Vom Wachsen und Werden im Prozess der Trauer: Neue Ansätze in der Trauerbegleitung 9783666402579, 9783647402579, 9783525402573

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Vom Wachsen und Werden im Prozess der Trauer: Neue Ansätze in der Trauerbegleitung
 9783666402579, 9783647402579, 9783525402573

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EDITION

 Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller

Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Sylvia Brathuhn / Thorsten Adelt

Vom Wachsen und Werden im Prozess der Trauer Neue Ansätze in der Trauerbegleitung

Vandenhoeck & Ruprecht

Unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit. Alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt. Rainer Maria Rilke (Briefe an einen jungen Dichter, 1903–1908)

Mit 2 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40257-9 Umschlagabbildung: © Ute Meurer © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Hinführende Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  7 Teil A – Vom Wachsen und Werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  12 Selbstwerdung – Eine Reise zu sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . .  12 Grenzsituation Tod – Ein geliebter Mensch stirbt . . . . . . . . . .  21 Wer bin ich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  24 »Werde, der du bist« – Trauerarbeit, Traueraufgaben, Werdeschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  28 Die Werdeschritte des trauernden Menschen . . . . . . . . . . . . . .  30 Wahrnehmen und Sehenlernen – diffuser Nebel . . . . . . . . . . .  31 Erkennen und Verstehen – der Nebel lichtet sich . . . . . . . . . . .  40 Annehmen und die Entscheidung zum Ja – Wegscheide . . . .  44 Gestalten und Leben – Neuland: Alles ist anders . . . . . . . . . . .  50 Teil B – Der Prozess des Trauerns anhand eines lebensgeschichtlichen Beispiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  56 Die Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  56 So war Sven … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  56 Die Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  57 Die letzten Tage … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  57 Sven ist tot … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  58

6   Inhalt

Vernebelte Zeit … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  59 Totale Erschöpfung … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  59 Entscheidungen stehen an … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  60 Wer bin ich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  60 Manchmal geht es … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 Entscheidung für das (Über-)Leben … . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  62 Sven ist tot und ich lebe … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  63 Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer . . . .  65 Wie wird begleitet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 Haltung als Grundlage für die Anwendung der verschiedenen Begleitansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  66 Eisagogisch-hinführender Begleitansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . .  68 Konsolatorisch-verstehender Begleitansatz . . . . . . . . . . . . . . . .  73 Stimulierend-provokativer Begleitansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . .  78 Reflektierend-verstehender Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  83 Evaluierend-nachgehender Begleitansatz . . . . . . . . . . . . . . . . .  90 Weggedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  94 Auszug aus einem beispielhaften Begleitgespräch . . . . . . . . . .  95 Zwei dokumentierte Stundenprotokolle einer Trauerbegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  97 Tabellarische Übersicht über die Begleitformen . . . . . . . . . .  105 Komprimierte Übersicht überdie Begleitformen . . . . . . . . . .  119 Übersicht und Zusammenfassung der einzelnen Werdeschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  124 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  127

Hinführende Gedanken

Leben und Tod gehören zusammen, heißt es, und wir Menschen nicken bei diesen Worten wissend und zustimmend. Bricht jedoch der Tod wirklich und real, also nicht denkerisch und irreal, ins eigene Leben ein, wird das bisher Gedachte und Dagewesene gleichsam außer Kraft gesetzt. Routinen und Gewohnheiten lösen sich schlagartig auf. Träume und Pläne werden zerschlagen. Hinter die gemeinsame Vergangenheit wird ein endgültiger Punkt, ein Ausrufezeichen gesetzt. Aus! Schluss! Vorbei! Für immer! Nichts kann mehr hinzugefügt werden. Endgültige, vollendete Vergangenheit. Das distanzierende Denkwissen weicht einem gefühlten Erfahrungswissen. Der Zurückbleibende wird durch den Tod aufgerufen – ja, gewissermaßen gezwungen –, in ein neues Leben einzutreten, eine neue Zukunft zu entwerfen, auch wenn dies manchmal und zunächst kaum vorstellbar erscheint. Für viele Trauernde ist dieser Weg ins neue Leben schmerzhaft und kräfteraubend. Es ist ein Auf und Ab in den Gefühlen. Es ist ein Zurückwollen und doch Weitergehenmüssen. Es ist ein erzwungenes Ja-sagen-Müssen zu etwas, wofür der Mensch in seinem Herzen vielfach nur ein Nein hat. Wie intensiv ein Mensch trauert, wie lange die Trauer anhält, wie sehr sie sein Leben beeinträchtigt oder vielleicht streckenweise sinnlos erscheinen lässt, ist weder vorhersehbar noch berechenbar. Wir möchten Trauer vor diesem Hintergrund als eine zutiefst individuelle, spontane, nachhaltige, den ganzen Menschen

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durchtönende und durchprägende Gefühlsreaktion verstehen, als eine natürliche Wert-Antwort auf den unwiderruflichen Verlust eines nahestehenden Menschen, zu dem eine sinnstiftende Beziehung bestand. Im Erleben dieses Verlustes verbindet sich das Denkwissen über den Tod mit dem Erfahrungswissen um den Tod, und Endlichkeit wird unmittelbar erfahren. Nicht immer brauchen Menschen auf ihrem Trauerweg professionelle Begleitung. Oftmals gelingt es mithilfe einzelner Begegnungen und einem gut funktionierenden Beziehungsgeflecht, diesen Weg auf eigene, individuelle Weise zu gehen und zu gestalten. Für andere wiederum ist der Weg nur gangbar mit professioneller Unterstützung und Begleitung. Der Begriff Pro­ fession ist dem lateinischen professio entlehnt. Das dazugehörige Verb profiteri heißt so viel wie »öffentlich bekennen, erklären«. Menschen, die Trauernde professionell begleiten, erklären demnach öffentlich, dass ihnen hierzu die erforderlichen Wissens-, Handlungs- und Haltungskompetenzen zur Verfügung stehen. Immer wieder richten sich trauernde Menschen an professionell Begleitende, getragen von dem Wunsch, ihre gegenwärtige Situation zu verbessern und ihre zukünftige Situation zu gestalten. Um diesem Ansinnen annähernd gerecht werden zu können, ist dieses Buch geschrieben. Es soll denjenigen als Anregung und Impuls dienen, die Trauernden im Rahmen ihres beruflichen Alltags begegnen, sie beraten oder auf ihrem Trauerweg begleiten und die sich selbst in diesem Prozess nicht als Macher oder als Weg-Weiser für trauernde Menschen verstehen, sondern als Weg-Begleiter, als ein Stück des Trauerweges Mit-Gehende. Das Buch zeigt in einem ersten Schritt, dass menschliches Sein immer zugleich auch menschliches Werden ist. Dass sich der Mensch im Laufe seines Lebens immer wieder und immer weiter entwickelt, dass es Phasen im Leben des Menschen gibt, in denen diese Weiterentwicklung sozusagen unbemerkt stattfindet, das sind die sogenannten »Ruhig-Phasen«. Und es gibt

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die »Unruhig-Phasen«, in denen der Zerbruch von Bisherigem, das Stagnieren und Zurückhabenwollen, das ungewollte Werden, schmerzhaft spürbar werden. Einige dieser »Unruhig-Phasen« sind auf natürliche Weise in den menschlichen Lebenslauf eingeschrieben. Zu nennen sei hier nur der Übergang von der Kindheit zur Pubertät, von der Pubertät zum jungen Erwachsenenalter, vom Knaben zum Mann, vom Mädchen zur Frau oder vom Berufsleben in die Pensionierung. Auch diese Übergänge sind häufig mit Verunsicherung und Irritationen verbunden. Sie rufen jedoch den Menschen auf natürliche Weise dazu auf, sich in diesem Wandlungs- und Werdeprozess neu zu gestalten. In einem zweiten Schritt wird die »Unruhig-Phase«, die mit dem Erleben und Erleiden des Todes eines geliebten Menschen einhergeht, besonders berücksichtigt. Der alte Lebenssinn ist – individuell unterschiedlich stark empfunden und erlebt – verloren. Dem Zurückbleibenden stellt sich die Aufgabe, sich und sein Leben neu zu gestalten, ihm »Eigen-Sinn« zu verleihen und sich auf diese Weise auf den Weg zu sich selbst machen: selbst zu werden. In einem dritten Schritt werden die Werdeschritte – Wahrnehmen, Erkennen, Annehmen, Gestalten – als Aufgaben im Prozess der Trauer entwickelt. Diese Werdeschritte prägen und lenken das menschliche Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln immer. So nehmen wir – als alltägliches Beispiel – wahr, dass wir Hunger verspüren, erkennen, dass wir seit dem Vormittag nicht mehr gegessen haben, sagen: »Ja, jetzt wird es aber Zeit«, und gestalten eine Mahlzeit beziehungsweise nehmen etwas zu essen zu uns. Diese vier Schritte laufen immer – vielfach unreflektiert – im Menschen ab. Im Prozess der Trauer jedoch kann das zergliederte Wissen um die unterschiedlichen Werdeschritte dem Begleitenden hilfreiche Verstehensansätze bieten. Die Werdeschritte sind nicht als einzelne, nacheinander abzuarbeitende Schritte zu verstehen,

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die zu einem vordefinierten Ziel führen, sondern als ineinander verzahnte Aufgaben, denen sich der Trauernde im Laufe der Zeit und in seinem Tempo wieder und wieder zu stellen hat. Diese Aufgaben werden dem Trauernden nicht von außen auferlegt, sondern sie wohnen der Trauer selbst als permanente Aufgaben inne. Sie sind harte innere Arbeit – Trauerarbeit1 –, die den Trauernden zu sich selbst führen und dazu beitragen, dass er sich (wieder) in Richtung von Ganzheit entwickeln kann. Der Mittelteil des Buches (Teil B) ist geprägt durch die Erfahrungen und Gedanken einer Mutter, die ihren Sohn an den Tod verloren hat. Ihre geschilderten Erfahrungen stehen stellvertretend für das Erleben von trauernden Menschen. Jede Trauererfahrung, jedes Trauererleben ist einzigartig, besonders und unaustauschbar. Und dennoch gibt es in allen Trauererfahrungen grundlegende Gemeinsamkeiten. Das Wissen um beides – um Einzigartigkeit und um Allgemeingültigkeit, um Individualität und Universalität – ermöglicht es den Begleitenden, gute beziehungsweise angemessene Unterstützungs- und Begleitformen zu wählen, die den Wachstums- und Werdeprozess des Trauernden förderlich unterstützen. Mithilfe dieses Wissens kann der Begleitende mit dem trauernden Menschen in Kontakt kommen und sich mit ihm in seinem ganz persönlichen Takt bewegen. Dabei geben nicht die Begleitenden den Rhythmus vor, sondern die Trauernden. Teil C des Buches stellt neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer vor. Hier geht es darum, aufmerksam und genau die Gefühle, Worte, Gedanken und Handlungen des Trauernden zu beachten, ihnen Achtung, Wertschätzung und Bewertungsenthaltsamkeit entgegenzubringen. Des Weiteren ist es bedeutsam, 1

Der Begriff »Trauerarbeit« ist ein durch Sigmund Freud geprägter Begriff, den er erstmalig in seiner Schrift »Trauer und Melancholie« veröffentlichte. Er stellt hier die Frage: »Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet?« (Freud, 1917/1991(c), S. 430).

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Schlüssel- und Herzwörter zu hören, Fragezeichen zu verstehen, gute Fragen zu stellen sowie existenzielle Fragen von lebenspraktischen Fragen unterscheiden zu können. Sinnfragen als Motor für Sinnsuche und somit als individuellen, lebenswichtigen Suchprozess zu begreifen, ohne sie beantworten zu wollen, sind weitere wichtige Ansprüche an den Begleitenden, die in diesem Kapitel erörtert werden. Komplettiert wird Teil C durch praktische Beispiele, die Begleitenden als Anregung dienen können. Das Buch richtet sich an alle, die im professionellen Kontext dem trauernden Menschen begegnen, ihm Begleiter sein wollen; die Trauer nicht als Krankheit verstehen, sondern als eine stimmige und unvermittelte Reaktion auf das, was diesem Menschen widerfahren ist; die darauf vertrauen, dass diesem Menschen alles innewohnt, was er für seinen weiteren Weg braucht. Die Begleitunterstützung liegt im Verstehen der Trauer, das heißt im Wahrnehmen der jeweiligen Reaktionen und Strategien, im Erkennen, welche Unterstützungsangebote im jeweiligen Moment angemessen und hilfreich sind. Die Unterstützung liegt auch im Annehmen der Tatsache, dass der Trauernde all dies in seiner Zeit, in seinem Tempo und auf seine Art tun darf: Er darf sich verweigern oder annehmen, darf stehen oder gehen, darf ängstlich oder neugierig sein. Er darf seine Trauer (er-)leben. Und die Begleitung findet ihre Aufgabe im individuell angepassten Gestalten des Begleitprozesses.

Teil A – Vom Wachsen und Werden

Selbstwerdung – Eine Reise zu sich selbst

»Es wird sich uns zeigen, daß Mensch nie ein fertiges Etwas ist, sondern daß recht eigentlich immer nur Menschwerdung geschieht.« Paul Ludwig Landsberg (1934, S. 48) Eigenständigkeit und Selbstwerdung sind Themen eines jeden Menschen, die des Trauernden jedoch insbesondere. Er ist durch eine äußerste Erfahrung zu sich selbst aufgerufen. Der Tod zwingt ihm die Frage auf: »Wer bin ich (selbst)?« In einem ersten Schritt soll die Frage gestellt werden, was Selbstwerdung für den Menschen allgemein heißt, und erst in einem zweiten Schritt soll der Frage nachgegangen werden, was der Prozess der Selbstwerdung mit Blick auf die Situation des Trauernden im Besonderen heißt. Grundsätzlich betrachtet verweist der Selbstwerdungsgedanke darauf, dass der Mensch nicht nur ist, sondern dass er gleichzeitig immer auch wird. Dies impliziert jedoch nicht, dass der Werdeprozess als einmaliges Geschehen betrachtet werden kann, das zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen ist, sondern es bedeutet, dass Selbstwerdung ein individueller Entwicklungsgang ist, der sich in der gesamten menschlichen Lebenszeit vollzieht. Im Bild gesprochen bedeutet Selbstwerdung, dass der Mensch sich auf eine Lebensreise begibt, dass

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er einen Lebensweg beschreitet, der ihn immer näher zu sich selbst führen soll. Insofern kann die menschliche Verfassung als ein »Werde-Sein« (Paul Ludwig Landsberg) beziehungsweise als ein Unterwegs-zu-sich-selbst-Sein charakterisiert werden. Der Mensch ist gewissermaßen ein Reisender, ein Wanderer – ein »homo viator« (Gabriel Marcel, 1956, S. 69). Er ist ein Wesen, das auf dem Weg zu sich selbst ist. Was aber animiert einen Menschen dazu, sich auf den Weg zu sich selbst zu machen, was ist der Motor seiner Selbstwerdungsreise? Gibt es so etwas wie einen geheimnisvollen Appell, der zu dieser Reise aufruft, und wo soll diese Reise hinführen? Was sucht der Mensch, wenn er »er selbst werden« will, und was ist das »Selbst«? Was bedeutet es, sich auf den Weg zu machen, und welche Konsequenzen bringt dies mit sich? Fragen über Fragen. Erkenne dich selbst – Werde, der du bist

Mit der Inschrift am Tempel des Apoll in Delphi »Erkenne dich selbst!« und dem antiken-orphischen Aufruf »Werde, der du bist!« werden zwei wesentliche Antriebskräfte des menschlichen Selbstwerdungsweges dargestellt. Sie fordern den Menschen auf und sie sind herausfordernd: Das »Erkenne dich selbst!« fordert zum Nachdenken auf, das »Werde, der du bist!« zum Handeln. Zusammen betrachtet fordern sie den Menschen zur reflektier­ ten Aktivität auf. Gleichzeitig ist in diesen Aufrufen auch das Ziel der »Werdereise« enthalten. Einerseits soll eine Einsicht beziehungsweise eine Erkenntnis in das eigene Selbst gewonnen werden, und andererseits soll die gewonnene Einsicht Orientierung geben und der Lebensführung – und somit dem Handeln – dienen. Beide Aufforderungen stehen in einer unmittelbaren Wechselwirkung und sind miteinander verschränkt: Selbsterkenntnis ohne Tun bleibt nutzloses Wissen, Tun ohne Selbsterkenntnis bleibt bloßer Aktionismus. Selbstwerdung voll­ zieht sich im reflektierten Tun.

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Teil A – Vom Wachsen und Werden

Das eigene Menschsein zu begreifen (und zu gewinnen), beinhaltet einen Auftrag an die eigene Lebensführung. Doch was genau bedeutet das? Die nähere Betrachtung der beiden Appelle zeigt, dass der Mensch durch den Aufruf »Erkenne dich selbst!« unmissverständlich zur Gedankenarbeit aufgerufen wird. Es ist ein Ansporn, sich auf eine denkerische Reise zu begeben, sich auf das Abenteuer Vernunft einzulassen. Sich selbst zu erkennen, bedeutet das Wagnis einzugehen, sehen zu lernen (Rainer Maria Rilke), zu sehen, was ist – unverhüllt und unverstellt, ohne Beschönigung und ohne Deckmantel: »Erkenne, dass du ein Mensch bist. Das heißt: kein Gott. Sterblich, nicht unsterblich. Gebrechlich, nicht unverletzlich. Fehlerhaft, nicht vollkommen. Ohnmächtig, nicht allmächtig. Unwissend, nicht allwissend« (Wilhelm Schmid, 2004, S. 79). Sich selbst zu erkennen und das zu sehen, was ist, ist also nicht im Sinne einer persönlichen Innenschau zu verstehen, die eine aktuelle Zustandsbeschreibung erreichen möchte, sondern dieser Appell zielt auf eine anthropologische Selbsterkenntnis des Menschen ab. Diese fordert den einzelnen Menschen dazu auf, Grenzen, Bedingungen und Möglichkeiten, innerhalb derer er zu leben hat, wahrzunehmen und zu erkennen. Eine solche Erkenntnisreise birgt Schwierigkeiten und Unwegsamkeiten in sich, mit denen der individuelle Mensch mal mehr und mal weniger gut umgehen kann. Das »Werde, der du bist!« zielt auf das Tun. Es repräsentiert gewissermaßen die ethische Seite dessen, was der Einzelne erkannt hat. Es sagt: Setze dein Leben dem Ein-Gesehenen aus und schaue, ob es dadurch ein stimmigeres Leben wird! Sei nicht nur im Denken unterwegs, sondern bewege dich im Leben: expe­ rimentiere, wage, durchleuchte, prüfe! Die eingehendere Betrachtung des Aufrufs »Werde, der du bist!« verweist auf ein dem Menschen innewohnendes Spannungspotenzial: »Werden« und »Sein«. Einerseits soll der Mensch »werden«, er soll sich entwickeln und entfalten.

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Er ist nicht fertig, sondern er befindet sich – zu jedem Zeitpunkt seines Lebens – in einem unvollendeten Zustand. So spricht Rainer Maria Rilke: »Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.« Und andererseits soll er der werden, der er ist. Der Mensch scheint demnach etwas in sich zu bergen, das es zu entdecken beziehungsweise zu erkennen gilt. Der orphische Appell weist darauf hin, dass Leben Bewegung und Veränderung bedeutet, dass der, der lebendig lebt, sich immer und immer wieder wandelt. Sich bewegen, sich verändern heißt, dass der Mensch sich in bestimmten Situationen seines Lebens nicht als fertiges Sein wahrnimmt, sondern dass er sich als ein Werden, als ein Mensch mit ausstehender Zukunft versteht, eine Zukunft, auf die hin er sich entwickeln kann und soll. In diesen Ausführungen wird deutlich, dass die beiden Appelle aufeinander verweisen und in einem zwingenden, unaufhebbaren Zusammenhang stehen: »Erkenne dich selbst und werde in diesem Erkennen, der du bist!« Dieser Zusammenhang lässt sich bereits in der platonischen Philosophie ausmachen: Erkenne dich selbst und tue das Deine! Selbst und Ich – Musik und Pianist

Immer wieder wurde nun das Stichwort Selbst genannt. Doch was ist das eigentlich, das Selbst? Welches Verständnis haben wir vom Selbst? Was bedeuten Sätze wie »Ich kenne mich selbst nicht wieder«, »Ich will zu mir selbst finden«? »Ich habe mich selbst verloren?«, »Ich bin mir selbst untreu geworden«? Was verbirgt sich hinter solchen Aussagen? Zunächst ist das Selbst ein diffuses Phänomen, von dessen genauer Bedeutung wir kein konkretes Wissen haben. Am ehesten können wir uns vielleicht der Bedeutung des Selbst nähern, wenn wir es anhand seines Mitspielers, dem Ich, zu erschließen versuchen.

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Teil A – Vom Wachsen und Werden

Dazu zwei Bilder: Stellen wir uns zunächst einmal das Ich als einen Pianisten an einem Flügel vor und das Selbst als die ganze Musik, die je schon gemacht worden ist und noch gemacht werden kann. Wenn wir das Ich im Bild des Pianisten visualisieren, müssen wir jedoch gleichzeitig mitdenken, dass sich der Pianist selbst letztlich aus Akkorden, aus Klängen, aus Tönen der ganzen Musik entwickelt hat. Blicken wir nun einmal näher auf das Ich und das Selbst. Das Ich (das ja streng genommen selbst Musik ist – wenn auch nur ein kleiner Teil der ganzen möglichen Komposition) ist nur in der Lage, die Töne zu spielen, die ihm vertraut, geläufig und abrufbar sind. Vieles hat das Ich vergessen, manche Töne kennt es noch nicht und bei den meisten weiß es gar nicht, dass es in der Lage wäre, sie zu Musik – zum Leben – zu erwecken, würde es sich nur trauen. Jedes Ich, also jeder einzelne Mensch, hat seine eigene biographische Musikgeschichte. Die meisten von uns spielen jedoch nur wenige Töne, so dass die gesamte Klaviatur beziehungsweise das ganze musikalische Spektrum nie genutzt wird. Bleiben wir in der bildhaften Betrachtung, dann dürfen wir das Selbst als das im Menschen schlummernde, vergessene und (noch) unentdeckte Potenzial beschreiben. Das Selbst ist vor allem die Musik, die noch nie gemacht wurde, aber erklingen würde, wenn wir alle Töne entdecken könnten. Es ist das, was noch aussteht und wozu wir uns – wenn der Ruf an uns ergeht – sozusagen aufmachen können. Versuchen wir nun dieses erste Bild zu Ich und Selbst zu übersetzen. Das Ich ist das Sein im Menschen, das sich selbst erfasst und sich auf sich selbst zurückbeziehen kann (»Ich bin es, der diese Musik macht«). Es ist die treibende Kraft im Menschen, die sich selbst zu erhalten sucht, über integrative Fähigkeiten verfügt und dabei Struktur und Ordnung im eigenen Dasein schafft (»Ich lasse die Musik nicht verklingen, ich ordne die Töne nach der Melodie, die mir vertraut ist«).

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Das Selbst hingegen ist weit mehr. Es ist einerseits das Ganze dessen, was jeder einzelne Mensch war, was er ist und was er sein kann. Andererseits ist das Selbst das Besondere und Einzigartige, es ist das, was den einzelnen Menschen von jedem anderen unterscheidet (denn jeder Mensch hat sein individuelles und unverwechselbares Spiel). Das Phänomen Selbst ist also geprägt durch zwei Facetten: das Ganze und das Besondere. Totalität und Allumfassendheit, Eigenheit und Individualität. Es verweist darauf, dass wir unverwechselbar, einzigartig und einmalig sind (»Dieses Spiel kannst nur du so spielen«). Was bedeutet diese Erkenntnis nun für den Prozess der Selbstwerdung? Selbstwerdung bedeutet, im Laufe seines Lebens immer mehr mit sich in Kontakt zu kommen. Es bedeutet, dass das »Ich« sich immer mehr in Richtung Ganzheit und Besonderheit zu entwerfen versucht. Das Selbst ist also weder Gegenständliches noch Zustand, sondern es scheint als etwas Eigenständiges und Dynamisches auf. Wir können es vielleicht an dieser Stelle als Quelle und Ziel der individuellen Menschwerdung bezeichnen. Der Mensch ist in der Regel bestrebt, wenn er den Appell zur Selbstwerdung (in den vorher beschriebenen »Unruhig-Phasen«) vernimmt, sein Selbst immer mehr zu erhellen, das Erhellte in sein Ich zu integrieren (dieses also zu weiten und zu tiefen), um aufmerksamer, wacher, lebenszugewandter, vertiefter, ja vielleicht sogar lebensfreudiger zu leben. Ein Mensch, der sich (beabsichtigt) auf die Reise macht, selbst zu werden, erlaubt sich, das zu sehen, was ist, und bemüht sich in bewusster Weise darum, den vielfältigen Verschleierungs- und Verdrängungstendenzen entgegenzuwirken. Das scheint auf den ersten Blick sowohl einfach als auch plausibel, und doch ergreift den Menschen häufig eine Scheu, dem Appell zur Selbstwerdung zu folgen. Was hindert ihn daran? Welche Motive liegen diesem Verhalten zugrunde? Warum fällt es dem Ich oft so schwer, sich zu öffnen und zu weiten?

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Zuvor wurde gesagt, dass das Ich geprägt ist von der Bestrebung zur Integration. Aber dies ist nur eine Seite der Ich-Bewegung. Das Ich hat auch eine andere Seite, nämlich das Bestreben, sich vor Auflösung und Auslöschung zu schützen. Jedes Ich möchte sich bewahren und erhalten. Versuchen wir diese Seite des Ichs in ein zweites Bild zu bringen, dann könnte das Ich als eine Art Trutzburg (Eduard Zwierlein) erscheinen, als ein Schutz gegen das, was von außen, als (Zer-)Störungstendenz, auf das Ich einströmt. Was ist der Grund für dieses Sicherungsstreben? Das Ich hat Angst. Es fürchtet sich vor Desorganisation, vor Verletzung, es fürchtet sich vor dem Tod und will sich vor jeder Form von Zusammenbruch bewahren. Die Befürchtungen des Ichs sind dergestalt, dass der Mensch sich unbewusst sagt: »Ich muss aufpassen, dass mir nichts passiert, dass ich nicht verunglücke, dass ich nicht sterbe« und so weiter. (In der Praxis heißt dies, ich passe auf, wenn ich die Straße überquere, ich baue das Haus so, dass mir nicht das Dach auf den Kopf fällt, ich gehe zum Arzt, wenn ich krank bin etc.) Das heißt, in jedem einzelnen Erleben des Menschen ist seine fragile und mortale Struktur als eine Struktur des Selbstschutzes, als eine Struktur der ihm innewohnenden Lebens(ver)sicherung wirksam. Das Sicherungsstreben des Ichs speist sich aber auch aus immanenten Befürchtungen, die signalisieren: »Menschen sollen nicht einfach in mich eingreifen und mich verletzen können, auf welche Art auch immer.« Das Ich funktioniert – in diesem Bild gesprochen – als Schutzwall, der eine Art Bewahrung, eine Art Selbsterhaltung zur Sicherung seiner Machtansprüche übernimmt. Indem das Ich im physischen und psychischen Sinn Gegenwehr leistet, können wir es auch als eine psychosoma­ tische Trutzburg bezeichnen, die immer die latente Tendenz zum Abbruch von Verbindung und damit von Beziehung in sich birgt. Und doch hat das Ich – bei allen Bewahrungs- und Sicherungsabsichten – zugleich die Tendenz, über seine Begrenzungslinien

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hinauszugehen. Es will bewahren und steigern. Es will sich entgrenzen, will die Verteidigungslinien sprengen, will sich weiten (zum Beispiel in der Liebe). Es versucht in Verbindung, in Berührung – mit sich selbst und mit anderen – zu kommen. Es versucht Beziehungen aufzubauen und Kontakt aufzunehmen. Das Ich erkennt auf eine ganz spezifische Art und Weise, dass es in Relation zu etwas anderem steht, dass es mit diesem Anderen, diesem Fremden in Verbindung kommen muss, um zu wachsen, um selbst-sicher zu werden, um – im weitesten Sinne – eins zu werden. Ich und Selbst sind also keine nebeneinander stehenden Wesenselemente, sondern jedes kann nur in Verbindung mit dem anderen geweitet und erhellt, also zum Leben erweckt werden. Dies wirft weitere Fragen auf: Wie gelingt es dem Menschen, mit seinem Stil, mit seinem Anderen, mit seinem Selbst in Kontakt zu kommen? Wie kann er mit sich selbst eins werden? Wann vernimmt der Mensch die Aufforderung zur Selbstwerdung? Sind dies Appelle, die ihn fortwährend begleiten, die er immer wieder wahrnimmt und denen er regelmäßig oder beständig seine Aufmerksamkeit schenkt? Oder erreicht ihn das Rufen vielmehr nur dann, wenn alles andere schweigt, wenn die Betriebsamkeit und Geräuschkulissen des Alltags verstummen, weil etwas so Unfassbares – wie zum Beispiel der Tod eines nahestehenden, eines geliebten Menschen – geschehen ist? Ist es die dann über ihn hereinbrechende (Todes-)Stille, die hellhörig macht? Grundsätzlich gilt für jeden einzelnen Menschen zu jedem Zeitpunkt seines Lebens der Appell, sich selbst zu erkennen und der zu werden, der er ist. Jeder Mensch ist jederzeit aufgerufen, sich der Aufgabe seines wachsenden Werde-Seins zu stellen, das heißt, sich in Richtung (s)einer Ganzheit und Einheit zu entwickeln. Diese Aufgabe in ihrer tiefen Bedeutung wahrzunehmen, ihr nachzukommen, fällt dem Menschen im geregelten und geordneten Dasein nicht immer leicht. Er lebt sein Leben

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in einer mehr oder weniger unhinterfragten Naivität, die ihm suggeriert, dass alles so ist, wie er es sieht, interpretiert und einordnet. Er hört nur die Fragen, auf welche er imstande ist, eine Antwort zu finden. Sich auf seine eigene Weise wohl und aufgehoben fühlend, lebt er in einer Art naiven Kindheitsvertrauens vor sich hin. Funktionierend, planend und organisierend, wiegt er sich – eingebunden in einen Zustand der Routine, Gewohnheiten und Ablenkungen – in einer scheinbaren Daseinssicherheit und entfremdet, entfernt sich dabei – ohne dies bewusst wahrzunehmen – von sich selbst. Sich von sich selbst entfremden und entfernen geschieht immer dann, wenn die Ich-Bewegungen starke Tendenzen zum Bewahren und Erhalten oder zum Steigern und Entfalten entwickeln. Hierdurch wird der Bewegung des Ichs als treibender Kraft, die das In-Kontakt-Treten ermöglicht, entgegengewirkt. Der Mensch wird sich selbst fremder – wird sich ein Fremder –, jedoch ohne dies zu bemerken und ohne sich selbst in Frage zu stellen. Sich selbst in Frage stellen, sich selbst zur Frage werden, das ereignet sich erst dann, wenn der Mensch seine Selbst-Verständlichkeit(en) verliert, wenn er nicht mehr versteht, was oder wer er selbst ist. Wenn er sich bewusst und voller Ratlosigkeit die Frage stellt: »Wer bin ich (eigentlich)?« Ein solches Sich-in-Frage-Stellen geht vielfach mit dem Erleben einer existenziellen Krise beziehungsweise mit dem Eintreten in eine Grenzsituation einher. Grenzsituationen setzen die Regelhaftigkeit des Alltages außer Kraft und lassen das, was vorher sicher und haltgebend war, im Nebel des Nichtwissens verschwinden.

Grenzsituation Tod – Ein geliebter Mensch stirbt  

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Grenzsituation Tod – Ein geliebter Mensch stirbt »Obwohl mein Mann älter war als ich und die Statistik einem Überleben seinerseits widersprach, haben wir gelebt als wären wir von der Ewigkeit geküsst worden  … und das, obwohl ich seit Jahren sterbende Menschen im Hospiz begleite. Ich stehe morgens auf und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich kenne mich einfach nicht mehr aus« (Ingrid H., 58 Jahre, ehrenamtliche Hospizmitarbeiterin, fünf Monate nach dem Tod ihres Mannes).

Einen geliebten Menschen durch den zu Tod verlieren, ist ein solch krisenhaftes Lebensereignis, ist eine Grenzsituation (Karl Jaspers) für den, der zurückbleibt. Sie setzt den Zurückbleibenden einer schmerzhaften Erfahrung aus, die den Verlust der bisherigen Selbst-Verständlichkeit in aller Härte und Unausweichlichkeit demonstriert. Durch die Konfrontation mit der Grenzsituation Tod wird der Zurückbleibende aus seinen tragenden Bezügen herausgerissen und muss in bestürzender Deutlichkeit erfahren, dass das bislang für nicht möglich gehaltene – nämlich der Tod des geliebten Nächsten – zur unentrinnbaren Realität geworden ist. »Er ist tot!« Das bis zu diesem Zeitpunkt Selbstverständliche und Vertraute hält und trägt nicht mehr. Der vordergründige Halt an äußeren Lebensbedingungen – die ihm bis zu diesem Zeitpunkt gleichermaßen Boden und Ziel waren – ist zerbrochen. Der Hinterbliebene findet sich auf unmittelbare Weise in die Situation hineingestellt, die zuvor erlebte Wirklichkeit mit ihren konstitutiven Strukturen, die ja den Kern seiner Erfahrung bilden, anzweifeln zu müssen. Der Tod des Nächsten reißt den Zurückbleibenden aus dem Alltags(er)leben heraus und führt ihn in unbekannte Grenzbereiche. Nicht jeder Zurückbleibende erfährt und erlebt diesen (Zer-) Bruch in gleicher Weise als etwas Bedrohliches, als etwas das bis-

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herige Leben Zerstörendes, doch der, der angesichts des Todes die eigene Schwäche und die damit einhergehende Ohnmacht erfährt, der vom Tod eines nahestehenden Menschen im Inneren berührt wird, der wird auf eigentümliche Weise hellhörig für existenzielle Fragen und die Rufe zur Selbstwerdung werden. Der Zurückbleibende kann auf diese Hellhörigkeit unterschiedlich reagieren. Er kann seine Ohren (wieder) vor ihr verschließen und versuchen, sein Leben in alter und gewohnter Weise fortzusetzen. Die Mahnungen »Erkenne dich selbst!«, (»Schaue genau in dich hinein, sehe dich, wie du bist, nehme deine blinden Flecken wahr!«) und »Werde, der du bist!« (»Werde, der du noch nicht bist!«, »Nimm den wahr, der du schon einmal warst«), die er vielleicht schwach vernommen hat, werden dann immer mehr verblassen. Der Mensch wird sein Leben weiterleben und versuchen so zu tun, als wäre nichts gewesen – obwohl sich doch alles verändert hat. Viele Trauernde spüren noch nach Jahren einen inneren Widerstand gegen den neuen Zustand oder eine Form von Passivität, die sie am neuen Lebensentwurf hindert. »Als mein Mann starb, konnte ich es kaum glauben. Doch das Leben muss weitergehen. Ich will mich nicht hängen lassen. Ich mache halt immer weiter und irgendwie geht es auch« (Doris L., 74 Jahre, 13 Monate nach dem Tod ihres Mannes).

Der Zwang der Krise kann jedoch so stark sein, dass der Trauernde hinhört, dass er sich nicht der Grenzsituation verschließt, sondern wach wird. Wach werden bedeutet in diesem Fall, auf eine erschütterte Weise bewegt zu werden, sich selbst wahrzunehmen und sich selbst zu erkennen. Grenzsituationen dienen somit der Wirklichkeitserschließung. Sie zwingen zu neuem Sehen, zu einem Sehenlernen, das immer tiefer geht und ein Inneres entdecken lässt, von dem man nichts wusste (Rainer

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Maria Rilke). Sie lassen den Menschen auf schmerzhafte Weise erfahren, dass Selbstwerdung wesenhaft an der Grenze geschieht. Sie bewirken, dass der Mensch sich entscheiden muss. Entweder versucht er – wie oben beschrieben – sein Leben trotz des Erfahrenen so weiterzuleben wie bisher oder er versucht, aus dem Wahrgenommenen Einsichten zu gewinnen, zu sehen, zu erkennen, um so den – wenn auch zutiefst schmerzhaften – Weg des »Werde, der du bist« zu gehen. Grenzsituationen rufen den Menschen – und hier speziell den trauernden Menschen – zu einem bewussten inneren Tun auf, zu einem Tun, das ihn befähigt, aus einem Vorher in ein Nachher, aus der Vergangenheit in (s)eine – wenn auch manchmal kaum vorstellbare – Zukunft zu treten. Entsprechend können wir sagen, dass Grenzsituationen Wachmacher sind, dass sie den Menschen aufwecken, seinen Blick für das Wesentliche und Echte schärfen, für das, worauf es (ihm) wirklich ankommt. Der Trauernde hat angesichts des erlittenen Verlustes die Möglichkeit, sein Leben neu zu deuten und zu sich selbst – zu seinem noch unbestimmten, möglichen Selbst – durchzudringen. »Meine Mutter starb, als ich 32 Jahre alt war und gerade ein Baby bekommen hatte. Mir wurde in dem Spagat zwischen Abschied und Ankunft klar, dass ich jetzt für meinen Sohn die Mutter bin, die er irgendwann verlieren kann. Das hat mich auf besondere Weise bewegt, ihm eine gute Mutter zu sein und alles in das Jetzt zu geben und nicht auf ein Irgendwann oder Später zu verschieben« (Frida V., 44 Jahre, 12 Jahre nach dem Tod ihrer Mutter).

Der Weckruf, der durch die Konfrontation mit dem Tod ertönt, wird dem Zurückbleibenden zum Impuls, sich auf den Weg zu machen und Trauerarbeit zu leisten. Der Weg, den er nun geht, ist sein Weg der Selbstwerdung, die Arbeit, die er dabei leistet,

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ist seine Trauerarbeit. Sich auf den zu Weg machen und Trauerarbeit zu leisten, bedingen einander. Zu sich selbst erwachen, aufbrechen und auf die Reise gehen, bedeutet, aktiv zu werden und aus der Naivität der unbewussten Unsterblichkeits­ illusion sowie aus den zu Fesseln gewordenen Alltagsantworten herauszutreten. Es bedeutet, die Fragen, die sich mit und in dem erlebten Tod des geliebten Menschen aufdrängen, zu hören und sich ihnen zuzuwenden. Es bedeutet, sowohl veränderte innere als auch äußere Einsichten zu erlangen und sie zuzulassen. Es bedeutet, mit diesen schmerzhaft gewonnenen Einsichten neue Schritte ins Leben zu wagen und einen Weg zu gehen, auf dem das bisherige Selbst- und Weltverhältnis neu strukturiert, geordnet und definiert wird. Es bedeutet, dem Bisherigen, dem Gewesenen, einen neuen Platz einzuräumen, neue Sinnstrukturen zu erschließen und neue Zukunftsperspektiven zu entwickeln.

Wer bin ich?

Doch wie kann der trauernde Mensch sich auf die ausstehende Zukunft hin entwickeln, wo er diese doch gerade mit dem geliebten Menschen »begraben« hat? Wie kann er aktiv werden, wo er doch glaubt, nur noch »hälftig zu leben«? (Augustinus). Wie kann der Mensch wissen, wer er ist, wo er sich doch selbst gerade verloren hat, und welche Konsequenzen hat dies für seine gegenwärtige und zukünftige Lebensführung? Wie soll er der werden, der er ist, wo er sich doch angesichts des Todes seines Nächsten selbst zur großen Frage – zur magna quaestio (Augustinus) – wurde? Das Aufbrechen dieser Fragen ist Ausdruck eines peinigenden, schmerzhaften Irritationsprozesses. Bisher gegebene, für gültig erachtete (Lebens-)Antworten werden verworfen oder in Frage gestellt.

Wer bin ich?  

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»Bevor mein Mann starb, hatten wir Pläne. Diese waren konkret. Wenn er in den Ruhestand geht, dann ziehen wir zu unserem Sohn und seiner Familie nach Bayern. Wir wollten Vollzeit-Opa-undOma werden. Dann starb er. Für mich allein ist dieser Plan nicht mehr gültig. Ich will mich nicht zumuten. Will erst wieder Klarheit für mich und mein Leben erlangen« (Cordula M., 59  Jahre, zehn Monate nach dem Tod ihres Mannes).

Der betroffene Mensch wird von einer nicht zu beruhigenden Unruhe heimgesucht, in der sich ihm die Frage aufdrängt: »Wer bin ich?« Ein Mensch, der sich selbst als »magna quaestio« begreift, erkennt, dass er nicht nur Fragen aufwirft und Fragen hat, sondern er entdeckt darüber hinaus, dass er als Mensch eine Frage ist (Eduard Zwierlein, 2013). Er muss sich, will er in Bewegung und im Werden bleiben und nicht in der trügerischen Ruhe von Resignation, Ersatzhandlungen oder konstruierten Sicherheiten verhaftet bleiben, der Erkenntnis stellen, dass er als Mensch nicht alles, was er ist, in ein helles, ihn ganz und gar zur Betrachtung bringendes Licht stellen kann. Es ist die Aufgabe zu akzeptieren, dass immer etwas von ihm im Dunkeln und Verborgenen bleibt, dass für alle Zeit ein Rest von Intransparenz, also Nichtwissen fortbestehen wird. Und genau dieses Nichtwissen wird ihn immer wieder auf die Suche schicken und weiteres Wachsen und Werden überhaupt erst möglich machen. Obwohl diese Forderung im ersten Moment unbefriedigend und kaum bewältigbar anmutet, ist – und bleibt – sie der Schlüssel zur Selbstwerdung. Denn ein Mensch, der sich nicht als ein durchschaubares und erklärtes Wesen betrachtet, wird die aufbrechenden Fragen hören und sich für den Gedanken öffnen, dass er möglicherweise mehr oder anders ist, als er bisher geglaubt hat, dass er ein Inneres hat, von dem er bisher nichts wusste. Immer wieder hören wir in der Begleitung von Trauernden: »So bin ich eigentlich gar nicht.« »So kenne ich mich gar

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nicht.« »Ich bin mir selbst so fremd.« »Manchmal machen mir meine eigenen Reaktionen Angst.« Ein Mensch, der diese Fremdheit wahrnimmt, wird sich als Suchender begreifen, dessen Aufgabe darin besteht, sich auf den Weg zu machen, um das Geschehene zu realisieren, es wahrzu­ nehmen, zu erkennen, den Verlust und die Situation mit all ihren Facetten anzunehmen, sich der Auseinandersetzung mit den eigenen existenziellen Fragen zu stellen und der zu werden, der er ist: Er wird sich selbst gestalten, sich selbst eine Gestalt geben. In diesem Realisierungs- und Werdeprozess, der schwere innere (Trauer-)Arbeit bedeutet und in immer erneuten Anläufen verwirklicht werden muss, begegnet der Trauernde den vier Gestalten des Wachstums- und Werdeprozesses, den Werdeschritten: Wahrnehmen, Erkennen, Annehmen und Gestalten. Wenn wir nun im weiteren Verlauf die Trauerarbeit, die der Hinterbliebenen leistet, in ihrer Prozesshaftigkeit nachzeichnen und entfalten wollen, so muss deutlich sein, dass diese keinesfalls nach den Gesetzen der Linearität verläuft. Die innere Arbeit des Trauernden ist kein einmaliges Durchlaufen von Stufen, die von der Wahrnehmung über die Erkenntnis zur Annahme und schließlich zur Ergreifung, zur Gestaltung seines Selbst abgearbeitet werden können. Trauer ist nicht etwas, das entweder immer anwesend oder immer abwesend ist. Das schmerzhafte Trauerempfinden kann jederzeit zurückkehren, wieder eine krisenhafte Situation auslösen und den Trauernden zur erneuten Auseinandersetzung aufrufen. Trauer muss deshalb verstanden werden als ein gleichzeitig kontinuierliches und wiederkehrendes Werdegeschehen in der Zeit, das spezifische Werdeschritte enthält, deren jeweilige Aufgaben ineinander verzahnt sind und die im großen Sinnzusammenhang des Wachsens und Werdens stehen. Der Werdeprozess, die Werdeschritte werden hier aktiv ausgelöst durch die Grenzsituation Tod. In der Konfrontation mit dem Tod des gelieb-

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ten Menschen wird der Hinterbliebene dazu aufgerufen, er selbst zu werden. Wie sollen wir uns nun dieses Wachsen und Werden in der Trauer vorstellen? Welche Aufgaben liegen den einzelnen Werdeschritten zugrunde, sind ihnen innewohnend? Und wie ist das Zusammenspiel dieser Schritte zu verstehen? Gesagt wurde bisher, dass Trauer kein einmaliges, sondern ein prozesshaftes Geschehen in der verstreichenden Zeit ist, das gleichzeitig kontinuierlich und wiederkehrend verläuft. Der Trauernde ist letztlich immer wieder aufs Neue dazu aufgerufen, dem Schmerz, der Ratlosigkeit und der Ohnmacht nicht auszuweichen, sondern sich Mal um Mal bereit zu zeigen, in die Risiken und Gefahren der krisenhaften Grenzsituation hineinzugehen und sich wieder und wieder mit dem Grenzweg auseinanderzusetzen. In der bewussten Entscheidung kann er den Aufrufen »Erkenne dich selbst!« und »Werde, der du bist!« nachkommen und so zur gesteigerten Selbstwerdung erwachen. Selbstwerdung als verwandelnder, transformierender Prozess geschieht durch Entscheidungen. »Der Mensch wird, er erwirbt sich durch seine Entscheidungen« (Jaspers, 1948a, S. 13). Wichtig ist uns an dieser Stelle zu betonen, dass es kein Richtig oder Falsch auf diesem Werdeweg gibt. Jeder Mensch geht seinen individuellen Weg. Vieles geschieht bewusst und vieles geschieht unbewusst. Uns ist es nicht daran gelegen zu bewerten, sondern den Verstehenskontext für den komplexen Trauerprozess zu fördern und damit individuelle Begleitung zu ermöglichen.

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»Werde, der du bist« – Trauerarbeit, Traueraufgaben, Werdeschritte

Trauer ist kein statischer, unveränderbarer durch das Leid festgeschriebener Zustand, der mit den Flügeln der Zeit davonfliegt, wie es der Dichter Theodor Fontane beschreibt. Trauer ist ein individuelles Geschehen, ein dynamischer Prozess, der sowohl lähmende als auch kraftvolle Dimensionen aufweist, der viele Gesichter hat und für den Trauernden harte innere Arbeit bedeutet, die ihn nicht selten bis an den Rand physischer und geistiger Erschöpfung führt. Einen nahestehenden Menschen durch den Tod zu verlieren, bedeutet für den Hinterbliebenen einerseits das passive Erdulden eines unabänderlichen Schicksals und andererseits verlangt ihm der Trauerprozess ein hohes Maß an Entscheidungen und aktivem Handeln ab. Im Klartext heißt dies: Der Trauernde ist dem Geschehen selbst passiv ausgesetzt und muss gleichzeitig aktiv darauf reagieren. Eine ungeheure kräftezehrende Leistung, die ihm da abverlangt wird. Viele Trauernde empfinden es, als ob das bisherige und bekannte Dasein aus den Fugen gerät, der Lebensweg ziellos scheint und die Ablösung vom Verstorbenen als eine Verflüchtigung der eigenen Identität ins Nichts empfunden wird. Die Aussagen vieler Trauernder »wer bin ich eigentlich?«, »ich kenne mich selbst nicht mehr« oder der Verzicht auf das Wörtchen »ich« und anstelle davon der häufige Gebrauch des Pronomens »man« sind Ausdruck dieser Identitätsverflüchtigung. »Man kommt nach Hause und ist so allein.« Nie wieder kann man zusammen spazieren gehen.« Jeden Morgen muss man das Frühstück allein einnehmen.« Die mit dem Verlust einhergehende seelische Erschütterung zwingt den Hinterbliebenen über kurz oder lang zu einer unabweisbaren Auseinandersetzung mit seiner Trauer. Sie zwingt ihn zur Trauerarbeit. Dabei begegnen dem Trauernden immer wie-

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der Aufgaben, die ihm oft im Gewand einer Prüfung erscheinen und denen er sich stellen muss. Diese Aufgaben werden nicht etwa als Anforderungen anderer von außen an den Trauernden herangetragen, sind also nicht zu verwechseln mit den unzähligen »du musst« und »du solltest« und »mach doch einfach mal«, die ein Zurückgebliebener tagtäglich zu hören bekommt. Diese Aufgaben wohnen der Trauer selbst inne und entsprechen in der Regel dem verzweifelten – oft unbewussten – Wunsch, einen eigenen Umgang, mit dem erlittenen Verlust zu finden, um in dieser fremden Welt mit dem Verlust und ohne den anderen überhaupt verweilen und auch wieder Fuß fassen zu können. Sich immer wieder aufs Neue den unzähligen, teils kräftezehrenden Aufgaben zu stellen, bedeutet Schritt für Schritt einen neuen (Lebens-)Weg entstehen zu lassen. Dieser Weg ist nicht vorgezeichnet und muss nur aufgefunden werden, sondern der Trauernde selbst ist Autor und Gestalter seines eigenen Trauerweges. Einem solchen Wegbild liegt zwangsläufig das Verständnis zugrunde, dass der Trauernde die Neuschaffung von Struktur und Ordnung und Sinn, die aufgrund dieses Verlustes notwendig geworden ist, niemals auf einen Schlag, sondern immer nur schrittweise leisten kann. Während des gesamten Trauerprozesses ist Trauer nicht entweder anwesend oder abwesend, sondern Trauer ist mal mehr da und Trauer ist mal weniger da. Trauer ist mal sicht- und fühlbar und mal unsichtbar und fühllos. Und in dieser ganzen Unbeständigkeit ist sie auch noch völlig unberechenbar. Es gibt keine festen Trauerzeiten, auf die sich der Trauernde einstellen kann. Es gibt keinen terminierten Trauerfeierabend, der einem die Möglichkeit zum entspannten Zurücklehnen lässt. Trauerarbeit leisten heißt, dass sich Zurückbleibende oft vor unlösbare Aufgabe gestellt sehen: Das, was war, will er (be-)halten, er will es wiederhaben; das, was noch nicht ist, kann er sich kaum oder gar nicht vorstellen. Er ist ein Zwischenwesen in einem unbe-

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kannten Land. In diesem Zwischenland findet eine innere Zerrüttung oder, wie es eine Trauernde einmal selbst ausdrückte, ein Seelenbeben statt.

Die Werdeschritte des trauernden Menschen

Trauerarbeit bedeutet letztlich, dass der Trauernde im Angesicht des erlittenen Verlustes schrittweise zu sich selbst erwacht, wenn auch nur zu einem noch unbestimmten, nur möglichen – noch in der verdunkelten Zukunft liegenden – Selbst. Die Schritte, die auf diesem Werdeweg gegangen werden, sind die des Wahrneh­ mens, Erkennens, Annehmens und Gestaltens. Diese vier Werdeschritte können auch als wiederkehrende Aufgaben, die dem Trauerprozess innewohnen, bezeichnet werden. Sie enthalten die implizite Forderung, das Geschehene wahrzunehmen, es schrittweise zu realisieren, den erlittenen Verlust, die daraus hervorquellende Trauer sowie die damit einhergehenden Veränderungen zu erkennen, sie anzunehmen, um schließlich sowohl sich selbst als auch das eigene Leben neu zu gestalten. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Für viele Trauernde ist das Wegräumen von Gegenständen, die an den geliebten Menschen erinnern, ein leidvolles Thema. So werden die Schuhe des verstorbenen Ehemannes, die noch immer im Flur stehen, wahrgenommen. Dringt dieses Wahrnehmen ins Bewusstsein so könnte die Erkenntnis aufflackern: »Diese Schuhe werden jetzt für immer hier stehen. Sie werden nie mehr von ihm getragen werden. Er ist tot.« Zu dieser gewonnenen Erkenntnis muss sich die Hinterbliebene verhalten. Sie kann jetzt sagen: »Ich lasse sie stehen« (vielleicht geschieht ja noch ein Wunder, ich kann sie nicht wegräumen, denn dann wird es wahr, dass er tot ist …), oder sie begreift: »Er wird nicht wiederkommen, das ist so und ich muss mich entscheiden, was ich damit tue.« Hier liegt die

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Annahme der Gegebenheit und daraus kann dann das Gestalten geschehen. Entweder das bewusste Wegräumen oder das bewusste Stehenlassen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Werdeschritte permanente Begleiter des Lebensweges und so auch des Trauerweges sind. Im Folgenden werden die vier Werdeschritte der Trauerarbeit einzeln betrachtet. Bei dieser schrittweisen Betrachtung ist es erstens wichtig zu wissen, dass diese zu keinem Zeitpunkt rein oder isoliert vorkommen, und zweitens muss deutlich sein, dass beim Fokussieren auf einen dieser Schritte die anderen sich nicht auflösen, sondern sie sich gewissermaßen für den Moment aus dem Betrachtungshorizont zurückziehen. Wir Menschen durchlaufen diese Werdeschritte permanent und unser ganzes Leben lang. Immer wieder in unzähligen Situationen. In der existenziellen Krise jedoch gelangen sie dem Menschen in ihrer fordernden Intensität zur Bewusstheit.

Wahrnehmen und Sehenlernen – diffuser Nebel

Jeder Mensch nimmt in jedem Moment seines Lebens unzählige Dinge wahr. Was wahrgenommen wird und worauf dann schließlich reagiert wird, hängt immer davon ab, was dem Wahrnehmenden gerade wichtig ist. Das unwichtig Erscheinende erzeugt keine Resonanz, keinen Anklang und keinen Widerhall. Es bleibt unbemerkt im Gleich-Gültigkeitsfluss, zieht vorüber und gelangt nicht ins Bewusstsein und somit nicht in die Erkenntnis. Das ihm Wichtige wird jedoch aus dem Fluss der Gleich-Gültigkeit herausgefiltert. Der geschätzte Leser kann sich dies vielleicht dadurch verdeutlichen, indem er sich vorstellt, mit zehn Menschen für die Dauer von zehn Minuten an einem See zu sitzen. Lässt man diese zehn Menschen anschließend diese Zeitsequenz berichten mit der Frage »Was haben Sie wahrge-

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nommen?«, wird schnell deutlich, dass die Wahrnehmung selektiv und sehr unterschiedlich ist. Für jeden wird etwas anderes wichtig und herausragend sein. Stirbt nun ein nahestehender Mensch, ist es Aufgabe des Zurückbleibenden, sowohl das Verlorenegangene als auch sich selbst angesichts des erlittenen Verlustes in den Blick zu nehmen, also wahrzunehmen. Wahrnehmen verlangt in diesem Zusammenhang eine zweifache Blickrichtung. Einerseits muss der Blick nach außen auf das veränderte Leben und das Verlorengegangene und andererseits nach innen, auf das eigene verletzte und verflüchtigte Ich gerichtet werden. Eine fast unlösbar anmutende Aufgabe: Es soll etwas in den Blick genommen werden, das gerade jetzt, gerade in diesem Moment des großen Verlustes, gar nicht mehr zu existieren scheint. Andersartigkeit, Fremdheit, Unbekanntheit und Rätselhaftigkeit sind vorherrschende Gefühle. Nicht nur in Bezug auf das, was dem Trauernden widerfahren ist, sondern vor allem auch in Bezug auf die eigenen Reaktionen und darauf, dass er es selbst ist, dem dieser Verlust widerfahren ist. Trauernde haben Angst vor der Leere, die sie angähnt, und oftmals verfügen sie auch gar nicht über die Kraft, sich selbst anzuschauen und ihr verletztes Selbst, das wie eine Wunde erscheint, wahrzunehmen. Wenn hier von Wahrnehmung gesprochen wird, ist es deshalb notwendig, zunächst mit einem Paradoxon zu beginnen, nämlich damit, dass der Trauernde sich erst einmal gar nicht selbst als den, dem dieses Schicksal widerfahren ist, wahrnehmen kann. Sich nicht selbst wahrnehmen können

Ein Mensch, der (s)ein geliebtes Du durch den Tod verloren hat, kann diesen unwiderruflichen Verlust im ersten Augenblick gar nicht mit sich selbst in Verbindung bringen. Es ist für ihn unvorstellbar, dass der, mit dem er in Liebe verbunden ist,

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nicht mehr ist, dass er niemals mehr wiederkehrt. So kann der Zurückbleibende angesichts der Nachricht vom Tod des geliebten Menschen oder angesichts seines Leichnams das Geschehen zunächst nur negieren: »Das kann doch nicht wahr sein«, »Das glaube ich nicht«, »Da muss ein Irrtum vorliegen«, »Wie kann das wahr sein, ich habe doch heute Morgen noch mit ihm gesprochen«. In diesen Empfindungen des Zurückbleibenden offenbart sich (s)eine tiefe Furcht, die unaussprechlichen Worte und die damit verbundene Tatsache »er ist tot«, »er lebt nicht mehr«, »er kommt nie mehr wieder« wirklich zuzulassen. Erst wenn der Zurückbleibende diese schreckliche Wahrheit selbst formuliert und ihr mit Hilfe seiner Sprache eine zumutbare Gestalt verleiht, kann er in einem ersten Schritt die unfassbare Tatsache wahrnehmen und zumindest für diesen ersten Moment realisieren, dass der geliebte Mensch wirklich und wahrhaftig gestorben ist: dass er nicht mehr lebt, nicht mehr lacht, nicht mehr weint, nicht mehr atmet, nicht mehr spricht. So berichtet die Trauernde Gertrud B., die ihren toten Schwiegervater morgens im Bett fand, dass es ihr nahezu unmöglich war, diese Worte »er ist tot« auszusprechen. Es sei in ihr eine tiefe Angst gewesen, dass der Tod mit dem Aussprechen dieser drei Worte Wirklichkeit werden würde. »Er lag da. Er war tot. Ich stand am Bett und dachte, ›er ist tot‹. Ich konnte die Worte jedoch nicht aussprechen, denn ich hatte eine große Angst, dass es dann wahr wird. Irgendwie fühlte ich mich, als würde ich ihn mit diesen Worten richtig töten. Es dauerte gefühlte Stunden, in Wirklichkeit waren es vielleicht zehn Minuten, bis ich es meiner Schwiegermama sagen konnte.«

Hier wird bereits deutlich, wie wichtig es ist, dem Trauernden in die Sprache hineinzuhelfen. Sprache hilft zu realisieren. Euphemismen, wie »er ist entschlafen«, »er ist heimgegangen«, »er ist

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von uns gegangen«, erschweren den Realisierungsprozess. So sind beispielsweise die Beileidsbekundungen, die andere dem Trauernden zusprechen – auch unmittelbar nach dem Tod –, erste Realisierungshilfen, die es dem Zurückbleibenden ermöglichen, das Geschehene wahrzunehmen. Krankenpflegepersonal, Ärzte/Ärztinnen, Hospizhelfer/-innen, Seelsorger/-innen, die in der Regel unmittelbar nach dem Versterben mit den Angehörigen in Kontakt kommen, helfen den Zurückbleibenden mit den ersten Kondolenzworten beziehungsweise Beileidsbekundungen in den Realisierungsprozess hinein. Im Aussprechen des Beileids – »Mein herzliches Beileid zum Tod ihres Mannes« – wird es offiziell: »Mein Mann ist tot!« Der Angehörige wird von einem Moment zum anderen ein Hinterbliebener, von einem Moment zum anderen findet ein Statuswechsel statt. Die Ehefrau wird zur Witwe. Natürlich kann diese Wahrnehmung jederzeit wieder in Frage gestellt werden. Denn die Seele kann das Unmögliche nur in ihrem eigenen Tempo möglich werden lassen und sie kann es jederzeit auch wieder für unmöglich erklären. Die extrinsische, auf den äußeren Verlust gerichtete Wahrnehmung

Bevor die Wahrnehmung des Trauernden mit dem eigenen Selbst in Beziehung gebracht wird, ist sie also erst einmal auf den äußeren Verlust, auf das Verlorengegangene gerichtet. Es ist ein extrinsisches, ein nach außen gerichtetes Wahrnehmen, in dessen Vordergrund das Nichts, die Leere als eine Art objektiver Nihilismus steht. Objektiver Nihilismus bedeutet hier, dass der Trauernde (zunächst) nur das sieht (sehen kann), was nicht mehr ist. Er sieht das Entzogene, das, was durch den Tod verloren gegangen ist. Da ist zuallererst der geliebte Mensch, den es in der äußeren Realität nicht mehr gibt: Er ist nicht mehr da. Sein Nicht-mehr-Dasein wird deutlich in der Konfron-

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tation mit dem leeren Platz am Tisch, dem leeren Bett, dem Auto, das nicht mehr gefahren wird, das angelesene Buch, das der Verstorbene nicht mehr zu Ende lesen kann, mit bisherigen Handreichungen, die plötzlich ungetan bleiben, und auch mit einer Zukunft, die arm und leer und verschlossen erscheint, weil Pläne ohne den Verstorbenen unmöglich erscheinen. Die äußere Leere gähnt, schreit und schweigt den Zurückbleibenden unbarmherzig an. »Es ist so schrecklich still im Haus. Keine Musik erklingt mehr aus seinem Zimmer, die Türen werden nicht mehr geknallt, kein Ruf nach Essen ertönt mehr.«

Äußere Abwesenheit des Verstorbenen versus innere Anwesenheit

Die Realisierung der äußeren Abwesenheit des Verstorbenen wird häufig durch eine empfundene innere Anwesenheit erschwert. Der Verstorbene begegnet in Träumen, Berührungen und Stimmungen. In dieser (un-)heimlichen Präsenz des Verstorbenen erlebt der Trauernde auf schmerzhafte Weise den Widerspruch zwischen der realen und totalen Abwesenheit des geliebten Menschen im alltäglichen Leben und seiner gefühlten Anwesenheit im eigenen Inneren. Es entsteht eine oft qualvolle Bewusstheit vom Fehlen dieses Menschen in der realen Außenwelt, die auf eine – von nun an und für immer – existierende Leerstelle verweist. Der Trauernde kann die heimliche Präsenz als beruhigend und tröstlich, aber auch als unheimlich, anstrengend, aufwühlend und verunsichernd erfahren. Sehr oft berichten Trauernde, dass sie in der Nacht den Atem des Verstorbenen gefühlt haben, seine Stimme gehört haben, seinen Geruch wahrgenommen haben. Dies führt nicht selten dazu, dass sich Trauernde mit diesen Wahrnehmungen und Träumen als verrückt und unnormal empfinden. Begleiter, die dies

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als eine durchaus normale Reaktion benennen, können oftmals Entlastung schaffen. Innere Präsenz als Hilfe zur schrittweisen Realisierung des Todes

Wenn ein Mensch stirbt, heißt es für den Zurückbleibenden, Abschied zu nehmen. Der Abschied, der jetzt ansteht, ist anders als der, der im alltäglichen Leben jeden Tag vollzogen wird: »Tschüss mein Schatz, bis heute Abend!«, »Auf Wiedersehen, bis bald!«, »Pass auf dich auf«, »Fahr vorsichtig«, »Ruf an, wenn du angekommen bist«, oder der flüchtig, schon fast im Vorübergehen hingehauchte Kuss beim Verlassen des Hauses, ohne Aufmerksamkeit, aus der Gewohnheit heraus, in Gedanken schon woanders. All diese kleinen Abschiede, die wir tagtäglich bewusst oder unbewusst vollziehen, sind getragen von der unausgesprochenen, unbewussten Gewissheit, dass der Andere von seinem Weggang zurückkommt, dass seine Abwesenheit vorübergehend und nicht auf Dauer gestellt, revidierbar, vom Wiedersehen gekrönt und gerundet wird. Der Abschied, der durch den Tod eingefordert wird, entlarvt diese unbewussten Annahmen auf grausame Weise. Alles Warten auf Rückkehr läuft ins Leere, wird jeden Moment des Tages ad absurdum geführt und neu enttäuscht: »Die Tür geht nie mehr auf, das Bett wird nie mehr beschlafen, die Hand wird nie mehr mein Gesicht berühren, diese Lippen werden nie mehr zu mir sprechen.« Das Einzige, was nun wartet, ist die Aufgabe, zu realisieren, dass der verstorbene Mensch nie, nimmermehr wiederkehrt. Diesen Wahrnehmens- und Realisierungsprozess zu vollziehen, erfordert vom trauernden Menschen eine fast übermäßige Kraft, die ihn oftmals entkräftet. Wie schaffen es Menschen, diesen ungeheuren Kraftakt zu vollziehen, dieses Ungeheuer in der Gestalt eines auf Dauer gestellten Abschiedes zu erkennen und anzunehmen, ohne dabei verrückt zu werden? Die Lösung liegt

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im Herzen und ist dem Verstand vorgeschaltet. Es ist ein unbewusster Weg, der nun eingeschlagen wird. Trauernde berichten immer wieder, dass sie vom Verstorbenen träumen, dass sie ihn in manchen Momenten noch sehen, hören, riechen, fühlen und in diesen Augenblicken das Gefühl haben, er sei noch da, bis er sich wieder verflüchtigt, sich entzieht und sie wieder und wieder Abschied nehmen müssen. Diese irreale innere Präsenz des Verstorbenen gibt der Seele, dem Herzen und vielleicht auch dem Verstand Raum und Zeit, die äußere Abstinenz langsam zu begreifen, erfordert immer wieder ein neues Abschiednehmen und ringt der Seele auf diese Weise langsam das Einverständnis ab, sich darauf einzulassen, dass dieser Abschied endgültig, für immer und für ewig ist: Der Mensch, der verstorben ist, kommt nicht mehr zurück. Irreales wird zur Realität. So berichtete Cordula F., dass sie nachts immer wieder von ihrem verstorbenen Mann träume. Er nicke ihr einfach zu. Anfänglich war dies für sie ein Zeichen, sie solle ihm folgen. Im Verlauf der Begleitung konnte sie eine eigene Umdeutung vornehmen, in dem Sinne, dass ihr Mann ihr mit diesem Nicken sagen will: »Du schaffst das. Pack es an!« Die Träume hörten dann auch tatsächlich auf. Wenn sich die beiden Dimensionen – reales Außen (sichtbare Absenz) und inneres Außen (heimliche Präsenz) – beruhigen, gibt es die Möglichkeit, sich selbst in seinem tiefen Schmerz ansichtig zu werden, das heißt, die Blickrichtung zu ändern und den Wahrnehmungsmodus nach innen gerichtet zu erweitern. Die intrinsische Wahrnehmung – Das bin ja ich, dem dies widerfahren ist

Trauernde berichten immer wieder, dass sie sich wie in einem fremden Film fühlen. Distanziert und nahezu ungläubig sind sie nicht in der Lage, sich mit dem Unfassbaren zu verbinden. Wie kann der Gedanke gedacht werden, dass mich die Arme des

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Partners nie mehr umschließen werden, dass mich das Lachen meines Kindes nie mehr berühren wird, dass meine Oma nie mehr »meine Kleene« zu mir sagen wird? All dies scheint unfassbar und fremd. Ein Trauernder, der sich dem Fremden, dem Anderen in sich, öffnet, drängen sich mit fortschreitender Zeit unzählige Fragen auf: »Bist du es wirklich selbst, dem dies zugestoßen ist?«, »Wie konnte mir das zustoßen?«, »Was für einer bin ich denn, dass mir das zustoßen konnte?« »Wie kann ich hälftig weiterleben?« Es steht nicht mehr nur das im Außen Verlorengegangene im Vordergrund, sondern der Trauernde richtet den Blick zunehmend auf sein zerschlagenes und verwundetes Selbst und nimmt dabei wahr: »Das ist nicht irgendjemandem widerfahren und ich kann betroffen danebenstehen, sondern ich bin es ja selbst, die diesen Verlust erlitten hat.« »Er wird mich nie mehr in den Arm nehmen.« »Nie mehr werde ich mich an ihn schmiegen können.« »Ich bin allein.« Der geliebte Mensch, mit dem der Zurückbleibende ein Wir bildete, ist nicht nur für die Welt und in der Welt verloren, sondern er ist für den Zurückbleibenden selbst verloren. Die Liebe des Zurückbleibenden, seine Bejahung zum Leben des Anderen läuft auf schmerzhafte Weise ins Leere, läuft ins Nichts. Es kann hier von einer inneren Leere, einem subjektiven Nihilis­ mus gesprochen werden. Frida V. formulierte dies rückblickend so: »Als meine Mutter starb, sah ich nur, was alles nicht mehr gemacht werden konnte von ihr, irgendwann begriff ich, dass sie mich nie mehr in die Arme nehmen würde, dass ich ihr nie voller Stolz von meinem Baby erzählen würde können. Dieser Schmerz war unglaublich.«

Eine Aufgabe, die die Trauer jetzt an den Zurückbleibenden stellt, ist es, äußere und innere Realität nicht mehr als voneinander geschiedene zu betrachten, sondern sie zueinander in

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Beziehung zu setzen. In dieser Aufgabe kommt der Trauernde im eigentlichen Sinne zu sich selbst. Er richtet den Blick nach innen, nimmt sich in seiner eigenen Verletztheit, seinem eigenen Schmerz und in seiner eigenen Einsamkeit wahr. Zu sich selbst erwachen und sehen lernen

Das Verlorengegangene und sich selbst angesichts dieses Verlustes wahrzunehmen ist harte, schmerzhafte innere Arbeit. Sie fordert den Trauernden nahezu ununterbrochen auf, sich zu öffnen, aufmerksam und sensibel für die Wirklichkeit zu werden, sich zu entscheiden: zu erwachen und sehen zu lernen. Dieses Sehenlernen erzwingt keine Sichtbarkeit, will nicht zwanghaft aufdecken oder aufklären, sondern schärft den Blick und befähigt den Trauernden zu einem aufrichtigen Wahrnehmen dessen, was ist. Es ermöglicht ihm, nicht auszuweichen, nicht wegzulaufen, sondern inne zu bleiben und auszuhalten, das Erfahrene anzuschauen und sich dabei selbst als einen Verletzten und Vermissenden wahrzunehmen. Es scheint, als würde der Trauernde sich hier an einer Wegscheide befinden: (Sich selbst) Sehenlernen oder in Scheinbildern verharren sind die beiden äußersten Eckmöglichkeiten, zwischen denen der Trauernde seine Wahl entfalten kann. Wenn hier von einer Wahl zwischen diesen zwei Wegen gesprochen wird, so muss natürlich deutlich sein, dass beide Möglichkeiten in ihrer Reinheit nie anzutreffen sind: Immer wird dem Trauernden in seinem Sehen etwas dunkel und verborgen bleiben. Nie kann er sich komplett dem Sehen verschließen. Entscheidet er sich heute für das Sehen, das bewusste Hinschauen, so kann er sich morgen wieder davor verschließen. Hier gibt es keine zwingende oder logische Kontinuität. Das einzig Kontinuierliche in diesem Prozess ist das Schwanken. Trifft der Trauernde die Entscheidung zugunsten des (sich selbst) Sehenlernens, so wählt er sich gewissermaßen selbst.

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Teil A – Vom Wachsen und Werden

Er erfasst sich selbst in seiner zerbrochenen und verwandelten Individualität und versucht sich (selbst) verstehend – mal mehr, mal weniger – mit dem Wahrgenommenen auseinanderzusetzen. So können wir hier sagen, dass sich in den Werdeschritt des Wahrnehmens schon zunehmend Spuren von Reflexivität hineindrängen, die den Werdeschritt des Erkennens vorbereiten und einleiten.

Erkennen und Verstehen – der Nebel lichtet sich

Der Mensch verfügt in all seiner Brüchigkeit über die Fähigkeit der Selbstreflexion, des Erkennens. Mit dieser Stärke ist ihm die Kraft verliehen, seine Lage zu erfassen, sich selbst(-bewusst) zu hinterfragen und das veränderte Leben in den Blick zu nehmen. Der Werdeschritt des Erkennens geht mit einer aktiven Innenschau einher und fordert den Trauernden wieder und wieder dazu auf, zu erkennen, dass sich alles verändert hat und dass er nicht mehr der ist, der er einst in der lebendigen und gelebten Verbindung mit dem Verstorbenen war. Gleichzeitig muss der Zurückbleibende erkennen, dass er in gewisser Weise (noch) nicht der ist, der er sein kann (und will). Er ist ein Zwischenwesen, das in einem Zwischenland auf ungewisse Weise heimatlos ist. Bettina B., 49  Jahre alt, eine sehr extrovertierte und mit dem Verstand agierende Trauernde, berichtet, dass sie sich wie jemand erfährt, der in Parallelwelten wohnt. In der einen Welt schafft sie es, ihr Leben einigermaßen in den Griff zu kriegen. In der anderen Welt toben das Nichtverstehen und – wie sie es nennt – die Zerstörungswut, auf alles und jeden, sogar auf den »Drecksfrühling mit seinen Scheißfarben«. Ein wesentlicher Aspekt der Wendung nach innen ist, dass der Zurückbleibende sich jetzt selbst als Vermissenden erfährt. Er nimmt wahr und erkennt, dass das Geschehene nicht irgendjemandem zugesto-

Wahrnehmen und Sehenlernen – diffuser Nebel  

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ßen ist, sondern dass er selbst derjenige ist, den der Verlust dieses einen geliebten Menschen unwiderruflich getroffen hat. Angesichts seines verwundeten, verletzten Selbst und dem – bei vielen Trauernden vorherrschenden – Gefühl, nur noch hälftig zu leben, erkennt er nicht nur den erlittenen Verlust, sondern erfährt auch sich selbst und alle anderen als Sterbliche: »Wenn der Mensch, den ich so sehr liebte sterben kann, dann kann dies mir und allen anderen auch geschehen.« Diese existenzielle Erkenntnis irritiert, löst ängstliche Unsicherheit aus und wirft unzählige Fragen auf: Was bedeutet das für mich, dass ich (jetzt und in Zukunft) allein bin? Was heißt es, eine Witwe zu sein? Habe ich jetzt trotzdem noch zwei Kinder, wenn eines gestorben ist? Wie kann es sein, dass ich weiterleben muss, obwohl meine Frau tot ist? Was bedeutet es, nicht mehr der/die zu sein, der/die ich war? Was bedeutet es, sterblich zu sein? Jetzt, wo mein Vater tot ist, steht niemand mehr in der Lebensreihe vor mir. Wie soll mein Leben als Sterbliche gestaltet werden? Wieso lebe ich weiter, wenn der, den ich so liebte, tot ist? Der Erkenntnisprozess ist schmerzhaft und quälend. Einerseits viele Fragen und andererseits wenig Antworten. Im Prozess des Erkennens eröffnet sich dem Zurückbleibenden die Möglichkeit, ein reflexives Verhalten zu sich selbst und zur eigenen Trauer zu entwickeln, die in der Frage gipfelt: »Wer bin ich (eigentlich noch)?« Im Werdeschritt des Erkennens entzieht sich der Hierbleibende mit jedem Erkennen ein Stückchen mehr der Verhaftetheit an die lähmende Situation und beginnt sich vorsichtig verstehend mit sich und seiner Trauer auseinanderzusetzen. Existenzielles Erkennen

Im bruchstückhaften Erkennen begreift er sich als Wesen, das eingespannt in die Widersprüchlichkeiten des Lebens zu jeder Zeit dem Lebensspiel des Unberechenbaren ausgesetzt ist. Der Trauernde erkennt, und sei es nur für einen Moment, dass er sich

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Teil A – Vom Wachsen und Werden

selbst immer wieder aufs Neue in diesem nicht aufzulösenden Widerstreit erringen muss. An dieser Stelle findet so etwas wie ein innerer Umbruch statt. Wie an einem Wendepunkt beginnt der Zurückbleibende das Geschehen zu deuten, er stellt Fragen nach Zusammenhängen, will Muster erkennen, Ordnungen generieren, Sinnthemen herausschälen. Letztlich lässt sich aus allen Reflexionen die grundsätzliche Frage ableiten: Was bedeutet das Erkannte für mich und mein Leben? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, probiert der Hinterbliebene sich aus, er versucht sich, er experimentiert mit sich, um (wieder) einen Weg zu finden, der ihn trägt und den er leben kann. Das hier vorgestellte Erkennen geht über das rationale hinaus. Es ist mehr als ein bloßes objektivierendes Wissen, das feststellt, was das Erkannte ist, es dann begrifflich fasst und einordnet. Es erschöpft sich auch nicht darin, dass sich im Erkennensprozess die Zusammenhänge, Bedingungen und Folgen erschließen. Erkennen im hier gemeinten Sinn ist ein erfahrendes Wissen, das im Hinterbliebenen als ein »Wissen von und um« aktiv ist, das den Blick auf die grundsätzliche Unplanbarkeit des Lebens und auf die eigene Wandelbarkeit richtet. Es ist ein transformierendes Wissen, ein existenzielles Verstehen, mit dem der Trauernde lebt und aus dem er heraus lebt. »Wie unbeschwert wir immer alles auf ein Später verschoben haben. Heute weiß ich, dass jedes Später sich – von jetzt auf gleich – in ein Nie mehr wandeln kann. Das Leben kann nicht geplant werden. Wir können es versuchen, letztlich haben wir überhaupt keinen Einfluss. Als ich das erkannt habe, löste sich zunächst jeglicher Mut im Schrecken dieses Erkennens auf. Die Frage, wozu denn überhaupt weitermachen, wenn es eh jeden Augenblick verloren sein kann, quält mich immer wieder« (Hans J., 65 Jahre, wenige Wochen nach dem Tod seiner Frau).

Wahrnehmen und Sehenlernen – diffuser Nebel  

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Der Umgang mit dem, was im Trauerschmerz erkannt wird

Das Erkennen ist jedoch nicht zwingend auf Dauer gestellt. Es kann der Schmerz, der dieses Erkennen begleitet, so heftig sein, dass der Trauernde ihn nicht aushalten kann. Der Unsicherheit seiner Bestimmung nicht gewachsen zu sein, lässt ihn versuchen, den Schmerz zu verdrängen, zu unterdrücken, ihm mit Aktionismus zu begegnen oder ihn zu betäuben. Zum Schutz der Trauernden, die ihre Trauer (noch) nicht zulassen (können), sei ein Verständnis für diese Strategien bekundet. Strategie bedeutet ja letztlich nichts anderes als »die Kunst, zur richtigen Zeit das Rechte zu tun«. Es hat einen Sinn für den, der die Strategie der Verdrängung gebraucht. Damit ist nicht gesagt, dass sie sich dauerhaft hilfreich oder gar heilsam auswirkt. Jedoch die Würdigung der Verdrängung als ein momentanes Mittel, mit sich und dem unbekannten Leben umzugehen, eröffnet weit mehr die Chance, dass der Trauernde sich seinem Trauerschmerz zuzuwenden lernt. Er braucht seinen eigenen Zeitpunkt. Kann er diesen ohne Druck von außen leben, kann es ihm gelingen, aus dem Konstrukt seiner bisherigen Lebensperspektiven herauszutreten, abständig von diesen zu werden und sie neu zu betrachten. Im Lichte der (neu) gewonnenen Erkenntnisse sieht er sich auch dazu aufgefordert, seine Lebensweise sowie seine Beziehung zu dem verstorbenen Menschen und zu sich selbst zu ordnen und neu zu deuten. Im Werdeschritt des Erkennens erfährt der Zurückbleibende immer wieder die Möglichkeit, sich wie in einem Spiegel zu sehen und aus dem Erkannten heraus ein konkretes Verhältnis zu sich selbst zu entwickeln. In diesen Schritten beginnt er sowohl seine veränderte Situation mit all ihren Unsicherheiten als auch sich selbst besser zu verstehen und bereitet in kleinen Schritten das Annehmen seiner veränderten Situation und seiner selbst vor. Unterstützend für den Prozess des Erkennens ist das Vorhandensein und Breitstellen so genannter Trauerräume. Räume der

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Teil A – Vom Wachsen und Werden

Trauer sind sowohl Räumlichkeiten im physischen Sinn (zum Beispiel Abschiedszimmer, Aufbahrungsraum, Friedhof, Ort der Trauerbegleitung beziehungsweise Trauergruppe, ­Trauercafé) wie auch Räume im psychischen Sinn (beispielsweise mit­ menschliche Zuwendung, Zeit für Gespräche, Begleitung eben). Sind diese Räumlichkeiten gegeben, kann es dem Trauernden möglich werden, sich im Chaos seiner Ängste und Zweifel dem »Ges(ch)ehenen« zu stellen.

Annehmen und die Entscheidung zum Ja – Wegscheide

Der Werdeschritt des Annehmens bedeutet hier ein immer wieder neu zu erringendes Anerkennen der veränderten Lebensmodalitäten, der eigenen Eigenschaften, Fähigkeiten und Grenzen, der Sterblichkeit des Anderen und der eigenen Sterblichkeit sowie die Annahme einer grundsätzlich dem Leben innewohnenden abschiedlichen Lebensweise. Dies ist keinesfalls als resignative Lebensverweigerung zu verstehen, sondern als Aufforderung, sich in die Wechsel- und Schicksalshaftigkeit des eigenen Lebens hineinzubegeben: Annehmen bedeutet, ein Ja zur gegebenen – veränderten – Lebenssituation zu sprechen. Voraussetzung hierfür sind die Fähigkeit und der Wille des Trauernden, sich selbst als einen Leidenden anzunehmen, der sein Leiden als ein unabwendbar Gewordenes in sein Lebenskonzept integriert hat. Er erfährt seinen Schmerz nicht als etwas rein Äußerliches, sondern als eine tiefe innere Verwundung, dessen Sinn er zu erschließen und zu verstehen versucht. (Selbst-)Annahme heißt sich wählen und sich bestätigen

Im Prozess der Selbst-Annahme wählt der Trauernde gewissermaßen seine Situation. Er entscheidet, sich selbst zu bejahen, auch wenn er immer hin und her gerissen wird zwischen Ja-

Annehmen und die Entscheidung zum Ja – Wegscheide  

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sagen-Wollen und nie endgültig Ja-sagen-Können. Zwischen Ja-sagen-Müssen und Nein-sagen-Wollen. Die positive Auseinandersetzung mit der Krise besteht darin, dass der Trauernde eine Entscheidung trifft, dass er wählt und Ja sagt: »Ich kann und darf der sein, der ich bin, mit meinem erlittenen Verlust und meinem Schmerz, mit all dem, was ich an Fremdem wahrgenommen und erkannt habe, mit der Schuld, die ich auf mich geladen habe, mit dem Wissen um meine, um unsere Fragilität, Sterblichkeit, Endlichkeit und Kontingenzverhaftetheit.« Der Hinterbliebene nimmt sich nicht nur in seinem momentanen Befinden an, sondern er bestätigt sich in seiner Existenz, indem er sich auf seiner Suche nach Sinn immer tiefer in die große Frage vertieft, die er sich selbst und die die Welt ihm ist. Doch wie vollzieht sich eine solche Bejahung des Lebens und des Selbst, aus der heraus der Hinterbliebene ein neues Gefühl für den Wert seines eigenen, durch den Verlust so sehr in Frage gestellten Daseins erlangen kann? Grundlegend hierfür ist, dass der Hierbleibende anerkennt, dass er als Mensch immer wieder dazu aufgerufen ist, sein Tun, seine innere Haltung und alles, was ihm entgegenkommt, zu beurteilen und zu werten. Das heißt, in jeder sich bewusst gemachten Situation ergeht wieder und wieder der Ruf an ihn, sich mit ihr auseinanderzusetzen, in ihr Verantwortung zu übernehmen, zu entscheiden und zu handeln. Der Werdeschritt der Annahme ist demnach davon getragen, dass der Mensch sich im gewissen Sinne als Schöpfer und Gestalter seiner Welt und seines Selbst begreift. Karl Jaspers sagt: »Ich werde, wie ich werte.« Wenn ich sage, »die Liebe, die uns verbunden hat, ist der Preis für meine Trauer und dieser Preis ist gerechtfertigt«, werde ich anders weiterleben, als wenn ich sage: »Ich habe geliebt, jedoch dieses Leid will ich nicht. Nicht jetzt und nie mehr wieder.« Die Entscheidungsfrage »Was soll ich tun?« ist letztlich gleichbedeutend mit der Frage »Was verlangt die jeweilige Situation

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Teil A – Vom Wachsen und Werden

von mir?«. Es ist gewissermaßen Aufgabe des Hinterbliebenen, sich in der Frage – »Was soll ich tun?« – als befragt zu erfahren, sich als jemanden zu verstehen, der gewissermaßen von seinem eigenen Leben, von seinem Selbst befragt wird. Zwar hat der Zurückbleibende dieses Schicksal, nämlich, dass der geliebte Mensch ihm durch den Tod entrissen wurde, nicht selbst gewählt, doch erkennt er nun, dass er es durch Bejahung der bloßen Gegebenheit selbst gestalten kann. Annahme kann in diesem Sinne immer auch heißen: Annahme der Nichtannahme. So sagte Voltaire angesichts der Flutkatastrophe in Lissabon sinngemäß: Ich bin nicht damit einverstanden. Der Tod des geliebten Menschen bleibt fast immer etwas, das nicht bejaht und angenommen werden kann. Trauernde erleben es als eine große Beruhigung, aussprechen zu dürfen, dass sie mit dem Tod des geliebten Menschen nicht einverstanden sind, dass sie alles geben würden, ihn wieder in den Armen halten zu dürfen, auch wenn sie den Tod für denjenigen – und durchaus auch für sich selbst – vielleicht als Erlösung und Erleichterung erfahren haben. Herbert K. sagte nach dem Unfalltod seines 28-jährigen Sohnes: »Als die Polizisten vor meiner Tür standen, wusste ich, dass was Schreckliches geschehen ist. Sie brauchten es nicht mal auszusprechen. Und obwohl ich es immer befürchtet habe, dass Marius mit seiner Motorradleidenschaft einmal umkommen könnte, habe ich es nicht fassen können. Immer wieder war da dieses NEIN in mir. Doch das Leben zwang mich dazu, JA zu sagen. (…) So abwegig es auch klingen mag: Ich bin mutiger geworden. Nicht mehr so ängstlich. Das Leben bringt, was es bringt. Diese Form der Gelassenheit ist neu für mich. Ich habe sie hart ertrauert. Allerdings heißt das nicht, dass ich mich mit dem Tod von Marius einverstanden erkläre. Dagegen lehne ich mich immer noch und immer wieder auf. Das JA gilt einzig und allein dem Weiterleben.«

Annehmen und die Entscheidung zum Ja – Wegscheide  

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Die inneren und äußeren Veränderungen verlangen die Annahme. Im Ja kann der Trauernde seinen Weg konstruktiv, wachsend und werdend weitergehen. Negiert er die Situation, realisiert er den eingetretenen Tod nicht, verweigert er seine Annahme, wird es ihm schwer möglich sein, das Leben, so wie es jetzt geworden ist, als das Seine anzunehmen. Die Nichtannahme der veränderten (Lebens-)Situation kann zur Stagnation führen und das Werden und Wachsen behindern. Die 49-jährige Maria K. hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter. Der Vater von Maria K. starb, als sie neun Jahre alt war. Die Mutter war seitdem schwermütig, isolierte sich immer mehr, verlor ihr Interesse für alles, was Veränderung mit sich brachte. Alle Aufmerksamkeit und Liebe galten Maria. Diese wuchs heran zu einer sehr abhängigen jungen Frau. Immer wieder wurden Berufsausbildungen angefangen, doch weil die Mutter sie immer wieder »brauchte«, brach Maria diese auch jeweils wieder ab. Als Marias Mutter mit 69  Jahren an Lungenkrebs erkrankte und drei Monate nach der Diagnose verstarb, brach für Maria eine Welt zusammen. Die Veränderungsablehnung ihrer Mutter war auch ihr zu eigen und so konnte und wollte sie sich nicht mit der veränderten Situation abfinden. Die Wohnung ist – 16 Monate später – im Originalzustand. Das Bett der Mutter wird alle vierzehn Tage bezogen, die Hausschuhe der Mutter stehen immer ordentlich vorm Bett, der Bademantel hängt an der Tür. Als nach knapp zwei Jahren eine Pflanze der Mutter in der Wohnung einging, brach die Tochter zusammen. In diesem Untergang der Pflanze erkannte sie plötzlich, dass ihre Mutter nicht mehr da war und auch nie mehr wiederkommen würde. Erst jetzt konnte sie zu kleinen Veränderungen, die die neue Situation mit sich brachte, ein Ja sagen.

Im Werdeschritt der Annahme macht sich der Trauernde auf den Weg, (wieder) Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.

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Teil A – Vom Wachsen und Werden

Angesichts der Tatsache, dass der Hinterbliebene sich zunächst als Opfer des Schicksals fühlt, dem etwas angetan wurde, gegen das er sich nicht wehren konnte, kommt diesem Schritt eine besondere Gewichtung zu. Integration und Aufbau

In dem Maße, in dem es dem Trauernden gelingt, ein Ja zu seiner Trauer zu finden, öffnet er sich und findet mehr und mehr zu sich selbst. Das im Fühlen und Denken und Sprechen empfundene Ja kann ihn auf eigentümliche Weise mit seiner Vergangenheit versöhnen und ihm einen weiteren Weg in die Zukunft eröffnen. In der Bejahung seines veränderten Lebensvollzugs kann der Hinterbliebene Momente empfinden, in denen er sowohl den erlittenen Schmerz als auch das durchlebte Leiden als sinnvolle Erfahrungen seines Lebens begreift, an denen er gewachsen und gereift ist. Insofern verweist die tätige Bereitschaft, sich selbst und die veränderte Wirklichkeit anzunehmen, immer auf den Gedanken der Integration. Integration in diesem Verständnis bedeutet, die Willigkeit aufzubringen, den Schmerz, das Erlittene und das noch zu Erleidende als Lebensorientierung zu begreifen und in sich selbst die Fragen zu hören, die der erlittene Verlust dem Denken stellt: »Was möchtest du aus deinem weiteren Leben machen? Was gedenkst du noch zu tun? Bist du dir dessen bewusst, dass auch dein Leben begrenzt ist? Weißt du, dass ich dieses Leben zerstören kann? Ahnst du, dass ich ein Vorbote des Todes bin?« Im Werdeschritt der Annahme gliedert der Trauernde in unzähligen kleinen Jas das Erkannte, oft Schmerzliche, in sein Leben, in sein Selbst ein und macht sich auf den Weg zur Heilung seines Selbst. Die Realisierung und Annahme der andauernden Abwesenheit des geliebten Menschen, die Annahme des Schmerzhaften und Leidvollen, der Blick in die Abgründigkeit

Annehmen und die Entscheidung zum Ja – Wegscheide  

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und Nichtbeherrschbarkeit des Lebens ermöglichen es dem Trauernden, sich selbst sowie sein bisheriges und zukünftiges Leben als ein durch ihn zu verantwortendes Sinngeschehen zu bejahen. Der Werdeschritt der Annahme wird dabei wieder und wieder und wieder gegangen. Annehmen bedeutet nicht, dass der Trauernde zwischen dem Davor und Danach wählen muss, sondern in der Situation, in der er jetzt steht, ist er zur Entscheidung aufgerufen. Er kann sich verweigern und die Situation verneinen. Dann wird er gewissermaßen in seinem Trauerschmerz verharren und alles tun, diesen Schmerz nicht zu spüren, ihm auszuweichen. Oder er nimmt die Situation und sich selbst an, dann öffnet er sich dem schmerzhaften Weg und kann Schritte gehen, die ins Leben, in sein Leben, führen. Ein Mensch, der sich selbst annimmt, nimmt an, was er ist und was er nicht ist. Er akzeptiert, dass er nie alles von sich weiß. Er versteht sich als ein »Wesen des Übergangs«, das in jedem Augenblick seiner Trauer ein Suchender, Ankommender und Weitergehender ist. Er begreift sich als Leidenden, der auch Schuld auf sich genommen hat, sowie als Wesen der Kontingenz, das niemals in der Lage ist, das eigene Dasein und die darin verwobenen Handlungen zu überschauen. Er erfasst sich als einen Menschen, der immer wieder aufs Neue eine Wahl treffen muss und darin das Wagnis der Entscheidung einzugehen hat. Im Ja-Sagen begreift und ergreift sich der Trauernde als Schöpfer und Gestalter seines Selbst. Der schöpferische Impuls drängt danach, dem Selbst Kontur und Eigen-Sinn zu verleihen. Er fordert den Trauernden auf: »Gehe deinen Weg!«, »Werde, der du bist!«, »Werde, der kein anderer zu sein vermag!«, »Gestalte dein Leben und gestalte dich selbst!«

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Teil A – Vom Wachsen und Werden

Gestalten und Leben – Neuland: Alles ist anders

In allen drei bisher genannten Werdeschritten des Trauerprozesses  – Wahrnehmen, Erkennen, Annehmen  – haben das »neutägliche« Leben und das Selbst in einer Art individuellen Experimentierens und Erprobens wieder eine gewisse Kontur gewonnen, die sich von dem, was war, unterscheidet. Was verloren und verändert ist, will betrauert und erkannt werden, was fortbesteht, will bekräftigt werden, und was neu ist, will einbezogen werden. Altes und neues Leben, altes und neues Selbst wollen zu einem lebendigen Ganzen verbunden werden. Im wagenden Entwerfen findet eine fortwährende Um- und Ausformung des veränderten Lebens und des Selbst statt. Hieran wird deutlich, dass die Werdeschritte immer miteinander verwoben sind. Der Tod eines geliebten Menschen lässt den Hinterbliebenen auf existenzielle Weise seine eigene Sterblichkeit erfahren. Im Durchleben und Erleben dieses Prozesses ist er Trauerarbeit leistend zu (s)einem Ja gelangt, das es ihm ermöglicht, sowohl sich selbst als auch seine veränderte, neue, Lebenssituation anzunehmen. Im Annehmen gestaltet sich der Hinterbliebene (s)eine neue Identität, eine existenzielle Identität, die geprägt ist von dem konstituierenden Wissen: »Auch ich kann sterben, genau wie der Mensch, den ich glaubte, auf ewig zu haben.« Eine solche Erfahrung ist existenzieller Art. Sie ist nicht nur von Belang auf den Moment des Erfahrens bezogen, sondern ihre Bedeutung erstreckt sich auf den Gesamtvollzug seines (weiteren) Lebens. Trauernde Menschen berichten in solchen Zusammenhängen immer wieder, dass sie bestimmte Begriffe nicht mehr so unbeschwert benutzen können wie vor dem Einbruch des Todes. Worte wie »später«, »irgendwann«, »mit Sicherheit« gehören für lange Zeit der Vergangenheit an. Es wurde auf schmerzhafte Weise erfahren, dass das »Später« sowie jegliche »Gewissheit«

Gestalten und Leben – Neuland: Alles ist anders  

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vom Tod vernichtet wurden und auch zukünftig vernichtet werden können. Im wagenden Entwerfen findet sozusagen eine fortwährende (Um-)Gestaltung des Lebensalltags und des Selbst statt. Das Leben gewinnt wieder an Struktur und an Sinn, die eigene Identität scheint sich wieder zu verfestigen. Das Selbst gewinnt zunehmend an Gestalt, die sich durch wachsende Deutlichkeit und zunehmende innere Festigkeit auszeichnet. Natürlich bedeutet dies nicht, dass es nicht immer wieder auch zu Schwankungen und Rückschritten im Trauerverlauf kommen kann. Dennoch bedeutet der Weg in das eigene Innere, das Erkennen und Annehmen, immer schon ein Stück Selbst-Gestaltung. Denn das Begehen dieses Weges geht immer mit der Begegnung und Auseinandersetzung mit neuen Möglichkeiten einher. Linien in die Zukunft

Der bewusste, entschiedene Werdeschritt des Gestaltens geht über die bisherigen hinaus. Dem Trauernden ist zu diesem Zeitpunkt klar geworden, dass er (noch und wieder und weiter) lebt. In dem Maße, in der ihm die Fragwürdigkeit des herkömmlich und bisher Gelebten bewusst wird, erwächst ihm das Gestalten seiner neuen Identität und seiner Welt zur Aufgabe. Er gestaltet sein Leben und sich selbst, indem er einerseits bewusst und reflexiv Linien auf die Zukunft bezogen entwirft und andererseits deren Tragfähigkeit in der Beziehung zu anderen Menschen auslotet. Das bewusste Gestalten verweist immer auch darauf, dass sich der Hierbleibende auf diesem Abschnitt seines Trauerweges als einen Entscheidenden versteht, als jemand, der nicht länger von den faktischen Bedingungen, dem eingetretenen Tod und dem damit einhergehenden Verlust in all seinen Facetten dominiert und bestimmt wird. Er ist diesen nicht länger opferhaft ausgeliefert, sondern entscheidet und wählt sowohl sein Leben als auch sich selbst. Er ist sich selbst Trauerarbeit leistend

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Teil A – Vom Wachsen und Werden

Schritt für Schritt wieder näher gekommen. In den unaufhörlich leistenden Werdeschritten hat er eine Auffassung von sich selbst entwickelt, die es ihm erlaubt, zukünftig auf eine selbstbestimmte Art und Weise zu leben. Auf der Grundlage des Zusich-selbst-gekommen-Seins geht er wieder »hinaus« ins Leben, hinein in die Begegnung, in den Dialog und in die Kommunikation, jetzt in dem existenziellen Wissen um die Endlichkeit von Beziehungen. Der Mensch ist – wie Sigmund Freud (1915, S. 346 ff.) es formuliert – unbewusst von der Illusion seiner Unsterblichkeit überzeugt. Dies bedeutet, dass das existenzielle Wissen um die eigene Sterblichkeit und um die des geliebten Menschen wieder einer zweiten Naivität weicht. Der Mensch kann nicht immer angesichts seines bevorstehenden Todes und mit seinem Todeswissen leben. Es würde ihn zukunftsunfähig machen. Doch ist das Nichtwissen nach diesem »Ein-Gesehenen« ein anderes als vorher. Die Qualität der Beziehungen und der Kommunikation sind zu diesem Zeitpunkt wieder eher symmetrischer Natur und tragen den Charakter der »gleichen Augenhöhe«. Der Weg der Selbst- und Lebensgestaltung, der öffnenden und weitenden Charakter hat, geht einher mit dem symbolischen Eintreten in »ein anderes Leben«, das sowohl durch einen neuen Selbst- als auch durch einen als sinnvoll erlebten Weltbezug konstituiert wird. Der eigene Lebensweg, der mit dem Tod des geliebten Menschen ins »Nirgendwo« zu führen schien, gewinnt an Richtung und scheint wieder ein Ziel zu haben: Zukunft. Der Trauernde stellt sich den Herausforderungen, die seine Zukunft, jedoch mit dem Verlust und ohne den geliebten Menschen, an ihn stellt. Indem er das Wagnis eingeht, neue Beziehungen zu leben sowie das Neue und Fremde der neuen Wirklichkeit an sich heranzulassen, steigt Angst in ihm auf, macht er sich doch im Öffnen abermals verwundbar und verletzbar, setzt sich aufs Neue, diesmal bewusst in der Bejahung der eigenen Grenzen,

Gestalten und Leben – Neuland: Alles ist anders  

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einer nicht planbaren Zukunft und der darin enthaltenen Möglichkeit neuerlicher Verluste aus. Um mit dieser Angst umgehen zu können, sich nicht von ihr beherrschen zu lassen, bedarf es einer veränderten Haltung, die getragen wird einerseits von einem neu gewonnenen Vertrauen in sich und das (zukünftige) Leben und andererseits von dem Wissen, dass wir »mehr« sind als das, was wir erkennen. In dieser Haltung entwirft sich der Trauernde in freiem Entschluss auf seine Zukunft hin, er weiß sich dieser nun, trotz aller Unvollkommenheiten, die an ihr haften, gewissermaßen verpflichtet und gibt sich und seinem Leben damit eine bestimmte Sinnrichtung. Monika D. hatte zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes den Entschluss gefasst, sich wieder auf eine neue Beziehung einlassen zu können und zu wollen. Sie meldete sich in einem Internetforum an, fand einen Partner und erlebte wieder Liebe. Auch wenn diese Partnerschaft aus vielerlei Gründen nicht hielt, so war es für sie doch »eine wichtige Erfahrung und ein großer Schritt. Ich kann und darf wieder lieben. Es muss nur der ›Richtige‹ kommen. Und irgendwo gibt es ihn. Das weiß ich jetzt.« Selbst-Bewusstheit, Selbst-Reflexivität und Dialogorientierung

Die Kennzeichen, die die Werdeschritte des Gestaltens vorherrschend prägen, sind Selbst-Bewusstheit, Selbst-Reflexivität und Dialogorientierung. Der Modus der Selbst-Bewusstheit ermöglicht es dem Trauernden, sich in Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, in einer Art »neuen Helligkeit«, zu sich selbst zu verhalten, Zusammenhänge wahrzunehmen, die vorher außerhalb seiner Betrachtungsweise lagen, und im eigenverantwortlichen Handeln mit sich umzugehen. Sich selbst reflektierend gelingt es ihm immer wieder, Gegensätze aufzudecken, sich selbst zu korrigieren und schließlich neu zu orientieren. Dialogorientierung wird verstanden im Sinne existenzieller Kommunikation,

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die sich von Mensch zu Mensch vollzieht und zur echten zwischenmenschlichen Begegnung führt. Der Prozess des Gestaltens impliziert, dass der Hierbleibende den Forderungen, die das Leben an ihn stellt, nicht länger ausweicht und, soweit es in seinen Möglichkeiten liegt, dazu bereit ist, sich selbst und sein Leben in die Hand zu nehmen – in der klaren Bewusstheit, dass alles jederzeit ganz anders kommen kann, dass nichts sicher und auf Dauer gestellt ist. Im bewussten und reflektierten Gestalten kann der Hierbleibende jetzt wieder sowohl individuelle Selbst- als auch Lebenseinstellungen gewinnen und tragende Gewohnheiten entwickeln, auf deren Grund dann das für ihn Lebenspraktische und Konkrete entstehen kann. Wie alle anderen Werdeschritte ist auch das Gestalten ein fortwährender Entwicklungsprozess in der Zeit. So hat Ute F., 44 Jahre, deren Lebenspartner verstorben ist, nach zwei Jahren den Motorradführerschein gemacht. Sie habe schon immer Spaß dran gehabt, jedoch irgendwie sei es nie dazu gekommen. Jetzt lebe sie bewusster und findet es schade, dass ihr Mann dies nie miterleben wird. Sie sei sich jedoch sicher, dass er stolz auf sie wäre. Rückblickend erscheint der Prozess der Trauerarbeit als ein kreativer Umwandlungsprozess, in dessen Verlauf der Trauernde die Möglichkeit hatte, sich der neuen Lebenssituation mit ihren Eigenheiten anzupassen sowie sich selbst neu zu gestalten. Objektiv betrachtet lässt sich demnach festhalten, dass der trauernde Mensch gefestigt und mit einer gewissen Zuversichtlichkeit seiner Zukunft entgegengeht, vielleicht auch wieder auf Bindungen der Liebe vertraut und ein bewusstes »Ja« zu seinem Leben spricht. Gleichzeitig ist jedoch auch die Unbegreiflichkeit des Verlustes da, die jederzeit wieder schmerzhaft das eigene Leben verdunkeln kann und ihn auf diese Weise wieder in die Krise hineinstellen und in die erneute Auseinandersetzung zwin-

Gestalten und Leben – Neuland: Alles ist anders  

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gen kann. Hier von einer zeitlichen Vorgegebenheit zu sprechen, wäre anmaßend. Mancher Trauerprozess dauert wenige Wochen oder Monate, mancher mehrere Jahre. Und natürlich kann der Mensch längst wieder auf wunderbare und gute Weise im Leben stehen und angesichts eines Ereignisses kann ihn die Trauer für einen Moment – wie lange dieser auch sein mag – erfassen. »Meine Mutter ist seit 12 Jahren tot. Mein Leben ist bunt und dicht und ich liebe es. Als mein Sohn vor zwei Wochen bei einem Violinkonzert als Jüngster geehrt wurde, hatte ich plötzlich solch einen Schmerz. Ich dachte: Wie schön wäre es, wenn meine Mutter dies erleben könnte« (Frida V., 44 Jahre, zwölf Jahre nach dem Tod ihrer Mutter).

In allem Schmerz und aller Verweigerung bedeutet es für den Hierbleibenden eine Chance, sich selbst und sein weiteres Leben in diesen Werdeschritten zu ergreifen, und gleichzeitig verlangen ihm diese Schritte ein hohes Maß an Aufmerksamkeit sowie anspruchsvoller Reflexionsarbeit ab. Der Werdeprozess, der durch den Verlust des nahestehenden Menschen initialisiert wird, ist keine sich stetig aufbauende und sich allmählich vervollkommnende Entwicklung, sondern der Trauernde leistet innere Arbeit, die in immer erneuten Anläufen verwirklicht wird und dabei unabdingbar auf den Mitmenschen, auf das »Du« verwiesen ist. Es ist wichtig, dass Begleitende Trauerarbeit als ein dynamisches Phänomen begreifen, das stets auf ein Selbst-Werden hin angelegt ist und sich in und an der sinnvollen Lebensgestaltung bewährt. Auftrag von Begleitung ist es, die genannten Werdeschritte des Trauernden zu unterstützen und sie als Aufgaben zu begreifen, die grundsätzlich zum Menschsein gehören, jedoch gerade in der existenziellen Krise in gesteigerter Intensität als Trauerarbeit zum Ausdruck kommen.

Teil B – Der Prozess des Trauerns anhand eines lebensgeschichtlichen Beispiels

Die Situation

Das hier beschriebene lebensgeschichtliche Trauerbeispiel soll den schmerzhaften Prozess des Wachsens und Werdens sowie die harte innere Trauerarbeit in unkommentierter Form veranschaulichen. Die Trauernde wurde von mir knapp zwei Jahre begleitet. Dokumentation, Gedächtnisprotokoll, Briefauszüge sowie Tonaufnahmen dienten als Quellen. Susanne F. kontaktierte mich drei Monate nach dem Tod ihres 22-jährigen Sohnes, der an Krebs verstarb. Sie ist 47 Jahre alt, verheiratet, hat eine 16-Jährige Tochter, ist Bankangestellte mit einer Halbtagsstelle. Die Begleitung begann vier Monate nach dem Tod von Sven und endete zwei Jahre und drei Monate nach seinem Tod. Die Begleitung fand anfangs vierzehntägig und später alle vier Wochen statt. Dazwischen gab es hin und wieder Telefonate, wenn beispielsweise ein Termin nicht eingehalten werden konnte oder etwas Krisenhaftes geschehen war.

So war Sven …

»Sven war ein besonderer Junge. Schon als Kind war er sehr intensiv und beziehungsorientiert. Immer wollte er alles genau wissen, mit halben Erklärungen gab er sich nicht zufrieden. Er fragte immer wieder nach und es dauerte oft lange, bis ihn eine

Die Erkrankung  

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Antwort zufriedenstellte. Ich habe manchmal gedacht: ›Mein Gott, was dieses Kind alles schon wissen will. Warum bloß?‹ Heute denke ich, vielleicht gibt es ein unreflektiertes Wissen in uns Menschen, das uns so etwas wie einen Zeitstrahl des eigenen Lebens aufzeigt. Ein Wissen, das uns sagt, wie viel Zeit uns bleibt. Ich weiß es nicht.

Die Erkrankung

Am Anfang als Sven erkrankte, waren wir alle überzeugt, dass er es schafft. Er hatte so einen starken Willen, war so voller Zuversicht und führte alle Therapien klaglos durch. Die zwei Jahre seiner Erkrankung haben uns einerseits als Familie sehr eng zusammengeführt, andererseits auch alles von uns abverlangt. Mit ansehen zu müssen, wie das eigene Kind immer schwächer wird, wie der einst muskulöse und gutaussehende junge Mann zu einem immer dünner werdenden und zerbrechlich wirkenden Menschenkind wurde, brach mir manchmal das Herz. Sven hat es mir angesehen, wenn es mir nicht gut ging. Er sagte dann immer ›Mummilein, es gibt einen Weg. Ich weiß nur noch nicht welcher es ist, doch ich werde ihn finden und gehen.‹ Er war so tapfer und ich habe mich damals und heute oftmals verflucht, dass ich ihm nicht folgen konnte in seinen Worten. Warum habe ich ihn nie gefragt: ›Welche Wege siehst du?‹ Ich wollte, dass er lebt, dass er weiterlebt, für mich für uns, für sich. Einfach weiterlebt! Und so habe ich oft geantwortet: ›Sag so was nicht!‹

Die letzten Tage …

(…) Die letzten zwei Tage seines Lebens haben wir an seinem Bett verbracht. Ich habe ihm vorgelesen, Imme hat Gitarre

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Teil B – Der Prozess des Trauerns

gespielt und mein Mann Wolfgang streichelte immer wieder seine Hand. Wolfgang war zu diesem Zeitpunkt längst wortlos geworden. Viel später hat er mir gesagt, dass der Kloß in seinem Hals eine Rettung war. Er habe verhindert, dass er seinen Schmerz rausschreit und alle erschreckt über die unglaubliche Wut, die in ihm sei. Mein Mann hatte damals oft Magenschmerzen, nahm Medikamente, war so gereizt, und ich war oft böse auf ihn, weil ich nicht kapierte, dass es diese Wut auf das Schicksal war, die ihn so verändert hatte, ja dass es eigentlich brennender Wutschmerz war.

Sven ist tot …

Sven starb in den frühen Morgenstunden – er ist auch in den frühen Morgenstunden zur Welt gekommen, es lagen nur fünf Minuten Unterschied dazwischen. 05:07 ist er geboren, 05:12 ist er gestorben. Er hat nichts mehr gesagt, ist nicht mehr aufgewacht, hat keinen mehr ein letztes Mal angeschaut. Ich kann mich an seinen letzten Blick nicht erinnern, weil ich zu diesem Zeitpunkt ja nicht wusste, dass seine Augen sich das letzte Mal mit meinen Blicken verbinden. Bisher hatte er ja die Augen immer wieder neu aufgemacht und uns angeschaut. Es tut so weh. Wir waren ja gedanklich darauf vorbereitet gewesen, doch als dieser letzte Atemzug seinen Körper verließ und kein weiterer folgte, war es, als würde auch mein Atem aussetzen, als würde auch mein Herz stehen bleiben. Atemlos habe ich gewartet, dass sich seine Atmung wieder einstellt, ich bekam Luftnot, Panik und rannte hinaus. Ich habe nur noch ›nein, nein, nein‹ schluchzen können. Mein Kind, mein wunderbarer Sohn. Wie im Film sah ich ihn als kleines Baby, als Kleinkind und ich hörte seine Stimme, hörte Satzfetzen, roch seine Haut und spürte seine Arme. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Ein ande-

Vernebelte Zeit …  

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rer Gedanke hatte keinen Platz. Mein Mann holte mich, nahm mich in den Arm. Ich fühlte mich so leblos, so als wäre ich gar nicht da. Unberührbar und leblos, stumm und sprachlos, kalt und starr. Ich sah auf das Bett, sah seinen stillen Körper, sein regloses Gesicht und Imme spielte noch immer auf der Gitarre. Sie konnte nicht aufhören. Sagte immer nur, ›das ist Wegmusik für ihn, er kann doch nicht so still darüber gehen.‹ (…)

Vernebelte Zeit …

In den ersten Wochen nach Svens Tod lebte ich wie im Nebel. Einerseits waren die Dinge um mich herum bekannt und vertraut, andererseits war es, als hätte ich sie noch nie gesehen. Mir war auch vieles so gleichgültig. Nichts schien mehr einen Wert zu haben. Meine Tochter, mein Mann versuchten mich immer wieder aus diesem Nebel herauszuholen. Ich wollte es nicht. Hatte zu viel Angst, was sich dann zeigen würde. Ich lebte in dieser Welt wie ein Zombie in der Zwischenwelt. (…) Es ist komisch, eigentlich machen doch der Nebel und die Unsichtbarkeit Angst. Doch für mich war es das Lichten des Nebels, was mich in Panik versetzte. Was würde ich dann sehen müssen? (…)

Totale Erschöpfung …

Manchmal sitze ich abends im Wohnzimmer, ich weiß, dass ich was essen sollte, doch ich kann nicht. Ich bin so erschöpft, so fertig, so erledigt. Dabei habe ich kaum was getan heute. Die Zeit hat sich einfach nur still fortbewegt und ich habe versucht, nicht aus ihr herauszufallen. Es ist mir offensichtlich gelungen. Ich sitze hier. Ja, erschöpft und erledigt und weiß gar nicht, wovon. Ich bin ja noch immer krankgeschrieben. Meine Chefin

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Teil B – Der Prozess des Trauerns

hat Verständnis, doch letztlich muss ich ja irgendwann wieder hin. (…) Jeden Morgen würde ich am liebsten einfach nur im Bett liegen bleiben. Was sollte ich auch da draußen? Da ging das Leben weiter, während meines mit ihm untergegangen war. Und doch spürte ich, dass ich leben musste. Ob ich es wollte oder nicht. Etwas in mir entschied sich dafür. Was das genau war, konnte ich nicht benennen.

Entscheidungen stehen an …

(…) Eine Woche, ein Monat, ein Jahr nach dem Tod von Sven stand ich wieder und wieder und wieder in seinem Zimmer. Ich sollte seine Sachen wegräumen? Ich? Das war nicht vorstellbar. Ich kam mir vor, wie eine Frevlerin. Wir hatten doch ein Abkommen getroffen. Ich durfte sein Zimmer nur auf seine Einladung hin betreten. Sollte ich diese Abmachung jetzt brechen? Dann die Uni. Ich musste ihn dort exmatrikulieren. Doch wie sollte ich das tun? Sven hatte sich so gefreut über den Studienplatz und sich nichts sehnlicher gewünscht, als dort wieder hingehen zu können. Sechs Tage nach seinem Tod bekam Sven eine Einladung zum Klassentreffen. Wie sollte ich die absagen? ›Sven kann nicht. Er ist tot.‹ Jeder Tag brachte neue, für mich fast unlösbare Aufgaben. Es war, als ob mich Gott in einer ungeheuren Grausamkeit immer wieder prüfen wollte. (…)

Wer bin ich?

Manchmal schaue ich in den Spiegel. Ich sehe mich an und frage mich: ›Wer bist du?‹ Alles hat sich verändert. Und ich weiß, es darf sein. Alles hat sich verändert mit dem Tod von Sven. Also warum nicht auch mein Gesicht, meine Augen, meine Haltung.

Manchmal geht es …  

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Meine Augen sind sehender geworden. Und gleichzeitig für immer blind. Nie mehr werden sich meine und Svens Blicke treffen. Ich war manchmal schrecklich zu Sven. Ja, das war ich. Er war oft so anstrengend und fordernd. Und wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann musste dies geschehen. Egal, wie. Das hat mich manchmal so gestresst. Dann war ich ungerecht und auch laut zu ihm. Ich versuche da nicht zu sehr mit mir ins Gericht zu gehen. Es war für die Situation, in der es geschah, in Ordnung. Ich will, dass auch dies sein darf. Ich war ihm eine gute Mutter, auch wenn ich ihn manchmal angeschrien habe. (…)

Manchmal geht es …

Es gab Tage, da dachte ich: ›Heute geht es‹. Ich fühlte mich irgendwie dem Leben etwas mehr gewachsen. Dann – meist völlig unvorhergesehen – schreit meine Sehnsucht auf und ich will zu Sven, will ihn wiederhaben, kann mir ein Leben ohne ihn nicht mal andenken. Dann stürze ich wieder in diese Bodenlosigkeit aus Schmerz, Finsternis und Nichtverstehen. Das ist auch heute noch so. Und vielleicht bleibt das auch. Vielleicht muss es auch bleiben, damit ich ihn nicht vergesse. (…) Als ich zum Beispiel von dem Erdbeben in Haiti erfuhr, die Darstellungen der Zerrüttung und Zerstörung betrachtete, hatte ich plötzlich ein Bild. Ich wusste, dass es in meinem Inneren genauso aussieht. Der Tod meines Sohnes hat in mir ein Seelenbeben ausgelöst, das keinen Stein meiner Identität auf dem anderen gelassen hat. Ich werde Aufbauarbeit leisten müssen. Doch die dauert und was schließlich dabei herauskommt, weiß ich noch immer nicht. (…) Ich habe mich seit Svens Tod viel mit Erdbeben beschäftigt. Besonders gut gefällt mir ein Zitat von Immanuel Kant, anlässlich des Erdbebens in Lissabon:

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Teil B – Der Prozess des Trauerns

›Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammen nehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweifelung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Muth niederschlagen.‹

Unter mir hat sich die Erde bewegt und alles ist eingestürzt.

Entscheidung für das (Über-)Leben …

Am Anfang wollte – konnte – ich es einfach nicht glauben. Sven, mein Sven sollte tot sein? Das konnte nicht sein. Ich habe alles getan, um mich dieser Wahrheit nicht stellen zu müssen. Auf Dauer schaffte ich es nicht. Immer wieder blitzte die unbarmherzige Erkenntnis in mir auf: Er ist tot! Ich musste mich entscheiden. Seinen Tod annehmen – und damit irgendwie nach vorne leben. Oder mich der furchtbaren Erkenntnis verweigern und gewissermaßen mit ihm weiter sterben. Ich habe mich für das Leben entschieden. Jeden Tag versuche ich aufs Neue zu (über-)leben. Versuche mir selbst und dem Tag eine neue Gestalt zu geben. Das ist manchmal unmöglich und manchmal möglich. Aber immer ist es ein Kraftakt. (…) Ich weiß, ich habe es schmerzhaft erkannt. Ich muss Ja sagen, um überhaupt weiterleben zu können. Das Nein, das ich am liebsten laut und fortwährend herausschreien möchte, verschließt mich vor dem Leben. Es ist wie eine dunkle Tür, die nichts herein und nichts heraus lässt. Ich muss lernen Ja zu sagen. Manchmal gelingt es mir. Und manchmal fühlt es sich an, wie ein schrecklicher Verrat an Sven. (…)

Sven ist tot und ich lebe …  

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Es hat lange gedauert. Ich habe mich aus dem Nebel herausgewagt. Habe mich getraut hinzuschauen. Was ich erkannte, war schmerzhaft und hat mich fast umgebracht. Ich wusste, so geht es nicht weiter. Also habe ich mich getraut. Immer wieder ein ganz kleines Ja gesprochen. Letzte Woche habe ich mit einer Freundin das Zimmer von Sven zum Gästezimmer umgestaltet. Wir haben es ganz wohnlich gemacht. Als wir fertig waren, wusste ich, dass Sven stolz auf mich sein würde. Ja, ich will gut weiterleben. Und eines Tages werden wir uns wiedersehen. Bis dahin lebt Sven in meinem Herzen. (…) Ich frage mich manchmal, wieso ich dachte, dass es ›uns‹ nie treffen könnte. Also eigentlich bin ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dies zu denken. Es war immer alles so selbstverständlich. Manchmal, wenn ich Imme anschaue, sie in meine Arme nehme, bekomme ich Panik. Dann will ich sie halten, nicht loslassen. Doch das geht nicht. Ich weiß das. Dennoch ist da dieser Wunsch in mir. Imme lacht mich dann an und sagt: ›Ich bleibe‹. Es ist kindisch. Ich weiß. Es tut mir dennoch gut und ich will ihr glauben. Ich kann gar nicht anders. (…)

Sven ist tot und ich lebe …

Anfangs dachte ich, dieser Schmerz sei nicht zu überleben. Alles brach zusammen. Nichts war mehr sicher. Es war eine unbeständige schreckliche Welt. Ja, ich habe wieder einen ›EigenStand‹ gewonnen, habe wieder eine gewisse ›Eigen-Ständigkeit‹ erreicht und werde auch wieder ein Stück weit gehalten und getragen in dieser Welt. Ich weiß aber, dass dies mich nicht vor dem Schmerz schützt, wenn ich daran denke, dass Sven nie mehr wiederkommt. Dieses Nie-mehr ist für mich eine bis heute unbekannte Dimension.«

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Teil B – Der Prozess des Trauerns

Bei aufmerksamer Betrachtung lassen sich in den Gedanken und Ausführungen von Susanne F. die einzelnen Werdeschritte immer wieder ausmachen. Durch die begleitende gedankliche Fokussierung auf die einzelnen Schritte kann der komplexe Prozess der Trauerarbeit als Wachstums- und Werdeprozess für den Begleitenden transparenter und damit begleitbarer werden.

Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

Wie wird begleitet?

Der Tod eines nahe stehenden Menschen bedeutet für den Zurückbleibenden ein Auseinanderbrechen des bisher Vertrauten. Die Welt scheint still zu stehen und doch bewegt sich um den Trauernden herum alles in scheinbarer und unbeirrbarer Gleichgültigkeit weiter. Viele Trauernde empfinden sich als Bürger zweier Welten: hin und her gerissen zwischen »es war einmal« und »es wird nie wieder« befinden sie sich in einem Fremdland. Unsicherheit, Angst, emotionale Fassungslosigkeit, aufbrechende Fragen, verzweifelte Sinnsuche, umfassendes Nichtverstehen, wagendes Erproben neuer Gedanken sowie provisorische Schritte in ein neues Leben kennzeichnen den Zustand des Zurückbleibenden über einen langen Zeitraum und bringen ihn immer wieder auf schmerzhafte Weise in Berührung mit seinen eigenen Begrenzungen. Die Praxis zeigt, dass das Suchen nach (wieder) begehbaren Wegen sowie die Entwicklung eines neuen Selbst- und Weltverständnisses für Trauernde eine schwierige, manchmal kaum vorstell- und lösbare Aufgabe darstellt. Auf diesem Weg des Trauerns sind Begleitende, sind Mitaushaltende gefragt, die dem Grenzenlosen Raum geben, zur gegebenen Zeit auch eingrenzen, die den Verstand als Hilfe nutzen und dem etwas entgegensetzen, was nur und dauerhaft zerstörerisch sein will, die verstehen, dass im Trauerschmerz immer auch der Keim lebt, darin nicht stecken bleiben zu wollen.

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

Trauer ist wie ein Schrei aus dem Untergang, der ein wirklicher Untergang ist, aber keiner bleiben sollte. Begleitende sind Menschen, die um die Notwendigkeit dieses Schreis wissen, die ihn verstehen, ihn ertragen (oft genug bis an die Grenzen des Aushaltbaren), ihn vielleicht sogar als Wendepunkt zum Weiterleben begreifen und ihm etwas entgegenhalten, wenn es an der Zeit ist. Es ist schwer, diesen Punkt genau festzulegen. In der Begleitung Erfahrene ringen immer wieder um ein Gespür, auf die mit der Trauerbegleitung einhergehenden Fragen »richtig« zu reagieren: Wann kann stilles Dasein hilfreich sein? Wann sind helfende Erklärungen, die das Verstehen fördern, angezeigt und wo sind sie gerade hemmend, weil die Fragen der Trauernden »nur« Ausdruck von der Größe der Unfassbarkeit sind? Wann ist bei-leidendes Mitgefühl wichtig? Wann ist vielleicht ein provokativer Impuls angefragt, um aus der zerstörerischen Eigendynamik des Zweifels aufzuschrecken? Wie können die Fäden des Gehörten und Miterlebten miteinander verknüpft werden?

Haltung als Grundlage für die Anwendung der verschiedenen Begleitansätze

Es ist wichtig, dass sowohl ehrenamtlich als auch professionell Begleitende verstehen, dass sich Realität und Selbstverständnis des Hinterbliebenen grundlegend verändert haben und neu definiert werden müssen: Der Platz des Verstorbenen ist für alle Zeit leer. Seine Aufgaben müssen übernommen werden. Die Hinterbliebene ist keine Ehefrau mehr, sondern eine Witwe. Es gibt kein Später mehr, sondern nur noch ein Nie-mehr. Damit ehrenamtliche und hauptamtliche Trauerbegleiter diesen Veränderungsprozess und Statuswechsel verantwortungsbewusst begleiten können, bedürfen sie neben einer gelebten inneren Haltung, die sich in Wesensmerkmalen wie Achtsamkeit, Auf-

Haltung als Grundlage  

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merksamkeit, Offenheit, Akzeptanz, Behutsamkeit, Geduld, Verständnis, Empathie, Kongruenz und Wertschätzung zeigt, auch der Phantasie und Kreativität sowie kommunikativer – verbaler, paraverbaler und nonverbaler – Kompetenzen. Persönliche Trauererfahrungen reflektiert zu haben, eigene spirituelle Kraftquellen zu kennen und um die Bedeutsamkeit von fruchtbarem Schweigen zu wissen, sind weitere wesentliche Voraussetzungen für gute Trauerbegleitung. Einen Trauernden zu begleiten, setzt die Reflexion der eigenen Trauererfahrungen, ein fundiertes und qualifiziertes Wissen von Trauerkonzepten und -theorien voraus sowie Kenntnisse hinsichtlich der zu leistenden Trauerarbeit, der Dynamik des Trauerverlaufes und der unbeständigen, facettenreichen inneren Verfassung des Trauernden.2 Jeder Trauerprozess ist einzigartig und zeigt ein eigenes Gesicht. Gleichzeitig jedoch offenbart sich dieses Gesicht in einer Vielfalt von Trauergesichtern, die unterschiedlicher Begleitfacetten bedürfen. Für den Begleitenden bedeutet dies, dass er den Trauernden – im Sinne einer allgemein-pädagogischen Regel – immer wieder aufs Neue »dort abholen muss, wo er steht«, oder anders ausgedrückt: Der Begleitende muss sich »immer wieder dort hinbegeben, wo der Trauernde gerade steht«. Hierin kündigt sich schon an, dass im Verlauf eines einzigen Begleitgesprächs verschiedene begleiterische Fähigkeiten angefragt und eingesetzt werden können. Diese begleiterischen Fähigkeiten, die im Folgenden als eisagogisch-hinführende, konsolatorisch-verstehende, stimulierend-provokative, reflektie­ rend-verstehende und evaluierend-nachgehende Begleitfacetten bezeichnet werden, stellen eine begleiterische Innenausstattung dar und kommen in einer achtsamen und respektvollen Haltung 2 Dies gilt vor allem für die qualifizierte Trauerbegleitung, siehe hierzu die Qualitätsstandards des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V.

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

zum Ausdruck. Sie ermöglichen, dass der Trauernde entsprechend der Dynamik seines vielfältigen inneren Erlebens, das heißt entsprechend seiner – oft chaotischen – inneren Verfassung begleitet werden kann.3 Das innere Erleben der Trauernden ist gewissermaßen ein Kompass für diese Begleitansätze, die der Begleitende lernt einzusetzen, indem er aufmerksam hinhört und immer wieder mit allen Sinnen aufnahme- und empfangsbereit ist. Für die Begleitansätze gilt das Gleiche wie für die Werdeschritte. Auch wenn diese hier einzeln aufgeführt werden, so sind sie nie in ihrer Reinheit und Isoliertheit anzutreffen, sondern in der Betrachtung wird künstlich getrennt, was im (Begleit-)Leben zutiefst lebendig verwoben ist.

Eisagogisch-hinführender Begleitansatz Erwarteter Abschied

Eine erste Begleitform ist der eisagogisch-hinführende Begleitan­ satz. Dieser Begleitansatz ist schon vor dem Eintritt des Todes gefordert. Eisagogisch heißt in diesem Sinne den Angehörigen vorzubereiten, ihn hinzuführen, ihn zu unterstützen sich dem bevorstehenden Abschied anzunähern, ohne vorwegnehmen zu können, welche Gefühle mit dem Eintritt des Todes wirklich ausgelöst werden und einhergehen können. Wenn ein nahestehender Mensch an einer Erkrankung leidet, die seitens der Ärzte als nicht heilbar diagnostiziert wird und die in absehbarer Zeit zum Tod führen wird, können Zugehörige schon im Vorfeld des Todesereignisses von einem Gefühl der Trauer erfasst werden. Der Verstand des betreuenden und mitgehenden Zugehörigen weiß um den tödlichen Ausgang der Krankheit und 3 Diese Formen der Begleitung wurden grundlegend entwickelt in Brathuhn (2006).

Eisagogisch-hinführender Begleitansatz  

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damit um den bevorstehenden Tod seines Nächsten. Der Tod des nahestehenden Menschen, der nicht wie bei einem Unfall oder einem Herzinfarkt plötzlich und unerwartet eintritt, wird – wenn auch auf eine zwiespältige Weise – erwartet. Zwiespältig deshalb, weil der Zugehörige zwar aufgrund der Diagnose weiß, dass der Tod kommen wird, aber er im Grunde nach wie vor ein Wunder erwartet, das dem unaufhaltsam fortschreitenden Sterben Einhalt gebietet und den drohenden Tod verhindert. Menschen wollen in dieser Situation sowohl, dass der vertraute Mensch von seinem Leiden erlöst werden möge, als auch, dass er weiterlebt und bleibt. Diese Form der Trauer bedarf einer speziellen Art und Weise der Begleitung, die hier als eisagogisch-hinführende Begleitung bezeichnet wird. Sie kann ihren Einsatz nur dort finden, wo der Tod »vorhersehbar« geworden ist: in Krankenhäusern, Altenund Pflegeheimen, in Hospizen und im eigenen Zuhause. Eisagogische Begleitung ist ein Hinführen, ein Vorbereiten auf den endgültigen und auf Dauer gestellten Abschied und kann nur dann stattfinden, wenn ein Zugehöriger den schwerstkranken Menschen über einen längeren Zeitraum betreut. Mit dieser Begleitform wird nicht das schreckliche Geschehen vorweggenommen, das heißt, es besteht nicht die Annahme, dass hiermit die existenzielle Dimension der Trauer antizipiert werden und Trauer sozusagen im Vorhinein erlebt werden kann. Möglicherweise werden Zugehörige in dieser Begleitform in die Lage versetzt, den Tod ihres vertrauten Menschen denkerisch vorwegzunehmen, jedoch wird dieses Denkwissen sie nicht vor dem existenziellen Schmerz bewahren können, der mit dem Erfahrungswissen oder mit dem »geschmeckten« Wissen einbricht. Der Theologe Fridolin Stier beschreibt diesen Wissenswechsel nach dem Tod seiner Tochter in dem Buch »Vielleicht ist irgendwo Tag«: »Aber dann kommt er (der Tod) und (…) mein Denkwissen platzt zur Wirklichkeit auf. Aus der Wahrheit, die

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

ich eingeübt und mir vertraut gemacht habe, fährt es plötzlich heraus, wie ein Blitz in die Krone durch den Stamm bis in die Wurzeln des Baums schlägt (…) Dann ›schmecke‹ ich ihn. Die Wahrheit wissen ist das eine, sie zu schmecken bekommen das andere« (1981, S. 112). Alle vorbereitende und hinführende Begleitung kann nicht den »Geschmack«, den der Tod auslösen und hinterlassen wird, vorwegnehmen. Aufklärung und Information

Eisagogische oder hinführende Begleitung zielt darauf ab, dass dem betroffenen Menschen in einigen Bereichen eine Vorbereitung ermöglicht wird, damit er beispielsweise die verbleibende Zeit nutzen kann, um bestimmte Angelegenheiten zu regeln und Vorkehrungen zu treffen. Die eisagogische Begleitform schließt auch ein Gespräch darüber ein, welche therapeutischen Maßnahmen noch durchgeführt werden sollen: ab wann sich beispielsweise kurative Ansätze in palliative wandeln sollen; ob eine Patientenverfügung vorliegt; ob der Wunsch nach palliativer Sedierung besteht. Gleichzeitig soll diese Form der Begleitung den Zugehörigen dazu befähigen, dem Todkranken nahe zu bleiben und ihn eben nicht aus Angst vor der Ungewissheit zum Sterben (oftmals im letzten Moment) in einer Institution unterzubringen. Die Angst vor der Ungewissheit speist sich einerseits aus der ganz elementaren menschlichen Frage: »Wie soll ich leben, wenn der Mensch, den ich liebe, nicht mehr da ist?«, und andererseits daraus, dass der Zugehörige vielfach ohne jegliche Vorerfahrung hinsichtlich der letzten Lebensphase ist. Dies beinhaltet als wesentliche Forderungen an die Begleitenden, dass der Zugehörige rechtzeitig und einfühlsam darüber informiert wird, dass die Erkrankung unausweichlich in den Tod führt und dass er über den möglichen Verlauf des Sterbeprozesses aufgeklärt wird. Aufklären in diesem Kontext heißt, dem Zugehörigen mehr als eine kogni-

Eisagogisch-hinführender Begleitansatz  

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tive Zur-Kenntnis-Nahme des bevorstehenden Todes zu ermöglichen. Es bedeutet auch, ihm Einsichten in den Sterbeprozess zu vermitteln, die ihm einerseits als Brücke zum Sterbenden dienen können und ihm andererseits sowohl Orientierung als auch eine gewisse Sicherheit bieten. Klara A. berichtet, dass ihr diese Sicherheit gefehlt hat: »Ich fühlte mich völlig unvorbereitet, als meine Schwiegermutter verstarb, ich hätte gern vorher gewusst, dass die auftretenden Flecken an ihren Beinen ein Zeichen des herannahenden Todes waren. So dachte ich, dass sie schlimme innere Blutungen habe, und war völlig verunsichert. Auch weiß ich erst jetzt, dass das Rasseln der Atmung nicht belastend für meine Schwiegermutter war. Es hat mir solch eine Angst gemacht.« Auch Erna K. war zutiefst verunsichert durch das rasselnde Atmen ihres Mannes. »Ich dachte, er erstickt, und dies müsse verhindert werden. Die Schwester erklärte mir dann, dass die Feuchtigkeit hin und her bewegt wird und keinen Einfluss auf seine Befindlichkeit hat. Das hat mich beruhigt und es mir ermöglicht, nicht panisch zu werden.«

Dableiben und in Beziehung bleiben bis zuletzt

Einen Zugehörigen, der einer Zukunft ohne den vertrauten Menschen entgegengeht, eisagogisch-hinführend zu begleiten bedeutet, ihm zu helfen, diese Zukunft gerade nicht durch vorzeitigen Beziehungsabbruch vorwegzunehmen, sondern bis zuletzt in Gemeinschaft zu leben. Dies erfordert vom Begleitenden, eine grundlegende Offenheit und Aufmerksamkeit hinsichtlich der gestellten Fragen des Zugehörigen an den Tag zu legen, Raum für (noch) ungestellte Fragen zu eröffnen, dem Zugehörigen aus der Wortlosigkeit ins Wort zu helfen, ihm dabei behilflich zu sein, allem Sprache zu geben, was nach Ausdruck verlangt, sowie ihn

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

zu unterstützen, eigene Antworten zu finden. Antworten, die ihm zu diesem Zeitpunkt, in aller bestehenden Unsicherheit, sinntragend sein können und ihm Orientierung ermöglichen. Begleitende müssen den Angehörigen in dieser Situation als einen Menschen wahrnehmen, der in einer Doppelwelt lebt. In der einen Welt ist er sozusagen Manager und Organisator der ganzen Krankheitssituation mit allem, was dazu gehört, und in der anderen Welt ist er angstvoll Leidender. Er ist ein Doppelwesen: »ein ku(e)mmernder Angehöriger«. Er muss sich kümmern und hat gleichzeitig tiefen Kummer. Eisagogisch-hinführende Begleitung erfordert vom Begleitenden, die im Folgenden vorgestellten Begleitansätze nicht nur zu kennen, sondern sie auch dort und dann mit einzusetzen, wo sie dem Zugehörigen auf dem schweren Weg des bevorstehenden Abschieds Hilfe und Unterstützung sein können. Dies gilt oft auch für die Zeit unmittelbar nach dem Versterben. So sagt Herbert K.: »Ich hätte nicht gehen dürfen, um mir einen Kaffee zu nehmen und mich mit der Schwester zu unterhalten. Genau in diesem Moment ist meine Frau gestorben.« Hier kann es hilfreich sein, Trauernden ein anderes Deutungsmuster anzubieten, zum Beispiel, dass die kurze Abwesenheit auch hilfreich für den Sterbenden gewesen sein kann, da nicht jeder Sterbende in Anwesenheit eines anderen Menschen – unabhängig davon, wie vertraut er ihm ist – sterben kann (oder will), dass es vielleicht zu schwer oder zu schmerzhaft für den Sterbenden ist, diese Welt zu verlassen, wenn der geliebte Mensch an seiner Seite wacht. Eine gute eisagogische-hinführende Begleitung nimmt weder den Trauerschmerz vorweg, noch verhindert sie ihn, sondern durch gute Information, durch Dabeisein und In-BeziehungBleiben ermöglicht sie es, dass der bevorstehende Trauerweg nicht durch zusätzliche Unsicherheiten und ungute Erfahrungen beschwert wird.

Konsolatorisch-verstehender Begleitansatz  

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Konsolatorisch-verstehender Begleitansatz Emotionale Fassungslosigkeit

Der konsolatorisch-verstehende Begleitansatz, hergeleitet von dem lateinischen consolatio (Trost), verweist auf Trost und Einfühlsamkeit. Dieser Begleitansatz ist immer dann angefragt, wenn der Zustand des Trauernden durch emotionale Fassungslosigkeit gekennzeichnet ist. Der Trauernde »zerfließt« im Weinen, »verflüchtigt« sich, »löst sich auf«, verliert gewissermaßen seine Fassung und seinen Halt. Aussagen wie »Das kann doch nicht wahr sein«, »Ich kann das nicht mehr aushalten«, »Es ist zu schrecklich, was ich ertragen muss« sind Ausdruck von Verzweiflung und emotionaler Fassungslosigkeit. Diese emotionale Dysbalance kann sich gleichwohl in erstarrter Wort- und Sprachlosigkeit sowie im Herausschreien der unterschiedlichen Emotionen bis hin zur verzweifelten Äußerung des Wunsches, nicht mehr weiterleben zu wollen, ausdrücken. Der konsolatorisch-verstehende Begleitansatz zielt auf Trost und Verständnis. Etymologisch verweist das Wort Trost auf den indogermanischen Wortstamm »treu«, was so viel bedeutet wie (innere) Festigkeit, und zeugt damit von »Halt«. Diesen braucht der Trauernde, dem mit dem Tod des vertrauten Menschen so viele Sicherheiten weggebrochen sind und der gerade am Anfang seines Trauerweges gleichsam halt-los ist. Passiver und aktiver Trost

Aus der Perspektive des Begleitenden kann zwischen passivem und aktivem Trost unterschieden werden. Die passive Trostform hört zu, hält den Schmerz mit dem Trauernden aus, nimmt ihn in seinem von Leid geprägten So-Sein, in seinem »Nicht-getröstet-werden-Können« an. Der Begleitende ist ganz da. Ganzda-Sein ist eine engagierte zugewandte Haltung, zu der sich der Begleitende bewusst und aktiv entscheidet. In dieser Haltung

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

nimmt er die Situation sowie den Trauernden selbst mit aufmerksamer Achtsamkeit wahr, signalisiert ihm Bejahung in seinem Schmerz und lässt sich auf ihn ein, ohne sich dabei als omnipotenten Macher, als Alleskönner zu präsentieren, der den Trauernden in der falschen Hoffnung wiegt, seine Not aufheben beziehungsweise sein Leiden beseitigen zu können. Der passive Trost, in Form des »Ich bin da«, kann dem halt- und fassungslosen Menschen ein Augenblick der Ruhe, ein kurzer Moment der Erholung sein und ihm im Gefühl des Verstandenwerdens einen gewissen Halt schenken. Das Wertvolle der »passiv-engagierten Trostbegleitung« kommt deutlich in den Worten von Marliese G. zum Ausdruck: »Ich wusste, dass Manfred sterben würde, seit Tagen war es klar. Und doch  … als er auf einmal nicht mehr weiteratmete, bin ich völlig ausgerastet. Ich habe geschrien, ihn geschüttelt und geweint. Ich wusste, dass es verrückt ist, und gleichzeitig fand ich keine Möglichkeit aufzuhören. Die Nachtschwester stand neben mir, schaute mich ruhig und auch liebevoll an und wiederholte immer wieder nickend und ganz leise ›ja … ja … ja …‹. Irgendwie beruhigte es mich, ich konnte aufhören und mich zu ihm setzen.«

Aktiver Trost ist zugehend und öffnend. Er zeigt sich in sensiblen und einfühlenden Fragen, die dem Trauernden helfen sollen, aus seiner emotionalen oder lähmenden Fassungslosigkeit herauszufinden: »Was brauchen Sie jetzt?«, »Was würde Ihnen jetzt gut tun?«, »Ist es in Ordnung, wenn ich hier im Raum bleibe?«, »Würde es Ihnen gut tun, mit Ihrem Mann allein zu sein?« Die Antworten des Trauernden, die hier und da klar und präzise, manchmal jedoch verschlüsselt oder angedeutet sind, sowohl auf verbaler als auch auf nonverbaler Ebene geäußert werden, müssen vom Begleitenden feinfühlig, aufmerksam, intensiv und geduldig wahrgenommen und gedeutet werden.

Konsolatorisch-verstehender Begleitansatz  

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Sie können wegweisend für notwendige, weiterführende – oder in eine andere Richtung führende – Fragen sein. Klara F.: »Ich weiß nicht, wie lange ich bei meinem verstorbenen Mann saß. Irgendwann kam die Nachtschwester wieder rein. Sie hatte so etwas Ruhiges. Das tat gut. Als sie sich einen Stuhl heranzog und sich kurz neben mich setze, fühlte ich mich auf seltsame Weise geborgen. Schwester Ilse fragte mich, ob ich einen besonderen Wunsch habe, was mein Mann auf seinem letzten Weg tragen sollte. Es schien so selbstverständlich und tat mir einfach gut.«

In der hier beschriebenen Form des Trostes realisiert sich ein Verständnis, welches darauf reagiert, dass der Trauernde in dieser unwirklichen Situation, in diesem für ihn unbekannten Fremdland einen Menschen an seiner Seite braucht, der sich in sein inneres Erleben einfühlt, der mit ihm fühlt, der ihm Halt ist, ihn aushält, annimmt und versteht. Dieses Verständnis, dieses Ver­ stehen ist kein ausschließlich kognitiver Vorgang, sondern es ist ein Weg, der von einem Ich zu einem Du, von einem, der begleitet, zu einem, der trauert, führt. Es signalisiert dem Trauernden, dass da jemand ist, bei dem er sich, so chaotisch wie er ist, mit dem, was er fühlt und denkt, zeigen kann. Dass er schweigen darf, nicht sprechen muss, sprechen darf und nicht schweigen muss. Sich in seinem Schmerz nicht zu verstecken braucht. In solchen Momenten kommt es darauf an, den Trauernden erfahren zu lassen, dass seinem Leid grundsätzlich Anerkennung gebührt, dass es nicht weggeredet, beschönigt oder gar ignoriert, sondern ernst- und angenommen wird – und zwar unabhängig davon, ob es am Anfang des Trauerweges ist, nach ein paar Monaten oder Jahren. Das Verständnis und Verstehen zeigt sich als Haltung und kommt verbalisiert in dem Gedanken »Ich nehme Ihr Leiden wahr und versuche Ihren Schmerz annähernd zu fühlen und zu verstehen« zum Ausdruck.

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

(Nicht-)Berührung

Einen besonderen Stellenwert nimmt im konsolatorisch-verstehenden Begleitansatz das Thema Berührung ein. Nicht immer wollen Trauernde berührt werden: Marla M., nach dem Tod ihrer Tochter: »Ich war wie erstarrt, schaute immer nur auf meine Tochter, die sich nicht mehr bewegte, nicht mehr atmete und so starr wirkte. Ich spürte, wie sich diese Bewegungslosigkeit auch in mir breit machte, wie mir das Atmen schwer fiel. Ich fühlte mich wie erstarrt. Ich war froh, dass mich keiner angefasst hat. Ich hätte es nicht ertragen.«

Die Worte von Marla M. verweisen einerseits auf den oftmals nicht bewusst wahrgenommenen Wunsch des Zurückbleibenden, mit- oder nachsterben zu wollen, und andererseits können sie als der letzte verzweifelte Versuch erkannt werden, sich dem geliebten Menschen »ähnlich« zu machen, um mit ihm in Kontakt, in Beziehung zu bleiben. Hier wird deutlich, wie sorgfältig in der Begleitung mit dem Thema körperliche Berührung umgegangen werden muss. Begleitende müssen das Phänomen des Unberührbarkeitswunsches kennen, um achtsam wahrnehmen zu können, ob Berührung jetzt hilfreich und unterstützend ist oder ob das oft gut gemeinte »in den Arm nehmen« den Trauernden noch mehr in den Rückzug drängt, also mehr Abstand als Nähe, mehr Unsicherheit als Halt erzeugt. Christine K., eine Ärztin, sagte, dass die (im Nachhinein durchaus als liebevoller Trostversuch gedeutete) Berührung ihr wie ein gewaltsamer Reanimationsversuch vorgekommen wäre. Und natürlich gibt es Trauernde, für die eine leichte Berührung, ein sanftes in den Arm nehmen, die Hand halten etwas Tröstendes und Haltgebendes ist. Marliese L. berichtete, dass es ihr gut tat, dass der Arzt ihr am Bett ihres toten Vaters die Hand gab, ihr kondolierte und dabei seine andere Hand auf ihren Oberarm legte.

Konsolatorisch-verstehender Begleitansatz  

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Die Berührung sei so echt gewesen und habe sie beruhigt. Und für Karla A. war es ganz wichtig, dass ich als Begleiterin ihr am Todestag ihrer Schwiegermutter beide Hände hielt und sie einfach nur weinen ließ. Sie empfand es als tröstlich, schweigend (aus-)gehalten zu werden. Für ehrenamtliche und professionelle Trauerbegleitende bedeutet dies, sensibel auszutarieren, was gebraucht wird, und gleichzeitig ist es immer abhängig von dem Verhältnis, das zwischen den Beteiligten herrscht. Wenn hier von Berührung die Rede ist, dann zielt es nicht nur auf physische, sondern auch auf emotionale Berührung ab. Es ist für viele Trauernde eine Ehre zu spüren, dass das eigene Leid ihr Gegenüber nicht unberührt lässt. Wir Menschen sind mit-leidens-fähige Wesen und wir dürfen dies zeigen. Wahre Begegnung kann nur stattfinden, wo Menschen sich öffnen, und sich öffnen geht immer einher mit berührt werden können. Da wo begleiterisches Berührtwerden in emotionales Überwältigtwerden umschlägt, ist es Aufgabe des Begleitenden, sich selbst supervisorische Unterstützung zu holen und eventuell die Begleitung abzugeben. Die konsolatorisch-verstehende Begleitung als haltgebender Schutzraum

Einen Trauernden konsolatorisch-verstehend zu begleiten be­ deutet, ihm einen haltgebenden Schutzraum aus Bejahung, Wertschätzung, Verständnis und Trost zu gestalten, in dem er seine Gefühle – auch die extremen und ambivalenten – zulassen und ausdrücken darf, in dem er sich auf- und angenommen fühlt. Sein emotionales Trauerchaos, das sich zwar besonders am Anfang des Trauerweges zeigt, kann ihn jedoch auch zu späteren Zeitpunkten immer wieder aufs Neue ergreifen und aus seinem hart erarbeiteten Gleichgewicht werfen. Karin F., die nach dem Tod ihres Mannes schon viele Schritte in Richtung eines eigenen Lebens gegangen war, berichtete wei-

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

nend, wie sie ihre Fassung beim ersten Kinobesuch ohne ihren Mann verlor: »Als sich die Sitze rechts und links von mir füllten, spürte ich einen entsetzlichen Schmerz. Wessen Hand sollte ich denn jetzt ergreifen, wenn die Spannung zu groß würde? Das ›Nie-wieder‹ stand plötzlich riesengroß vor mir und ich rannte schluchzend raus.«

Zu diesem Zeitpunkt war sie seit einem Jahr in der Trauerbegleitung und realisierte im Moment des Kinobesuchs auf einer anderen Ebene, dass ihr Mann nie wieder kommen würde. Für Begleitende bedeutet dies, dass der beschriebene Begleitansatz auf jedem Abschnitt des Trauerweges immer wieder aufs Neue gefordert werden kann und zur Anwendung kommen muss. Hier kann nicht gesagt werden: »Also, Sie sind doch schon viel weiter. Denken Sie doch mal drüber nach, was Sie schon alles erreicht haben.« Bei Karin F. war es in diesem Moment, als wäre keine Zeit vergangen. Was sie an dieser Stelle brauchte, waren Verständnis und Da-Sein und das Aushalten ihres vermeintlichen Rückschritts. Der konsolatorisch-verstehende Begleitansatz hilft dem Menschen – sowohl am Anfang als auch immer wieder im weiteren Verlauf des Trauerprozesses – in die Trauerarbeit hinein. Er löst die Trauer sozusagen aus, ermöglicht es dem Trauernden, in die emotionale Fassungslosigkeit hineinzutreten, die Gefühle, den Schmerz zuzulassen, sich zu öffnen und sich gewissermaßen empfangsbereit zu machen für das, was jetzt kommt.

Stimulierend-provokativer Begleitansatz Ratlose Verzweiflung

Ist der Begleitende dem Trauernden in der Situation der emotionalen Fassungslosigkeit eher ein Resonanzkörper für seine Trauer

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sowie stützendes und haltgebendes Gegenüber, ist er ihm in diesem Begleitansatz nun der Andere, der Fremde. Er ist jemand, der spiegelt, was ist, jemand, der das Blickfeld – die Perspektive – des Trauernden anregt, stimuliert und weitet und ihn – wenn und wo nötig – auch herausfordert und mit neuen Horizonten konfrontiert. Ziel dieses Begleitansatzes ist es, den Trauernden behutsam und achtsam zu provozieren, neue, bisher ungewohnte Denk- und Verhaltensmuster hervorzurufen und damit neue Reaktionen zu ermöglichen. Der Begriff »Provokation« entstammt dem lateinischen pro­ vocatio, was so viel bedeutet wie Herausforderung. Die Vorsilbe pro verweist auf ein Vorwärts. Vocare bedeutet »rufen«. Der Trauernde wird in der Provokation gewissermaßen zu einem Vorwärtsgehen aufgerufen und es ermöglicht ihm, sich selbst mit jedem Schritt ins neue Leben zu prüfen. Stimulierend-provokative Begleitung kommt als Begleitansatz dann in Frage, wenn der Trauernde ratlos, verzweifelt ist und von der Frage nach Sinn gequält wird. Sinn meint Bedeutung. Sinn deutet auf etwas hin, das schlüssig ist und zusammenhängt. Solange das Leben reibungslos zu funktionieren scheint, sich alles nahtlos fügt, erklärt es sich von selbst, muss Sinn nicht hinterfragt werden. Stirbt jedoch ein nahestehender Mensch, dann bricht dem Zurückbleibenden die bislang unhinterfragte alltägliche Sinnhaftigkeit weg. Der fehlende Sinn, die Suche nach Sinn zeigt sich in aufbrechenden Fragen. So fragen Trauernde: »Warum wurde gerade mir mein Kind genommen?«, »Warum konnte ich nicht an seiner Stelle sterben?«, »Warum hat Gott das zugelassen?«, »Wozu soll ich noch weiterleben und wie soll ich das schaffen?«, »Was hat das alles noch für einen Sinn?« Nicht nur der Sinn des schrecklichen Geschehens wird jetzt fragwürdig, sondern auch der Sinn des eigenen Daseins (der Sinn der Vergangenheit und Zukunft ebenso wie der der Gegenwart), ja der Sinn des ganzen Daseins überhaupt wird zur (be-)

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

drängenden Frage. Die aufbrechenden Fragen sind getrieben von dem Wunsch, dem Geschehen Sinn und Bedeutung beizumessen. In diesen Fragen wird deutlich, dass das Verlorene, das noch Bestehende sowie das bereits Neue und Fremde in einen scharfen Konflikt zueinander geraten. Trauernde werden in diesem Konflikt aufgerufen, sich bewusst »auf den Weg zu machen«, um diese Fragmente wieder miteinander in ein Bild zu bringen, sie zu einem Ganzen zu fügen und so wieder stützende und haltgebende Sinnstrukturen zu finden. Individuelle Sinnsuche

Aufgabe von Begleitung ist es jetzt, den Trauernden in seiner individuellen, aktiven, entscheidenden und bewussten Sinnsuche zu begleiten. Ihn darin zu bestätigen, zu ermutigen und zu bestärken, für das aus der Suche resultierende Tun Verantwortung zu übernehmen An dieser Stelle muss jedoch deutlich sein, dass der stimulierend-provokative Begleitansatz erst dann seinen Einsatz finden kann, wenn deutlich wird, dass der Trauernde in der Lage und bereit ist, sich auf den Weg zu machen. Voreilig gestellte Sinnerschließungsfragen können diesen Prozess eher behindern. Der Begleitende soll auch in der Lage sein, die Sinnlosigkeitsmomente des Trauernden auszuhalten und sie als wahre Gegebenheit anzunehmen. So sah Manfred R., der zwei kleinere Kinder hat, nach dem Miterleben des – wie er es bezeichnete – »elenden Krepierens« seiner Frau keinerlei Sinn mehr in seinem Leben. Hier liegt die Verführung nahe, dem Trauernden mit der Verantwortung für die beiden Kinder ein Sinnangebot zu machen. Für Manfred R. war es jedoch hilfreich und unterstützend, dass er die empfundene Sinnlosigkeit überhaupt formulieren durfte. Im Gespräch wurde deutlich, dass es weniger um die Sinnlosigkeit seines Lebens als um den schrecklichen Leidensweg seiner Frau ging. Im Verlauf der Begleitung konnte der Trauernde mit Hilfe des provokativen

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Begleitansatzes herausgefordert werden, dem Leben zu antworten, lebendige Antworten zu finden und im Geben seiner eigenen Lebensantworten seinem veränderten Leben neuen Eigen-Sinn zuzuschreiben. Mit diesem Begleitansatz wird es möglich, den Trauernden fragenderweise in seiner individuellen Sinnsuche zu bestärken, zu begleiten und mit seinen eigenen – jetzt anstehenden – Aufgaben in Kontakt zu bringen. Die Aufgaben, die sich im Dialog zwischen Begleitenden und Trauernden herauskristallisieren können, sind sowohl praktischer Natur (Kochen, Autofahren, ein Hemd bügeln, Steuererklärung machen etc.) als auch existenzieller Natur (Sicht auf mich selbst, Sicht auf den Menschen, Sicht auf mein Leben, Sicht auf Gott und die Welt etc.). Die gemeinsam herausgearbeiteten Aufgaben sollten dem Trauernden sowie dem Begleitenden klar und transparent sein. Wenn Anja B. sagt, dass sie gar nicht mehr weiß, wer sie eigentlich ist, dann könnte die dahinter liegende Sinn-Aufgabe sein, sich selbst kennenzulernen, sich wieder mit sich identisch zu fühlen. Mögliche stimulierende Fragen wären dann: »Wie könnten Sie herausfinden, wer Sie sind?«, »Wie könnten Sie sich denn neu kennenlernen?«, »Welche Möglichkeiten der Kontaktaufnahme fallen Ihnen denn ein?« Oder Bernhard S., der nach dem Tod seiner Frau, die immer den Garten pflegte, sagte: »Für mich macht das alles keinen Sinn mehr. Am liebsten würde ich alles im Garten kaputt gehen lassen, so, wie auch sie kaputt gegangen ist. Ich weiß aber, dass sie das nicht wollen würde.«

Mögliche provokative – also in den Sinnhorizont hineinführende – Fragen könnten lauten: »Was glauben Sie, könnte die in diesem Garten enthaltene Aufgabe für Sie sein?«, »Erkennen Sie in dem Garten eine Anfrage oder einen Auftrag an sich?«,

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»Wozu fordert Sie der kaputtgehende Garten heraus?« Herr S. hat sich sehr mit diesem Garten und den Fragen auseinandergesetzt. Es wurde deutlich, dass er mit dem Vergleich (kaputtgehender Garten – kaputt gegangene Frau) den Zerbruch seines Sinnerlebens aufzeigen wollte. Wie sollte die Pflege des Gartens noch Sinn haben, wenn die, die den Garten so sehr liebte, nicht mehr ist? Herr S. hat nach einigen Sitzungen für sich herausgefunden, dass er eine Ecke des Gartens als Erinnerungsort gestalten wollte. Hier wurden zwei Rosenbäumchen gepflanzt, da seine Frau ihm am Anfang ihrer Beziehung mal das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot vorgelesen hatte. Integration und Heilung

Der stimulierend-provokative Begleitansatz kann den Trauernden auch unterstützen, Unvollständiges, Unerledigtes, Verletztes oder Brüchiges nicht nur in Bezug auf seine aktuelle Situation, sondern auch hinsichtlich seines bisherigen Lebens (und seiner Beziehung zu dem Verstorbenen) aufzudecken. Dies ist bedeutsam, da Trauernde gerade im Zustand der ratlosen Verzweiflung zu einer defizitär orientierten Sichtweise neigen und sich weder als Einheit noch als Ganzheit erkennen (können). Stimulierende und provokative Fragen können den Trauernden zu einer bejahenden Bewertung seiner Perspektive befähigen. Fragmente, Verletzungen und Brüche können ihm dann – möglicherweise – als Zeichen fehlender Einheit und unklaren Sinnzusammenhangs aufscheinen, die er auf individuelle Art und Weise heilen kann. Heilung bedeutet in diesem Sinne nicht Reparatur. Heilung beseitigt keine Wunden, lässt keine Verletzungen verschwinden, sondern im Prozess der Heilung kann das Erlebte und Erlittene integriert werden. Der Trauernde lernt auf seine je eigene Weise, mit den Narben und den Amputationen zu leben. Als der Ehemann von Erna B. starb, erklärte sie immer wieder verbittert:

Reflektierend-verstehender Ansatz  

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»Ich bin froh, dass er endlich weg ist. Er hat mich ein Leben lang bevormundet und unterdrückt, mir kaum Raum zum Atmen gelassen. Und trotzdem weiß ich jetzt nicht, wie es weitergehen soll.«

Es geht nun in der Begleitung nicht darum, ihr diese defizitäre Sichtweise zu nehmen, sondern sie zu stimulieren, einen neuen Weg zu finden. Mögliche stimulierende Angebote könnten sein: »Vielleicht mögen Sie jetzt einmal tief und kräftig durchatmen.« Oder: »Wie wäre es, wenn Sie sich jetzt einmal den Raum nehmen, Ihren Atem zu spüren, ihren eigenen Atemrhythmus zu erleben.« Wichtig ist es, die Schlüsselworte der Trauernden – in diesem Fall das Atmen – wahrzunehmen und sie aufzugreifen. Ein Begleiter, der es hier versteht, den Trauernden mit guten Fragen zu stimulieren und zu provozieren, also Reaktionen hervorzurufen, der unterstützt ihn dabei, nicht wegzuschauen, nicht zu verdrängen, nicht stehen zu bleiben, sondern sich neue Sinnfindungs- und Handlungsmöglichkeiten zu erschließen; er ermöglicht es, dass der trauernde Mensch, immer weitere, eigene Schritte – Lebensschritte – gehen kann. Lebensschritte, die ihn schließlich dahin führen, einen er-neuten sinnvollen inneren Zusammenhang von Leben und Welt herzustellen und sich wieder eine eigene Identität und Gestalt zu geben.

Reflektierend-verstehender Ansatz Umfassendes (kognitives und existenzielles) Nichtverstehen

Der reflektierend-verstehende Begleitansatz ist immer dann angefragt, wenn das kognitive Verstehen des Trauernden an Grenzen gerät und sein Verstand ihn im Stich lässt. Der Trauernde wird durch den Tod des vertrauten Menschen gezwungen, eine Wirklichkeit zu betreten, von der er nichts weiß und in der er

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nichts versteht. Er sieht sich unvermittelt in diese ihm im höchsten Maße unvertraute und fragliche Wirklichkeit hineingestellt. Nichtverstehen und kognitive Fassungslosigkeit sind die beiden Momente, die in dieser Situation seinen Zustand kennzeichnen und fassungsloses Fragen hervorrufen. In diesem kognitiven Nichtverstehen, in dem die bisher fraglose Orientierung aufgelöst ist, sein Denken keinen Halt mehr findet und das bisherige Wissen nicht mehr greift, wird der Trauernde zum Fragenden. Der reflektierend-verstehende Begleitansatz hat die Aufgabe, den Erwachensprozess des Trauernden, der im kognitiven Nichtverstehen seinen Ursprung hat, zu unterstützen. Er offeriert dem Trauernden zwei Fragewelten. Existenzielle Fragen

Die erste Fragewelt ist existenziell ausgerichtet und ermöglicht es dem Trauernden, Einsichten in die existenzielle Natur des Menschen zu gewinnen, um darüber sein eigenes Menschsein zu begreifen. Die zweite ist individueller Natur und berührt den Trauernden in seiner Einzigartigkeit, betrifft ihn also als diesen einmaligen, unersetzlichen und besonderen Menschen, der er ist. So formulierte Rita L. nach dem Tod ihres Lebensgefährten in unterschiedlichsten Situationen fassungslos staunend und nichtverstehend folgende Fragen: »Wie kann das nur sein?«, »Ich verstehe das nicht, wir hatten doch noch so viel vor!«, »Wie kann er trotz meiner Liebe tot sein?«, »Er war doch gerade noch da?«, »Warum kommt er nicht wieder?«, »Wie ist das bloß möglich?«, »Warum muss ich weiterleben?«

Die Fragen, die sich ihr aufdrängen, sind zweckfrei, haben keine »rational-logische« Antwort-Erwartung, verfolgen keine Absicht, sondern sind existenzieller Art. Sie sind Ausdruck eines existenziellen Erwachens, können einen Zugang zu neuen Erkenntnis-

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sen eröffnen und vertiefende Einsichten sowohl in die Welt als auch in sich selbst ermöglichen. Im Aufbrechen der Fragen wird erlebt, dass alles, was bisher für selbstverständlich und richtig erachtet wurde, doch ganz anders ist. Gleichzeitig kann erkannt werden, dass auch dieses, als das ganz andersartig Erfahrene selbst die Möglichkeit in sich trägt, wieder und wieder vollkommen anders zu sein. Begleitende, die aufmerksam beobachten, werden auch in der Körperhaltung des Trauernden sein Nichtverstehen wahrnehmen. Häufig wird als Zeichen des Nichtverstehens der Kopf geschüttelt oder es werden die Schultern gezuckt oder die Handflächen offen nach oben gehalten. Die in Rita L. aufbrechenden Fragen verweisen zum einen auf das Phänomen der Kontingenz (auf unbeeinflussbar-zufällige Ereignisse, denen ein Mensch schicksalhaft ausgesetzt ist), zum anderen auf die Tatsache der eigenen Sterblichkeit. In beiden Phänomenen erfährt sie sich selbst, die Welt und den Tod als nicht aufzulösendes Geheimnis. Einen Trauernden reflektierend-verstehend zu begleiten, heißt aus Sicht der ersten Fragewelt, ihn in seinem Fragen behutsam weiterzuführen, bis er selbst erkennt, dass es weder endgültige noch allgemeingültige Antworten gibt, sondern dass der Mensch, dass die Welt und der Tod letztlich nie ganz erklärbar und auflösbar sind. Der Begleitende unterstützt den Trauernden darin, zu erkennen, dass er als Mensch die Fragen, die er hat, und die Frage, die er ist, nur leben und vertiefen kann. Fragen, die auf das Existenzielle abzielen und den Trauernden dabei unterstützen sollen, Einsichten in das Menschsein überhaupt zu gewinnen, könnten beispielsweise heißen: »Was heißt es für Sie, dass wir Menschen eigentlich nichts in der Hand haben?« Frida V. antwortete mehr oder weniger erbost auf diese Frage:

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»Letztlich heißt es doch nichts anderes, als dass wir unser Leben so leben müssen, als könnte es jeden Moment zu Ende sein. Das ist doch kaum auszuhalten. Wie soll das gehen?«

Und Bernd K., dessen 14-jähriger Sohn bei einem Badeunfall ums Leben gekommen war, sagte: »Ich hätte es nicht verhindern können. Auch wenn ich mein Leben dafür geben würde, wenn ich es gekonnt hätte.«

Weitere Fragen an Trauernde wären: »Wenn Sie Ihre Fragen hören, welche eigenen Antworten drängen sich Ihnen auf?«, »Sie sagten vorhin: ›Ich kenne mich selbst kaum wieder. Ich bin selbst ein großes Fragezeichen.‹ Was bedeutet das für Sie?«, »Wenn das Leben im Letzten doch nicht planbar ist, wie würden Sie es dann gern leben?« Lebensklima

Indem sich der Trauernde tiefer und tiefer in diese und ähnliche Fragen hineindenkt, seine selbst gefundenen und gegebenen Antworten gemeinsam mit dem Begleitenden reflektiert und prüft, und dies kann sowohl bewusst wie auch unbewusst geschehen, bringt er sich in eine neue innere Verfassung. Er stellt sich in die Möglichkeit, den Zwiespalt ihrer Ungelöstheit zu ertragen, und ergreift auf diese Weise die Chance, ein Lebensklima zu entwickeln, das es ihm gestattet, Abschied von Allmachtsgedanken zu nehmen (ich habe es nicht in der Hand), sich als Geheimnis anzuerkennen und mit der eigenen Unerklärbarkeit anzufreunden. Begrifflichkeiten, die ein solches Lebensklima charakterisieren, sind: Provisorium, Vorläufigkeit, Wagnis, Fragment, Experiment, Offenheit und Sich-Anvertrauen. Die Worte von Elisa L., deren Mann im Alter von 42 Jahren nach einen Schlaganfall verstarb, zeigen die Gestaltung eines solchen Lebensklimas deutlich:

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»Ich habe immer gedacht, dass ich genau weiß, wer ich bin und wie das Leben ist. Da waren keine Zweifel in mir. Ich war manchmal richtig überheblich. Als Harald starb, dachte ich, verrückt zu werden. Ich erkannte mich selbst nicht mehr, verstand nicht, wieso sich das Leben einfach ohne ihn weiterdrehte. Da war so viel Nichtverstehen in mir, tauchten so viele Fragen in mir auf. Ich lernte mich auf eine schmerzhafte Art und Weise ganz neu kennen. Heute habe ich das Gefühl, mich jeden Tag aufs Neue mit mir vertraut machen zu müssen, und spüre doch, dass da so vieles in mir ist, das mir verborgen bleiben wird. Haralds Tod hat mich gelehrt, dass das Leben nicht berechenbar ist und dass ich meine eigenen Lebensantworten bewusst und unter dem Gedanken der Vorläufigkeit geben muss. Jeden Tag kann etwas passieren, das alles wieder aushebelt. Ja, ich probiere mich wieder für das Leben zu öffnen, versuche mich dem Leben wieder anzuvertrauen, aber ich weiß heute, dass das ein immerwährendes Experiment sein wird.«

Identitätssuche – Wer bin ich?

Reflektierend-verstehend zu begleiten zielt in Bezug auf die zweite Fragewelt darauf ab, einem trauernden Menschen Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit der individuellen Kernfrage »Wer bin ich eigentlich (angesichts des erlittenes Verlustes)?« zu gewähren. Der Zurückbleibende erfährt sich ohne den Verstorbenen allein und auf sich selbst zurückgeworfen. Die gemeinsame Vergangenheit scheint fixiert, die Gegenwart ein haltloser Abgrund und die Zukunft nicht mehr (be-)lebbar. Oft weiß der hilfesuchende Trauernde in dieser Situation nicht, wer er ohne den geliebten Menschen ist oder wie er sein weiteres Leben ohne diesen bewältigen soll. Auch hier prägen Nichtverstehen und kognitive Fassungslosigkeit den inneren Zustand. Fragen, die sich nun aufdrängen, sind: »Wer bin ich denn eigentlich ohne diesen Menschen?«, »Was soll ich denn jetzt ohne den geliebten Anderen tun?«, »Wer

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bin ich denn jetzt als einer, der allein ist und das Wir nur noch als Erinnertes beziehungsweise als Aufgehobenes hat?«, »Wo bin ich geblieben, als er starb?«, »Was soll ich hier noch?« Diese Fragen sind von einer defizitären Sichtweise geleitet. Sie sind verlustorientiert, richten sich auf das, was nicht mehr möglich ist. Dieses im Zentrum des Denkens stehende »Ohne« ist jedoch nur ein Aspekt des Trauererlebens. Der Begleitende hat deshalb die Aufgabe, den Trauernden dabei zu unterstützen, auch die Frage nach dem »Mit« stellen zu können: »Wer bin ich mit der Erfahrung, die ich gemacht habe?«, »Wer bin ich mit dem Verlust, den ich erlitten habe?«, »Wer bin ich mit diesem Wissen um das Nie-wieder?« Mit Hilfe dieser ressourcenorientierten Fragen kann der Blick auf das gerichtet werden, was dem Trauernden ein neues Wissen über sich selbst vermitteln, neue Lebensperspektive eröffnen und auf diese Weise sein Leben wieder bereichern kann. Allerdings – und dies müssen Begleitende ebenfalls wissen – steht zunächst immer der Verlust, also der Aspekt des »Ohne«, im Vordergrund. Der Aspekt des »Mit«, der auch die Gesichtspunkte anerkennen lässt, die das eigene Leben trotz des Verlustes wieder l(i)ebbar machen, wird vielfach erst sehr viel später wahr- und angenommen. Die Fragen, die den Trauernden bedrängen und die er artikuliert, sind vielfach konkrete Ausformungen der dahinterstehenden Kernfrage »Wer bin ich (eigentlich)?«. Dass konkret gestellte Fragen als Repräsentanten für die Frage nach der eigenen Identität dienen können, soll hier anhand der Schuldvorwürfe, die Trauernde häufig sich selbst und ihrer Umwelt machen, aufgezeigt werden. Schuldgefühle können oftmals als Reaktion auf das Gefühl der Ohnmacht gedeutet werden, als scheinbar logische Erklärung für das Nichterklärbare. So suchen Trauernde Erklärungen für das Unerklärliche: »Wäre mir meine Karriere nicht so wichtig gewesen, hätte ich mehr Zeit für ihn gehabt, dann könnten wir vielleicht jetzt zusam-

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men in Urlaub fahren«, »Es gibt doch so viele andere therapeutische Möglichkeiten. Warum habe ich meinen Mann nicht bedrängt, diese auszuprobieren, dann hätte er überleben können«, »Warum habe ich meine Mutter allein gelassen? Diese eine Stunde hätte ich auch noch an ihrem Bett sitzen können«, »Wie konnte ich ihn allein lassen, es war doch klar, dass er sterben würde?«, »Bestimmt hat er sich furchtbar allein gelassen gefühlt!« Bei genauer Betrachtung der verbalisierten Schuldgefühle zeigt sich in ihnen jedoch auch die implizite Frage nach dem »Wer bin ich?«, nämlich »Wer bin ich, die jetzt weiterlebt und noch vieles von dem verwirklichen kann, was wir planten?«, »Was bin ich für eine, die es nicht geschafft hat, dich am Leben zu halten?«, »Was bin ich für eine, die nicht bis zum Schluss sitzen bleiben wollte, obwohl ich wusste, dass sie sterben würde?«. Schuldgefühle sind dem Trauerprozess immanent und können oft als Platzhalter für tieferliegende Fragen und Unsicherheiten verstanden werden. Sie können (und dürfen) weder ausschließlich rationalisiert noch wegdiskutiert werden. Sie müssen ihren Raum in der Auseinandersetzung mit der Trauer haben, doch kann der Begleitende den Trauernden im einfühlsamen Fragen in die Lage versetzen, seine bisherige Interpretationsweise durch ein anderes Prisma zu betrachten: »Wie oft sind Sie sitzen geblieben und haben die Hand Ihrer Mutter gehalten?«, »War Ihre Mutter jemand, die gut oder weniger gut allein sein konnte?«, »Was für Reisen haben Sie gemeinsam gemacht?« Versprachlichung des Dahinterliegenden

Im reflektierend-verstehenden Ansatz hat der Begleitende die Aufgabe, die Fragen, die den Trauernden beschäftigen, zu hören und zu entschlüsseln. Hierzu bedarf es eines einfühlsamen Verstehens seitens des Begleitenden, um im Dialog das Bewusstsein des Trauernden für das, was ist, zu schärfen und ihn so in seinem

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

Erkenntnis- und Realisierungsprozess zu unterstützen. Alles, was der Trauernde in Bewusstheit denkt und was er im lebendigen Dasein erfährt, wird von der Reflexion aufgegriffen und in Worte gefasst – also versprachlicht. Das Versprachlichungsvermögen hilft dem Zurückbleibenden, Ordnung und Struktur in sein Trauerchaos zu bringen. Es ist Aufgabe des Begleitenden, den Trauernden bei dieser Strukturierungsarbeit zu unterstützen, seine Fragen wahrzunehmen, zu erkennen, aufzugreifen und sie dem Trauernden in einer zukunftsweisenden Richtung zurückzugeben: »Welche Aufgabe oder Berufung könnte in diesem Weiterleben an Sie gestellt sein?«, »Wer sind Sie, die es trotz dieses Verlustes geschafft hat, am Leben zu bleiben?«, »Wie haben Sie es geschafft, trotz Ihrer vielen Aufgaben, tagtäglich so viele Stunden am Bett Ihrer Mutter zu sitzen?« Mit solchen Fragen wird die Aufmerksamkeit des Trauernden auf die lebenszugewandte Seite, auf eigene Stärken, Potenziale und Möglichkeiten gerichtet. Indem ergänzende, erweiternde oder neue Interpretationsmöglichkeiten von dem, »was ist«, angeboten werden, kann es dem trauernden Menschen gelingen, Einblicke in die große Frage des »Wer bin ich?« zu gewinnen und so Schritt um Schritt (s)eine Eigenidentität neu aufzubauen. Die konkreten, die jetzige Situation betreffenden Fragen zielen darauf ab, dass der Trauernde für sich Antworten auf sein Suchen findet: »Wer bin ich heute (und in Kontinuität zu gestern und im Hinblick auf ein Morgen ohne den Anderen)?«, »Wer kann und darf ich jetzt und zukünftig sein?«

Evaluierend-nachgehender Begleitansatz Wagendes Erproben

Evaluierend-nachgehendes Begleiten erfolgt in einem Klima der Fürsorge und es erzeugt ein solches. Der Begriff Evaluation ver-

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weist auf das Wortfeld »Wert, Wertschätzung, Bewerten, Auswerten«. Evaluieren bedeutet hier, einen Wert zusprechen, es bedeutet, Wertfindung zu unterstützen und den Wertprozess zusammen mit dem Trauernden auch auszuwerten. Dieser Begleitansatz ist deshalb zunächst im Sinne von Wert-Schätzung oder Wert-Zusprechung zu verstehen. Der evaluierend-nachgehende Begleitansatz findet dann Anwendung, wenn der Trauernde Neues wagt und erprobt. Im Durchlaufen seines Trauerweges wird der Zurückbleibende immer wieder vor Probleme und Aufgaben gestellt, die er auf irgendeine Art und Weise angehen und lösen muss. Im Bearbeiten dieser Aufgaben wird er ungewohnte Erfahrungen machen, wird darüber zu neuen Erkenntnissen gelangen und vielleicht auch Antworten finden, die von den bisherigen abweichen. Diese darf er im Schutz der Begleitung hinterfragen sowie, wenn nötig, verwerfen und wieder neu beantworten. Verabredungen – Nach-Pflege und Nach-Sorge

Im evaluierend-nachgehenden Begleitansatz stehen unausgesprochene (implizite) und ausgesprochene (explizite) Verabredungen zwischen Begleitendem und Trauerndem im Mittelpunkt. Hier geht es darum, Schritte, die ein Trauernder innerlich andenkt und in Worte kleidet, in einem nachgehenden Prozess im Blick zu behalten. Dabei sollten diese Schritte mit Blick auf ihre Umsetzung oder Nichtumsetzung sowie mit Blick auf ihre Bedeutung für den Trauernden gemeinsam bedacht werden. Der evaluierend-nachgehende Begleitansatz ist getragen von dem Gedanken der Nach-Pflege oder Nach-Sorge des gemeinsam Verabredeten, für das sich der Begleitende mitverantwortlich weiß. Nach-Pflege oder Nach-Sorge sind hier so zu verstehen, dass der Begleitende wesentliche Gedanken und Aussagen durch Nachhaken und Nachfragen aktiv im Blick behält. Bei-

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

spielsweise kann ein Trauernder im gemeinsamen Dialog zu der Erkenntnis kommen, dass der Zeitpunkt gekommen sei, wieder auszugehen. Der Begleitende kann dem zustimmen und ihn durch entsprechende Fragen auf das angedachte Ereignis vorbereiten: »Wo würden Sie gern hingehen?«, »Gibt es jemanden, der Sie begleitet?«, »Was könnte Sie davon abhalten?«, »Was für ein Gefühl haben Sie dabei?« Der nachgehend-evaluierende Auftrag an den Begleitenden ist es dann, bei einem nächsten Zusammentreffen das Thema auf sensible Weise wach zu halten und nachzufragen: »Wie ist es Ihnen gegangen mit der Absicht auszugehen?«, »Hatten Sie in der vergangenen Woche Zeit, Kraft und Gelegenheit auszugehen?« Indem der Begleitende den zeitlich zurückliegenden besprochenen Gedanken nachgeht, zeigt er dem Trauernden, dass er ihn ernst nimmt, dass er das miteinander Gesprochene oder Erarbeitete erinnert und es für so wertvoll erachtet, dass er ihm weitere Aufmerksamkeit zukommen lassen möchte. Das heißt, es geht nicht um Kontrolle, sondern darum, dass mittels dieser Begleitfacette den gemeinsam getroffenen Absprachen ein Wert zugesprochen wird, dass sie erinnert werden. Doppelperspektivität des Begleitansatzes im Detail

Der Begleitende ist gefordert, die Verbindung zwischen den einzelnen Treffen mit dem Trauernden im Auge zu behalten und die darin getroffenen Vereinbarungen, denen sich der Trauernde selbst verpflichtet hat, gewissermaßen zu erinnern und auf ihr Ergebnis hin zu beleuchten. Gleichzeitig gilt es jedoch auch, die im jeweiligen Begleitgespräch aufkommenden Gedanken zu sichern und sie miteinander in Verbindung zu bringen. Das heißt, der Begleitende ist am Detail orientiert. So sind Formulierungen, die diese Detailorientiertheit im Gespräch zeigen: »Sie sagten zu Eingang des Gesprächs …«, »Vorhin erwähnten Sie,

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dass …«, »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie Ähnliches schon einmal erwogen …«. Das Im-Blick-Haben des Besprochenen mit den darin getroffenen – impliziten oder expliziten – Absprachen ist doppelperspektivisch ausgerichtet: Einerseits kann das Im-Blick-Haben des Besprochenen den Trauernden immer wieder unterstützen, Wege zu finden, die seinem Werdeprozess dienlich sind. Verbunden mit sensibler Provokation oder feinfühligen Stimuli kann der Trauernde mit diesem Ansatz immer wieder ermutigt werden, sich abermals an das vorher Angedachte (zum Beispiel wieder auszugehen) heranzuwagen und Wege zu finden, die ihm behilflich sind, erforderliche Entscheidungen zu treffen, die dann im »neu-täglichen« Tun gewagt und wieder nachgehend-evaluiert werden müssen. Andererseits kann dieser Begleitansatz dem Trauernden eine gewisse Kontinuität gewähren, ihm also während des Begleitgesprächs immer wieder eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart schlagen. Diesem Aspekt kommt eine große Bedeutung zu, da der Trauernde hierdurch langsam wieder Vertrauen in eine lebensdienliche Beständigkeit und Stetigkeit von Prozessen und Beziehungen gewinnt. Doppelperspektivität des Begleitansatzes im Ganzen

Auch im Gesamtkontext des Trauerweges betrachtet zeigt sich, dass dieser Begleitansatz ebenfalls doppelperspektivisch organisiert ist. Es ist Aufgabe der evaluierend-nachgehenden Begleitung sich am Ganzen zu orientieren. Diese Unterscheidung ist wichtig, da sich für viele Trauernde erst im Blick zurück größere Zusammenhänge erkennen und neue Deutungsmuster erschließen lassen. Fragen, die das Ganze im Blick haben, können lauten: »Wie geht es Ihnen jetzt, wenn Sie auf das vergangene Jahr zurückschauen?«, »Was hat sich in diesem Jahr für Sie verändert?«, »Wo sehen Sie für sich, dass Sie neue Wege gegangen

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

sind?«, »Würden Sie sagen, dass Sie sich manche Fähigkeiten ertrauert haben?« In der präsenten und zugewandten Erinnerung, die durch die Fragen des Begleitenden ausgelöst wird, setzt sich der Trauernde einer Situation aus, die möglicherweise erneut Schmerz und Tränen hervorruft. Für den Begleitenden bedeutet dies, einfühlsam und achtsam zu prüfen, welcher Begleitansatz in diesem Moment vom Trauernden benötigt wird, um seinem Weg weiterzugehen oder auch innehalten zu können.

Weggedanken

Ein trauernder Mensch unterliegt vielfältigen, häufig chaotischen Gefühlszuständen, die einander ständig ab- oder auslösen. Um den Begleitprozess angemessen gestalten zu können, ist es wichtig, dass Begleitende in der Lage sind zu verstehen, dass der Mensch immer in die Gegensätze Werden und Sein eingebunden ist, dass jedoch die zwischen diesen Polen entstehende Spannung in Krisensituationen zutiefst schmerzhaft bis kaum aushaltbar ist. Diese Spannungszustände wahrzunehmen, zu erkennen, sie anzunehmen und flexibel mit den unterschiedlichen Begleitansätzen darauf eingehen zu können, sie also zu gestalten, ist verantwortungsbewusste und zugewandte Begleitung. Zu erkennen, welcher Werdeschritt gerade vorherrschend ist, welcher Begleitansatz dazu passt – ob vorbereiten und hinführen, trösten und verstehen, stimulieren und provozieren, reflektieren und verstehen, evaluieren und nachgehen – ist Aufgabe von Begleitung. Die Begleitansätze müssen in einem relativ konstanten FrageAntwort-Frage-Modus ausgestaltet werden. Eine gute Fragekultur seitens des Begleitenden kann es dem Trauernden ermöglichen, sich immer wieder in seine eigenen Gedanken zu vertiefen und mittels individueller Antworten oder neu auftauchender Fragen

Auszug aus einem beispielhaften Begleitgespräch  

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seinen eigenen Weg zu gehen. Begleitende sind im Trauerprozess sozusagen wissende Nichtwissende. Sie wissen, dass Trauernde sich ihren eigenen Fragen stellen sowie sich eigene Deutungen und eine Einordnung der Geschehnisse selbst erschließen müssen. Sie wissen, dass sich Trauernde durch eine Vielzahl von Trauergesichtern hindurcharbeiten müssen, um wieder Sicherheit sowie neue Kräfte und Fähigkeiten für die Gestaltung ihres veränderten, neuen Lebens zu gewinnen. Trauerbegleiter wissen jedoch nicht, welchen Weg der einzelne Trauernde wählen wird. So formulierte die bereits zu Wort gekommene Marla M. in der Schlusssitzung ihrer zweijährigen Trauerbegleitung: »Als mein Mann starb, stürzte ich in einen Abgrund des Schmerzes. Es erschien mir unmöglich, das mit dem Tod einhergehende Nie-wieder zu begreifen. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, dass mich niemand verstand und dass alle mich schnell wieder so haben wollten, wie ich vorher war. Doch das ging nicht. Weder wusste ich, was der Sinn seines Todes war, noch wer ich ohne ihn bin. Hier in der Begleitung durfte ich in meiner ganzen Unzumutbarkeit sein und mich immer wieder neu entdecken. Es war ein langwieriger, schmerzhafter Weg und vielleicht kommen weitere schmerzhafte Abschnitte. Doch heute weiß ich, dass ich sie gehen kann und gehen werde. Den Sinn in seinem Tod habe ich nicht gefunden, aber wieder einen Sinn in meinem Leben. Und mein Mann ist als stiller Reisebegleiter immer dabei.«

Auszug aus einem beispielhaften Begleitgespräch

Ella K., 43 Jahre, sechs Monate nach dem plötzlichen Herztod ihres zehn Jahre älteren Mannes. Frau K. ist seit drei Monaten in der Trauerbegleitung. Mit dieser Sequenz wird der Umgang mit einem Traueraspekt in der Sitzung herausgegriffen.

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

TRAUERBEGLEITER: Wie ist es Ihnen die vergangene Woche ergangen? TRAUERNDE: Eigentlich ganz gut. (zuckt ein wenig mit den Schultern) TRAUERBEGLEITER: Eigentlich ganz gut? Sie zucken – so scheint mir –

unschlüssig mit den Schultern? Was ist gut? Was ist eigent­l ich? TRAUERNDE: (lächelt) Gestern zum Beispiel fühlte ich mich richtig

wohl und stark und habe auch allein einen langen Spaziergang gemacht. Das tat mir gut. Und plötzlich war dieser Gedanke wieder da. (schweigt) TRAUERBEGLEITER: Dieser Gedanke? TRAUERNDE: Ja, dass es doch eigentlich nicht richtig ist, wenn ich mich so gut fühle. (presst die Lippen zusammen und schiebt die Unterlippe nach vorne) TRAUERBEGLEITER: Hm. Es wäre also richtiger, wenn Sie sich schlecht fühlen würden? TRAUERNDE: Nein, nicht wirklich. Oder doch, irgendwie schon. TRAUERBEGLEITER: Also unentschieden? TRAUERNDE: (lächelt wieder, etwas unsicher) Glaube, ja. TRAUERBEGLEITER: Wer könnte denn entscheiden, was richtig ist? Also, ob Sie sich gut oder schlecht fühlen sollen? TRAUERNDE: Ja, ich selbst wahrscheinlich. (seufzt) TRAUERBEGLEITER: Und? Wie fällt Ihr Urteil aus? TRAUERNDE: Das ist so schwer mit dem Urteil. Wenn ich mich gut fühle, dann fühle ich mich schuldig, also schlecht. Wenn ich mich schlecht fühle, dann will ich, dass es besser wird, weil ich es kaum aushalte. Wenn ich mich dann wieder besser fühle, dann geht es wieder vor vorne los. (aufgebrachter Ton) Ich weiß überhaupt nicht mehr, was richtig ist. ( Tränen in den Augen) TRAUERBEGLEITER: Ja, das ist schwer. (Schweigen und Nicken) TRAUERNDE: (schweigt und starrt vor sich hin, dann plötzlich:) Habe ich denn überhaupt ein Recht darauf, dass es mir gut geht? (hebt den Kopf, schaut mich fragend an) TRAUERBEGLEITER: Was würden Sie denn einer guten Freundin auf diese Frage antworten?

Zwei dokumentierte Stundenprotokolle einer Trauerbegleitung  

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TRAUERNDE: (lacht) Ja klar, hast du ein Recht darauf. TRAUERBEGLEITER: Also die Freundin hätte ein Recht darauf? TRAUERNDE: Ja, wieso denn auch nicht? TRAUERBEGLEITER: Okay, vielleicht mögen Sie sich selbst einmal eine

gute Freundin sein. Erlauben Sie es sich doch mal zu sagen: Ja, ich habe ein Recht darauf, dass es mir gut geht! TRAUERNDE: Sie meinen, ich soll mir das selbst sagen? (runzelt die Stirn, schaut ungläubig. Wir müssen beide lachen) TRAUERBEGLEITER: Ich meine, ja. Und Ihre innere Freundin meint das auch (lächele).

Zwei dokumentierte Stundenprotokolle einer Trauerbegleitung

Die Trauernde, Marina P., 63 Jahre alt, zwei erwachsene Kinder, die in anderen Städten wohnen, hat vor 14 Monaten ihren Mann nach kurzer schwerer Krankheit verloren. Sie kommt seit zwei Monaten 14-tägig in die Begleitung. Anlass für die Suche nach Unterstützung und Begleitung war, dass sie »immer noch nicht ins Leben zurückgefunden« habe, »obwohl das Trauerjahr jetzt rum ist, und eigentlich sollte ich den Tod meines Mannes über­ wunden haben«. Die beiden folgenden Begleitstunden werden – mit Einverständnis der Trauernden und der Bitte um Verfremdung ihres Namens – wiedergegeben. Die 6. Stunde der Begleitung

Nach der Begrüßung und der Frage des Trauerbegleiters, was sie zurzeit mache, wie es ihr gehe und was sie momentan beschäftige, berichtet die Trauernde:

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

TRAUERNDE: Ich trete auf der Stelle, ich komme überhaupt nicht

weiter. (schaut auf den Boden, die Fersen gehen auf und ab, die Arme sind verschränkt) TRAUERBEGLEITER: Woran merken Sie das? Woran machen Sie das fest? TRAUERNDE: Am Wochenende war meine Schwester zu Besuch, und sie merkte an, dass die Schuhe von Hans ja immer noch im Flur stehen. Das sehe ja aus, als würde ich immer noch auf ihn warten. »Du kannst doch nicht wirklich noch immer auf ihn warten. Er kommt nicht mehr«, hat sie gesagt. Das hat mich echt getroffen. Ich weiß ja, dass er nicht mehr wiederkommt. Das stimmt so nicht, was meine Schwester sagt. Aber die Schuhe wie auch Hans’ Sachen von der Garderobe kann ich einfach nicht wegräumen. (sagt dies im flehenden Ton, schaut mich verzweifelt nach Zustimmung fragend an) TRAUERBEGLEITER: Hm, wenn jemand sagt »Ich kann nicht …« ist das für mich der Ausdruck einer Zerrissenheit zwischen »Ich will« und »Ich will nicht«. Das »Ich will« ist dabei der bewusste Teil, der lauter zu einem spricht. Das »Ich will nicht« ist eher im Hintergrund, klingt zwar leiser, ist aber stärker. Wie ist das, wenn Sie sagen: »Ich will die Schuhe nicht wegräumen«? TRAUERNDE: Aber ich will ja. Ich weiß doch, dass es vernünftig wäre, das zu tun. (die Stimme klingt lauter, fast flehend, die Schultern gehen hoch und die Hände werden wie zur Bekräftigung mit offenen Handflächen erhoben) TRAUERBEGLEITER: Ja, Sie wollen es, und vielleicht gibt es auch eine andere Seite in Ihnen, die das nicht will, die Sie im Konflikt sein lässt zwischen Ihrer Vernunft und Ihrem Gefühl. Wie fühlt sich das denn für Sie an, wenn Sie mal sagen: »Ich will die Schuhe nicht wegräumen.« Probieren Sie es. Sagen Sie es mal. TRAUERNDE: Ich will die Schuhe nicht wegräumen. (Sie spricht den Satz leise und langsam, macht eine nachdenkliche Pause und wiederholt den Satz.) Ich will seine Schuhe nicht wegräumen. (etwas

Zwei dokumentierte Stundenprotokolle einer Trauerbegleitung  

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bestimmter und wieder eine Pause. Sie lässt die Worte auf sich wirken.) TRAUERBEGLEITER: Sie sagen jetzt »seine Schuhe«? TRAUERNDE: Ja, ich will seine Schuhe auch nicht wegräumen! (Ihre Stimme ist kräftiger, als sie das sagt, sie klingt fast trotzig.) Es sind ja nicht irgendwelche Schuhe, die da herumstehen und stören. Es sind die Schuhe von Hans. (spricht laut, sehr heftig) Meine Schwester mag ja Recht haben, das wäre vernünftig. Aber für mich fühlt es sich an, als wenn ich Hans  – auch damit  – dem großen Vergessen preisgebe. TRAUERBEGLEITER: Sie sagen »auch damit«, was heißt das? TRAUERNDE: Ja, es ist, als wenn ich ihn Stück für Stück aus meinem Leben entfernen würde. Und das will ich nicht. Und das werde ich auch nicht. Vernunft hin oder her. Ich habe schon so viel verändert in der Wohnung, habe seine Anzüge und seine Kleidung weggegeben, habe schon einige seiner Uhren verkauft, an denen er immer so gerne gebastelt hat. Aber an der Garderobe WILL und WERDE ich nichts ändern. (sie sagt dies mit kräftiger Stimme, betont das »will« und das »werde«) Und die Schuhe bleiben! (Schaut mich wild entschlossen und schweigend an) TRAUERBEGLEITER: Ja, Sie haben schon einiges verändert. Und die Garderobe hat wie es scheint einen besonderen Stellenwert. Hier soll es so bleiben, wie es ist. Hat das besondere Gründe? TRAUERNDE: Ja. Irgendwie ist mir das besonders wichtig. Wenn ich aus der Wohnung gehe, wer fe ich immer einen letzten Blick zurück, ob alles so in Ordnung ist, das Licht aus ist und so weiter. Und dann sehe ich seine Sachen, seine Schuhe  – sein Schal hängt auch noch da, an dem rieche ich manchmal – (schaut mich dabei verlegen an und zuckt mit den Schultern)  – und jedes Mal durchfährt mich wieder ein Schmerz, nicht so sehr wie vor einem Jahr, eher ein kleiner Stich ins Herz, und dann verlasse ich die Wohnung. Aber mit dem Gefühl, dass ich ihn bei mir trage, dass er irgendwie bei mir ist. (Diese Worte

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

werden mit sehr viel Nachdruck gesprochen und dabei immer wieder ein bejahendes Kopfnicken) Ja, und wenn ich dann nach Hause komme, die Wohnung betrete, seine Sachen sehe, dann werde ich zwar traurig, aber ich fühle mich nicht so leer. Die Wohnung ist nicht so leer und ich damit auch nicht. (zuckt mit den Schultern) TRAUERBEGLEITER: Vielleicht ist die Traurigkeit, die Sie dann durchfährt, leichter zu ertragen als die Leere? TRAUERNDE: Ja! Vor der Leere habe ich Angst. In der Leere ist alles sinnlos. Dann habe ich den Mut zu nichts mehr und kann mich zu nichts mehr aufraffen. Im Traurigsein habe ich wenigstens Hans bei mir. TRAUERBEGLEITER: Wenn ich an Ihre Wohnung denke, verstehe ich jetzt besser, warum die Schuhe da noch stehen und warum der Schal Ihres Mannes noch an der Garderobe hängt. Was würden Sie Ihrer Schwester jetzt sagen, wenn sie wieder feststellt, dass die Schuhe noch immer im Flur stehen? TRAUERNDE: Dann sage ich ihr, dass ich das so haben will. Dass es vielleicht merkwürdig ist und unvernünftig, dass ich aber meine Gründe habe, das so zu belassen. Ja, das werde ich ihr sagen, und vielleicht versteht sie es ja dann auch. (Marina P. seufzt erleichtert auf, als sie das sagt.)

Wir treffen eine Verabredung für den nächsten Termin, verabschieden uns und damit endet diese Begleitstunde. Die 8. Stunde der Begleitung TRAUERBEGLEITER: Wie geht es Ihnen heute und was beschäftigt

Sie zurzeit? TRAUERNDE: Ich habe das Gefühl, ich arbeite und arbeite und

arbeite und irgendwie geht nichts weiter. Trete halt noch immer oder mal wieder auf der Stelle. Es ist immer dasselbe. (schaut resigniert und entschuldigend drein)

Zwei dokumentierte Stundenprotokolle einer Trauerbegleitung  

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TRAUERBEGLEITER: Was hieße es denn für Sie, wenn Sie nicht auf der

Stelle treten würden, wenn es weitergehen würde? TRAUERNDE: Dann würde ich mehr unternehmen, würde mehr raus-

gehen, nicht mehr so zurückgezogen sein. TRAUERBEGLEITER: Und was würden Sie unternehmen? Was würden

Sie tun, wenn es weiterginge? TRAUERNDE: Ich würde mich mal wieder mit meinen Freundinnen treffen. Wir hatten immer viel Spaß zusammen. Sie laden mich öfter ein, mal wieder zusammen was zu unternehmen, aber ich kann mich nicht aufraffen. TRAUERBEGLEITER: Hoppla, haben Sie grad mal wieder »Ich kann nicht« gesagt? TRAUERNDE: Ach Sie immer mit Ihrem »Ich will nicht« … (Sie lächelt dabei) TRAUERBEGLEITER: Naja, vielleicht gibt es ja Gründe, warum Sie sich nicht zu einem Treffen mit Ihren Freundinnen aufraffen wollen. Welche könnten das sein, wenn Sie darüber nachdenken? TRAUERNDE: Puuh (bläst die Luft aus, schiebt die Unterlippe über die Oberlippe, schweigt, denkt nach) Ich glaube, ich habe Angst, ihnen die gute Stimmung zu versauen. Wir lachen immer viel, wenn wir uns treffen, haben viel Spaß miteinander. Aber da ist mir eigentlich gar nicht nach. Meine Gedanken kann ich nicht steuern. Da genügt es, wenn ich ein Stück gedeckten Apfelkuchen mit Sahne sehe, was Hans immer so gerne gegessen hat, und ich denke an ihn, dass das vorbei ist, für ihn, für uns, für mich, und es kommt wieder so eine Trauerwelle. Mir treten dann die Tränen in die Augen – ich kann überhaupt nichts dagegen tun. (schaut verzweifelt, traurig) Und in der ausgelassenen Stimmung der anderen fühle ich mich dann wie eine Stimmungskillerin, die den anderen die gute Stimmung versaut. TRAUERBEGLEITER: Ich verstehe, dass Sie das nicht sein wollen, eine Stimmungskillerin. Und Sie sagten grad, dass Ihnen »eigentlich« nicht danach ist, mit anderen Spaß zu haben. Das Wort »eigentlich« ist ja

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

eine Einschränkung. Und wie ist es uneigentlich? Gibt es eine Seite in Ihnen, die gerne mal wieder etwas Spaß hätte? TRAUERNDE: Natürlich gibt es die. Es gibt Augenblicke, da wünsche ich mir, für Momente mal unbeschwert zu sein und wieder lachen zu können. Einfach raus aus diesem ganzen Dunklen und Schwarzen, das mich manchmal lähmt. TRAUERBEGLEITER: Und das wäre mit Ihren Freundinnen möglich? TRAUERNDE: Ja. Das sind wunderbare Frauen. Ich kenne die drei seit meiner Ausbildungszeit. Wir haben die gleiche Art von Humor. Etwas schräg, aber für mich umwerfend komisch. (Sie lächelt belustigt vor sich hin.) TRAUERBEGLEITER: Ich sehe, Sie lächeln bei den Gedanken an komische Situationen mit Ihren Freundinnen. TRAUERNDE: Ja, (breites Lächeln auf ihrem Gesicht, Augenkontakt) wir können so witzig sein zusammen. TRAUERBEGLEITER: Wie ist die Vorstellung für Sie, mal wieder gemeinsam mit Ihren Freundinnen zu lachen? TRAUERNDE: (wird plötzlich wieder ernst) Es mag verrückt klingen, aber irgendwie nicht gut, auch wenn ich mir das mal wieder wünsche. TRAUERBEGLEITER: Was ist für Sie nicht gut daran, wenn Sie unbeschwert mit Ihren Freundinnen lachen? TRAUERNDE: Das ist mir schon mal passiert. Es war irgendwas im Fernsehen, irgendwas Lustiges, ich musste spontan lachen. Und hatte sofort ein schlechtes Gewissen: Habe ich Hans jetzt vergessen? Es kam mir vor wie ein Verrat, an ihm, an uns. Und beim Gedanken, mit meinen Freundinnen unbeschwert zu lachen, bekomme ich sofort ein schlechtes Gewissen, habe dann das Gefühl, Hans vergessen zu haben, nicht mehr traurig zu sein, dass er nicht mehr ist. Und dieser Gedanke ist ganz furchtbar für mich. TRAUERBEGLEITER: Zurzeit passt das für Sie nicht zusammen, Momente des Unbeschwertseins und gleichzeitig die Trauer um Hans in sich zu tragen?

Zwei dokumentierte Stundenprotokolle einer Trauerbegleitung  

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TRAUERNDE: Nein, das geht für mich nicht zusammen. Das geht

nicht, auch wenn ich den Wunsch danach in mir spüre. TRAUERBEGLEITER: Sie haben zu Anfang der Stunde gesagt, dass Sie

auf der Stelle treten, nicht weiterkommen. Wenn es weiterginge, sagten Sie, würden Sie rausgehen, sich mit Ihren Freundinnen treffen. Da ist dann auf der einen Seite die Angst, ein Stimmungskiller zu sein, wenn Sie in der Schwere sind, und auf der anderen Seite die Angst, Ihre Trauer und damit Hans zu verraten, wenn Sie in die Unbeschwertheit gehen. Da verstehe ich jetzt, warum Sie auf der Stelle treten und warum Sie sich nicht aufraffen WOLLEN, denn das weitergehen, egal, welche Richtung sich ergibt, macht Ihnen Angst. TRAUERNDE: (lächelt) Sie immer mit Ihrem WOLLEN. Aber es stimmt. Zurzeit WILL ich noch auf der Stelle treten. Und ich werde meine Freundinnen anrufen. Ein Treffen ist mir einfach noch zu früh. Vielleicht brauche ich einfach noch Zeit.

Wir verabreden den nächsten Termin und verabschieden uns. Damit ist die achte Begleitstunde beendet. In den hier beschriebenen und wiedergegebenen Begleitprotokollen wurden die jeweiligen Begleitansätze da eingesetzt, wo sie stimmig waren. Allen Ansätzen immanent ist das Thema »gute Fragen stellen«. Es geht in keinem der Ansätze darum, den Trauernden zu irgendetwas überreden oder ihn an einen bestimmten Punkt bringen zu wollen, weil der Begleitende dies für stimmig oder sinnvoll hält. Es geht darum, aufmerksam, achtsam, absichtslos, sensibel und neugierig zu sein. Neugierig auf den Weg des Trauernden. Wo führt er hin? In welchem Tempo geht er? An welcher Stelle braucht er meinen stillen Beistand? Wo will er mich als Denkpartner für seine quälenden Fragen? Wann braucht er Stimuli? Wo können Fragen Bänder zwischen den losen (Er-)Lebensenden knüpfen und wie kann

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Teil C – Neue Begleitansätze in der Vielfalt der Trauer

ich ihm immer wieder Unterstützung und Stärkung sein? Mit Hilfe dieser Begleithaltung kann ein trauernder Mensch seine eigenen Lebensantworten finden und auf seinem schweren Weg wachsen und werden.

Tabellarische Übersicht über die Begleitformen

Haltung des Begleitenden

Verbalisierungen des Trauernden • »Wie soll ich das bloß schaffen?« • »Ich würde so gern mit ihm reden.« • »Ich weiß nicht, ob ich ihm sagen kann, was ich denke.« • »Wenn er doch nur endlich erlöst wäre.«

• Nahestehender Mensch • »innere Haltung« (siehe geht auf den Tod zu konsolatorisch-verstehende • Der Angehörige oder Begleitung) Zugehörige weiß um den bevorstehenden Tod, der Tod wird »erwartet« • Dennoch wird oft ein »Wunder« erhofft oder herbeigesehnt

Situation des Trauernden • Den Angehörigen oder Zugehörigen möglichst »aufklären«, ihm helfen zu verstehen, was dies ­b edeutet • Ihm dabei behilflich sein, Vorkehrungen zu treffen (z. B. wer kann im Familiensystem unterstützen, Krankenkassenhilfe in Anspruch nehmen, hospizliche Gespräche führen …?) • Dem Angehörigen ­h elfen, »Dinge in Ordnung zu bringen«, Unerledigtes zur Sprache zu bringen, Ängste zu formulieren … • Den Angehörigen oder Zugehörigen über den Sterbeprozess aufklären

Begleitendes »Tun«

Eisagogisch-hinführende Begleitung

• »Was brauchst du jetzt, angesichts dieser Situation?« • »Kannst du dir ­v orstellen, deinem nahestehenden Menschen noch das zu sagen, was du sagen möchtest?« • »Wer kann dir zur Seite stehen?« • …

Mögliche Fragen des Begleitenden

106    Tabellarische Übersicht über die Begleitformen

• »Bei meiner Mutter war das ganz anders …« • …

Situation des Trauernden

Haltung des Begleitenden • Aufklären, dass Sterbende möglicherweise allein sterben wollen • Ihm helfen, bis zuletzt mit dem Sterbenden in Beziehung zu bleiben und den Beziehungsabbruch nicht schon vor Eintritt des Todes stattfinden zu lassen • Ihm vermitteln, dass auch Schweigen eine Form von inniger Kommunikation sein kann; dass manchmal »lassen« hilfreicher ist als »tun« • Dem Angehörigen oder Zugehörigen helfen, aus seiner eigenen »Wortlosigkeit« herauszufinden

Begleitendes »Tun«

Eisagogisch-hinführende Begleitung Mögliche Fragen des Begleitenden Tabellarische Übersicht über die Begleitformen  

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Begleitendes »Tun« • Sich bewusst auf die Situa­ tion des Trauernden einlassen • »Auf Empfang gehen«, »Ganz Ohr sein« • Dem Trauernden ein »uneingeschränktes Einverständnis« mit ihm und seiner Situation signalisieren • Den Trauernden »aushalten« und »halten«, »ertragen« und »tragen« • Im »Halten« kann das Karussell »Trauerchaos« für einen Augenblick »anhalten« • Im »Halten« dem Trauernden für einen Moment der entrissene Boden sein • »Lassen können«. Der Begleitende muss den Trauernden auch wieder »lassen« können

Haltung des Begleitenden

• Dem Trauernden einen »Schutzraum« aus Wertschätzung, Annahme, Halt, Verständnis und Trost bieten • Sich einlassen von »Subjekt zu Subjekt«, von »Ich zu Du« von »einem, der trauert, zu einem, der auch Wunden und Narben kennt« (Gedanke der Symmetrie) • Achtsamkeit, Offenheit, Ehrlichkeit, Absichtslosigkeit, Vorurteilslosigkeit • »Ganz Ohr sein« – Präsenz auf allen Ebenen

Situation des Trauernden

Emotionale Instabilität/Gefühl der Unwirklichkeit • Verlust von Halt • Sturz ins Bodenlose • Innere und äußere Leere (Nichts, Nie mehr) • Umfassende Einsamkeit, auf sich selbst zurückgeworfen sein • Bedrohungs- und Vernichtungsgefühl • Keine Orientierung • Fassungslosigkeit • Ausgeliefertsein, Ohnmachtsgefühl • Umfassende Unsicherheit • Zerfließungs- und Verflüchtigungsempfinden versus Starre und Versteinerungstendenzen

Konsolatorisch-verstehende Begleitung

Wichtig: auch paraverbale Äußerungen – also stimmliche Geräusche – können in dieser Situation hilfreich sein.

• »Was brauchst du jetzt?« • »Was könnte dir gut tun?«

Mögliche Fragen des Begleitenden

108    Tabellarische Übersicht über die Begleitformen

• Verstehen als Versuch, die eigene Innenperspektive mit der des Trauernden in Berührung zu bringen • Akzeptieren, dass es »Unverstehbares« gibt, dass das Erleben des Trauernden nicht völlig transparent sein kann, der Trauernde ist und bleibt eine Frage • Kontakt, Resonanz und Austausch • Trostaspekt spielt wichtige Rolle • Anerkennen, dass der Trauernde sich in einer »trostlosen Lage« befindet

→ soll im Folgenden unter dem Begriff »Innere Haltung« beschrieben werden • Der Begleitende ist dem Trauernden hier Resonanzkörper, haltendes und stützendes Gegenüber

• Dysbalance, Verlust der Mitte • Gefühl der Trostlosigkeit, Ausweglosigkeit • Verwundet und zerrissen sein • Auflehnung, Abwehr, ­R esignation, Verzweiflung, Wut, Starre

Verbalisierungen des Trauernden • »Das kann doch nicht wahr sein.« • »Das kann ich nicht aushalten.« • »Ich kann nicht mehr.« • »Es ist zu schrecklich, was ich ertragen muss.« • …

Begleitendes »Tun«

Haltung des Begleitenden

Situation des Trauernden

Konsolatorisch-verstehende Begleitung Mögliche Fragen des Begleitenden Tabellarische Übersicht über die Begleitformen  

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Situation des Trauernden

Haltung des Begleitenden • Trösten muss in strenger Abgrenzung zum Vertrösten oder Beschwichtigen verstanden werden ( Vertröstungen haben entmündigenden Charakter, machen den Trauernden klein und schwach, fügen ihm zusätzliche Wunden bei, lassen ihn hinter seinen Möglichkeiten zurückbleiben)

Begleitendes »Tun«

Konsolatorisch-verstehende Begleitung Mögliche Fragen des Begleitenden

110    Tabellarische Übersicht über die Begleitformen

Haltung des Begleitenden

• »Innere Haltung« (siehe konsolatorisch-verstehende Begleitung) • Spiegeln, Pacing, das zeigen, »was ist« • Der Begleitende ist dem Trauernden »das fremde Gegenüber« • Anregen, stimulieren, weiten, provozieren und mit neuen Horizonten konfrontieren • Sinnstimuli setzen • Keine Antworten vorgeben • Eigenes Tempo berücksichtigen

Situation des Trauernden

• Zustand ratloser Verzweiflung • Bisher unhinterfragte Sinnhaftigkeit bricht weg • Der Trauernde erlebt sich und die Welt als sinnlos, sinnleer • Sucht nach Sinn des Geschehens, des eigenen Daseins und des Lebens überhaupt • Altes und Neues treten zueinander in Konflikt • Mit der Frage nach Sinn wird der Trauernde aktiv • Neigt zu einer defizitär orientierten Sichtweise • Erlebt sich weder als Einheit noch Ganzheit • Identitätsverlust • Trauernde neigt dazu wegzuschauen

• Den Trauernden dabei unterstützen, »Vorhandenes« mit »Neuem« zu verbinden. Dies ermöglicht es dem Trauernden, sich seinen Sinn zu erschließen • Versuchen, den Trauernden mit seinen eigenen Fragen in Kontakt zu bringen • Ihm dabei behilflich sein, eigene Antworten zu finden • Den Trauernden dabei unter­ stützen herauszufinden, welche Aufgaben in den gefundenen Sinnhorizonten für ihn enthalten sein können • Aufgaben können innerweltlicher als auch transzendenter Art sein, können sowohl kleiner als auch großer Natur sein

Begleitendes »Tun«

Stimulierend-provokative Begleitung

• »Was glaubst du könnte die hierin enthaltene Aufgabe für dich sein?« • »Erkennst du hierin einen Auftrag oder eine Anfrage an dich?« • »Wozu fordert dich das ­h eraus?« • …

Mögliche Fragen des Begleitenden Tabellarische Übersicht über die Begleitformen  

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Verbalisierungen des Trauernden • »Warum konnte ich nicht an seiner Stelle sterben?« • »Warum wird gerade mir mein geliebter Mensch ­g enommen?« • »Warum hat Gott das zugelassen?« • »Warum soll ich noch weiterleben und wie soll ich das schaffen?« • »Ich fühle mich nur noch als halber Mensch.« • »Ich fühle mich wie ­a mputiert.«

Situation des Trauernden

Haltung des Begleitenden • Dem Trauernden Klarheit und Transparenz in Bezug auf die Fragen vermitteln • Den Trauernden dabei unter­ stützen, Unvollständiges, Un­ erledigtes, Verletztes oder Brü­ chiges, nicht nur in Bezug auf die aktuelle Situation, son­dern auch hinsichtlich seines bisherigen Lebens (in Bezug auf den Verstorbene), aufzudecken • Mit dem Trauernden eine Treppe aus pacing und leading gestalten und gehen • Ist auf Heilung gerichtet, hilft dem Trauernden, das Erlittene in sein Leben zu integrieren • Unterstützung bei der Identitätsumgestaltung bzw. Identitätsfindung

Begleitendes »Tun«

Stimulierend-provokative Begleitung Mögliche Fragen des Begleitenden

112    Tabellarische Übersicht über die Begleitformen

Haltung des Begleitenden

• Das bisher nicht für mög• »Innere Haltung« (siehe lich Gehaltene ist eingekonsolatorisch-verstehende treten Begleitung) • Sieht sich in eine Situation • Immer wieder das eigene hineingestellt, die ihm im Tempo des Trauernden höchsten Maße fraglich ist ­b erücksichtigen • Betritt Fremdland, Neuland, • Einfühlendes und aufmerk»terra incognita« sames Interpretationsver• Fraglose Orientierung ist mögen, um z. B. »rückgeaufgelöst koppelte Metaphern« als • Das Denken des Trauernden Fragen, die im übertragefindet keinen Halt mehr nen Sinne auf die Kernfrage • Wissen, das auf B­ ewältigung verweisen, zu entschlüsausgerichtet ist, weiß nicht seln. Kernfrage ist »Wer bin mehr weiter ich (denn eigentlich)?« • Kognitives Nichtverstehen, Nichtwissen, Fassungs­ losigkeit • Dies ruft fassungsloses Staunen hervor bzw. kommt darin zum Ausdruck

Situation des Trauernden

Mögliche Fragen des Begleitenden

• Das »Erwachen« des Trauern­ • Erste Fragewelt den aufmerksam wahrnehmen – – »Was lehrt es dich, eine • Ihn dabei unterstützen, Frage zu sein?« einen Zugang zu neuen Er– – »Welche Lebensweise kenntnissen und Einsichten ­e rscheint dir dieser Fragzu gewinnen lichkeit angemessen?« • Dem Trauernden dabei hel– – »Was könnte eine korresfen, sein eigenes Erstaunen pondierende Lebensform als einen Schatz zu empfinsein, die dieser Fraglichden, der ihm hilft, neue Einkeit gerecht wird?« sichten zu gewinnen und – – »Wenn du dich als Frage neue Wege zu gehen bejahst, was kann deine • Ihn immer wieder dabei Antwort darauf sein?« unterstützen, die »Offenheit« in allem zu erkennen und • Zweite Fragewelt diese auch als Gestaltungs– – »Wer bist du mit dem möglichkeit zu empfinden Verlust, den du erlitten • Die existenziellen Fragen hast?« heraushören (Kontingenz, – – »Wer bist du, mit diesem eigene Sterblichkeit, TransWissen um das ›Nie-wiezendenz …) der‹?«

Begleitendes »Tun«

Reflektierend-verstehende Begleitung

Tabellarische Übersicht über die Begleitformen  

113

Verbalisierungen des Trauernden • »Wie kann das nur sein?« • »Ich verstehe das nicht, wir hatten doch noch so viel vor.« • »Wie kann er trotz meiner Liebe tot sein?« • »Er war doch gerade noch da. Warum kommt er nicht wieder – wie sonst auch?« »Wie ist das bloß möglich?« • »Wer bin ich eigentlich?« • »Wo bin ich geblieben, als er starb?«

• Aus dem Staunen erfolgen Fragen und Wunsch nach Erkenntnis

Situation des Trauernden

Haltung des Begleitenden • Das Bewusstsein des Trauernden schärfen für das, »was ist« • Die lebenszugewandte Seite stärken, Aufmerk­ samkeit richten auf Stärken, Potenziale, Möglichkeiten • Der Begleitende kann dem Trauernden zwei Fragewelten offerieren: Die erste Fragewelt ist auf das Menschsein überhaupt ausgerichtet, sie ermöglicht es dem Trauernden zu erkennen, dass er als Mensch ein Geheimnis, eine Frage ist und es keine auf Dauer gestellten Antworten gibt. Hierdurch ermöglicht es der Begleitende, dass der Trauernde sich immer tiefer in

Begleitendes »Tun«

Reflektierend-verstehende Begleitung

Der Trauernde ist in einem »Sprachgefängnis« des »Ohne« gefangen. Die Fragen sollen dieses Gefängnis öffnen. Das heißt, der Begleitende muss dem Trauernden vermitteln können, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Kommunikation und Wirklichkeit gibt.

• »Was bist du für einer, dass du es trotz dieses Verlustes geschafft hast, am Leben zu bleiben«? • »Welche Aufgaben oder Berufung könnten in diesem Weiterleben an dich gestellt sein?«

Mögliche Fragen des Begleitenden

114    Tabellarische Übersicht über die Begleitformen

Situation des Trauernden

Haltung des Begleitenden seine eigenen Fragen hineindenkt und dabei sein eigenes »Lebensklima« entwickelt. Hier können die Fragen »Trittsteine« auf dem Weg zur Annahme und so zur neuen Lebensgestaltung sein. Die zweite Fragewelt ist auf die individuelle Situation ausgerichtet. Diese ist oft von einer defizitären Sichtweise geleitet. Der Begleitende muss hier behutsam Fragen stellen, die dem Trauernden eine neue Perspektive ermöglichen.

Begleitendes »Tun«

Reflektierend-verstehende Begleitung

In der Reflektierend-verstehende Begleitung findet der größte Teil der Trauerarbeit statt!

Mögliche Fragen des Begleitenden Tabellarische Übersicht über die Begleitformen  

115

• »Innere Haltung« (siehe konsolatorisch-verstehende Begleitung) • Aktives Bindeglied oder Brücke zwischen »Altem und Neuem« • Haltung des »Nachgehens«, »Nachsorge«, »Nachpflege« • Stütze und Halt sein

• Trauernde wagt und ­e rprobt Neues • Langsame Umgestaltung des »alten« Menschen • Er wird immer wieder vor neue Aufgaben und Probleme gestellt, die er bewältigen oder lösen muss • Macht neue Erfahrungen, gelangt immer wieder zu neuen Erkenntnissen, wird diese hinterfragen und neu beantworten

Verbalisierungen des Trauernden • »Werde ich es schaffen, ­a llein auszugehen?« • »Darf ich wieder eine neue Beziehung eingehen?«

Haltung des Begleitenden

Situation des Trauernden • Der Begleitende muss hier die ausgesprochenen und unausgesprochenen ­» Verabredungen« im Blick haben • Schritte, die der Trauernde andenkt und zum ersten Mal in Worte kleidet, im Blick haben • Die angedachten Schritte gemeinsam hinsichtlich Umsetzbarkeit oder Nichtumsetzbarkeit bedenken • Den Werdeprozess des Trauernden »aktiv« im Blick halten und dies dem Trauernden transparent machen

Begleitendes »Tun«

Evaluierend-nachgehende Begleitung

• »Wie ist es dir gegangen mit der Absicht, wieder auszugehen?« • »Welche Erfahrung hast du gemacht, als du dich entschieden hast, den Urlaub allein anzutreten?« • »Was bewegte dich, als du die Früchte am Baum und die abgefallenen Früchte betrachtet hast?« • …

Mögliche Fragen des Begleitenden

116    Tabellarische Übersicht über die Begleitformen

• »Letzte Woche habe ich das erste Mal alleine einen Urlaub gebucht.« • »Ich muss mir ein neues Auto kaufen.«

Situation des Trauernden

Haltung des Begleitenden • Dem Trauernden eine Brücke sein mit Blick auf den ganzen Trauerweg, aber auch mit Blick auf die einzelnen Treffen, die einzelnen Gesprächssequenzen, die einzelnen Aktivitäten • Trauernde haben einen Abbruch von Beziehung erlitten, hier liegt eine große Verantwortung für den Begleitenden

Begleitendes »Tun«

Evaluierend-nachgehende Begleitung Mögliche Fragen des Begleitenden Tabellarische Übersicht über die Begleitformen  

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Komprimierte Übersicht über die Begleitformen

Erwarteter Abschied – Eisagogischhinführende Begleitungsform Schlüssel- • »Wie soll ich das wörter/ bloß schaffen?« Verbalisie­ • »Ich würde so gern rungen mit ihm reden.« • »Ich weiß nicht, ob ich ihm sagen kann, was ich denke.« • »Wenn er doch nur endlich erlöst wäre.« • »Bei meiner Mutter war das ganz ­a nders.« • …

Emotionale Instabilität – Konsolatorischverstehende Begleitungsform • »Das kann ich nicht aushalten.« • »Ich kann nicht mehr.« • »Es ist zu schrecklich, was ich ertragen muss.« • »Das kann nicht wahr sein.« • »Entschuldigung …« • …

Ratlose Verzweiflung – Stimulierendprovokative Begleitungsform • »Warum konnte ich nicht an seiner Stelle sterben?« • »Warum wird ­g erade mir mein geliebter Mensch genommen?« • »Warum hat Gott das zugelassen?« • »Warum soll ich noch weiterleben und wie soll ich das schaffen?« • »Ich fühle mich nur noch als halber Mensch, wie amputiert.« • »Wozu das alles?« • »Hätte …, wäre …, wenn …«

Umfassendes Nichtverstehen – Reflektierend-verstehende Begleitungsform • »Wie kann das nur sein?« • »Ich verstehe das nicht, wir hatten doch noch so viel vor.« • »Wie kann er trotz meiner Liebe tot sein?« »Er war doch gerade noch da. Warum kommt er nicht wieder – wie sonst auch?« »Wie ist das bloß möglich?« • »Wer bin ich eigentlich?« • Wo bin ich geblieben, als er starb?“ • …

Wagendes Erproben – Evaluierendnachgehende Beglei­­t­ungsform • »Werde ich es schaffen, allein auszugehen?« • »Darf ich wieder eine neue Beziehung eingehen?« • »Letzte Woche habe ich das erste Mal allein einen Urlaub gebucht.« • »Ich muss mir ein neues Auto ­k aufen.« • »Mein Mann ist mir im Traum erschienen und hat mir gesagt …« • …

120    Komprimierte Übersicht über die Begleitformen

• Weinen • Unkonzentriertheit • Rastloser Blick • Starrer, abwesender Blick • Unruhe • Vergesslichkeit • …

Spezi­ fische Zeichen

• Unsicherheit • Weinen und sich selbst Mut zusprechen wechseln sich häufig ab • An den Tod denken und es sich doch wieder untersagen • …

Emotionale Instabilität – Konsolatorischverstehende Begleitungsform • In sich Zusammengesunken • Gesenkter Kopf • Starre Körper­ haltung • Schaukelbewegung des Oberkörpers • …

Erwarteter Abschied – Eisagogischhinführende Begleitungsform Typische • Aufrechte oder Haltungen ­b elastete Haltung • Wägt ab zwischen verschiedenen Möglichkeiten (z. B. offene Kommunikation oder nicht) • Erschöpftheit vs. Stärke • Beherrschtheit • … • Fühlt sich ausgeliefert • Suche nach Antworten/Sinn • Suche nach Rat • Häufiges Schulterzucken • Weinen • …

Ratlose Verzweiflung – Stimulierendprovokative Begleitungsform • Fragend, aufgebrachte Haltung • Orientierungs­ losigkeit • Unsicherheit • …

• Wachheit • Aufnahmebereit • Offenheit für Auseinandersetzung • Häufige Benutzung des Wortes »ohne« • Oft defizitäre Sichtweise • …

Umfassendes Nichtverstehen – Reflektierend-verstehende Begleitungsform • Fragender, wissen wollender Blick • Aufrecht, aufmerksam • Kopf schütteln • Handflächen ­a usgestreckt nach oben zeigend • …

• Berichtet über ­» geschaffte Dinge« • Erkennt die eigenen Veränderungen • Ist bereit, den ­g egangenen Weg zu betrachten • …

Wagendes Erproben – Evaluierendnachgehende Beglei­­t­ungsform • Aufrechte Haltung • Wägt ab zwischen verschiedenen Möglichkeiten • …

Komprimierte Übersicht über die Begleitformen  

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Erwarteter Abschied – Eisagogischhinführende Begleitungsform Mögliche • »Was brauchst du Fragen jetzt angesichts des dieser Situation?« Beglei• »Kannst du dir vortenden stellen, deinem nahe stehenden Menschen noch das zu sagen, was du sagen ­m öchtest?« • »Wer kann dir zur Seite stehen?« • …

Emotionale Instabilität – Ratlose Verzweiflung – Umfassendes NichtKonsolatorischStimulierendverstehen – Reflektieverstehende provokative rend-verstehende Begleitungsform Begleitungsform Begleitungsform • »Was brauchst du • »Was glaubst du, • Erste Fragewelt jetzt?« könnte die ­h ierin – – »Was lehrt es • »Was könnte dir enthaltene Aufdich, eine Frage gut tun?« gabe für dich zu sein?« • … sein?« – – »Welche Lebens• »Erkennst du hierin weise erscheint einen Auftrag oder dir dieser Frageine Anfrage an lichkeit angedich?« messen?« • »Wozu fordert dich – – »Was könnte eine das heraus?« korrespondie• … rende Lebensform sein, die dieser Fraglichkeit gerecht wird?« – – »Wenn du dich als Frage bejahst, was kann deine Antwort darauf sein?«

Wagendes Erproben – Evaluierendnachgehende Beglei­­t­ungsform • »Wie ist es dir ­g egangen mit der Absicht, wieder auszugehen?« • »Welche Erfahrung hast du gemacht, als du dich entschieden hast, den Urlaub allein anzutreten?« • »Was bewegte dich, als du die Früchte an deinem Trauerbaum und die abgefallenen Früchte betrachtet hast?«

122    Komprimierte Übersicht über die Begleitformen

Erwarteter Abschied – Emotionale Instabilität – Ratlose Verzweiflung – Umfassendes NichtEisagogischKonsolatorischStimulierendverstehen – Reflektiehinführende verstehende provokative rend-verstehende Begleitungsform Begleitungsform Begleitungsform Begleitungsform • Zweite Fragewelt – – »Wer bist du mit dem Verlust, den du erlitten hast?« »Wer bist du mit diesem Wissen um das ›Nie-wieder‹?« – – »Was bist du für einer, dass du es trotz dieses Verlustes geschafft hast, am Leben zu bleiben«? – – »Welche Aufgaben oder Berufung könnten in diesem Weiterleben an dich gestellt sein?« –– …

Wagendes Erproben – Evaluierendnachgehende Beglei­­t­ungsform • »Wenn du unser Gespräch letzte Woche und das von heute betrachtest, was fällt dir auf?« • »Du bist viele Male durch diese Tür hinein- und hinausgegangen. Wie ist das im Rückblick? Was bedeuten Türen für dich?« • »Wenn du dich selbst in Form eines Symbols ­b eschreibst, was würde das für eines sein?« • …

Komprimierte Übersicht über die Begleitformen  

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Übersicht und Zusammenfassung der einzelnen Werdeschritte

Wahrnehmen

•• Wahrnehmung ist immer selektiv, nie kann das Ganze, also die Komplexität des Geschehens, mit einem Schlag erfasst werden. •• Der Prozess des Wahrnehmens wird dadurch erschwert, dass das, was wahrgenommen (realisiert) werden soll, zu groß und zu schwer ist, um sofort in das Bewusstsein des Menschen zu gelangen. •• Das Vertraute und Sagbare sind der eigenen Wahrnehmung entzogen. Unsicherheit und Schock lassen das Neue noch nicht ein. •• Wann und was wahrgenommen wird, kann nur vom Trauernden selbst erblickt werden. •• Trauernde nehmen erst das wahr, was ihnen verloren gegangen ist – extrinische Wahrnehmung, objektiver Nihilismus –, erst dann sind sie in der Lage wahrzunehmen, dass dieser Verlust ihnen gilt, sie selbst betrifft – intrinsische Wahrnehmung, subjektiver Nihilismus. •• Die nihilistische Phase ängstigt den Trauernden und ist für ihn wie ein pathologischer Zwischenzustand und macht wortund sprachlos. •• Lässt sich der Trauernde darauf ein, dass er es ist, dem dies widerfahren ist, kann er sich als Vermissender entdecken und sich auf den Weg machen.

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•• Wahrnehmen ist eine Art »Sehen lernen« (Rainer Maria Rilke).

Erkennen

•• Gesehenes kann erkannt und damit zur Klarheit gebracht werden  – Trauernde befinden sich zunächst in einem Zustand der Unklarheit. •• Das, was ist, ins Bewusstsein einzulassen und zu erkennen, geht einher mit aufbrechenden Gefühlen, schmerzt und verwirrt. Trauernde fühlen sich hier oft, als wären sie verrückt. •• Erkennen bedeutet, das Geschehene zu begreifen, es einzuordnen, zu strukturieren, nach dem Sinn zu fragen, sich selbst zu befragen: Wer bin ich eigentlich? •• Selbsterkenntnis ist immer schwierig, da das Nächste sich oft gleichzeitig das Fernste ist und in der verdichteten Identitätskrise oftmals fast unmöglich. •• Im Modus des Erkennens wird dem Trauernden die Struktur seines Menschseins deutlich: Ich bin sterblich, vergänglich, nichts ist planbar, ich muss immer Risiken eingehen … •• Erkennen bringt auch einen Auftrag an die persönliche Lebensführung mit sich (Wagnis und Entscheidung, Risiko und Gefahr).

Annehmen

•• Auf das Erkannte muss eine lebendige Antwort, eine Lebensantwort gefunden werde: Was soll ich tun? Wie gehe ich mit dem, was ich erkannt habe, um? •• Der Trauernde ist dazu aufgerufen, zu dem Erkannten Ja zu

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sagen; sich in seiner Gebrochenheit zu bejahen, mit all seinen Fehlern und fehlerhaften Entscheidungen. •• Er vertraut sich im Jasagen sowohl der Ausgesetzheit an das Leben als auch sich selbst an. •• Er begreift sich als ein Wesen des Übergangs, das sich immer zwischen Sich-selbst-bestimmt-Sein und Ausgesetztsein befindet. •• Im Annehmen öffnet sich der Weg zu einer neuen Ich-Identität.

Gestalten

•• Das erkannte und wahrgenommene Wissen befähigt den Trauernden, sein Selbst und sein Leben jetzt neu auszurichten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind wieder integrierbare Zeitmodi. •• Der Trauernde begreift sich als ein Wesen, das nicht nur ausgesetzt ist, sondern auch Entscheidungen treffen kann. •• Das brüchig gewordene Selbst gewinnt wieder an Festigkeit und sogar an Eigenstand, Eigenständigkeit. •• Es ist einerseits ein Abschied von der Unsterblichkeits- und der Souveränitätsillusion und andererseits ein Eintritt in eine zweite Naivität, die ihm neues Vertrauen in das Leben und die Fähigkeit, wieder Beziehungen eingehen zu können, ermöglicht.

Literatur

Augustinus, Aurelius (2002). Die Bekenntnisse. Übertragung, Einleitung und Anmerkungen von Hans Urs von Balthasar. Kap. IV, 9–Kap. XII, 12. (4. Auflage). Einsiedeln. Brathuhn, Sylvia (2006). Trauer und Selbstwerdung. Eine philosophischpädagogische Grundlegung des Phänomens Trauer. Würzburg. Freud, Sigmund (1915). Zeitgemäßes über Krieg und Frieden. G. W. Bd. X (S. 324–355). Frankfurt a. M. Jaspers, Karl (1948a). Philosophie (2. Auflage). Berlin, Göttingen, Heidelberg. Jaspers, Karl (1948b). Philosophie, II: Existenzerhellung. In K. Jaspers, Philosophie (2. Auflage; S. 293–672). Berlin, Göttingen, Heidelberg. Jaspers, Karl (1948c). Philosophie, III: Metaphysik. In K. Jaspers, Philosophie (2. Auflage; S. 673–879). Berlin, Göttingen, Heidelberg. Landsberg, Paul Ludwig (1934). Einführung in die philosophische Anthropologie. Frankfurt a. M. Marcel, Gabriel (1956). Der Mensch als Problem. Frankfurt a. M. Müller, Monika; Brathuhn, Sylvia; Schnegg, Matthias (2013). Handbuch der Trauerbegegnung und -begleitung. Theorie und Praxis in Hospizarbeit und Palliative Care. Göttingen. Rilke, Rainer Maria (1910/2002). Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In R. M. Rilke, Gedichte und Prosa. Köln. Schmid, Wilhelm (2004). Mit sich selbst befreundet sein. Frankfurt a. M.. Stier, Fridolin (1981). Vielleicht ist irgendwo Tag. Aufzeichnungen (2. Auflage). Freiburg, Heidelberg. Voltaire, François-Marie Arouet: Lehrgedicht: Poème sur le désastre de Lisbonne, ou Examen de cet axiome ›Tout est bien‹. Zwierlein, Eduard (2013). Magna Quaestio. Berlin.