Naivität

172 173 175

176 176 177 178 180 181

III. Kritik der wissenschaftlichen Aufklärung: Krisis der „Zweiten Objektivität" Resignation der Spezialisten Funktionsverlust moderner Wissenschaft Bedürftige Wissenschaft Das freie Spiel der „Weltanschauungen" Aktivitätsneurose der Wissenschaft

183 183 184 185 185 187

IV. Möglichkeit u n d Notwendigkeit einer „Dritten Objektivität" 188 Moderne Wissenschaft an der Schwelle eines neuen Zeitalters . . . . Sicht und metaphysische Vorentscheidung Die Frage nach dem Sinn der Welt Was ist Sinn? Sinn, Unsinn, Sinnlosigkeit Die Welt als Sinn-Horizont Ambivalenz der Welt Vor-Sinn und Bedeutung Warum Metaphysik? Drei Niveaus von Objektivität Freiheit und Gebundenheit des Philosophierenden Prekäres Gespräch

188 189 191 193 194 195 197 199 201 204 204 207

V. Menschenkunde u n d Philosophie 208 Alte Vorurteile 208 „Diskretion" statt Resignation 209 Universale Theorie oder Hermeneutik? 211 Notwendigkeit des philosophischen Pluralismus 212 „Liebender Kampf" 213 Philosophischer Pluralismus und hermeneutischer Horizont 215 Die Bedeutung des hermeneutischen Horizontes 216 Erfahrungswissenschaftler mit philosophischem Interesse — Philosophen mit erfahrungswissenschaftlicher Einsicht 219 Blick in die Zukunft 220

XIII

Dritte

Untersuchung

Phänomenologie u n d Erfahrungswissenschaft vom Menschen I. Dialektische Phänomenologie Historische Einführung in die Problemstellung Was ist Phänomenologie? Der hermeneutische Charakter der phänomenologischen Philosophie Der intuitive Charakter der phänomenologischen Philosophie . . . . Grenzen der Intuition Der dialektische Charakter der phänomenologischen Philosophie . . Dialektik als Dialog

223 223 226 227 228 231 232 234

II. Krisis der Evidenz Der Zweifel des Merleau-Ponty Formale und intuitive Evidenzen Erfahrung, Intuition, Evidenz Radikalisierung und Überwindung des relativistischen Zweifels . . Urevidenzen Aufhebung der natürlichen Evidenzen durch die Dialektik Schlußfolgerungen

236 236 238 241 242 244 245 249

III. Zwischen philosophischer und empirischer Menschenkunde . . 251 Beitrag der Phänomenologie zur Erfahrungswissenschaft vom Menschen 251 Beitrag der empirischen Menschenkunde zur Phänomenologie . . . . 251 Ein existenzphilosophischer Einwand 253 Der Endlichkeitsaspekt der freien Existenz 255 Die Zurüdcbezogenheit der Menschenkunde auf sich selbst 259 Relative Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit 262 Das Grenzgebiet 264 IV. Irrwege der Phänomenologie Mangel an Wahrheitsethos Phänomenologischer Impressionismus Suggestion als „phänomenologische Methode" „Literarische" Phänomenologie Verantwortungsbewußte Synthese

266 266 268 269 270 272

V. W i e ist die Erfahrungswissensdiaft vom Menschen möglich? 273 VI. W i e ist Erfahrungswissenschaft vom Menschen auf phänomenologischer Grundlage möglich? 277 Reinigung der Empirie „Aufheben" als Begrenzen Aufheben als Bewahren Aufheben als Erheben Einem neuen Ideal der Wissenschaft entgegen XIV

277 278 280 281 283

Anhang Literaturverzeichnis

287

Personenverzeidmis

305

Sadiverzeidmis

308

XV

Erste Untersuchung

AUF DER SUCHE NACH EINEM DRITTEN WEG

I. EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMSTELLUNG Was ist empirische

Menschenkunde?

Im geistigen Leben unserer Tage beginnt eine Gruppe von Wissenschaften in zunehmendem Maß Aufmerksamkeit zu erregen. Kennzeichnend für das gemeinsame Gebiet dieser Wissenschaften ist, daß man darin mit Hilfe von erfahrungswissenschaftlichen Methoden den Menschen als Person zu untersuchen unternimmt.1 Die hinzugefügte Bestimmung „als Person" ist dabei von außerordentlicher Bedeutung. Im Rahmen dieser Erfahrungswissenschaften wird nämlich der Mensch nicht etwa als ein Konglomerat von Eiweißmolekülen, nicht als ein Zellenstaat, nicht als ein Säugetier erforscht. Der betreffende Forscher wird vielmehr — wenn auch zumeist implicite — dem spezifisch menschlichen Charakter des Menschen, das heißt seinem Person-sein, Rechnung tragen. Der Historiker weiß ja, gleichgültig ob er davon spricht oder nicht, daß nur der Mensch so etwas wie Geschichte besitzt. Der Philologe ist sich der Tatsache bewußt, daß nur der Mensch in seinem Verhalten von Symbolen und Zeichen Gebrauch macht.2 Der vergleichende Religionswissenschaftler hat de facto nur mit dem „animal religiosum" zu tun. Analoge Verhältnisse herrschen bei der wissenschaftlichen Erforschung der Kunst, der Literatur, der Kultur, des Rechtes, der Oekonomie. Alle diese Wissensgebiete könnten unter dem Titel „positive Anthropologie" zusammengefaßt werden. (Tatsächlich spricht man in Westeuropa nur bei der Erforschung minder entwickelter Völker von „kultureller Anthropologie".) Hieraus geht bereits hervor, daß die genannten Wissenschaften untereinander in einem gewissen Zusammenhang stehen. Sie sind ferner alle aufs engste mit jener Wissenschaft verbunden, die die existenzielle Zuwendung des Menschen zur kulturellen, historischen, ökonomischen, religiösen usw. Welt zum Thema hat: der Psychologiesie können überdies immer weniger die Dienste einer anderen Wissenschaft entbehren, die den Menschen als Träger sozialer Rollen betrachtet: der Soziologie,4 Bei der konkreten Forschungstätigkeit sowohl als bei dem Durchdenken der für die genannten Wissenschaftsgebiete entscheidenden Probleme tritt Unter „Person" verstehe ich im Folgenden das leib-seelisdie Ganze des Menschen, nicht aber eine „Schicht" oder ein rein geistiges „Aktzentrum" im Menschen. * Vgl. M . MERLEAU-PONTY: La structure du comportement, Paris 1942, S. 139—171. s Vgl. S. STRASSER: Seele und Beseeltes, Wien 1955, S. 237—243. * Vgl. R. DAHRENDORF: Homo sociologicus, Köln-Opladen 1960.

1

3 1·

nun immer deutlicher die Notwendigkeit gegenseitiger Ergänzung zutage. Ja, es ist bezeichnend für das moderne abendländische Denken, daß die Vertreter der Erfahrungswissenschaften vom Menschen sich in zunehmendem Maße ihrer wechselseitigen schicksalhaften Verbundenheit bewußt werden. Die immer größer werdende Schwierigkeit, der sie begegnen, wenn es sich darum handelt, ein Fach vom anderen abzugrenzen, ist ein Symptom hierfür; ihr bewußtes Streben nach Synthese ein anderes. „Gewisse Aspekte der Psychologie, der Medizin, der Anthropobiologie, der Volkswirtschaft und der sozialen Geographie müssen mit der Anthropologie zu einer allgemeinen Wissenschaft verschmolzen werden, welche gleicherweise das Rüstzeug historischer und statistischer Methoden umfassen und Tatsachenmaterial aus der Geschichte und anderen geisteswissenschaftlichen Gebieten beziehen muß" fordert Clyde Kludchohn im Namen einer „comprehensive science of man". 5 Im gleichen Sinne spricht John J. Honigmann von „Culture and Personality": „Kultur und Persönlichkeit sind, wie der Name es nahelegt, eine synthetische und interfakultäre Disziplin und nicht ein isolierter Sektor der Soziologie; so wie der augenblickliche Stand des Wissens auf diesem Gebiete die Forschungen der Psychologen, der Psychiater, der Soziologen und Anthropologen widerspiegelt, so werden auch die künftigen Resultate aus der fortgesetzten Integration von Ideen dieser und anderer Spezialisten hervorgehen."5* „Geisteswissenschaften"

oder „Wissenschaften

vom

Menschen"?

In der französischen Sprache wird die Gruppe von Wissenschaften, von der hier die Rede ist, als „sciences humaines" bezeichnet. André Lalande schreibt im Zusammenhang mit diesem neuen Fachausdruck: „Neuer Ausdruck, der sich stets mehr einbürgert, um das zu bezeichnen, was man früher „sciences morales" zu nennen gewohnt war. Bei dem [erstgenannten] Ausdruck wird der Nachdruck auf den der äußeren Beobachtung zugänglichen Charakter menschlichen — individuellen sowohl als kollektiven — Verhaltens gelegt. " 5 b Diese letzte Bemerkung scheint uns bedeutungsvoll zu sein. Warum können diese Wissenschaften nicht mit den Geisteswissenschaften identifiziert werden? Warum sind sie keine „Wissenschaften, die den menschlichen Geist zum Gegenstand haben...?"" Eben, weil sie den Menschen als Person erforschen und nicht als Geist, als Bewußtsein oder als eine Seele, Minor for man, New York-Toronto 1949, S. 1. Culture and Personality, New York 1956, S. IX. ib Vocabulaire technique et critique de la philosophie, Paris 19567 — im Folgenden abgekürzt: Voc. — S. 958. • Voc., ebenda. 5

5a

4

die — auf welche Weise immer — „in einem Leibe waltet". — Wer mit der Geschichte des modernen Denkens vertraut ist, weiß, daß die Ersetzung des alten Ausdrucks „sciences morales" durch die neue Rede von den „sciences humaines" als Symptom einer geistigen Entwicklung betrachtet werden muß. Er weist darauf hin, daß die Mehrzahl der Gelehrten mit jener Cartesianischen Auffassung gebrochen hat, wonach der Mensch aus einer „denkenden Substanz" bestehe, die mit einer „ausgedehnten Substanz" innig verbunden sei. Es bedeutet audi eine Entfremdung von Lodce, der gelehrt hatte, daß die Erfahrung als „perception" die „Außenwelt", als „reflection" die „Innenwelt" zum Gegenstand habe. — Das Auftauchen der Benennung „sciences humaines" ist das Ergebnis einer neuartigen Betrachtungsweise. Diese besagt uns, daß der Mensch als konkrete geiststoffliche Einheit, daß seine konkreten Weisen sich zu verhalten, seine konkrete Praxis, seine konkreten Erzeugnisse wissenschaftlich untersucht werden sollen. Menschenkunde

und

Naturkunde

Auf Grund unserer bisherigen Ausführungen ist es bereits deutlich geworden, daß sich die genannten Wissensgebiete grundsätzlich von der Naturwissenschaften unterscheiden. Lalande macht deshalb auch die folgende Bemerkung: „Es muß festgestellt werden, daß die .sciences humaines' nicht alle Wissenschaften umfassen, die auf den Menschen Bezug haben; die Anatomie zum Beispiel oder die Physiologie des Menschen werden nicht so genannt, sondern nur die Wissenschaften, die dasjenige charakterisieren, wodurch der Mensch sich von der Natur abhebt." 7 In der Naturkunde — im weitesten Sinne des Wortes — wird der Mensch tatsächlich als ein Bestandteil des Kosmos betrachtet, als ein Teil, der sich nicht wesentlich vom Ganzen unterscheidet. In der Menschenkunde handelt es sich dagegen um das spezifisch Menschliche.8 Von der philosophischen Rechtfertigung dieser Unterscheidung wird später die Rede sein. Zunächst soll die Aufmerksamkeit auf eine Folgerung unserer soeben charakterisierten antidualistischen, ganzheitlichen Betrachtungsweise gelenkt werden. Dadurch nämlich, daß der leibhafte Mensch mit seinen konkreten Verhaltensweisen, seiner konkreten Umwelt und seinen konkreten Werken Gegenstand wissenschaftlicher Erfahrung wird, ist in all den genannten Zweigen der Wissenschaft die Anwendung empirischer Methoden möglich. Das heißt, daß die hierauf bezügliche Erfahrung so 7 8

Ebenda. Vgl. u. a. F. J. J. B U Y T E N D I J K : Das Menschliche in der menschlichen Bewegung, in „Der Nervenarzt" 28 (1957), S. 1—7. 5

organisiert werden kann, daß sie induktive Folgerungen zuläßt.® Es bedeutet ferner, daß diese Folgerungen grundsätzlich der Kritik einer Forschungsgemeinschaft ausgesetzt sind. In diesem Sinne sprechen wir von Empirie — die wir also keineswegs mit menschlicher Erfahrung im allgemeinen identifizieren. Die Frage, ob die Resultate der induktiven Empirie tatsächlich die gesamte Substanz der genannten Wissenschaften ausmachen, soll später behandelt werden. Was bisher ausgeführt wurde, genügt jedenfalls, um die Namen „empirische Menschenkunde" oder „Erfahrungswissenschaften vom Menschen" zur Kennzeichnung der genannten Gruppe von Fächern zu rechtfertigen. Die auf systematisierter Erfahrung beruhende Menschenkunde hat mit der Naturkunde die empirische Methodologie gemein. Dieser Umstand darf uns nicht dazu verleiten, den wesentlichen Unterschied zwischen beiden Gruppen von Wissenschaften zu übersehen. Man könnte diesen Unterschied vorläufig in der folgenden Weise kennzeichnen: In den Naturwissenschaften wird das Sein des Menschen als ein von der Natur hervorgebrachtes Sein betrachtet. Er erscheint als Glied einer kosmischen Entwiddungsreihe oder als ein Organismus, dessen Leben von einem biologisch definierbaren Milieu abhängig ist, oder als das Resultat phylogenetischer und ontogenetischer Prozesse. Dagegen betrachtet man im Rahmen der empirischen Menschenkunde den Menschen als Urheber und Gestalter seiner eigenen Umwelt. Hier beschreibt man die Weise, wie durch den Menschen für den Menschen eine Welt zustande kommt, die soziale, historische, kulturelle, religiöse Dimensionen hat.10 Die Möglichkeit, daß es zwischen beiden 9

Auf die abweichende Auffassung KAHL POPPERS können wir in diesem Zusammenhang nicht eingehen. Vgl. KARL R. POPPER; The logic of scientific discovery, London I960 2 , S. 106—111.

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Die Gründe, warum wir die Einteilung der Wissenschaften in drei Gruppen: „Logoswissenschaften", „Wirklichkeitswissenschaften" und „Naturwissenschaften" nicht übernehmen, können hier nicht ausführlich auseinandergesetzt werden. Diese Einteilung wurde von HANS FREYER befürwortet (vgl. Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig 1930, und Einleitung in die Soziologie, Leipzig 1931, S. 124 ff.). Es kommt uns vor, als ob Freyer's „phänomenologische" Auffassung auf einer einseitigen Interpretation eines oder zweier Werke Husserls beruhe. Es liegt dem phänomenologischen Philosophen ferne, die noematische („objektive") Seite des menschlichen Aktes von der noe tischen („subjektiven") zu scheiden. Wir sehen auch nicht ein, warum das sprachliche und künstlerische Leben zur Sphäre des Logos, das historische und soziale Leben zur Sphäre der „Wirklichkeit" gerechnet werden soll. Schließlich glauben wir hinsichtlich des Begriffes des „objektiven Geistes" — eines Begriffes, den Freyer der Gedankenwelt Litt's, Spranger's, Dilthey's und Hegel's enüehnt — einen Vorbehalt machen zu müssen. Vgl. unsere Kritik des „unmenschlichen Bewußtseins", S. 48 und S. 254 ff.

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Gruppen von Wissenschaften Berührungspunkte gibt, wird dabei keineswegs bezweifelt. Im Gegenteil. In manchen Bereichen des Wissens, wie ζ. B. in dem der Medizin, der sozialen Geographie, der Oekonomie werden derartige Berührungspunkte eine äußerst widitige Rolle spielen. — In den folgenden Untersuchungen wird es sich jedoch darum handeln, die empirische Menschenkunde als eine besondere Gruppe untereinander zusammenhängender Wissenschaften zu beschreiben, ihre Eigenart zu charakterisieren und ihre Problematik zu entwickeln.11 Das anthropologische Dilemma Die Crux der empirischen Menschenkunde kann in der folgenden Frage zum Ausdruck gebracht werden: Wie kann der Mensch als Person den Menschen als Person zum Gegenstand empirischen Forschens machen? Dies ist in Wahrheit das Kernproblem. „Der Forscher auf dem Gebiet der Menschenkunde muß sowohl über das sehende Auge wie über das gesehene Objekt unterrichtet sein", versichert Kludthohn in bewußtem Widerspruch zu August Comte." Aber wie ist etwas derartiges möglich? Wie kann etwa der Soziologe mit empirischer Genauigkeit menschliche Konflikte beschreiben, während er selbst in Konflikte verwickelt ist? Der Psychologe sollte das Verhalten menschlicher Personen charakterisieren; aber die Ausübung der Psychologie ist selbst eine typische Weise sich zu verhalten. Eine Psychologie des Psychologen ist ebensowohl denkbar wie eine Soziologie des Soziologen. Wer wäre aber imstande, eine derartige Untersuchung zur erfolg11

Verlangt man von uns eine genaue Angabe der Wissenschaften, welche zur empirischen Menschenkunde zu rechnen seien, dann ist eine zweifadle Antwort denkbar. Man könnte alle wisenschaftlichen Disziplinen aufzählen, in denen eine anthropologische Betrachtungsweise eine Rolle spielen sollte. Diese Liste würde sehr lang ausfallen, aber auch das Abgrenzungsproblem wäre in diesem Falle recht heikel. Aus Lalande's Worten geht bereits hervor, daß ζ. B. in manchen Zweigen der Medizin mehr anthropologisches Denken erforderlich ist als in anderen. Um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, werden unsere Analysen sich auf die Wissensgebiete beziehen, in denen die anthropologische Sicht bereits Feld gewonnen hat: die Psychologie, die Psychiatrie, die Soziologie, die Geschichte, die Ethnologie und die vergleichende Religionswissenschaft. Alle diese Wissenschaften fassen wir unter dem Sammelnamen der empirischen Menschenkunde zusammen, während wir die Gelehrten, die sie ausüben, als Anthropologen bezeichnen wollen. Damit ist bereits gesagt, daß wir im Folgenden unter einem Anthropologen nicht einen philosophischen Anthropologen, sondern einen Vertreter der genannten Erfahrungswissenschaften vom Menschen verstehen werden.

11

Mirror...,

loc. cit., S. 11.

7

reichen Durchführung zu bringen: der Psychologe oder der Nicht-Psychologe? Beide scheinen dazu vollkommen ungeeignet. Man könnte die Eigenart des anthropologischen Dilemmas auch an Hand unserer Umschreibung der empirischen Menschenkunde verdeutlichen. Der Anthropologe, der Individuen und Gruppen als Urheber und Gestalter ihrer Umwelten betrachtet, muß natürlich auch die wissenschaftliche Kultur zu den Gegebenheiten dieser Umwelt rechnen. Niemand zweifelt etwa daran, daß das gesellschaftliche Leben unserer Tage von der psychologischen Betrachtungsweise eines Freud und den sozialökonomischen Auffassungen eines Marx auf entscheidende Weise beeinflußt wird. Freud und Marx gehören nun zu jener Gruppe von Forschern, die wir als „Anthropologen" im weitesten Sinne des Wortes bezeichnet haben. Das bedeutet jedoch, daß der Anthropologe seinen Gegenstand verändert, während er ihn erforscht, und zwar dadurch, daß er ihn erforsdit. Wo bleibt aber dann der feste Boden, auf dem er als Erfahrungswissenschaftler seinen Standort haben kann? Die Aporie der Freiheit In der Schaffung und Gestaltung einer bestimmten Umwelt kommt jeweils menschliche Freiheit zum Ausdruck. In der Kunst, Kultur, Religion, Politik verschiedener menschlicher Gruppen offenbart sich ja ein unterschiedlicher Stil der Existenz. Wenn wir etwa als Historiker feststellen, daß die alten Hellenen eine Polis-Kultur zur Entwicklung gebracht und die alten Römer ein Imperium gegründet haben, dann dürfen wir die beiden Völker nicht mit zwei Sorten Spinnen vergleichen, von denen eine vertikale und die andere horizontale Netze verfertigt. Der Polis und dem Imperium entsprechen geschichtlich entstandene und traditionell verfestigte Weisen menschlicher Gruppen, ihrer Freiheit Gestalt zu geben. Hier werden wir jedoch mit der entscheidenden Frage konfrontiert, ob überhaupt empirische Forschimg denkbar sei, die freie Taten zum Gegenstand hat. Bedeutet Frei-sein nicht soviel wie „alles können, was man will"? Und ist dann nicht ein freies Wesen verwandlungsfähig wie ein Proteus? Ist es nicht einmal „so" und dann wieder „anders"? Kann es nicht jegliche Gestalt annehmen? Wenn ja, wie sollte es dann möglich sein, derart veränderliche Wesen zu beschreiben, ihre Weisen sich zu verhalten zu charakterisieren, ihre Werke zu vergleichen und typisch wiederkehrende Züge festzustellen? Eine Beschreibung, die gestern zutreffend war, könnte morgen von einer freien Existenz der Lüge bezichtigt werden. Muß nicht der Erfahrungswissenschaftler über „feste Gegebenheiten" verfügen? Hat er nicht „Tatsachen" nötig, auf die er sich verlassen kann? Wie könnte er sonst die Ergebnisse seiner Forschung vor einer Gemeinschaft von Fachgenossen verantworten? 8

Die Zwecksetzung als Aporie Dies ist noch nidit alles. Individuen sowohl wie menschliche Gruppen sind für Werte empfänglich; sie werden von Zwedcen angezogen; sie machen Entwürfe, die nicht nur Dinge und objektive Verhältnisse, sondern mitunter auch ihre eigene Seinsweise betreffen. Hier stoßen wir gleichfalls auf die größten Schwierigkeiten. Kann man Werte messen? Ja, kann man sie auch nur objektiv vergleichen und ordnen? Man spricht wohl mitunter von einer „Hierarchie der Werte"; ist aber nicht ein ästhetischer Wert unvergleichbar mit einem politischen, und kann dieser wiederum mit einem religiösen Wert in einem Atem genannt werden?13 Aus den Werterlebnissen ergeben sich Motive, die das Handeln bestimmen. Sind aber Regeln denkbar, auf Grund derer wir vorhersehen können, was ein Staatsmann beschließen, was ein Künstler schaffen, welche Frau ein Mann wählen wird? Spielen hierbei nicht „irrationale Faktoren" eine Rolle? Begeben wir uns nicht auf das Gebiet des vollkommen Subjektiven? — Die bange Frage nach der Objektivität der anthropologischen Forschung drängt sich hier auf. Wie ist eine Wissenschaft von etwas möglich, das so wandelbar, so ephemer, so ungreifbar ist wie eine Neigung, eine Wertung, ein Motiv, ein Entschluß, ein Entwurf? Bedeutet „kennen" nicht soviel wie sich von dem zu erkennenden Objekt normieren lassen? Und setzen wir dabei nicht voraus, daß das Objekt relativ identifizierbar und unveränderlich ist? Sind menschliche Werterlebnisse, Motive, Zwecksetzungen dann noch „Objekte"? Dies sind die Gründe, warum unserer Überzeugung zufolge der empirischen Menschenkunde eine typische Problematik eigen ist. Wir können zusammenfassend feststellen, daß diese Problematik einer dreifachen Wurzel entstammt. Sie hängt erstens mit der Zurückbezogenheit der anthropologischen Forschung auf sich selbst zusammen; zum zweiten mit der Unmöglichkeit, den Gestaltwandel einer absoluten Freiheit auf empirischem Wege zu erfassen; zum dritten mit der Schwierigkeit, induktive Folgerungen zu ziehen, die auf Wertungen, Motive, Zwecksetzungen Bezug haben. Mit der Möglichkeit, diese Aporien zu überwinden, steht und fällt die wissenschaftliche Verantwortimg einer empirischen Menschenkunde. Wir haben daher die Absicht, die soeben beschriebene dreifache Crux einer ausführlichen, grundsätzlichen Untersuchung zu unterwerfen. II. OBJEKTIVISMUS ALS „ERSTER WEG" Techniker und Theoretiker Die Erkenntnis, daß das, was wir als empirische Menschenkunde charakterisiert haben, eine Gruppe von Wissenschaften sui generis sei, ist 13

Vgl. P.

RICOEUR:

Philosophie de h volonté, Paris, S. 100 ff. 9

jungen Datums. Wir dürfen uns daher nicht darüber wundern, daß -wir auf Fragen, die die Eigenart dieser Wissenschaft betreffen, auch von jenen keine Antwort empfangen, die in erster Linie berufen wären, uns darüber Bescheid zu geben: von den Forschern selbst. Dieser Umstand gibt vielfach Anlaß zu Klagen „ . . . Es genügt, einen Blick auf den gegenwärtigen Stand der Erfahrungswissenschaften vom Menschen zu werfen, um festzustellen, daß sie sich in einem Zustand gänzlicher Verwirrung befinden", ruft Georges Gusdorf aus. „Gewiß, sie entwickeln sich, sie vervielfältigen ihre Forschungsaktivitäten, aber die Techniker der verschiedenen Fächer wissen zumeist weder, was sie wollen, noch was sie tun."1 Diese Klage ist nicht völlig unbegründet. Zu den Folgen der modernen Spezialisierung gehört oft die Beschränkung auf ein sehr besonderes Gebiet der Erfahrung, und diese Selbstbeschränkung hat ihrerseits eine gewisse Einengimg des theoretischen Interesses zur Folge. Alle Energie wird auf die technische Beherrschimg eines kleinen, sorgfältig gewählten Erfahrungsfeldes konzentriert. Hatte nicht bereits Husserl darüber geklagt, daß die psychologische Forschung zu einer Technik entarte, die sich von Instinkten leiten lasse? Ja, auch besonnene und verdienstvolle Gelehrte sind nicht immer gegen den Zauber immun, der von ihren — wirklich oder scheinbar — gelingenden empirischen Versuchen ausgeht. Es genügt, in diesem Zusammenhang an Alfred Binet zu erinnern, der auf die Frage, was Intelligenz sei, zur Antwort gab: „Intelligenz ist das, was meine Tests messen."2 Wir glauben jedoch, uns vor Verallgemeinerungen hüten zu müssen. Jede Technik geht aus einer „Theorie" hervor. Es hat auch tatsächlich von Anfang an Theoretiker gegeben, die das, was der Begriff der erfahrungswissenschaftlichen Untersuchungstechnik an Erkenntnissen zu enthalten scheint, in der Form programmatischer Schriften entwickelt haben. Ja, diese Techniken würden nicht in so großem Maßstabe angewendet werden, wenn nicht zahlreiche Forscher davon überzeugt wären, daß ihre Anwendimg grundsätzlich gerechtfertigt sei. Es gibt auch Antworten auf die von uns zur Sprache gebrachten Einwände. Wir finden diese Antworten, wenn auch nicht immer in sehr klarer Form, in zahlreichen Handbüchern, Einführungen in verschiedene Arten empirischer Forschung, aber auch in wissenschaftstheoretischen Schriften. Es ist unmöglich, alle diese Werke zu nennen oder gar zu besprechen. Wir betrachten es auch nicht als unsere Aufgabe, eine solche enzyklopädische Ubersicht zu geben. Deshalb werden wir im folgenden lediglich zum Zwecke der Verdeutlichung einige Autoren

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Sur Vambiguïté des sciences humaines, in „Diogène", no. 26 (April—Juni 1959), S. 57—81. Zitiert in PAUL GUILLAUME: Introduction à la Psychologie, Paris 1946 — im Folgenden abgekürzt: Intr. — S. 303.

zitieren, die zur wissenschaftstheoretischen Verantwortung der objektivistischen Empirie beigetragen haben. Der „wissenschaftliche Apparat" Trotz zahlreicher sekundärer Meinungsverschiedenheiten nehmen die Theoretiker der objektivistischen Empirie, was die entscheidenden Probleme betrifft, denselben Standpunkt ein. Ihre Antwort auf die von uns formulierte dreifache Aporie lautet — von geringen Abweichungen abgesehen — grundsätzlich folgendermaßen: 1. Der Mensch als Person kann sich tatsächlich niemals selbst zum Gegenstand einer empirischen Untersuchung machen. Diese Situation muß um jeden Preis vermieden werden, da sie der Erzielung wissenschaftlich brauchbarer Resultate im Wege steht. Es muß vielmehr prinzipiell deutlich zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Untersuchungen unterschieden werden. Dabei ist derjenige Subjekt der Untersuchung, der die Erfahrung organisiert. Das „Subjekt" muß m. a. W. den Erfahrungsverlauf in Bahnen lenken, die so beschaffen sind, daß die Erfahrung zu empirisch brauchbaren Ergebnissen führt; es muß ferner gewisse Kategorien, Begriffe, Modelle einführen und eine Sprache schaffen, die geeignet ist, den Inhalt der Resultate zum Ausdrude zu bringen; es muß drittens den Inhalt der Begriffe, die Bedeutung der wissenschaftlichen „Vokabeln", so genau wie möglich bestimmen. Daß sich die Sprache der Mathematik und der Logistik hierfür besonders gut eignet, ist evident; daß ferner durch den Gebrauch von Instrumenten der Erfahrungsbereich erweitert und die Erfahrungsinhalte präzisiert werden können, ist ebenfalls klar. Fassen wir nun all dieses „Mittel" der Empirie: das Begriffssystem und die Modellvorstellungen, die Instrumente und die Regeln, wonach sie benützt werden müssen, die Untersuchungstechniken sowie die zu ihnen gehörenden Interpretations- und Kontrollmethoden unter dem Namen „wissenschaftlicher Apparat" zusammen; dann gilt das folgende Prinzip: Das Subjekt, das die Erfahrung organisiert, kann nicht zugleich Objekt der Erfahrung sein; denn die Erfahrung muß den Filter des wissenschaftlichen Apparates passieren, um als wissenschaftliche Erfahrung gelten zu können. Verdeutlichen wir dies an Hand von Beispielen. Der Bericht eines Augenzeugen vom Einzug Napoleons I. in Wien wird vom Historiker als eine Quelle der Geschichtsschreibung anerkannt werden. Der Bericht als solcher ist aber nicht Geschichte, weil der Augenzeuge nicht über die nötigen historischen Begriffe, Kategorien und kritischen Methoden verfügt. Er ist deshalb ein Objekt und kein Subjekt wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. Dasselbe trifft auf Autoren des klassischen Altertums zu, die soziale Wandlungen oder Veränderungen des religiösen Klimas beschreiben. 11

Sie sind keine Soziologen oder Religionshistoriker, sondern Objekte der soziologischen bzw. religionshistorischen Forschung. Wo experimentelle Methoden zur Anwendung kommen, da weist der wissenschaftliche Apparat einen ausgesprochen technischen Charakter auf. D a scheint auch eine deutliche Unterscheidung zwischen dem Subjekt und Objekt ein erstes Erfordernis zu sein. „Als experimentelle Wissenschaft erstrebt aber die physiologische Psychologie eine Reform der psychologischen Forschung, die der Umwälzung, welche die Einführung des Experimentes im naturwissenschaftlichen Denken verursachte, an Bedeutung nicht nachsteht . . . " , schrieb Wilhelm Wundt; „Denn die sogenannte Selbstbeobachtung kann nur unter wesentlichen Einschränkungen als Beobachtung bezeichnet werden, und auf Exaktheit kann sie überhaupt keinen Anspruch erheben." 3 Das Ideal, das darin besteht, auf dem Gebiete der psychologischen Forschung denselben Grad von Exaktheit zu erlangen wie auf dem der naturwissenschaftlichen Forschung, spielte bereits bei Wundt eine große Rolle. Die behavioristischen Psychologen glauben in dieser Hinsicht nodi weiter gehen zu müssen. Sie stehen jeder verbalen Mitteilung der Versuchsperson, wofern sie eine Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis bilden soll, mißtrauisch gegenüber. Darum ziehen sie Experimente mit Tieren solchen mit Menschen vor. Dies brachte z. B. Edward C. Tolman dazu, eines seiner Werke dem Mus Norvegicus Albinus zu widmen, der weißen Ratte, mit der er experimentiert hatte. 4 Einige Jahre später versicherte Tolman: „Ich f ü r meine P e r s o n . . . stehe in Worte gefaßten B e r i c h t e n . . . mißtrauisch gegenüber. Ich versuche lieber, der Psychologie mit Hilfe allgemeinerer -Formen der Verhaltensweisen beizukommen. Mein augenblickliches Motto lautet: ,Ratten, keine Menschen'." 5 Diesen Psychologen zufolge käme die ideale Haltung des wissenschaftlichen Erkennens der eines Zoologen gleich, der die Reaktionen eines fremden, eigenartigen Organismus beobachtet, oder der eines Chemikers, der die Veränderungen gewisser Stoffe verzeichnet. „Warum sollte es unmöglich sein, die Gesetze menschlichen oder tierischen Verhaltens in derselben Weise zu erforschen, wie man das physikalisch-chemische Verhalten eines beliebigen Körpers erforscht?" fragt auch der gemäßigte Paul Guillaume; „Es ist nicht einzusehen, warum die Möglichkeit einer solchen Untersuchung in Zweifel gezogen werden sollte." Eine derartige Untersuchung bietet selbst Vorteile; denn hierbei ist die „Zweiheit von Beobachter und Beobachtetem",' die Exteriorität des Subjektes dem Objekte der wissenschaftlichen Erkenntnis gegenüber gewährleistet. 3

Grundzüge der physiologischen Psychologie, Band I, Leipzig 1908e, S. 4. Purposive behavior in animals and men, New York 1932. 5 An operational analysis of demands, in „Erkenntnis", 6 (1936), S. 390. « Intr., S. 288/9. 4

12

Diese Zitate gestatten uns, den Begriff des „Objektivismus" schärfer zu umreißen. Wir werden im Folgenden dann von einer objektivistischen Erkenntnishaltung sprechen, wenn das Interesse des anthropologischen Forschers auf den Menschen beschränkt bleibt, sofern er als Objekt fungiert, das durch die Brille des wissenschaftlichen Apparates betrachtet werden kann. Objektivismus nennen wir demgemäß das Streben mancher Wissenschaftler, den Menschen als Subjekt aus dem Universum der Menschenkunde systematisch zu verbannen.

Eingeklammerte

Freiheit

2. Wie steht es mit der zweiten Aporie: der Unmöglichkeit, ein freies Wesen empirisch zu beschreiben? Es zeigt sich, daß diese Schwierigkeit gleichfalls umgangen werden kann. Hierfür ist erforderlich, die Erfahrungen nicht nur zu organisieren, sondern auch zu selektieren. Ausschließlich die Erfahrungen, die zur Feststellung von Tatsachen führen, sind in wissenschaftlicher Hinsicht aufschlußreich. „Naturwissenschaft ist vor allem eine Reihe von Verhaltensweisen. Sie stellt eine Bereitschaft dar, mit Tatsachen umzugehen...", versichert der Behaviorist Burrhus F. Skinner.' Eine Tatsache kann nun das Resultat einer freien Tat sein oder auch nicht: aus der Tatsache selbst geht dies keinesfalls hervor. — Nehmen wir an, daß eine Versuchsperson vor die Wahl gestellt wird, zwei Zahlen miteinander malzunehmen oder voneinander abzuziehen. Sie tut das letztere. Sie hat zwar „das Gefühl", daß sie ebensogut die Multiplikation hätte wählen können. Dieses „unbestimmte Gefühl" ist jedoch keine Tatsache. Aus dem Experiment geht nicht hervor, ob der Uberzeugung der Versuchsperson, daß sie auch anders hätte handeln können, etwas Wirkliches entspricht. Daß sie abgezogen und nicht malgenommen hat, ist dagegen eine Tatsache. Dies kann der Experimentator mit vollkommener Sicherheit feststellen. Wenn nun der Psychologe ein Objektivist ist,8 dann ist er gar nicht gezwungen, die Freiheit zu „leugnen" (mit einer derartigen Leugnung würde er sich ja auf das Gebiet der „Metaphysik" begeben). Er kann sich darauf beschränken, eine Beschreibung der menschlichen Handlung zu geben, aus der ihr Freiheitsaspekt völlig eliminiert ist. Dieser Umstand ermöglicht es dem Objektivisten, ein deskriptives Begriffssystem zu konstruieren, in dem die Freiheit keine Rolle spielt; sie ist gleichsam eingeklammert. Nachdem man die Freiheit sorgfältig aus dem Begriffsinhalt der

7 8

Science and human behavior, New York 19563, S. 12. Unsere Kritik richtet sich nicht gegen MICHOTTE und PRÜM, die diese Versuche ausgeführt haben. 13

„Tatsache" ausgeschlossen hat, ist es leicht, mit Guillaume von einem „Determinismus der Tatsachen" zu sprechen.® Suspendierte

Zwecksetzungen

3. Der heiklen Frage nach den Wertungen und Zwecksetzungen kann man in derselben Weise aus dem Wege gehen. Wir wollen dies an Hand einer typischen Diskussion zeigen. — Der Soziologe R. M. Maclver wagte die Behauptung: „Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Stück Papier, das vor dem Winde fliegt, und einem Menschen, der vor einer Menge flieht, die ihn verfolgt. Das Papier kennt keine Furcht und der Wind keinen Haß; der Mensch aber würde nicht fliehen und die Menge ihn nicht verfolgen, wenn nicht Furcht und Haß im Spiele wären." Maclver sprach also von emotionalen Zwecksetzungen — dem ängstlichen Streben nach Sicherheit; dem haßerfüllten Streben, einen Gegner aus dem Weg zu räumen, entsprechen offenbar Zwecke — und von emotionalen Wertungen: Sicherheit bzw. Rache werden als „gut" erlebt. Maclver wollte in seiner Darstellung menschlichen Motiven Rechnung tragen. — Der mehr positivistisch eingestellte George A. Lundberg war hiermit jedoch nicht einverstanden. Er erhob Einwände gegen eine derartige Beschreibung mit der Begründung, ,Angst' und ,Haß' seien subjektive Ausdrücke. Wer sich solcher Ausdrücke bediene, tue der Objektivität der soziologischen Forschung Abbruch. Es sei nämlich nicht sicher, daß mehrere voneinander unabhängige Beobachter in gleicher Weise von einer „Flucht aus Angst" und einer „Verfolgung aus Haß" sprechen würden. Lundberg zog hieraus die Folgerimg, daß nur das äußerlich wahrnehmbare Verhalten Anlaß zu objektiven Beobachtungen gebe. Ausschließlich wahrnehmbare „Tatsachen" können in einer Weise beschrieben werden, die für jeden Beobachter dieselbe ist, nämlich in der Weise des Naturwissenschaftlers. Lundberg war deshalb überzeugt, daß die Naturkunde — im weitesten Sinne des Wortes — als Modellwissenschaft für die Soziologie fungieren müsse; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Naturkunde eine bessere Methode besitze, objektive Tatsachen festzustellen. „Es ist meine These", betonte Lundberg, „daß, wenn wir diese Methode hier ebenso gewissenhaft anwenden wie in der Physik, sie uns mit einer ebensolchen Möglichkeit der Kontrolle belohnen würde."10

• Intr., S. 318. G. A. LUNDBERG: Foundations of Sociology, New York 19532, S. 12,13, resp. VII. Vgl. audi The natural Science trend in Sociology in „American Journal of Sociology" 61 (1955), S. 91 ff.

10

14

Die objektivistische

Reduktion

Was Lundberg vorschlägt, ist offenbar eine Art Reduktion. Seiner Ansicht nadi ist es eine objektive Tatsache, daß sich der flüchtende Mann von Punkt A nach Punkt Β begeben hat. Ferner kann objektiv festgestellt werden, daß die Schnelligkeit der verfolgenden Menge zugenommen hat, daß sie nun V 2 beträgt und nicht mehr V r Wenn wir jedoch von einem „flüchtenden" Menschen und einer „verfolgenden" Menge sprechen, bedienen wir uns noch immer „subjektiver" Ausdrücke. Die Tatsachen im naturwissenschaftlichen Sinne enthalten keinerlei Aussagen darüber. Es kann sein, daß der als Tatsache konstatierte Sachverhalt durch eine Flucht bzw. Verfolgung entstanden ist, aber dies kann auf Grund von naturwissenschaftlichen Methoden nicht festgestellt werden. Es zeigt sich, daß wir den Ausdruck „Reduktion" nicht zufällig verwendet haben. Er hat hier die philosophische Bedeutung, die ihm Edmund Husserl zugeschrieben hat. Die Reduktion besteht hier nämlich in einer Art Suspension des Urteils, nicht im Sinne der altgriechischen Skeptiker," sondern im modernen methodischen Sinne. Der objektivistische Gelehrte denkt ja nicht daran, die „Wirk-lichkeit" der Freiheit, der freien Motivierung, Wertimg, Zwecksetzung usw. ernsthaft zu bezweifeln. Er kann sie gar nicht in Zweifel ziehen, da derartige freie Akte die Grundlage seines gesamten „persönlichen" Lebens bilden. Nur bei seinen wissenschaftlichen Beschreibungen bedient er sich ihrer nicht. Hier klammert er sie ein, hier suspendiert er alle darauf bezüglichen Urteile. „Ich erkläre Maclvers Analyse des fliehenden Menschen und der verfolgenden Menge nicht für falsch", bemerkt Lundberg; „ich weise nur darauf hin, daß ich möglicherweise die Situation in einem Bezugsystem analysieren könnte, das die Worte ,Furcht' oder ,Haß' nicht einbezieht, sondern nur operationell definierte A u s d r ü c k e . . D i e Einschränkung der Beschreibung auf dasjenige, was in der Sprache der Physik gesagt werden kann, ist nicht nur der Ausdruck eines typischen „Methoden-Monismus";15 sie hat auch die Entstehung einer habituellen Erkenntnishaltung bei dem menschenkundlichen Forscher zur Folge. Es handelt sich bei ihm offenbar um jene Haltung, die wir bereits als die „objektivistische" charakterisiert haben. Die methodische, systematische Beschränkimg aller Erfahrungen auf die Art der Erfahrung, die in der Sprache der Naturwissenschaft exakt beschrieben werden kann, werden wir deshalb in Hinkunft objektivistische Reduktion nennen. 11

V g L D I O G . LAËRT, 9 , 1 0 7 .

« loc. cit. S. 13. 1S Vgl. P. J. BOUMAN: Sociologie. Begtippen en Problemen, Antwerpen-Amsterdam 1958® — im Folgenden abgekürzt: Soc. — S. 29. 15

Was ist

Objektivität?

Fragen wir, in wessen Namen eine derartige Reduktion gefordert wird, dann empfangen wir von beinahe allen ein und dieselbe Antwort. Die Reduktion bietet eine unentbehrliche Bürgschaft für die Objektivität der wissenschaftlichen Forschung, sagt man. Was versteht man dabei unter „Objektivität"? Guillaume antwortet hierauf das Folgende: „Das Wort .Objektivität' hat zwei Bedeutungen. E s bezeichnet einerseits die Übereinstimmung des Gedankens mit seinem Objekt, andererseits die Ubereinstimmung der individuellen Gedanken untereinander. Im zweiten Sinne des Wortes ist die Wissenschaft objektiv, weil sie eine unpersönliche, universale Wahrheit ist; eine Beobachtung ist objektiv, wenn alle Beobachter hinsichtlich der beobachteten Tatsache einer Meinung sind." 14 Diese doppelte Antwort enthält in Wirklichkeit drei verschiedene Umschreibungen.14' Die erste: „Übereinstimmung des Gedankens mit seinem Objekt" weicht nicht von der berühmten aristotelischen Definition der Wahrheit ab. Ist aber „Wahrheit" und „Objektivität" dasselbe? Kann nicht auch ein Kind Wahrheit erraten, ohne im mindesten objektiv zu sein?15 — Ist es ferner wahr, daß die Übereinstimmung der individuellen Gedanken untereinander eine Bürgschaft für Objektivität darstellt? Denken wir an das Beispiel von der Menge, die einen Mann verfolgt, um ihn zu lynchen. Die individuellen Gedanken der Verfolger stimmen untereinander vollkommen überein. Dennoch sind wir durchaus nicht bereit, sie als objektiv zu betrachten. — Bleibt die dritte Definition, die der Praxis der empirischen Forschung entnommen ist. Diese Definition ist aber gleichfalls unbefriedigend; sie enthält eine „petitio principü". Einerseits versichert man, daß eine Tatsache dasjenige ist, was von mehreren Beobachtern auf Grund ihrer objektiven Haltung übereinstimmend festgestellt wird; umgekehrt nennt man die Haltung der Beobachter, die ihnen gestattet, in wechselseitiger Ubereinstimmung Tatsachen festzustellen, objektiv. — Wir könnten hier noch zahl14

Intr., S. 163. wäre freilich noch die transzendental-idealistische Auffassung von Objektivität zu erwähnen, die RICHARD KRONER folgendermaßen wiedergibt: „Die objektive (vorbildliche) Verknüpfung muß in einem objektiven (vorbildlichen) Bewußtsein stattfinden. Dieses ist das transzendentale. Gegenständlichkeit, Objektivität, ist soviel wie objektive (vorbildliche) Verknüpftheit der Elemente, die im empirischen Urteil nadibildlidi, abbildlich miteinander verknüpft werden." (Von Kant bis Hegel, Tübingen 19612, Band I, S. 62). Diese idealistische Auffassung der Objektivität steht und fällt mit dem Glauben an ein Bewußtsein, das das Bewußtsein von niemandem ist. Vgl. unsere Kritik des „unmenschlichen Bewußtseins", S. 48 if. „Objektive Erkenntnis ist nicht dasselbe wie wahre Erkenntnis, Objektivität nicht dasselbe wie Wahrheit", betont F . J. G L A S T R A VAN L O O N .

141 Hier

15

16

reiche Wissenschaftstheoretiker anführen. Es würde sich dann herausstellen, daß ihre Auffassungen von Objektivität identisch oder nahe verwandt sind mit denen Guillaume's. Das Resultat dieser vielfachen Zitate würde nur den Eindruck verstärken, daß die Begriffe .Tatsache' und .Objektivität' bisher noch nicht hinreichend durchdacht sind. Das Prinzip der Verifizierbarkeit Es wurde jedoch von den jüngeren, den logischen Positivisten ein ernsthafter Versuch unternommen, den Begriff der wissenschaftlichen Objektivität philosophisch zu rechtfertigen. Dieser Versuch ist unter dem Namen des „Prinzipes der Verifizierbarkeit" bekannt. Was besagt dieses Prinzip? Alfred Jules Ayer zufolge, der vorsichtiger und weitherziger ist als z. B. Moritz Sdilidc, handelt es sich bei diesem Prinzip um das Folgende: „Wir sagen, daß bei jeder nur angenommenen Tatsache Folgendes gefragt werden muß: . . . .Könnte irgendeine Beobachtung für die Feststellung relevant sein, ob diese Tatsache besteht oder nicht?' Und nur für den Fall, daß diese Frage verneint wird, schließen wir, daß die betreffende Aussage sinnlos ist." Das Urteil: „Auf der Rückseite des Mondes gibt es Berge" ist nach Ayer sinnvoll, auch wenn tatsächlich noch kein Astronom diesen Teil des Mondes observiert hat. Die Behauptung Breadley's: „Das Absolute hat Anteil an Evolution und Fortschritt, ist aber selbst der Evolution und des Fortschrites nicht fähig" muß dagegen als Scheinurteil verworfen werden. Das Eintreten des Absoluten in die kosmische Entwicklung ist ja kein mögliches Objekt einer Beobachtung." Diesem Kriterium zufolge gibt es nur drei Sorten Wissenschaften, in deren Rahmen sinnvolle Urteile gefällt werden können: Erfahrungswissenschaften, sofern sie auf exakten Beobachtungen beruhen, Mathematik und .Philosophie'. Die Philosophie, die Ayer meint, hat jedoch nur den einen Zweck, „die Probleme der Wisschenschaft zu klären, indem sie ihre logischen Beziehungen darlegt und die in ihr auftauchenden Symbole definiert".17 Daraus ist ersichtlich, daß nach Ayer's Meinung vom Menschen nur als von einem Objekt die Rede sein kann. Er ist Objekt der auf Beobachtung beruhenden Tatsachenurteile, die ihrerseits Objekte bilden von „philosophischen", das heißt logisdien und semantischen Analysen. In einem anderen Sinne von Menschen zu sprechen, ist nach Ayer .nonsensical'.

14

17

2

Language, truth and logic, London 19482, S. 36. Der Vollständigkeit halber fügen wir hinzu, daß Ayer sidi selbst nicht als einen Neopositivisten, sondern als einen „logischen Empiristen" betraditet. loc. cit., S. 32.

Strasser

17

Das reduzierte Universum der

Wissenschaften

Eine weitere Folge der extrem-objektivistischen Betrachtungsweise besteht darin, daß die zur Menschenkunde gehörenden Disziplinen aus dem Universum der Wissenschaften verschwinden. Dies geht deutlich aus der Wissenschaftstheorie hervor, die ein prominenter Vertreter des sogenannten „Wiener Kreises", Rudolf Carnap, entworfen hat. Welche Struktur muß nach Carnap das Gesamtgebäude der Wissenschaften aufweisen? Auf welchem Grundgedanken soll es beruhen? Carnap beginnt damit, formale Wissenschaften, die aus analytischen Urteilen auf logisch-mathematischer Basis bestehen, von empirischen Wissenschaften zu unterscheiden, die synthetische, sich auf verschiedene Gebiete der Tatsachenkenntnis (factual knowledge) beziehende Urteile enthalten.18 Ferner werden die empirischen Wissenschaften in zwei Gruppen eingeteilt. „Physikalische Wissenschaften" sind die Disziplinen, in denen außer der mathematischen auch die typisch physikalische Sprache gesprochen wird. Die anderen Erfahrungswissenschaften können unter dem Titel „Biologie" zusammengefaßt werden. Hier ergibt sich jedoch die Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung. Die Biologie muß ihrerseits in „Biologie im engeren Sinne", zu der die allgemeine Biologie, die Botanik und der größte Teil der Zoologie gehört, und die „Wissenschaften vom Verhalten" (behavioristics) unterteilt werden. Die letztgenannte Gruppe von Disziplinen wird von Carnap folgendermaßen charakterisiert: „[Sie] behandelt das Verhalten von Einzelorganismen und Gruppen von Organismen innerhalb ihres Milieus, sie behandelt ferner die Disposition zu solchem Verhalten, Kennzeichen von Vorgängen in Organismen, die sich auf das Verhalten beziehen, und gewissen Kennzeichen des Milieus, die für das Verhalten charakteristisch und relevant sind, z. B. Objekte, die beobachtet, und Produkte, die von Organismen hervorgebracht wurden (works done by organism)."1* Carnap nennt die Wissenschaft vom individuellen Verhalten Psychologie und rechnet ihr außer einem Teil der Physiologie auch einen Teil der Geisteswissenschaften („humanities") zu. Die Wissenschaft, welche das kollektive Verhalten von Organismen erforscht, ist die Soziologie, zu der nach Carnap auch die Geschichte und der größere Teil der Geisteswissenschaften gehört. Camap's System der Erfahrungswissenschaften kann an Hand des folgenden Schemas verdeutlicht werden: Logical Foundation of the Unity of Science, in „International Encyclopedia of Unified Sciences" vol. I, no. 1, Chicago 1938 — im Folgenden abgekürzt: Found. — S. 45. « Found., S. 46, 47. 18

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Empirial Sciences Physics (chemistry, mineralogy, astronomy, geology, metereology)

Biology in the wider sense Biology in th narrower sem (general biology, Behavioristics botany, (overt and internal greater part of zoology) behavior) individual organism psychology (parts of physiology, parts of humanities)

groups of organisms, social sciences (greater part of humanities, history)

Diese Ubersicht ist nicht vollkommen deutlich. Man kann daraus nicht ersehen, welcher Teil der Zoologie im Rahmen der Biologie und welcher Teil in dem der „behavioristics" behandelt werden soll. Wir vermuten, daß die Reaktionen der höheren Tiere ebenso wie die der Menschen im Rahmen der Wissenschaften vom Verhalten erforscht werden sollen. Sicher ist, daß der Mensch, menschliche Gemeinschaften und Gesellschaften, ihre Geschichte, ihre Kultur, ihre Rechtsverhältnisse usw. auf dem Niveau und innerhalb des Horizontes einer erweiterten Biologie zu betrachten wären. Man muß Carnap für seine logische Folgerichtigkeit und Übersichtlichkeit dankbar sein. Er zeigt uns deutlich, welche Folgerungen aus den objektivistischen Postulaten gezogen werden müssen. Besinnen wir uns einen Augenblick auf einige Konsequenzen, die diese Wissenschaftstheorie für die konkrete geisteswissenschaftliche Forschung hätte. Camaps Auffassungen zufolge stände das Verhalten von Kaiser Napoleon Bonaparte auf einer Linie mit dem von Köhlers Schimpansen Sultan. Die Dramen Shakespeare's gehörten ebenso zu den „von Organismen hervorgebrachten Erzeugnissen" („works done by organisms") wie Vogelnester. Die Kreuzfahrer wären eine „Gruppe von Organismen", deren Verhalten ihrem biologischen Milieu gegenüber einige „charakteristische Züge" aufweist; sie müßten daher nach denselben Prinzipien untersucht werden. Tatsächlich gipfelt Camaps Wissenschaftstheorie in einer Reduktion der Menschenkunde auf die Naturkunde. Die Eigenart des Menschlichen wird dabei außer acht gelassen. Carnap tritt hierfür offen ein. Er fordert dieses Opfer im Namen der Einheit der Wissenschaften. Das zusammenhanglose Nebeneinander der verschiedenartigsten Fächer ist ihm nämlich ein Dorn im Auge. Um die Vereinigung aller Wissenschaften in einem System zu ermöglichen, muß eine universale wissenschaftliche Sprache geschaffen werden. Da nun die Physik die grundlegende Erfahrungswissen19 2*

sdiaft ist, kann diese Universalspradie nur die physikalische sein. Darum müssen seiner Ansicht nach alle psychologischen Aussagen in biologische, alle biologischen in physikalische verwandelt werden. Das Urteil etwa, daß der Herr X aufgeregt sei, muß, um für die Wissenschaft brauchbar zu sein, die Form des folgenden „Obersatzes" annehmen; „Jedesmal, wenn sich an einer Person folgende körperliche Veränderungen zeigen..., und sie folgende Bewegungen vollzieht . . n e n n e n wir sie .aufgeregt'." Eine derartige Definition kann dann mühelos in das Idiom des Physikers „übersetzt" werden. Die Forderung, daß die Psychologie auf die Physik zurückzuführen sei, gehört zu den feststehenden Programmpunkten von Camaps Wissenschaftsreform." Vollkommen unabhängig von ihm kommt Guillaume zu analogen Ergebnissen, und zwar nicht auf Grund von logisch-wissenschaftstheoretischen, sondern auf Grund von methodologischen Erwägungen. „Die Physik wird ihre Fortsetzung in einer Physiologie und einer Psychologie finden", versichert er, ja, er zögert nicht, von einer „grundsätzlichen Identität der Methoden der objektiven Psychologie mit denen der physikalischen Wissenschaften" zu sprechen." III. KRITIK DES OBJEKTIVISMUS Die Einheit der Wissenschaften als philosophisches Problem Hier regen sich jedoch ernste Bedenken. Die Erkenntnis der Einheit der Wissenschaften, die Einsidit in den Zusammenhang aller Arten von Forschung ist zweifellos von hohem Wert. Von Aristoteles bis zu Descartes, von Leibniz bis zu Hegel haben sich daher auch große Geister darum bemüht, die Einheit des wissenschaftlichen Weltbildes theoretisch zu begründen und philosophisch zu verantworten. Aber wer sagt, daß diese Einheit auf dem Niveau der Empirie verwirklicht werden könne, und zwar dadurch, daß man alle Erfahrungswissenschaften auf eine Erfahrungswissenschaft zurückführt? — Auch die Weise, wie die Begriffe der „Objektivität" und „Verifizierbarkeit" in Zusammenhang gebracht werden, fordert zu Einwänden heraus. Das Streben nach Objektivität ist zweifellos ein allgemeines Kennzeichen des menschlichen Strebens nach Wahrheit. Wer aber glaubt, es genüge, sich in den Denkbereich der Naturwissenschaften zu begeben, um die Objektivität aller seiner Urteile zu sichern, Vgl. Die physikalische Sprache als Universalspradie der Wissenschaft, in „Erkenntnis" 2 (1931/2) und Psychologie in physikalischer Sprache in „Erkenntnis" 3 (1932/3), S. 107 ff. « Intr., S. 170 resp. 319. 10

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macht sich die Sache leicht. Und kann, wie Ayer behauptet, das Kriterium