Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat: Die Religionsfrage in den brandenburg-preußischen Territorien vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert [1 ed.] 9783428581740, 9783428181742

Nachdem die Papstkirche durch die Reformation des 16. Jahrhunderts in die katholische und protestantische Kirche gespalt

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Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat: Die Religionsfrage in den brandenburg-preußischen Territorien vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert [1 ed.]
 9783428581740, 9783428181742

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NEUE FOLGE

Beiheft 16

Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat Die Religionsfrage in den brandenburgisch-preußischen Territorien vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert

Duncker & Humblot · Berlin

Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat

FORSCHUNGEN ZUR BRANDENBURGISCHEN UND PREUSSISCHEN GESCHICHTE NEUE FOLGE

Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz von Ulrike Höroldt, Hans-Christof Kraus und Frank-Lothar Kroll

Beiheft 16

Einzelveröffentlichung des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Herausgegeben von Klaus Neitmann Band XXVI

Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat Die Religionsfrage in den brandenburgisch-preußischen Territorien vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert

Herausgegeben von Klaus Neitmann

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0940-1644 ISBN 978-3-428-18174-2 (Print) ISBN 978-3-428-58174-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Seit jeher ist der brandenburgisch-preußische Staat von seinen Verehrern für seine religiöse Toleranz gerühmt worden – und selbst seine Verächter haben sich dem Sog dieser Interpretation, die zumindest im ersten Blick auf das Verhältnis der verschiedenen Religionen und Konfessionen innerhalb seiner Grenzen einleuchtend erschien, nicht gänzlich entziehen können. Bis in unsere Gegenwart hinein wird unter den preußischen „Tugenden“, wenn sie in öffentlichen historisch-politischen Stellungnahmen beschworen werden, neben, ja nach der Rechtstaatlichkeit die Toleranz hervorgehoben. Und in diesem Zusammenhang ist dann das Wort Friedrichs des Großen, in seinem Staat solle jeder nach seiner Fasson selig werden, nicht allzu weit. Der Kenner der preußischen Geschichte weiß, wie sehr sich die Bilder und Begriffe, die im Rahmen einer der eigenen gegenwartsbezogenen Selbstvergewisserung dienenden Traditionspflege und Erinnerungskultur erwachsen sind, von den objektiven historischen Gegebenheiten, wie sie sich einer kritischen Geschichtswissenschaft darbieten, entfernen können und ihr Eigenleben führen. Andererseits ist selbst für den nüchternen Betrachter nicht zu übersehen, daß Brandenburg-Preußen im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bzw. innerhalb seiner Territorien früher als (fast) alle anderen die Existenz mehrerer (christlicher) Konfessionen unter seinem Herrscher „hingenommen“, sich vom Grundsatz des vielgelobten Augsburger Re­ ligionsfriedens von 1555, dem des „cuius regio eius religio“, abgewandt, ihr Nebeneinander um des innerstaatlichen Friedens unter seinen ­Untertanen „geduldet“ oder gar ihr gedeihliches Miteinander aus ideeller Überzeugung oder um staatlicher Zwecke willen gefördert hat. Religions- und Gewissensfreiheit sind jedenfalls ein großes, zentrales Thema, das die preußische Geschichte seit dem frühen 17. Jahrhundert ständig in wechselnden Gestalten begleitet und mit dem sie sich oft von ihrem zeitgenössischen deutschen und europäischen Umfeld abgehoben hat. Vor diesem Hintergrund war es kein Zufall, daß die Preußische Historische Kommission e. V. in ihren Erörterungen über eine längerfristige wissenschaftliche Arbeitsplanung im Herbst 2013 auf Vorschlag des Unterzeichnenden beschloss, eine ihrer nachfolgenden Jahrestagungen den Konfessionen und ihrem jeweiligen Rechts- und Verfassungsstand in der frühneuzeitlichen brandenburg-preußischen Monarchie zu widmen. Ausgelöst wurde die Auswahl des Gegenstandes durch das damals näherrü-

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ckende 500jährige Jubiläum der Reformation, denn die konfessionelle Spaltung des katholischen Abendlandes zwischen der römisch-katholischen Kirche und den protestantischen, vornehmlich lutherischen und reformierten bzw. calvinistischen Kirchen im 16. Jahrhundert schuf überhaupt erst die Voraussetzung für das hier in Frage stehende Problem. Zwar beendete der Augsburger Religionsfriede von 1555 letztlich den ersten konfessionellen Bürgerkrieg innerhalb des Reiches, indem er auf die in den mittelalterlichen Jahrhunderten selbstverständliche Glaubenseinheit unter seinen territorialen Gliedern verzichtete und die Entscheidung über die Annahme des „wahren“ und die Verwerfung des „falschen“ Glaubens jedem einzelnen Landesherrn überließ. Aber zugleich postulierte er, daß innerhalb des einzelnen Landes weiterhin Glaubenseinheit zu herrschen habe, daß nur ein einziger Glaube, eben derjenige, für den der Landesherr sich entschieden hatte, allgemeine Anerkennung und Nachfolge beanspruchen dürfe und daß alle Untertanen, die sich diesem wegen ihrer abweichenden religiösen Überzeugungen nicht anschließen konnten, ihre Heimat zu verlassen und auszuwandern hatten. Ein in seinem Inneren befriedetes Gemeinwesen konnte man sich damals infolge der aus dem Mittelalter überkommenen unauflöslichen Verquickung von „Kirche“ und „Welt“ nur in der Weise vorstellen, daß alle seine Angehörigen, vom Fürsten über die Stände bis zu den einfachen Leuten, ein und demselben Glauben anhingen. Es bedeutete einen tiefen Bruch mit den wesentlichen Ergebnissen des Reformationszeitalters, daß der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund 1613 zum reformierten Bekenntnis übertrat, aber zugleich rechtsverbindlich darauf verzichtete, seine Untertanen zur Befolgung seines Schrittes zu zwingen. Unter dem Druck der glaubensfesten lutherischen Geistlichkeit und Stände Kurbrandenburgs mußte er sich damit einverstanden erklären, daß fortan Lutheraner ebenso wie Reformierte in der Mark Religions- und Gewissensfreiheit genossen. Dieses Resultat einer heftigen fürstlich-ständischen Auseinandersetzung war freilich nicht von beiden Seiten oder auch nur von einer Seite zielbewußt angestrebt worden, sondern war einer politischen Notlage, einem landesherrlichständischen Gleichgewicht in der strittigen Religionsfrage, erwachsen. Und für die Zukunft unterband es nicht erhebliche Kontroversen unter den beiden konkurrierenden Bekenntnissen, die auf ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch beharrten und eher unwillig als überzeugt die konfessionelle Koexistenz akzeptierten. Zudem wurde schon Kurfürst Johann Sigismund und wurden seine Nachfolger wegen ihrer erfolgreichen Außenpolitik, wegen ihrer vornehmlich auf dem Erbwege erreichten Inbesitznahme zahlreicher norddeutscher Territorien vom Rhein bis an die Memel mit einem zusätzlichen Problem konfrontiert: Sie übernahmen

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mehrmals die Herrschaft über Territorien, in denen zwar eine Konfession von der (großen oder gar übergroßen) Mehrheit der Einwohner angenommen worden war, aber auch eine oder gar mehrere andere Konfessionen auf Grund innen- oder außenpolitischer Umstände eigene, durch Privilegien oder Verträge gewährleistete Konfessionsfreiheiten innehatten. Kein brandenburgischer Kurfürst bzw. preußischer König kam daher umhin, auf die unterschiedlichen konfessionspolitischen Gegebenheiten in seinen verschiedenen Landen Rücksicht zu nehmen und auf eine Abmilderung oder einen Ausgleich der konfessionellen Gegensätze zu drängen, jedenfalls darauf zu achten, daß sie sich nicht zur einer merklichen Störung der öffentlichen Ruhe im Gemeinwesen auswuchsen. Aus den hier sehr holzschnittartig angedeuteten Gegebenheiten ergab sich, daß das Tagungsprogramm zwei wesentliche Schwerpunkte setzte, in denen ohne Anspruch auf Vollständigkeit wesentliche Teilstücke des großen epochalen Gegenstandes behandelt werden sollten. Zum einen galt es, den homogenen, konfessionell in sich geschlossenen Landesstaat des 16. Jahrhunderts, den die Reformatoren und ihre fürstlichen Anhänger kraft ihrer Überzeugung von der wiedergewonnenen „reinen Lehre“ angestrebt und verwirklicht hatten, in seinen Eigenarten und in seiner Durchsetzung zu beleuchten und zu erklären. Von diesem Ausgangspunkt, der einkonfessionellen Landesherrschaft des 16. Jahrhunderts, wandte sich die Aufmerksamkeit dem mehrkonfessionellen Landesstaat des 17. und frühen l8. Jahrhunderts zu und suchte die verschiedenartigen Konstellationen zu erhellen, unter denen Mehrkonfessionalität entstand, sie wieder zurückgedrängt oder gar beseitigt werden sollte oder umgekehrt hingenommen, im Alltagsleben akzeptiert oder gezielt zu einem befürworteten Ausgleich gebracht werden sollte. Zum anderen galt es, die unterschiedlichen religiösen Verhältnisse in den (späteren) brandenburgisch-preußischen Gebieten, die im Untersuchungszeitraum sicherlich noch eine „monarchische Union von Ständestaaten“ (Otto Brunner) bildeten, zu erfassen und die jeweiligen besonderen Verhältnisse zu analysieren, um so die Mehrkonfessionalität in ihrer Vielfalt und in ihrer jeweiligen Problematik aufzuzeigen. Man braucht nur einmal das Politische Testament des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von 1667 zu studieren, in dem er die Religionsproblematik breit erörterte, aber eben ausgehend vom jeweiligen Land und auf Grundlage ihres besonderen territorialen oder reichischen Religionsrechtes. In das Tagungsangebot aufgenommen wurden möglichst viele Territorien, die seit dem frühen 17. Jahrhundert zunächst durch Personalunion mit dem Kurfürstentum Brandenburg verbunden worden und dann in das künftige Königreich Preußen eingegangen waren. Zum Vergleich wurden die schlesischen Herzogtümer (vor 1740) untersucht, um den Umgang der katholischen

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Habsburger mit einem im 16. Jahrhundert mehrheitlich lutherisch gewordenen Land, also die Schlußfolgerungen, die hier aus derselben Lage, aus der konfessionellen Differenz zwischen Landesherr und Untertanen, gezogen wurden, für eine umfassendere Urteilsbildung heranzuziehen. Der zeitliche Rahmen wurde bis ins frühe 18. Jahrhundert, bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1740, ausgeweitet, die frühe Aufklärung dabei mit Christian Wolff noch gestreift, aber nicht mehr umfassend einbezogen, da ihre Debatten um christliche Kirchen und Konfes­ sionen und um außerchristliche Religionen letztlich im Ergebnis der verheerenden europäischen Konfessionskriege von anderen geistigen Voraussetzungen ausgingen, andere Ziele als ihre Vorgänger benannten und den Toleranzgedanken inhaltlich anders deuteten und faßten, wie etwa Gottfried Ephraim Lessings berühmtes Werk Nathan der Weise mit seiner Ringparabel zeigt. Die Tagung „Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat: die Religionsfrage in den brandenburgisch-preußischen Territorien vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert“ fand vom 3. bis 5. November 2016 am traditionellen Tagungsort der Preußischen Historischen Kommission e. V., in der sog. Direktorenvilla des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, statt und durfte sich dabei der bewährten Gastfreundschaft seines Direktors Prof. Dr. Jürgen Kloosterhuis erfreuen. Ihre Durchführung wurde erheblich erleichtert und befördert durch die personelle, organisatorische und finanzielle Unterstützung, die die Kommission durch zwei Berlin-Brandenburgische wissenschaftliche Einrichtungen erfuhr, durch das Brandenburgische Landeshauptarchiv und den Verein für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte e. V. Das Bran­ denburgische Landeshauptarchiv in Potsdam hat sich in der gesamten Zeit seiner über 70jährigen Existenz, schon bald nach seiner Gründung 1949 in den Jahrzehnten der DDR und erst recht im 1990 wiedererstandenen Land Brandenburg, um die Förderung der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung bemüht und mit Quelleneditionen, Hilfsmitteln, monographischen Darstellungen und Tagungsbänden zur Untersuchung der Epochen der brandenburgischen Geschichte von ihren hochmittelalterlichen Anfängen bis zur Gegenwart nachdrücklich beigetragen. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen ist die frühneuzeitliche Mark Brandenburg stark vertreten, und es lag daher für den Unterzeichnenden, den damaligen Direktor des Hauses, nahe, das Konfessions­ thema, ein für die Gestaltung der Mark Brandenburg maßgebliches, bestimmendes Thema, in den größeren Rahmen der brandenburgisch-preußischen Geschichte zu stellen und in Verbindung mit den anderen brandenburgisch-preußischen Landen zu behandeln  – sozusagen neben und zusätzlich zu seiner 2017 und 2018 an mehreren Standorten gezeig-

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ten Ausstellung, die unter dem Titel „Leben und Sterben im wahren christlichen Glauben“ die lutherische Reformation des 16. Jahrhunderts an Hand von ständischen Beispielen, an Hand ihres Erfolges unter dem märkischen Adel und den märkischen Städten, beschrieb (und deren Ergebnisse in wesentlich erweiterter Form derzeit für die Publikation vorbereitet werden). Infolgedessen wird die vorliegende Tagungsdokumentation auch als Band XXVI der Schriftenreihe „Einzelveröffentlichung des Brandenburgischen Landeshauptarchivs“ erscheinen. Der Verein für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte e. V. existiert zwar in seiner jetzigen Gestalt erst seit einem guten Jahrzehnt, steht aber in unmittelbarer Kontinuität zu der 1948 gegründeten Arbeitsgemeinschaft für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte sowie zu deren Vorgänger, dem 1902 gegründeten Verein für brandenburgische Kirchengeschichte, so daß letztlich eine mehr als einhundertjährige intensive Forschung zur brandenburgischen, vornehmlich zur evangelischen Kirchengeschichte Brandenburgs und Berlins in ihm ihr geistiges und organisatorisches Zentrum gefunden hat. Seine Arbeitsergebnisse werden vorrangig in den seit 1904 erscheinenden Bänden des „Jahrbuches für brandenburgische (bzw. Berlin-Brandenburgische) Kirchengeschichte“ publiziert – bis zum aktuellen Jahrgang 2019 sind insgesamt 71 Bände herausgebracht worden. Nach seiner Gründung 2009 hat der Verein im Hinblick auf das Reformationsjubiläum seinen Arbeitsschwerpunkt auf die Erforschung der brandenburgischen Reformationsgeschichte gelegt, und aus seinen Initiativen, seinen Tagungen, seinen Vortragszyklen und seiner Forschungsplanung sind zahlreiche Beiträge hervorgegangen, die maßgeblich bewirkt haben, die lange Zeit stiefmütterlich behandelte brandenburgische Reformation auf wesentlich verbreiteter Quellengrundlage und mit neuen Interpretationen wieder in den Vordergrund zu rücken, u. a. mit einer konzentrierten Darstellung (2017 erschienen) und einer geradezu voluminösen Quellenedition über die brandenburgische Reformation zwischen 1517 und 1615 (2020 erschienen). Dem Vereinsvorsitzenden Dr. Karl-Heinrich Lütcke sei an dieser Stelle herzlich gedankt für sein Interesse und seine Unterstützung. Auf der Tagung vom November 2016 wurden insgesamt zwölf Referate gehalten, die alle für den Abdruck in dem vorliegenden Sammelband überarbeitet und (zum Teil  in erheblichem Ausmaß) erweitert worden sind. Der Herausgeber ist den Autoren für die Geduld zu Dankbarkeit verpflichtet, die sie gezeigt haben, als seine dienstlichen Verpflichtungen im Brandenburgischen Landeshauptarchiv das beabsichtigte frühzeitigere Erscheinen verhinderten. Einer der damaligen Referenten, Anton Schindling, ist mittlerweile von uns gegangen, am 4.  Januar 2020 verstarb er an seiner jahrzehntelangen Wirkungsstätte Tübingen. Einer der

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führenden Frühneuzeithistoriker seiner Generation, hat er sich intensiv über Jahrzehnte hinweg mit den Konfessionen, der Konfessionalisierung und den Konfessionskulturen im Heiligen Römischen Reich und darüber hinaus überhaupt in europäischen Staaten des 16. und 17. Jahrhunderts befaßt und dazu beigetragen, daß der Gegenstand zu den bevorzugten Themen der deutschen Frühneuzeitforschung aufstieg (vgl. den einfühlsamen Nachruf von Peter Baumgart, Anton Schindling zum Gedächtnis, in: Würzburger Diözesan-Geschichtsblätter 83 (2020), S. 445– 451). Es lag daher für den Herausgeber in der Vorbereitung der Tagung nahe, gerade Anton Schindling um einen einführenden Vortrag über die grundsätzliche Problematik von Konfessionen und Religionsfrieden zu bitten. Ein paar Monate nach der Tagung erkrankte er so schwer, daß er selbst zur Erarbeitung einer Druckfassung seines mündlichen Referates nicht mehr in der Lage war. An seiner Stelle übernahm es sein ehemaliger Schüler und langjähriger Wegbegleiter Matthias Asche, mit den Forschungen seines Lehrers bestens vertraut, die Vortragsfassung insbesondere durch die Beigabe des Anmerkungsapparates für die Publikation zu vollenden. Ihm schuldet der Herausgeber vielfachen Dank für diesen Einsatz. Im Hinblick auf die geschichtswissenschaftliche Leistung Anton Schindlings, auf seine grundlegenden Untersuchungen zur Geschichte des konfessionellen Zeitalters, denen er einen großen Teil seiner Forschungsarbeit gewidmet hat, gebührt es sich, seinem Andenken den vorliegenden Band zu widmen, in dem er sich noch einmal nachdrücklich zu Wort gemeldet hat und in dem er hat anklingen lassen, was ihn am meisten in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand gereizt hat: nämlich zu erkennen, wie es gelingen kann, in konfessioneller Zerklüftung konfessionellen Frieden herzustellen und zu gewährleisten. Berlin, im Mai 2021

Klaus Neitmann

Inhalt I. Der einkonfessionelle Landesstaat des 16. Jahrhunderts Anton Schindling unter Mitarbeit von Matthias Asche Konfessionspolitik und Religionsfrieden  – das Heilige Römische Reich, seine Territorien und Städte sowie die mittel- und ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Andreas Stegmann Die Formierung einer lutherischen Konfessionskultur im Kurfürstentum Brandenburg während der Regierungszeit Joachims II. (1535–1571)  . . . . 41 Heinrich Kaak Städtisches Kirchenregiment und Konfessionsfragen des 16. und 17. Jahrhunderts im Spiegel der Prenzlauer Chronik des Christoph Süring  . . . . . 81 Mathis Leibetseder Zwischen dynastischer Aneignung und rituellem Prozess. Die Reformation des Bistums Lebus und der Fürstenwalder ‚Pfaffensturm‘ 1556  . . . 111 Bernhart Jähnig Die evangelisch-lutherischen Bistümer des Herzogtums Preußen (1522–1587)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Michael Scholz Reformation ohne den Landesherrn? Die Durchsetzung der reformatorischen Lehre im Erzstift Magdeburg in der Mitte des 16. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

II. Der mehrkonfessionelle Landesstaat des 17./18. Jahrhunderts Klaus Neitmann ‚… bitten wir […], Eure Churfürstlichen Gnaden wollen uns in Reli­ gionssachen unser gewißen frei […] laßen …‘ Die kurbrandenburgischen Stände und die Konversion des Hauses Hohenzollern zum reformierten Bekenntnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

12 Inhalt Haik Thomas Porada Bugenhagens Erbe in einem geteilten Land. Die Konfessionsfrage in Pommern in den ersten beiden Jahrhunderten nach Einführung der Reformation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Michael Kaiser Konfessionalisierung als Instrument einer schwachen Landesherrschaft. Brandenburg und die Fürstentümer Jülich-Kleve-Berg und Mark im 17. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Peter Baumgart Habsburgische Konfessionspolitik im bikonfessionellen Schlesien von ca. 1648 bis 1740  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Frank Göse Zur Konfessionspolitik Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I. in den brandenburgisch-preußischen Landen und im Reich (1688–1740)  . . . . . . 335 Hans-Christof Kraus Spätkonfessionalismus und Frühaufklärung – Christian Wolff zwischen August Hermann Francke und Friedrich II.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 * Klaus Neitmann Die brandenburgisch-preußischen Territorien in ihrer Entwicklung vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat (16. bis frühes 18.  Jahr­ hundert). Themen und Thesen einer religionsgeschichtlichen Tagung  . . . 411

I. Der einkonfessionelle Landesstaat des 16. Jahrhunderts

Konfessionspolitik und Religionsfrieden – das Heilige Römische Reich, seine Territorien und Städte sowie die mittel- und ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten Von Anton Schindling (†), Tübingen, unter Mitarbeit von Matthias Asche, Potsdam* Innerhalb der westlichen Christenheit, der Christianitas unter der J­urisdiktion des Papstes, wurden politische Parteiungen und Ausein­ andersetzungen nicht mit Glaubensfragen begründet. Kampf gegen Nichtchristen und Verfolgung von Ketzern hatten einen anderen Begründungszusammenhang.1 Erstmals in Böhmen als Folge der Hussitischen Revolu­tion kam es im 15. Jahrhundert zu Parteibildungen auf einer Bekenntnisgrundlage, die im Laienkelch ihr Symbol fand.2 Die Zugehörigkeit der böhmischen Utraquisten zur universalen Kirche blieb ebenso unbestritten wie die ständische und monarchische Ordnung anerkannt wurde. Demgegenüber brachte die Reformation durch den bewussten Bruch mit dem Kirchenrecht durch Luther, Zwingli und später auch Cal*  Prof. Dr. Anton Schindling (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) ist am 4.  Januar 2020 verstorben. Beim vorliegenden Text handelt es sich um den im Wortlaut nur geringfügig veränderten Abdruck seines Vortragstextes. Matthias Asche (Potsdam) hat – auch in der Überschrift – sprachliche Anpassungen vorgenommen sowie den Anmerkungsapparat angelegt. 1  Exemplarisch vgl. Klaus Schreiner, Kriege im Namen Gottes, Jesu und Maria. Heilige Abwehrkämpfe gegen die Türken im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hrsg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung. Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, München 2008, 151–192, oder Franz Brendle/Anton Schindling, Religionskriege in der Frühen Neuzeit. Begriff, Wahrnehmung, Wirkmächtigkeit, in: Dies. (Hrsg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, 2. Aufl., Münster 2010, 15–52. 2  Zuletzt Jiˇri Just, Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1485, in: Joachim Bahlcke/Stefan Rohdewald/Thomas Wünsch (Hrsg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013, 838–850; vgl. zum größeren Zusammenhang aus jüngerer Zeit etwa Winfried Eberhard, Das Problem der Toleranz und die Entwicklung der hussitisch-katholischen Koexistenz im 15. Jahrhundert, in: Franz Machilek (Hrsg.), Die hussitische Revolution. Religiöse, politische und regionale Aspekte, Köln/Weimar/Wien 2012, 93–108.

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vin das neue Phänomen der Kirchenspaltung, die über die bisherigen Schismen als Obödienzstreitigkeiten hinausging.3 Durch das Wormser Edikt Kaiser Karls V. und die Forderung an die Reichsstände 1521, dieses umzusetzen,4 verband sich die Glaubensfrage mit der Ständepolitik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Die beiden Speyerer Reichstage 1526 und 1529 zeigten, dass der Gehorsam der Reichsstände gegenüber dem Kaiser nur noch schwer durchzusetzen war.5 In der Schweiz kam es unterdessen zu religiösen Konflikten zwischen den Kantonen.6 Die Träger von Herrschaft, die Kurfürsten und Fürsten und die Reichsstadtmagistrate im Reich sowie die Kantonsobrigkeiten in der Schweiz, markierten ihre beanspruchte Zuständigkeit für Glaubensfragen und formierten sich mit Gleichgesinnten als ständische Parteiungen. Die kirchenrechtlich zuständigen Erzbischöfe und Bischöfe blieben hierbei zunächst noch unbeachtet. Damit profilierten sich die weltlichen Herrschaftsträger als die eigentlichen Akteure, auch wenn es um geistliche Agenden ging. Dies war auch eine Säkularisierung der Staatsgewalt, durch welche die mittelalterliche Herrschaftsordnung und theologische Herrschaftsbegründung in gleicher Weise gewissermaßen revolu­tioniert wurde.7 3  Zusammenfassend vgl. jetzt Martin Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“, Tübingen 2016. 4  Grundlegend noch immer vgl. Rainer Wohlfeil, Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, in: Fritz Reuter (Hrsg.), Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, 2. Aufl., Köln/Wien 1981, 59–155. 5  Armin Kohnle, Die Religionsfrage auf den Reichstagen von 1526 und 1529, in: Pfälzisches Pfarrerblatt 94 (2004), 71–81. Zur Entwicklung der Reformation im Reich in den ersten Jahrzehnten nach dem Wormser Edikt zwischen 1521 und 1546 vgl. etwa profiliert Walter Ziegler, Überlegungen zur Entscheidung der deutschen Länder für oder gegen Luther, in: Walter Brandmüller/Herbert Immenkötter/Erwin Iserloh (Hrsg.), Ecclesia Militans. Studien zur Konzilien- und Reformationsgeschichte. Remigius Bäumer zum 70. Geburtstag gewidmet, Paderborn 1988, 161–177 [wiederabgedruckt in: Ders., Die Entscheidung deutscher Länder für oder gegen Luther. Studien zu Reformation und Konfessionalisierung im 16. und 17. Jahrhundert. Gesammelte Aufsätze, Münster 2008, 61–77], oder Eike Wolgast, Die Einführung der Reformation in den deutschen Territorien zwischen 1525/1526 und 1568, in: Joachim Bauer/Stefan Michel (Hrsg.), Der „Unterricht der Visitatoren“ und die Durchsetzung der Reformation in Kursachsen, Leipzig 2017, 11–33. 6  Neuerdings zur Reformation in der Eidgenossenschaft vgl. Amy Nelson Burnett/Emidio Campi (Hrsg.), A Companion to the Swiss Reformation, Leiden/Boston 2016. 7  In diesem Sinne der klassische Aufsatz von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Sergius Buve (Hrsg.), Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65.  Geburts-



Konfessionspolitik und Religionsfrieden

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Es war konsequent, dass der Reichstag und nicht eine kirchliche Synode zum Forum der Diskussion über den richtigen Glauben wurde.8 Kaiser Karl V. forderte die Anhänger Luthers auf, unter Führung des Kurfürsten von Sachsen ihren Glauben schriftlich darzulegen, was 1530 in dem Augsburger Bekenntnis geschah.9 Der Kaiser wies die Confessio Augustana zwar zurück, aber die Tatsache ihrer Verlesung vor Kaiser und Reichsständen erhob sie in den verfahrensrechtlichen Rang eines Reichstagsdokuments, auf das in allen nachfolgenden Verhandlungen Bezug genommen werden konnte. Philipp Melanchthons spätere Ergänzung und Erläuterung der von ihm ursprünglich verfassten Confessio Augustana, die sogenannte Confessio Augustana Variata von 1540,10 erlangte diesen offiziellen Rang nicht. Die Unveränderte Augsburgische Konfession von 1530 blieb der Bezug der Religionspolitik im Heiligen Römischen Reich. Sie wurde von den evangelischen Reichsständen als Maßstab ihres Handelns angesehen, von den Gegnern oder Unentschiedenen aber abgelehnt oder zumindest nicht angenommen und entsprechend auch im Territo­ rium nicht verkündet. Die weltlichen Obrigkeiten übernahmen überall die Führung, die geistlichen Obrigkeiten nur dort, wo die geistlichen tag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, 75–94 [wiederabgedruckt in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976 (2. Aufl., Frankfurt am Main 2016), 41–64; nochmals in: Ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt 1991 (2. Aufl., Frankfurt am Main 1992; ND Frankfurt am Main 2006), 92–114]. 8  Grundlegend vgl. Armin Kohnle, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, Gütersloh 2001; in weiterer Perspektive Eike Wolgast, Die Religionsfrage auf den Reichstagen 1521 bis 1550/51, in: Winfried Becker (Hrsg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung, Neustadt an der Aisch 2003, 9–28 [wiederabgedruckt in: Ders., Aufsätze zur Reformations- und Reichsgeschichte, Tübingen 2016, 49–72], und Rolf Decot, Die Reformationsfrage auf den Reichstagen der Reformationszeit, in: Dirk Syndram/Yvonne Wirth/Doreen Zerbe (Hrsg.) Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation. Aufsatzband, Dresden 2015, 315–329. 9  Grundlegend vgl. noch immer die Sammelbände von Erwin Iserloh (Hrsg.), Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit der Kirche, Münster 1981, und Herbert Immenkötter/Gunther Wenz (Hrsg.), Im Schatten der Confessio Augustana. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichstages 1530 im historischen Kontext, Münster 1997. 10  Die Entstehung der Confessio Augustana Variata muss vor dem Hintergrund der Religionsgespräche als Gesprächsangebot Philipp Melanchthons verstanden werden, vgl. Athina Lexutt, Rechtfertigung im Gespräch. Das Rechtfertigungs­ verständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41, 112 ff.; zudem noch immer Wilhelm Maurer, Confessio Augustana Variata, in: Archiv für Reformationsgeschichte 53 (1962), 97–151.

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Amtsträger auch Inhaber der weltlichen Herrschaft, der Landeshoheit (ius territoriale), waren. Die Glaubensfrage, mithin die Ausübung des ­Reformationsrechtes (ius reformandi), wurde so faktisch zum Merkmal der Landeshoheit und ihrer Ausübung.11 Die Bildung von ständischen Bündnissen auf Glaubensgrundlage  – zunächst von Altgläubigen und dann auch der Evangelischen – stabilisierte diese Verbindung von reichischer Ständepolitik und Bekenntnis. Einen ersten Höhepunkt dieser Entwicklung stellte der Schmalkaldische Bund von 1531 unter der politischen und militärischen Führung des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen und des Landgrafen Philipp von Hessen dar.12 Die Reichspolitik in der Frage des Glaubens wurde zu einem zentralen Thema der Ständepolitik. Der Kaiser und seine altgläubigen Anhänger – darunter vor allem die geistlichen Fürsten, aber auch die strikt katholischen Herzöge von Bayern – verhandelten mit den Schmalkaldenern über die Durchführung des Wormser Edikts und über die Reichskammergerichtsprozesse, die von Altgläubigen gegen reformatorische Reichsstände wegen der säkularisierten Kirchen- und Klostergüter angestrengt wurden.13 Der Nürnberger Anstand von 1532 und der Frankfurter Stillstand von 1539 markierten Stationen des Suchens nach einem regulierten und befriedeten Miteinander der alt- und neugläubigen Stände im Rahmen der Reichsverfassung und des von dieser garantierten Landfriedens.14 11  Grundlegend vgl. Bernd Christian Schneider, Ius Reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, Tübingen 2001. 12  Grundlegend vgl. Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530– 1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, LeinfeldenEchterdingen 2002. 13  Gabriele Haug-Moritz, Religionsprozesse am Reichskammergericht. Zum Wandel des reichspolitischen Konfliktpotentials der Kammergerichtsjudikatur im Reich der Reformationszeit (1530–1541), in: Anette Baumann/Joachim Kemper (Hrsg.), Speyer als Hauptstadt des Reiches. Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin/Boston 2016, 23–34, vgl. auch Martin Heckel, Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 77 (1991), 283–350 [wiederabgedruckt in: Ders., Gesammelte Schriften. Staat – Kirche – Recht – Geschichte, Bd. 3, hrsg. von Klaus Schlaich, Tübingen 1997, 382–440]. Zur Einordnung vgl. Eike Wolgast, Die Einführung der Reformation und das Schicksal der Klöster im Reich und in Europa, 2. Aufl., Gütersloh 2015, 18 ff., besonders 129 ff. 14  Eike Wolgast, Konfessionelle Friedstände auf den Reichstagen Karls V., in: Irene Dingel/Johannes Paulmann/Matthias Schnettger/Martin Wrede (Hrsg.), Theatrum Belli  – Theatrum Pacis. Festschrift für Heinz Duchhardt für seinen ­ 75.  Geburtstag, Göttingen 2018, 61–72; vgl. auch Helmut Neuhaus, Der Passauer Vertrag und die Entwicklung des Reichsreligionsrechts. Vom Nürnberger Anstand



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Das Entgegenkommen des altgläubigen Kaisers gegenüber den Protestanten war vor allem erforderlich wegen der Auseinandersetzung der Habsburger mit dem Osmanischen Reich. Eine Bewilligung von Türkenhilfen zur Verteidigung der Reichsgrenze in Ungarn und Kroatien machten die Evangelischen von Zusagen der Katholiken, etwa über den Stillstand der Reichskammergerichtsprozesse, abhängig.15 Durch die Unterbrechung der Reichsgerichtsprozesse wurde die Neuverwendung der Kirchen- und Klostergüter im Verlauf der reformatorischen Neuorganisation, etwa durch die Fundierung von Schulen, möglich. Offiziell wurde dies als eine Säkularisation ad pias causas gerechtfertigt.16 Allerdings wurden im Rahmen des Schmalkaldischen Bundes auch kirchliche Grundstücke und Einkünfte für militärische Zwecke, etwa den Festungsbau, umfunktioniert. Ob dies piae causae wären, blieb natürlich theologisch nicht konsensfähig. Die ‚Stillstände‘ der 1530er Jahre führten denn auch zu keiner dauerhaften Regelung, die ohne Vorbehalte akzeptiert worden wäre. Der Kaiser hielt vor allem an der militärischen Option fest. Er hoffte, die Reformationsfrage militärisch lösen zu können. Der Schmalkaldische Krieg 1546/47 war sein lange angestrebter Religionskrieg, durfte allerdings nicht als solcher erscheinen. Die Fiktion eines säkularen Kriegs zur Wahrung des Reichslandfriedens und zur Bestrafung von Landfriedensbechern wurde durch Dissimulation strikt aufrecht gehalten.17 Die Landzum Augsburger Religionsfrieden, in: Heinrich de Wall/Michael Germann (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2003, 751–765. 15  Ähnliche Praktiken wurden auch nach dem Augsburger Religionsfrieden angewendet, vgl. grundlegend Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978. 16  Exemplarisch vgl. Harm Klueting, Enteignung oder Umwidmung? Zum Problem der Säkularisation im 16. Jahrhundert, in: Irene Crusius (Hrsg.), Zur Säkularisation geistlicher Institutionen im 16. und im 18./19. Jahrhundert, Göttingen 1996, 57–83, vgl. jetzt auch Christopher Ocker, Church Robbers and Reformers in Germany 1525–1547. Confiscation and religious Purpose in the Holy Roman Empire, Leiden 2006. 17  Im Schmalkaldischen Krieg wurde seitens beider Konfliktparteien dissimuliert, was den eigentlichen Kriegsgrund betraf, vgl. etwa Franz Brendle, Der Religionskrieg und seine Dissimulation. Die „Verteidigung des wahren Glaubens“ im Reich des konfessionellen Zeitalters, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Paderborn/ München/Wien/Zürich 2009, 457–469, und Sascha Weber, Konfession als Nichtargument. Zur Dissimulation von Religionsmotiven in Konfessionskriegen, in: Horst Carl/Rainer Babel/Christoph Kampmann (Hrsg.), Sicherheitsprobleme im 16. und 17. Jahrhundert. Bedrohungen, Konzepte, Ambivalenzen/Problèmes de Sécurité aux XVIe et XVIIe Siècles. Menaces, Concepts, Ambivalences, Baden-Baden 2019, 285–299. Zur Begrifflichkeit vgl. Albrecht Pius Luttenberger, Reichspolitik und

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friedensbrüche des altgläubigen Herzog Heinrichs des Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel und die der Schmalkaldener, insbesondere Kursachsens und Hessens, boten den jeweiligen Parteien einen willkommenen Vorwand. Die Religion war niemals ein offiziell erklärter Kriegsgrund. Damit war auch die Teilnahme eines evangelischen Fürsten, des albertinischen Herzogs Moritz von Sachsen, als Verbündeter des Kaisers möglich, da es ja vorgeblich allein um die Wahrung des Reichslandfriedens ging.18 Der Schmalkaldische Krieg endete zwar mit einem Triumph des Kaisers und seinem Versuch einer Lösung des Religionsstreits durch das Interim und die kaiserliche Kirchenreform der Formula Reformationis.19 Aber der Fürstenaufstand von 1552 machte alles wieder zunichte.20 Moritz von Sachsen  – nunmehr Kurfürst anstelle seines abgesetzten ernestinischen Vetters  – wechselte die Seite und trat jetzt als Retter des Protestantismus vor dem kaiserlichen Interim auf.21 Mit französischer Hilfe wurden die Grenzen der Macht des Kaisers im Reich aufgezeigt. Die konfessionell unentschiedenen Reichsstände  – darunter Kurpfalz und Kurbrandenburg22 sowie bemerkenswerterweise die meisten der geistlichen Fürsten23  – warteten die weitere Entwicklung ab, ohne sich Reichstag unter Karl V. Formen zentralen politischen Handelns, in: Heinrich Lutz/ Alfred Kohler (Hrsg.), Aus der Arbeit an den Reichstagen unter Kaiser Karl V., Göttingen 1986, 18–68, hier 50. 18  Exemplarisch vgl. Johannes Herrmann, Moritz von Sachsen. Evangelischer Christ und Judas zugleich, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92 (2001), 87– 118. 19  Grundlegend vgl. Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, Gütersloh 2005. 20  Grundlegend vgl. Martina Fuchs/Robert Rebitsch (Hrsg.), Kaiser und Kurfürst. Aspekte des Fürstenaufstandes 1552, Münster 2010. 21  Exemplarisch vgl. Gabriele Haug-Moritz, Judas und Gotteskrieger. Kurfürst Moritz, die Krise im Reich der Reformationszeit und die „neuen“ Medien, in: Karlheinz Blaschke (Hrsg.), Moritz von Sachsen. Ein Fürst der Reformationszeit zwischen Territorium und Reich, Leipzig 2007, 235–259. 22  Grundlegend noch immer vgl. Albrecht Pius Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik 1530–1552 (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg), Göttingen 1982. 23  Zur vergleichenden Darstellung des Verlaufs der Reformation in den geist­ lichen Territorien vgl. grundlegend Eike Wolgast, Hochstift und Reformation. Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648, Stuttgart 1995, 83 ff.; jetzt umfassend Norbert Haag, Die geistlichen Fürstentümer des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zwischen Dynastisierung und Konfessionalisierung. Ein Überblick (ca. 1450–1650), Münster 2018, 365 ff.; materialreich, aber mit konfessionalistischen Ausfällen Georg May, Die deutschen Bischöfe angesichts der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts, Wien 1983; vgl. darüber hinaus Anton Schindling, Reichskirche und Reformation. Zu Glaubensspaltung und Konfessionalisierung in den geistlichen Fürstentümern des Reiches, in: Johannes Ku-



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festzulegen. Jetzt trat auch der jüngere Bruder des Kaisers, König Ferdinand I., Deutscher König sowie König von Ungarn und Böhmen, hervor und zog die Initiative zunehmend an sich.24 Im Passauer Vertrag von 1552 zwischen ihm und dem aufständischen Moritz von Sachsen wurden die Grundlinien eines politischen Kompromisses für das Heilige Römische Reich festgelegt.25 Dieser Religionsfrieden wurde drei Jahre später auf dem Augsburger Reichstag als Grundgesetz des Reiches im Rahmen der Erneuerung des Reichslandfriedens beschlossen.26 Der Kaiser war enttäuscht und unwillig, billigte aber von den Niederlanden aus die Beschlüsse, die jetzt vor allem das Werk seines jüngeren Bruders, König Ferdinands I., waren.27 Als erlaubte Bekenntnisse im Reich wurden der ‚alte Glaube‘ der Papsttreuen und das Unveränderte Augsburgische Bekenntnis von 1530 festgelegt. Sie stellten fortan eine klare Alternative dar. Eine freie Entscheidung für sich und ihre Untertanen zwischen den beiden Bekenntnissen konnten die weltlichen erblichen Kurfürsten und Fürsten, Grafen und Herren treffen. Dies wurde später mit der juristischen Formel cuius regio eius religio beschrieben.28 Für die geistlichen Fürsten galt diese Entscheidungsfreiheit nur persönlich. Sie mussten jedoch bei einer Entscheinisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1987, 81–112, und Walter Ziegler, Die Hochstifte des Reiches im konfessionellen Zeit­ alter 1520–1618, in: Römische Quartalsschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 87 (1992), 252–281 [wiederabgedruckt in: Ders., Die Entscheidung (Anm. 5), 79–113]. 24  Exemplarisch vgl. Rosemarie Aulinger/Ursula Machoczek/Silvia SchweizerBurian, Ferdinand I. und die Reichstage unter Kaiser Karl V. (1521–1555), in: Martina Fuchs/Alfred Kohler (Hrsg.), Kaiser Ferdinand I. Aspekte eines Herrscherlebens, Münster 2003, 87–122. 25  Grundlegend vgl. Becker, Der Passauer Vertrag (Anm. 8). 26  Grundlegend vgl. Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, 2. Aufl., Münster 2006, dazu die Tagungsbände von Carl A. Hoffmann/Markus Johanns/ Annette Kranz/Christof Trepesch/Oliver Zeidler (Hrsg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Begleitband zur Ausstellung, Regensburg 2005, Wolfgang Wüst/Georg Kreuzer/Nicola Schümann (Hrsg.), Der Augsburger Religionsfriede 1555. Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung, Augsburg 2005, Gerhard Graf/Günther Wartenberg/Christian Winter (Hrsg.), Der Augsburger Religionsfrieden. Seine Rezeption in den Territorien des Reiches, Leipzig 2006, 119–130, und Heinz Schilling/Heribert Smolinsky (Hrsg.), Der Augsburger Religionsfrieden. Wissenschaftliches Symposion aus Anlaß des 450. Jahrestages des Friedensschlusses, Augsburg 21. bis 25. September 2005, Gütersloh 2007. 27  Exemplarisch vgl. Franz Brendle, Die habsburgischen Kaiser und der Augsburger Religionsfrieden, in: Schilling/Smolinsky, Der Augsburger Religionsfrieden (Anm. 26), 25–42. 28  Die berühmte Formel stammt vom Greifswalder Rechtsprofessor Joachim Stephani (1599), vgl. Eike Wolgast, „Cuius regio, eius religio“ als Modell zur Fixie-

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dung für den neuen Glauben zurücktreten, ihr Territorium sollte bei der alten Kirche, also katholisch, bleiben. So war es im Geistlichen Vorbehalt (Reservatum ecclesiasticum) geregelt.29 König Ferdinand sicherte allerdings den Landständen in den geistlichen Territorien, mithin dem landsässigen Adel und den landständischen Städten, in der separaten Declaratio Ferdinandea die Freiheit des Übertritts zum Protestantismus zu.30 Von den katholischen Reichsständen und damit der Reichstagsmehrheit wurde die Declaratio Ferdinandea, welches das Reformationsrecht der katholischen geistlichen Reichsfürsten erheblich eingeschränkt hatte, freilich nicht anerkannt, weil die Regelung weder dem Reichsabschied inseriert, noch dem Reichskammergericht mitgeteilt wurde. In den Freien Reichsstädten sollte Bekenntnisfreiheit herrschen, was aber faktisch am politischen Willen der sich wie Landesfürsten verhaltenden Reichsstadtmagistrate scheiterte.31 Die Mehrzahl der freien Reichsstädte wurde offiziell monokonfessionell lutherisch und setzte auch im Innern das Unveränderte Augsburger Bekenntnis durch. Entscheidungsfreiheit über die Wahl der Konfession galt für die Reichsritterschaft in ihren eigenen Territorien.32 Die Glaubensfrage nicht den Theologen zu überlassen, sondern durch ein bündisches politisches Übereinkommen der weltlichen Obrigkeiten zu entscheiden, war der Weg der Schweizer Eidgenossenschaft. Der Zweite Kappeler Landfrieden von 1531 war der erste Religionsfrieden zwischen Katholiken und Protestanten von Dauer, der – freilich mit Modifikationen – das politische System der Schweiz bis ins 18. Jahrhundert bestimmte.33 Jedem Ort wurde fortan erlaubt, die Konfession des eigenen rung von Grenzen, in: Friedrich Schweitzer (Hrsg.), Kommunikation über Grenzen, Gütersloh 2009, 90–103. 29  Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden (Anm. 26), 143 ff. 30  Ebd., 155 f., zudem Schneider, Ius reformandi (Anm. 11), 258 ff. 31  Zusammenfassend vgl. Carl A. Hoffmann, Die Reichsstädte und der Augsburger Religionsfrieden, in: Schilling/Smolinsky, Der Augsburger Religionsfrieden (Anm. 26), 297–320. 32  Zusammenfassend vgl. Richard J. Ninness, Im konfessionellen Niemandsland. Neue Forschungsansätze zur Geschichte der Reichsritterschaft zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg. Das Vermächtnis von Volker Press, in: Historisches Jahrbuch 134 (2014), 142–164, ähnlich bereits Ders., Volker Press’ „Adel, Reich und Reformation“ aus der Sicht des 21. Jahrhunderts und neue Perspektiven für die Erforschung der Reichsritterschaft, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 64 (2013), 109–126. 33  Zuletzt vgl. André Holenstein, Konfessionalismus und die Sicherheit von Föderationen in der Frühen Neuzeit. Beobachtungen zur Eidgenossenschaft, in: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemann (Hrsg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm  – Praxis  – Repräsentationen, Köln/Weimar/Wien 2013, 191–205, hier 191 ff.



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Territoriums selbst zu bestimmen, wenngleich in den gemeinen Herrschaften der Katholizismus klar begünstigt wurde. Hier wurde auch erstmals das Auswanderungsrecht mit Vermögensgarantie für diejenigen festgelegt, die mit der verpflichtenden obrigkeitlichen Glaubensentscheidung nicht einverstanden waren. Die Kappeler Regelungen wiesen auf den Augsburger Religionsfrieden im Reich 1555 voraus. Aber aus standespolitischen Vorbehalten berief sich der hocharistokratisch dominierte Reichstag nicht auf die von den Reichsständen gering geschätzte Eidgenossenschaft. Durch die Reichsgerichte und die Einbettung des Reli­ gionsfriedens in die Landfriedensordnung mit ihren Exekutionsmöglichkeiten war das Heilige Römische Reich als Träger und Garant des Friedens auch theoretisch wirkungsvoller als die Eidgenossenschaft. Als größter Schwachpunkt der Augsburger Regelung erwies sich schnell das Reservatum ecclesiasticum für die geistlichen Fürsten. Waren noch 1555 fast alle von diesen zumindest formal katholisch, so änderte sich dies schon bald. Schon kurz darauf wurden die meisten geistlichen Fürstentümer in Mitteldeutschland und Norddeutschland schleichend oder offen dem Protestantismus zugeführt.34 Der Konfessionsstand der geistlichen Fürstentümer und deren Freistellung35 sollten dann ein Hauptproblem der Reichspolitik von 1555 bis 1618 und während des Dreißigjährigen Krieges bis zum Westfälischen Frieden bleiben. Ein zweites ungelöstes und ernstes Problem war die Stellung der Refor­ mierten, der sogenannten Calvinisten oder Helvetischen Konfessionsver­ wandten.36 Diese, wie etwa die Kurpfalz ab 156337 oder Nassau-Dillen­ 34  Wolgast, Hochstift und Reformation (Anm. 23), 255 ff., zudem Manfred Weitlauff, Augsburger Religionsfrieden, Geistlicher Vorbehalt und die Folgen für die Reichskirche, in: Wüst/Kreuzer/Schümann, Der Augsburger Religionsfriede (Anm. 26), 59–85, Franz Brendle/Anton Schindling, Der Augsburger Religionsfrieden und die Germania Sacra, in: Hoffmann/Johanns/Kranz/Trepesch/Zeidler, Als Frieden möglich war (wie Anm. 26), 104–118, Inge Mager, Norddeutsche geistliche Territorien und das Reservatum ecclesiasticum des Augsburger Religionsfriedens, in: Graf/Wartenberg/Winter, Der Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 26), 119– 130, Eike Wolgast, Kurpfalz, geistliche Fürstentümer, in: Schilling/Smolinsky, Der Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 26), 213–238, demnächst auch Matthias Asche, Im Spannungsfeld von dynastischer Politik, drohender Säkularisation und persönlichem Regiment. Evangelische Bischöfe der „Germania Sacra“ im Konfessionellen Zeitalter, in: Peter Walter/Wolfgang Weiß/Markus Wriedt (Hrsg.), Ideal und Praxis. Bischof und Bischofsamt im Heiligen Römischen Reich 1570–1620, Münster 2020, 303–326. 35  Grundlegend noch immer vgl. Gudrun Westphal, Der Kampf um die Freistellung auf den Reichstagen zwischen 1556 und 1576, Diss., Marburg 1975. 36  Exemplarisch vgl. Irene Dingel, Augsburger Religionsfrieden und „Augsburger Konfessionsverwandte“. Konfessionelle Lesarten, in: Schilling/Smolinsky, Der Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 26), 157–176, zuletzt noch Matthias Poh-

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burg,38 beriefen sich zwar auf Melanchthons Confessio Augustana Variata von 1540, aber sie blieben formal außerhalb des Reichsrechts und erhielten erst im Westfälischen Frieden 1648 eine juristisch förmliche Anerkennung. Aus der Sicht des habsburgischen Kaisers, aber auch vieler orthodoxer Lutheraner, etwa in Sachsen und Thüringen, waren die Calvinisten gefährlich für den Frieden im Reich. Die gewährte Religionsfreiheit sollte nur für die Anhänger des Unveränderten Augsburger Bekenntnisses von 1530 gelten. Die Idee einer gemeinprotestantischen Solidarität gegenüber dem Katholizismus war nicht mehrheitsfähig. 37

Der Augsburger Religionsfrieden sanktionierte alle faktischen Besitzverhältnisse an bisher geistlichem Eigentum, die zum Zeitpunkt des Passauer Vertrags 1552 bestanden.39 Damit waren die Veränderungen der Reformation in den evangelischen Kernterritorien wie Sachsen und Hessen sowie in den meisten Freien Reichsstädten gesichert. Späte Reformationen nach 1555 waren in weltlichen Erbfürstentümern und – sofern das Bekenntnis lutherisch war – relativ problemlos, so etwa in der Kurpfalz (Pfalzgraf Ottheinrich)40, in Baden-Durlach (Markgraf Karl II.) 155641

lig, Wahrheit als Lüge? Oder: Schloß der Augsburger Religionsfrieden den Calvinismus aus?, in: Andreas Pietsch/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013, 142–169. Eine knappe Übersicht über die Verbreitung des reformierten Bekenntnisses in den Reichsterritorien bietet Eike Wolgast, Reformierte Territorien und Dynastien im Alten Reich, in: Ansgar Reiss/Sabine Witt (Hrsg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Ausstellungskatalog, Dresden 2009, 204–212. 37  Zuletzt vgl. etwa Anton Schindling, Die reformierten Kurfürsten aus der ­Linie Pfalz-Simmern und das Heilige Römische Reich (1559 bis 1685), in: Wilhelm Kreutz/Wilhelm Kühlmann/Hermann Wiegand (Hrsg.), Die Wittelsbacher und die Kurpfalz in der Neuzeit. Zwischen Reformation und Revolution, Regensburg 2013, 13–43, oder Eike Wolgast, Konfessionswechsel und Kirchenpolitik der Pfälzer Kurfürsten im 16. und 17. Jahrhundert, in: Alfried Wieczorek/Bernd Schneidmüller/Alexander Schubert/Stefan Weinfurter/Eike Wolgast (Hrsg.), Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa. Begleitband zur Ausstellung, Bd. 2, Regensburg 2013, 31–39. 38  Zuletzt vgl. etwa Sabine Arend, Im konfessionellen Netzwerk. Die Grafschaft Nassau-Dillenburg im 16. Jahrhundert, in: Nassauische Annalen 128 (2017), 75– 96. 39  Exemplarisch vgl. Anton Schindling, Der Passauer Vertrag und die Kirchengüterfrage, in: Becker, Der Passauer Vertrag (Anm. 8), 105–123. 40  Zuletzt vgl. Michael Roth, Ottheinrich von Pfalz-Neuburg (1502–1559), in: Susan Richter/Armin Kohnle (Hrsg.), Herrschaft und Glaubenswechsel, Heidelberg 2016, 114–127. 41  Zuletzt vgl. Udo Wennemuth, Karl II. von Baden (1529–1577), in: Richter/ Kohnle, Herrschaft und Glaubenswechsel (Anm. 40), 300–314.



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und in Braunschweig-Wolfenbüttel 1568 (Herzog Julius).42 Schwierigkeiten hatten jedoch protestantische Bistums-Administratoren in geist­ lichen Fürstentümern,43 beispielsweise die neugläubigen Inhaber des Erzbistums Magdeburg seit 1552 bzw. 1566, die zu dem langwierigen ­ Magdeburger Sessionsstreit44 im Reich Anlass gaben und das Reichskammergericht lähmten. Katholische Angehörige des Hauses Bayern, die in Kurköln seit 1583 sowie in den Bistümern Hildesheim (schon seit 1573), Lüttich, Münster, Osnabrück und Paderborn zu Fürsten gewählt wurden,45 konnten dort den Katholizismus als Landesbekenntnis durchsetzen sowie zuweilen katholische Restpositionen in Hildesheim46 und Osnabrück47 wie Domherrenstellen, Stifte und Klöster sichern. In manchen Reichsstädten, so in Augsburg und einigen kleineren schwäbischen Reichsstädten,48 sowie bei den Reichsrittern und den Ritterorden, dem Deutschen Orden und dem Johanniterorden, bildeten sich lokal gemischt42  Zuletzt vgl. Arnd Reitemeier, Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg (Wolfenbüttel). Herrscher und Herrschaft, in: Uwe Ohaniski/Arnd Reitemeier (Hrsg.), Das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel im Jahr 1574. Der Atlas des Gottfried Mascop, Bielefeld 2012, 43–63. 43  Hierzu vgl. die Literaturhinweise in Anm. 34. 44  Grundlegend vgl. Josef Leeb, Der Magdeburger Sessionsstreit von 1582. Voraussetzungen, Problematik und Konsequenzen für Reichstag und Reichskammergericht, Wetzlar 2000. 45  Grundlegend noch immer vgl. Günther von Lojewski, Bayerns Weg nach Köln. Geschichte der bayerischen Bistumspolitik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Bonn 1962. 46  Einen Überblick bietet Hans-Georg Aschoff, Die katholische Klosterlandschaft im Fürstbistum Hildesheim während der Frühen Neuzeit, in: Hansjörg Küster/Joachim Wolschke-Bulmahn (Hrsg.), Zu den Qualitäten klösterlicher Kulturlandschaften. Geschichte, Kultur, Umwelt und Spiritualität, München 2014, 13– 33; vgl. auch Ders., Das Hildesheimer Domkapitel. Grundlinien seiner Entwicklung von 815 bis in die Frühe Neuzeit, in: Ulrich Knapp (Red.) „Ego sum Hildensemensis.“ Bischof, Domkapitel und Dom in Hildesheim 815 bis 1810. Ausstellungskatalog, Petersberg 2000, 31–42. 47  Zuletzt vgl. Renate Oldermann, Der Prozeß der Konfessionalisierung, seine Folgen für das Stift Börstel sowie weitere Klöster und Stifte im Osnabrücker Land, in: Susanne Tauss/Ulrich Winzer (Hrsg.), Miteinander leben? Reformation und Konfession im Bistum Osnabrück 1500 bis 1700, Münster 2017, 227–242; vgl. auch William C. Schrader, Der Sieg des Reform-Katholizismus im Osnabrücker Domkapitel 1585–1623, in: Osnabrücker Mitteilungen 102 (1997), 65–76. 48  Gemeint sind die vier beziehungsweise sechs bikonfessionellen, paritätisch verfassten Reichsstädte Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl, nach deren Vorbild Kaufbeuren und Leutkirch, vgl. noch immer Paul Warmbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und ­Dinkelsbühl von 1548–1648, Wiesbaden 1983; zu Kaufbeuren jetzt Stefan Dieter, Gegeneinander  – nebeneinander  – miteinander. Katholiken und Protestanten in

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konfessionelle Verhältnisse heraus.49 Die protestantische Seite tat dabei meistens gut daran, sich auf das Unveränderte Augsburger Bekenntnis zu beziehen. Reformiert wurden die Freie Reichsstadt Bremen,50 Ritter des Deutschen Ordens in Hessen51 und die Niederlande.52 Umkämpft war der Übergang der Kurpfalz seit 1563 unter dem Haus Pfalz-Simmern zum reformierten Bekenntnis.53 Dies wurde im Kreis der evangelischen Reichsstände nur widerwillig respektiert, so dass deren einheitliches Handeln im Reich und auf dem Reichstag, etwa in der Frage der Freistellung, also der Aufhebung des Geistlichen Vorbehalts, nicht zustande kam. Eine vergleichsweise freie Entwicklung der drei Konfessionen – Katholizismus, Luthertum und Reformiertentum – ließen die Herzöge von Jülich-Kleve-Berg in ihren niederrheinischen und westfälischen Territorien (Herzogtümer Berg, Jülich und ­Kleve, Grafschaften Mark und Ravensberg) zu.54 Die Erben und Nachfolger der klevischen Herzöge nach deren Aussterben 1609, die Kurfürsten von Brandenburg und die Kaufbeuren zwischen 1555 und 1649, in: Stefan Fischer (Hrsg.), Reformation und Politik, Thalhofen 2014, 34–82. 49  Einen Überblick bieten Dieter J. Weiß, Der Deutsche Orden, in: Friedhelm Jürgensmeier/Regina Elisabeth Schwerdtfeger (Hrsg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500–1700, Bd. 1, Münster 2005, 125–140 [mit der instruktiven Karte, 126–129], und Walter G. Rödel, Der Johanniterorden, in: ebd., 141–159 [Karte, 142–145]. 50  Zuletzt vgl. Ortwin Rudloff, Lutherische Reformation und reformierte Konfessionalisierung in Bremen 1522–1648, in: Konrad Elmshäuser (Hrsg.), Bremische Kirchengeschichte von der Reformation bis zum 18. Jahrhundert, Bremen 2017, 19–303. 51  Grundlegend vgl. Bernhard Demel, Von der katholischen zur trikonfessionellen Ordensprovinz. Entwicklungslinien in der Personalstruktur der hessischen Deutschordensballei in den Jahren 1526–1680/81, in: Udo Arnold/Heinz Liebing (Hrsg.), Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche. Festschrift zur 700jährigen Wiederkehr der Weihe der Elisabethkirche Marburg 1983, Marburg 1983, 186– 281. 52  Zuletzt vgl. Johannes A. Mol, Trying to survive. The Military Orders in Utrecht 1580–1620, in: Ders./Klaus Militzer/Helen J. Nicholson (Hrsg.), The Military Orders and the Reformation. Choices, State Building, and the Weight of Tradition, Hilversum 2006, 181–209. 53  Hierzu vgl. die Literaturhinweise in Anm. 37, dazu Frieder Hepp, Friedrich III. von der Pfalz (1515–1576), in: Richter/Kohnle, Herrschaft und Glaubenswechsel (wie Anm. 40), 336–351. 54  Zuletzt vgl. Antje Flüchter, Religionspolitik in Jülich-Kleve-Berg unter Wilhelm V., in: Guido von Büren/Ralf-Peter Fuchs/Georg Mölich (Hrsg.), Herrscher, Hof und Humanismus. Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg und seine Zeit, Bielefeld 2018, 263–285, und Ralf-Peter Fuchs, Bekenntnis und Ambiguität. Überlegungen zur religiösen Positionierung am Hof und in den Territorien Herzog Wilhelms  V. seit den 1550er Jahren, in: ebd., 287–305.



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Pfalzgrafen von Neuburg, mussten diese mehrkonfessionelle Struktur nach 1609/14 auf der Grundlage der Erbverträge weiterführen.55 Dies korrespondierte im Falle der Hohenzollern mit der bikonfessionellen Struktur, welche für die Mark Brandenburg (und das Herzogtum Preußen) maßgebend war, wo nach der Konversion des Kurfürsten Johann Sigismund zum reformierten Bekenntnis 1613 eine reformierte Landesherrschaft und eine orthodox lutherische Landeskirche koexistierten, die durch Ständeverträge abgesichert wurden.56 Der Konfessionsstreit bewirkte mancherorts vergiftete Situationen an der Basis, die zu politischen Interventionen einluden, wie etwa im Fall der Reichsstädte Aachen 159857 und Donauwörth 1607.58 Dennoch gelang es, bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges durch den ­Konflikt um die böhmische Verfassungsfrage 161859 alle Konflikte durch Mittel des Reichsrechts wenigstens notdürftig auszubalancieren. Kaiser Matthias und sein Berater Kardinal Melchior Khlesl60 setzten sich für eine deeskalierende Kompositionspolitik zwischen den sich immer mehr entfremdenden Konfessionsparteien ein. Die konfessionellen Bündnisse von 1608/09  – die evangelische Union unter der Führung der Kurpfalz und die katholische Liga unter Führung Bayerns  – waren nicht nur der erklärten Absicht nach ständische Defensionseinungen zur Sicherung 55  Zuletzt vgl. Jörg Engelbrecht, Die konfessionelle Problematik im jülich-klevischen Erbfolgestreit, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 60 (2011), 93–102; dazu Hans-Wolfgang Bergerhausen, Der JülichKlevische Erbfolgestreit. Diplomatische Verhandlungen und Verträge, in: Manfred Groten/Clemens von Looz-Corswarem/Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Der JülichKlevische Erbstreit 1609. Seine Voraussetzungen und Folgen, Düsseldorf 2011, 55– 68. 56  Zuletzt vgl. Eike Wolgast, Der Übertritt des Kurfürsten Johann Sigismund zum Calvinismus im Jahre 1613 und seine innenpolitischen Folgen, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 70 (2015), 69–96. 57  Neuerdings zu den sogenannten Aachener Wirren vgl. Thomas Kirchner, Katholiken, Lutheraner und Reformierte in Aachen 1555–1618. Konfessionskulturen im Zusammenspiel, Tübingen 2015, 174 ff. 58  Zuletzt vgl. Thomas J. Hagen, Machtpoker im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges. Der Fall Donauwörth und die reichsrechtlich umstrittene Exekution durch Herzog Maximilian von Bayern, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 111 (2018), 167–185. 59  Zuletzt vgl. Jan Kilián, Religiös-politische Unruhen in Böhmen und der (dritte) Prager Fenstersturz, in: Robert Rebitsch (Hrsg.), 1618. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges, Köln 2017, 149–167. 60  Bernd Rill, Kaiser Matthias. Bruderzwist und Glaubenskampf, Graz/Wien/ Köln 1999, 214 ff.; vgl. zudem noch immer Johann Rainer, Kardinal Melchior Klesl (1552–1630). Vom „Generalreformator“ zum „Ausgleichspolitiker“, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 59 (1964), 14–35.

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der Reichsverfassung und des Landfriedens.61 Hier eine aggressive Absicht zu unterstellen, die in den Dreißigjährigen Krieg als Religionskrieg geführt hätte, verzeichnet die Realitäten zugunsten einer teleologischen anachronistischen Deutung ex post. Der Religionsfrieden von Augsburg musste sechzig Jahre später zwar vielfach als brüchig, unterhöhlt und gefährdet gelten, sollte aber nicht als gescheitert stigmatisiert werden.62 Das Reichsrecht, vor allem in der Lehre der protestantischen Universitäten, und seine Wertschätzung des Reichstags boten zumindest einen intellektuellen politischen Halt.63 Die Standeskultur des Späthumanismus, die an den Höfen vorherrschte, wirkte ähnlich verbindend und versöhnlich.64 In der Habsburgermonarchie, in Böhmen und in den österreichischen Erblanden, begünstigten die Landstände den Protestantismus, während die habsburgische Landesherrschaft die Position der Altgläubigen im Prälatenstand und den Städten zu stabilisieren strebte. Die mächtigen adeligen Landstände, insbesondere der Herrenstand, versuchten, für sich eine Art Landeshoheit mit Religionsfestlegungsrecht ähnlich wie die Reichsstände im Heiligen Römischen Reich zu behaupten. Kaiser Maximilan II. ließ dies ein Stück weit gewähren, ohne allerdings das Prinzip der habsburgischen Landeshoheit beschädigen zu lassen. Unter ihm kam es mit der Leitung der Landstände zu einer Art evangelischer Landeskir61  Union und Liga waren angesichts der Funktionsunfähigkeit der Reichsverfassung vielmehr die einzigen handlungsmöglichen Institutionen im Reich, vgl. Axel Gotthard, Protestantische „Union“ und katholische „Liga“. Subsidiäre Strukturelemente oder Alternativentwürfe?, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hrsg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit?, München 1995, 81–112; vgl. jetzt den Sammelband von Albrecht Ernst/Anton Schindling (Hrsg.), Union und Liga 1608/09. Konfessionelle Bündnisse im Reich. Weichenstellung zum Religionskrieg?, Stuttgart 2010. 62  Exemplarisch vgl. etwa Anton Schindling, 450 Jahre Pax Augustana. Bikonfessionalität und Parität im Alten Reich, in: Andreas Schmauder (Hrsg.), Hahn und Kreuz. 450 Jahre Parität in Ravensburg, Konstanz 2005, 9–24; vgl. Albrecht Pius Luttenberger, Kurfürsten, Kaiser und Reich. Politische Führung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II., Mainz 1994. 63  Grundlegend vgl. Michael Stolleis, Reichspatriotismus und Reichspublizistik vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Patriotismus, Hamburg 1991, 7–24 [wiederabgedruckt in: Günter Birtsch/Meinhard Schröder (Hrsg.), Patriotismus, Trier 1993, 21–28]; jetzt noch Ders., Reformation und Verrecht­ lichung am Beispiel der Reichspublizistik, in: Christoph Strohm (Hrsg.), Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, Tübingen 2017, 53–72. 64  Exemplarisch Gerrit Walther, Humanismus und Konfession, in: Notker Hammerstein/Gerrit Walther (Hrsg.), Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000, 113–127.



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chen mit eigenen Kirchenordnungen und eigenen evangelischen Lan­ desschulen,65 auch in Böhmen führte er einen grundsätzlich kompromissbereiten Kurs gegenüber den Lutheranern, Neuutraquisten und Calvinisten.66 Diese Entwicklung scheiterte allerdings letztlich an der harten Gegenreformation Ferdinands II., des dezidiert katholischen Neffen des irenischen Maximilian II., zunächst in Innerösterreich,67 dann vor allem nach dem Sieg des Kaisers und des Herzogs Maximilian von Bayern über die böhmischen Rebellen in der Schlacht am Weißen Berg 1620.68 Mit Kaiser Matthias war 1619 denn auch der letzte Vertreter eines gemäßigten habsburgischen Kurses verstorben. Während des Dreißigjährigen Krieges wurden alle Territorien des Hauses Habsburg zumindest oberflächlich durch Mandate des nunmehrigen Landesherrn Ferdinand  II. ­rekatholisiert. Nachteile durch Bevölkerungsverluste infolge von Glaubensflüchtlingen aus Österreich und Böhmen wurden dabei in Kauf genommen.69 Bei allen Wirrnissen und Umbrüchen des Dreißigjährigen Krieges wurde das Reichs-System niemals im Kern in Frage gestellt: weder durch die rabiate kaiserliche Offensive der Gegenreformation in Böhmen70 und des 65  Einen neueren Überblick bietet Rudolf Leeb, Der Streit um den wahren Glauben. Reformation und Gegenreformation in Österreich, in: Ders./Maximilian Liebmann/Georg Scheibelreiter/Peter G. Tropper (Hrsg.), Geschichte des Christentums in Österreich, Wien 2003, 145–279; zudem noch immer grundlegend Gernot Heiß, Konfession, Politik und Erziehung. Die Landschaftsschulen in den nieder- und innerösterreichischen Ländern vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Grete Klingenstein/Heinrich Lutz/Gerald Stourzh (Hrsg.), Bildung, Politik und Gesellschaft. Studien zur Geschichte des europäischen Bildungswesens vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Wien/München 1978, 13–63. 66  Zuletzt vgl. Zden˘ek V. David, Utraquists, Lutherans and the Bohemian Confession of 1575, in: Church History 68 (1999), 294–336. 67  Zuletzt vgl. Rudolf Leeb, Staatsgewalt und Seelenheil. Die „Gegenreforma­ tion“ in Innerösterreich als Modellfall, in: Friedrich Schweitzer (Hrsg.), Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, 490–509. 68  Grundlegend jetzt Howard Louthan, Converting Bohemia. Force and Persuasion in the catholic Reformation, Cambridge 2009. 69  Zuletzt vgl. Wulf Wäntig, Grenzerfahrungen. Böhmische Exulanten im 17. Jahrhundert, Konstanz 2001, und Hans Krawarik, Exul Austriacus. Konfessionelle Migrationen aus Österreich in der Frühen Neuzeit, Wien/Berlin/Münster 2010, 121 ff. Zum Bevölkerungsrückgang in Böhmen während des Dreißigjährigen Krieges und danach vgl. Alfred Bohmann, Die Bevölkerungszahlen Böhmens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostforschung 10 (1961), 127–139. 70  Eine Übersicht bietet Winfried Eberhard, Entwicklungsphasen und Probleme der Gegenreformation und katholischen Erneuerung in Böhmen, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 84 (1989), 235–257; vgl. auch Franz Machilek, Böhmen, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessio-

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Restitutionsedikts im Reich 162971 noch durch die anti-hierarchische protestantische Fürstenopposition um Hessen-Kassel72 und die ernestinischen Herzöge73 in der letzten Kriegsphase, weder von außen durch Spanien und Schweden, noch durch die Machtpolitiker der Staatsräson aus Paris. Nur partiell kann der Dreißigjährige Krieg als ein ‚Religionskrieg‘ charakterisiert werden.74 Modische Begriffe wie konfessioneller Fundamentalismus oder gar Gottesstaat sind jedenfalls fehl am Platz.75 Deshalb war als kleinster gemeinsamer Nenner zur Lösung der deutschen Probleme stets die Rückkehr zur Reichsverfassung, ihren Institutionen und Verfahren letztlich politisch naheliegend. Ein solcher konservativrestaurativer Ansatz entsprach auch zutiefst dem ständischen politischen Denken und der überwölbenden Absicht, die traditionelle Ständeordnung zu bewahren und nicht zu beschädigen. Wallenstein scheiterte hieran.76 nalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 1, 2. Aufl., Münster 1992, 134– 152; zudem Olivier Chaline, Frontieres religieuses. La Boheme après la Montagne Blanche, in: Eszter Andor/István György Tóth (Hrsg.), In Frontiers of Faith. Religious Exchange and the Constitution of religious Identities, Budapest 2001, 55–65 [wiederabgedruckt in englischer Übersetzung unter dem Titel: Religious Frontiers in the Bohemian Lands after the White Mountain, in: Heinz Schilling/István Györ­gy Tóth (Hrsg.), Religious and cultural Exchange in Europe 1400–1700, Cambridge 2006, 49–63]. 71  Grundlegend vgl. Michael Frisch, Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, Tübingen 1993, zudem Martin Heckel, Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6.  März 1629. Eine verlorene Alternative der Reichskirchenverfassung, in: Gerhard Köbler/Hermann Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur, Festschrift für Karl Kroeschell zum 70.  Geburtstag, München 1997, 351–376 [wiederveröffentlicht in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Tübingen 2004, 185–207]. 72  Zuletzt vgl. Kerstin Weiand, Hessen-Kassel und die Reichsverfassung. Ziele und Prioritäten landgräflicher Politik im Dreißigjährigen Krieg, Marburg 2009. 73  Zuletzt vgl. Astrid Ackermann, Vom Feldherrn zum regierenden Fürsten? Optionen im Reich und in Europa für Herzog Bernhard von Weimar und die Ernestiner, in: Michael Rohrschneider/Anuschka Tischer (Hrsg.), Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts, Münster 2018, 207–227. 74  Dies war er in erster Linie aus der Sicht der Zeitgenossen, vgl. etwa Matthias Pohlig, Konfessionskulturelle Deutungsmuster internationaler Konflikte um 1600. Kreuzzug, Antichrist, Tausendjähriges Reich, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), 278–316. 75  Pointiert dazu Anton Schindling, Humanismus oder Konfessionsfundamentalismus in Straßburg? Fürstbistum und freie Reichsstadt, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600, München 2007, 149–165. 76  Grundlegend noch immer vgl. Christoph Kampmann, Reichsrebellion und kaiserliche Acht. Politische Strafjustiz im Dreißigjährigen Krieg und das Verfahren gegen Wallenstein 1634, Münster 1993.



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Der Prager Frieden von 1635 zwischen Kaiser Ferdinand II. und Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen zeigte dann die Richtung eines möglichen begehbaren Auswegs.77 Der Westfälische Frieden von 1648 bildete das Ergebnis von einhundert Jahren Ringen um ein Nebeneinander der Konfessionen im politischen System des Reiches.78 Er war auch ein Erfolg des gelehrten Reichsstaatsrechts.79 Grundsätzlich galt weiterhin der Augsburger Religionsfrieden, der im Einzelnen fortentwickelt wurde. Die konkurrierenden und vielfach verworrenen und widersprüchlichen kirchlichen Rechte wurden durch das Normaljahr 1624 gelöst.80 Diese rein formale juristische Lösung unter Vermeidung der Beantwortung der konfessionellen Wahrheitsfrage ordnete jetzt die kirchlichen Besitzstände in den Territorien und Reichsstädten strikt nach dem bloßen Ist-Zustand des Normaltags 1.  Januar 1624. Für die jülich-klevischen Lande,81 die welfischen Territorien in Niedersachsen82 und die Kurpfalz83 galten Regelungen, die sich auf andere, aber zeitnahe Stichjahre bezogen. Die Reformierten wurden jetzt reichsrechtlich anerkannt und den Lutheranern gleich gestellt.84 Beide zusammen bildeten das Corpus Evangelicorum der protes77  Michael Kaiser, Der Prager Frieden von 1635. Anmerkung zu einer Aktenedition, in: Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001), 277–297; vgl. auch Katrin Bauer, Von Pirna nach Prag. Die Entstehungsgeschichte des Prager Friedens von 1635, Saarbrücken 2011. 78  Grundlegend noch immer vgl. Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 7. Aufl., Münster 1998; zur Bewertung vgl. exemplarisch Anton Schindling, Der Westfälische Frieden und das Nebeneinander der Konfessionen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Konrad Ackermann/Alois Schmid/Wilhelm Volkert (Hrsg.), Bayern. Vom Stamm zum Staat. Festschrift für Andreas Kraus zum 80. Geburtstag, Bd. 1, München 2002, 409–432. 79  Hierzu vgl. die Literaturhinweise in Anm. 63; dazu Rudolf Hoke, Die reichsständische Reichspublizistik und ihre Bedeutung für den Westfälischen Frieden, in: Rechtstheorie. Zeitschrift für Logik und juristische Methodenlehre, allgemeine Rechts- und Staatslehre, Kommunikations- Normen- und Handlungstheorie, Soziologie und Philosophie des Rechts 29 (1998), 141–152, und Dieter Wyduckel, Reichsverfassung und Reichspublizistik vor den institutionellen Herausforderungen des Westfälischen Friedens, in: Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hrsg.), 1648 – Krieg und Friede in Europa, Textbd. 1, Münster 1998, 77–84. 80  Grundlegend vgl. Ralf-Peter Fuchs, Ein „Medium“ zum Frieden. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, München 2010. 81  Ebd., 317 ff., zudem Ders., 1609, 1612 oder 1624? Der Normaljahrskrieg von 1651 in der Grafschaft Mark und die Rolle des Reichshofrates, in: Westfälische Forschungen 59 (2009), 297–311. 82  Fuchs, Ein „Medium“ (Anm. 80), 291 ff. 83  Ebd., 195 f. 84  Exemplarisch vgl. Anton Schindling, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als trikonfessionelles politisches System, in: Robert Bartczak/Adam

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tantischen Reichsstände, das bei allen die Religion betreffenden Reichstagsentscheidungen zusammentreten musste.85 Für Besitzansprüche galt zwischen Lutheranern und Reformierten das Normaljahr 1648. Durch die verfahrensmäßig festgeschriebene amicabilis compositio86 der beiden konfessionellen Beratungsgremien – des Corpus Catholicorum unter dem Direktorium von Kurmainz und des Corpus Evangelicorum unter demjenigen von Kursachsen  – wurde der konsequent paritätische Charakter der Reichsverfassung verankert.87 Der Reichstag als zentrale Institution zusammen mit den redintegrierten zehn Reichskreisen und den beiden obersten Reichsgerichten garantierten die Verrechtlichung des Systems. Lokale Muster für die befriedende Wirkung der Parität gaben die alternative Sukzession von katholischen und lutherischen Fürstbischöfen im Fürstbistum Osnabrück88 und die konfessionell doppelte Besetzung aller reichsstädtischen Ämter in Augsburg, Biberach, Dinkelsbühl und Ravensburg sowie nach deren Vorbild in Kaufbeuren und Leutkirch.89 Der Rest einer nicht säkularisierten evangelischen ReichskirPerłakowski/Anton Schindling (Hrsg.), Die Reiche Mitteleuropas in der Neuzeit. Integration und Herrschaft. Liber memorialis Jan Piro˙zy´nski, Kraków 2009, 47– 67. 85  Grundlegend noch immer vgl. Ulrich Belstler, Die Stellung des Corpus evangelicorum in der Reichsverfassung, Tübingen 1968. 86  Exemplarisch vgl. Georg Schmidt, „Aushandeln“ oder „Anordnen“. Der komplementäre Reichs-Staat und seine Gesetze im 16. Jahrhundert, in: Maximi­ lian Lanzinner/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Der Reichstag 1486–1613. Kommunika­ tion  – Wahrnehmung  – Öffentlichkeiten, Göttingen 2006, 95–116; dazu Klaus Schlaich, Maioritas – protestatio – itio in partes – corpus Evangelicorum. Das Verfahren im Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nach der Reformation, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 94 (1977), 264–299; 95 (1978), 139–179. 87  Exemplarisch vgl. Gabriele Haug-Moritz, Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 445–482. 88  Grundlegend vgl. Marc Alexander Steinert, Die Alternative Sukzession im Hochstift Osnabrück. Bischofswechsel und Herrschaftsrecht des Hauses Braunschweig-Lüneburg in Osnabrück 1648–1802, Osnabrück 2003. 89  Zur Übersicht vgl. Anton Schindling, 350 Jahre Westfälischer Friede. Toleranz und konfessionelle Parität im Südwesten des Alten Reiches, in: Arbeitsgemeinschaft für Geschichtliche Landeskunde am Oberrhein. Protokoll über die ­Arbeitssitzung 370 (1998), 1–23. An neueren Einzeldarstellungen zu den paritä­ tischen Reichsstädten sind zu nennen zu Augsburg: Etienne François, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806, Sigmaringen 1991; zu Ravensburg: Schmauder, Hahn und Kreuz (wie Anm. 62), zuletzt noch Ders., Das paritätische Ravensburg als Sonderfall in der Geschichte, in: Ders./ Jan-Friedrich Mißfelder (Hrsg.), Kaftan, Kreuz und Kopftuch. Religiöse Koexistenz im urbanen Raum (15.–20. Jahrhundert), Ostfildern 2010, 225–239; zu Din-



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che90 mit halb Osnabrück, dem Fürstbistum Lübeck,91 den Damenstiften Gandersheim,92 Herford93 und Quedlinburg94 sowie einigen Balleien der Ritterorden95 unterstrich die konfessionelle Offenheit des Reiches. Doppelbesetzung und Verfahrensparität sowie Gleichbehandlung von Katholiken und Protestanten wurden zu Grundelementen des öffentlichen Lebens in Deutschland. Das Emigrationsrecht von 1555 – zuweilen als erstes Grundrecht der Deutschen bezeichnet  – wurde im Westfälischen Frieden noch einmal bestätigt.96 Der Augsburger Religionsfrieden ebenso wie der Westfälische Frieden befestigten die Zweiteilung und Wechselseitigkeit des politischen Lebens im Reich, in den Territorien und Städten und bildeten zentrale Wegmarken in der Geschichte des Föderalismus in kelsbühl: Andreas Gößner, Dinkelsbühl. Eine bikonfessionelle Reichsstadt, oder: von den Schwierigkeiten der Ökumene in der Vormoderne, in: Ders./Wolfgang Huber (Hrsg.), Ansbach, Dinkelsbühl, Feuchtwangen, Rothenburg ob der Tauber, Leipzig 2016 (Orte der Reformation, 24), 28–33; zu Kaufbeuren: Stefan Dieter, Die bikonfessionelle Stadt (1648–ca. 1750), in: Fischer, Kaufbeuren (wie Anm. 48), 151–191; zu Biberach: Andrea Riotte, Diese so oft beseufzte Parität. Biberach 1649–1825. Politik – Konfession – Alltag, Stuttgart 2017. 90  Zusammenfassend vgl. Friedhelm Jürgensmeier, Bikonfessionalität in geist­ lichen Territorien. Verhältnisse um 1648 mit besonderer Berücksichtigung des Hochstifts Osnabrück, in: Klaus Garber/Jutta Held/Friedhelm Jürgensmeier/ Friedhelm Krüger/Ute Szell (Hrsg.), Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur, München 2001, 261–285. 91  Einen Überblick bietet Dieter Lohmeier, Die Fürstbischöfe von Lübeck aus dem Hause Gottorf, in: Carsten Porskrog Rasmussen (Hrsg.), Die Fürsten des Landes. Herzöge und Grafen von Schleswig, Holstein und Lauenburg, Neumünster 2008, 186–207. 92  Zuletzt vgl. Michael Scholz, „… und maket dat keyserfreie stifft unfrei.“ Das Reichsstift Gandersheim im Jahrhundert der Reformation, in: Martin Hoernes/ Hedwig Röckelein (Hrsg.), Gandersheim und Essen. Vergleichende Untersuchungen zu sächsischen Frauenstiften, Essen 2006, 173–190. 93  Zuletzt vgl. Helge Bei der Wieden, Die konfessionellen Verhältnisse in der Reichsabtei Herford, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 102 (2004), 267–279. 94  Zuletzt vgl. Peter Kasper, Das Reichsstift Quedlinburg (936–1810). Konzept – Zeitbezug – Systemwechsel, Göttingen 2014, 108 ff. 95  Hierzu vgl. die Literaturhinweise in Anm. 49. 96  Matthias Asche, Auswanderungsrecht und Migration aus Glaubensgründen. Kenntnisstand und Forschungsperspektiven zur „ius emigrandi“-Regelung des Augsburger Religionsfriedens, in: Schilling/Smolinsky, Der Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 26), 75–104; dazu Georg May, Die Entstehung der hauptsächlichen Bestimmungen über das ius emigrandi (Art. V §§ 30–43 IPO) auf dem Westfälischen Frieden, in: Historische Zeitschrift 105 (1988), 436–494; zusammenfassend jetzt auch Christophe Duhamelle, Le jus emigrandi dans le Saint-Empire (XVIIe– XVIIIe siècles). La minorité en régime de parité, in: Isabelle Poutrin/Alain Tallon (Hrsg.), Les Expulsions de minorités religieuses dans l’Europe des XIIIe–XVIIe siècles, Pompignac 2015, 129–151.

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Mitteleuropa. Gerade in diesem Punkt hatte das Heilige Römische Reich eine lange und wirkungsvolle Nachgeschichte.97 Dies gilt im Übrigen auch für die konfessionelle Verteilung der Bevölkerung bis in die Gegenwart.98 Unter den Ländern der Habsburgermonarchie hatte Schlesien eine besondere Stellung, weil es ein Nebenland der Krone Böhmen war.99 Hier konnte die Konfessionsfeststellung des Landesherrn zugunsten der katholischen Kirche nur in den (Teil-)Fürstentümern durchgesetzt werden, die direkt im Besitz des Hauses Habsburg waren, sowie im Fürstentum des Bischofs von Breslau (poln. Wrocław). Die Piasten-Fürsten in mehreren Erbfürstentümern waren Protestanten, zum Schluss sogar reformiert, und praktizierten eine protestantische Religionspolitik, ebenso die Stadt Breslau. Das Aussterben des letzten Piasten-Herzogs im Jahre 1675 – Georg Wilhelm I. von Liegnitz-Brieg-Wohlau-Ohlau – erlaubte Kaiser Leopold I. jedoch, das Recht des Königs von Böhmen als Landesherrn zu fordern und die Rekatholisierung zu erzwingen.100 Die Bedrückung der Protestanten in den habsburgischen Erbfürstentümern in Schlesien war schon auf dem Westfälischen Friedenskongress ein Thema gewesen. Schweden setzte für die Protestanten unter habsburgischer Landesherrschaft in Niederschlesien drei Mittelpunktkirchen in Glogau (poln. 97  Exemplarisch vgl. Dieter Langewiesche, Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: Ders./Georg Schmidt (Hrsg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, 215–242. 98  Exemplarisch vgl. Anton Schindling, Wie entstand die deutsche Konfessionskarte der Jahre 1555 bis 1945? Die Territorien des Reichs und der baltischen Lande im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Zur Reihe „Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung (KLK)“ der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum (CC), in: Sebastian Holzbrecher/Torsten W. Müller (Hrsg.), Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten. Per­ spektiven und Beiträge der (mittel-)deutschen Kirchengeschichtsschreibung. Festschrift für Josef Pilvousek, Würzburg 2013, 285–298. 99  Einen Überblick bietet Franz Machilek, Schlesien, in: Schindling/Ziegler, Die Territorien des Reichs (wie Anm. 70), Bd. 2, 3. Aufl., Münster 1993, 102–138; vgl. zuletzt noch auch Christine van Eickels, Rechtliche Grundlagen des Zusammenlebens von Protestanten und Katholiken in Ober- und Niederschlesien vom Augsburger Religionsfrieden (1555) bis zur Altranstädter Konvention (1707), in: Thomas Wünsch (Hrsg.), Reformation und Gegenreformation in Oberschlesien. Die Auswirkungen auf Politik, Kunst und Kultur im ostmitteleuropäischen Kontext, Berlin 1994, 47–68. 100  Zuletzt vgl. Jörg Deventer, Konfrontation statt Frieden. Die Rekatholisierungspolitik der Habsburger in Schlesien im 17. Jahrhundert, in: Klaus Garber (Hrsg.), Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2005, 265– 284.



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´´ Głogów), Jauer (poln. Jawor) und Schweidnitz (poln. Swidnica) durch.101 Diese sogenannten Friedenskirchen für jeweils mehrere Tausend Gottesdienstteilnehmer mussten zwar in Holz und ohne Türme vor den Mauern der drei Städte erbaut werden. Aber die in kürzester Zeit errichteten Gebäude wurden zu Zentren des evangelischen Lebens unter der katholischen Landesherrschaft. Schlesien war faktisch ein bikonfessionelles Land mit etwa jeweils der Hälfte der Bevölkerung in den beiden Konfessionen. Dank des Schutzes der Krone Schweden102 stieß hier die habsburgische Gegenreformation auf Grenzen durch das internationale Recht des Westfälischen Friedens. Schweden war auch für den gesamten Frieden ebenso wie Frankreich Garantiemacht, so dass die Bestimmungen des Religionsfriedens in das ius publicum Europaeum inseriert waren. Eine höhere Instanz war nicht denkbar und hob den Westfälischen Frieden über andere Religionsfriedensschlüsse in Europa hinaus. Im Heiligen Römischen Reich blieb der Religionsfrieden an die Anerkennung zweier, seit 1648 dreier konfessioneller Partner gebunden, ebenso in der Eidgenossenschaft, wo die Katholiken und die Anhänger des reformierten Bekenntnisses einander gegenüber standen.103 Weitergehende Regelungen waren anderswo möglich, so in der Republik der Vereinigten Niederlande, wo die Obrigkeiten der sieben nordniederländischen Provinzen in der Utrechter Union nach 1581 der öffentlichen reformierten Kirche angehörten, aber praktisch in der privaten Glaubenspraxis eine Mehrzahl von Dissidenten – einschließlich Katholiken und Täufer – toleriert wurden.104 Dies war bildlich gesprochen ein konfessioneller Pluralismus in den Hinterhäusern.105 101  Zuletzt vgl. Peter Maser, Die Bedeutung der schlesischen Friedenskirchen im Zusammenhang europäischer Toleranzgeschichte, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 88/89 (2009/10), 287–296; dazu Reiner Sörries, Von Kaisers Gnaden. Protestantische Kirchenbauten im Habsburger Reich, Köln/Weimar/ Wien 2008, 26 ff. 102  Vgl. zuletzt die Sammelbände von Hans-Wolfgang Bergerhausen (Hrsg.), Die Altranstädter Konvention von 1707. Beiträge zu ihrer Entstehungsgeschichte und zu ihrer Bedeutung für die konfessionelle Entwicklung in Schlesien, Freiburg 2009, und Jürgen Rainer Wolf (Hrsg.), 1707–2007. Altranstädter Konvention. Ein Meilenstein religiöser Toleranz in Europa, Halle 2008; dazu Frank Metasch (Red.), 300 Jahre Altranstädter Konvention, 300 Jahre Schlesische Toleranz/300 lat ugody Altransztadzkiej, 300 lat s´ l˛askiej tolerancji. Begleitpublikation zur Ausstellung, Dresden 2007. 103  Grundlegend noch immer vgl. Ferdinand Elsener, Das Majoritätsprinzip in konfessionellen Angelegenheiten und die Religionsverträge der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 55 (1969), 238–281. 104  Exemplarisch aus jüngerer Zeit vgl. etwa Benjamin J. Kaplan, „Dutch“ religious Tolerance. Celebration and Revision, in: Ronnie Po-chia Hsia/Henk F. K. van

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Überaus tolerant waren dagegen die religionsrechtlichen pluralen ­Verhältnisse im Fürstentum Siebenbürgen, wo im Jahre 1568 auf dem Landtag von Thorenburg (rumän. Turda) bei Klausenburg (rumän. ClujNapoca) Angehörige von vier Bekenntnissen offiziell anerkannt wurden (­receptae religiones):106 Lutheraner, Calvinisten, Katholiken und sogar Antitrinitarier (Unitarier).107 Das Edikt wurde vom siebenbürgischen Fürsten Johann Sigismund Zápolya – bezeichnenderweise selbst ein Antitrinitarier – erlassen.108 Die nicht auf dem Landtag vertretenen rumänischen Orthodoxen wurden zwar nicht explizit im Edikt genannt, waren jedoch auch stillschweigend ebenso toleriert,109 freilich aber nicht die Juden.110 Auf diese Weise wurde das Fürstentum Siebenbürgen zum ers105

Nierop (Hrsg.), Calvinism and religious Toleration in the Golden Age, Cambridge 2002, 8–26 [wiederabgedruckt in: Ders., Reformation and the Practice of Tolera­ tion. Dutch religious History in the Early Modern Era, Cambridge 2019, 254–278]. 105  Exemplarisch zu den Katholiken vgl. Anton W. F. M. van de Sande, Niederländische Katholiken  – Außenseiter in einer protestantischen Nation? Toleranz und Antipapismus in den Niederlanden im 17. und 18. Jahrhundert, in: Horst Lademacher/Renate Loos/Simon Groenvelt (Hrsg.), Ablehnung  – Duldung  – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, Münster/New York/München/Berlin 2004, 189–201. 106  Zuletzt vgl.  Julia Dücker, Das Religionsedikt von Thorenburg (1568), in: Bahlcke/Rohdewald/Wünsch, Religiöse Erinnerungsorte (wie Anm. 2), 874–882. 107  Zuletzt vgl. den Sammelband von Ulrich Andreas Wien/Juliane Brandt/András F. Balogh (Hrsg.), Radikale Reformation. Die Unitarier in Siebenbürgen, Köln/Weimar/Wien 2013; dazu Mihály Balázs, Gab es eine unitarische Konfessionalisierung im Siebenbürgen des 16. Jahrhunderts?, in: Volker Leppin/Ulrich Andreas Wien (Hrsg.), Konfessionsbildung und Konfessionskultur in Siebenbürgen, Stuttgart 2005, 135–142. 108  Einen Überblick aus jüngerer Zeit bietet etwa Edit Szegedi, Die Religionspolitik der reformierten Fürsten Siebenbürgens, in: Günter Frank (Hrsg.), Humanismus und europäische Identität, Ubstadt-Weiher/Heidelberg/Neustadt an der Weinstraße/Basel 2009, 29–44. Damit wurde freilich die Realität der religiösen Verhältnisse festgeschrieben, vgl. János Karácsonyi, Die konfessionellen Verhältnisse in Siebenbürgen und den angeschlossenen Gebieten (1526–1571), in: Joachim Bahlcke (Hrsg.), Kirche, Staat, Nation. Eine Geschichte der katholischen Kirche Siebenbürgens vom Mittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert, München 2007, 41–52. 109  Zuletzt vgl. Radu Mârza, Die orthodoxe Kirche der Rumänen aus Siebenbürgen. Konfession und Politik im 16. Jahrhundert, in: Leppin/Wien, Konfessionsbildung und Konfessionskultur (wie Anm. 107), 179–190; dazu jetzt Edit Szegedi, Rumänische konfessionelle Identitäten im Fürstentum Siebenbürgen. Freiräume und Grenzen einer städtischen Gesellschaft in der frühen Neuzeit, in: Mihai-D. Grigore/Florian Kührer-Wielach (Hrsg.), Orthodoxa Confessio? Konfessionsbildung, Konfessionalisierung und ihre Folgen in der östlichen Christenheit Europas, Göttingen 2018, 265–292. 110  Einen knappen Überblick aus jüngerer Zeit bietet Ladislau Gyémánt, Die Juden in Siebenbürgen bis zum 18. Jahrhundert, in: Leppin/Wien, Konfessionsbildung und Konfessionskultur (wie Anm. 107), 191–200.



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ten weitgehend toleranten christlichen Staat in Europa,111 was letztlich auch der äußeren Gefahr der Türkenbedrohung geschuldet war.112 Den Gottesdiensten wurde keine Beschränkung auferlegt, auch sollten reli­ giöse Polemiken verboten sein. Nicht ganz so weit ging der Religionsfrieden im Polnisch-Litauischen Reich (Rzeczpospolita), das neben dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation flächenmäßig einen besonders großen Staat des konfes­ sionellen Nebeneinanders in Europa nach der Reformation darstellte.113 Mit dem Consensus Sandomiriensis114 wurde im Jahre 1570 eine gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit zwischen den polnischen Lutheranern, Reformierten und Böhmischen Brüdern beschlossen. Der Beschluss auf einer Synode in der südpolnischen Stadt Sandomierz ist eines der frühesten Beispiele von Ökumene zwischen Protestanten und richtete sich gegen die von der Krone energisch betriebene Gegenreformation  – durchaus in der Tradition der Unionsbemühungen des Reformators ­Johannes a Lasco.115 Die Protestanten aus Preußen königlichen Anteils 111  Grundlegend noch immer vgl. Ludwig Binder, Grundlagen und Formen der Toleranz in Siebenbürgen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Köln/Wien 1976; zuletzt noch Ulrich Andreas Wien, „Rex populorum, non conscientarum.“ Religionsfreiheit in der Pionierregion Siebenbürgen. Grundlagen und Grenzen religiöser Toleranz im 16. Jahrhundert, in: Elisabeth Reil/Rolf Schieder (Hrsg.), Wahrheit suchen – Wirklichkeit annehmen. Festschrift für Hans Mercker zum 60. Geburtstag, Landau 2000, 273–280. 112  Zuletzt vgl. Mihály Balázs, Über den europäischen Kontext der siebenbürgischen Religionsgesetze des 16. Jahrhunderts, in: Günter Frank (Hrsg.), Humanismus und europäische Identität, Ubstadt-Weiher/Heidelberg/Neustadt an der Weinstraße/Basel 2009, 11–27 [leicht verändert wiederabgedruckt unter dem Titel: Tolerant Country – misunderstood Laws. Interpreting sixteenth-Century Transylvanian Legislation concerning Religion, in: Hungarian Historical Review 2 (2013), 85–108]; dazu István Keul, Early Modern religious Communities in East-Central Europe. Ethnic Diversity, denominational Plurality, and corporative Politics in the Principality of Transylvania 1526–1691, Leiden/Boston 2009. 113  Grundlegend noch immer vgl. Janusz Tazbir, Geschichte der polnischen Toleranz, Warszawa 1977; dazu Alfons Brüning, Unio non est unitas. Polen-Litauens Weg im konfessionellen Zeitalter (1569–1648), Wiesbaden 2008. 114  Zuletzt vgl. Darius Petkunas, The Consensus of Sandomierz. An early At­ tempt to create a unified protestant Church in 16th Century Poland and Lithuania, in: Concordia Theological Quarterly 73 (2009), 317–346; neuerdings aus gesamteuropäisch rezeptionsgeschichtlicher Sicht Maciej Ptaszy´nski, Der Konsens von Sendomir in der europäischen Irenik. Oder warum sich ein Berliner Theologe im 18. Jahrhundert für die polnische Reformationsgeschichte interessierte, in: Mona Garloff/Christian Witt (Hrsg.), Confessio im Konflikt. Religiöse Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Ein Studienbuch, Göttingen 2019, 255–278. 115  Exemplarisch aus jüngerer Zeit vgl. Henning P. Jürgens, Johannes a Lasco 1499–1560. Ein Europäer des Reformationszeitalters, 2. Aufl., Wuppertal 2004, 44 ff.

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entsandten keine Delegierte, um damit ihre Unabhängigkeit in Polen in geistlichen Dingen zu betonen. Der Consensus Sandomiriensis wurde zur Grundlage der Konföderation von Warschau (1573).116 Die in Warschau beschlossene Pax Dissidentium markierte die staatsrechtliche Anerkennung und völlige Religionsfreiheit für Protestanten, blieb mithin der maßgebende Religionsfrieden in der Rzeczpospolita bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1795. Auf diese sowie auf die sogenannten Articuli Henriciani des ersten Wahlmonarchen Heinrich von Valois (1572) und die Pacta conventa wurden alle Könige vereidigt.117 Eine solche staatsrechtliche Absicherung der Religionsfreiheit gab es in keinem zweiten europäischen Staat. In Polen-Litauen blieb die Monarchie auf Dauer katholisch, die katholische Kirchenstruktur intakt, der Adel, sowohl die mächtigen Magnaten wie auch die zahlenmäßig überaus starke Szlachta, der Kleinadel, nahmen für sich und ihre Untertanen die Religionsfreiheit im Spektrum der erlaubten Konfessionen in Anspruch. Insgesamt konnte sich die katholische Kirche dabei regenerieren, stärken und erneut ausbreiten, ohne dass es zu einer erzwungenen und gewaltsamen Gegenreformation wie in den habsburgischen Ländern gekommen wäre. Einen prekären Status behielten in der Rzeczpospolita die Antitrinitarier, die sogenannten Polnischen Brüder,118 die wegen ihrer Weigerung, die Trinität anzuerkennen, bereits vom Consensus Sandomiriensis ausgeschlossen waren. Die Polnischen Brüder wurden schließlich 1658 vom Reichstag (Sejm) verboten und mussten das Land verlassen.119 Die meisten von ihnen wurden in Siebenbürgen und in den Niederlanden aufgenommen. Auch im Herzogtum Preußen gab es kleine Gemeinden, etwa im masurischen Andreaswalde (poln. Kosinowo).120 116  Zuletzt vgl. Tomasz Kempa, Die Warschauer Konföderation von 1573, in: Bahlcke/Rohdewald/Wünsch, Religiöse Erinnerungsorte (Anm. 2), 883–896. 117  Zuletzt vgl. Maciej Ptaszy´nski, Die polnischen Wahlkapitulationen des 16. Jahrhunderts und ihr Fortleben im 17. Jahrhundert, in: Heinz Durchhardt (Hrsg.), Wahlkapitulationen in Europa, Göttingen 2015, 59–72. 118  Zuletzt vgl. Maciej Ptaszy´nski, Between Marginalization and Orthodoxy. The Unitas Fratrum in Poland in the sixteenth  Century, in: Journal of Moravian History 14 (2014), 1–29. 119  Zuletzt vgl. Janusz Tazbir, Ursachen der Verbannung der Sozinianer aus Polen, in: Lech Szczucki (Hrsg.), Faustus Socinus and his Heritage, Kraków 2005, 229–242. 120  Eine knappe Übersicht bietet Joachim von Roy, Deus fortitudo mea. Zur Geschichte der polnischen Brüder in Ostpreußen, in: Genealogie. Deutsche Zeitschrift für Familienkunde 45/46 (1996/97), 537–541; zur größeren historischen Einordnung vgl. Hans-Jürgen Bömelburg, Konfession und Migration zwischen Brandenburg-Preußen und Polen-Litauen 1640–1772. Eine Neubewertung, in:



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Einen wichtigen Sonderstatus hatten die ehemaligen evangelischen Hansestädte in Preußen königlichen Anteils und in Livland inne, etwa Danzig (poln. Gda´nsk), Elbing (poln. Elbl˛ag) und Thorn (poln. Toru´n)121 sowie bis zur schwedischen Eroberung 1621 auch Riga (lett. R¯ıga).122 Lediglich im Landgebiet der mächtigen und reichen Stadt Danzig, dem Danziger Werder, fanden die Mennoniten Duldung.123 Zum polnisch-­ litauischen Staat gehörten mit den Herzogtümern Preußen (bis zum Frieden von Oliva [poln. Oliwa] 1660) und Kurland ebenfalls zwei lehnsabhängige lutherische Territorien. In Preußen124 und Kurland125 sicherten

J­ oachim Bahlcke (Hrsg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa, Münster 2008, 119–144, hier 130. 121  Grundlegend noch immer vgl. Michael G. Müller, Zweite Reformation und städtische Autonomie im königlichen Preußen Danzig, Elbing und Thorn während der Konfessionalisierung (1557–1660), Berlin 1997; dazu Maria Bogucka, Religiöse Koexistenz  – Ausdruck von Toleranz oder von politischer Berechnung? Der Fall Danzig im 16. und 17. Jahrhundert, in: Joachim Bahlcke/Karen Lambrecht/Hans Christian Maner (Hrsg.), Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag, Leipzig 2006, 521–532. 122  Zuletzt vgl. Anna Ziemlewska, Riga im polnisch-litauischen Staat (1581– 1621), in: Hansische Geschichtsblätter 125 (2007), 213–221 [= deutsche Zusammenfassung ihrer Studie: Ryga w Rzeczypospolitej polsko-litewskiej (1581–1621), Toru´n 2008]. 123  Zuletzt vgl. Stefan Samerski, „Die Stillen im Lande.“ Mennonitische Glaubensflüchtlinge in Danzig im 16. und 17. Jahrhundert, in: Bahlcke, Glaubensflüchtlinge (wie Anm. 120), 71–94. 124  Zu der durch die Lehnsverträge mit dem polnischen König geschützten katholischen Minderheit im Herzogtum Preußen vgl. noch immer Franz Dittrich, Geschichte des Katholicismus in Altpreußen von 1525 bis zum Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 13 (1901), 1–289, 493–741, hier 57 ff. 125  In der Formula regiminis von 1617 – nach der Wiedereinsetzung des kurländischen Herzogs Friedrich durch den polnischen König  – wurden auf Druck des polnischen Königs Sigismund III. die Katholiken den Lutheranern gleichgestellt, vgl. Erwin Oberländer/Volker Keller (Hrsg.), Kurland. Vom polnisch-litauischen Lehnsherzogtum zur russischen Provinz. Dokumente zur Verfassungsgeschichte 1561–1795, Paderborn/München/Wien/Zürich 2008, 122 ff.; dazu Aleksander Loit, Reformation und Konfessionalisierung in den ländlichen Gebieten der baltischen Lande von ca. 1500 bis zum Ende der schwedischen Herrschaft, in: Mat­thias Asche/Werner Buchholz/Anton Schindling (Hrsg.), Die baltischen Lande im ­Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Livland, Estland, Ösel, Ingermanland, Kurland und Lettgallen. Stadt, Land und Konfession 1500–1721, Bd. 1, Münster 2009, 49–215, hier 127 ff., und Enn Tarvel, Kirche und Bürgerschaft in den baltischen Städten im 16. und 17. Jahrhundert, in: ebd., Bd. 3, Münster 2011, 17–99, hier 69 ff.

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die polnischen Könige als Lehnsherren für die Katholiken gewisse Minderheitenrechte. Im europäischen Vergleich boten Siebenbürgen, Polen-Litauen und das Heilige Römische Reich deutscher Nation die eindrucksvollsten Beispiele für Religionsfriedensschlüsse.126 Gemeinsam war die Bindung an ständische Strukturen und die grundlegende Geltung von ständischen Politikmodellen auch für die Lösung der durch die Glaubensspaltung entstandenen politischen Fragen. Kaum die konfessionalisierte Theologie, auch nicht in ihrem irenischen Seitenzweig, wohl aber das vom Humanismus geformte juristische Staatsdenken wiesen hier den Weg. Zwar hielt die Staatstheorie grundsätzlich an dem Ideal der Monokonfessionalität fest. Aber eine maßvolle Säkularisierung in der Form einer pragmatischen Entkoppelung kirchlicher und staatlicher Normen und einer Anerkennung praktischer, etwa wirtschaftlicher und demographischer, Notwendigkeiten fand Anwendung und führte zum dauerhaften Erfolg.127 Dass die Religionsfreiheit und der Glaube ein Geschenk Gottes sei, wurde mit dem Römerbrief des Apostels Paulus allerdings nur explizit in Siebenbürgen formuliert (Röm 10,17). Man kann hier einen Widerhall des Humanismus eines Erasmus von Rotterdam vermuten.

126  Eine vergleichende Darstellung bei Eike Wolgast, Religionsfrieden als politisches Problem der frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), 59–96 [wiederabgedruckt in: Ders., Aufsätze zur Reformations- und Reichsgeschichte (wie Anm. 8), 146–178]; dazu Michael G. Müller, Toleranz vor der Toleranz. Konfessionelle Kohabitation und Religionsfrieden im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa, in: Yvonne Kleinmann (Hrsg.), Kommunikation durch symbolische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen, Stuttgart 2010, 59–75, und Erich Bryner, Die religiöse Toleranz in Siebenbürgen und Polen-Litauen im Kontext der europäischen Kirchengeschichte, in: Christian Moser/Peter Opitz (Hrsg.), Bewegung und Beharrung. Aspekte des reformierten Protestantismus 1526–1650. Festschrift für Emidio Campi, Leiden/Boston 2011, 361–381. 127  Michael Stolleis, „Konfessionalisierung“ oder „Säkularisierung“ bei der Entstehung des frühmodernen Staates?, in: Ius Commune. Zeitschrift für euro­ päische Rechtsgeschichte 20 (1993), 1–23 [wiederabgedruckt in: Dieter Breuer (Hrsg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 1995, 23–42; nochmals in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 1 (1997), 452–477; nochmals in: Ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, hrsg. v. Stefan Ruppert/ Miloš Vec, Frankfurt am Main 2011, 241–260].

Die Formierung einer lutherischen Konfessionskultur im Kurfürstentum Brandenburg während der Regierungszeit Joachims II. (1535–1571) Von Andreas Stegmann, Berlin I. Die Beschäftigung mit der Geschichte der brandenburgischen Reformation und ihren Wirkungen im 16. Jahrhundert steht seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der quellenmäßig nicht belegbaren und in sich inkonsistenten Deutung der brandenburgischen Reformation als eines kirchenpolitischen und religiösen Mittelwegs, der sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hin zum konfessionellen Luthertum entwickelt habe.1 Diese von Johann Gustav Droysen in seiner – nicht zu Unrecht als „wissenschaftliche Totgeburt“2 charakterisierten – „Geschich­ te der Preußischen Politik“ popularisierte Sichtweise wurde im 19. und 20. Jahrhundert vielfach wiederholt und variiert. Zuletzt hat sie im Jahr 1994 Bodo Nischan entfaltet: Die brandenburgische Reformation sei ursprünglich eine von Kurfürst Joachim II. aus religiösen und politischen Gründen propagierte, zwischen Papstkirche und Reformation changierende „via media“ gewesen, die im Laufe des 16. Jahrhundert vom konkordistischen Luthertum überlagert worden sei, ohne allerdings die diesem Mittelweg inhärierenden Widersprüche – vor allem den Widerspruch zwischen lutherischer Lehre und traditionalistischer Liturgie – zum Ausgleich zu bringen, was schließlich dazu geführt habe, dass angesichts wachsender gegenreformatorischer Bedrohung der radikale Schritt einer ‚zweiten Reformation‘ unvermeidlich gewesen sei.3 1  Andreas Stegmann, Deutung und Bedeutung der brandenburgischen Reformation, in: Reformation in Brandenburg. Verlauf, Akteure, Deutungen, hrsg. v. Frank Göse, Berlin 2017, 63–92, hier: 65–72. 2  Wilfried Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, 295. 3  Bodo Nischan, Prince, People and Confession. The Second Reformation in Brandenburg, Philadelphia 1994. Dieses Buch behandelt schwerpunktmäßig die ‚zweite Reformation‘ unter Kurfürst Johann Sigismund und ist in dieser Hinsicht wegen seines Materialreichtums und seiner eingängigen Darstellungsweise ein Standardwerk. Nischan leitet diese quellengesättigte Darstellung aber mit drei vor allem auf Sekundärliteraturauswertung basierenden Kapiteln zur brandenburgischen Kirchengeschichte des 16. Jahrhunderts ein (a. a. O. 5–80), die nicht nur

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II. Demgegenüber ist zu betonen, dass es sich bei der brandenburgischen Reformation um eine lutherische Reformation gehandelt hat, die seit den 1520er Jahren von einer reformatorischen Bewegung vorbereitet, von Kurfürst Joachim II. und Markgraf Johann von Küstrin 1536/37 bzw. 1539/40 entsprechend dem Wittenberger Vorbild eingeführt, von den 1540er bis zu den 1560er Jahren trotz aller reichs- und religionspolitischen Probleme konsequent umgesetzt wurde und bald schon in einer lutherischen Landeskirche greifbare Gestalt gewann.4 III. Aus der lutherischen Reformation in der Mark Brandenburg ging seit den 1540er Jahren eine lutherische Konfessionskultur hervor. 1. Obwohl das 16. Jahrhundert nicht selten als „Reformationsjahrhundert“ bezeichnet wird und von der Reformation ausgelöste Veränderunan der oberflächlichen Quellen- und Literaturauswertung, sondern vor allem an der Finalisierung auf die ‚zweite Reformation‘ hin kranken: Nischan macht sich unreflektiert die Sichtweise von deren Protagonisten zu eigen und reiht sich damit in die Reihe der borussischen ‚Hofhistoriographen‘ ein, die vom 17. bis zum 20. Jahrhundert darum bemüht waren, das ‚Ausfegen des Schafstalls Christi‘ (Auff sonderbahren Befehl vnd Anordnung. Des Durchlauchtigsten Hochgebornen Fürsten vnd Herrn/Herrn Johannis Sigimunds […] Anderweit gedruckte Glaubens bekentnus der reformirten Evangelischen Kirchen in Deutschland, Frankfurt [Oder] 1614, VD17 3:612927X, fol. A 4v) mittels des Calvinismus als nachvollziehbar, notwendig und legitim zu erweisen, und darum die Geschichte der brandenburgischen Reformation mehr oder minder verzerrt darstellten. 4  Da der Verfasser an anderer Stelle seine Deutung der Kirchenpolitik Joa­ chims II. und der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 entfaltet (Andreas Stegmann, Die Kirchenpolitik des brandenburgischen Kurfürsten Joachim  II., in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 71 (2017), 42–148; Ders., Die brandenburgische Kirchenordnung von 1540, in: Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert, hrsg. v. Enno Bünz, Heinz-Dieter Heimann u. Klaus Neitmann, Berlin 2017, 235–288) und zudem eine für eine breitere Leserschaft bestimmte Überblicksdarstellung vorgelegt hat (Andreas Stegmann, Die Reforma­ tion in der Mark Brandenburg, Leipzig 2017), werden die für die Geschichte der brandenburgischen Reformation und die Formierung einer lutherischen Konfes­ sionskultur zentrale kurfürstliche Kirchenpolitik und die Kirchenordnung als deren Schlüsseldokument im Folgenden nicht breiter berücksichtigt. Die in diesen Veröffent­lichungen reichlich gegebenen Quellen- und Literaturhinweise werden im Folgenden vorausgesetzt. Des weiteren ist auf die vom Verfasser vorgelegte und regelmäßig aktualisierte Bibliographie zur brandenburgischen Reformation, die auch die Kirchengeschichte der zweiten Hälfte des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts berücksichtigt, zu verweisen, die weitere Quellen und Literatur nachweist (Andreas Stegmann, Bibliographie zur Brandenburgischen Reformationsgeschichte, in: Quellen und Literatur zur Reformation in der Mark Brandenburg. Beiträge zur Erforschung der brandenburgischen Reformationsgeschichte, hrsg. v. Karl-Heinrich Lütcke, Berlin 2015, 9–75; www.reformation-mark-brandenburg. de/materialien-zum-download). – Für die kirchliche Entwicklung im Herrschafts-



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gen von Kirche und Welt bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein der Reformation zugerechnet werden, empfiehlt es sich, die Reformation und ihre Folgen terminologisch zu unterscheiden und die Auswirkungen der Reformation als Formierung der Konfessionen zu kennzeichnen – nicht um die „ ‚Reformation‘ und das ‚konfessionelle Zeitalter‘ als zwei historische Epochen voneinander zu scheiden“, was „offenkundig sinnlos“ ist,5 sondern um die Eigenart beider Etappen angemessen würdigen zu können: Die Reformation war der auf einen kurzen Zeitraum beschränkte Anstoß zu den epochalen Veränderungen von Kirche und Welt, die im langgestreckten Prozess der Ausbildung, Verfestigung und Konkurrenz der Konfessionen Gestalt gewannen. 2. Um diesen Prozess angemessen zu beschreiben, bedarf es einer Weitung der Perspektive, wie sie mit dem Stichwort Konfessionskultur verbunden ist. Konfessionskulturen lassen sich allerdings nur in einer breit angelegten und weitläufig erzählenden histoire totale angemessen beschreiben, wie die die Konfessionalisierungsforschung dokumentierenden Sammelbände des Vereins für Reformationsgeschichte6 oder die eingebiet ­Johanns von Küstrin sind die in den letzten Jahren erschienenen Beiträge von Christian Gahlbeck maßgeblich, etwa: Christian Gahlbeck, Die Reformation in der Neumark unter ihrem Herrscher, Markgraf Hans von Küstrin (1535–1571), in: Reformation in Brandenburg (Anm. 1), 201–264. 5  „Denn die Reformation lebte ja in Gestalt der Tradierung und Aktualisierung prägender Vor- und Feindbilder, verbindlicher Texte, autoritativer Symbole und eingeübter Rechtsnormen und ritueller Praktiken im ‚konfessionellen Zeitalter‘ fort“, weshalb, „ ‚Reformation‘ und ‚konfessionelles Zeitalter‘ […] historiographisch als zwei zwar zu unterscheidende, aber untrennbar miteinander verbundene historische Etappen einer Epoche der Frühen Neuzeit behandelt werden“ sollten (Thomas Kaufmann, Lutherische Konfessionskultur in Deutschland  – eine historiographische Standortbestimmung, in: Ders., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006, 3–26, hier: 7). 6  Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der „Zweiten Reformation“, hrsg. v. Heinz Schilling (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte [= SVRG], 195), Gütersloh 1986; Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, hrsg. v. Hans-Christoph Rublack (SVRG, 197), Gütersloh 1992; Die katholische Konfessionalisierung, hrsg. v. Wolfgang Reinhard u. Heinz Schilling (SVRG, 198), Gütersloh 1995; Transkonfessionalität – Interkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, hrsg. v. Kaspar von Greyerz u. a. (SVRG, 201), Heidelberg 2003; Frühneuzeit­ liche Konfessionskulturen, hrsg. v. Thomas Kaufmann, Anselm Schubert u. Kaspar von Greyerz (SVRG, 207), Heidelberg 2008; Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Andreas Pietsch u. Barbara Stollberg-Rilinger (SVRG, 214), Heidelberg 2013. – Zu den zuletzt genannten Bänden, die andere Zugänge erproben und neue Perspektiven entwickeln, ist zu bemerken, dass die kirchengeschichtliche Entwicklung in der Mark Brandenburg im 16. Jahrhundert kaum Material für Phänomene wie binnenkon-

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schlägigen Veröffentlichungen von Ernst Walter Zeeden7, Thomas Kaufmann8, Peter Hersche9 und Andreas Holzem10 zeigen. Weil die Darstellung der Formierung einer lutherischen Konfessionskultur in der Mark Brandenburg viel Raum bräuchte und der Erschließung weiterer Quellen und vorbereitender wissenschaftlicher Forschungen, was beides bislang nicht in ausreichendem Maße geschehen ist, bedürfte, soll im Folgenden nur eine Skizze dieses Prozesses gegeben werden.11 Die Titelformulierung dieser Skizze  – „die Formierung einer lutherischen Konfessionskultur“  – wurde bewusst gewählt: Die frühneuzeitlichen Konfessionskulturen sind in sich vielfältige, in steter Entwicklung und Veränderung begriffene Phänomenkomplexe. Was sich unter Joachim  II. im Kurfürstentum Brandenburg  – und parallel auch im Herrschaftsbereich von Johann von Küstrin, weshalb man auch von der „Formierung einer lutherischen Konfes­ sionskultur in der Mark Brandenburg“ sprechen kann – entwickelte, war eine unter vielen Ausformungen frühneuzeitlichen Luthertums, und es handelt sich nur um die Anfänge fessionelle Pluralität, konfessionelle Hybridität und Ambiguität oder Trans- und Interkonfessionalität bietet, die sich vor allem in kulturell weiter entwickelten und religiös vielfältigeren Regionen Europas finden und oftmals erst im 17. und 18. Jahrhundert greifbar sind. 7  Zeedens breitgefächertes, Religions- und Kulturgeschichte verbindendes Werk ist jetzt erschlossen in: Ernst Walter Zeeden (1916–2011) als Historiker der ­Reformation, Konfessionsbildung und „Deutschen Kultur“. Relektüren eines geschichtswissenschaftlichen Vordenkers, hrsg. v. Markus Gerstmeier u. Anton Schindling (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 76), Münster 2016. 8  Thomas Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft, in: Theologische Literaturzeitung 121 (1996), 1008–1025.1112–1121; Ders., Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675, Gütersloh 1997; Ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, Tübingen 1998; Ders., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006. 9  Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg i. Br. u. a. 2006. 10  Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, 2 Bde., Paderborn 2015. 11  Dabei wird auf ausführliche Quellen- und Literaturangaben verzichtet und nur an einzelnen Punkten exemplarisches Belegmaterial geboten. Drucke des 16. Jahrhunderts werden in der Regel nicht mit vollständigen bibliographischen Angaben angeführt, da diese im „Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts“ (VD16, www.vd16.de) nachgewiesen sind.



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eines sich über anderthalb Jahrhunderte hinziehenden, Land und Leute zutiefst prägenden Prozesses. Dass sich die lutherische Konfessionskultur in der Mark im Laufe dieser Entwicklung verändert hat, dass etwa schon unter den beiden Nachfolgern Joachims II. die Bekenntnisgrundlage durch die Konkordienformel neu definiert, die Frömmigkeitspraxis vorsichtig reformiert oder das landeskirchliche Organisationsgefüge partiell verändert wurde, bedeutete keinen Bruch, sondern war ein folgerichtiges Fortschreiten auf dem eingeschlagenen Weg. 3. Die Formierung der lutherischen Konfessionskultur im Kurfürstentum Brandenburg begann mit dem Erlass der Brandenburgischen Kirchenordnung im Sommer 1540 und deren Umsetzung während der 1540er Jahre. Wichtige Weichenstellungen fallen bereits in die ersten Jahre dieses Jahrzehnts. Die Irrungen und Wirrungen der Reichspolitik führten dann Ende der 1540er und Anfang der 1550er Jahre zu einem Intermezzo, während dessen die in Gang gekommene Veränderungsdynamik etwas abgebremst, niemals aber in andere Geleise gelenkt wurde. Die Klärung der macht- und religionspolitischen Verhältnisse im Reich zwischen 1552 und 1555 schuf die nötige Sicherheit, um die Formierung der lutherischen Konfessionskultur im Kurfürstentum Brandenburg fortzusetzen und während der späten 1550er und frühen 1560er Jahre zu einem ersten Abschluss zu bringen. Kodifiziert findet sich dieser erste Abschluss in den kirchlichen Ordnungen, die Kurfürst Joachim II. 1558 und 1561 zusammenstellen ließ12, sowie in den beiden kirchlichen Ordnungen, die ein Jahrzehnt später Kurfürst Johann Georg am Anfang seiner Regierungszeit erließ13, die auf den Ordnungen Joachims II. basierten und diese fortschrieben. In diesen normativen Texten spiegelt sich die kirchliche Wirklichkeit, wie sie sich von den 1540er bis zu den 1560er Jahren entwickelt hatte, und sie boten bis in das 18. Jahrhundert hinein den rechtlichen Rahmen für das märkische Luthertum mit seiner Konfessionskultur. 4. Die Anfänge einer lutherischen Konfessionskultur im Kurfürstentum Brandenburg lassen sich in allen drei für eine solche Konfes­sions­ kultur charakteristischen Bereichen beobachten: hinsichtlich des für 12  Es handelt sich um die Visitationsordnung für die Dörfer (VD16 B 6919) und um die auf der Visitations- und Konsistorialordnung von 1543 (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem [= GStAPK] I. HA, Rep. 20, Lit. A, Bd. 3, fol. 120–126) mit ihren Erweiterungen von 1551 (GStAPK, I. HA, Rep. 20, Lit. A, Bd. 3, fol. 126–138) sowie auf der Ordnung von 1558 basierenden, für den Druck vorgesehenen, aber unveröffentlicht gebliebenen „Geystliche[n] Policey: ­Visitation: vnd Consistorial Ordnungk“ von 1561 (GStAPK, I. HA, Rep. 47, Nr. 13, Faszikel „Consistorial-Ordnung 1561“). 13  Brandenburgische Kirchenordnung von 1572 (VD16 C 4778); Brandenburgische Visitations- und Konsistorialordnung von 1573 (VD16 B 6924).

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e­ ine Konfessionskultur grundlegenden und sie formierenden und durchdringenden Bekenntnisses, hinsichtlich der sich im Gefolge des reforma­ torischen Umbruchs ausbildenden kirchlichen Organisation und hinsichtlich des kirchlichen Lebens mit seinen kollektiven und individuellen Frömmigkeitsvollzügen.14 a) Grundlegend für eine Konfessionskirche ist  – das zeigt schon die Bezeichnung  – das Bekenntnis. Bekenntnisse gab es seit den Anfängen der Christentumsgeschichte, und sie spielten immer auch eine wichtige Rolle, allerdings veränderte sich durch die Spaltung der westlichen Christenheit im 16. Jahrhundert die Bedeutung und Funktion des Bekenntnisses: Er war nicht mehr nur Grenzmarkierung und Lehrzusammenfassung, sondern wurde zum entscheidenden Identitätsmarker, der Verkündigung, Organisation und Leben der Kirche umfassend regulierte und gänzlich durchdrang. Das gilt auch für die unter Joachim II. begründete kurmärkische Landeskirche. Das grundlegende Bekenntnisdokument für diese war die Brandenburgische Kirchenordnung von 1540. Hier fand sich in der kurfürstlichen Vorrede ein mit staatlicher Autorität verbindlich gemachtes Lehrsummarium, das im Lehrteil der Kirchenordnung inhaltlich ausgeführt und in den „Kinderpredigten“ katechetisch umgesetzt wurde.15 Bei diesen vom Nürnberger Reformator Andreas Osiander als Beigabe zur Brandenburgisch-Nürnbergischen Kirchenordnung verfassten Lehrpredigten handelt es sich um eine Aus­legung von Luthers Kleinem Katechismus, der am Ende jeder Predigt wörtlich zitiert wird und also auch Bestandteil der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 ist. In der Sache entspricht die in den Lehrsummarien und der Lehrentfaltung präsentierte Bekenntnisgrundlage der märkischen Landeskirche der Wittenberger Theologie, die im Augsburgischen Bekenntnis (Confessio Augustana [= CA]) von 1530 ihre definitive Formulierung gefunden hatte.16 Dass faktisch das Augsburgische Bekenntnis – 14  Diese drei Charakteristika sind bereits von Zeeden benannt worden, der „Konfessionsbildung“ als „geistige und organisatorische Verfestigung der seit der Glaubensspaltung auseinanderstrebenden christlichen Bekenntnisse zu einem halbwegs stabilen Kirchentum nach Dogma, Verfassung und religiös-sittlicher Lebensform“ definiert (Ernst Walter Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe, München u. Wien 1965, 9 f.). 15  Kirchen Ordnung im Churfurstenthum der Marcken zu Brandemburg / wie man sich beide mit der Leer und Ceremonien halten sol, Berlin 1540 (VD16 B 6909), 1. Hauptteil, fol. B 1v–B 4r, fol. C 1r–R 3v, 2. Hauptteil, fol. a 1r–hh 4v. 16  Dass die CA nicht selbst als Bekenntnistext angeführt oder zumindest auf sie verwiesen wird, hatte politische Gründe: Kurfürst Joachim II. vermied 1540 eine allzu offene Parteinahme für die Wittenberger Reformation, um die Beziehungen zum Kaiser und den altgläubigen Reichsständen nicht zu gefährden. Tatsächlich



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und zwar in seiner Fassung von 1530 (CA invariata) – das Grundbekenntnis der kurmärkischen Landeskirche war, zeigte sich während der Regierungszeit Joachims II. immer wieder.17 b) Mit der Konfessionalisierung des westlichen Christentums im 16. Jahrhundert verbunden war eine Umgestaltung der Institution Kirche: Das kirchliche Organisationsgefüge veränderte sich in konfessionsspezifischer Weise, und das Bekenntnis gewann greifbare Gestalt in Strukturen und Praktiken. aa) Im protestantischen Bereich war die wichtigste organisatorische Neuerung die – theologisch nicht ohne Weiteres zu legitimierende und eigentlich dem lutherischen wie dem reformierten Bekenntnis zuwiderlaufende – Etablierung des landesherrlichen Kirchenregiments. Mit Verweis auf die religiöse Verantwortung des christlichen Fürsten für seine Untertanen und von den Theologen nicht ohne Vorbehalte anerkannt als Notbischof  – also gestützt auf eine über die obrigkeitliche cura utriusque tabulae hinausreichende kirchliche Legitimation  – übernahm der Landesherr die Kirchenleitung und sistierte damit die traditionelle Selbstverwaltung der Kirche. So geschah es 1539/40 auch im Kurfürstentum Brandenburg. Grunddokument dieser Bestimmung Joachims II. zum irdischen Letztverantwortlichen für die Kirche war die Kirchenordnung von aber basierte die Brandenburgische Kirchenordnung theologisch auf der CA, wie die aus der Brandenburgisch-Nürnbergischen KO übernommenen Lehrkapitel und die inhaltlich gewichtigen Ergänzungen Fürst Georgs III. von Anhalt zeigen. Den Vorschlag Georgs III., diese grundlegende Bedeutung der Wittenberger Reformation und der CA für die kurmärkische Landeskirche auch explizit zu benennen (Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Dessau, Z 4, V 240, Nr. 1, Bd. I, fol. 563r/v), folgte ­Joachim II. allerdings nicht: Ihm genügte die sachliche Entsprechung. 17  Auf reichspolitischer Ebene suchte der Kurfürst den Anschluss an die protestantischen Reichsstände und konnte sich während der 1540er Jahre darum auch zustimmend zur CA äußern. Anfang der 1550er Jahre wurden CA und Apologie erstmals in Frankfurt (Oder) in deutscher Fassung gedruckt. Im Zusammenhang des Augsburger Reichstags 1555 bekannte sich der Kurfürst offen zur CA, und in der Folgezeit bekräftigte er im Zuge der lutherischen Lehrstreitigkeiten auf Reichs- und Territorialebene immer wieder deren Gültigkeit. Als der Kurfürst in den 1560er Jahren eine Überarbeitung der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 in die Wege leitete, ließ er sogar eine Abschrift des als Original geltenden Mainzer Exemplars nehmen, um die CA in authentischer Fassung in die Kirchenordnung aufzunehmen und so auch de jure zum Bekenntnis der Landeskirche zu machen. Dass das Augsburgische Bekenntnis nicht nur das Bekenntnis des Landesherrn, sondern auch der Landeskirche war, zeigt etwa die Frankfurter Lehr­ tätigkeit Christoph Körners in den 1560er Jahren, der das Bekenntnis – wie es für das konfessionelle Luthertum typisch war – in Reden und Vorlesungen behandelte (VD16 C 5164; Bürger, Pfarrer, Professoren. St. Marien in Frankfurt (Oder) und die Reformation in Brandenburg, hrsg. v. Maria Deiters und Gotthard Kemmether, Dresden 2017, 263).

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1540, die als Landesgesetz erging und eine Landeskirche unter der Leitung des Landesherrn schuf. Dass diese Ordnung ein Fortbestehen der diözesanbischöflichen Ordnungsstrukturen vorsah und von der Selbstverwaltung der Kirche auf den unteren Ebenen ausging, ändert nichts an dem institutionsgeschichtlichen Bruch mit dem Herkommen. Die Beibehaltung der Diözesanbischöfe war eine in dieser Phase der Reforma­ tionsgeschichte auch von den Wittenberger Theologen favorisierte Option im Umgang mit dem überkommenen Kirchenwesen, und sie entsprach dem politischen Interesse des Kurfürsten, nach außen hin den kirchlichen Umbruch zu verschleiern. Aber Joachim II. drängte von Anfang an die Diözesanbischöfe an den Rand und machte sich bald an die Abwicklung der diözesanbischöflichen Strukturen: Die Kirchenordnung eta­ blierte ein paralleles, dem Kurfürsten verantwortliches Leitungssystem mit Generalsuperintendent und Visitatoren, das 1543 um ein Konsistorium und im Laufe der Regierungszeit Joachims II. durch eine mittlere Aufsichtsebene (Inspektoren) ergänzt wurde. Mehrere Visitationen sorgten in den 1540er und 1550er Jahren dafür, dass die Vorgaben der Kirchenordnung in den Gemeinden umgesetzt und vor allem die organisatorischen und finanziellen Grundlagen für ein evangelisches Kirchenwesen geschaffen wurden. Die sich bildenden landeskirchlichen Strukturen verlangten neue kirchliche Ordnungen, die nach und nach ergingen und die 1540 erlassene Kirchenordnung ergänzten und fortschrieben.18 bb) Die mit den Visitationen der 1540er Jahre beginnende reformatorische Umgestaltung der Gemeinden bestand vor allem in dreierlei: in der Neuordnung der Kirchenfinanzen mittels detaillierter Aufstellungen von Besitz und Einkünften der Gemeinden und deren Zusammenführung im „Gemeinen Kasten“, in der Berufung evangelischer, zumeist verheirateter Geistlicher und in der Umgestaltung des kirchlichen Lebens, vor allem der gottesdienstlichen Vollzüge, der geistlichen Begleitung, Unterweisung und Disziplinierung der Gemeinde sowie der Reform des Schulwesens und der Armenfürsorge. All dies wurde mit der ersten Visitation auf den Weg gebracht, es brauchte aber vielerorts  – vor allem auf dem Lande  – 18  Auf Gemeindeebene geschah das in Form der Visitationsabschiede sowie mancherorts in Gestalt von lokalen Kirchenordnungen. Auf Territorialebene entwickelte sich die kurzgefasste Visitations- und Konsistorialordnung von 1543 zu einem umfassenden, 1561 festgeschriebenen Regelwerk, das durch eine Fülle kurfürstlicher Verfügungen und Entscheidungen zu Kirchensachen ergänzt wurde. Alle diese Ordnungstexte zeigen, dass das Organisationsgefüge der sich ausbildenden märkischen Landeskirche dem Wittenberger Vorbild entsprach. Darüber hinaus, das zeigen vor allem die territorialen Ordnungen von 1558 und 1561, entwickelten sich in diesem Organisationsgefüge ein Kirchenleben und eine Frömmigkeitspraxis, die sich kaum vom mittel- und norddeutschen Luthertum unterschieden.



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Jahre oder gar Jahrzehnte, bis das kirchliche Leben den neuen Anfor­ derungen entsprach. Der reformatorische Umbruch hatte die Kirchen­ finanzen zerrüttet, reformatorisch gesinnte Pfarrer waren nicht ohne Weiteres verfügbar, die kollektive und individuelle Frömmigkeitspraxis der Gemeinde ließ sich nur allmählich verändern, und die Armenfürsorge funktionierte lange Zeit mehr schlecht als recht. cc) Was das Schulwesen angeht, so wies die Kirchenordnung von 1540 nur kurz auf die Notwendigkeit der Reform der Schulen oder deren Neugründung hin und überließ alles Weitere den Visitatoren. Diese ­bemühten sich darum, das Schulwesen in den märkischen Städten im Sinne der Reformation zu erneuern, was  – ähnlich wie bei den Kirchengemeinden  – bedeutete, für eine auskömmliche Finanzierung, kompetentes Personal und eine am reformatorischen Bildungsprogramm orientierte Umgestaltung des schulischen Lebens zu sorgen. In einigen Städten trafen die Visitatoren auf städtische und kirchliche Verantwortliche, die längst schon aus eigenem Antrieb mit Reformen begonnen hatten, andernorts bezeugen die Visitationsberichte eine desolate Schulsituation, die sich erst allmählich besserte. Wie eine den neuen Maßgaben entsprechende Lateinschule aussah, zeigt die Schulordnung, die der an der Katharinenkirche der Neustadt Brandenburg amtierende Pfarrer Johannes Garcaeus 1564 veröffentlichte.19 Vor allem in den größeren und ökonomisch prosperierenden Städten  – etwa den altmärkischen Metropolen Stendal und Salzwedel, der kurfürstlichen Nebenresidenz Spandau, der uckermärkischen Hauptstadt Prenzlau oder der Handelsstadt Frankfurt –, in denen auch schon vor der Reformation das Schulwesen weit entwickelt war, blühten die Schulen im Gefolge der Reformation auf. Allerdings verlief die Entwicklung des Bildungswesens in der Mark aufs Ganze gesehen langsamer als in den zur Reformation übergegangenen Nachbarterritorien. Eine überregional anziehungskräftige „Gelehrtenschule“ oder gar eine der Ausbildung der territorialen Elite dienende „Fürstenschule“ entstand während der Regierungszeit J­ oachims II. nicht. dd) Eine wichtige Neuerung im landeskirchlichen Institutionengefüge war die enge Verbindung der Frankfurter Universität mit der Landeskirche. Die Umgestaltung der Viadrina im Sinne des humanistisch-reformatorischen Bildungsprogramms und ihre Indienstnahme für die Bewahrung und Vermittlung des Bekenntnisses sowie für die Ausbildung kirchlicher Amtsträger gehörte zu den ersten Maßnahmen des Kurfürsten im Zuge der Einführung der Reformation. Tatsächlich wuchsen der Viadrina und vor allem ihrer Theologischen Fakultät durch die Reformation eine neue Funktion und eine größere Bedeutung für Land und Landeskirche 19  VD16

ZV 6405, fol. B 1r–F 6v.

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zu. Die hier vermittelte Bibelauslegung, Kirchenlehre und Kontroverstheologie bewegte sich im Rahmen der lutherischen Universitätstheologie des 16. Jahrhunderts und spiegelte deren unterschiedliche Akzentuierungen des Wittenberger Grundkonsenses im Spektrum zwischen gnesiolutherischen und melanchthonianischen Positionierungen wider. c) Das Bekenntnis und die kirchliche Organisation waren im konfessionellen Zeitalter Mittel zum Zweck: Sie sollten als inhaltliche Normierung und institutionelle Umrahmung christlichen Glauben und christliches Leben ermöglichen. Der Kernvorgang der Entstehung einer Konfes­ sionskultur ist darum die Formierung von Glaubensvorstellungen und Lebensvollzügen. Unter dem Einfluss der Reformation veränderten diese sich im ganzen abendländischen Christentum und wandelten sich zu neuen, konfessionsspezifischen Frömmigkeitsformen, die das kirchliche Leben in seiner kollektiven und individuellen Dimension prägten. Dazu kam es während der Regierungszeit Joachims II. auch im Kurfürstentum Brandenburg.20 aa) Das kirchliche Leben vollzog sich primär in kollektiven Frömmigkeitsformen. Der sonn- und werktägliche Gottesdienst wurde in den 1540er Jahren entsprechend der Brandenburgischen Kirchenordnung umgestaltet. Das hieß vor allem, dass sich das Gottesdienstverständnis grundlegend wandelte: Im Gottesdienst ging es nach reformatorischer 20  Einen interessanten Einblick in die Idealvorstellungen vom kirchlichen Leben, wie sie sich in den 1540er und 1550er Jahren entwickelten und die Wirklichkeit zu formen begannen, gibt die Visitations- und Konsistorialordnung von 1561 in ihrem ersten, als Geistliche Polizeiordnung bezeichneten Hauptteil (GStAPK, I. HA, Rep. 47, Nr. 13, Faszikel „Consistorial-Ordnung 1561“, fol. 8r–55r). Die Ausführungen über Ordination und Investitur der Pfarrer, die mit einer Belehrung über Amtspflichten und Lebenswandel der Geistlichen verbunden sind (a. a. O. fol. 10v–13v), sowie der Abschnitt „Von den Pfarrern, Irem Ampte, Lehre, Sitten und lebenn“ (a. a. O. 16r–23r) können als Beschreibung des Gemeindelebens im Spiegel pfarramtlicher Tätigkeitsanforderungen gelesen werden. Die Ordnung formuliert in einem Abschnitt „Von den Zuhorernn Gottlichs wordts“ auch die Anforderungen an die Gemeindeglieder (a. a. O. fol. 24r–26v). Hier werden die Verkündigung des Gottesworts und die Spendung der Sakramente als Zentralgeschehen der Frömmigkeitspraxis beschrieben und ein der göttlichen Heilsgabe in Wort und Sakrament entsprechender Lebenswandel gefordert. Zum Gemeindeleben gehören auch die Armenfürsorge und die Hospitäler (a. a. O. fol. 28r–32v; diese Ausführungen ersetzen die im Kurfürstentum bislang fehlende Kastenordnung) sowie das ausdifferenzierte Schulwesen einschließlich der Mädchenschulen (a.  a.  O. fol. 43r–46r). Bemerkenswert ist der Passus, der die religionspolitischen Kompetenzen der lokalen Obrigkeiten regelt und diesen die Verantwortung für die strikte Befolgung der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 auferlegt (a. a. O. fol. 50v–55v). Die 1561 zusammengestellte Ordnung wurden größtenteils in die gedruckte Visitations- und Konsistorialordnung von 1573 (Anm. 13) übernommen.



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Auffassung darum, der Gemeinde das göttliche Heil durch Wort und Sakrament zuzueignen. Die Verkündigung stand darum im Mittelpunkt, und ihr zugeordnet war die Antwort der Gemeinde durch Gebet, Dank und Lob. Im veränderten Rahmen wurden einige traditionelle Elemente beibehalten: die lateinische Sprache, überkommene Gebete und Gesänge, der Taufexorzismus oder die liturgische Kleidung. Wie lokale Gottesdienstordnungen zeigen, konnte das von der Kirchenordnung vorgegebene Grundschema variiert und verändert werden, wobei in den märkischen Städten vielfach eine Tendenz zur Vereinfachung des Gottesdiensts im Sinne der Wittenberger Reformation zu beobachten ist. Im Mittelpunkt des Gottesdiensts standen Verkündigung und Sakrament. Die anhand der Bibel das reformatorische Bekenntnis entfaltende und auf das Alltagsleben der Gemeinde anwendende Predigt wurde obligatorisch. Die aus der Regierungszeit Joachims II. bekannten Predigtdrucke und Predigthandschriften zeigen, wie das geschah: Eng an der Bibel orientiert wurde die reformatorische Rechtfertigungslehre in rhetorisch ansprechender Weise aufbereitet und auf die Lebenswirklichkeit der Menschen bezogen.21 Sakramente gab es zwei: Taufe und Abendmahl. Die 21  An gedruckten Predigten sind zum einen die für die Pfarrer zur Predigtvorbereitung oder zur Verlesung im Gottesdienst empfohlenen Sammlungen (Osianders Kinderpredigten in der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540; Luthers Hauspostille, die in den Ordnungen von 1558 und 1561 empfohlen und in Frankfurt [Oder] in deutscher und lateinischer Fassung gedruckt wurde [VD16 L 4845, VD16 L 4889, VD16 L 4890]), zum anderen die von Predigern veröffentlichten Predigtsammlungen, Predigthilfen und Bibelauslegungen zu nennen (z. B. Johannes Agricola, Die Historia des leidens und Sterbens vnsers lieben Hernn vnd Heilands Jhesu Christi / nach den vier Euangelisten, Berlin 1543, VD16 B 4785; Ders., Die Episteln durchs gantz Jar / Mit kurtzen Summarien, Berlin 1544, VD16 A 984; Jodokus Willich, Dispositio in epistolas & euangelia, zwei Bände, Frankfurt [Oder] 1549, VD16 E 4410 [vgl. den Druck Basel 1542: VD16 E 4528]; Kaspar ­Huber, Postilla, Frankfurt [Oder] 1554, VD16 H 5401–5402; Christoph Körner, ­Oikonomia Evangeliorum, Frankfurt [Oder] 1567, VD16 E 4571). An ungedruckten Predigten und Bibelauslegungen sind etwa die von Hofprediger und Generalsuperintendent Agricola verfassten „Homiliae“ (Marienbibliothek Halle Ms. 12; bei diesem Band  handelt es sich  – wie Joachim Rogge, Johann Agricolas Lutherverständnis. Unter besonderer Berücksichtigung des Antinomismus, Berlin 1960, 236, treffend feststellt  – um eine „regelrechte Postille“ „in gewohnter Agricolascher Breite“), sein mehrbändiges „Monotessaron“ (unterschiedliche unvollständige Abschriften dieser monumentalen Auslegung der Evangelien sind erhalten in der Staatbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz [= SBBPK], Ms. Germ. fol. 180– 182, und in der Marienbibliothek Halle, Ms. 11a/b) sowie unterschiedliche Sammelbände mit Handschriften (SBBPK, Ms. Germ. fol. 50, Ms. Germ. quart. 185, Ms. Germ. quart. 203) zu nennen. Aus der Fülle dieser Predigtquellen sei beispielhaft nur Agricolas Auslegung von Ps. 15 (SBBPK, Ms. Germ. quart. 203, fol. 29r-96v) genannt. Es handelt sich um eine Unterweisung „Wie ein Hausvater mitt Gotte unnd guttem gewissen Christlich unnd Seelich leben und sterbenn soll“ (a. a. O.

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Taufe wurde als selbständige gottesdienstliche Feier in Anlehnung an spätmittelalterliche Taufformulare gefeiert, wobei allerdings nunmehr das Deutsche22 als Liturgiesprache Anwendung fand und das komplexe rituelle Gefüge in Anlehnung an Luthers Taufbüchlein von 1523 vereinfacht wurde. In der Abendmahlsliturgie wurden der Kleine und der Große Kanon gestrichen und die verbliebenen traditionellen Elemente zu ­einem an die Gemeinde gerichteten, auf die Gemeindekommunion zulaufenden Verkündigungsgeschehen umgestaltet. Die Abendmahlsfrömmig­ keit stellte – wie für das reformatorisch-nachreformatorische Luthertum typisch  – die leibliche Gegenwart Christi in den Abendmahlselementen in den Mittelpunkt. Mochte auch das beibehaltene Traditionsgut auf den ersten Blick die fundamentalen Neuerungen verdecken, so war bei näherem Hinsehen der evangelische Charakter dieser Feier unübersehbar und dürfte auch den Gläubigen bewusst gewesen sein. Alle sonstigen Sakramente und Sakramentalien verschwanden aus dem kirchlichen Leben oder existierten in theologisch umgedeuteter und rituell veränderter Form als bloße „Zeremonien“ weiter. Zum gottesdienstlichen Angebot in einer märkischen Gemeinde Mitte des 16. Jahrhunderts gehörte nicht nur der sonntägliche Hauptgottesdienst mit der Abendmahls­ feier, sondern auch eine Reihe von morgendlichen und abendlichen Sonntags- und Werktagsgottesdiensten, in denen neben Chorgesang, Gebeten und Schriftlesungen die Katechese eine wichtige Rolle spielte. Anknüpfend an die spätmittelalterliche Intensivierung der kirchlichen Unterweisung fol. 220v–255v, datiert auf 1558). Dieser der populären Hausväterliteratur zuzurechnende Text, der auch einen Anhang zu den für Christen akzeptablen Wirtschaftsaktivitäten enthält, unterrichtet die Adressaten in ihrem christlichen Lebenswandel. Dass Osianders Kinderpredigten tatsächlich auch benutzt wurden, zeigt neben den Forderungen der Kirchenordnungen und Visitationsabschiede und den Benutzungsspuren an den erhaltenen Exemplaren eine Separatausgabe, die Mitte der 1560er Jahre zusammen mit von Musculus formulierten Gebeten erschien (VD16 O 1063). Die von Georg Buchholzer veröffentlichten Lutherpredigtsammlungen (1552: VD16 L 5701/L 5698/L 5704; 1561: VD16 L 5702/L 5699/L 5705; 1564: VD16 L 5703/L 5700/L 5706) waren weniger als Hilfsmittel für Prediger als vielmehr ein kirchenpolitisches Signal des Berliner Propsts, der Luthers Leitfunktion für die kurbrandenburgische Kirche unterstrich und sein persön­liches Schülerverhältnis zu Luther herausstellte. 22  Wo nicht das Deutsche, sondern das Sorbische die Sprache der Gemeinde war, wurde die Taufagende früh schon übersetzt, wie es 1543 der Zossener Diakon Martin Richter tat (Faksimile und Transkript des erhaltenen Fragments, das möglicherweise zu einer Übersetzung von Luthers Kleinem Katechismus gehört: Martin Luther. Dokumente seines Lebens und Wirkens 1483–1546, Weimar 1983, 212.369 f. [Nr. 159]; zu diesem Fragment: Frido Mˇetšk, Der Kurmärkisch-wendische Distrikt. Ein Beitrag zur Geschichte der Territorien Bärwalde, Beeskow, Storkow, Teupitz und Zossen unter besonderer Berücksichtigung des 16. bis 18. Jahrhunderts, Bautzen 1965, 81).



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wurde auch im Kurfürstentum Brandenburg das katechetische Grundwissen vermittelt, wofür die Kirchenordnung die Kinderpredigten vorsah, viele Geistliche aber auch andere katechetische Werke heranzogen. Die Veränderungen des gottesdienstlichen Lebens und der Frömmigkeits­ praxis wirkten sich bald auch auf die Kirchenräume aus, deren Umwandlung bereits Mitte des 16. Jahrhunderts begann und in denen sich früh schon – nämlich mit den in den 1540er Jahren aufkommenden evangelischen Epitaphien – der Umbruch im Totengedächtnis und damit der Wandel persönlicher Glaubensüberzeugungen zeigte. bb) Neben den kollektiven Frömmigkeitsvollzügen standen die individuellen. Auch diese veränderten sich unter dem Einfluss der Reforma­ tion und entwickelten eine für die frühneuzeitliche lutherische Konfessionskultur typische Gestalt. Allerdings sind für das 16. Jahrhundert nicht allzu viele Zeugnisse aus Brandenburg bekannt, die Einblick in diese individuelle, sich vor allem im Kontext des Hauses abspielende Frömmigkeit geben: Quellen wie Testamente und Leichenpredigten sind bislang weder erschlossen noch ausgewertet,23 das nachreformatorische Stiftungswesen harrt umfassender Erforschung, Schilderungen praktizierter Frömmigkeit sind rar und schwerlich verallgemeinerbar, und Nachrichten über Bücherbesitz und Bücherbenutzung sind aus dem 16. Jahrhundert kaum überliefert. Diese Quellen betreffen zudem nur Adel, Geistliche, Gelehrte und städtisches Bürgertum und erlauben somit keine Rückschlüsse auf die Bevölkerung im Ganzen. Auch wenn über die Breite und Intensität der Nutzung typischer Frömmigkeitsmedien des reformatorisch-nachreformatorischen Luthertums zu wenig bekannt ist, kann man aber doch feststellen, dass diese früh auch in der Mark Brandenburg vorhanden waren und dass ihre Verbreitung im Laufe des 16. Jahrhunderts zunahm. Drei Bücher waren es vor allem, mit denen und aus denen ein lutherischer Christ im 16. und 17. Jahrhundert lebte: die Bibel, der Katechismus und das Gesangbuch. In der Mark fanden sich seit den 1520er Jahren alle drei Textsorten, und reformatorische Katechismen und Gesangbücher wurden während der Regierungszeit Joachims II. auch in der Mark selbst

23  Ein eindrückliches Zeugnis für den evangelischen Glauben eines Adligen bietet das Glaubensbekenntnis im Testament des Matthias von Saldern von 1575 (Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, Rep. 37 Plattenburg-Wilsnack, Nr. 2584, fol. 272–275). Einige Leichenpredigten für Mitglieder der kurfürstlichen Familie geben Einblick in deren Frömmigkeitspraxis, so etwa die Leichenpredigt auf die Tochter Joachims II., Herzogin Elisabeth Magdalena von BraunschweigLüneburg, die seit 1559 als Witwe in Berlin lebte und der Cöllner Stiftskirche eng verbunden war (VD16 L 1363).

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zusammengestellt und gedruckt.24 Man muss auch damit rechnen, dass in den benachbarten Druckzentren Wittenberg, Leipzig oder Magdeburg hergestellte Bibeln, Katechismen und Gesangbücher ihren Weg in die Mark fanden. Daneben gab es eine reiche lutherische Erbauungsliteratur, die sich in der Mark verbreitete und zu der auch märkische Autoren zunehmend beitrugen.25 Man denke etwa an die zahlreichen Veröffent­ lichungen des Frankfurter Professors und kurmärkischen Generalsuperintendenten Andreas Musculus26, an das in 1551 in Leipzig gedruckte 24  Luthers Katechismen wurden in Form der Kirchenordnung und in unzähligen Einzeldrucken, zu denen auch einige in Frankfurt (Oder) veröffentlichten zählen (VD16 L 5319, L 5197, L 5103), verbreitet. Dazu gab es eine Reihe von Katechismen in der Mark wirkender Autoren (Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts in der evangelischen Kirche Deutschlands zwischen 1530 und 1600, hrsg. v. Johann Michael Reu, Teil  1: Quellen zur Geschichte des Katechismusunterrichts, Bd. 3: Ost-, Nord- und Westdeutsche Katechismen, Abt. 1: Historisch-­ bibliographische Einleitung, 1. Hälfte, Gütersloh 1927, 109–204, Abt. 2: Texte, 1.  Hälfte, Gütersloh 1916, 76–237, Abt. 2: Texte, Dritter Teil  samt Nachträgen zu allen Bänden, Gütersloh 1924, 1673–1682). In den Kontext katechetischer Literatur gehört auch ein in der Mark nachgedrucktes Werk wie das von Wenzeslaus Linck, Betrachtung Wie sich ein Christ halten soll / das Morgens so er auffstehet / vnd des Abents / so er sich niderleget, Frankfurt (Oder) 1568 (VD16 L 1799), ebd. 1569 (VD16 L 1800). – Schon in den 1520er Jahren verbreitete sich reformatorisches Liedgut in der Mark, wie das dagegen gerichtete kurfürstliche ­Verbot von 1526 zeigt (Archiv des Stadtgeschichtlichen Museums Spandau, Urkundensammlung IV U/91). In der Regierungszeit Joachims II. veröffentlichte der Frankfurter Drucker Eichhorn ein von den 1550er bis zu den 1570er Jahren mehr als ein Dutzend Mal aufgelegtes evangelisches Gesangbuch unter dem Titel Enchiridion Geistlicher Lieder vnd Psalmen durch D. Mart. Luth. vnd andere fromme Christen auffs new zugericht (Walther Lipphardt, Das Gesangbuch von J. Eichorn d. Ä. zu Frankfurt an der Oder und seine ältesten Ausgaben, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 13 [1968], 161−170; Hans-Erich Teitge, Der Buchdruck des 16. Jahrhunderts in Frankfurt an der Oder. Verzeichnis der Drucke, Berlin 2000, 80 f.). 25  Einen ersten Eindruck von der Vielzahl der Mitte des 16. Jahrhunderts von märkischen Autoren und in der Mark veröffentlichten Schriften geben Lothar ­Noack/Jürgen Splett: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Mark Brandenburg mit Berlin-Cölln 1506–1640, Berlin 2009 (allerdings fehlen hier einige wichtige und produktive Autoren wie Johannes Agricola oder Abdias Prätorius); Teitge, Der Buchdruck des 16. Jahrhunderts in Frankfurt (Anm. 24), 320–367 (Nr. 159–555, dabei handelt es um eine nicht ganz vollständige, durch VD16 zu ergänzende Liste Frankfurter Drucke von 1535 bis 1571). Bei den Frankfurter Drucken ist zu berücksichtigen, dass ein Teil  der hier hergestellten Werke religiösen Inhalts für Adressatenkreise außerhalb der Mark – in Kursachsen, Schlesien, Pommern oder Polen – bestimmt war und darum nicht für die Frage nach der Verbreitung lutherischer Frömmigkeit in der Mark herangezogen werden kann. 26  Zu nennen sind hier etwa Musculus’ Gebetbücher und seine Teufelbücher, die eindrücklich die Verinnerlichung und Vertiefung lutherischer Frömmigkeit einerseits und ihren ethischen Anspruch und ihre Anleitung zu christlicher Weltverant-



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und in den Zusammenhang der Abendmahlsfrömmigkeit gehörende Beichtbüchlein des Spandauer Pfarrers Christoph Lasius27 oder an die angesichts der wiederkehrenden Pestepidemien zahlreich veröffentlichten Pestschriften28. Was hier an Anforderungen an christlichen Glauben und christliches Leben formuliert wurde, spiegelt die Idealvorstellungen des konfessionellen Luthertums wider, die sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den Gemeinden verbreiteten und zunehmend als Verhaltensstandard akzeptiert wurden. 5. Die Formierung einer lutherischen Konfessionskultur ist allerdings nur die eine Seite der kirchlichen Entwicklung im Gefolge der Reformation. Die andere ist die Persistenz hergebrachter kirchlicher Strukturen und religiöser Überzeugungen und Praktiken sowie die Entwicklung alternativer Formen christlichen Glaubens und Lebens. Was das Kur­ ­ fürstentum Brandenburg angeht, war die vom Landesherrn propagierte wortung andererseits deutlich machen. Einen Überblick über Musculus’ zahlreiche und gewichtige Veröffentlichungen gibt: Jürgen Splett, Art. Musculus (Meusel), Andreas, in: Noack/Splett, Bio-Bibliographien (Anm. 25), 391–423. 27  VD16 L 556 (vgl. Lasius’ didaktisch aufbereitete Predigt über die Buße, die kurz nach seinem Wegzug aus Spandau 1556 erschien: VD16 L 517). Diese Veröffentlichungen geben Einblick in die lutherische Abendmahlsfrömmigkeit, gehörten doch Buße und Beichte zu den Voraussetzungen für einen heilvollen Empfang des Abendmahls und musste sich ein jeder Glaubende dem göttlichen Gesetz und Gericht stellen. Mit seinem an Melanchthon orientierten Bemühen um eine der Weckung der Bußgesinnung dienende Gesetzespredigt sah sich Lasius (zu ihm: Lothar Noack, Art. Lasius [Rauch], Christoph, in: Noack, Splett, Bio-Bibliographien [Anm. 25], 332–348) im Gegensatz zu Agricola, weshalb er – nachdem er wohl dem Kurfürsten gegenüber den Gehorsam verweigert hatte  – sein Spandauer Pfarramt verließ (Christoph Lasius, Der Erst Theyl: Vbers Symbolum Apostolicum / Das ist / vber die gemeyne Lehr des Christlichen Glaubens / von Aposteln in ein gewisse Notel gestellet, o. O. [Straßburg] 1561, VD16 L 583, fol. A 3r/v). 28  Die Pesttraktate thematisieren immer auch die geistliche Dimension dieser Krankheitsbedrohung und argumentieren dabei durchweg im Sinne der Reformation. Beispielhaft sei die Schrift eine Berliner Arztes genannt: Matthaeus Flaccus, Ein Erinnerung: was die Oberkeit zur Pestilentz zeit bestellen / vnd wie sich menniglich fur solcher grausamer Seuch preseruiern / auch aus rechtem grund der Ertzney curirn sol / der gantzen Marck zu Brandeburg / Sonderlich aber beiden Stedten / Berlin vnd Cöln an der Sprew zu nutz gestellet, Wittenberg 1566 (VD16 F 1615). Von den 1540er bis zu den 1590er Jahren erschienen zahlreiche vergleichbare, teils mehr seelsorgerlich, teils mehr medizinisch orientierte Pestschriften. Mehrfach gedruckt wurden etwa die insgesamt fünf Pestschriften von Jodokus Willich (VD16 W 3287–3288, W 3296–3303, ZV 27073). Auch Musculus verfasste eine Schrift zu diesem Thema (Andreas Musculus, Gewiesse vnd bewerte Artzney wider die seuche der Pestilentz, Frankfurt [Oder] 1565, VD16 M 7152). Zu nennen sind einige weitere in Frankfurt gedruckte Schriften, die zum Teil einen Adressatenkreis außerhalb des Kurfürstentums hatten (Johannes Gigas, VD16 H 3266; Simon Sinapius, VD16 S 6578; Bartholomäus Wagner, VD16 W 97).

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l­utherische Konfessionskultur im religiösen Feld des 16. Jahrhunderts zweifellos die stärkste Kraft. Sie wurde zur einzigen und allein als legitim wahrgenommenen Form des christlichen Glaubens, galt doch im 16. Jahrhundert noch der Grundsatz, dass es in einem Land nur einen Glauben geben könne und dass darum die weltliche Obrigkeit für einheitliche Gottesverehrung Sorge zu tragen habe. Aber das obrigkeitlich propagierte Luthertum war nicht alternativlos und musste sich gegen Widerstände durchsetzen. Zur Formierung der lutherischen Konfessionskultur in der Mark gehört darum auch die Homogenisierung des religiösen Feldes im Sinne dieser Konfessionskultur. a) Als größte Herausforderung erwies sich dabei die Widerständigkeit von Mentalitäten und Strukturen. Jede religiöse Revolution, die Erfolg hat, muss sich mit dem auseinandersetzen, was vor ihr gewesen ist und was die Menschen weiterhin prägt. Das mochte in den Städten, wo die Bevölkerung gegenüber Neuem vielfach offener und veränderungsbereiter war, relativ leicht und schnell vor sich gehen. Auf dem Land aber, wo ja der größte Teil der Bevölkerung lebte, handelte es sich um einen langfristigen und nicht durchweg erfolgreichen Prozess. Zudem gibt es einen für alle Religionen zu allen Zeiten typischen Hiatus zwischen religiösen Anforderungen und alltäglicher Lebenswirklichkeit, der auch im Zeichen der Konfessionalisierung nicht überbrückt werden konnte. Weltliche Obrigkeiten und kirchliche Verantwortliche im Kurfürstentum Brandenburg bemühten sich seit den 1540er Jahren, den mit der Reformation initiierten Wandel voranzutreiben: Die Visitationen, die Reform des Schulwesens, die Verstärkung von Predigt und Katechese oder Sozialdisziplinierung und Kirchenzucht boten zahlreiche Möglichkeiten, die bestehenden Verhältnisse zu verändern und auf die Menschen einzuwirken. Wie fast überall im Wirkungsbereich der Wittenberger Reformation geschah dies mit Rücksichtnahme auf das Überkommene, unter Einbeziehung der Betroffenen und im Bewusstsein für das unter den gegebenen Umständen Mögliche, so dass die grundlegenden Veränderungen, die im Gange waren, erst allmählich erkennbar wurden.29 29  Bevor man diese Fortdauer überkommener Mentalitäten und Strukturen als Argument gegen den Erfolg der Reformation und der aus ihr hervorgehenden Konfessionalisierung ins Feld führt, sollte man sich fragen, in welchem Verhältnis der Systembruch der Reformation und die von ihr initiierte Veränderungsdynamik zu diesen Kontinuitätsmomenten stehen. Handelt es sich beim Wandel von Bekenntnis, Organisation und Leben der märkischen Kirche im 16. Jahrhundert um Diskontinuitätsmomente, die angesichts der strukturellen und mentalitätsmäßigen Kontinuitäten, die das vom hohen Mittelalter bis zur Sattelzeit der Moderne reichende alteuropäische Zeitalter bestimmten, nicht so sehr ins Gewicht fallen? Oder bedeutet der Zerfall der Einheit der lateinischen Christenheit und die sich in ihrem Gefolge ergebende Konfessionalisierung mit ihren die alltägliche Le-



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b) Als kein Problem für die konfessionelle Homogenisierung erwies sich die Papstkirche, die bis 1535 von Kurfürst Joachim I. noch gestützt worden war. Deren Strukturen, Vorstellungen und Praktiken verschwanden unter Joachim II. rasch und unwiederbringlich: Die Jurisdiktionsgewalt der für das Kurfürstentum zuständigen kirchlichen Autoritäten wurde mit der Einführung der Reformation suspendiert; die Domkapitel der drei Landesbistümer wurden nach und nach protestantisiert; im Laufe der 1550er Jahre wurde ein Hohenzollernprinz zum nominellen Bischof in Brandenburg, Havelberg und Lebus gewählt; die Klöster wurden zwar nicht aufgehoben, aber bis auf wenige zu adligen Damenstiften umgewandelte Frauenklöster faktisch geschlossen, wobei die wenigen noch verbliebenen Insassen bis zu ihrem Tod geduldet wurden; die Güter der Kollegiatstifter wurden umgewidmet, und die Stiftsherrengemeinschaften lösten sich nach und nach auf; der Gemeindeklerus verschwand aus den Gemeinden oder passte sich den neuen Verhältnissen an; der Papstkirche weiterhin treue Gemeindeglieder scheint es nur noch wenige gegeben zu haben; mit den neuen kirchlichen Vorgaben unvereinbare altgläubige Frömmigkeitspraxis  – etwa die Feier von Privatmessen30  – war verboten und wurde unterbunden. Die Ursache für dieses rasche Verschwinden der Papstkirche war nicht nur die Kirchenpolitik des Kurfürsten, sondern auch die Abwendung weiter Teile der Bevölkerung.31 Nur im Schutz der dank politischer Rücksichtnahme fortexistierenden Domkapitel und in einigen von den Mönchen nicht gänzlich verlassenen Klöstern konnte sich die altgläubige Frömmigkeit eine Zeitlang halten, bis in den 1560er Jahren auch diese letzten Freiräume beseitigt wurden. benswirklichkeit betreffenden und dabei nach und nach auch Strukturen und Mentalitäten umprägenden Folgewirkungen nicht einen epochalen Umbruch, der die Mark Brandenburg in einer Weise verändert hat wie vielleicht nur noch die sozioökonomischen Umbrüche des 19. und 20. Jahrhunderts? 30  In der Visitations- und Konsistorialordnung von 1561 hieß es: „So werden wir auch berichtet, Das noch ahn etlichen orttern Ihn vnsern Landen vnsern hieuor außgangnen ernsten gebotten zuwidder, die Papistische winckelmessen ­ heimlich celebrirt werden sollen, Weil aber dieselbigen jhn keiner schrifft gegrundet, vnnd vor Godt ein grewel sein, Wollen wir dj hiemit gentzlich abgethan vnd abermals bej vnserer schweren straffe vnd vngnade vorbotten vnnd abgeschafft haben“ (GStAPK, I. HA, Rep. 47, Nr. 13, Faszikel „Consistorial-Ordnung 1561“, fol. 51v–52r). 31  Symptomatisch ist der Niedergang der Wilsnackwallfahrt, bei deren gewaltsam herbeigeführten Ende 1552 nur noch zwei altgläubige Kleriker niederen Ranges an der Wunderblutkirche amtierten, wo sich doch nicht lange zuvor mehr als ein Dutzend Geistliche um die zahlreichen Wallfahrer gekümmert hatte (Hartmut Kühne, In Wilsnack, in: Wunder. Wallfahrt. Widersacher. Die Wilsnackfahrt, hrsg. v. Hartmut Kühne u. Anne-Katrin Ziesak, Regensburg 2005, 105–125).

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c) Konkurrierende reformatorische Strömungen gab es in der Mark während der Regierungszeit Joachims II. nicht. Die radikale Reforma­ tion  – also Täufer, Spiritualisten und Mystiker  – mochte einige wenige Sympathisanten haben, davon aber, dass sich radikalreformatorische Vorstellungen gleich welcher Art in der Mark verbreiteten oder gar zu Gruppenbildungen führten, ist nichts bekannt. Auch die oberdeutsch-schweizerische Reformation fand während der Regierungszeit Joachims II. keine Anhänger in der Mark.32 d) Was es jedoch in der Mark gab, war eine innerlutherische Vielfalt, die zu Konflikten führen konnte. Das reformatorisch-nachreformatorische Luthertum war keine einheitliche Größe, sondern wies eine bemerkenswerte Bandbreite theologischer und frömmigkeitspraktischer Umakzentuierungen des gemeinsamen Bekenntnisses auf. Während Kurfürst Joachim II. sich vor allem an Luther und an den sich auf diesen berufenden Gnesiolutheranern orientierte, gab es in der Mark auch viele Geistliche, für die Melanchthon und der Melanchthonianismus maßgeblich waren.33 Die innerlutherische Pluralität führte zu den innerlutherischen Lehrstreitigkeiten, von denen zwei auch auf die Mark übergriffen, nämlich der Osiandrische Streit, in dem es um das Verhältnis von forensischer und effektiver Rechtfertigung ging, und der Majoristische Streit, der sich um die Frage der Heilsnotwendigkeit der guten Werke und das Verhältnis von Gesetz und Evangelium drehte. Beide Streitigkeiten zeigen, dass die kurmärkische Kirche in die Gemeinschaft der lutherischen Kirchen eingebunden war und dass der Kurfürst und seine Theologen einen konstruktiven Beitrag zur Klärung der aufgebrochenen Fragen leisteten. Die Vielfalt der Auslegungen des lutherischen Bekenntnisses blieb bestehen, allerdings machte der Kurfürst klar, welche Position er bevorzugte und dass seine organisatorischen und zeremoniellen Vorgaben für die kurmärkische Landeskirche verbindlich waren. e) Nicht nur die konkurrierenden Konfessionen und die unterschied­ lichen Auslegungen der eigenen Konfession waren ein Problem für die 32  Die Ablehnung zwinglianischer oder calvinistischer Vorstellungen durch die Kurfürsten hat nichts mit einer konkreten Gefährdung der kurmärkischen Kirche, sondern mit den Entwicklungen im deutschen bzw. europäischen Rahmen zu tun. 33  Von diesem Melanchthonianismus ist der Philippismus zu unterscheiden, der eine vom späten Melanchthon ermöglichte Annäherung an die oberdeutschschweizerische Theologie zu einer Öffnung gegenüber dem Calvinismus weiterentwickelte und deswegen auch als „Kryptocalvinismus“ bezeichnet wird. Vertreter eines solchen den Grundkonsens des nachreformatorischen Luthertums verlassenden Philippismus gab es in der Mark (anders etwa als in Kursachsen) während der Regierungszeit Joachims II. (soweit wir wissen) nicht.



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Herstellung konfessioneller Homogenität, sondern auch die deviante Volksfrömmigkeit. Es ist eine Konstante der Religionsgeschichte, dass es neben der offiziellen Religion eine inoffizielle Religiosität gibt, deren Vorstellungen und Praktiken mehr oder minder von den Vorgaben der offiziellen Religion abweichen. Diese deviante Volksfrömmigkeit ist keine eigenständige Religion und tritt auch nicht in direkte Konkurrenz mit der offiziellen Religion, vielmehr wird sie neben dieser tradiert und praktiziert und von der Bevölkerung nicht selten als notwendige und sinnvolle Ergänzung empfunden. Im 16. Jahrhundert gehörten zu dieser devianten Volksfrömmigkeit Vorstellungen von Zwischenwesen zwischen Gott und Teufel, Astrologie und Vorzeichendeutung oder die magische Beeinflussung von Welt und Mensch. Manche Vorstellungen und Praktiken verschmolzen auch mit der offiziellen Religion, etwa die Hexenfurcht, die magische Uminterpretation kirchlicher Riten oder die Astrologie, die sogar im Fürstenhaus Anklang fand.34 f) Strenggenommen nicht zum Problemfeld konfessioneller Homogenität gehört der Umgang mit den Juden, schließlich handelt es sich hier um eine andere Religion, deren Existenzrecht gerade auch im religiös ansonsten homogenen christlichen Europa grundsätzlich akzeptiert wurde. Dass es während der Regierungszeit Joachims II. Juden in Brandenburg gab, kann darum nicht verwundern und hat keine Relevanz für das Problem konfessioneller Homogenität. Interessant ist der Seitenblick auf den Umgang mit dem Judentum gleichwohl, zeigt er doch, wie lutherische Überzeugungen Einfluss auf die Politik gewinnen konnten: 1510 waren nach dem Berliner Judenprozess die letzten märkischen Juden des Landes verwiesen worden. Für dreißig Jahre gehörte Brandenburg zu den Regionen Europas, in denen es keine Juden gab. 1539 jedoch ließ Joachim  II., ­möglicherweise durch Nachrichten motiviert, dass es sich bei Berliner Judenprozess um einen Justizmord gehandelt hatte, gewiss aber mit einem handfesten fiskalischen Interesse, erst den Handel und später dann die Ansiedlung von Juden wieder zu. Das war eine Entscheidung gegen den Trend der Zeit, der nun auch im Deutschen Reich dahin ging, die ­Juden zu vertreiben. Möglicherweise war der Kurfürst dabei auch von 34  Für die Regierungszeit Joachims II. haben wir allerdings nur sehr wenige Quellen, die einen Einblick in diesen religiösen Phänomenbereich geben. Im 16. Jahrhundert finden sich überhaupt wenige Belege für deviante Volksfrömmigkeit. Offensichtlich waren die Menschen durch den Umbruch auf der Ebene der offiziellen Religion so sehr in Beschlag genommen, dass alternative Religiosität keine größere Rolle spielte. Der Mangel an Quellen hängt aber auch mit der sich erst allmählich durchsetzenden normativen Zentrierung i. S. der Reformation zusammen: Für einige Zeit dürfte die deviante Volksfrömmigkeit nicht im Fokus von Kirche und Obrigkeit gestanden haben, und es gab auch gar nicht die Mittel, erfolgreich dagegen vorzugehen.

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Luthers 1523 formulierter Überzeugung beeinflusst, dass die Christen friedlich mit den Juden zusammenleben und sie nicht durch Zwang und Gewalt, sondern durch Vertrauen auf die Überzeugungsmacht des Evangeliums für den christlichen Glauben gewinnen sollten. Jedenfalls ermöglichte der Kurfürst ein bescheidenes jüdisches Leben in der Mark, das allerdings durch rechtliche und ökonomische Restriktionen und eine möglicherweise auf Luthers judenfeindliche Spätschriften reagierende vorübergehende Ausweisung erschwert wurde. IV. Die Reformation im Kurfürstentum Brandenburg war eine lutherische Reformation und führte während der Regierungszeit Joachims II. zur Formierung einer lutherischen Konfessionskultur, die Kirche und Land tiefgreifend veränderte und langfristig prägte. Was unter Joachims beiden Nachfolgern  – Kurfürst Johann Georg (1571–1598) und Kurfürst Joachim Friedrich (1598–1608) – folgte, war die Fortsetzung dieses Weges. Die Blüte des konfessionellen Luthertums in der Mark Ende des 16. und im 17. Jahrhundert – erinnert sei nur an die Rolle Brandenburgs im Konkordienwerk in den 1570er Jahren, an den Salzwedeler Pfarrer und wirkmächtigen Erbauungsschriftsteller Stephan Prätorius (1536–1603) oder an das Wirken des Liederdichters Paul Gerhardt (1607–1676) in Mittenwalde und Berlin – und seine Selbstbehauptung gegenüber der ‚zweiten Reformation‘ Anfang des 17. Jahrhunderts verdankten sich nicht einem religionspolitischen Kurswechsel in den 1570er Jahren, sondern sie wurzelten in der Kirchenpolitik Joachims II. und vor allem in der ­dieser Kirchenpolitik vorausgehenden und sie überhaupt erst ermöglichenden Zuwendung der Märker zum evangelischen Glauben. Die Formierung der lutherischen Konfessionskultur im Kurfürstentum Brandenburg vollzog sich nicht verspätet und stockend, sondern rasch und konsequent. Der Vergleich mit den benachbarten Territorien – man denke nur an das Herzogtum Sachsen, das Hochstift Magdeburg oder die schlesischen Fürstentümer – zeigt, dass der Konfessionalisierungsprozess in Kurbrandenburg gleichzeitig zu den Entwicklungen dort und in mancherlei Hinsicht sogar schneller als dort vor sich ging und dass es in der Mark deutlich weniger Friktionen und Kompromisse als andernorts gab. Man kann das Kurfürstentum Brandenburg als ein Musterbeispiel einer nach einer längeren Inkubationsphase rasch umgesetzten und in eine lutherische Konfessionalisierung mündenden landesherrlichen Reformation sehen. V. Die Deutung der brandenburgischen Kirchengeschichte in der Regierungszeit Joachims II. (1535–1571) als Einführung der lutherischen Reformation und Gestaltwerdung einer lutherischen Konfessionskultur genügt drei Anforderungen: Sie entspricht den bekannten Quellen, sie integriert das ihr scheinbar Widersprechende, und sie bietet eine prägnante, eine bestimmte Deutungsperspektive implizierende Periodisie-



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rungsbezeichnung. Wer dieser Deutung widersprechen möchte, muss dreierlei leisten: verlässliche und aussagekräftige Quellen für eine alternative Deutung beibringen, das dieser alternativen Deutung scheinbar Widersprechende plausibel integrieren, und eine treffende Periodisierungsbezeichnung anbieten. Postscriptum Die oben gegebene Skizze sieht sich nicht nur mit dezidiert anderen Deutungen der brandenburgischen Reformation und ihrer Wirkungen von Droysen bis Nischan konfrontiert. Auch zwei neuere Forschungsbeiträge legen nahe, in der Regierungszeit Joachims II. eine Übergangsphase zu sehen, die trotz aller darauf hinführenden Entwicklungen schwerlich als Auftakt des konfessionellen Zeitalters gelten kann. Eine Auseinandersetzung mit diesen Forschungsbeiträgen, die an einigen Punkten die Skizze der Formierung einer lutherischen Konfessionskultur im Kurfürstentum Brandenburg ergänzt und vertieft und auf Probleme und Desiderata der Forschung hinweist, soll darum am Schluss dieses Beitrags stehen. Die Kontroverspunkte, um die es dabei geht, sind nicht, ob es eine Reformation gegeben hat und ob diese Reformation in eine lutherische Konfessionalisierung mündete, sondern wie die Reformation zu charakterisieren ist und wie rasch und konsequent sich die Konfessionalisierung vollzog: Ist die kirchliche Transformation im Kurfürstentum Brandenburg während des 16. Jahrhunderts angemessener im Sinne eines Entweder-Oder zwischen Papstkirche und lutherischer Reformation zu verstehen, oder handelt es sich um ein Beispiel für ein mehr oder minder lang andauerndes Sowohl-Als-Auch, bei dem wichtige Beteiligte wie Kurfürst Joachim II. oder die breite Bevölkerung nur partiell vom reformatorischen Impuls erfasst wurden und Vor- und Zwischenformen konfessioneller Überzeugungen und Praktiken ausbildeten?35 35  Die neuere Konfessionalisierungsforschung hält zwar an der für die Beschreibung des Konfessionalisierungsprozesses grundlegenden, im Verlaufe dieses Prozesses „immer mächtigere[n] Logik des Entweder/Oder“ fest, die sich in Form einer „starke[n] Dynamik der wechselseitigen Abgrenzung nach außen und zugleich der Homogenisierung nach innen entfaltete“ und dabei auf die „Kriterien Glaubensbekenntnis, Glaubenswissen und Glaubenspraxis“ zurückgriff (Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: Konfessionelle Ambiguität [Anm. 6, 9–26], hier: 11). Sie weiß aber auch darum, dass dies „nur die eine Seite der Medaille“ ist, weil es nämlich zugleich eine „religiöse Praxis der Unentschiedenheit, Vermischung und Mehrdeutigkeit“ gab, „die viel größere Beharrungs- und Widerstandskräfte aufwies, als man lange angenommen hat“ (a. a. O. 12). Diese unbestreitbar richtige Einsicht steht im Hintergrund der im Folgenden zu besprechenden Forschungsbeiträge. Was das Kurfürstentum Brandenburg angeht, ist allerdings die Frage, ob

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Für letzteres plädiert Frank Göse, wenn er mit Blick auf die Mark Brandenburg den vermeintlichen „Epochenumbruch“ der Reformation relativiert und auf die in einer „Langzeitperspektive des Wandels“ erkennbaren „Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit“ verweist.36 Mit Blick auf Joachim II. und dessen religiöse Überzeugungen und Kirchenpolitik konstatiert er eine Positionierung „zwischen lutherischer Konfessionalisierung und via media“37 und führt eine lange „Reihe von Belegen und Argumenten für die uneindeutige religionspolitische Position Joachims II.“38 an, die nicht für einen Auftakt lutherischer Konfessionalisierung Mitte des 16. Jahrhunderts im Kurfürstentum Brandenburg, sondern für einen langjährigen religiösen und kirchenpoli­tischen Mittelweg sprechen: die „zeitgenössische Wahrnehmung“ „des konfes­ sionspolitischen Kurses Joachims“, die im Kurfürsten gerade nicht den Verfechter eines konsequenten Luthertums erkannte; die „Verzahnung von Religion und Politik“, die Rückschlüsse aus dem um Vermittlung bemühten reichspolitischem Handeln auf die territoriale Religionspolitik und die persönliche Glaubensüberzeugungen des Kurfürsten möglich mache; den „ernst gemeinten persönlichen Wunsch [sc. Joachims II.] nach einer Überwindung der Kirchenspaltung“, der ihn vor einseitigen kon­ fessionellen Positionierungen abgehalten habe; das Agieren des Kurfürsten im Zusammenhang des Regensburger Reichstags 1541 und des Augsburger Reichstags 1547/48 sowie sein Umgang mit dem Interim und mit der zweiten Sitzungsperiode des Trienter Konzils, was alles seine religiös und kirchenpolitisch vermittelnde Linie zeige; die traditionalistischen Elemente der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540, die diesem Text trotz einer lutherischen Lehre einen konfessionell uneindeutigen Charakter verliehen; die spätere Kritik an der „fehlende[n] Konsequenz“ der brandenburgischen Reformation, die durchaus richtig geurteilt habe; und schließlich ganz allgemein die „lange bestehende Offenheit“ im Prozess der Konfessionsbildung, die auch für das Kurfürstentum Brandenburg gelte.39 Göses Warnung vor „polarisierenden Urteile[n] über die Kirchenpolitik Joa­chims II.“, deren Analyse mehr „von einem ‚Sowohl-alsauch‘ […] als von einem ‚Entweder-oder‘ “ profitieren könne40, finde ihre es für das 16. Jahrhundert gewichtige Belege für dieses Sowohl-Als-Auch gibt oder ob nicht das Entweder-Oder und damit die lutherische Reformation und die lutherische Konfessionalisierung das dominante Moment sind. 36  Frank Göse, Erträge und Desiderata der brandenburgischen Reformationsgeschichtsforschung, in: Reformation in Brandenburg (Anm. 1), 7–33, hier: 10 f. 37  Ebd., 12. 38  Ebd., 14. 39  Ebd., 15–20. 40  Ebd., 20.



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Bestätigung in der im letzten Jahrhundertdrittel sich vollziehenden „Spät­reformation“ unter Kurfürst Johann Georg, die Göse mit Worten von ­Albrecht Beutel als „eine entscheidende Phase […] [der] institutionellen und spirituellen Konsolidierung“ der märkischen Kirche kennzeichnet, in der es um „eine klarer fixierte Lehrmeinung und Glaubenspraxis“ gegangen,41 die aber zugleich mit den „großen Beharrungskräften im nachreformatorischen Kirchenleben“42 konfrontiert gewesen sei, die eine umfassende Durchsetzung der „seitens der Hochkirchen erhobenen Forderungen nach klar definiertem Glaubensbekenntnis und einer scharf von den anderen Kon­fessionen abgegrenzten Glaubenspraxis“43 behindert hätten. Gerade die Visitationen der 1570er und 1580er Jahre, die für Göse den unter Joachim II. erreichten Stand der kirchlichen Entwicklung der Mark zeigen, legten es nahe, „die Erfolgsbilanz einer flächen­ deckenden lutherischen Konfessionalisierung in Zweifel [zu] ziehen“.44 In einem anderen 2017 erschienen Beitrag hat Göse diese Einschätzung bekräftigt und darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der „längerfristigen Wirkungen des seit 1539 in der kurbrandenburgischen Kirche eingeleiteten Prozesses […] sich die Lage am Ende des 16. Jahrhunderts einem eindeutigen Urteil“ entziehe.45 Zwar hätten sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die neue Kirchenorganisation, das lutherische Bekenntnis und eine evangelische Gottesdienst- und Predigtpraxis etabliert, aber die Bevölkerung sei noch nicht umfassend von der „evangelische[n] Botschaft“ erreicht worden, „Kirchenleben und Frömmigkeit“ seien „nach wie vor noch durch Traditionen aus vorreformatorischer Zeit bestimmt“ geblieben, das „volksreligiöse Brauchtum“ habe „permanent Anfechtungen gegenüber der reinen Lehre“ geboten, und die „Kirchendisziplin“ habe „noch zu wünschen übrig“ gelassen.46 Mit seinen den Umbruchcharakter und den Erfolg der Reformation in Frage stellenden Ausführungen gibt Göse eine eingängige Zusammenfassung dessen, was in einem Aufsatz aus dem Jahr 2016 als „via-media41  Ebd.,

25–27. 29. 43  Ebd., 31. 44  Ebd., 32. Diese Aussage richtet sich  – ohne dass Göse das offenlegt  – gegen die sich im selben Band findende Behauptung, „dass sich bereits während der Regierungszeit Joachims II. eine lebendige lutherische Konfessionskultur in der Kurmark“ ausgebildet habe (Stegmann, Deutung und Bedeutung [Anm. 1], 82). 45  Frank Göse, Die brandenburgische Reformation, in: Bürger, Pfarrer, Professoren (Anm. 17), 86–92, hier 91. 46  Ebd., 91 f. 42  Ebd.,

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These“ kritisiert wurde47 – ein Aufsatz, dessen Neudeutung der brandenburgischen Reformation und ihrer Folgewirkungen Göse für in vielerlei Hinsicht wenig plausibel zu halten scheint. Allerdings verlieren Göses aus der Sekundärliteratur zusammengesuchte und durch oberflächliche Quellenlektüre gewonnene Argumente für die Relativierung des Umbruchcharakters der brandenburgischen Reformation und für die Bezweifelung des Erfolgs der Konfessionalisierung bei näherem Hinsehen an Überzeugungskraft. Was die religiöse Einstellung und die Kirchen­politik Joachims II. angeht, darf man sich nicht von der machtpolitischen Interessen dienenden Selbstinszenierung des Kurfürsten als Vermittlers zwischen Altgläubigen und Protestanten täuschen lassen, sondern muss sich an die Fakten halten: Joachims Selbstzeugnisse zeigen ihn als einen evangelischen Christen, und seine Religionspolitik auf territorialer Ebene und auf Reichsebene erweisen ihn als Unterstützer der Wittenberger Reformation. Mit seiner geschickten Instrumentalisierung der Politik für die Religion und der Religion für die Politik brachte der Kurfürst in seinem Herrschaftsbereich 1539/40 eine Kirchenerneuerung auf den Weg, die sich eng an die Wittenberger Reformation anlehnte und die binnen weniger Jahre eine evangelische Landeskirche mit einer aufblühenden lutherischen Konfessionskultur etablierte. Er vermochte diese Kirchenerneuerung gegen alle Gefährdungen von außen zu schützen und dabei seine landesherrliche Macht, seinen Einfluss als Reichsfürst und die Bedeutung der Hohenzollerndynastie zu steigern. Dass die Zeitgenossen zu sehr unterschiedlichen Urteilen über diesen Kurfürsten und seine Kirchenpolitik kamen, lässt sich vielfach belegen, wobei ihnen ab dem Ende der 1530er Jahre klar war, dass man es mit einem Unterstützer der Reformation zu tun hatte.48 47  Andreas Stegmann, Die „christliche Reformation“ im Kurfürstentum Brandenburg. Mittelweg zwischen Rom und Wittenberg oder lutherische Reformation?, in: Theologische Literaturzeitung 141 (2016), 578–591. 48  Als ein Beleg sei der Brief König Sigismunds von Polen an Kurfürst Joachim II. vom 25. April 1541 angeführt, in dem der König seinen Schwiegersohn an das Recht seiner Tochter zur freien Religionsausübung „iuxta ritum sanctae ecclesiae Romanae, in quo […] ipsa a nobis educata“, erinnert und die Einstellung eines neuen papstkirchlichen Hofgeistlichen für Hedwig einfordert, weil der vorige wegen Krankheit seinen Dienst nicht mehr tun könne (GStAPK, I. HA, Rep. 9 Polen, Nr. 10B, fol. 12r). In Krakau wusste man demnach, dass das Kurfürstentum Brandenburg nicht mehr zur Heiligen Römischen Kirche gehörte und dass der Kurfürst der Verantwortliche für diese aus altgläubiger Sicht sowohl schismatische als auch häretische Absonderung war (vgl. den Briefwechsel zwischen Kurfürst und König im Vorfeld der Einführung der Reformation 1539: GStAPK, I. HA, Rep. 78, Nr. 12a; Archiwum Główne Akt Dawnych Warschau, Metryka Koronna, Libri Legationum, Nr. 8, fol. 132r–134r, fol. 134r–135v, fol. 135v–139r).



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Zweifel über die religiöse und politische Parteinahme des Kurfürsten für die Sache der Reformation gab es  – abgesehen von einer kurzen Phase während des Jahrs 1548, als Joachim II. gezwungen war, das Interim zu unterstützen  – nicht mehr, wohl aber Vorbehalte auf der evangelischen und Hoffnungen auf der papstkirchlichen Seite angesichts der von besonderen religiösen und politischen Interessen mitbestimmten Ausgestaltung der Reformation im Kurfürstentum Brandenburg. Auch Göses Relativierung des frömmigkeitsgeschichtlichen Umbruchs kann nicht überzeugen. Zu seinen Aussagen über das Weiterwirken vorreformatorischer Traditionen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts – er weist auf die liturgische Kleidung, die Heiligenfeste, das Fronleichnamsfest oder die Prozessionen hin  – ist zu bemerken, dass diese entweder unzulässig vereinfachend oder schlicht irreführend sind und dass an einigen Punkten Forschungsbedarf besteht. Es ist misslich, dass Göse bei dem für seine Sichtweise grundlegenden Zitat zur Zeremonienfrage aus der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 zwei entscheidende Präzisierungen auslässt: Im Text der Ordnung heißt es nicht einfach, dass „die Zeremonien, so ‚bisher in ubung geblieben […], in kirchen unserer lande gehalten werden, denn die leute solcher mehr gewonet und desterweniger geergert oder verirret werden‘ “ (so die Wiedergabe bei Göse), sondern: „So ist auch vnser gemüt vnd meinung / Das die Ceremonien so an jnen selber reine sein / vnd bisher in vbung geblieben / Dauon diese vnsere Ordnung meldung thut in Kirchen vnserer Lande / gehalten werden / Denn die Leute solcher mehr gewonet / vnd desterweniger geergert / oder verjrret werden“.49 Sprich: Die überkommenen Zeremonien bleiben, um die Gemeinden nicht zu beunruhigen  – aber unter zwei Bedingungen: Wenn sie theologisch legitim und wenn sie in der Kirchenordnung enthalten sind. Konkret hieß das, dass nicht einfach die Tradition fortgeführt, sondern dass das kirchliche Leben mit seinen zeremoniellen Vollzügen umfassend im Sinne der Wittenberger ­ Reformation umgestaltet wurde, wobei das teilweise Festhalten am ­ Überkommenen nicht über den Bruch gerade auch in diesem Bereich ­ hinwegtäuschen kann. Die von Göse angeführte Aussage über die Zeremonien belegt also gerade das Gegenteil von dem, was er in sie hinein49  Kirchen Ordnung (Anm. 15), 3. Hauptteil, fol. A 4v. Dieser Abschnitt wurde von Fürst Georg III. von Anhalt konzipiert, der hier seine reformatorische Auffassung vom Verhältnis von Rechtfertigungsglauben und Zeremonien darlegt, die Kurfürst Joachim II. teilte und deshalb ohne Änderungen in seine Ordnung übernahm. Diese durchdachte Verhältnisbestimmung und ihre praktische Anwendung in den ­Regelungen der Kirchenordnung zeigen bei näherem Hinsehen, dass die Kirchenordnung weit weniger traditionalistisch und konservativ ist, als die lange Zeit vorherrschende Fehldeutung dieser Ordnung behauptet.

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liest. Gleiches gilt für seine Bemerkung zu den Aussagen des Perleberger Visitationsabschieds von 1558 über die liturgische Kleidung, die auf einem Missverständnis der Quelle zu beruhen scheint.50 Tatsächlich schrieb 50  Göse behauptet, bei der Visitation 1558 habe „die Verwendung von ‚Chor­ röcken und anderen Kirchenkleidern‘, die nicht der neuen Kirchenordnung entsprachen“ „Anstoß“ erregt (Göse, Die brandenburgische Reformation [Anm. 45], 92), was er als Indiz für „das Festhalten der Pfarrer an alten Gewohnheiten beim Predigen, Taufen und bei der Abendmahlsfeier“ und damit als Beleg für das Bestimmtsein von „Kirchenleben und Frömmigkeit […] durch Traditionen aus vorreformatorischer Zeit“ (ib.) wertet. Tatsächlich aber schärften die Visitatoren in Perleberg – und ähnlich in anderen Städten der Prignitz, für die der Perleberger Visitationsabschied als Vorlage diente  – die Geltung der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 ein: „also das sich der pfarrer, prediger, caplann, schulmeister sampt seinenn gesellen vnd andern kirchendienern alhie nachmals inn predigenn, tauffen, sacramentreichung, kirchenampten mit dem circuitu vnd ceremonien, auch mesgewande, korrocken vnnd andernn kirchenkleidernn sollen berurtter christlichen ordnung gentzlichen vorhaltten“ (Die brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und -Register des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Bd. 1: Die Prignitz, hrsg. v. Victor Herold, Berlin 1931, 311). Der Visitationsabschied weist auch auf die in Perleberg wie in vielen anderen märkischen Gemeinden zu findenden Abweichungen von den Vorgaben der Kirchenordnung hin, die allerdings nicht in einem Festhalten an vorreformatorischen Traditionen, sondern im Abstreifen der von der Brandenburgischen Kirchenordnung noch beibehaltenen Traditionen und in der stärkeren Orientierung an der Wittenberger Reformation bestehen. So schärfen die Visitatoren in der Prignitz ein: „So soll auch der pfarrer vnd caplan, wenn sie das ampt haltten, die epistelnn vnd euangelia in der altten gewonlichen melodei vormuge gedachter kirchenordnung latinisch singenn vnd dan hernach vmb der einfelttigen willen deutzsch vorlesen, desgleichenn sol die eleuation des hochwirdigenn sacraments in der messe pleibenn vnd nicht abgethann werden“ (ebd.). Einen Einblick in die in den Gemeinden virulente Kritik an diesen Zeremonien gibt die Mitschrift eines theologischen Gesprächs im Zusammenhang der Rathenower Visitation im selben Jahr (SBBPK, Ms. Boruss. fol. 31, fol. 13r–18r), bei dem der dortige Pfarrer die in der Kirchenordnung beibehaltenen Zeremonien kritisiert und Agricola diese verteidigt. Wenn es sich bei diesem Rathenower Pfarrer um Christoph Enzelt und bei seinem am Gespräch teilnehmenden Kollegen um Lukas Heidehahn gehandelt hat, dann hatte das Streitgespräch mit dem Generalsuperintendenten keine negativen Folgen für die beiden Geistlichen, stieg Enzelt doch unmittelbar darauf zum Pfarrer und Superintendenten in Osterburg in der Altmark auf, wo er seine berühmte Altmark-Chronik verfasste (zu ihm: Lothar Noack, Art. Entzelt (Encelius von Salvelt), Christoph, in: Noack, Splett, Bio-Bibliographien [Anm. 25], 112–117; Uwe Czubatynski, Evangelisches Pfarrerbuch für die Altmark, Rühstädt 22006, 129), und amtierte Heidehahn bis nach 1589 als Pfarrer im Kloster Neuendorf in der Altmark (Czubatynski, Evangelisches Pfarrerbuch für die Altmark, 145). Beide waren also weiter in der kurbrandenburgischen Landeskirche tätig und unterzeichneten 1581 auch das Konkordienbuch (Czubatynski, Evangelisches Pfarrerbuch für die Altmark, 270). Die abschließende Feststellung in der angeführten Gesprächsmitschrift („quoniam pastor illam se­ruare prorsus recusaverat […] ex munere et officio suo est eiectus“) ist darum schwerlich zutreffend, wie etwa in unkritischer Übernahme dieser Be-



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die Brandenburgische Kirchenordnung vor, die übliche liturgische Kleidung weiterzunutzen, wie es auch in anderen lutherischen Territorien üblich war. Die Marien- und Heiligenfeste, die ebenfalls als Indiz für das Fortwirken mittelalterlicher Traditionen herangezogen werden, gehörten im frühneuzeitlichen Luthertum  – allerdings in reduziertem Umfang  – neben den das Kirchenjahr strukturierenden Christusfesten ganz selbstverständlich zum Festkalender.51 Entscheidend ist dabei nicht, dass es hauptung Felix Engel, Die Reformation in den Städten der Mark Brandenburg, in: Reformation in Brandenburg (Anm. 1), 135–158, hier 155, suggeriert. Überhaupt gibt es in den Quellen kaum belastbare Hinweise darauf, dass Geistliche auf Initiative des Kurfürsten oder der kirchenleitenden Organe ihre Stelle verlassen mussten. In den bekannten Fällen – etwa Christoph Lasius in Spandau Mitte der 1550er Jahre oder Johannes Musculus in Frankfurt Ende der 1560er Jahre  – scheint die Ausweisung auch nicht mit dem Widerstand gegen die kurfürstliche Kirchenpolitik zusammenzuhängen, sondern mit konkreten justiziablen Vergehen. 51  Die Gesamtzahl der kirchlichen Feiertage, die in der Brandenburgischen Kirchenordnung vorgeschrieben werden, ist nicht „fast 30 im Jahr“ (Göse, Die brandenburgische Reformation [Anm. 45], 92, Anm. 14), sondern genau 35. Dass sich hinter dieser Auflistung von 35 Festtagen eine starke Reduktion des mittelalter­ lichen Festkalenders und eine reformatorisch inspirierte Konzentration auf das biblisch-rechtfertigungstheologische Zentrum des christlichen Glaubens verbirgt (so deutet Joachim II. in den 1560er Jahren selbst das Kirchenjahr: VD16 B 8127, fol. a 4v–5r), zeigt die quantitative Aufschlüsselung der Feste: Im Zentrum stehen die Christusfesttage (Weihnachten, Beschneidung, Ostern, Himmelfahrt) und das dreitägige Pfingstfest, die an das für den Glauben grundlegende Geschehen der Heilserbringung und Heilszueignung erinnern (25,7 %). Daneben gibt es drei auf dem biblischen Zeugnis beruhende Marienfeste (8,6 %) sowie 15 in neutestamentlichen Texten belegten Personen (einschließlich des Erzengels Michael) gewidmete Feste (42,9 %), die mittelbar auch Christusfeste sind. Zwar nicht unmittelbar aus der Bibel ableitbar, aber auf ihren Lehrgehalt bezogen sind die beiden „dogmatischen“ Feste zur Trinitäts- und Realpräsenzlehre (5,7 %) sowie das von der Bibel her neu verstehbare Allerheiligenfest (2,9 %), die sich ebenfalls als Christusfeste auffassen lassen. An aus der Bibel nicht ableitbaren, auf legendarischen Traditionen beruhenden Festen bleiben zwei Marienfesttage (5,7 %: „Der tag Assumptionis Marie“ am 15.8. und „Der tag Natiuitatis Marie“ am 8.9.) sowie drei Festtage für nachbiblische Persönlichkeiten (8,6 %: „Der tag Laurentij“ am 10.8., „Der tag Martini“ am 11.11. und „Der tag Katherine“ am 25.11.). Zu beachten ist, dass die Festliste der Kirchenordnung unvollständig ist: Es fehlen die in den folgenden Abschnitten der Ordnung behandelten Festtage der Karwoche und der Kreuzwoche (etwa der Gründonnerstag, der Karfreitag oder der Markustag), die strenggenommen auch in die Liste hätten aufgenommen werden müssen und den Anteil der nichtbiblischen Feste noch einmal reduzieren. Wie stark die Reduktion gegenüber der Tradition ausfiel, zeigt auch der an der Cöllner Stiftskirche bis zum Jahrhundertende geltende Festkalender mit seiner Vielzahl an Festtagen (mitsamt deren Oktaven), unter denen auch viele waren, deren biblisch-christologischer Bezug nicht auf den ersten Blick klar war (GStAPK, I. HA, Rep. 2, Nr. 1, fol. 114– 129). Was Göse (ebd.) mit seiner Andeutung einer in vor- und (!) nachreformatori-

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weiterhin Marien- und Heiligenfeste gab, sondern wie sie begründet, verstanden und gefeiert wurden. Blickt man auf die für das Kurfürstentum Brandenburg bekannten Quellen, so bestätigen diese das Neuverständnis dieser Feste, die als Erinnerung an Glauben und Leben vorbildhafter biblischer Persönlichkeiten begangen wurden. So umgedeutet konnte auch das Allerheiligenfest beibehalten werden, für dessen Feier Generalsuperintendent Musculus in den 1550er Jahren die traditionelle Bibellesung Mt. 6,1–12 vorschlug, dessen Botschaft er aber in seinem für diesen Festtag bestimmten Gebet ganz auf den Erlöser Christus konzentrierte, der Petrus und Paulus im Schiffbruch ihres Glaubens gerettet habe  – die Heiligen sind also Vorbilder in ihrem Angewiesensein auf den Erlöser und nicht in ihrem mustergültigen Handeln  – und so auch die zum Allerheiligenfest versammelten Christen in ihren Glaubensnöten retten solle.52 Über das im Kurfürstentum Brandenburg während der Regierungszeit Joachims II. gefeierte Fronleichnamsfest wissen wir nahezu nichts. Dass es bei ihm nicht mehr um die Adoration des in der Hostie leiblich realpräsenten und in einer Sakramentsprozession öffentlich ausgestellten Christus, sondern um das feierliche Bekenntnis zum während der Abendmahlsfeier in den Abendmahlselementen gegenwärtigen Christus ging, legen unterschiedliche Quellen nahe.53 Ob und in welcher Form es im Kurfürstentum Brandenburg scher Zeit starken Annenverehrung meint, ist nicht klar. Während es für das späte Mittelalter durchaus einige Belege für eine Verehrung der ‚Modeheiligen‘ Anna in der Mark gibt  – allerdings nicht in derselben Breite wie für andere Regionen Deutschlands –, fehlen für die Zeit nach den 1530er Jahren Hinweise darauf. 52  Andreas Musculus, Euangelia auff alle Fest vnd Sontag / mit schoenen andechtigen / vnd Christlichen Gebetlein der heiligen alten Leerer / vnd Merterer, Frankfurt (Oder) 1554 (VD16 ZV 5561), fol. S 6v–S 7v. 53  So ist kaum vorstellbar, dass der Kurfürst sich über die bei der Begutachtung des Entwurfs der Brandenburgischen Kirchenordnung vom November 1539 geäußerte Kritik der Wittenberger Theologen an traditionellen Praktiken der Sakramentsverehrung hinwegsetzte. Die Brandenburgische Kirchenordnung von 1540 behält den Fronleichnamstag mit der Umdeutung zum „tag Corporis Christi“, an dem es um die Realpräsenz gehen soll und nicht um die Adoration des Sakraments extra usum, bei. In der Kirchenordnung von 1572 führt das dann dazu, dass der Fronleichnamstag als „tag Coenae Domini“ benannt wird. Wie dieser Tag gefeiert werden konnte, zeigen die liturgischen Ordnungen von Matthaeus Ludecus aus späterer Zeit (Missale, Hoc est cantica, preces et lectiones sacrae, quae ad missae officium, ex pio primaevae Ecclesiae instituto, in templis Christianorum, cantari usitate solent […]. Prior Pars De Tempore, Wittenberg 1589, VD16 L 3183, fol. 244v–248v; Das Vesperale et Matutinale des Havelberger Domdechanten Matthaeus Ludecus. Nachdruck eines lutherischen Offizienbuches von 1589, hrsg. v. Andreas Odenthal, Bonn 2007, 273–282). In Ludecus’ Missale findet sich eine interessante Randbemerkung zur Transsubstantiationslehre, die zeigt, wie traditionelle Formen neu verstanden und darum beibehalten werden konnten (a.  a.  O.



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Prozessionen anlässlich dieses Festes gab, lässt sich nicht genauer sagen54. Die Behauptung, „dass sich in einigen brandenburgischen Landschaften auch noch viele Jahre nach der Reformation die Fronleichnamsverehrung inklusive der Prozessionen am Fronleichnamstag eines gewissen Zuspruchs“ erfreute55, ist an den derzeit bekannten Quellen nicht belegbar. Man sollte, um Missverständnisse zu vermeiden, besser nicht vom ‚Fronleichnamsfest‘ sprechen oder zumindest auf den Unterschied zwischen dem traditionellen Fronleichnamsfest und dem evangelisch umgedeuteten Realpräsenzfest hinweisen. Was die Prozessionen im Allgemeinen angeht, so sind die Aussagen in der Kirchenordnung von 1540 nicht ganz klar, vor allem was die mit dem sonntäglichen Hauptgottesdienst in Verbindung stehende Prozession angeht.56 Wie spätere Quellen zeigen, gehörten der „circuitus“ bzw. „umgang“ noch längere Zeit zum kirchlichen Leben dazu, vor allem an hohen fol. 246v), und in seinem Offizienbuch bemerkt er zum Fronleichnamsfest, das dieses mit den hergebrachten Gesängen gefeiert werden könne, „cum in nostris Ecclesijs repurgatis sublato abusu verus usus remanserit, & doctrina de coena Domini hoc die pro concione tractetur“ (a. a. O. 273). 54  Im Zusammenhang mit dem Hauptgottesdienst an diesem Tag könnte es Prozessionen gegeben haben. Dabei handelte es sich dann allerdings nicht um in den Stadtraum ausgreifende Sakramentsprozessionen, sondern um die üblichen, auf den Innenraum der Kirche beschränkten oder um die Kirche herumführenden Ein- und Umzüge der Kleriker (möglicherweise mit Beteiligung der Gemeinde). 55  Göse, Reformation in Brandenburg (Anm. 45), 92. 56  Im Zusammenhang der Ordnung des Hauptgottesdiensts finden Prozessionen keine Erwähnung. Bei den liturgischen Ordnungen für die Karwoche und die Osterfesttage heißt es dann allerdings: „Aber der Sonteglich Circuitus / mit einem reinen Responsorio / oder anderm gesange / wie es die zeit gibt / vnd mit nachlassung obbemelter misbreuch sol bleiben“ (Kirchen Ordnung [Anm. 15], 3. Hauptteil, fol. Z 2r), was auf eine Beibehaltung von Prozessionen im Zusammenhang des Hauptgottesdiensts hindeutet. So verstehen auch Nikolaus Müller, Zur Geschichte des Gottesdienstes der Domkirche zu Berlin in den Jahren 1540–1598, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 2/3 (1906), 337–549, hier 480, und Bernhard Klaus, Die evangelische Messe in der Mark Brandenburg nach der Einführung der Kirchenordnung Joachims II. 1540, Diss. theol. Friedrich-WilhelmsUniversität Berlin 1941, 83–85 (vgl. die Übersichten nach 148), die Stelle, wobei Müller in nicht ganz unproblematischer Weise von der Sondersituation an der Cöllner Stiftskirche auf die märkische Kirche insgesamt schließt, während Klaus bei der Frage nach der Verbreitung solcher Prozessionen mit Recht skeptischer ist. Nicht die Cöllner Stiftskirche dürfte der Normalfall gewesen sein, sondern die Spandauer Nikolaikirche, wo es während der 1540er Jahre keine Prozessionen mehr gegeben zu haben scheint und wo der Pfarrer in der Interimszeit die von der Kirchenordnung vorgeschriebenen Prozessionen wiederaufnahm (Bericht des Brandenburger Pfarrers Andreas Hügel über die Vorladung der Vertreter von Altund Neustadt Brandenburg zur Verkündung des Interims am 10. Februar 1549 aus dem Jahr 1556: VD16 F 1354, 550 und 562, vgl. 559).

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Festtagen, wohl aber auch an Sonn- und Feiertagen.57 Allerdings dürften Prozessionen nur an wenigen Orten – wie etwa der Cöllner Stiftskirche – zahlreich und prächtig ausgestaltet gewesen sein und auch nur in ­Ausnahmefällen aus dem Bereich des Kirchengebäudes hinaus in den öffentlichen Raum geführt haben. Angesichts des für Prozessionen nötigen Personals und der liturgischen Anforderungen waren aufwendige Prozessionen in der normalen märkischen Stadt- oder Dorfkirche unter den durch die Reformation veränderten Bedingungen schwerlich zu realisieren. Zudem dürfte es Vorbehalte von Seiten der Pfarrer und Gemeindemitglieder gegeben haben. Nikolaus Müllers Angaben zu diesem Thema58, die vermittelt über Zeeden im Hintergrund von Göses Ausführungen stehen dürften und die auf den exzeptionellen Verhältnissen an der Cöllner Stiftskirche basieren, lassen sich kaum verallgemeinern. Es stellt sich im Übrigen auch die Frage, ob diese Prozessionen ein Fortleben mit der Reformation in Spannung stehender vorreformatorischer Tradition belegen: Ist die brandenburgische Reformation nicht eher ein Beispiel für die Fortführung dieser Traditionen unter neuen Voraussetzungen und in veränderten Formen  – nunmehr als Ausdrucksgestalt einer evangelischen Frömmigkeit? Auch was die anderen von Göse angeführten Relativierungen des Erfolgs der Reformation in der Mark Brandenburg angeht  – er weist auf die mangelnde Breitenwirkung der evangelischen Verkündigung, auf die Fortdauer devianter Volksreligiosität und auf die unzureichende Kirchendisziplin hin  –, ließen sich kritische Rückfragen stellen. Allerdings sind diese drei Problemfelder von der Forschung bislang kaum behandelt worden, so dass sich vorschnelle Urteile verbieten.59 Die bislang be57  Siehe den oben Anm. 50 zitierten Perleberger Visitationsabschied oder die beiläufige Erwähnung von Prozessionen in der Visitations- und Konsistorialordnung von 1561 (GStAPK, I. HA, Rep. 47, Nr. 13, Faszikel „Consistorial-Ordnung 1561“, fol. 17r, 51r). 58  Müller, Zur Geschichte des Gottesdienstes der Domkirche zu Berlin (Anm. 56), 469–511. Müllers Arbeiten zur Geschichte der Cöllner Stiftskirche im 16. Jahrhundert bedürfen kritischer Rezeption. Was die Liturgie dort während der Regierungszeit Joachims II. angeht, so muss Müller bei seiner Rekonstruktion auf die vorbildhaften Ordnungen des Stifts in Halle zurückgreifen und aus verstreuten Hinweisen Schlussfolgerungen ableiten, weil es an liturgiegeschichtlichen Quellen für die Cöllner Stiftskirche für die 1530er bis zu den 1560er Jahren mangelt. 59  Zu nennen sind hier vor allem die auf umfangreichen Vorarbeiten beruhenden Monographien von Lieselott Enders (Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1992; Die Prignitz. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Potsdam 2000; Die Altmark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft in der Frühneuzeit, Berlin 2008) und Jan Peters (Märkische Lebenswelten. Gesell-



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kannten Fakten, etwa über Hexerei- und Zaubereiprozesse oder über die ­Verbreitung religiöser Devianz und moralischen Fehlverhaltens, deuten nicht darauf hin, dass es während der Regierungszeit Joachims II. in dieser Hinsicht besondere Probleme gab. Zudem zeigen die Kirchenund Polizeiordnungen sowie die Visitations- und Gerichtsakten nicht nur das Zurückbleiben der kirchlichen Wirklichkeit hinter dem religiösen Anspruch, sondern auch das ständige Bemühen um die Durchsetzung dieses Anspruchs gegenüber der Wirklichkeit. Erhebliche Widerstände dagegen scheint es in Brandenburg nicht gegeben zu haben, und mit einem gewissen Maß an Widerständigkeit und Eigensinn, ja an religiöser und ethischer Abweichung von der kirchlichen Norm muss man stets rechnen, gehört das doch von den Anfängen der Kirche an zur Christentumsgeschichte dazu und wussten gerade auch die Reformatoren und ­ihre Nachfolger darum, dass das Evangelium stets mit der Welt konfrontiert war, und zwar gerade auch da, wo sich die Reformation durchsetzte.60 Unterstützung findet Göses auf eine Verteidigung der via-media-These  hinauslaufende Sichtweise in einem Forschungsbeitrag von Mathis ­Leibetseder, der sich mit den „kurfürstliche[n] Positionierungen im religiösen Feld des 16. Jahrhunderts“ beschäftigt.61 Diese seien „wenig innovationsfreudig“ gewesen, hätten „sich innerhalb der Parameter bestimmter, Heilsgewissheit verbürgender, ‚normativ zentrierter‘ spätmit-

schaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack, Prignitz 1500–1800, Berlin 2007). 60  Um es mit Worten Luthers zu sagen, die sich in der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1572 finden und die das Wissen um die bleibende Herausforderung durch religiöse und ethische Abweichungen von der religiösen Norm bezeugen: „Wenn ein Regiment köndte allen Sünden wehren, so wird dennoch die Erbsünde, die quelle aller sünden, sampt dem Teuffel (dauon die Jura nichts wissen) müssen bleiben, welchen man mus jmmer auffs new wehren, so viel es müglich ist. Darumb kan die welt nicht sein ohn wucher, ohn geitz, ohn hohmut, ohn hurerey, ohn ehebruch, ohn mord, ohn stelen, ohn Gotteslesterung, vnd allerley sünden, sonst were sie nit Welt, vnd müste Welt ohn Welt, Teuffel ohn Teuffel sein“ (VD16 C 4778, fol. 38v–39r). 61  Mathis Leibetseder, Kurfürst und Konfession. Der Gottesdienst vom 1.  November 1539 als Teil  kurfürstlicher Positionierungen im religiösen Feld des 16. Jahrhunderts, in: Reformation in Brandenburg (Anm. 1), 93–112. Zu der in diesem Aufsatz vorgeschlagenen Erklärung der Terminwahl des ersten offiziellen evangelischen Abendmahls im Kurfürstentum Brandenburg sowie zu der darin entwickelten Bestimmung von Ort und Umständen dieses Abendmahls: Andreas Stegmann, Wo fand das erste offizielle evangelische Abendmahl im Kurfürstentum Brandenburg statt?  – Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion im Reformationsjahr 2017, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 86 (2017), 35–50.

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telalterlicher Frömmigkeitspraktiken“ bewegt und könnten deshalb als „vorkonfessionell“ charakterisierten werden.62 Wenn es zutrifft, dass die religiöse Haltung Joachims II. als vorkonfessionell zu bestimmen ist, dann fragt es sich angesichts von dessen überragenden Bedeutung für die kirchliche Entwicklung der Mark, ob überhaupt die Rede von den Anfängen lutherischer Konfessionskultur in seinem Herrschaftsbereich während seiner Regierungszeit sein kann. Dieser Zweifel wird auch nicht von Leibetseders Behauptungen zerstreut, dass die „Reorganisa­ tion des kurmärkischen Kirchenwesens zweifelsohne lutherischen Zuschnitts“ gewesen und „der via-media-These“ nicht „das Wort zu reden“ sei.63 Denn diese Behauptungen stehen in Spannung zu seiner Einschätzung der Religiosität des Kurfürsten und zu den von ihm gegebenen Hinweisen auf deren Auswirkungen auf die Umgestaltung der kurmärkischen Kirche. Wer allerdings die von Leibetseder beigebrachten Belege für Joachims vorkonfessionelle Haltung in den Blick nimmt, bemerkt, dass sich diese Quellen auch anders lesen lassen, ja, dass sie eine gegenteilige Einschätzung nahelegen. Leibetseder belegt seine These vor allem am Beispiel der Abendmahlsfrömmigkeit Joachims II.: Diese habe zwar einerseits den Anschauungen der Wittenberger Reformation entsprochen, etwa hinsichtlich der auch für den Kurfürsten selbstverständlichen Kommunion sub utraque specie, andererseits sei Joachims „Umgang mit dem Sakrament ein Differenzmerkmal zwischen Berlin und Wittenberg“, was die vom Kurfürsten festgehaltene Überzeugung einer leiblichen Realpräsenz extra usum erweise, in der sich die „Bewahrung […] kirchlicher Tradi­ tionsbestände“ durch den Kurfürsten zeige und die zu aus Wittenberger Sicht so fragwürdigen Praktiken wie dem „Aufbewahren, Herumtragen und Anbeten“ des konsekrierten Brots habe führen können.64 Das Nebeneinander von traditionalistischen und reformatorischen Einflüssen lasse sich an der Elevation verdeutlichen: Joachim II. habe diese dank Luthers Gründonnerstagspredigt von 1521 als auch aus reformatorischer Sicht akzeptabel bewerten gelernt, sich aber der späteren, im Zeichen konfessioneller Diastase stehenden Distanzierung des Luthertums von der Elevation nicht angeschlossen, habe also eine traditionelle und neue Momente verbindende, noch nicht von dem religiösen Entweder-Oder überschattete Haltung eingenommen, die eben als vorkonfessionell charakterisiert werden könne.

62  Leibetseder,

Kurfürst und Konfession (Anm. 61), 111. 112. 64  Ebd., 108–111. 63  Ebd.,



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Die gedrängte Darstellung Leibetseders vermag allerdings im Einzelnen wie im Ganzen nicht zu überzeugen.65 Die in der Brandenburgischen 65  Zwei Anfragen, die die inhaltliche Auseinandersetzung nicht unmittelbar betreffen, gelten den von Leibetseder herangezogenen Quellen. Zum einen ist hinsichtlich der Datierung und damit der Kontextualisierung des von ihm zitierten Memorandums Joachims II. für den Kaiser (GStAPK, I. HA, Rep. 13, Nr. 2, Fasz. 1, fol. 26r–29v) zu bemerken, dass die auf dem vorangehenden losen Blatt (a. a. O. fol. 25r) sich findende Betitelung „Copia obligationis, factae in Castris Caesarianis, ad Witebergam. Anno 1547“ sekundär ist und inhaltlich besser zum vorangehenden Aktenstück, der Erklärung des Kurfürsten vom 1.  Juni 1547 (GStAPK, I. HA, Rep. 13, Nr. 2, Fasz. 1, fol. 21r.22r), passt. Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Kurfürst bereits im Wittenberger Feldlager in religionspolitische Verhandlungen mit dem Kaiser eintrat oder sich darauf vorbereitete (vgl. die auf dem 14. Juni 1547 datierte kurfürstliche Instruktion für die Unterhandlungen des Gottfried v.  Kanitz mit dem Kaiser, die keine solchen Verhandlungspunkte benennt: ­­Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Staatenabteilung, Brandenburgica, Karton 2, fol. 280–283). Das Memorandum, das weder datiert ist noch eine Aussage über den Urheber und den Adressaten macht, gehört seinem Inhalt nach vielmehr in die Verhandlungen des Augsburger Reichstags 1547/48, wobei es nach der kurfürstlichen Instruktion (28.8.1547, GStAPK, I. HA, Rep. 10, Lit. H, Fasz. C, fol. 13–22) und wahrscheinlich auch erst nach der Anreise des Kurfürsten Ende Oktober 1547 entstanden sein dürfte, aber wohl vor dem Memorandum vom Januar oder Februar 1548 (Konzept: GStAPK, I. HA, Rep. 13, Nr. 2, Fasz. 1, fol. 30–37; zeitgenössische Abschrift: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 10024, Geheimer Rat [Geheimes ­Archiv], Loc. 10186/3, fol. 66–70). Allen drei Texten gemeinsam ist das Bemühen des Kurfürsten, sich die religionspolitischen Handlungsspielräume zu erhalten und die brandenburgische Reformation abzusichern, indem er eine auch im Interesse der protestantischen Reichsstände liegende Verhandlungslösung propagiert und den Kirchenreformen in seinem Herrschaftsbereich eine für den Kaiser akzepta­ble Deutung zu geben versucht. – Zum anderen ist zu den Zitaten aus dem Briefwechsel zwischen Kurfürst Joachim II. und seiner Mutter zu bemerken, dass sich die eigentliche Kritik Elisabeths an der kurfürstlichen Religionspolitik in dem Schriftwechsel von Ende Mai 1545 findet (Brief an Joachim II. vom 20. Mai 1545: GStAPK, BPH Rep. 29, T 1, Bd. 2, Fasz. 3, Bogen mit den ausradierten Blattzahlen 187 und 188; Teilabdruck: Adolph Friedrich Riedel, Die Kurfürstin Elisabeth von Brandenburg in Beziehung auf die Reformation, in: Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde [1865], 65–100, hier 94). Der Kurfürst antwortet auf die Kritik seiner Mutter am 26. Mai 1545 mit einer die grundlegenden Gemeinsamkeiten mit der Wittenberger Reformation benennenden Rechtfertigung (Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. C, Nr. 40, fol. 51r–53v, Ausfertigung, Beilage zu Joachims Brief an seine Mutter: fol. 50r/v; Teilabdruck aufgrund des Konzepts in den Akten des GStAPK, BPH, Rep. 29, T 1, Bd. 2, Fasz. 3, Bögen mit den ausradierten Blattzahlen 189–192: Riedel, Die Kurfürstin Elisabeth [s. o.], 94–96). Deren zentraler Passus besagt, dass der Kurfürst mit der Wittenberger Kirche „in den hauptarticuln des glaubens, der lehr der justification vnd brauchs der hochwirdigen sacramente […] einig [sei]. Wie wir auch unsere kirchenordnung mit jrem [sc. der Wittenberger Theologen] rath stellen vnd, ehe sie ausgangen, durch sie reuidiren lassen. Das wir nun in allem brauch der ceremonien mit jnen nit gleichmessig sein,

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Kirchenordnung beibehaltene Elevation66 ist gerade nicht mit der von Luther propagierten vergleichbar, weil die Elevation in Brandenburg mit großer Wahrscheinlichkeit nach wie vor mit dem Rücken zur Gemeinde geschah, was Luther ablehnte, weil er – wie die Gründonnerstagspredigt von 1521 zeigt – die Elevation zu einem an die Gemeinde gerichteten Verkündigungsgeschehen umdeutete und ihr damit den Anschein des Opferritus nehmen wollte. Um diese Handlungsrichtung – das Abendmahl galt Luther als Heilsgabe Gottes an die Gemeinde statt als Opferhandlung der Kirche für Gott – nicht durch den als missverständlich empfundenen Akt der Erhebung der konsekrierten Hostie zu verdecken und den Unterschied zum römischen Katholizismus auch rituell klarer zu markieren, verschwand die Elevation nach und nach aus dem lutherischen Gottesdienst.67 Im Kurfürstentum Brandenburg wurde die traditionelle Elevation dagegen beibehalten und immer wieder die Befolgung der entsprechenden Vorgaben der Kirchenordnung eingeschärft. Um deutlich zu mairret ye die hauptarticul nit, davon auch rein und lauter gepredigt wirdet vnd genugsamer bericht beschieht. So seind wir auch desfals mit dem brauch der ceremonien so wenig an die wittenbergische als an die romische kirche gebunden. Vnd sein doch bey den alten an etlichen orten vnd landen die ceremonien auch nit gleich gehalten worden. Vnd do sie der hauptarticul einig gewesen, haben sie die ceremonien, so dem wort Gottes nit zuwider gewesen, auch gescheen lassen.“ Die Forderung Elisabeths an ihren Sohn in dem von Leibetseder angeführten, weniger aussagekräftigen Brief vom Juni 1545 (Leibetseder, Kurfürst und Konfession [Anm. 61], Fußnote 92) wird von diesem im Übrigen verstümmelt zitiert: Es fehlt der Hauptsatz mit der für Elisabeth entscheidenden Schlussformulierung („mus wir es auch godt bevhelen“), die als eine salvatorische Klausel zu verstehen ist (GStAPK, BPH Rep. 29, Lit. T 1, Bd. 2, Fasz. 1; Abdruck: Riedel, Die Kurfürstin Elisabeth [s. o.], 96). 66  Grundlegend für das Verständnis von Elevation und Adoration im Luthertum des 16. Jahrhunderts sind: Tom G. A. Hardt, Venerabilis et Adorabilis Eucharistia. Eine Studie über die lutherische Abendmahlslehre im 16. Jahrhundert, Göttingen 1988, hier vor allem 238–332; Jürgen Diestelmann, Actio Sacramentalis. Die Verwaltung des Heiligen Abendmahles nach den Prinzipien Martin Luthers in der Zeit bis zur Konkordienformel, Groß Oesingen 1995; Ders., Usus und Actio. Das Heilige Abendmahl bei Luther und Melanchthon, Berlin 2007. Vgl. auch Bodo Nischan, The Elevation of the Host in the Age of Confessionalism: Adiaphoron or Ritual Demarcation?, in: Ders., Lutherans and Calvinists in the Age of Confessionalism, Aldershot u. Brookfield 1999, Nr. V, 1–27. 67  Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, Bd. 1, Göttingen 21937, 191 f. (Von einer Abschaffung der Elevation in Brandenburg im Zuge der Generalkirchenvisitation Joachim Friedrichs im Jahr 1600 kann allerdings keine Rede sein.) Luther hieß den Verzicht auf die Elevation gut, machte aber auch deutlich, dass diese an sich unproblematisch sei (vgl. seine Stellungnahme im 1544 erschienenen „Kurzen Bekenntnis vom heiligen Sakrament“: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 54, Weimar 1928, 163–165).



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chen, dass es sich dabei nicht mehr um eine Opfergeste handelte, sorgte Joachim II. für die Betonung des für das reformatorische Abendmahlsverständnis grundlegenden Verkündigungsaspekts, indem er 1562/63 die Ostension – also die an die Gemeinde gerichtete Präsentation der konsekrierten Elemente, die als Überleitung zur Kommunion fungierte  – einführte, die sich allerdings nicht in der Breite der märkischen Landes­ kirche durchzusetzen vermochte. Die von der Brandenburgischen Kirchenordnung 1540 vorgeschriebene hat also nichts mit der von Luther umgestalteten Elevation zu tun, sondern es handelt sich um den hergebrachten liturgischen Akt, der allerdings durch seine Einbettung in einen evangelisch verstandenen Gottesdienst nicht mehr den traditionellen Charakter hatte.68 Auch Leibetseders Deutung der Adoration der konsekrierten Elemente vermag nicht zu überzeugen: Was Joachim II. zu unterschiedlichen Gelegenheiten forderte  – nämlich den in den Abendmahlselementen leiblich gegenwärtigen Christus anzubeten und mit höchster Ehrfurcht zu behandeln –, ist eine für einen erheblichen Teil des damaligen Luthertums typische Überzeugung, die auch Luther und der Joachim eng verbundene Georg III. von Anhalt teilten. Leibetseder insinuiert, dass es bei dieser Adoration nicht nur um eine Anbetung im Zusammenhang der Sakramentsfeier gehandelt habe, sondern dass Joachim II. davon ausgegangen sei, dass die leibliche Gegenwart Christi in den Abendmahlselementen auch extra usum fortdauere und die Adoration sich darum auch darauf beziehe. Hier ist allerdings genauer hinzusehen: Die Auffassung, dass konsekrierte Elemente auch extra usum nicht einfach wie bloßes Brot und bloßer Wein zu behandeln seien, sondern einen respektvollen Umgang verdienten, war im Luthertum verbreitet, ohne dass damit aber die Forderung einer Adoration extra usum v ­ erbunden gewesen wäre. Diese galt als Charakteristikum der spätmittelalterlichen Papstkirche und der entstehenden römisch-katholischen Konfessionskirche und wurde vom ganzen Luthertum abgelehnt.69 Dafür, dass Joachim II. eine Adoration 68  Die Behauptung, dass „die Elevation 1539/40 noch mit der Wittenberger ­ ottesdienstpraxis überstimmen“ mochte, man allerdings „in der Deutung der G Abendmahlsgaben“ differierte (Leibetseder, Kurfürst und Konfession [Anm. 61], 109), irrt sich demnach in der Feststellung von Übereinstimmung und Differenz – es verhält sich genau umgekehrt: Der Ritus unterschied sich, das Verständnis war dasselbe. 69  Zu dieser vom Luthertum durchweg abgelehnten Praxis: Émile Bertaud, Robert Fortin, Eugenio G. Nuñez, Guiseppe Vassali, Art. Dévotion eucharistique, in: Dictionnaire de Spiritualité 4 (1961), 1621–1648; Hans Bernhard Meyer, Art. Eucharistieverehrung, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 (1995), 964 f. – Was den „Verzehr überzähligen Brotes durch den Pfarrer und die Beseitigung von Weinresten durch die rituelle Reinigung des Kelches“ angeht, so zeigen diese Praktiken in

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der konsekrierten Elemente extra usum gefordert oder praktiziert habe – etwa in Form der Fronleichnamsprozession mit dem Sakrament –, gibt es keine Quellenbelege. Die von der Brandenburgischen Kirchenordnung fortgeführte Praxis, dass konsekrierte Elemente nach der Abendmahlsfeier für die Krankenkommunion verwendet wurden70, darf nicht mit der Tat „eine gewisse Nähe zum papstkirchlichen Ritus“ (Leibetseder, Kurfürst und Konfession [Anm. 61], 110), es handelt sich allerdings um der mittelalter­ lichen Tradition entstammende Praktiken, die sich auch sonst im mittel- und norddeutschen Luthertum erhalten haben (vgl. Theodor Kliefoth, Die ursprüngliche ­Gottesdienst-Ordnung in den deutschen Kirchen lutherischen Bekenntnisses, ihre Destruction und Reformation, Bd. 5, Schwerin 1861 [zugleich: Liturgische Abhandlungen, Bd. 8], 78–81; vgl. auch die oben Anm. 66 genannten Werke von Hardt und Diestelmann, die an mehreren Stellen auf diese Praktiken zu sprechen kommen) und sich darum kaum als Hinweise für das Verhältnis Joachims II. zur Papstkirche verwerten lassen. Die im Anschluss an diese Behauptung sich findende Aussage, dass Joachim II. in seinem Memorandum von 1547 die „dogmatischen Unterschiede zwischen Transsubstiation [sic] und Realpräsenz […] wohlweislich unter den Tisch fallen“ ließ (ebd.), ist unklar: Wie kann ein Unterschied zwischen inkommensurablen Größen bestehen? Bei der Transsubstantiation handelt es sich um die Art und Weise des Zustandekommens der leiblichen Gegenwart Christi in Brot und Wein, bei der Realpräsenz um diese leibliche Gegenwart selbst. Gemeint ist wohl, dass Joachim II. an der Realpräsenzvorstellung festhielt, diese aber nicht mehr mit der Transsubstantiationslehre verband und diese Abkehr von ihr nicht offen aussprach. Dass er die Transsubstantiationslehre und die mit ihr zusammenhängende Sakramentsverehrung extra usum ablehnte, ist wahrscheinlich, war für ihn die Realpräsenz doch im Sakramentsglauben verbürgt und hatte die Verehrung des leiblich realpräsenten Christus ihren Ort in der sakramentalen Feier (vgl. die bekenntnisartige Rede des Kurfürsten vom Juli 1568: Nikolaus Leutinger, De Marchia Brandenburgensi eiusque statu […] Commentarii, pars VI, Wittenberg 1594, VD16 ZV 9605, liber 3, fol. 61r–64r; bei dieser Rede ist allerdings unklar, aus welchen Quellen Leutinger seine Kenntnis schöpft und wie sehr er diese Rede stilisiert). Die Transsubstantiationslehre markiert übrigens nicht die entscheidende abendmahlstheologische Differenz zwischen Papstkirche und Reformation, weshalb es wenig verwunderlich ist, dass sich in den Quellen zur brandenburgischen Reformation dazu nur wenig Material findet (z. B. in der Brandenburgische Kirchenordnung von 1540, die hierbei auf die Brandenburgisch-Nürnbergische Kirchenordnung von 1533 zurückgreift: Kirchen Ordnung [Anm. 15], 3. Hauptteil, fol. G 2r–I 3r). Diese Quellen bestätigen vielmehr, dass der „Gegensatz […] an einem anderen Punkt“ besteht: „[I]n der Lehre vom Meßopfer und nicht in der Lehre von der Transsubstantiation liegt […] der schwere, die Kirche zerstörende Irrtum der römischen Abendmahlslehre“ (Hermann Sasse, Zum lutherischen Verständnis der Konsekration, in: Ders.: Corpus Christi. Ein Beitrag zum Problem der Abendmahlskonkordie, Erlangen 1979, 129–145, hier: 133). 70  Die von Leibetseder angeführten Artikel Joachims II. für die Fortführung des Regensburger Religionsgesprächs machen deutlich, dass es dabei gerade nicht um eine Adoration extra usum geht, sondern dass „Christus, der sich im sacrament eucharistiae dargibt, im geist und der warheit angepett werd“ (Akten der deutschen Reichsreligionsgespräche im 16. Jahrhundert, Bd. 3: Das Regensburger Religionsgespräch, Göttingen 2007, Teilband 2, 471,1–6 [Nr. 169]; 474,24–27 [Nr. 170]).



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dieser Verehrung der eucharistischen Gaben extra usum vermischt werden: Dabei handelt es sich nämlich um eine seit altkirchlichen Zeiten gängige Praxis, die sich als Einbeziehung der am Gottesdienstbesuch verhinderten Gemeindeglieder in das gottesdienstliche Geschehen verstehen lässt. Wie das im Kurfürstentum Brandenburg konkret praktiziert wurde, ob etwa zur Aufbewahrung konse­krierter Hostien die Ziborien in Gebrauch blieben, ist mangels Quellen nicht genauer zu sagen. Dass Leibetseder mit Blick auf die vom Kurfürsten gutgeheißene und in seinem Herrschaftsbereich weiterhin praktizierte Elevation und Adoration des Altarsakraments und die vom Kurfürsten bejahte Realpräsenz über den Akt des Sakramentsempfangs hinaus Melanchthon71 als Gewährsmann für die Fragwürdigkeit solcher Anschauungen und Praktiken heranzieht und mit diesem den Unterschied zwischen papstkirchlichen und lutherischen Anschauungen und Praktiken einebnet, verdankt sich der Wahrnehmungsverzerrung durch den „Sieg“ der „melanchthonische[n] Schule“ Ende des 16. Jahrhunderts: Seither war nämlich „der konkrete Sakramentsglaube des älteren Luthertums als mittelalterlich verurteilt und abgewiesen und konnte nicht länger verteidigt oder überhaupt verstanden werden. Seine Kultgebräuche hörten auf“.72 Weiß man allerdings um diesen Sakramentsglauben und seine Kultgebräuche, dann entpuppt sich Joachim II. in seiner Abendmahlsfrömmigkeit gerade nicht als vorkonfessionell, sondern als guter Lutheraner.73 Sein von Leibetseder an71  Melanchthon äußerte sich übrigens im Jahr 1554 Eustachius von Schlieben gegenüber zu Elevation und Adoration im Kurfürstentum Brandenburg. Vom kurfürstlichen Rat wohl zu einer gutachterlichen Stellungnahme über den Fall eines märkischen Pfarrers, der seiner Gemeinde die Anbetung verbot, aufgefordert, bemerkt der Wittenberger Reformator: „Si pastor ille ideo prohibet adorationem, quia negat praesentiam veram et realem Christi in vero usu sacramenti, removendus est a gubernatione Ecclesiae“ (Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe, hrsg. v. Heinz Scheible, Bd. 7: Regesten 6691–8071, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, Nr. 7373; Philippi Melanthonis opera quae super­ sunt omnia, hrsg. v. Karl Gottlieb Bretschneider, Bd. 8, Halle 1841, 399 [Nr. 5709]). Melanchthon heißt also die Kritik an der Adoration nicht also solche gut, sondern nur, wenn sie nicht mit der Ablehnung der leiblichen Gegenwart Christi in den Elementen verbunden wird. Zur Elevation bemerkt er im selben Brief, dass es hinsichtlich dieser eine große „dissimilitudo […] in Ecclesiis […] harum regionum“ gebe: „Alibi retenta est elevatio, alibi abolita: et haec nulla communi deliberatione facta sunt“ (ebd.), wobei ihm nicht so sehr die Elevation als solche, sondern vielmehr die Uneinigkeit in den Zeremonien missfällt. 72  Hardt, Venerabilis et Adorabilis Eucharistia (Anm. 66), 332. 73  Wie nahe Joachim II. Luthers Anschauungen vom ehrfurchtsvollen Umgang mit dem Altarsakrament (hierzu im Überblick: Hans Graß, Die Abendmahlslehre bei Luther und Calvin. Eine kritische Untersuchung, Gütersloh 21954, 112–120) war, zeigen auch der Fall des Eislebener Pfarrers Simon Wolferinus Anfang der 1540er Jahre (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel,

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geführtes „Bekenntnis“ von 1563 bestätigt das übrigens. In dessen Ausführungen über die Adoration findet sich nämlich gerade keine „ausdrückliche[] Abgrenzung von Wittenberg“74. Joachim II. kritisiert hier zwar „die Wittenberger, mit denen ich gar nicht zu frieden bin“. Gemeint sind damit aber nicht die Wittenberger Theologen insgesamt, sondern die nach Melanchthons Tod tonangebenden Melanchthonianer, und unter ihnen besonders ein einzelner Wittenberger Theologe, und das auch nur an einem bestimmten Punkt: „einer mit Namen Eberus [hat] vom Abendmal geschrieben, darinnen er verleugnet, ob das buch sonst gleich gut ist, das anbeten Christi im abendmal, welches eine Blasphemia ist“.75 Paul Eber (1511–1569)76, Wittenberger Stadtpfarrer und Theologieprofessor an der Leucorea, hatte 1562 ein umfangreiches Buch veröffentlicht, in dem er die lutherische Realpräsenzlehre verteidigte, allerdings auch im Gefolge Melanchthons die Elevation und die Adoration der konsekrierten Elemente während der Sakramentsfeier kritisierte.77 Dieses Buch kannte der Kurfürst, hieß es im Ganzen gut, kritisierte aber das, was seinen Überzeugungen zuwiderlief, nämlich Ebers Einwände gegen Elevation und Adoration. Was Joachim II. 1562 über sein Verhältnis zur Abendmahlslehre der Wittenberger Theologen sagte, ist also ein Beleg für seine Selbstidentifikation mit der von Luther inaugurierten Wittenberger Lehrrichtung. Liest man die Stellungnahmen Joachims II. zur Abendmahlsfrage im Wissen um seine lutherischen Überzeugungen, dann geht es nicht darum, „die vermeintlichen ‚katholischen Reste‘ in Joachims religiösen Positionierungen zu marginalisieren“ oder gar „als qualités [sic] négligables Bd. 10, Weimar 1947, Nr. 3888, Nr. 3894; hierzu: Gustav Kawerau, Der Streit über die Reliquiae Sacramenti in Eisleben 1543, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 33 [1912], 286–308) und der Fall des Frießnitzer Kaplans Adam Besserer Mitte der 1540er Jahre (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel, Bd. 11, Weimar 1948, Nr. 4186). 74  Leibetseder, Kurfürst und Konfession (Anm. 61), 110. 75  GStAPK, I. HA, Rep. 2, Nr. 1, fol. 88r. 76  Gustav Kawerau, Art. Eber, Paul, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 5 (1898), 118–121; Walther Thüringer, Paul Eber (1511– 1569). Melanchthons Physik und seine Stellung zu Copernicus, in: Melanchthon in seinen Schülern, hrsg. v. Heinz Scheible, Wiesbaden 1997, 285–320. 77  Paul Eber, Vom heiligen Sacrament des Leibs und Bluts unsers Herren Iesu Christi, Wittenberg 1562 (VD16 E 64). Hier zu Elevation und Adoration: 129–156 (vgl. Hardt, Venerabilis et Adorabilis Eucharistia [Anm. 66], 281–285). In Ebers umfangreichem Werk findet sich auch eine Kritik der Transsubstantiationslehre, die allerdings nicht philosophisch oder theologisch gegen diese argumentiert, sondern sie durch den Verweis auf ihre fragwürdigen angeblichen Implikationen (Messopferlehre, Vorenthaltung des Kelchs etc.) zu erschüttern versucht (Eber, Vom heiligen Sacrament [s. o.], 53–61).



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[sic] abzutun“ und ihn gar gegen den Quellenbefund zu einem „ ‚lupenreinen‘ Lutheraner“ zu stilisieren.78 Vielmehr erlaubt es gerade dieser genaue Blick, die fortdauernde Anhänglichkeit des Kurfürsten an traditionelle Frömmigkeitsformen ins rechte Verhältnis zu setzen zu seinem evangelischen Glauben und seiner diesem entsprechenden Kirchenpolitik und damit die von Leibetseder geforderte „Gesamtinterpretation“79 zu leisten. Dann wird es auch möglich, an geeigneteren Beispielen – etwa Joachims Reliquiensammlung, der Liturgie der Cöllner Stiftskirche oder seinem Faible für traditionelle Kirchengesänge – die Frage nach Ausmaß und Charakter seines religiösen Traditionalismus zu stellen. Weder die erwähnte ältere Forschung von Droysen bis Nischan noch die gerade besprochenen neueren Beiträge vermögen mit ihrer Deutung der brandenburgischen Reformation und ihrer Folgewirkungen zu überzeugen. Die diesem Postscriptum vorangehende Überblicksdarstellung der Formierung einer lutherischen Konfessionskultur während der Regierungszeit Joachims II. ist darum solange im Recht, bis ihr eine fundierte Alternative entgegengestellt wird.

78  Leibetseder, 79  Ebd.

Kurfürst und Konfession (Anm. 61), 112.

Städtisches Kirchenregiment und Konfessionsfragen des 16. und 17. Jahrhunderts im Spiegel der Prenzlauer Chronik des Christoph Süring Von Heinrich Kaak, Berlin Zwischen 1653 und 1670 hat der Pfarrer der Prenzlauer Sabinengemeinde in drei Handschriften eine Chronik seiner Stadt verfasst, die die Zeit von 1105 bis 1670 behandelt. Diese Chronik darf als eine hochinteressante Quelle für die Beschäftigung mit der märkischen Stadtgeschichte vornehmlich in der frühen Neuzeit betrachtet werden. Sie bietet mit ihrem weiten Darstellungsrahmen einerseits, aber auch mit ihrer sich seit dem späten 16. Jahrhundert kontinuierlich verdichtenden Eintragsfolge andererseits Möglichkeiten, sich dem Lokalgeschehen der Reformation und ihrer Folgezeit zu nähern. Teile dieser Chronik bzw. ihrer Abschriften sind bereits zur Darstellung der Stadtgeschichte Prenzlaus oder einzelner ihrer Aspekte herangezogen worden. Zuletzt haben sich Klaus Neitmann und Frank Göse 2009 in ihren Kapiteln zur Geschichte der Stadt Prenzlau auf die maßgebliche Literatur bezogen und diese mit neuen Ergebnissen verbunden1. Die Chronik Sürings umfasst im Original etwa 1.230 Seiten, die in der jetzt transkribierten Druckversion immer noch knapp 590 Seiten ausmachen. Sie besteht aus drei Handschriften, die alle den hier gewählten Darstellungszeitraum von 1517 bis 1670 berühren. Handschrift A ist eine reine Ereignischronik, während den Handschriften B und C landeskundliche Einleitungen zur Stadt Prenzlau und zur Uckermark vorangestellt sind.

1  Klaus Neitmann, Prenzlau im Zeitalter der Reformation (1500 bis 1648), in: Geschichte der Stadt Prenzlau, hrsg.  v. dems./Winfried Schich, Horb am Neckar 2009, 98–139; Frank Göse, Prenzlau in der Zeit des „Absolutismus“ (1648 bis 1806), in: ebd., 140–184.

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Darstellungszeitraum der Handschriften [1585-Handschrift A-1653] [1105-------Handschrift B/1-------1587] [1653---Handschrift B/2---1670] [1138------Handschrift C------1540] [1517-----Darstellungszeitraum des vorliegenden-Beitrags-----1670]

Es gab bisher keine textgetreue Wiedergabe der Originalhandschriften; denn das, was ediert oder in Form von Abschriften und deren Wiedergaben im Internet vorlag, war, wie sich während der Arbeit herausstellte, im Text abgewandelt und teilweise unvollständig. Die mit maßgeblicher Unterstützung des Brandenburgischen Landeshauptarchivs durchgeführte Transkribierung ist 2017 publiziert worden. I. Zur Person des Chronisten Der Autor des Werkes, Christoph Süring, entschloss sich, bevor er 1654/55 zum Pfarrer der Sabinengemeinde in Prenzlau berufen wurde, eine Chronik seiner Stadt zu verfassen. Von 1653 bis 1670 trug er Informationen zusammen und formulierte daraus die landeskundlichen Teile und die Ereignischronik. 1615 als Sohn eines zugewanderten Schneidermeisters in Prenzlau geboren, lag die Zeit der Reformation bereits lange hinter ihm. Auch erlebte er als junger Mann, vor allem während er in Königsberg in Preußen Theologie studierte, das Luthertum bereits als eine selbstverständlich gewordene Variante des christlichen Glaubens. Näher waren ihm die Geschehnisse des Dreißigjährigen Krieges, unter denen Prenzlau besonders gelitten hatte. War die Stadt in der Zeit der Reformation als Hauptstadt der Uckermark eines der Zentren des brandenburgischen Territoriums gewesen, so hatte sie als Station zwischen Berlin und Stettin an Wichtigkeit eingebüßt, war in ihrem Rang unter den Städten Brandenburgs degradiert worden und kam sehr schwer wieder auf die Beine2. Auch wenn Süring als Jugendlicher während des Krieges Vater und Mutter durch die Pest verloren hatte, gehörte er mütterlicherseits doch zu den führenden Familien der Stadt (Lübbenow und Schivelbein) und bekam wohl daher die Möglichkeit zu studieren (1646 in Königsberg in Preußen immatrikuliert). Danach war er in Prenzlau Hauslehrer (1652) und begann 1653 mit den Aufzeichnungen für seine Chronik3. 2  F.

Göse, Prenzlau in der Zeit des „Absolutismus“ (Anm. 1), 141 ff.



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Abstammung Christoph Sürings Christoph Schivelbein († 1593) | Laurentz Lübbenow († 1603) ∞ Katharina Schivelbein († 1591) | Johannes Süring († 11. 5. 1629) ∞ Regina Lübbenow († 30.7.1630) | Christoph Süring († 24.12.673) ∞ Margareta Bernds († April 1666) | 4 Kinder

Als Quellen hat Süring für die Zeiten bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges die Chronisten Brandenburgs und Pommerns (besonders ­Andreas Angelus4 und Johannes Micraelius5) herangezogen und auf die Manuskripte älterer Prenzlauer  – unter anderem aus der Familie seiner Mutter  – zurückgegriffen6. Dazu kamen Kirchenbücher, andere kirch­ liche Aufzeichnungen sowie Akten und Bücher des Rates („Totenbuch und Peinliche Klagen“, „Concordienbuch“ u. a.). Süring war sprachkundig, besonders im Lateinischen bewegte er sich sehr gewandt. Für die Zeit nach dem Krieg konnte er eigene Erlebnisse und Informationen aus seiner Gegenwart und aus den Kirchenbüchern seiner Zeit wiedergeben. 3

Da die Chronik nicht zur Veröffentlichung gelangte, wurde sie höchstens von ganz wenigen anderen Leuten gelesen. Über seine Handschriften hatte Süring daher keinen Einfluss auf die Vorgänge in Prenzlau. In seinen Einträgen geht es auch nicht um die großen Linien und Ziele, wie sie sich in den Kirchenordnungen und Erörterungen zur Reformation ausdrücken, sondern um das städtische Leben in seiner Alltäglichkeit

3  Siehe auch [Emil] Schwartz, Pfarrer Christoph Süring, der Chronist der Stadt Prenzlau, in: Sippe und Heimat. Mitteilungsblatt des Uckermärkischen Museumsund Geschichtsvereins. Abteilung Sippe (1938/1), o. S. 4  Andreas Angelus (Andreas Engel), Annales Marchiae Brandenburgicae. Das ist Ordentliche Verzeichnuß und Beschreibung der fürnemsten und gedenckwürdigsten Märchischen Jahrgeschichten und Historien / so sich  vom 416. Jahr  vor Christi Geburt / bis auffs 1596 Jahr im Churfürstenhumb Brandenburg zugetragen haben, Frankfurt an der Oder 1598. 5  Johannes Micraelius (Johannes Lütkeschwager, 1597–1658), Antiqvitates Pomeraniae oder die sechs Bücher Vom Alten Pommernlande, nebst den dazugehörigen Landcharten, 1639–1640, Stetin 1649, Stetin/Leipzig 1723. 6  Sürings Quellenangabe Ex MSS. Schiv. bedeutet: Aus den Manuskripten des Bürgermeisters Christoph Schivelbein.

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und mit seinen Höhepunkten sowie um das Innenleben der Pfarrer und den Einfluss des kirchlichen Wirkens auf die Stadtbevölkerung. II. Sürings konfessionelle Orientierung in der Chronik Süring war ein engagierter Anhänger der lutherischen Lehre. Seine Chronik war für ihn aber nicht der Ort prinzipieller konfessioneller Erörterungen. Man muss daher vieles aus seinen Einträgen erschließen. Immer wieder verwendete er die Formel des „lauteren Evangeliums“ (B, fol. 52  r)7, betonte das „lautere Wort Gottes“ (B, fol. 52  r) und sprach Kollegen zu, Gottes „Wort lauter und rein gelehret“ (B, fol. 70  v) zu haben, ohne zu erläutern, was er damit speziell meinte. Es genügte ihm ­offenbar als Codewort, um sich verständlich zu machen. Wenn er vom Evangelium sprach, meinte er das Luthertum. Dies kommt in einigen Äußerungen zum Ausdruck. Zur Eröffnung des Joachimsthalschen Gymnasiums 1607 trifft er die Feststellung, die dort Versammelten seien „alle gute Lutheraner gewesen“ (A, fal. 66 »). Seine Freude über den Thesenanschlag Martin Luthers und die aus seiner Sicht übermenschliche Leistung des Reformators dringt später durch. Interessant ist in diesem Zusammenhang die 100-Jahr-Feier des Wittenberger Thesenanschlags (A, fol. 102  r): Im Gegensatz zu Kursachsen und Pommern  – so Süring  – habe man in Brandenburg keine allgemeine landesherrliche Anordnung für Gedenkveranstaltungen erhalten; schließlich war Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg gerade erst 1613 zum reformierten Bekenntnis übergetreten. Da habe der Prenzlauer Superintendent Johannes Finckius auf eigene Faust für die Stadt eine Feier angeordnet, selbst mehrmals am 31. Oktober 1617 gepredigt und die Leistung Luthers so hoch eingestuft, dass er die Formulierung wählte: in mancherlei Hinsicht sei er „… nicht unbillig mit Mose zuvergleichen“ (A, fol. 102  v). Die „gnedige Rettung aus dem finstern Bapstum [sei] durch den Mann Gottes, Herren Lutherum vor 100  Jahren“ erfolgt (A, fol. 102  r). Diese nicht ohne Genugtuung vorgetragene Auffassung Sürings setzt sich in anderen Aussagen fort.

7  Soweit auf die Handschriften Christoph Sürings Bezug genommen wird, verweist A auf sein erstes Manuskript  von 1587 bis 1653, B auf sein zweites und größtes Manuskript  von 1105 bis 1587 sowie  von 1653 bis 1670 und C auf sein drittes Manuskript  von 1138 bis 1540. Dies entspricht der Quellenedition  von Heinrich Kaak (Hrsg.), Die Prenzlauer Chronik des Pfarrers Christoph Süring 1105–1670 (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 72), Berlin 2017.



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Zunächst und auf Dauer wirkte die Ablehnung der Papstkirche, die Süring deutlich artikulierte. So bezeichnete er den Papst herabsetzend als „Pontifex Latii“ (C, fol. 90 r), auf Deutsch etwa den Priester von Rom und Umgebung, sprach von „papistischen Pfaffen“ (B, fol. 52 r), von der „Bäpstischen Abgötterey und Lehr“ (ebd.), bezüglich dieser Lehre von „Bäpstischem Sawerteig“ (ebd.) und nannte den Papst einen „Knecht des Teuffels“ (A, fol. 102 r) und den „Anti-Christ“ (ebd.). 1567 vermerkte er seine Ablehnung gegenüber denjenigen Mitmenschen, die die Taufe der neuen Glocke von St. Marien auf den Namen Susanna als gottgefällig begrüßten, worin er ein Weiterleben päpstlicher Irrtümer sah. „[…] so siehet man, daß zu der Zeit noch, an diesem ort und in der Stadt, noch Bäpstische Irthumb, und selbige noch nicht gäntzlich und allerdings außgerottet gewesen, Maßen dann dis von Bapst Johanne dem XIV, einem Italiener, so ümb das Jahr Christi 966 gelebet, erst angeordnet worden, nicht allein die Glocken, ob sie gleich leblose und todte Creaturen sein, zu täuffen, sondern auch demselbigen Nahmen zugeben, davon doch in der H. Schrifft nicht das geringste zu finden“ (B, fol. 59  r).

Auch erinnerte er bezüglich der 1584 erfolgten baulichen Wiederherstellung der Franziskanerkirche, die seit 1598 wieder als Gotteshaus genutzt wurde, immer noch an die Mönche, die vormals „im Bapstum ihren Abgöttischen Dienst in der Kirchen gehabt und getrieben“ (B, fol. 70 r). Auch wenn sich seine Orientierung darin sehr deutlich zeigte, überschritt er damit wohl nicht den Rahmen der üblichen Schmähungen. Seine Erwähnung des Prenzlauer Mariengemäldes mit den tränenden Augen zeigt, als was er die „Papisten“ ansah. Wie in anderen katholischen Gebieten auch hatte man ein Gemälde so präpariert, dass von der Rückseite aus durch zwei winzige Bohrungen im Bereich der gottesmütterlichen Augen auf der Vorderseite tränengleich Wasser aus denselben floss. Dieser Eindruck der Traurigkeit sollte Gläubige einfachen Verstandes zum Spenden anregen (B, fol. 19 v). Der konfessionelle Umschwung vollzog sich, wenn auch „uneingeschränkt zur Reformation und ihren im lutherischen Katechismus niedergelegten Grundsätzen“ stehend, in Brandenburg „in sehr gemäßigten Formen“, die Kirche suchte „aus dem alten Kultus möglichst viel zu bewahren und änderte den Gottesdienst nur, insofern seine Elemente unmittelbar Luthers Überzeugungen widersprachen“8. Zum Beispiel ging man in der Marienverehrung Kompromisse ein, es wurden die Beichte und die Firmung als Zeremonien beibehalten sowie die alten Messge-

8  K.

Neitmann, Prenzlau im Zeitalter der Reformation (Anm. 1), 108.

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wänder weiterhin getragen9. Die Schmähungen Sürings kommen vor allem bezüglich der Geschehnisse des 16. Jahrhunderts zum Ausdruck und verlieren sich während der Schilderung des 17. Jahrhunderts. Komplizierter verhielt es sich mit den Reformierten. Mit dem Übertritt Kurfürst Johann Sigismunds zur calvinischen Konfession entstand dem Lutheraner Süring eine zweite Front. An verschiedenen Stellen in der Chronik versah er die Reformierten mit abfälligen Bemerkungen – belegt von 1629 bis 1667 (besonders 1629, 1655/56, 1663, 1667). Unter anderem lobte er 1629 den Superintendenten Johannes Finckius als einen mäch­ tigen Eiferer im Amt „wider die falschen Lehrer, insonderheit die Re­ formierten“ (A, fol. 141 ›). 1667 sei ein „Reformatus“ als Prediger nach Gramzow berufen worden, habe seine erste Predigt gehalten, sich aber nicht dazu geäußert, „was ihn gedrungen daher zu kommen, viel weiniger behäuptete er, daß ers gethan aus Liebe zu der Gemeine, noch, was zwischen den Reformirten v. Lutherischen für ein Unterschied“ sei. Dieser „novus Concionator“ beziehe sich zudem auf den Heidelberger Katechismus, also den Katechismus der Reformierten, welchen er als „unwiderleglich“ betrachte (1667, B, fol. 208 v). Wenn Süring hier einen neuen reformierten Kollegen für das anklagte, was dieser nicht gesagt hatte, klingt einige Erbitterung über die so empfundene Bevorzugung der reformierten Prediger durch. Sogar nach den ersten kurfürstlichen Edikten zum Schutz der Reformierten von 1662 und 1664 wurde Süring in der Chronik noch laut. Erst nach deren Deklaration vom 6. Mai 1668, die er vollständig und wortwörtlich in die Chronik aufnahm, hielt er sich zurück, als wollte er zeigen, was jetzt zwangsläufig die Richtung sei, und sich selbst zur Ordnung rufen. Persönlich tief betroffen und voller Mitgefühl war er, als im Januar 1670 Joachim Lietzmann von der Prenzlauer Superintendentur zurücktrat, weil er nach den kurfürstlichen Edikten in seiner Position kein reiner Lutheraner mehr sein konnte. Die durchwachten Nächte und inneren Ängste seines städtischen Kirchenoberhauptes scheinen Süring tief bewegt zu haben (B, fol. 245  v). Diese Information gab er übrigens lateinisch wieder, wie er vieles, was für prominente Prenzlauer oder die Stadt ungünstig hätte klingen können, auf diese Weise verschlüsselte.

9  Peter Meinhold, Die Marienverehrung im Verständnis der Reformatoren des 16. Jahrhunderts, in: Saeculum, Jahrbuch für Universalgeschichte 32 (1981), 34– 58, hier 57. Andreas Stegmann, Deutung und Bedeutung der brandenburgischen Reformation, in: Frank Göse (Hrsg.), Reformation in Brandenburg. Verlauf, Akteure, Deutungen (Schriften der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg, N. F. Bd. 8), Berlin 2017, 63–92, hier 78 f.



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III. Wie zeigt sich die Reformation in der Chronik? Es beginnt mit der Überraschung, dass das Jahr 1517 in der Chronik gar nicht als Eintrag vorkommt. Nachdem Süring die Statuten Prenzlaus aus dem Jahr 1515 ausführlich wiedergegeben hatte, berichtete er zum Jahr 1516, dass die Kirche St. Johannes „geweißet und gemahlet“ worden sei, und dies sei – wie man erst im Nebensatz hört – „ein Jahr zuvor, ehe dann der Herr Lutherus erst wider das Bapstum zu Wittenberg seine Positiones hinschlug und schrieb“ (B, fol. 51 r), geschehen. Das ist für lange Zeit alles, denn in der Chronik geht es im nächsten Eintrag schon um das Jahr 1521, wo der Chronist den Platz Prenzlaus („tertius locus“) in der Rangordnung bei einer Versammlung der Städte ganz Brandenburgs in Cölln-Berlin mit Stolz beschrieben hat (ebd.). Erst für 1541 hat Süring einen Zwischenfall festgehalten, in dem sich die Reformation für Prenzlau wenigstens ankündigte. Als man im vorpommerschen Pasewalk schon evangelisch zu lehren begonnen hatte, gab es dort noch einen Geistlichen namens Otto Döring, der die alte Lehre verteidigte, insbesondere die Priesterehe bekämpfte und vor seinen lutherischen Gegnern ins Kloster nach Prenzlau floh. Man schickte von Pasewalk Verfolger aus, vor denen er aus dem Kloster zu fliehen versuchte und sich bei einem Sprung aus dem Fenster ein Bein brach. Diesen Mann charakterisierte Süring in seinem Verhalten und seiner Bildung grundsätzlich als sehr akzeptabel – bis eben auf seine Lehre (B, fol. 52 r). Erst vier Jahre nach dem Übertritt Kurfürst Joachims II. zum Luthertum begann für Süring die Prenzlauer Reformation.10 1543 setzte die ­öffentliche evangelische Lehre mit einem Hermannus Reich ein, der bis dahin katholischer Geistlicher an der Hauptkirche St. Marien zu Prenzlau gewesen war11. Er konnte dem Druck der „übrigen Papisten“ jedoch nicht standhalten, und musste „endlich gar von hinnen ziehen“ (B, 10  Hier liegt ein deutlicher Unterschied zu der im Übrigen in mehrfacher Hinsicht mit Prenzlau vergleichbaren Stadt Treuenbrietzen vor, die zwar eine kleinere, aber ebenfalls grenznahe Immediatstadt an einer wichtigen Handelsverbindung war. Dafür, dass dort bereits 1537 die Reformation einsetzte, stellt Felix Engel die räumliche Nähe zu Wittenberg heraus, der eine geistige Nähe entsprochen habe. Vgl. Felix Engel, Die Reformation in der Flämingstadt Treuenbrietzen, „welche der Hölle,  verstehe Wittenberg, zu nahe“, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 151 (2015), 223–253, hier 230 f. 11  Katja Hillebrand vermutet erste lutherische Predigten des Hermannus Reich und die Darreichung des Abendmahls zu St. Marien in beiderlei Gestalt bereits „im zweiten Dezennium des 16. Jahrhunderts“, das „genaue Datum seines Wirkens“ sei jedoch nicht überliefert. Katja Hillebrand, Das Dominikanerkloster zu Prenzlau. Untersuchungen zur mittelalterlichen Baugeschichte, München 2003, 45.

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fol. 52 v). Die erheblichen Spannungen hielten an, denn 1543 wurde ein Johann Biggerow aus Stargard in Pommern als Prediger nach Prenzlau an die Marienkirche berufen und ebenfalls derart bedrängt, „nahmentlich von Johanne Havemeistern, Dechanten und obersten Kalandsherren zu S. Marien“, dass er nach Pasewalk auswich (ebd.). Das alte Establishment wehrte sich offenbar heftig.12 Noch 1543 wurde er jedoch zurückgeholt und als Oberpfarrer zu St. Marien und als Superintendent eingesetzt. Er erteilte zu St. Jacobi an Allerheiligen als erster Geistlicher in Prenzlau das Heilige Abendmahl in beiderlei Gestalt. Ausgerechnet einer der besonderen Feiertage der katholischen Kirche wurde so zum Prenzlauer Gedenktag an die Reformation (C, fol. 90 r). Wenn auch mindestens seit 1336 Unterricht in Prenzlau stattgefunden hatte, war doch 1543 das eigentliche Stiftungsjahr der „lateinischen Schule“ der Stadt. Am 12. Juni 1543 wurde deren Rektor als Pfarrherr zu St. Nikolai eingeführt, und ebenfalls 1543 der Pfarrer von St. Marien neben dem Rat zur Aufsicht der Bildungseinrichtung berufen. Hierin spiegelt sich die enge wechselseitige Beziehung zwischen Kirche und Schule wider. Letztere erhielt eine festere Organisation, und man „impfte ihr den reformatorischen Geist ein, der sie dann jahrhundertelang prägte“. Philipp Melanchthon stand mit seiner Visitationsschrift „Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn“ dabei Pate13. Am 15. Juli 1543 fand die erste lutherische Kirchenvisitation statt, mit der die Neuerungen gesichert wurden. Insgesamt waren es 26 namentlich genannte Geistliche der alten Lehre – unter ihnen der vorher so aggressive Dechant Havemeister –, die im Juli des Jahres zur „Evangelischen Religion“ übertraten oder dazu „geneigt“ waren (B, fol. 52  v). Was mit denen geschah, die nicht übertraten, und wie viele es waren, ist nicht vermerkt. Bestimmt wurde, dass auf die Lehen, die den einzelnen Kirchen und Geistlichen von vermögenden Leuten, dem Rat und den Zünften gewidmet waren, verzichtet wurde und sie nach dem Absterben der Funktionsinhaber „in das Ærarium Ecclesiasticum, oder in den Gotteskasten gezogen und geschlagen werden, zu gemeiner Unterhaltung der künfftigen Geistlichen“ (B, fol. 53 r). Hiermit ist die wichtigste allgemeine Neuerung im Finanzierungskonzept der Landeskirche angesprochen: die Einrichtung des Gottes- oder Gemeinen Kastens, in den alle kirchlichen Gelder fließen sollten. Mit ihr sollte eine Transparenz in Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden hergestellt werden, indem die Kontrolle 12  Vgl. Petra Weigel, Prenzlau. Magdalenerinnen/Benediktinerinnen, in: Brandenburgisches Klosterbuch, hrsg. v. Heinz-Dieter Heimann/Klaus Neitmann/Winfried Schich, 2 Bde., Berlin 2007, hier Bd. 2, 967–977, hier 968. 13  K. Neitmann, Prenzlau im Zeitalter der Reformation (Anm. 1), 116.



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der Finanzen den Kirchenvorständen anvertraut wurde, die ihrerseits dem Rat der Stadt, also der weltlichen Obrigkeit der Stadt, periodisch die Finanzen darzulegen hatten. Die übrig gebliebenen zwölf „Closter=Jungfrawen zu St. Sabini“ (Magdalenerinnen, später Benediktinerinnen, meist adelig) übertrugen über die Kirchenvisitatoren 1543 dem Landesherrn ihren umfangreichen Klosterbesitz. Für das Verhältnis von Stadt und Kirche war besonders relevant, dass sie zu Gunsten des Prenzlauer Rates auf das Patronat über St. Marien, St. Nikolai, St. Jacob und St. Sabinen sowie die damit verbundenen Einkünfte und Opfer verzichteten. Zusätzlich bestimmten sie, dass aus den Klostereinnahmen der verbliebenen sechs Hufen jährlich 15 Gulden zu „beßerer Unterhaltung der Pfarrherren und Prediger“ gezahlt werden sollten. Sie erhielten im Gegenzug das Recht, auf Dauer im Kloster zu leben und sich dort aus ihren Resteinnahmen zu versorgen (B, fol 53 r). Der Rat übernahm damit die Aufgabe, über alle Einkünfte und Ausgaben der Kirchen zu wachen (B, fol. 53 r). Erst im Zuge der zweiten Kirchenvisitation, die 1557/58 stattfand, traten die Nonnen auf „Churfürstliches Begehren“ und Bitten der Prenzlauer Bürgermeister und des Rates ihre sechs erb- und eigentümlichen Hufen an den Gemeindekasten „zu beßerer Unterhaltung der Kirchendiener“ ab, um dafür vom Rat „bis auff Ableben der letzten jährlich 10 fl.“ (B, fol 55  v) zu erhalten. 1583 und 1585 starben von den Klosterjungfrauen Elisabeth v. Rammin und Ursula Lindowin (B, fol. 68 r und 70 v). 1588 wurde als letzte Nonne Dorothea von Holtzendorff beigesetzt.14 Die Auflösung des Franziskanerklosters setzte 1536 ein und wurde 1543 abgeschlossen. Der Anteil eines mit den Dominikanern gemeinsam besessenen Hofes des Bettlerordens war 1519 bereits veräußert worden. Nur noch etwa zehn Gulden Zinseinkünfte kamen ein, aber zwei Hufen auf dem Altstädter Feld und acht Hufen vor dem Blindowischen Tor wurden 1543 weiterhin als zum Kloster gehörig verzeichnet. Danach erhielt diese Hufen und Gebäude des bereits wirtschaftlich nicht mehr existenten und verlassenen Grauen Klosters (grau = Franziskaner) Zacharias von Grüneberg als Ritterlehen.15 Die Klostergebäude ließ man jahrzehntelang verfallen (B, fol. 6 v).

14  Emil Schwartz, Geschichte der Uckermärkischen Hauptstadt Prenzlau, Göttingen 1975, 362. 15  Peter Riedel/Matthias Schulz, Prenzlau. Franziskaner, in: Brandenburgisches Klosterbuch (Anm. 6), hier Bd. 2, 958–966, hier 959.

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Das heute noch als Sitz des Prenzlauer Kulturhistorischen Museums bestehende Schwarze Kloster (schwarz = Dominikaner) wurde 1544 kurzzeitig kurfürstlicher Getreidespeicher, dann jedoch städtisches Hospital, als es am 20. Mai 1545 der Prior Bartholomaeus Marten – „der letzte im Bapstum alhie, des Schwartzen Klosters“  – mit Konsens des Kurfürsten der Stadt Prenzlau förmlich abtrat. Voraus ging diesem eine Zahlung des Rates von 25 Gulden an den Prior (B, fol. 53 v). In dieser Auswahl von Ereignissen zeigt sich, dass die Anhänger der alten Lehre anfänglich noch kampfbereit waren, dass man sie zunächst gewähren ließ, dann aber viele von ihnen in die neue Konfession aufnahm. Bei den Angehörigen der Klöster gingen Kurfürst und Rat der Stadt Prenzlau behutsam vor, wobei Letzterer gelegentlich mit Geld nachhalf. Insbesondere die Klosterjungfrauen handelten dabei selbstverständlich nicht freiwillig, sicherten sich aber, wie die Lage nun einmal war, eine Grundexistenz. Dies entsprach der brandenburgischen Linie, die Reformation weniger radikal als in anderen Territorien zu gestalten. Wenn viele der Geistlichen der neuen Kirche beitraten, spricht das für die Integrationsfähigkeit der neuen Konfession16. Bereits 1543 hatte also der Rat mit Rückendeckung des Kurfürsten seine Machtposition gegenüber der Kirche deutlich erweitert, spielte diese aber zunächst nicht aus. IV. Verödung und Neugestaltung Verödung Im Zuge der Reformation zogen die protestantischen Landesherren bekanntlich wesentliche Teile des Kirchenbesitzes an Ländereien, Gebäuden und Kircheninventar ein. Die neue Kirche sollte keine reiche Kirche mehr sein. Dies entsprach zwar dem neuen Verständnis ihres Wirkens, erschwerte indes ihre Tätigkeit. Im Verlauf der Neuordnung der kirchlichen Administrations- und Vermögensverhältnisse wurde, wie erläutert, die Aufsicht darüber dem Prenzlauer Rat übertragen und der Gemeine Kasten eingerichtet, aus dem von da an die Geistlichen und sonstigen Beschäftigten der Kirchen besoldet und die Gotteshäuser und Pfarrgebäude erhalten wurden. Über Einnahmen und Ausgaben hatten die Kastenvorsteher dem Rat jährlich Rechenschaft abzulegen.17 Da sein Vater bis zum Zeitpunkt seines Todes dieses Amt bekleidet hatte, könnte Süring einen frühen Eindruck von dieser Verfahrensweise gewonnen haben. Die 16  Olaf Mörke, Die Reformation: Voraussetzungen und Durchsetzung, 3. aktualisierte und um einen Nachtrag erweiterte Auflage, Berlin/Boston 2017, 22. 17  Stadtarchiv Prenzlau, Pr. Br. Rep. 8 Prenzlau, Nr. 382, fol. 6v.



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Besoldung der Geistlichen und Lehrer wurde 1543 neu geregelt, eine Maßnahme, die nach Feststellung der zweiten Kirchenvisitation von 1557/58 bzw. der dritten von 1577 nur ein sparsames Einkommen bot.18 Die kirchliche Organisation wurde 1577 anlässlich der dritten Kirchenvisitation dahingehend verändert, dass aus dem Gesamtkirchenbezirk Prenzlau vier Gemeinden gebildet wurden, unter denen die Marienkirche zugleich als Sitz der Superintendentur fungierte. Ein Teil  der Prenzlauer Gotteshäuser schied aber aus dem Kirchenleben aus. Die Heiliggeistkirche und die alte Nikolaikirche blieben nach der Reformation „öde und wüst“. Dasselbe galt für die Kirche St. Johannis, die schließlich als profanes Gebäude verkauft wurde (B, fol. 7  r). Daneben existierten noch die kleine Kapelle St. Gertruden auf dem Neustädter Damm, deren Einnahmen, auch als sie ganz verfallen war, vom Rat eingezogen wurden, sowie außerhalb der Stadt die St. Georgskapelle, die zu Sürings Bedauern „auch vom Bapstum fast her, wüste“ war und auf deren ehemaligem Friedhof man nach dem Dreißigjährigen Krieg Kohlgärten angelegt hatte (ebd.). Das verwaiste Graue Kloster war, wie erwähnt, von Kurfürst Joachim II. eingezogen und mit seinen sechs Hufen als Ritterlehen an Zacharias von Grüneberg für treue Dienste vergeben worden. Dies hatte zur Folge, dass auch die dazugehörige Kirche bald „ausgestorben und verstammet“ (A, fal. 39 ›) war. In Folge der Reformation ging die Nutzung von Kirchenraum demnach deutlich zurück, sei es, dass die Geistlichkeit ein Überangebot aus der Zeit des Papsttums reduzierte oder dass sie die Gläubigen schon aus finanziellen Gründen auf die vier verbliebenen Kirchen konzentrierte, wo auch die Katechismus- und Bibellehrstunden stattfanden. Mit der Verödung der ungenutzten Gotteshäuser ging offenbar auch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Zustand der zum Gottesdienst genutzten Kirchen einher, hat Süring doch vermeldet, dass am 24.  November 1583 in der Marienkirche während der Predigt unter der Chortreppe eine Sau geferkelt hatte (A, fal. 0 ›). Bautätigkeit und neue Einrichtungen Dem zuvor Gesagten stand gegenüber, dass sich die Bauerhaltungsund Neubautätigkeit als ein wichtiges Feld erwies, an dem sich das Wirken der Stadtobrigkeit im Kirchenwesen zeigte. Als ein Zeichen dafür, dass sich die Reformation in der Praxis nicht als abrupte Veränderung 18  Victor Herold, Das Alte sinkt – Prenzlau in der Reformation, in: Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte 35 (1940), 120–162, hier 149 f.

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darstellte, kann man die Prenzlauer Stadtordnung von 1515 (B, fol. 45 v bis fol. 50 v) sehen; denn grundsätzlich war bereits in ihr verankert, dass die weltliche Obrigkeit in die Kontrolle des Finanzwesens der großen Prenzlauer Kirchengemeinde und in das Bauwesen einzuschalten war: „Es sollen auch die Kirchväter alle Jahr ihrer Handlung; Einnahmen und Außgaben, dem Rahte Rechnung thun, nach alter Gewohnheit, und den Kirchen zum besten handlen, bawen und beßern, damit Verdächtigkeit verbleibe, und der Gottesdienst vermehret werde“ (B, fol. 49 v). Nach den Angaben, die Süring zu den Erhaltungs- und Erneuerungsmaßnahmen an den kirchlichen Gebäuden seit 1543 gemacht hat, scheint es, als seien die Erhaltungsmaßnahmen über die laufenden Einnahmen aus den Kirchenhufen und namenlosen Spenden auf der Basis des Gemeinen Kastens bestritten worden, während die Gelder für größere Erneuerungsprojekte auch aus der Kasse der Stadt Prenzlau kamen oder von privaten Spendern erbracht wurden, die dann auch mehrfach von ihm namentlich mit den jeweiligen Geldbeträgen angegeben wurden. Als er 1656 die erste Stadtbeschreibung Prenzlaus formulierte, nannte er für St. Marien die Pacht aus neun, für St. Jacob aus fünf und für St. Sabinen aus zwei Hufen und zehn Rücken auf dem Neustädtischen Feld; für St. Nikolai machte er keine Angaben, oder es gab keine Hufen. Dem Gemeinen Kasten allein flossen die Einkünfte aus 32 Hufen zu (B, fol. 6 r). Um 1670 standen der Kirche zum Heiligengeist und dem Hospital 14 ½ Hufen auf dem Alt- und Neustädtischen Feld, dem Gasthaus zehn Hufen auf dem Alt- und sechs Hufen auf dem Neustädtischen Feld, der Dreifaltigkeitskirche sechs Hufen und dem „elenden Häuselein“ zwei Hufen zu (C, fol. 29  v). Mittellos waren die Kirche und ihre Einrichtungen mit ihren über 80 von fast 250 (nach einer anderen Stelle 300) Hufen der Stadt (B, fol. 18 r, C, fol. 20 r) dann auch wieder nicht. 1546 zu Annunciationis Mariae (25. März) war die Turmspitze von St. Marien „zur Uckerstraße hin“ vom Blitz getroffen worden und abgebrannt. Am Donnerstag nach Laetare 1548 (5. März) wurde mit Beschluss der Bürgermeister Thomas Boytel, Gregorius Westphal und Thomas Hindenburg sowie des Kirchenvorstehers Baltzer Ostermann und des gesamten Prenzlauer Rates als erstes größeres Projekt der Bau einer neuen Spitze begonnen und die Arbeiten am 15.  Juni 1548 abgeschlossen (B, fol. 54  r). Es gab dazu nach Süring keine Spenden, was als Hinweis gewertet werden kann, dass sich der Rat selbst finanziell engagierte. Die weitere Entwicklung der Baumaßnahmen spricht dafür, dass man sich zunächst einmal sparsam auf bestimmte Projekte konzentrierte. 1567 wurde nämlich als zweite größere Maßnahme zu St. Marien die große Glocke „auffs newe gegoßen“ (B, fol. 59 r) sowie in demselben Jahr die



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Orgel dieser Kirche von Fabian Peterson „erbaut“ und von Peter Böckel „gemahlet“. Die Glocke scheint aus Rats- und Kirchenmitteln finanziert worden zu sein, die Herrichtung der Orgel von Matthaeus Wirtenheim, Hof- und Landrichter der Uckermark, zugleich Bürgermeister in Prenzlau (B, fol. 59 v), ohne dass Süring dazu einen Betrag angegeben hat19. Zu Annunciationis Mariae 1568 brach während der Frühpredigt das Ambonium (auch Empore, Porkirche, Laienchor) der Nikolaikirche mitsamt der darauf versammelten Kirchgängerschaft ein (B, fol. 60  r). Man hatte die Dinge laufen lassen oder kein Geld gehabt, Reparaturen waren jedenfalls lange Zeit nachweislich ausgeblieben. Angesichts der eher mäßigen Bilanz der Kirchenvisitation von 1557 liefen die Bemühungen um die Verbesserung der weltlichen und geistlichen Verwaltung immer mehr zusammen, was sich in den Statuten der Stadt Prenzlau von 1577 und der Kirchenvisitation desselben Jahres ausdrückt. Der Stadt wurde deutlicher als 1515 die Oberhoheit über die Kirche erteilt, zugleich wurde sie als christliche Obrigkeit definiert20. In der folgenden Zeit traf vieles zusammen, was die Bautätigkeit hätte lähmen können: Gegen Ende Juni 1581 setzte die Pest in Prenzlau ein, hielt bis Weihnachten an und forderte die bis dahin höchste belegte Zahl von 550 Opfern  – unter ihnen auch weltliche Amtsträger und Pfarrer. Begleitet wurde diese Phase höchster Bedrohlichkeit durch eine Zunahme der Zaubereiverfahren. Bereits 1580 war die Prenzlauerin Lene Dise wegen Zauberei in Haft genommen worden, hatte sich unter Folter dazu bekannt, dass auch ihre Töchter Zauberinnen seien, ihre Äußerungen jedoch später zurückgenommen, war jedoch nach 18 Wochen in der Haft verstorben.21 Im August 1581 wurden die Gürgen Kaletzesche und die Hans Behnickensche als Hexen „mit Feur vom Leben zum Tode“ befördert. Im September des Jahres schloss sich die Verscharrung der Margaretha Beyers beim Galgen durch den Scharfrichter an, einer „nach Bekäntnis etlicher gefangener Weiber“ der Zauberei verdächtigen Frau, die in Haft einer anderen Person ein Messer entrissen, diese niedergestochen und sich dann selbst getötet hatte. Es folgten zwei weitere Feuervollstreckungen wegen Zauberei und Teufelsbannerei an der Claus Bredenfeldischen im Dezember 1581 und der „Ohmischen“ im April 1582 (B, fol. 65 r 19  Im zweiten Band  des Brandenburgischen Klosterbuches ist  vermerkt, dass die Glocke des Franziskanerklosters der Stadt Prenzlau geschenkt wurde, um bei der Umgießung der großen Glocke  von St. Marien Verwendung zu finden, nennt dafür aber das Jahr 1575. P. Riedel/M. Schulz, Prenzlau. Franziskaner (Anm. 15), 962. 20  K. Neitmann, Prenzlau im Zeitalter der Reformation (Anm. 1), 112. 21  Lieselott Enders, Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis 18. Jahrhundert, Weimar 1992, 276.

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bis 66  r)22. Dazu gab es Todesurteile wie im Fall des Conrad Rieke, der 1580 gefoltert und in Prenzlau hingerichtet wurde, weil er als Gast des Kaplans Fincke die Einwohnerschaft des Hauses umgebracht hatte. In demselben Jahr henkte man Hans Gier wegen Kircheneinbruchs. 1581 ließ man den Bauernknecht Hans Tyde, weil er 45 Diebstähle begangen hatte, „mit dem Strange vom Leben zum Tode verrichten“. Ebenfalls wegen eines Eigentumsdeliktes wurde 1582 Margarte Backstein „ersäuffet“ und auf Grund von Sodomie mit einem Rindvieh ein Michel Kiekebusch 1583 in das Fell des betreffenden Tiers eingenäht und verbrannt (B, fol. 64 r, 64 v, 66 v, 68 v). 1584 herrschten in Prenzlau die Pocken, an denen 100 Menschen starben. Im Mai 1585 regte sich die Pest erneut und ging im August mit 82 Opfern zu Ende (B, fol. 70 r und 70 v). Über 730 Tote durch Epidemien in vier Jahren – rund ein Viertel der Bevölkerung – könnten Lethargie hervorgerufen haben. Der Rat erließ hingegen 1585 eine neue Gerichtsordnung, eine neue Fleischordnung und wegen der Pest eine „Scheu=Ordnung“ (B, fol. 71  r). Das Vorgehen gegen Zauberei und Kontakte mit dem Teufel, bei dem der Rat seine Schutzaufgabe auch gegenüber der Kirche zeigte, sowie die strenge Gerichtsbarkeit und die ungebrochene Bautätigkeit signalisieren indessen eher den Willen zu Stärke und Handlungsfähigkeit. Hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen weltlicher Obrigkeit und Kirche gab es bereits vorher Maßnahmen. 1582 fanden Beratungen des Prenzlauer Rates und der Geistlichkeit zur „Kirchenverbeßerung“ statt, deren Schlussfolgerungen im Juni des Jahres in einem 10-Punkte-Programm in allen Kirchen veröffentlicht wurden. Der Schwerpunkt lag angesichts der Ereignisse vor allem auf der religiösen Vertiefung, dazu einer Neuordnung der Gottesdienste, einem erhöhten Angebot an Katechismuslehrstunden, erweiterten Möglichkeiten  – auch für Kranke  – zum Empfang des Abendmals sowie auf einer Regelung der Pestopferbestattung (B, fol. 66  r). Die letzte Bestimmung kam gerade rechtzeitig; denn im Juli begann die Pest sich erneut zu regen (B, fol. 66 v). Es kann an den Zufällen der Überlieferung liegen, dass die 1580er Jahre stärker als die anderen Jahrzehnte mit Bautätigkeit belegt sind. Sollte diese Tätigkeit tatsächlich so überproportional rege gewesen sein, wie Süring sie angegeben hat, dann ließ man sich hierin gerade nicht von der schwierigen Situation beeinflussen. St. Marien stand dabei im Mittelpunkt, denn 1580 wurde der Laienchor („oder die große lange Porkirche“) für die Knechte, das gemeine Gesinde, die Handwerksburschen und andere gebaut. Süring 22  Wolfgang Behringer spricht für diese Zeit von der zweiten gesteigerten Phase der Hexenverfolgung im 16. Jahrhundert. Wolfgang Behringer, Mit Feuer vom Leben zum Tod. Hexengesetzgebung in Bayern, München 1988, 50 ff.; ders., Hexen und Hexenverfolgung in Deutschland, München 1993, 135.



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benannte als amtierende Bürgermeister Christoph Schivelbein, Jonas Krusenick und Valentin Damerow (B, fol. 64 v), um auf die Initiative der Stadt zu verweisen. Kurz vor Ostern 1581 stellte man die Porkirche der Schüler zu St. Marien fertig (B, fol. 64 v) und brachte 1582 am Turm wieder eine „Schlageuhr und Seiger“ an (B, fol. 66  v). In demselben Jahr wurde die Kapelle zu St. Marien renoviert, der Laienchor gestrichen, eine neue Taufe gesetzt, das Beinhaus und der Gotteskasten wiederaufgebaut sowie „alle Uhr und Seiger in der Stadt rectificiret und widergebeßert“ (B, fol. 67 r). „Etliche Bürger“ spendeten insgesamt 24 Gulden zur Reparatur des großen Kirchenfensters der St. Marienkirche (B, fol. 67 v). Die Orgel wurde 1584 von Niclas Maßen wieder eingerichtet (B, fol. 70 r). 1583 wurde zu St. Nikolai das Ambonium  – 1568 zusammengebrochen – endlich wieder aufgebaut und gemalt (B, fol 69 v), und die Kirche erhielt 1584 eine neue Turmspitze, nebst Uhrzeiger und Glocke am Turm (B, fol. 70 r). Über mehrere Stationen (Familie von Holzendorf, Jacob von Arnim zu Liebenwalde) war der Besitz des Franziskanerklosters (Gebäude, Kirche, 6 Hufen) 1581 an Bernd von Arnim gelangt. Auf seine Initiative hin wurde das Gotteshaus 1584 wieder in Stand gesetzt (B, fol. 70  r) und als Dreifaltigkeitskirche am 24. Februar 1598 wieder in Betrieb genommen. Die erste Predigt hielt der Pastor zu St. Marien und Superintendent Johannes Fleck (A, fal. 37 ›, 39 ›). Es bedurfte also eines vermögenden Initiators, um Kirchenraum zurückzugewinnen. Für St. Jacob wurde 1585 (evt. 1586) der neue Altar von Michael Busse geschnitzt und von Stephan Lisse gemalt. Gefördert – und das heißt wohl finanziert – wurde dies durch die Bürgermeister Lorentz Lübbenow und Moritz Vilebom, der Bildschnitzer erhielt dafür 40 Taler (A, fol. 1  v). Im Vergleich dazu war der Altar zu St. Marien 1512 in Lübeck für das kleine Vermögen von „1500 Goldgülden“ geschnitzt und gemalt worden (B, fol. 45 v). 1585 wurden die Kirchenbänke zu St. Marien umgebaut, wobei für die Frauenbänke je vier Gulden an den Tischler zu zahlen waren (A, fol. 1 v). Bürgermeister Jonas Krusenick ließ 1585 auf eigene Kosten den Predigtstuhl zu St. Marien für 300 Reichstaler bauen (A, fol. 2 r). 1591 brach der Schlegel der großen Glocke zu St. Marien und wurde bei Jacob Exin in der Neustadt repariert (A, fol. 20 r). 1594 wurde die Orgel erneuert „und mit vielen newen Stimmen vermehret von Meister Clauß Maßen Orgelbauern“ (A, fol. 28 v). 1595 verlegte ebenfalls Maßen die Orgel von St. Nikolai aus dem Chor an einen neuen Platz im hinteren Teil der Kirche (A, fol. 30 »).

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Zu St. Marien wiederum wurden 1596 die große und die vier kleinen Spitzen auf dem Glockenturm nach der Uckerstraße hin sowohl „gantz new mit Kupffer, Bley und Blech ümbdecket“ als auch mit Knopf und Wetterhahn durch den Kupferdecker des Kurfürsten Thomas Nagel aus Stendal in der Altmark versehen. Die Kosten beliefen sich auf 800 Taler. Da hier kein wohlhabender Spender genannt wird, sondern die Bürgermeister und die gesamte Ratsversammlung, ist dies ein erneuter Hinweis darauf, dass dieses Geld maßgeblich von der Stadt aufgewendet wurde. Bei aller Schwierigkeit, alte Währungen in neue umzurechnen, kann dennoch gesagt werden, dass es sich hier nach heutiger Rechnung in Euro um einen Betrag in der Größenordnung einer kleineren sechsstelligen Summe gehandelt hat. Zum Vergleich: 1655 erhielt der Prenzlauer Superintendent mit jährlich 225 Gulden zuzüglich verschiedener Deputate das höchste Gehalt unter den Prenzlauer Geistlichen (B, fol. 5 v).23 Einen neuen Altar erhielt 1597 St. Sabinen (A, fol. 36  ›). Hier hat Süring als Verantwortliche die Kirchenvorsteher Jacob Braun und Bartholmeus Karve genannt, das Projekt wurde offenbar nicht von der Stadt, sondern von der Kirche betrieben. Inzwischen fielen im Juni 1597 bei der alten Nikolaikirche die Hälfte der Dachsparren ein (fol. 35 v). Das Dach zu St. Jacob wurde 1617 teilweise repariert sowie Kirchenwände in Ordnung gebracht und geweißt (A, fol. 101  v). Die Kirchengestühle neben dem Altar wurden 1618 gestrichen und verziert (A, fol. 105  v). Im August 1619 wurde schließlich die Orgel, die nebst dem Turm durch einen Blitz zerstört worden war (B, fol. 74 r), durch den Orgelbaumeister Paul Lüdemann aus Pasewalk renoviert und für 60 Gulden ein Brustpositiv eingefügt. Gegenüber der Kanzel auf dem neuen Laienchor zu St. Jacob ließen gleichfalls 1619 vier Bürger acht Kirchenstände auf ihre Kosten errichten (A, fol. 110  ›). Der Chor zu St. Jacob wurde gemalt, und die Bürger, die die Kosten trugen, konnten dort ihre Wappen anbringen (A, fol. 110 »). Im August 1619 erhielt der Turm zu St. Sabinen erstmals eine Uhr, deren Installation vom Uhrmachermeister Görges Schröder für 80 Gulden märkisch ausgeführt wurde. Dazu bedurfte es eines Spendenaufrufs durch den Pfarrer Conrad Langenacht und den neustädtischen Ratsherren Jochim Seger (A, fol. 110  ›). 1622 wurde „der newerbawte Predigt Stul“ zu St. Jacob eingeweiht, den Ber­ tram von Boytel hatte setzen lassen. Er wendete 400 Gulden für das Werk auf, das von Hanß Kaufmann getischlert und geschnitzt worden war (A, fol. 122  r). Johann Georg von Arnim spendete 1628 für St. Jacob 40 Reichstaler zum Wiederaufbau der Kirchhofsmauer am neuen und zur 23  1 Reichstaler = 1½ Reichsgulden, vgl. Johannes Theodori Jablonski, Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften, Königsberg/Leipzig 1748, 739.



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Ausbesserung der Kirchhofsmauer am alten Kirchhof (A, fol. 139 »). Vor 1630 ließ der Ratskämmerer Caspar Westphal auf eigene Kosten zu St. Nikolai einen neuen Beichtstuhl bauen (C, fol. 83 v). 1634 wurde noch das Dach zu St. Jacob teilweise erneuert (A, fol. 164 v). Für das Jahr 1638 mit der Pest und der großen Hungersnot, die zu Fällen von Kannibalismus führte (B, fol. 252 r–252 v), hat Süring nur vermerkt, dass das Dach von St. Georgen eingefallen war (B, fol. 7 r). Mit der Unterbringung kaiserlicher Soldaten hatte in Prenzlau 1627 für 21 Jahre eine „continuirliche“ Einquartierung der verschiedensten Truppen mit zunehmenden Kontributionen, Ausplünderungen, Verwüstungen, Hungersnöte, Epidemien und Zerrüttung der Ordnung begonnen (A, fol. 130 ›). Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg fanden wieder Erhaltungsarbeiten und einzelne Ausstattungen in weit geringerem Wert als vorher statt. Die Holzbefestigung der Glocken zu St. Marien wurde 1655 erneuert (B, fol. 94). Ein Schutzzaun wurde 1656 von dem Superintendenten und Privatbesitzer der Klostergebäude David Malichius um das Sabinenkloster gezogen, da der Kirchhof verwildert war; denn Rindvieh fand dort seine Weide, und die Gräber wurden von den Schweinen aufgewühlt (B, fol. 101 r). Reparaturen fanden 1657 am Turmdach zu St. Jacobi (B, fol. 107  r) und 1660 am Dach zu St. Nikolai über dem Altar statt (B, 147 v). 1664 fiel zu St. Sabinen der Schlegel aus der Glocke (B, fol. 182 v), man traf offenbar keine Vorkehrungen, sondern wartete, bis es geschah, und reparierte dann. Der Turm zu St. Jacobi wurde 1665 mit Holz bewehrt und zugleich das Glockengestell in Ordnung gebracht (B, 196  r). Der Giebel der sogenannten Klosterschule zu St. Sabinen wurde 1665 erneuert (B, fol. 196 v). St. Marien, bereits das Hauptprojekt vor dem Krieg, war 1660 als allgemein baufällig befunden worden, es drohte ein Absturz der Glocken. „Nun sind keine Geldmittel, weder bey der Kirchen, noch bey der Kämmerey vorhanden“, alle Gemeinden sollten daher eine Sondersteuer erheben (B, fol. 154 v), von der 1661 an St. Marien allgemeine Reparaturen durchgeführt wurden (B, fol. 154  r). Die Turmspitzen sollten 1665 durch eine Kollekte aus der Bürgerschaft in Ordnung gebracht werden (B, fol. 189 v). Zum Bau der Türme gab der Stadtschreiber auf Anordnung des Bürgermeisters 15 Taler zur Kollekte. Süring hat die zentrale Formel für dieses Bauvorhaben wiedergegeben: „do doch der Raht oder Cämmerey Thürme zubawen schuldig“ (B, fol. 196 r). Die Arbeiten an den Turmspitzen zu St. Marien begannen im Mai 1666 (B, fol. 203) und endeten Ende Oktober 1666 mit dem Aufsetzen von Knopf und Wetterhahn (B, fol. 206  v–207  r). Ebenfalls 1666 wurden zu St. Marien ein neues Glockengestell eingefügt (B, fol. 205 r) und eine umfangreiche Reparatur der Zeigerglocke vorgenommen (B, fol. 207 v).

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Objektspenden Der Bildhauer Tobias Schröder fertigte 1621 „eine schöne zierliche newe Tauffe“ an und schenkte sie der Kirche zu St. Nikolai (A, fal. 116 ›). Adam Schildknecht verehrte der Kirche zu St. Jacob 1622 eine „Meßingerne Krone“ im Wert von zwölf Reichstalern, die inmitten der Kirche aufgehängt wurde (A, fol. 122 r). Immanuel Herwarth übertrug den zwei Diakonen zu St. Marien 1633 einen „Camp Landes“ auf dem Neustädtischen Werder (A, fal. 160 ›). 1634 spendete der Bürger und „Keßelführer“ Caspar Fase der Jacobskirche einen Altarleuchter aus Messing nebst der Versorgung mit Kerzen, „so lang er in diesem Kirchspiel wohnen würde“, und übernahm die Kosten der Versorgung mit Abendmahlswein für ein Jahr (B, fol. 64  r). 1654 verehrte der Prenzlauer Bürger und Riemer Zacheus Dargemann der Marienkirche die im Chor aufgehängte „meßingerne Crone“, die er für sechs Taler erworben hatte (B, fol. 88 r). Der Töpfer Hanß Lichtenberg spendete der Marienkirche zu Ostern 1667 ein neues grünes Tuch für die Altarstufen (B, fol. 209 r). Geldspenden an den Gemeinen Kasten oder an einzelne Kirchen Der Ratsverwandte Hans Boytel vermachte der Kanzel zu St. Jacob, kurz bevor er 1581 an der Pest starb, 100 Taler. Hieraus sollten der Pfarrer und der Kaplan je drei Taler Zins jährlich erhalten (B, fol. 63 r). Der Kämmerer Bartold Schultz und eine Frau Geringersche spendeten 1582 zum Unterhalt der Geistlichkeit dem Gotteskasten 50 bzw. 100 Gulden (B, fol. 67  r). Die Wehemutter, genannt die Andreas Schönfeldische, verehrte 1584 den Predigtstühlen, Kirchen und Hospitalien 100 Reichstaler (B, fol. 70 r). Der Kämmerer Joachimus Riemer vermachte 1585 dem Gotteskasten 60 Reichstaler (A, fol. 2  r). Christina Pauls, Frau des Bürgermeisters Jonas Krusenick, spendete bis zu ihrem Tod 1599 sehr viel für Prediger, Kirchen und Schulen (A, fol. 46 ›). Matthaeus Lemchen, Pfarrer zu St. Jacob und Chronist Prenzlaus, vermachte der Kanzel zu St. Jacob 1619 vor seinem Tod 25 Gulden und dem Elenden Häuselein (Armenhospital) zwölfeinhalb Gulden zur Verzinsung (C, fol. 94 r). Otilia Rammiens verehrte dem Predigtstuhl und der Kirche zu St. Jacob ein Jahr später zusätzlich zu den 40 Gulden von 1610 weitere zehn Gulden, von diesen 50 sollten je 25 Gulden dem Predigtstuhl und der Kirchen zinsbar werden (A, fol. 112 v). Süring verschwieg nicht, dass der Gotteskasten allein 1587 zweimal beraubt wurde (A, fol. 7 r). Bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein gab es vor dem Hintergrund einer verminderten Ausstattung der Prenzlauer Kirche mit Geistlichen, Immobilien und Einkünften ein gleichwohl gedeihliches Zusammenspiel



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von Rat, Kirche und privaten Förderern zur Erhaltung der Gotteshäuser und zur Erneuerung und Erweiterung ihres Inventars. Dabei stand St.  Marien auf Grund ihrer Größe und Bedeutung als Sitz des Super­ intendenten im Mittelpunkt der Bau- und Ausstattungspolitik. Der Rat der Stadt entschied maßgeblich und finanzierte entsprechend mit. Nach den Einträgen Sürings kam, der Rangfolge der Prenzlauer Kirchen entsprechend, im Aufwand an zweiter Stelle St. Jacob, danach St. Nikolai und zuletzt St. Sabinen. Die Verarmung durch den Dreißigjährigen Krieg bewirkte einen deutlichen Rückgang der Arbeiten. Schenkungen und ­ Geldspenden sind von Süring kaum noch erwähnt. Hier spielte langfristig auch der Bedeutungsverlust Prenzlaus im brandenburgischen Rahmen eine Rolle.24 Wenn 1665 der Rat die Reparatur der Turmspitzen von St. Marien nicht übernahm, sondern zur Kollekte einen Beitrag leistete, zeigt dies besonders deutlich, in welch schwieriger Lage sich die Stadt selbst befand. Die hier hilfreichen größeren Geldspenden wären eigentlich als Stiftungen zu bezeichnen. Dabei überschneiden sich der Einfluss des Rates auf die Bautätigkeit und die Spendenbereitschaft, denn gerade Bürgermeister, Bürgermeistersgattinnen, Angehörige des Rates und Kämmerer leisteten Beiträge. Während Süring keine solchen über 1610 hinaus verzeichnet hat, gab es Objektspenden, wenngleich in stark vermindertem Wert, auch über den Dreißigjährigen Krieg hinaus. V. Zucht und Unzucht – Die Überwachung der Familienverhältnisse Um Besitz und Einfluss reduziert, kümmerte sich die Kirche umso mehr um ihre engeren Angelegenheiten wie die Erhaltung der noch genutzten Kirchen, die Gottesdienste, die Unterrichtung in Glaubensfragen, die Seelsorge und nicht zuletzt um die genaue Kontrolle der Fami­ lienverhältnisse in ihren Gemeinden. Damit setzte sie eine bereits vor der Reformation bestehende Aufgabe verändert fort. An die Stelle der Ehe als Sakrament trat die Aufwertung der Ehe und Familie als „Ort des christlichen Glaubens- und Liebesbeweises“25 mit erhöhter Verfolgung außerehelicher Sexualität. In Punkt 6 der Kirchenverbesserung von 1582 wurde bestimmt, dass „die Ehebrecher, Hurer pp solten öffentlich vor der gantzen Gemeine ­Buße thun, und absolviret werden“ (B, fol. 66 r). Ein exemplarischer Fall 24  F.

Göse, Prenzlau in der Zeit des „Absolutismus“ (Anm. 1), 142. Margraf, Die Hochzeitspredigt der Frühen Neuzeit (Geschichtswissenschaften, 16), München 2005, 84 f. mit Verweis auf Martin Luther, Vom ehelichen Leben, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesammtausgabe (Weimarer Ausgabe, 10/2), Weimar 1907, 267–304, hier 276, Z. 21–31. 25  Erik

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fand sich bereits im Dezember desselben Jahres, als öffentlich wurde, dass ein Johann Mintha in Prenzlau sich in einer Zeit, in der seine Frau „wegen einer Melancholischen Kranckheit nicht allerdings woll bey Verstande und Sinnen war, also, daß sie einander nicht ehelichen beywohnen können eine zeitlang […] zu einer losen Personen gefunden, und mit ihr gezeuget zwey Kinder“ (B, fol. 67  r). Hier verordneten Ministerium, das heißt die Geistlichkeit26, und Rat gemeinsam, dass er dem Rat eine Strafe zu zahlen, sich mit der Geistlichkeit auszusöhnen, seine Sünde zu erkennen und zu bitten habe, ihm möge der Zugang zur Kirche und Gemeinde sowie die Beteiligung am Abendmahl wieder erlaubt sein, unter der Bedingung, das erregte Ärgernis in der Kirche „öffentlich vor allem Volck und der gantzen christlichen Gemeinde“ mit großer Andacht und Ehrerbietigkeit abzubitten und so „von seinen Sünden absolviret“ zu werden. Man gab ihm dafür neun Wochen Bedenkzeit. In einer halbseitigen Wiedergabe der „Publication der Poenitenz oder Buße Johannis Minthae, von der Cantzel geschehen vor derer Christlichen Gemeinde“ heißt es, Mintha habe die Forderung bereits vier Wochen später akzeptiert (B, fol. 67 v). Ebenfalls noch 1582 forderte ein Jochim Ülke, dass die Kirche seine Verlobung lösen solle, weil er nachträglich erfahren habe, dass seine Braut ein „Hurenkind“ sei, d. h. Tochter einer „berüchtigten“ Person. Dies würde ihm in seinem beruflichen Vorankommen „schädlich und nachtheilig sein“. Hierin war sich die Geistlichkeit ganz sicher und erklärte, dass „Er von seiner braut nicht könnte oder möchte loßgesprochen werden […], wen nur die Tochter in vorigten Jahren, ehe die Mutter eine solche unzüchtige geworden, von ihr, aus einem Ehlichem und ehr­ lichem Bette gezeuget were worden, wie den geschehen; darauff Er seine Braut nam, und schadete ihme auch nichts an seiner Beförderung“ (B, fol. 68 r). Verbindet man beide Fälle, so stellt sich heraus, dass man in dieser Zeit eine Frau, mit der man verlobt war, zu heirateten hatte, wenn diese vor der Zeit ihrer Mutter als lose Person geboren worden und daher kein „Hurenkind“ war. Im anderen Fall trennte sich auf Aufforderung von Rat und Kirche ein Mann, um in die Kirche zurückzukehren, von seiner Geliebten. Die Kinder werden nach dieser Anschauung in der Öffentlichkeit als „Hurenkinder“ gelebt haben müssen und waren, da die Kirche diesem nicht entgegentrat, für ihr Leben stigmatisiert, also für die „Vergehen“ ihrer Erzeuger gestraft. Nach Entrichtung einer Geldbuße und öffentlicher Reue widerfuhr dem Mann alle Vergebung, die Frau und ihre zwei Kinder wurden in der „Publication der Pönitenz“ jedoch ignoriert. 26  Ministerium

= Dienerschaft = Dienerschaft Gottes = Geistlichkeit.



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In der Entscheidung spielte der Gedanke der Barmherzigkeit mit ihnen offensichtlich keine Rolle. Stattdessen wird hier die Unerbittlichkeit auch oder gerade der evangelischen Kirche deutlich. Das Bestreben, sich gegenüber der weltlichen Obrigkeit als Institution darzustellen, die es vermochte, in ihrem Zuständigkeitsbereich Disziplin zu schaffen, trat hervor. Wie schwer Letzteres bei jungen Leuten durchzusetzen war, zeigte sich bereits zu Ende des 16. Jahrhunderts. 1598 begann sich in der nach der Reformation verödeten St.  Gürgenskapelle (St.  Georgen) „allerley loses Gesindichen dahin zu finden, Bauknechte und Mägde da zusammen zu kommen, da zu freßen und zu sauffen, üppigkeit zu treiben, mit ihrer Herren und Frawen großen Schaden, und auch woll zu Nacht deshalb aus ihren Häusern geblieben“. Dagegen ging der Rat vor. Am 16.  Juni 1598 „wurden 5 Persohnen zur Staupe geschlagen, ümb das, das sie zu S. Gürgen ungescheuet unzucht getrieben hatten“. Weder für die Dienstherren noch für die Kirche scheint es leicht gewesen zu sein, gerade das Gesinde zu disziplinieren. 1624 wurde der Ratsverwandte Albertus Mörlin aus dem Rat ausgestoßen, weil er als Witwer mit der hinterlassenen Frau des früheren Syndikus Johan Lüdeke eine Beziehung geführt hatte, aus der ein Kind entstanden war. In der Befürchtung von Folgen hatten sie das Kind mit einem Zettel, dass es noch nicht getauft sei, dem neustädtischen Ratsherrn Jochim Seger in einem Korb heimlich an die Haustüre hängen lassen. Die Sache flog auf, die Witwe nahm das Kind wieder zu sich, und die unzüchtigen Eltern mussten heiraten. Das Kind starb mit zwei Jahren (A, fol. 124 r). Diese Fälle reihen sich in der Chronik in eine Folge von insgesamt 40 Hinweisen und Falldarstellungen zu Unzucht, Hurerei und Hurenkindern ein, welche für die Geistlichkeit offenbar ein dauerhaftes Problem darstellten. Weiterhin wurden Fälle aufgedeckt wie der des Glockenläuters Christian, der 1665 in Haft gebracht wurde, als sich herausstellte, dass er seit 20 Jahren in Prenzlau mit einer Frau lebte, obwohl er eine andere mit ihm verheiratete Frau in Pommern verlassen hatte (B, fol. 196 r). Diese Kontrollneigung ließ im Übrigen nicht nach und machte auch vor den besseren Kreisen nicht Halt, erlebte aber 1669 ihren Höhe- und Wendepunkt. Die Kirche stellte Berechnungen zwischen den Hochzeitsund Erstgeburtsdaten an, und dies nicht zuletzt – in der Chronik zur Sicherheit auf Lateinisch  – im genannten Jahr über die Tochter Elisabeth und den Enkelsohn des fünf Jahre zuvor verstorbenen Superintendenten David Malichius, bei denen der Abstand zu kurz zu sein schien – ein echter Skandal. Die Kirche erwartete von den jungen Eltern die Darlegung

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des Falles und die Abbitte. Der Kindesvater Ignatius Hülsekopf, ein Berliner Kammergerichtsadvokat, ließ sich dies indes nicht gefallen, sondern zog zur Legitimierung seines Siebenmonatskindes die Werke des Leipziger Rechtsgelehrten Benedictus Carpzovius27 und anderer heran, die, der Autorität des Hippokrates folgend, die Siebenmonatsschwangerschaft als legitim ansahen (B, fol. 241  v). Er vermochte es, sich so der kirchlichen Zensur zu entziehen, beging damit nach Süring aber ein großes Unrecht; denn alle „Frühvaters“, selbst Adlige, hätten bis dahin öffentlich abbitten müssen. Die junge Mutter wurde auf dieser Basis „gleich denen ehrlichen und ehrbaren“ Frauen vom Pfarrer zu St. Nikolai in die Gemeinde eingeführt, dazu war die Beichte notwendig, die, worüber Süring besonders erbittert war, ein Verwandter des Kindesvaters abnahm. Die Kirche erlitt hier in ihrem Bestreben, in ihrem Sinne unter den Gläubigen für Zucht und Ordnung und insbesondere für eine Sexualität zu sorgen, deren einziger Ort die Ehe zu sein hatte, eine Niederlage. Wenn der Fall des Advokaten und seiner Frau für Prenzlau einen Wendepunkt darstellte, dann deutet sich hier ein Ausblick in das 18. Jahrhundert an, in dessen Verlauf man solche Fälle weniger stark oder jedenfalls anders verfolgte. Ulrike Gleixner hat in ihrer Untersuchung über uneheliche Schwangerschaften auf dem Dorf in der Altmark zwischen 1700 und 1760 festgestellt, „daß durch die Anerkennung der Vaterschaft die Ehre der Frau wiederhergestellt wurde“28, und kommt zu dem Schluss, dass Eltern und lokale Obrigkeit auf dem Land pragmatisch an der Zusammenführung der Geschwängerten und des Schwängerers arbeiteten. VI. Bildung Wenn die Stadt Prenzlau von der Reformation profitierte, dann in der Bildung. Dies lag daran, dass Martin Luther als zentrales Ziel gefordert hatte, jeder Christ solle in der Lage sein, über das Bibelstudium zu Gott zu finden.29 Dazu musste jedermann lesen können, für eine allgemeine Ausbildung im Lesen und Schreiben – und anderen Grundkenntnissen – war also zu sorgen. Darauf aufbauend sollten die weiterführenden Schu27  Benedictus Carpzovius jun., Jurisprudentia Forensis Romani-Saxonia. Secundum Ordinem constitutionum D. Augusti Electoris Saxon. in Partes IV. divisa, Lipsiae [Leipzig] 1668. 28  Ulrike Gleixner, „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion  von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760), Frankfurt/New York 1994, 207. 29  Martin Luther, An die Burgermeyster und Radherrn allerley stedte ynn Deutschen landen, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesammtausgabe (Weimarer Ausgabe, 15), Weimar 1899, 27–53, hier 27 ff.



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len ihre Wirkung erzielen. Etwa 1620 oder 1621 trat Süring selbst in die lateinische Schule zu Prenzlau ein und erhielt die Grundlagen für ein Theologiestudium.30 Wie erwähnt wurde 1543 die eigentliche Schulgründung in Prenzlau vollzogen. 1573 wurde die Schule mit zwei Stuben am Kirchhof zu St. Marien fertiggestellt (B, fol. 61  r). In der Kirchenverbesserung von 1582 erhielt der Superintendent die Aufsicht über die Mädchenschule, sie sollte „sich nach seiner Ordnung richten“ (B, fol. 66 r). 1586 fand die Eröffnung der Schule mit einer dritten Stube unter großer Beteiligung der Bevölkerung und reichen Spenden statt, unter denen Süring neben anderen namentlich die Unterstützung der Frau Landvögtin von Arnim hervorgehoben hat (A, fol. 3 v). Das Ereignis stellte einen Höhepunkt im Zusammenwirken von Rat, Kirche und Bevölkerung in einem Bildungsprojekt dar.31 1653 widmete Martin Karstede, Ratsverwandter und vornehmer Handelsmann, den fünf Collegen der Schule 28 Gulden von den sechs Hufen, die er vor der Stadt hatte (A, fol. 191 v). Dies verweist auf die Bedürftigkeit nach dem Krieg hin. In Prenzlau gab es nach Sürings Beschreibung aus dem Jahr 1655 neben einer Deutschen Rechen- und Schreib-Schule und einer Mädchenschule eine „Particular= oder Trivial=Schule“, die er selbst besucht hatte.32 Voll ausgestattet, hätte sie über sechs „Collegen und Collaboratores“, nämlich den Rektor, den Konrektor, sodann den Kantor, den Subrektor, den „Baccalaureus“ und den Auditor verfügen sollen. Dem entsprachen sechs Klassen, „alß von oben her, Prima, Secunda, Tertia, Qvarta, Qvinta, Sexta, deren immer zwo Classes, eine Stube haben“. Eine eigene Wohnung nahe bei der Schule hatte nur der verheiratete Rektor, die übrigen hatten Zimmer in der Schule und waren „alle Tage abgewechselt“ bei Bürgerfamilien zu Tisch. Ihr Salär sollten sie aus dem Gotteskasten erhalten (B, fol. 7  v). Es wird nicht überraschen, dass Süring die Situation der Schule nach dem Dreißigjährigen Krieg als sehr schwierig beschreibt, denn es gab Rückstände in der Bezahlung, und zeitweilig erteilten nur zwei und 1652 nur noch ein Lehrer, nämlich der Rektor selbst, Unterricht (A, fol. 189 v). Von 1610 bis 1636 gingen auf Grund privater und schulischer Vorbildung zehn Schüler aus dem uckermärkischen Adel und 40 Schüler aus den uckermärkischen Städten  – davon neun aus Prenzlau  – auf das Jo­ 30  E.

Schwartz, Geschichte der Uckermärkischen Hauptstadt (Anm. 14), 5 f. des Gymnasiums zu Prenzlau  von 1543 bis 1893, Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehen der Anstalt, hrsg.  v. Richard Arnoldt, Prenzlau 1893, XI. 32  Ebd., 45. 31  Geschichte

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achimsthalsche Gymnasium. Unter den 43 Studierenden aus der Uckermark gab es an der Universität Greifswald von 1459 bis 1506 27 Prenzlauer. Von 1506 bis 1625 gingen an die Universität Frankfurt a. d. Oder 238 und nach Greifswald 22 junge Männer aus Prenzlau. Von 1502 bis 1560 bezogen 14 Prenzlauer die Universität Wittenberg. Nach Jahrzehnten gerechnet, waren an den Universitäten zwischen 1540 und 1580 zusammen je zwölf bis 14 Personen aus Prenzlau immatrikuliert, von 1581 bis 1590 allein 36, von 1591 bis 1600 38, von 1601 bis 1610 41 und auf dem vorläufigen Höhepunkt von 1611 bis 1620 49. Seit 1625 ging die Zahl der Immatrikulationen kriegsbedingt zurück.33 Um die Existenz eines geistigen Umfeldes der Schulen vor dem Krieg zu beleuchten, hat Süring in seiner Chronik die in Prenzlau entstandenen und gedruckten Publikationen um 1600 genannt, die hier nach dem Erscheinungsjahr geordnet sind: David Herlicius (Herlitz aus Schlaitz bei Bitterfeld, 1581−83 StadtPhysicus in Prenzlau), Tractatus de Peste, 1581 (B, fol. 66 r), Thomas Alberti (aus Friesack im Havelland, Pfarrer zu St. Nikolai, † 24.3.1589), Speculum Christianorum. der Christen Spiegel, in den 8. Seligkeiten aus Matth. 5 vom 3. Verse an bis auf den 11. mit eingeschlossen, in 8°, Berlin 1588, lateinisch (A, fol. 13 r), Christianus Calenus (Kale von Fehmarn, Medico-Physicus von Prenzlau, † 16.10.1628), 1. Consilium pestilentiale oder einen kurzen und einfältigen Bericht von der grausamen und geschwinden Seuche der Pestilenz, wie man derselben geschwinde vorkommen und sie curiren kann, welches er den Bürgermeistern, Syndico, Kämmerern und Rath allhie dediciret (gewidmet) und zugeschrieben hat, gedruckt zu Alten Stettin 1605 in 4° Dedicatoria (Widmung) ist gegeben am Tage Gregorii (A, fol. 138 ›), 2. Meditationes de amuletis sive appensis, utrum illis per se et ex suo natura vis quaedam insit non nullos morbos abigendi et profligendi, Stetini 1605 in 4° gedruckt (Untersuchungen über die Anwendung des Amulettes, ob jene selbst und aus ihrer (eigenen) natürlichen Kraft bis zu einer gewissen Grenze wirken, ob sie wirksam die Geister Verstorbener verscheuchen und überwältigen, Stettin 1605, 400 Exemplare) (ebd.),

33  L.

Enders, Die Uckermark (Anm. 21), 267 f.



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Johannes Flaccus (Fleck aus Zwickau, Superintendent zu Prenzlau, 1602 Hofprediger Kurfürst Joachim Friedrichs), 1. Neun christliche Predigten vom instehenden Jüngesten Tage in diesen hochbetrübten weltleuften gantz nötig zu lesen vnd gehalten Jn S. Marien Kirchen der […] Stadt Prentzlow, Stettin 1600 (C, fol. 91 r), 2. Idea Christianae Reipublicae oder Einfältiger Abriß eines Christ­ lichen Regiments, Frankfurt an der Oder 1602 (A, fol. 54 ›), Joachimus Iordanus (Kämmerer und Cantor Scholae zu Prenzlau, † 29.9.1637), Analysis Logico Rhetorica per tabelles, Libri 4 v. 5 Aeneidis Virgilii, Stettin 1612 ( A, fol. 179 »), Richardus Eccardi (Musiker und Komponist aus Löcknitz in der Uckermark, Kantor der Fürstenschule zu Saalfeld in Preußen), Viridarium animæ Davidicum oder Newe Geistliche Lieder aus dem Psalter=Büchlein Davids mit 3 Stimmen componirt, anno 1617, Gedruckt zu Alten Stetin bey Johan Dubern (A, fol. 66 »), Elias Pauli (Sohn des kurfürstlich-brandenburgischen Hof- und Landrichters zu Prenzlau, Syndikus der Pommern-Stettinschen Landschaft und der Stadt Stettin, königl.-schwedischer, fürstl.-croyscher und fürstl.kurländischer Rat), Tractatus, de rectè formando studiô Politico, [vor 1635] (A, fol. 166 v). Nur eine Minderheit dieser „Viri Literati“ waren gebürtige Prenzlauer und Uckermärker. Mit diesen kamen in Prenzlau Persönlichkeiten zusammen, für die es ein Karriereschritt war, zeitweilig oder auf Dauer ein akademisches Amt in einer der führenden Städte Brandenburgs auszuüben. Sie trugen zum geistigen Leben in Prenzlau maßgeblich bei. Zu diesem Kreis der gelehrten Köpfe zählte Süring wohl auch sich selbst  – in der Chronik stellenweise als Süringius  – und den Sohn eines seiner Vorgänger zu St. Sabinen, Valerius Zimmermann, „Primislaviensis Poeta Laureatus und guter Philologus“, der Germanien, ­ Ungarn, Böhmen, Preußen, Reußen, Schweden, Norwegen, Dänemark, Frankreich und Italien bereist hatte, aber 1625 mit 44 Jahren in Prenzlau gestorben und zu St. Nikolai beerdigt worden war (A, fol. 126 ») und daher seine Kenntnisse nicht mehr veröffentlichen konnte. Die Situation wird deutlich. Eine gut ausgestattete Schule mit zahlreichen Absolventen hatte Erfolg an den Universitäten. Die Regelung aus der Kirchenverbesserung zeigt die zu dieser Zeit vom Rat begrüßte enge Verbundenheit von Schule und Kirche, die Erweiterungsmaßnahmen von

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1586 verweisen auf eine enge Zusammenarbeit von Rat, Kirche und Bevölkerung. VII. Kooperation und Tauziehen mit dem Rat Während die Kirche in der vorreformatorischen Zeit ein Eigenleben geführt und die Klöster in der Stadt eine bedeutende Stellung gehabt hatten, änderte sich dieses dualistische System zwischen weltlichen und geistlichen Institutionen in der Folge zu Gunsten der säkularen Obrigkeit. Die Reformation war zunächst eine Zeit der tiefen konfessionellen Erneuerung, aber auch der Verteidigung der kirchlichen Möglichkeiten, eine Zeit der Arbeit mit weniger Besitz und Einkünften. Wenn die weltliche Führung in Prenzlau in der Stadtordnung von 1577, die Süring nicht erwähnt hat, zur christlichen Obrigkeit erklärt wurde, zeigt dies, dass sie zugleich die Kirche schützen sollte, aber auch – und gerade deswegen  – den Anspruch auf deren Oberhoheit erhielt. Wie der Kurfürst oberster Schutzherr der Landeskirche war, war der Rat von Prenzlau der Patron der Prenzlauer Kirchengemeinden. „Alß zum erstenn daß vom Erbaren Rathe, vor allen Dingenn Gottes ehre be= fürdertt, Gotteslesterungenn vnnd Vntzuckt hintertrieben vnnd daß gottliche seligmachende Wort, vnuorfelschett vnnd lauter geleret, daß Ministerium Kirchenn Schülernn, gemeine Kaßenn vnnd Hospitalen, samptt derselben gebeuden vnnd einkommen, nach bestenn Fleiße vnnd vormegenn, inn guter achtt gehabtt werde.“34

Da die Kirche insbesondere nach dem Dreißigjährigen Krieg in die Defensive geriet, führte dies zu Reaktionen der Geistlichkeit – dazu drei Beispiele: Süring erhielt am 13.  Juni 1654 die Mitteilung, der Rat habe beschlossen, ihn als Pfarrer einzusetzen. Diese berufliche Aussicht riskierte er in der Folgezeit jedoch ernstlich, weil er nicht als ein von der weltlichen Obrigkeit eingesetzter Amtsträger angesehen, sondern auch – ganz protestantisch – von der Gemeinde angenommen werden wollte. Es gab bald einen Gegenkandidaten, dessen Bestrebungen jedoch vom Superintendenten David Malichius blockiert wurden, der weder den Konflikt mit der städtischen Obrigkeit noch, wie Frank Göse betont hat, mit dem Kurfürsten scheute35. Süring hielt diese Hängepartie aus, bis die Zustimmung der Gemeinde als erfolgt angesehen werden konnte, und 34  Stadtarchiv Prenzlau, Rep. 8 Prenzlau, Nr. 8, Statuta der Stadt Prentzlow anno 1577, 2. 35  F. Göse, Prenzlau in der Zeit des „Absolutismus“ (Anm. 1), 156 f.



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wurde im Februar 1655 sogar in Cölln vom Vorsitzenden des Geheimen Rates Thomas von dem Knesebeck zu den Vorgängen befragt. Anfang April 1655 wurde er daraufhin vom Cöllner Probst Andreas Fromm ordiniert. Am 17. April 1655 – so schrieb Süring stolz – „verreichte ich […] am ersten in meiner anbefohlenen Kirchen das h. Abendmahl und waren 53 Communicanten“ (B, fol. 91 v). Im August 1664 weigerte sich der Superintendent David Malichius, einen Matthias Erasmus Kohlreiff aus Cölln, der vom Rat ernannt worden war, als Konrektor der Prenzlauer Schule einzuführen. Dies muss höheren Stellen in Cölln bekannt gemacht worden sein, Malichius hatte jedenfalls am 22. des Monats dort „bey Verlust seines Dienstes“ zum Verhör zu erscheinen, musste indes zu seiner Verwunderung unverrichteter Dinge nach Prenzlau zurückkehren, da in der Zwischenzeit der Prenzlauer Rat (oder Kohlreiff?) in Cölln vorstellig geworden war. Die Angelegenheit nahm ihren Fortgang, indem der Rat am 5. September den eigenen Kandidaten durch den Prenzlauer Syndikus Christianus Butelius in sein Amt einführen ließ. Für die Geistlichkeit war empörend, dass auch dies hinter ihrem Rücken und dem des Superintendenten geschah, was zu einer schweren Verstimmung mit dem Rat führte (B, fol. 178 v). Dieses Tauziehen setzte sich fort, als am 1.  April 1666 ein Johannes Meinelvus zu St. Marien als Subdiakon eingeführt wurde, und zwar auf kurfürstlichen Befehl von Paulus Cramerus, dem Inspektor von Gramzow, also einem Auswärtigen, und genannter Meinelvus acht Tage hernach seine Einstandspredigt hielt. Wiederum umgangen, boykottierte die gesamte Prenzlauer Geistlichkeit beide Veranstaltungen (B, fol. 202  v). Diese drei Vorgänge, zu denen sich noch andere Ereignisse nennen ließen36, zeigen, dass eine geordnete Verwaltung noch längst nicht verhinderte, dass es zu Querelen kam, wenn es um Kirche und Schule ging. Die Art des Protestes belegt zudem, dass die Kirche aus der schwächeren ­Position heraus agierte. VIII. Fazit Martin Luther hat mit seinem Thesenanschlag eine Lawine gesellschaftlicher Entwicklung losgetreten und es der entstehenden evangelischen Kirche auf lokaler Ebene dabei nicht leicht gemacht. In der Zeit des Aufbruchs, die den Geistlichen wenigstens die Priesterehe bescherte, kämpfte die Prenzlauer Kirche um ihren Besitz, ihr Einkommen und ihre Eigenständigkeit, wobei die weltliche Obrigkeit signalisierte, trotz ver36  K.

Neitmann, Prenzlau im Zeitalter der Reformation (Anm. 1), 118 f.

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stärkter Kontrolle über die kirchlichen Finanzen mit ihr quasi auf gleicher Augenhöhe kooperieren zu wollen. Immerhin war die Kirche gleichzeitig Gegenstand und Trägerin der konfessionellen Erneuerung. Was die Akzeptanz der Reformation betrifft, scheint hier ein breiter Konsens erzielt worden zu sein, wenngleich selbstverständlich nicht alle Prenzlauer so strikt wie Süring ihre Regeln beachteten. Faktisch griff die weltliche Obrigkeit in der zweiten Phase der Reformation mit der Übernahme wesentlicher Bau- und Erneuerungsarbeiten an den Kirchen bereits maßgeblich in den geistlichen Bereich ein. Zunehmend kämpfte die Kirche jetzt auch um ihren geistlichen Einfluss. Als protestantische Pflichten galten Mäßigung in äußerem Aufwand und in Vergnügungen, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Strenge im Familienleben und besonders Fleiß („Unser Leben währet siebzig Jahre und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen“37). Das darauf beruhende Wertesystem war in Kirche und Schule zu verteidigen. Wenn in der Frage von Ehe und Sexualität besonders nachgehakt wurde, hatte dies damit zu tun, dass es hier an den Kern des Wertesystems ging. Dagegen zu verstoßen, wurde mit den höchsten disziplinarischen Maßnahmen bedroht, die der Kirche zur Verfügung standen. Mit der Zurückweisung vom Abendmahl konnte auch ganz praktisch die Befürchtung verbreitet werden, als entehrt aus dem solidarischen Kreis der Gemeinde ausgeschlossen und damit sozial isoliert zu werden. Die Frage der Ehe und der Abweichungen davon war insofern ein Gradmesser, wie weit der Einfluss der Kirche reichte. Stark blieb die Kirche in Schule und Bildung, bis der Prenzlauer Rat nach dem Dreißigjährigen Krieg begann, ohne Rücksprache mit der örtlichen Geistlichkeit maßgeblich in die Stellenbesetzung einzugreifen. Ähnliches hatte Süring bezüglich seiner Gemeinde erfahren und abgewehrt, als er zum Pfarrer berufen wurde. Die letzte Feststellung führt zur Person Sürings, über den im Allgemeinen gesagt werden kann, dass er das Geschehen in seiner Stadt aufmerksam verfolgte und ihr in tiefer Verbundenheit ein gutes Zeugnis für die Anstrengungen ausstellte, sich trotz der Katastrophen entwickelt und behauptet zu haben, bis der Dreißigjährige Krieg sie in ihrem Wirken und ihrem Rang tief erschütterte. Selbst danach befand er sich mit seiner geschundenen Stadt weiterhin im Einklang. Gelegentlich wirkt die Chronik indes wie ein Tagebuch, dem der Autor Informationen in verschlüsselter Form anvertraut hat. Im Einzelnen er37  Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Stuttgart 1912, Psalm 90, Vers 10.



Städtisches Kirchenregiment

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scheint der Chronist dabei streng und unnachsichtig, was bei einem Repräsentanten der Kirche, der die Aufgabe hatte und gewohnt war, ein Beispiel in Pflichterfüllung zu geben, nicht überraschen wird. Wenn Süring formuliert hat, dass die Tochter des Superintendenten, obwohl mit dem Kindesvater mindestens seit sieben Schwangerschaftsmonaten verheiratet, nicht mehr zu den ehrbaren Frauen gehören konnte, zeigt sich dies. Dass er die kurfürstliche Forderung nach Toleranz gegenüber den reformierten Kollegen öffentlich erfüllte, ist anzunehmen. Dass er ihnen jedoch in Distanz bis Feindseligkeit gegenüberstand, ließ er in seiner Chronik erkennen. Die diesbezüglichen Passagen provozieren die Frage, ob es sich hier um einen brandenburgischen Pfarrer handelte, der sich in der stillen Arbeit an seinen Manuskripten angesichts des vermittelnden Kurses des Kurfürsten als ein orthodoxer Lutheraner verborgen hat.

Zwischen dynastischer Aneignung und rituellem Prozess. Die Reformation des Bistums Lebus und der Fürstenwalder ‚Pfaffensturm‘ 1556 Von Mathis Leibetseder, Berlin Als sich Historiker im 18. Jahrhundert für die Geschichte des Bistums Lebus zu interessieren begannen, lag dessen Säkularisation bereits rund 300 Jahren zurück. Der studierte Theologe und preußische Staatsdiener Siegmund Wilhelm Wohlbrück (1762–1834) war wohl der Erste, der nach vierzigjähriger nebenberuflicher Forschungstätigkeit mit seiner zweibändigen „Geschichte des ehemaligen Bisthums Lebus und des Landes dieses Namens“, erschienen 1829 im Selbstverlag, eine einschlägige Überblicksdarstellung vorlegte1. Seitdem haben sich vor allem Vertreter der mediävistischen Landesgeschichte wiederholt mit den Geschicken des Lebuser Bistums beschäftigt und dabei immer wieder auch dessen Säkularisation im 16. Jahrhundert untersucht und dargestellt2  – zuletzt anlässlich des fünfhundertsten Reformationsjubiläums3. In diesem Zu1  Siegmund Wilhelm Wohlbrück, Geschichte des ehemaligen Bisthums Lebus und des Landes dieses Namens, 2 Bde., Berlin 1829; zu Wohlbrücks Lebenslauf siehe Friedrich August Reimann, Siegmund Wilhelm Wohlbrück, königl. preuß. Kriegsrath zu Berlin, Ritter des rothen Adlerordens 3. Kl., in: Neuer Nekrolog der Deutschen 12 (1834), 538–540. 2  Grundlegend zur Geschichte des Bistums Lebus im Mittelalter vor allem Fritz Funcke, Das Bistum Lebus bis zum Anfange der Hohenzollernherrschaft in der Mark Brandenburg, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 11/12 (1914), 41–76, 16 (1918), 1–31 und 17 (1919), 1–17; Herbert Ludat, Bistum Lebus. Studien zur Gründungsfrage und zur Entstehung und Wirtschaftsgeschichte seiner schlesisch-polnischen Besitzungen, Weimar 1942 [ND Hildesheim u. a. 1993]; einschlägig für die geschichtliche Entwicklung bis in die Reformationszeit hinein: Heinz Teichmann, Von Lebus nach Fürstenwalde. Kurze Geschichte des mittelalterlichen Bistums Lebus 1124–1555/98, Leipzig 1991; Lambrecht Kuhn, Das Bistum Lebus. Das kirchliche Leben im Bistum Lebus in den letzten zwei Jahrhunderten (1385–1555) seines Bestehens unter besonderer Berücksichtigung des Johanniterordens (Herbergen der Christenheit, Sonderband 8), Leipzig 2005. 3  Christian Gahlbeck, Das Bistum und Stift Lebus und die Reformation, in: Bürger, Pfarrer, Professoren. St. Marien in Frankfurt (Oder) und die Reformation in Brandenburg, hrsg. v. Maria Deiters/Gotthard Kemmether/Cornelia Aman, Dresden 2017, 93–105; Alexander Querengässer, Von hegemonialer Überherrschung zur Landsässigkeit. Die Integration der mitteldeutschen Bistümer in die

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sammenhang erwähnen die meisten Autoren auch jene gewalttätigen Ausschreitungen, zu denen es in Fürstenwalde am Freitag nach Ostern 1556 kam. An diesem Tage ging ein Teil der Fürstenwalder Bürgerschaft gewaltsam gegen die in ihrer Stadt ansässigen Domherrn vor, bevor tags darauf im Fürstenwalder Dom der erste evangelische Gottesdienst gefeiert wurde. Geht man mit der neueren Forschung davon aus, dass Formen symbolischer Kommunikation soziale Ordnung und gesellschaftlichen Wandel nicht nur artikulieren, sondern erst im eigentlichen Sinne kon­ stituieren und gestalten4, verdient die rituelle Gewaltanwendung des Freitags nach Ostern jedoch mehr als kursorische Aufmerksamkeit. Das Ziel dieses Beitrags besteht folglich darin, die in der brandenburgischen Landesgeschichte wiederholt geschilderten Geschehnisse in den Kontext ritueller, reformationszeitlicher Gewaltausübung einzuordnen. Robert Scribner zufolge waren die meisten Menschen des 16. Jahrhunderts theologisch weitgehend ungebildet, besaßen allerdings eine hohe Affinität für rituelle bzw. ritualisierte Verhaltens- und Ausdrucksformen. Mit diesen Verhaltens- und Ausdrucksformen schufen und formten sie ihre Welt: „Ordinary people exercised their metaphysical and symbolising activity in popular rites, in play and game, and especially in magical customs and practices. And it is worth remarking that they did not just construct this cosmos  – on occasions they also deconstructed it. Through such a ritual process, times, places and persons, as well as the participants themselves, were sacralised and desacralised.“5 Das Singen skurriler Lieder während der Messe und andere Formen von Messstörungen oder die Aufführung karnevalesker Gegen-Liturgien waren beliebte ‚soziale Aktionen‘ gegen die bestehenden kirchlich-klerikalen Verhältnisse. Paradebeispiel derartiger ‚Unruhen‘ waren freilich die reformationszeitlichen Bilderstürme, welche die Rolle „des Rituals als kultureller Artikulationsform gesellschaftlichen Gestaltungswillens“6 geradezu exempli­ fizieren. Aus dieser Perspektive stellt sich die Reformation als ritueller Prozess dar, an dem neben theologisch geschulten Experten und theologisch gebildeten Oberschichten eben auch die theologisch weitgehend Herrschaftsverbände der Hohenzollern und Wettiner im Vergleich, in: Reformation in Brandenburg. Verlauf, Akteure, Deutungen, hrsg. v. Frank Göse (Schriften der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg, N. F. 8), Berlin 2017, 34–62. 4  Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, 9–12. 5  Robert W. Scribner, Ritual and Reformation, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London 1987, 103–122, hier 121. 6  Olaf Mörke, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 74), München 2005, 127.



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ungebildeten Laien beteiligt waren7. Dem liegt ein Ritualbegriff zugrunde, der in erster Linie auf die Herbeiführung einer Statusänderung abhebt8, mithin an jene ethnologische Forschungstradition anknüpft, die eng mit den Namen Arnold van Genneps und Victor Turners verbunden ist. Meine folgenden Ausführungen über die Rolle von Gewalt in Brandenburgs „stiller Reformation“9 sind als Dreischritt angelegt. Im ersten Schritt wende ich mich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Kurfürsten und Bischöfen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu. Danach setze ich mich mit den Querelen um die Besetzung des Lebuser Bistums im Kontext der kurfürstlichen Bistumspolitik auseinander, bevor ich zuletzt den ‚Pfaffensturm‘ in der Nacht vom 10. auf den 11.  April 1556  – vom ersten Freitag auf den ersten Sonnabend nach Ostern – untersuchen werde. I. Von der Überherrschung zur Aneignung Der Kreis der historischen Akteure, welche es im Kontext der Ausschreitungen von 1556 zu berücksichtigen gilt, umfasste grosso modo den 7  Edward

Muir, Ritual in Early Modern Europe, Cambridge 1997, 186–187. historischen Ritualforschung liegen zahlreiche Sammelbände und Einzeluntersuchungen vor, so etwa jüngst Andreas Büttner/Andreas Schmidt/Paul Töbelmann (Hrsg.), Grenzen des Rituals. Wirkreichweiten – Geltungsbereiche – Forschungsperspektiven (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, 42), Köln/Weimar/Wien 2014, darin Andreas Schmidt/ Paul Töbelmann, Grenzgänge zur Einleitung, 9–25, mit weiterführender Literatur und Steffen Patzold, Wirkreichweite, Geltungsbereich, Forschungsperspektiven: Zu den Grenzen des Rituals, 349–359, hier besonders 350–354, mit eingehenden Überlegungen zum Ritual als Begriff und Forschungsansatz. Gerald Schwedler, Ritual und Wissenschaft. Forschungsinteressen und Methodenwandel in Mittel­ alter, Neuzeit und Zeitgeschichte, 229–268, wirft in demselben Tagungsband einen wissenschaftsgeschichtlichen Blick auf die Ritualforschung und identifiziert für die Gegenwart drei verschiedene Tendenzen: 1. eine „Gruppe ereignis- beziehungsweise handlungsorientierter Ansätze“ (256), 2. eine Gruppe, die „unter der Überschrift der sozialen Strukturen zusammengefasst werden [könnte]“ (259), und 3. eine Gruppe, welche die „Wahrnehmung von Ritualen durch Zeitgenossen und Berichterstatter ins Zentrum der Untersuchung“ (261) stellt. Mein Beitrag schließt vom Erkenntnisinteresse her an die ersten beiden Ansätze an, aber schon aus quellenkritischen Gründen kann auch der dritte nicht unberücksichtigt bleiben. Diesen Ansätzen ist auch Natalie Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533), Tübingen 2014, verpflichtet. 9  Gerd Heinrich, Neue Kirchenordnung und „stille“ Reformation. Die Landesfürsten und die „Luthersache“ in der Mark Brandenburg, in: Jahrbuch für BerlinBrandenburgische Kirchengeschichte 57 (1989), 89–98. 8  Zur

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Kurfürsten, den Bischof, die Lebuser Domherren sowie den Magistrat und die Bürgerschaft von Fürstenwalde. Die Personen bekleideten jeweils ganz unterschiedliche Stellungen im Herrschaftsgefüge der Zeit. Während der Kurfürst zusammen mit anderen Vertretern der Hohen­ zollern-Dynastie und ihren Hofräten die weltliche Landesherrschaft im Rahmen des „Reichssystems“10 oder des „komplementären ReichsStaats“11 inne hatte, verknüpften Bischof und Domkapitel geistliche und weltliche Herrschaft, standen aber gleichzeitig zur fürstlichen Landesherrschaft seit dem Spätmittelalter in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis. Dementsprechend zählt die Beschaffenheit des Verhältnisses zwischen Kurfürst und Bischof bzw. der genaue verfassungsrechtliche Status der Bistümer Lebus, Havelberg und Brandenburg/Havel im Späten Mittelalter und am Beginn der Frühen Neuzeit zu den Grundfragen jener Forschungen, die sich mit diesen drei brandenburgischen ‚Landesbistümern‘ beschäftigen12. Die ältere Forschung vertrat wie selbstverständlich die Auffassung, dass diese Bistümer bereits im Spätmittelalter landsässig wurden13. Diese Gewissheit wurde jedoch seit den 1980er Jahren zunehmend in Frage gestellt. So betonte Peter-Michael Hahn in einem 1979 erschienenen, grundlegenden Artikel, „daß die ‚staatsrechtliche‘ Position der brandenburgischen Bistümer im späten 15. Jahrhundert nicht exakt festzumachen ist“14. Die Hochstifter übten ihm zufolge eine Art „Unterlandes­ herrschaft“15 aus, besaßen also unter dem Schutz der Kurfürsten „bis 10  Heinz Schilling, Reichs-Staat oder frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reichs, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), 377–396. 11  Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reichs. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit, München 1999, 40–44. 12  Hierzu grundlegend v.  a. Peter-Michael Hahn, Kirchenschutz und Landesherrschaft in der Mark Brandenburg im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 28 (1979), 179–220; Karl-Heinz Ahrens, Die verfassungsrechtliche Stellung und politische Bedeutung der märkischen Bistümer im späten Mittelalter. Ein Beitrag zur Diskussion, in: Mitteldeutsche Bistümer im Spätmittelalter, hrsg. v. Roderich Schmidt, Lüneburg 1988, 19–52; Gerhard Schmidt, Die Einschränkung der politischen Selbstständigkeit der Bischöfe der Mark Brandenburg im späten Mittelalter, in: Hansische Stadtgeschichte  – Brandenburgische Landesgeschichte, hrsg. v. Evamaria Engel/ Konrad Fritze/Johannes Schildhauer (Hansische Studien, 8; Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, 26), Weimar 1989, 41–56; Achim Beyer, Die Religionspolitik der Hohenzollern im 16. Jahrhundert. Zwischen Autonomie und Abhängigkeit, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 148 (2012), 239–275. 13  Hahn, Kirchenschutz und Landesherrschaft (Anm. 12), 185–187. 14  Ebd., 193. 15  Ebd., 203.



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weit in die Reformationszeit eine relativ selbständige Herrengewalt“, weshalb „man die Bischöfe gegenüber den brandenburgischen Landesfürsten durchaus als konkurrierende Herrschaftsträger bezeichnen darf.“ Zwar mussten sie bestimmte Rechte an die Kurfürsten abtreten, sodass ihre reichsrechtliche Position geschwächt wurde, insgesamt konnten sie auf diese Weise aber „in einem von wesentlich mächtigeren Fürsten­ tümern beherrschten Raum ihre territoriale Eigenständigkeit erhalten.“16 Hiermit korrespondiert neuerdings der Neologismus einer „hegemonialen Überherrschung“, welcher zufolge „die brandenburgischen Markgrafen als regionaler Hegemon, die drei märkischen Bischöfe als zumindest formal und auf ihren kleinen hochstiftischen Besitzungen bezogen, unabhängige Landesherren mit schrittweise sinkender Machtbasis“17 agierten. Man mag Begriffsbildungen wie „Unterlandesherrschaft“ oder „hegemoniale Überherrschung“ für gelungen halten oder nicht, ohne sie lässt sich der verfassungsrechtliche ‚Schwebezustand‘ der Bischöfe bzw. Bistümer zu Beginn des 16. Jahrhunderts begrifflich wohl kaum konkretisieren. Letztlich ist es nämlich genau dieser ‚Schwebezustand‘, welcher für den damaligen Status der brandenburgischen ‚Landesbistümer‘ charakteristisch war. Sie befanden sich in einer liminalen Phase zwischen verfassungsrechtlicher Eigenständigkeit und Eingliederung in die entstehende Landesherrschaft. Die Frage der Nomination avancierte im 15. Jahrhundert zum umkämpften Recht mit starker Symbolkraft für das Verhältnis zwischen Kurfürst und Hochstift. 1447 erwirkte Kurfürst Friedrich II. an der römischen Kurie das nicht vererbbare Recht, den Kapiteln von Brandenburg/ Havel, Havelberg und Lebus nach dem Tod eines Bischofs zur Wahl eines Nachfolgers Kandidaten vorzuschlagen.18 Mit anderen Worten: Die Kapitel sollten niemanden als Bischof postulieren, der zuvor nicht vom Kurfürsten als Kandidat benannt worden war. Dieses Nominationsrecht schmälerte in erster Linie das Postulationsrecht der Kanoniker, nicht aber die Rechte des gewählten Bischofs, auch nicht die reichsrechtliche Stellung des Hochstifts und erhöhte dennoch die informellen Einflussmöglichkeiten der Kurfürsten auf die Geschicke des Hochstifts, da das Amt des Bischofs mit Angehörigen der kurfürstlichen Klientel besetzt werden konnte. Dennoch blieb auch „ein von den Hohenzollern erwählter Bischof noch immer ein eigenständiger Herrschafts- und kirchlicher 16  Ebd.,

215–216.

17  Querengässer, Von

hegemonialer Überherrschung (Anm. 3), 61. Ribbe, Modernisierung und Beharrung. Aspekte der Kirchenpolitik der brandenburgischen Hohenzollern im Spannungsfeld von innerkirchlichen Reformbestrebungen und Reformation, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 41 (1990), 165–179, hier 165. 18  Wolfgang

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Entscheidungsträger“19. Zudem verhinderten das Postulationsrecht des Domkapitels und das Konfirmationsrecht der römischen Kirche sowie die allgemeinen kirchenrechtlichen Bestimmungen, dass die Kurfürsten bei der Kandidatenkür schalten und walten konnten, wie sie wollten; sie mussten Kandidaten nominieren, denen die kirchlichen Entscheidungsträger auch zustimmen konnten, und so letztlich den Konsens suchen. Dennoch war das von den Kurfürsten nach dem Tode Friedrichs II. weiterhin beanspruchte Nominationsrecht als Ausdruck der Überherrschung so prominent, dass es den Widerstand der Domherren provozierte. Konflikte zwischen Kurfürsten und Domkapiteln um das Nominationsrecht waren im frühen 16. Jahrhundert endemisch. Wiederholt erkannten Kurfürsten einen Kandidaten nur deshalb nicht an, weil dieser vom Domkapitel ohne vorherige kurfürstliche Nomination postuliert worden war. Gewonnen werden konnte das Spiel um das Nominationsrecht freilich nur an der römischen Kurie. So machte Kurfürst Joachim I. im Umkreis des Wormser Reichstags 1521 seine Haltung in der Lutherfrage davon abhängig, dass der Papst einem vom Havelberger Domkapitel ohne kurfürstliche Nomination postulierten Bischof die Bestätigung (Konfirmation) versagte und ihm zugleich das erbliche Nominationsrecht ‚bestätigte‘20. Aber auch hiermit war das Ringen um das Nominationsrecht nicht endgültig entschieden; denn die Domkapitel – auch das Lebuser – versuchten weiterhin die Wahl von Kandidaten durchzusetzen, die der Kurfürst zuvor nicht nominiert hatte. Auf diese Weise machten sie deutlich, dass sie dem kurfürstlichen Nominationsrecht die Anerkennung versagten. Dieser Akt zur Selbstbehauptung war vielleicht wichtiger als die Erreichung des Ziels selbst, die Durchsetzung eines Kandidaten ohne vorherige Nomination durch den Kurfürsten. Auch die Territorialpolitik des Lebuser Hochstifts, die mit einem Ausbau der bischöflichen ‚Residenzenlandschaft‘ einherging, kann als Antwort auf die kurfürstlichen Überherrschungsbestrebungen interpretiert werden. Die Anfänge des dem Gnesener21 Metropoliten nachgeordneten Bistums reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück, doch war die Stadt Le19  Querengässer, Von

der hegemonialen Überherrschung (Anm. 3), 41. Kaloff, Die Beziehungen der Hohenzollern zur Kurie unter dem Einfluss der lutherischen Frage, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 9 (1906), 88–139, hier 108–109; Gerd Heinrich, Kurfürst Joachim von Hohenzollern, Markgraf von Brandenburg, in: Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, hrsg. v. Fritz Reuter, Worms 1971, 337– 351, hier 345. 21  Die ältere These eines Übergangs des Bistums Lebus aus dem Sprengel des Gnesener in den des Magdeburger Metropoliten wurde widerlegt von Dietrich Kurze, Das Bistum Lebus zwischen Magdeburg und Gnesen, in: Jahrbuch für Ber20  Paul



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bus nur zwischen 1124 und 1276 bzw. 1354 und 1373 mit der Kathedralkirche als Sitz eines Domkapitels und als bischöflicher Residenzort unbestrittenes Bistumszentrum22. Das Kapitel, welches sich im Konkurrenzstreit zwischen Magdeburg und Brandenburg um Lebus zerrieben hatte, verlegte seinen Sitz zwischen 1276 und 1325 ins weiter östlich gelegene Göritz23. Nach Eroberung und Zerstörungen von Burg und Stadt Lebus durch Kaiser Karl IV. in kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Wittelsbachern 1373 erfolgte dann die endgültige Umsiedlung nach Fürstenwalde24. Den Bischöfen standen nun zwei Residenzen zur Verfügung: zum einen eine Anlage auf dem mittleren der drei Lebuser Burgberge, zum anderen ein zur Burg ausgebauter ehemaliger Adelsbesitz in Fürstenwalde; beide Burganlagen waren auch Standorte der bischöf­ lichen Verwaltung25. Zwar verfügte das Hochstift seit dem Mittelalter über Jurisdiktionsrechte in Rothreußen (oder Ruthenien) sowie Territorialbesitz in Schle­ sien, wichtiger war aber der Besitz lehns- und grundherrlicher Rechte in der Kurmark (um Fürstenwalde) und der Neumark (um Seelow, Göritz und Lebus)26. Eine deutliche Gewichtsverlagerung erfuhr der Territorialbestand des Hochstifts, als 1518 die Herrschaften Beeskow und Storkow von der Familie von Biberstein gegen Zahlung von 45.000 rheinischen Gulden als Pfandbesitz erworben werden konnten27. Mit einem Mal verfügte das Hochstift über einen weitgehend arrondierten Territorialkomlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 68 (2011), 17–49. Ich danke Dr. Christian Gahlbeck (Berlin) für den Hinweis auf Kurzes Forschungen. 22  Christian Gahlbeck, Die Rückkehr der Bischöfe nach Lebus im Jahr 1354. Wendepunkt in der Geschichte der Bischofsresidenz an der Oder, in: Spätmittelalterliche Residenzbildung in geistlichen Territorien Mittel- und Nordostdeutschlands, hrsg. v. Klaus Neitmann (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 2), Berlin 2009, 295–323, hier 314–320. 23  Teichmann, Von Lebus nach Fürstenwalde (Anm. 2), 32, 36; Gahlbeck, Die Rückkehr (Anm. 22), 305. 24  Gahlbeck, Die Rückkehr (Anm. 22), 320–321. 25  Dirk Schuhmann, Die mittelalterlichen Residenzen der Bischöfe von Brandenburg, Havelberg und Lebus, in: Schlösser, Herrenhäuser, Burgen und Gärten in Brandenburg und Berlin. Festschrift zum zwanzigjährigen Jubiläum des ‚Freundeskreises Schlösser und Gärten der Mark in der Deutschen Gesellschaft e. V. ‘ 2012, hrsg. v. Sibylle Badstübner-Gröger, Berlin 2012, 142–161, hier 154; Gahlbeck: Das Bistum und Stift (Anm. 3), 94. 26  Siehe die kartographische Darstellung bei Hahn, Kirchenschutz und Landesherrschaft (Anm. 12), 220. 27  Michael Scholz, Zwischen Böhmen, Brandenburg und Sachsen. Die Herrschaft Beeskow-Storkow bis zu ihrer Eingliederung in die Mark Brandenburg im 16. Jahrhundert, in: Brandenburg und seine Landschaften. Zentrum und Region vom Spätmittelalter bis 1800, hrsg. v. Lorenz Friedrich Beck (Schriften der Lan-

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plex um die Städte Fürstenwalde, Beeskow und Storkow herum, der überwiegend jedoch nicht in der Mark Brandenburg lag, sondern mit den Herrschaften Beeskow und Storkow auch Lehen der böhmischen Krone umfasste. Diese Territorialgewinne erlaubten es dem Hochstift, seinen politischen Aktionsradius auf den böhmischen Königshof auszudehnen. Bischof Dietrich ließ die bereits bestehende Burganlage in Beeskow zwischen 1519 und 1524 durch eine Überarbeitung des Innenausbaus zu einer repräsentativen Residenz ausgestalten, wodurch ein weiterer bischöflicher Verwaltungsmittelpunkt entstand, der nun zwar außerhalb des Herrschaftsbereichs der brandenburgischen Kurfürsten lag, aber deren Begehrlichkeiten weckte28. Die letztlich ungeklärte verfassungsrechtliche Stellung des Lebuser Bistums verhinderte jedoch nicht, dass Kurfürsten und Bischöfe in beiderseitigem Interesse immer wieder einvernehmlich zusammenarbeiteten. So mochten die Bischöfe ihre Reichsstandschaft zwar dadurch be­ stätigt sehen, dass Lebus wie die beiden anderen brandenburgischen ‚Landesbistümer‘ bis mindestens 1521 in der Reichsmatrikel aufgeführt waren29, die daraus resultierende Besteuerung lehnten sie aber im Verein mit den Kurfürsten ab30. Nicht nur in dieser, sondern auch in anderen reichspolitischen Angelegenheiten waren die Bischöfe wichtige Partner der Kurfürsten – etwa bei der Besetzung hochkarätiger Gesandtschaften. Ein landsässiger Hochadel, der zu Ratsdiensten herangezogen werden konnte, existierte in der Mark Brandenburg nicht. Namentlich für Mis­ sionen zu Reichstagen oder ins benachbarte Polen benötigte man aber immer wieder auch Personen mit einem hohen Status innerhalb der Adelshierarchie. Den Kurfürsten standen bei solchen Gelegenheiten ­lediglich die Grafen von Stolberg-Wernigerode und Hohnstein-Vierraden zur Verfügung, welche kurbrandenburgische Lehen besaßen, zuweilen auch die mit diesen beiden Geschlechtern verwandten Grafen von Schwarzburg – oder eben die Bischöfe von Lebus, Havelberg und Brandenburg an der Havel. Kurfürst Joachim I. arbeitete gerade in religionspolitischen Belangen mit dem Lebuser Bischof eng zusammen, nahm ihn desgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg, N. F. 1), Berlin 2009, 45–68, hier 61–63. 28  Schuhmann, Die mittelalterliche Residenz (Anm. 25), 155–156. Dass die ‚Landesbischöfe‘ „Inseln gehobener Kultiviertheit“ kreierten, beobachtete bereits Heinrich: Neue Kirchenordnung und „stille“ Reformation (Anm. 9), 66. Überhaupt waren die bischöflichen Höfe der Mark wohl die einzigen, die in puncto Zeremoniell, Verwaltung und höfischem Amüsement an den Kurhof heranreichen konnten; vgl. ebd. 72. 29  Schmidt, Die Einschränkung der politischen Selbstständigkeit (Anm. 12), 54. 30  Querengässer, Von der hegemonialen Überherrschung (Anm. 3), 43 und 52.



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etwa 1530 zum Augsburger Reichstag mit31. Als Anfang Februar 1535 eine vierköpfige Delegation zwecks Eheanbahnung von Berlin-Cölln zum polnischen Königshof nach Vilnius reiste, wurde sie von keinem geringerem angeführt als von Georg von Blumenthal, dem Lebuser Bischof32. Von dieser Indienstnahme profitierte letztlich auch der jeweilige Lebuser Bischof, der auf diese Weise im Reich, aber auch im angrenzenden Polen präsent blieb. Fragwürdig wurde diese Partnerschaft erst mit der konfessions- und kirchenpolitischen Neuausrichtung Kurbrandenburgs unter Kurfürst ­Joachim  II. von Brandenburg und seinem Bruder Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin. Der in der Neumark regierende Johann nutzte bereits 1537 Konflikte der Stände des Landes Sternberg mit dem Lebuser Hochstift um Zehntzahlungen, um erste protestantische Prediger in Kirchen des Lebuser Diözesansprengels zu installieren. Mit dem von ihm ­initiierten Reformationsbeginn im darauffolgenden Jahr wurden auch in den übrigen Pfarren evangelische Prediger eingesetzt – mit Ausnahme jener Ortschaften, in denen das Hochstift auch das weltliche Regiment führte33. Im Lebuser Diözesansprengel westlich der Oder wurden die kirchlichen Zeremonien wohl im Zuge der Kirchenvisitationen 1540/41 nach der Maßgabe der kurbrandenburgischen Kirchenordnung von 1540 umgestaltet – allerdings wiederum mit Ausnahme jener Städte und Ortschaften, welche unter der weltlichen Herrschaft des Hochstifts standen. So wurde die katholische Kultusausübung im Wesentlichen auf die Städte Lebus und Fürstenwalde sowie den Flecken Seelow und eine Reihe von Stiftsdörfern zu beiden Seiten der Oder reduziert34. In den extraterritorialen Lebuser Besitzungen reichte die Autorität von Bischof und ­Kapitel nicht mehr aus, um den römischen Kultus aufrechtzuhalten. Im schlesischen Großburg hielt die Reformation mit dem Glaubensübertritt des örtlichen Pfarrers 1537 Einzug, in Beeskow und Storkow 1539, nachdem das Bistum Meißen, in dessen Diözesansprengel die beiden Herrschaften lagen, evangelisch geworden war35. Wenige Jahre später (1545) 31  Valentin von Tetleben, Protokoll des Augsburger Reichstages 1530, hrsg. v. Herbert Grundmann, Göttingen 1958, 59, 68 und 81. 32  Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [künftig GStA PK], XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, HBA Herzogliches Briefarchiv A 3, Kasten 131: Joachim (II.) von Bbg. an Hz. Albrecht in Preußen (Cölln/Spree, 1535-02-03); siehe auch Iselin Gundermann, Kurfürst Joachim II. von Brandenburg und Herzog Albrecht von Preußen, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 41 (1990), 141–164, hier 143. 33  Gahlbeck, Das Bistum und Stift (Anm. 3), 98–99. 34  Ebd., 100. 35  Ebd., 97 und 100–101.

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kamen Kurfürst Joachim und Markgraf Johann schließlich überein, nach dem Tod des damals regierenden Bischofs Georg von Blumenthal den Landbesitz mit den daran hängenden Herrschaftsrechten untereinander aufzuteilen. Fürstenwalde sowie Beeskow und Storkow sollten Joachim II. zufallen, dem Markgrafen die rechts der Oder gelegenen Städte Lebus und Seelow mit den zugehörigen Dörfern36. Ohne Basis für eine Unterlandesherrschaft sui generis wäre der Bischof nur noch ein rein geistlicher Würdenträger gewesen. Der Beginn der ‚christlichen Reformation‘ in Kurbrandenburg 1539/40 ging jedoch auch am Domkapitel selbst nicht spurlos vorüber. Dies zeigt jenes Registrum Corporis prelatorum et prebendarum Capituli Lubucensis, dessen Entstehung auf die 1540er Jahre zu datieren ist37. Zwar zählte das Verzeichnis die Einkünfte des Propstes, des Archidiakons und des Kantors sowie von insgesamt 17 Domherrn38 auf, aber die Stelle von Dekan, Scholarch und Küster mussten bereits als vakant ausgewiesen werden. Das mag darauf hindeuten, dass das Stift seine Funktion als Unterrichtsstätte (mangels Nachfrage?) womöglich bereits eingestellt hatte. Hinsichtlich der Präsenz der Domherren muss jedoch bemerkt werden, dass eine ganze Reihe von ihnen  – die genaue Zahl ist nicht bekannt  – auch in Brandenburg an der Havel und/oder Havelberg Domherrenstellen innehatten, teilweise dort auch Ämter bekleideten und daher in Fürstenwalde nicht ansässig waren; die übrigen wohnten in privaten Wohnhöfen. Offenbar konnte das Stift freiwerdende Präbenden allerdings nach wie vor vergeben, denn in späteren Jahren werden Kanoniker genannt, die das Registrum Corporis noch nicht enthielt39. Auch der Propst 36  GStA PK, Brandenburg-Preußisches Hausarchiv (BPH), Urkunden, Abt. II Nr. 37: Kf. Joachim  II. von Bbg. verkauft seinem Bruder Mgf. Johann von BbgKüstrin seine Gefälle in den Städten Frankfurt/Oder, Berlin-Cölln und Brandenburg/Havel; beide Brüder einigen sich, die Güter des Hochstifts Lebus und der Komturei Lietzen nach dem Tod des gegenwärtigen Bischofs bzw. Komturs untereinander aufzuteilen (Cölln/Spree, 1545-12-21); hierzu Gahlbeck, Das Bistum und Stift (Anm. 3), 100. 37  Adolph Friedrich Johann Riedel: Codex Diplomaticus Brandenburgensis. 41 Bde. Berlin 1838–1869; [im Folgenden zitiert als CDB, wobei Großbuchstaben auf die verschiedenen Abteilungen verweisen, lateinische Zahlen auf die Bände], hier A XX, 334–336, Nr. CCI; der terminus post quem ergibt sich aus der Biographie Siegmund von Britzkes, welcher in der Quelle als Propst genannt wird. Dieser zählte noch 1540 zu den in Stendal residierenden Domherrn mit Majorpräbende des Stifts St. Nikolaus; siehe Christian Popp, Das Stift St. Nikolaus in Stendal (Germania Sacra, N. F. 49.1), Berlin/New York 2007, 321. Der terminus ante quem kann dagegen aus dem Todesjahr des Domherrn Lucas Wultzke (1548/49) geschlossen werden; siehe ebd., 324. 38  Britzke wird doppelt aufgeführt, als Propst und als Domherr.



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Siegmund von Britzke trat sein Amt vermutlich erst in den frühen 1540er Jahren an; da er aber die Kirchenordnung von 1540 und die Kommunion in beiderlei Gestalt persönlich ablehnte, enthielt ihm der Kurfürsten die Einkünfte seiner Präbende in Stendal vor40. Dennoch schmolz das Kapitel bis 1555 auf acht Domherren zusammen41, von denen nur vier ortsansässig waren42. Die Erosion des Domkapitels war mithin spätestens seit der zweiten Hälfte der 1540er Jahre in vollem Gange, womöglich seit dem Vertrag Joachims II. mit seinem Bruder 1545. 39

Parallel dazu breitete sich in der Stadt Fürstenwalde Luthers Lehre aus. Einige der vom Bischof eingesetzten Ratsherren traten zum evangelischen Glauben über. Dem Druck von Magistrat und Bürgerschaft nachgebend, musste der Bischof den Protestanten die Nutzung der vor der Stadt gelegenen St. Jakobs-Kapelle einräumen, welche der Schützengilde gehörte43. 1544 wurde auf kurfürstliche Anordnung mit Simon Musaeus ein erster evangelischer Prediger eingesetzt. Bischof und Domkapitel versuchten der Ausbreitung der evangelischen Lehre entgegenzuwirken, indem sie freiwerdende Ratsherrenstellen mit altgläubigen Kandidaten nachbesetzten und diejenigen Viertelsmeister absetzten, welche sich zu Luther bekannten. Zwar konnte nach kurfürstlicher Intervention ein Kompromiss zwischen beiden Seiten erzielt, die Ursache des Konflikts aber nicht dauerhaft beseitigt werden44. Wie prekär die Lage des Hochstifts war, wurde im Kontext der Verfahren deutlich, welche der kaiserliche Fiskal wegen der Entrichtung der Reichslasten gegen den Kurfürsten sowie die Bischöfe von Lebus, Havel39  Peter Neumeister/Blandine Wittkopp/Dirk Schumann, Fürstenwalde, in: Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, hrsg. v. Heinz-Dieter Heimann u. a., Bd. 1, Berlin 2009, 481–499, hier 484. Siehe auch die – nicht immer zuverlässige – Übersicht bei Wohlbrück, Geschichte des ehemaligen Bisthums (Anm. 1), Bd. 2, 384–389. 40  Christian Popp, Das Stift St. Nikolaus in Stendal (Anm. 37), 321; GStA PK, I.  HA Geheimer Rat [künftig GR], Rep. 47 Geistliche Angelegenheiten Nr. S  1 (1544): Siegmund von Britzke an Erzbischof Johann Albrecht von Magdeburg und Halberstadt (ohne Ort, 1544-03-05). 41  Neumeister, Wittkopp, Schumann, Fürstenwalde (Anm. 39), 384. 42  GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Brandenburgische Städte, Ämter und Kreise, Nr. 46 Fasz. 2, Seite 3: „Wie die pfaffen tzu Furstenwalde Furstenwalde gesturmet und die thumkirchen der evangelischen gemein eingereumet ist worden Anno 1556“. 43  Georg Friedrich Gottlob Goltz, Diplomatische Chronik der ehemaligen Residenzstadt der Lebusischen Bischöfe Fürstenwalde, Fürstenwalde 1837, 218. 44  Felix Engel, Die Reformation in den Städten der Mark Brandenburg, in: Reformation in Brandenburg. Verlauf, Akteure, Deutungen, hrsg. v. Frank Göse (Schriften der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg, N. F. 8), Berlin 2017, 135–158, hier 156.

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berg und Brandenburg an der Havel 1549 vor dem Reichskammergericht anstrengte45. Als Kurfürst Joachim  II. den Bischof von Lebus bat, dem kurbrandenburgischen Prokurator Dr. Alexander Reifstock eine Prozessvollmacht zu erteilen, konterte der Bischof mit Gegenforderungen  – er verlangte die Bestätigung der Freiheiten, Gerechtigkeiten und Jurisdik­ tion des Lebuser Stifts  – sowie mit einer larmoyanten Darstellung der damaligen Verhältnisse. Er beklagte den Rückgang der Einkünfte, was unweigerlich zur Folge habe, das „unser thumstifft werdt die lenge auch mussen wuste werden“. Mehrere Seelmessstiftungen (Vikarien) und Häuser seien dem Stift „durch die newe religion genommen“, und auch die Abgaben (Corpora) der Prälaten und Domherren würden nicht mehr abgeführt, weshalb „niemandt ad residenciam zihen will“46. II. Zur kurfürstlichen Politik gegenüber den Bistümern Zwar fuhr auch Joachim  II. fort, den Lebuser Bischof in bewährter Manier in landesherrliche Belange einzubinden47, löste aber Strategien zur symbolischen und politischen Überherrschung durch eine primär machtpolitisch motivierte Politik dynastischer Aneignung ab. Dabei richteten sich seine Ambitionen nicht nur auf Lebus, sondern auch auf ­Havelberg48 und Brandenburg an der Havel49 sowie die benachbarten 45  Siehe die entsprechende Aktenüberlieferung GStA PK, I. HA Rep.  174 Reichskammergericht Nr. 26, 27 und 29; die Prozesse zogen sich bis Mitte der 1580er Jahre hin. Hierzu auch Georg Wilhelm von Raumer, Die Unterordnung der Bischöfe von Brandenburg, Havelberg und Lebus unter die Landeshoheit der Churfürsten von Brandenburg, in: Märkische Forschungen 1 (1841), 44–55; eine kritische Einschätzung von Raumers Aufsatz bietet Hahn, Kirchenschutz und Landesherrschaft (Anm. 12), 185. 46  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Bistum und Amt Lebus, Nr. 3 Fasz. 2 = CDB A XX, Nr. CXCVIII, 331: Bischof Georg von Lebus an Kf. Joachim II. von Bbg (Lebus, 1550-03-17). 47  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59, Nr. 2 Fasz. 1: Brüderlicher Vergleich (Frankfurt/ Oder, 1538). 1538 schickte Joachim II. den Lebuser Bischof beispielsweise zusammen mit seinen Räten nach Müncheberg, wo ein Vergleich in den Erbauseinandersetzungen mit seinem Bruder, dem Markgrafen Johann von Brandenburg-Küstrin, ausgehandelt werden sollte. Der Markgraf entsandte übrigens ebenfalls einen Funktionsträger des Bistums zu den Verhandlungen, nämlich den Offizial Erasmus Günter. 48  Zur Reformation des Bistums Havelberg siehe v. a. Annette Kugler-Simmerl, Bischof, Domkapitel und Klöster im Bistum Havelberg 1522–1598. Strukturwandel und Funktionsverlust (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 1), Berlin 2003. 49  Zur Reformation des Bistums Brandenburg an der Havel siehe Wolfgang Schößler, Die Reformation im Domstift Brandenburg, in: „Dem Wort nicht entge-



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reichsunmittelbaren Hochstifte Magdeburg und Halberstadt50. Schon ein Blick auf die Kandidaten erweist, dass Joachim die Nomination entschiedener als seine Vorfahren nutzte, um Hochstift und Dynastie möglichst eng miteinander zu verbinden. Als Kandidaten-Reservoir nutzte er nämlich seine männliche Nachkommenschaft, Angehörige kleinerer Dynas­ tien, die mit dem Haus Brandenburg eng verbunden waren, evangelische Theologen aus dem Umkreis des Hofes und Mitglieder der Domkapitel, wobei deren konfessionelle Orientierung zweitrangig war. Wann welcher Kandidat zum Zuge kam, hing letztlich von kontingenten Zeitumständen ab. Sofern möglich, setzte Joachim als Kandidaten einen seiner männlichen Nachkommen durch, wenngleich dies den protestantisch erzogenen Markgrafen eine hohe individuelle Anpassungsleistung oder Akte kultureller Mimikry abverlangte und den katholischen Obrigkeiten (Kaiser und Papst) gegenüber nur mit Einsatz sämtlicher ­diplomatischer Winkelzüge durchsetzbar war. Mitglieder anderer Dynastien förderte der Kurfürst nur dann, wenn das Kurhaus im Gegenzug dafür handfeste Gegenleistungen verbuchen konnte. Die kurfürstliche Nominierung fügte sich dann ein in das Wechselspiel des Gabentauschs und gehorchte den seit Jahrhunderten bekannten Spielregeln des do ut des51. Ähnliches traf auf die evangelischen Theologen aus dem Umfeld des ­Hofes und die Mitglieder der Domkapitel zu, falls diese nicht als ausgesprochene Kompromiss- und Übergangskandidaten zum Zuge kamen. Die Realisierung derartiger Machtchancen mit personalpolitischen Mitteln erforderte eine jahrelange Vorausplanung und strategische Absprachen mit politischen Partnern, die möglicherweise niemals zum Tragen kamen und zu einem Gewirr einander widersprechender Ansprüche führten. Diesbezügliche politische Verträge und Abkommen waren in ihren Realisierungschancen daher hochgradig ungewiss und führten keinesfalls immer zum avisierten Ziel, wenngleich dies in der Rückschau oftmals so anmuten mag. gen …“. Aspekte der Reformation in der Mark Brandenburg, hrsg. v. Hans-Ulrich Delius, Berlin 1988, 37–48; Frank Göse, Die Reformation und das Bistum Brandenburg im 16. Jahrhundert, in: Wege in die Himmelsstadt. Bischof, Glaube, Herrschaft 800–1550, hrsg. v. Clemens Bergstedt, Berlin 2005, 214–225. 50  Zu Magdeburg und Halberstadt siehe v. a. Michael Scholz, Residenz, Hof und Verwaltung der Erzbischöfe von Magdeburg in Halle in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Sigmaringen 1998 (Residenzenforschung, 7); Lutz Miehe, Magdeburg im Zeitalter der Reformation (1517–1551), in: Magdeburg. Die Geschichte der Stadt 805–2005, hrsg. v. Matthias Puhle/Peter Petsch, Dößel 2005, 313–342; Hans Seehase, Magdeburg in der zweiten Phase der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg, in: ebd., 355–368. 51  Hierzu grundlegend Natalie Zemon Davis, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002.

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Ein Beispiel für ein solches Bündnis ist die Vereinbarung über die Nachfolge in den Hochstiften Magdeburg und Halberstadt, die Joachim II. 1536 mit seinem Onkel, dem Kardinal und Erzbischof Albrecht von Mainz, schloss. Falls einer von Joachims Söhnen zum coadiutorem cum successione in diesen Stiften gewählt werden sollte, stünde es dem Kardinal frei, im Gegenzug „die anwartung am bisthumb Lebus eynem im stiefft Meintz, Magdeburgk oder Halberstatt, nach seiner gnaden gefallen czuvorleihen vnd czuczustellen“52. Diese Klausel sollte nicht nur die spätestens seit Valentin von Tetleben53 bestehende personale Verschränkung zwischen Mainz und Lebus verstärken, sondern auch die konfessionelle Gleichrichtung von Magdeburg, Halberstadt und Kurbrandenburg verbürgen. Obgleich das Abkommen nicht zum Tragen kam, zeigt es doch, welch hohe Priorität Kurfürst Joachim  II. schon zu Beginn seiner Herrschaft dem Verbleib der benachbarten Hochstifte beim Haus Brandenburg einräumte. Mithilfe der zahlreichen Nachkommenschaft das Erbe des Gesamthauses zusammenzuhalten, war dabei erklärtes Ziel54. Aus dieser politischen Zielsetzung resultierte letztlich aber auch der Zwang, die Bistümer in ihrem Bestand zu schützen und zu erhalten. Denn aufgrund der 1539/40 manifest gewordenen Konfessionsentscheidung Joachims II. wurde dessen Politik von verschiedenen Seiten durchaus kritisch verfolgt. Keinesfalls genügte es, einem Wunschkandidaten zur Wahl zu verhelfen, denn dieser war auf die anschließende kirchenund reichsrechtliche Legitimierung und Anerkennung angewiesen – und dazu wurde die Unterstützung von Kurmainz, dem Kaiserhof und anderen katholischen Mächten benötigt. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit musste daher jeglicher Verdacht auf eine etwaige spätere Säkularisation geistlicher Territorien zerstreut werden. So versprach Joachim  auch in dem bereits erwähnten Abkommen mit seinem Onkel, Magdeburg und Halberstadt nicht „czu weltlichen furstenthumen oder herschafften“ zu machen, sondern beide Stifte „in irem regimenth, form und masse bleiben [zu lassen], wie die fundirt, und bisher gestanden und sein“55. In ei52  GStA PK, I. HA GR, Rep. 52 Herzogtum Magdeburg, Nr. 13 a, Bl. 11 VS: Nottel zwischen Kardinal Albrecht und Kf. Joachim II. von Bbg. (Cölln/Spree, 153606-30). 53  „Valentin von Tetleben“ (GSN: 051-00652-001), in: Germania Sacra, http://personendatenbank.germania-sacra.de/index/gsn/051-00652-001  (Abgerufen: 31.10.2017). 54  Mathis Leibetseder, Eine Dynastie mit europäischen Ambitionen. Das Haus Brandenburg im 16. Jahrhundert, in: Kreuzwege. Die Hohenzollern und die Konfessionen 1714–1740, hrsg. v. dems., Berlin 2017, 42–55, hier 42. 55  GStA PK, I. HA GR, Rep. 52 Nr. 13 a, Bl. 11 VS: Nottel zwischen Kardinal ­Albrecht und Kf. Joachim II. von Bbg (Cölln/Spree, 1536-06-30).



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ner im Frühjahr 1540 gegenüber den Landständen abgegebenen Erklärung zum Beginn der ‚christlichen Reformation‘ sprach Joachim II. dann sogar eine Bestandsgarantie für die Bischöfe und ihre Rechte und Zuständigkeiten aus. „Den Bischöfen,“ so die Erklärung, „sollten pleiben vnd volgen alle Institutiones, Jurisdiction, Testament, Cathedratica, Commenden, Indult vnd andere Emolumenta, so fern solchs vnser itzigen Ordnung nicht entkegen vnd vorhinderlich ist.“ Der Zehnt sollte Bischöfen und Geistlichen ebenfalls weiterhin entrichtet werden56. Tatsächlich setzte sich Joachim  immer wieder für die Entrichtung des Zehnten an romtreue Herrschaftsträger ein57. Dahinter stand möglicherweise nicht zuletzt auch die im gesamten evangelischen Lager verbreitete Hoffnung, die Bischöfe letztlich für die neue Kirchenpolitik gewinnen zu können58. Diese Erwartungen erfüllte gerade der Bischof von Lebus nicht. Zudem schälte sich der Einbau der Hochstifte in die Landesherrschaft immer deutlicher als das eigentliche Ziel der kurfürstlichen Bistumspolitik heraus. Als Bischof Georg 1550 starb, schien die Stunde günstig, um die bereits seit längerem gehegten politischen Pläne – nicht zuletzt die 1545 ins Auge gefasste Aufteilung der Stiftsgüter – in die Tat umzusetzen. Obwohl sich der Kurfürst gegenüber dem Domkapitel in einer günstigen Ausgangslage befand, konnte er sich nicht auf das Recht des Stärkeren allein verlassen, sondern musste auch die Position des Hochstifts berücksichtigen. Von welchen strategischen Erwägungen er sich dabei leiten

56  CDB C III, Nr. 342, 489: Erklärung des Kf. an die Landstände über die Kirchenordnung und Kirchenvisitationen (o. O., [1540]). 57  So etwa bei der Entrichtung des Bischofszehnten durch die Komturei Quartschen; GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 11 Fasz. 2: Kf. Joachim II. von Bbg. an Mgf. Johann von Bbg-Küstrin (Cölln/Spree, 1536-08-21); ebd., Kf. an Johanniterordensmeister Veit von Thümen (Cölln/Spree, 1537-05-03). 58  Bekannt ist Luthers Konzept des Landesherrn als „Notbischof“. Dieses entwickelte er jedoch erst relativ spät, nämlich 1542 in der Schrift Exempel, einen rechten christlichen Bischof zu weihen (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], Abt. 1: Werke, Schriften, 73 Bde, Weimar 1883– 2009, hier Bd. 53, 255). Luther forderte darin: „Mussen doch unsere weltlichen Herrschafften jtzt Not Bischove sein“. Selbst hier stellte Luther das Amt des Bischofs nicht grundsätzlich infrage. Als Amt mit Aufsichtsrecht über die Pfarrer, aber ohne Jurisdiktionsgewalt war es seines Erachtens durch das Neuen Testament gedeckt. Darüber hinaus betonte Luther, die Domstifte nicht aufheben, sondern reformieren zu wollen (Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 315). Auch für Melanchthon galt eine „bischöflich verfasste evangelische Kirche“ als Ideal (Heinz Scheible, Melanchthon. Vermittler der Reformation, München 2016, 165). Die Bischöfe galten den Wittenberger Reformatoren also nicht per se als abzuschaffende papstkirchliche Relikte, sondern als wichtige Bausteine eines neu aufzubauenden reformatorischen Kirchenwesens.

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ließ, geht aus dem Briefwechsel des Kurfürsten mit dem Bischof von Brandenburg hervor. Bereits 1545 bzw. 1548 waren die Bischofsstühle in Brandenburg/Havel und Havelberg vakant geworden. In Brandenburg waren die Voraussetzungen zur Lancierung eines protestantischen Kandidaten am günstigsten. Zwar war auch hier das Stift papsttreu, aber der verstorbene Bischof Matthias und die städtischen Gemeinden hingen der neuen Lehre an. Joachim  nominierte Herzog Joachim  von MünsterbergÖls, der bereits Jahre zuvor als Gegenleistung für den Verzicht auf seine Rechte am Herzogtum Crossen vom Kurfürsten eine Anwartschaft auf den Brandenburger oder Lebuser Bischofsstuhl erhalten hatte59. Außerdem wurde dem Herzog versprochen, nach dem Tod Bischof Georgs den Brandenburger Bischofsstuhl gegen den reicheren Lebuser eintauschen zu dürfen60. Nach Georgs Tod nominierte Joachim II. so neben seinen Söhnen Friedrich und Sigismund auch Münsterberg-Öls. Doch die kurfürstlichen Kommissare, die in Lebus für diese Kandidaten werben sollten, kehrten mit einer Absage zurück; das Stiftskapitel hegte gegen die Nominierten die größten Bedenken. Münsterberg lehnte es ab, da er „ein scismaticus und zcum bischoffe ungelert“ sei. Man wollte „einen catholiecum haben, welcher mochte priester und keesten weihen, absolviren und ander bischoffliche ampte exerciren.“ Erst recht aber wollten sie keinen Fürsten als Bischof, denn „eins theils geriethen [diese] zcu jegern, eins theils zu bulern, eins teils zu spielern etc. und vorthetten viel“. Die jungen Markgrafen lehnten sie ab, weil der eine bereits mit mehreren „stadtlichen stiften versorget“, der andere aber zu jung sei. Überhaupt sorgten sie sich um die spirituelle Unterversorgung des Kurfürstentums, da nach einer solchen Wahl „das landt an bischoffen wuste [wüst]“ sei. Davon abgesehen besitze das Kapitel das freie Wahlrecht, da es „aus Polen hiehero kommen“. Auf diese Weise wurde auf eine vermeintliche Translation des Bistums­sitzes aus dem rothreußischen Wladimir/Włodzimierz nach Lebus angespielt61. Das von den Kurfürsten beanspruchte Nominationsrecht erkannte das Domkapitel folglich nicht an62. 59  GStA PK, VII. HA Urkunden, Märkische Ortschaften, Crossen Nr. 47: Die Herzöge Joachim, Johann, Heinrich II. und Georg von Münsterberg und Öls treten ihre Erbrechte an Crossen und Züllichau an Kf. Joachim  II. von Bbg. ab (Cölln/ Spree, 1537-11-22). 60  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 1 Fasz. 4: Bf. Joachim von Brandenburg/Havel an Kf. Joachim II. von Bbg. (Ziesar, 1551-05-17). 61  Ludat, Bistum Lebus (Anm. 2), 276–277. 62  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 1 Fasz. 3: Kommissare Eustachius von Schlieben, Joachim  von Bredow, Albrecht von Schlieben, Johann Weinlöb, Dr. Caspar Widerstadt an Kf. Joachim II. von Bbg. (Lebus, 1550-11-25).



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Der stärkste Widerstand gegen die vorgeschlagenen Kandidaten ging im Kapitel von Wolfgang Redorffer aus, dem vormaligen Propst des Neuen Stifts zu Cölln an der Spree63. Mit dem Beginn der Reformation hatte er dieses Amt verlassen oder verlassen müssen. Nun versuchte er offenbar zu verhindern, dass eine der letzten katholischen Institutionen der Mark Brandenburg endgültig neutralisiert wurde. Zur Untermauerung des Anspruchs auf freie Bischofswahl wählte das Kapitel ihn zum neuen Bischof, aber bereits im Januar 1551 erreichten die kurfürstlichen Kommissare seine Abdankung, ja Redorffer ließ dem Kurfürsten sogar dafür danken, dass er ihm die Bürde eines Episkopats nicht auflade. Das Kapitel lenkte ein und erklärte sich bereit, einen der jungen Markgrafen zu wählen, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. So verlangte es die Entfernung der in Fürstenwalde bereits eingesetzten protestantischen Prediger, was den kurfürstlichen Kommissaren jedoch nicht akzeptabel erschien. Doch das Stift erhob diese Forderung zur conditio sine qua non64. Dass Kurfürst Joachim tatsächlich zunächst eher eine Politik verfolgte, die auf die Konservierung von Bistum und Stift ausgerichtet war, geht aus dessen Korrespondenz mit dem Bischof von Brandenburg hervor. Münsterberg-Oels wurde nämlich nicht müde, seine Anwartschaft auf Lebus einzufordern. Der Kurfürst setzte ihn über den Stand der Verhandlungen mit dem Kapitel in Kenntnis und ließ ihn wissen, er sehe nur einen Weg, seine Ansprüche zu realisieren, nämlich einen seiner Söhne wählen zu lassen, der später zugunsten Münsterbergs abdanke. Joachim verdeutlichte Münsterberg ferner, dass er sich mit Blick auf die nichtbrandenburgischen Lebuser Besitzungen zu einem besonders behutsamen Vorgehen veranlasst sah: „Wo nun die gueter zu disem stiffte gehorigk alle inn unsern landen gelegen werenn, wustenn wir denn sachenn bequweren rath,“ schrieb er dem Bischof; „weill aber der beste theill derselbigenn ausser unserß landeß begriffen, müssen wir unnß etwaß dieser leuffte gelegenheitt di gueter bej dem stiffte zu erhaltehenn, erzeigen.“65 Im Verlauf der weiteren Verhandlungen mit Münsterberg begründete Joachim sein Vorgehen dann damit, dass es „uns weiter nicht getziemen 63  Mathis Leibetseder, Zwischen Rom und Mainz, Wittenberg und Königsberg. Die politischen Berater von Kurfürst Joachim I. von Brandenburg und der Beginn der Reformation (1517–1535), in: Archiv für Reformationsgeschichte 107 (2016), 7–34, hier 18. 64  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 1 Fasz. 3: Kommissare Albrecht von Schlieben, Joachim von Bredow, Melchior Kling, Caspar Widerstadt, Johann Weinlöb an Kf. Joachim II. (Fürstenwalde, 1551-01-09). 65  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 1 Fasz. 4: Kf. Joachim  II. von Bbg. an Bf. ­Joachim von Bbg. (Cölln/Spree, 1551-04-06).

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wolle, dasselbige stifft mith gewaldt eintzunhemen.“ Würde er dies tun, so würde das Stift „in drey teil gerissen“, wovon nur „der kleinste were bey unsern landen plieben“66. Dies hieß nichts anderes, als dass das Bistum wegen seiner Besitzungen in Schlesien, vor allem aber wegen der Herrschaften Beeskow und Storkow erhalten werden sollte. Der Krone Böhmen sollte also kein Vorwand geliefert werden, diese beiden Herrschaften einzuziehen. Nicht Münsterburg, sondern der brandenburgische Dompropst Johannes Horneburg war schließlich der Kompromisskandidat, auf den Kurfürst und Stift sich einigen konnten. Auf die Forderung, die evangelischen Prediger aus Fürstenwalde abzuberufen, ließ sich Joachim bei aller Rücksichtnahme nicht ein. Die Präsenz evangelischer Geistlicher war essentiell, um den Druck auf Bischof und Kapitel aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass diese ihre Herrschaft über die Stadt Fürstenwalde wieder ausbauten. So erreichte der Kurfürst sein wichtigstes Ziel, Bistum und Stift als Herrschaftsträger des jenseits der Grenzen der Mark Brandenburg gelegenen Territorialbesitzes zu erhalten. Kein Zufall dürfte es gewesen sein, dass man sich auf einen wohl bereits betagten Kandidaten einigte, so dass das Bistum in nicht allzu ferner Zukunft wieder vakant werden würde. Kompromisskandidat war Bischof Johannes nicht zuletzt deshalb, weil er auch im protestantischen Lager geschätzt wurde67. Als Horneburg 1555 starb, drängte Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin seinen Bruder, den Kurfürsten, die gemeinsamen Interessen gegenüber dem Domkapitel diesmal stärker zu forcieren68. Über dessen Vorschlag, den Fürsten Ernst von Anhalt zu nominieren, weil er „alterß halben dartzu habiliter genug“69 sei, setzte sich Joachim jedoch hinweg und beharrte auf der Kandidatur des brandenburgischen Bischofs und seines Enkels Joachim Friedrich. Die Lektion aus dem Tauziehen um die Nachbesetzung des Bistums in den Jahren 1550/51 hatte Joachim dennoch gelernt: Mit Offerten und Drohungen versuchte er, das Kapitel zur Wahl eines der vorgeschlagenen Kandidaten zu bewegen. Für den Fall, dass es seinen Enkel wählte, versprach er ihm die Ausfertigung eines Revers darüber, dass die Stiftsgüter während seiner Herrschaft „nicht sollte[n] prophanirt werden“. Außerdem sollte das Kapitel auch nach 66  Ebd.:

Kf. Joachim II. von Bbg. an Bf. Joachim von Bbg (Cölln/Spree, 1554-04-

18). 67  Teichmann,

Von Lebus nach Fürstenwalde (Anm. 2), 115. Das Bistum und Stift (Anm. 3), 102. 69  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 1 Fasz. 5: Mgf. Johann von Bbg-Küstrin an Kf. Joachim II. von Bbg. (Küstrin, [1555]-07-02). 68  Gahlbeck,



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dessen Tod wiederum einen Bischof wählen dürfen. Auch wies der Kurfürst das Kapitel von vornherein auf die Vorzüge hin, die mit der Wahl eines Standesherrn zum Bischof verbunden waren: Nur ein solcher schrecke die Feinde des Bistums ab, gegen dieses vorzugehen; nur ein solcher bringe die notwendigen Kontakte zu anderen Standesherren mit, um dessen Sicherheit zu gewährleisten70. Für den Fall, dass sich das Kapitel nicht als willfährig erwies, plante der Kurfürst dessen Stellung in der Stadt Fürstenwalde weiter zu schwächen. Offen drohte er damit, dem Stift den landesherrlichen Schutz zu entziehen und Amtsleute und Stiftsuntertanen von der Gehorsamspflicht gegenüber dem Stift zu entbinden. Darüber hinaus sollte die Fürstenberger Domkirche in diesem Fall für evangelische Gottesdienste geöffnet werden, wobei „di pfaffen ungeschutzt und ungesichert gelassen unnd ungestrafft pleibe[n], wo inenn jmands wurde leids thun, oder haus und hoff durchlieffe.“71 In Geheimverhandlungen bemühte sich der Kurfürst zudem um eine Allianz mit den Protestanten im Fürstenwalder Magis­ trat. Der Magistrat sollte damit drohen, einem romtreuen Bischof seine Anerkennung zu versagen, und auf die Wahl eines protestantischen Kandidaten dringen72. Doch ehe der Kurfürst diese letzte Karte spielen konnte, sah das Kapitel die Ausweglosigkeit seiner Lage ein und wählte den Enkel des Kurfürsten, den Markgrafen Joachim Friedrich, zum neuen Bischof. Für Joachim  Friedrich stellte diese Wahl einen tiefen Einschnitt dar. Der protestantisch erzogene Markgraf sollte nun nach allen Regeln der Kunst in einen katholischen Prälaten verwandelt werden. So wurde da­ rüber nachgedacht, nicht nur nach Rom zu schicken, um die Wahl von der päpstlichen Kurie bestätigen zu lassen, sondern Joachim  Friedrich auch darauf vorzubereiten, die Tonsur zu empfangen und von einem „catholischen bischoff geweihet und der geistlichkeit zugeschrieben“73 zu werden. Auf diese Weise sollte auswärtigen Mächten jeglicher Vorwand genommen werden, Stiftsgüter an sich zu ziehen. (Ob diese Maßnahmen tatsächlich eingeleitet wurden, muss jedoch dahin gestellt bleiben.) Pa­ rallel versuchte der Kurfürst, das Stift so fest wie möglich an das Haus Brandenburg zu ketten. Administrator für den minderjährigen Enkel sollte nicht der Archidiakon Wolfang Redorffer werden, sondern der Va70  Ebd.: Instruktion für die zum Kapitel entsandten Kommissare (Cölln/Spree, 1555-07-10). 71  Ebd. 72  Ebd. 73  Ebd.: Kf. Joachim  II. von Bbg. an das Kapitel zu Fürstenwalde, Vorarbeiten für ein Konzept (Cölln/Spree, 1555-08-19).

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ter des Markgrafen, Kurprinz Johann Georg74. Außerdem setzte der Kurfürst dem Kapitel heftig zu, sämtliche Verwaltungsrechte bereits vor der Bestätigung der Bischofswahl durch Rom auf den Administrator zu übertragen; nur auf diesem Wege gelange das Stift mit all seinen Gütern in den sofortigen Genuss des Schutzes durch Joachim  als „lantfurst unnd schutzher“75. Zwar wurde der Spielraum des Kapitels so immer mehr eingeengt; endgültig gebrochen war dessen Widerstand jedoch noch nicht. Mit einer genau nicht zu datierenden Wahlkapitulation für den neuen Bischof versuchte es zumindest den Fürstenwalder Dom vor protestantischen Umtrieben zu schützen. Es versprach, die Predigten evangelischer Pfarrer in zwei Kirchen  – einer Kapelle in der Stadt und einer Kirche außerhalb der Stadtmauer in der Vorstadt – weiterhin zu dulden, während der Dom exklusiv „allen alten cristglaubigen“ vorbehalten bleiben sollte. Darüber hinaus zeigte sich das Kapitel bestrebt, sein Regiment über die städtische Obrigkeit wiederherzustellen. Der neue Bischof wurde ermahnt, „das[s] sein f[ürstliche] g[naden] hinfurder eintrechtige die alten crist­ lichen glaubens personen mit wissen des capitels in rath züm regiment der gemeynen stadt mochte gnedig verordnen und setzen“. Als Ratsherren sollten also wieder ausschließlich papsttreue Kandidaten eingesetzt werden76. Die auf einem getrennten Blatt vermerkte Revision eines kurfürstlichen Rats lässt darauf schließen, dass Joachim  diese Punkte zunächst akzeptierte und die obrigkeitliche Stellung des Bischofs gegenüber dem städtischen Magistrat damit stärkte. Archidiakon Wolfgang Redorffer unternahm Anfang 1556 sogar noch einmal einen Versuch, den Beistand des Kurfürsten bei der Rückführung des Fürstenwalder Magistrats zum alten Glauben zu gewinnen77. Trotz der rechtlichen und personellen Erosion des Hochstifts war dessen Romtreue somit auf der symbolischen Ebene zunächst bestätigt, aber eben auch die Grundlage für weitere Auseinandersetzungen gelegt.

74  Ebd.: Instruktion Kf. Joachims II. von Bbg. für Mgf. Johann Georg, Eustachius von Schlieben, Adam Trott, Thomas Matthias an Stift und Kapitel Lebus (Cölln/ Spree, 1525-11-25). 75  Ebd. 76  Ebd.: Konzept des Kapitels für eine Wahlkapitulation des Mgf. Joachim Friedrich von Bbg. ([1555]). 77  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 1 Fasz. 6: Wolfgang Redorffer an Kf. Joachim II. von Bbg. (Fürstenwalde, 1556-02-08).



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III. Reformation als ritueller Prozess Zur eigentlichen Entzweiung zwischen Kurfürst und Kapitel kam es letztlich aber nicht wegen religions- oder kirchenpolitischer Fragen, sondern wegen der extraterritorialen Besitzungen von Bistum und Stift. Gerade was die Herrschaften Beeskow und Storkow betraf, hatte sich die Lage zuletzt verschlechtert. Die Bibersteine hatten die Ansprüche auf die Herrschaften nicht aufgegeben, machten sie nach wie vor in ihrer Titulatur geltend und trugen sich mit Plänen, den Pfandbesitz auszulösen. Ein interner Streit darüber, welche Linie die entsprechenden Ansprüche besaß, wirkten allerdings paralysierend, bis die Krone Böhmen die Rechte nach dem Aussterben der Linie Friedland-Sorau 1551 schließlich einzog. Bald wurden Gerüchte laut, die Krone lasse nun selbst Gelder zum Auslösen des Pfands sammeln, weshalb sich Bischof Johann 1553 persönlich zu König Ferdinand begab78. Infolge der Bischofswahl 1555 sicherte sich aber auch Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin im Rahmen von Kreditgeschäften mit Joachim II. Rechte an Beeskow und Storkow79. Am 15.  Februar 1556 empfing Markgraf Johann in Beeskow die Huldigung des Rates und der Bürgerschaft sowie der Ritterschaft, am 16.  Februar musste das Domkapitel der Abtretung zustimmen. Markgraf Johann blieb es überlassen, das Kapitel gegenüber der Außenwelt abzuschirmen, so dass es den Prager Hof nicht um Hilfe bitten konnte80. In der Woche nach Ostern 1556 trafen in Fürstenwalde sukzessive der Kurprinz und Administrator Johann Georg, Markgraf Johann von Brandenburg-Küs­ trin und Kurfürst Joachim  II. ein, um dem Kapitel andere Güter als Kompensation für Beeskow und Storkow anzubieten und sich die Verschreibungsurkunden der beiden Herrschaften aushändigen zu lassen. Über die Geschehnisse in Fürstenwalde an den folgenden Tagen sind wir nur durch eine einzige Quelle en detail unterrichtet81. Diese Geschehnisse sind also nicht durch administratives Schriftgut im engeren Sinne überliefert, sondern durch eine narrative Quelle, die von „Christoff Hugewitz stadtschreiber zu furstenwalde“82 verfasst und unter unbe78  Scholz,

Zwischen Böhmen, Brandenburg und Sachsen (Anm. 27), 63. PK, VII. HA, Märkische Ortschaften, Beeskow-Storkow Nr. 43: Kurfürst Joachim  II. von Brandenburg sowie die Markgrafen Johann von Küstrin und Johann Georg von Brandenburg vergleichen sich über das Bistum Lebus und über die Herrschaften Beeskow und Storkow (Küstrin, 1555-11-02). 80  Zu dem gesamten Vorgang ausführlich Carl Petersen, Die Geschichte des Kreises Beeskow-Storkow, Beeskow 1922 [ND Neuenhagen 2002], 55–60; Scholz, Zwischen Böhmen, Brandenburg und Sachsen (Anm. 27), 64–65. 81  GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42). 82  Ebd. (Rückvermerk). 79  GStA

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kannten Umständen der kurfürstlichen Überlieferung einverleibt wurde. Weder über das Amt des Fürstenwalder Stadtschreibers noch über die Person Haugwitz’ sind wir wirklich gut unterrichtet. Immerhin wissen wir, dass das Amt des Stadtschreibers ursprünglich mit dem des beim Domstift anstelligen Schulmeisters verbunden war; der Stadtschreiber/ Schulmeister war mithin ein Bediensteter von Stadt und Stift. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts unterhielt der städtische Magistrat jedoch „seit langer Zeit schon seinen eigenen Stadtschreiber“83. Es passt ins Bild, wenn Wohlbrück vermutet, dass Haugwitz aus einer in Fürstenberg ansässigen Bürgerfamilie stammte, die seit langem mit dem Domstift verbunden war; denn bereits für die Zeit zwischen 1491 und 1508 ist ein Lebuser Domherr Christoph Hugewitz/Haugwitz belegt84, der mit dem Stadtschreiber jedoch nicht identisch sein dürfte. Weitere Belege zeigen, dass 1564  – der Stadtschreiber?  – Christoph von Haugwitz zwei Hufen Land bei der Fürstenwalder Heiliggeistkapelle auf zwölf Jahre gepachtet hatte; 1563 wurde diese Kapelle einem Pantaleon Haugwitz zum Abbruch geschenkt85. Mithin ist davon auszugehen, dass der Verfasser ein städtischer Bediensteter war, der aus einer ortsansässigen Honoratiorenfamilie stammte. Dennoch ist die causa scribendi weniger eindeutig als auf den ersten Blick zu vermuten. Sie steht wohl in keinem Zusammenhang zu einem städtischen Rechts- oder Verwaltungsakt, der in den Aufgabenbereich des Stadtschreibers als Leiter der städtischen Kanzlei gefallen wäre. Insofern handelt es sich bei der Darstellung wohl nicht um ein Schriftstück, das aus der städtischen Verwaltungstätigkeit hervorgegangen wäre und sich nach den Regeln der amtlichen Aktenkunde klassifizieren ließe. Insbesondere handelt es sich nicht um eine Art von Memorialschreibwerk – etwa ein Protokoll –, da die hierfür übliche Kenntlichmachung („actum“) fehlt, wie es etwa zur Fixierung mündlich geführter Verhandlungen oder Zeugenbefragungen üblich war. Stattdessen besitzt der Text eine typografisch hervorgehobene Überschrift („Wie die pfaffen tzu Furstenwalde 83  Goltz,

Diplomatische Chronik (Anm. 43), 175. Geschichte des ehemaligen Bisthums Lebus (Anm. 1), Bd. 2, 384– 385. Für die von Wohlbrück suggerierte Identität mit dem Bautzener Domherrn gleichen Namens gibt es Hermann Kinne, Das Kollegiatstift St. Petri zu Bautzen von der Gründung bis 1569 (Germania Sacra, 3. Folge 7, 1), Berlin/Boston 2014, 991, zufolge keine Anhaltspunkte. 85  Goltz, Diplomatische Chronik (Anm. 43), 218; Friedrich Beck (Bearb.), Urkundeninventar des Brandenburgischen Landeshauptarchivs. Kurmark, Teil  1: Landesherrliche, städtische und geistliche Institutionen (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 41), Berlin 2001, Nr. 2263 und 6547 (o. O., 1563-05-28). 84  Wohlbrück,



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gesturmet vnd die thumkirchen der evangelischen gemein eingereumet ist worden Anno 1556“), was die Aufzeichnung in die Nähe nichtamt­ licher, literarischer Textformen rückt. Da das Sujet jedoch ein nichtfik­ tionales bzw. politisches ist, fühlt man sich an die Textform der ‚Zeytung‘ erinnert, wenngleich eine entsprechende Kenntlichmachung ebenfalls fehlt. Solche aktuelle Geschehnisse zusammenfassende Texte wurden von einem anonymen Verfasser- und Schreiberkreis handschriftlich aufgesetzt bzw. kopiert und zirkulierten dann vielfach als Beilagen zu Korrespondenzen86. Derartige ‚Zeytungen‘ waren ein wichtiges Medium, zur Verbreitung von Wissen über die politischen Zeitläufte bzw. zur Herstellung eines allgemeinen Wissenshorizonts innerhalb der stark vernetzten ‚Gesellschaft der Höfe‘87. Tatsächlich gibt es zumindest ein Indiz dafür, dass auch die Lebuser Vorgänge durch eine solche ‚Zeytung‘ bekannt gemacht wurden. Am 30. April 1556 schickte nämlich Melanchthon an den Hofprediger Heinrich Bruchofen/Buscoducensis in Kopenhagen einen Bericht, welcher die Domherren in Fürstenwalde betraf und für König Christian III. von Dänemark gedacht war: Mitto tibi narrationem de Canonicis Lebusianis in Fürstenwald, quam legas inclyto Regi88. Ob es sich dabei um den von Haugwitz’ verfassten Text handelte, der ja eine narratio war, muss freilich dahin gestellt bleiben. Unabhängig davon zeigt Melanchthons Schreiben jedoch, dass die Geschehnisse in Fürstenwalde nicht nur lokal wahrgenommen wurden, weshalb auch der dortige Magistrat an einer Steuerung des Wissens über sie interessiert gewesen sein dürfte. Im Kontext der Wissenssteuerung und -verbreitung ist daher wahrscheinlich auch Haugwitz’ Erzählung anzusiedeln. Wie bereits angemerkt, setzte diese Darstellung mit der Ankunft Joachims II., Johanns und Johann Georgs in Fürstenwalde ein. Sie thematisierte die in die Wege geleitete Abtretung der Herrschaften Beeskow und Storkow sowie die Gegenwehr des Domkapitels. Dieses beriet zwar über die landesherrlichen Vorschläge, wies sie aber tags darauf mit der Begründung zurück, das Kapitel würde auf diese Weise „von einem schis-

86  Christine Pflüger, Kommissare und Korrespondenzen. Politische Kommunikation im Alten Reich (1552–1558) (Norm und Struktur, 24), Köln/Weimar/Wien 2005, 79. 87  Lucien Bély, La società dei principi, in: La società dei principi nell’Europa moderna (secoli XVI–XVII), hrsg. v. Christof Dipper/Mario Rosa (Annali dell’­ Istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderni 66), Bologna 2005, 13–44. 88  Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe, hg. v. Heinz Scheible/Christine Mundhenk, Stuttgart 1977–[2016], hier Nr. 7795 = Corpus Reformatorum, 101 Bde., Halle u.  a. 1834–1959, hrsg. v. Karl Gottlieb Bretschneider, Bd. 8, Sp. 741–742, Nr. 5971; Philipp Melanchthon an Heinrich Buscoducensis ([Wittenberg], 1556-04-30).

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matico und heretico ad alium procediren“89. Aus einer anderen Quelle wissen wir, das der Archidiakon Wolfgang Redorffer und der Stiftssenior Johann Finsterwald für diese Worte verantwortlich gemacht wurden90. Haugwitz wies ausdrücklich darauf hin, dass diese Formulierung vom Kapitel den kurfürstlichen Räten und von diesem dann dem Kurfürsten selbst übermittelt wurde. Joachim  II. habe dies „hart ertzurnet“, etliche hätten sogar gesagt, er habe daraufhin den Befehl gegeben, „die pfaffen alle tzuerwurgen“, konnte aber durch seine politischen Berater noch davon abgehalten werden. Haugwitz komponierte also eine emotional stark aufgeladene Szene: Das Vorgehen des Kurfürsten und seines Anhangs provozierte eine starke Replik des Kapitels, dieser wiederum eine heftige emotionale Reaktion des Kurfürsten  – ein Ablauf, welcher an die informellen Spielregeln vormodernen Ehrenhändel erinnert, bei dem Provokation und Retorsion einander ablösten91. Seiner lokalen Perspektive treu bleibend, schilderte Haugwitz jedoch lediglich die letzte Sequenz bzw. die finale Eskalation des verbalen Schlagabtauschs. Initialzündung für die letzte Eskalationsstufe war der Affekt, welchen die Retorsion des Kapitels beim Kurfürsten bewirkte. Dieser geriet in Zorn, verlor die Kontrolle und konnte nur durch Einwirken seiner politischen Berater („etlichen“) davon abgehalten werden, die Domherren aus fürstlicher Willkür zum Tode zu verurteilen. Die Berater, so Haugwitz weiter, erinnerten den Kurfürsten an den „ungelimpff“92, der aus unbesonnenem Vorgehen folgen könne, und empfahlen ihm, seinen Willen lieber auf andere Art durchzusetzen. Sie machten also keine prinzipiellen Einwände 89  GStA

PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42), Sei-

te 1. 90  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 22: Wolfgang Redorffer und Johann Finsterwald unterwerfen sich dem brandenburgischen Kurfürsten und geloben, keine Schmähungen gegen ihn, seinen Bruder und Sohn sowie gegen die Augsburger Religionsverwandten auszustoßen ([1556]); J. H. Gebauer, Aus dem Leben eines märkischen Domherrn zur Zeit der Reformation, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 6 (1908), 68–92, und Julius Heidemann, Die Reformation in der Mark Brandenburg, Berlin 1889, 350–351, folgen der wohl erst von Registratorenhand im 17. Jahrhundert vermerkten Datierung auf das Jahr 1555. Da die Urkunde erwähnt, Redorffer und Finsterwald hätten den Kurfürsten als „schismaticus“ gescholten, also dieselbe Formulierung verwendet wie Haugwitz, scheint mir das Schriftstück in den von Haugwitz beschriebenen Kontext des Jahres 1556 zu gehören. 91  Francisca Loetz, Zeichen der Männlichkeit? Körperliche Kommunikationsformen streitender Männer im frühneuzeitlichen Zürich, in: Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. v. Marin Dinges, Göttingen 1998, 264–294, hier 270. 92  GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42), Seite 2.



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gegen die Hinrichtung der Domherren geltend, erinnerten aber an die Regeln politischer Vernunft. Fürstliche Willkür und Rache für die „schmewort“93 des Kapitels – eine Formulierung, die nochmals auf die Konfliktverarbeitung nach den Spielregeln des Ehrenhandels hinweist  – wurden zum Ausgangspunkt der anschließenden Kette von Handlungen. Durch seinen Rat Eustachius von Schlieben, den Marschall des Kurprinzen und den Hauptmann zu Fürstenwalde ließ der Kurfürst dem protestantischen Bürgermeister Jakob Schönefeld94 befehlen, „ein burger oder xx [20]“95 zu sich zu rufen, diese die Häuser des Archidiakons Wolfgang Redorffer und des Domherrn Finsterwald stürmen und die beiden Geistlichen festsetzen zu lassen. Mit anderen Worten: Mit einer Kette sprachlicher Handlungen ­ (Kurfürst – landesherrliche Räte – evangelischer Bürgermeister – Bürger) wurde eine Vergeltungsaktion gegen zwei Domherren in Gang gesetzt. Womöglich sollte so verschleiert werden, dass die Gewaltausübung gegen Redorffer und Finsterwald vom Kurfürsten ausging, was der Verfasser des Textes zu verhindern wusste, indem er den Kufürsten klar als Ur­ heber der folgenden Handlungen benannte. Zugleich suggerierte er aber auch eine gegen das Kapitel gerichtete Interessengemeinschaft zwischen Kurfürst, Magistrat und Bürgerschaft. Sogar die Stoßrichtung der Vergeltungsaktion wurde  – so Haugwitz  – durch den Kurfürsten vorgegeben. Die Bürger sollten in die Häuser der beiden Geistlichen einfallen, dort von ihren Vorräten essen und trinken und dabei sagen: „Hör pffaffe, du hast lange genug mitt uns gessen und getruncken, wir mussen ein mahl widerumb mit dir essen“96. Der Spruch thematisierte die Abgabenpraxis der vormodernen Gesellschaft, indem er eine Umkehrung bestehender gesellschaftlicher Ordnungsmuster proklamierte. Die Untertanen bedienen sich bei der Obrigkeit, wie sich die Obrigkeit ansonsten bei den Untertanen bedient. Geleistete Geld- und Naturalabgaben wurden in diesem Zusammenhang durch die zubereiteten Nahrungsmittel symbolisiert, die „mit dir“ verspeist wurden. Semantisch mehrdeutig ist die Formulierung „ein mahl widerumb mit dir essen“, wobei das vom paläographischen Befund her eindeutig in zwei Worten ge93  Ebd. 94  Über die Zusammensetzung des Fürstenwalder Stadtrats in jener Zeit ist wenig bekannt. Goltz, Diplomatische Chronik (Anm. 43), 176, nennt für das Jahr 1544 (?) lediglich den Bürgermeister Lucas Schneider und den Ratmann Czithen, aber ohne Angabe konfessioneller Orientierungen. 95  GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42), Seite 2. 96  Ebd.

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schriebene „ein mahl“ entweder als modern ‚einmal‘ oder als modern ‚eine Mahlzeit‘ aufgefasst werden kann. An diese zweite Lesart ließe sich die Frage anschließen, ob die Untertanen mit ihrem Sprechakt nicht auf das gerade erst verflossene Osterfest rekurrierten, genauer gesagt auf den fünften Tag der Karwoche, an dem des letzten Abendmahls Christi gedacht wurde. Reformationszeitliche Akte ritueller Gewaltanwendung waren oftmals in den liturgischen Kalender eingeschrieben97. Tendenzen zur „normativen Zentrierung“98 entsprechend waren Kommunion und letztes Abendmahl in den Mittelpunkt der protestantischen Theologie gerückt und hatten dadurch eine für das gesamten christliche Heilsgeschehen singuläre Rolle erhalten, welche sie in der vorreformatorischen römischen Kirche so nicht besessen hatten; erst auf evangelischen Altarretabeln nahm das letzte Abendmahl denn auch den zentralen Platz ein, und zwar als Darstellung des jüdischen Pessach-Festes, was nicht zuletzt daran erkennbar ist, dass sich Christus mit den Jüngern um ein geschlachtetes Lamm versammelte99. Der Brauch des Pessach-Festes erinnerte an den Auszug des jüdischen Volks aus der ägyptischen Sklaverei, worin in protestantischer Lesart die Befreiung aus römischer Knechtschaft mitschwang. Einen lebensweltlichen Bezug fanden letztes Abendmahl und Pessach-Fest für die Stiftsuntertanen auch in dem im vormodernen Reich allenthalben üblichen Lämmerzehnt, welcher zu Walpurgis (1. Mai) erhoben wurde. Es handelte sich dabei um die erste Zehntleistung des Kalenderjahrs, wobei der Grundherr das Recht besaß, den Hof des Zehntpflichtigen aufzusuchen, um die Zehnttiere auszuwählen. Möglicherweise sollte genau diese Praxis mit dem ‚Gegenbesuch‘ bei den Domherren ­Redorffer und Finsterwald travestiert werden. Die Stoßrichtung, welche dieser Parole zugrunde lag, war sowohl religiös als auch sozial motiviert; unter protestantische Vorzeichen brachte sie antiklerikale Affekte gegen Zehntzahlungen aufs Tapet. So wurden soziale Missstände thematisiert, die seit dem 15. Jahrhundert wiederholt in Revolten bäuerlicher und bürgerlicher Schichten und Gruppierungen aufgerufen worden waren. Die Parole, welche die Fürstenberger im Munde führen sollten, war bereits in den österlichen Klosterstürmen der Bauernkriegszeit genutzt worden. So hatte Johann Amandus, Pfarrer an der Kirche von Königsberg-Altstadt, seiner Gemeinde während der dortigen Unruhen Ostern 1524 von der Kanzel herab zugerufen: „die grauen Mön97  Muir,

Ritual in Early Modern Europe (Anm. 7), 186. Hamm, Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), 163–202. 99  Joseph Leo Koerner, Die Reformation des Bildes, München 2017, 375–377, 395–419. 98  Berndt



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che haben nun lange genug mit uns gegessen und getrunken, nun gehet hin und esset und trinket auch mit ihnen.“100 Ostern 1525 waren Ausschreitungen gegen die Dominikaner in Frankfurt am Main durch den Ruf „Die Pfaffen haben lange genug mit uns gegessen und getrunken, so wollen wir einmal mit ihnen essen und trinken!“101 angeheizt worden. Der Sprechakt und die dadurch ausgelösten Handlungen artikulierte so die Forderung, klösterliche Gemeinschaften aufzuheben und deren Besitz dem Gemeinwohl zuzuführen. Namentlich in den geistlichen Territorien hatten die aufständischen Bürger und Bauern dazu aufgerufen, dass Bischöfe und Äbte weltliche Titel annehmen und die Rechte der Domkapitel zumindest beschnitten werden sollten102. Dass der brandenburgische Kurfürst selbst diesen ‚Pfaffensturm‘ anordnete, erscheint durchaus glaubhaft; schließlich hatte er bereits 1550 damit gedroht103; dass er die Verwendung eines Schlachtrufs aus der Bauernkriegszeit anordnete oder zumindest duldete, erstaunt dann aber doch  – und lässt sich eigentlich nur dadurch erklären, dass dieser im Zuge der Ritualisierung möglicherweise eine gewisse Sinnentleerung erfahren hatte. Haugwitz zufolge wurde der kurfürstliche Befehl von den Bürgern umgesetzt, wobei es dem Domherrn Finsterwald jedoch gelang, sich der Festnahme zu entziehen. Als Joachim II. dies vernahm, wurde er auf die Bürger „sehr unmuttig“104. Auf den ersten, die Ausschreitungen in Gang setzenden Wutausbruch folgte nun ein zweiter, der weitere Maßnahmen nach sich zog. Den Bürgern wurde nun befohlen, in den Häusern am Kirchhof Hausdurchsuchungen durchzuführen  – und im Falle des endgültigen Entkommens Finsterwalds damit gedroht, die Bürger(schaft) zu bestrafen. Einmal mehr griff die Befehlskette: Auf Anordnung des Marschalls des Kurprinzen ließ Bürgermeister Schönfeld um Mitternacht die städtische Sturmglocke läuten, woraufhin die Bürger mit „spissen, geweren und wapen“105 bewaffnet zusammenströmten. Haugwitz unter100  Zitiert nach Johannes Voigt, Geschichte Preussens, von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des Deutschen Ordens, Bd. 9, Königsberg 1839, 711. 101  Hermann Wedewer, Johannes Dietenberger 1475–1537. Sein Leben und Wirken, Freiburg/Breisgau 1888, 66–67. 102  Horst Buszello, Legitimation, Verlaufsformen und Ziele, in: Der deutsche Bauernkrieg, hrsg. v. Horst Buszello/Peter Blickle/Rudolf Endres, Paderborn/ München/Wien/Zürich 1984, 281–321, hier 297. 103  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 1 Fasz. 5: Instruktion (Anm. 70); siehe Zitat bei Anm. 71. 104  GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42), Seite 2. 105  Ebd., Seite 3.

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streicht, dass damit eine weitere Eskalationsstufe erreicht war, denn jene, welche sich nun einfanden, hatten von der vorausgegangenen Aktion noch keinerlei Kenntnis erlangt. Erst jetzt wurden also weitere Bevölkerungskreise einbezogen, die, wie unser Gewährsmann ausführt, „tzum teil vol, tzum teil den pfaffen sunst feind“106 waren. Dass die Mobilisierten „vol“, das heißt betrunken waren, kann mit rituellen Zechgelagen zum Ende der österlichen Fastenzeit in Verbindung gebracht werden. Die Suche nach dem flüchtigen Domherrn wurde nun auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt, Stadttore und Stadtmauern wurden besetzt, bis man Finsterwald schließlich bei einer Frau „im hechsel ond[erm] futter stecken, halb nackend und barfus“107 aufgriff. Die Festnahme lief offenbar nicht ohne Spott und Hohn ab, die Haugwitz jedoch mit dem Hinweis darauf nicht näher ausführte, man könne sie sich angesichts der Tat­ sache, dass „die thumpfaffen, d[as] h[eilige] evangelium und die evangelische gemeine fast in die xii iar uffs greulichste gelestert und verfolget haben“108, auch so vorstellen. Mit dieser Formulierung benennt Haugwitz erstmals explizit die konfessionelle Dimension des Konflikts und gibt sich selbst als Anhänger der Reformation zu erkennen. Mit dem Läuten der städtischen Sturmglocke und der Einbeziehung weiterer Kreise der Bürgerschaft entfaltete sich das (soziale) Drama nun auch ohne ausdrücklichen Befehl des Kurfürsten oder Magistrats. Die Unterkünfte zwei weiterer Domherren sowie zwei weitere dem Stift gehörende Häuser wurden gestürmt. Dabei verwandelte sich die obrigkeitlich initiierte Vergeltungsaktion endgültig in ein karnevaleskes Ritual109: Eine größere Menge von Bürgern drang mit Geschrei in eines der Häuser ein, nahm am Tisch des Bewohners Platz, verspottete diesen, ließ Bier, Wein und Essen auftragen, langte reichlich zu, nahm mit, was nicht an Ort und Stelle vertilgen werden konnte, und zerstörte „haus gerethe, vil gleser und kruser [d. h. Krüge] mit gebrautem konstlich[en] wasser und 106  Ebd. 107  Ebd. 108  Ebd. 109  Die Erforschung karnevalesker Riten wurde ganz wesentlich von Bachtins zuerst 1965 erschienenem Buch Rabelais Welt inspiriert. Zur daran anknüpfenden Forschungstradition siehe Muir, Ritual in Early Modern Europe (wie Anm. 7), 85– 116. Grundlegend für reformationszeitliche karnevaleske Riten: Robert W. Scribner, Reformation, Carnival and the World Turned Upside-Down, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London/Ronceverte 1987, 71–101. Die hier untersuchten karnevalesken Züge des Fürstenwalder ‚Pfaffensturms‘ lassen sich mit dem Motiv des Festmahls in Verbindung bringen, die Bachtin als Travestien des Abendmahls beschreibt (Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt am Main 1995, 329–334).



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and[eren] sprecerey[en]“110. Unterdessen ließ der kurprinzliche Hofmarschall die Geldmittel und „schetze“111 des betroffenen Domherrn sicherstellen. Aber auch das Gesinde beteiligte sich nun an den Plünderungen und trug Gelder, Töpferwaren und vieles Mehr davon; selbst das „gutte kraut und gewechs aus dem garten“112 wurde entfernt. Den Gesamtschaden bei dem betroffenen Domherrn bezifferte Haugwitz auf 800 Gulden. Letztlich setzten die aufgebrachten Bürger so die Parole um, mit welcher die Aktionen gegen Redorffer und Finsterwald begonnen hatte: Sie verspeisten bzw. holten sich zurück, was sie als das Ihrige betrachteten, und zerstörten namentlich solche Gefäße, die für die Aufbewahrung und den Konsum von Nahrungsmitteln benötigt wurden. In einer karnevalesken Aufführung wurde das gemeinschaftsstiftende Moment des Mahls somit travestiert und gegen die Domherren gerichtet; diese selbst wurden durch Akte symbolischer Gewalt gegen Hab und Gut aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Dass sich der Zorn der historischen Akteure bei derartigen Hauswüstungen gezielt an Besitztümern entlud, welche stellvertretend für die ‚Vergehen‘ ihrer Eigentümer standen, kann auch bei ähnlich gelagerten reformationszeitlichen Beispielen, aber auch solchen späterer Jahrhunderte beobachtet werden113. Das zielgerichtet einsetzende Ritual folgte also einer eigentümlichen ‚Poetik‘, welche dem kollektiven Wunsch nach einer Veränderung der gesellschaftlichen Ordnungsmuster mit symbolischen Mitteln Ausdruck verlieh. Zumindest was die konfessionelle Ordnung betraf, so wurde dieser ‚Wunsch‘ bereits am Folgetag mit einem besonderen Gottesdienst ‚beantwortet‘. Ob es sich dabei um eine Maßnahme handelte, mit welcher der Kurfürst und/oder der Magistrat auf den unkontrollierten Gewaltausbruch während der Nacht reagierte, muss freilich dahin gestellt bleiben. Haugwitz erzählt lediglich, dass dem protestantischen Pfarrer noch während derselben Nacht angezeigt wurde, er möge sich darauf vorbereiten, am kommenden Tag (Sonnabend, 11. April) in der Domkirche einen ersten evangelischen Gottesdienst abzuhalten. Die Umstände verwiesen darauf, dass mit diesem Gottesdienst eine dauerhafte Änderung des konfessionellen status quo in der Stadt eingeleitet wurde. Statt in einer vor den Toren der Stadt gelegenen Kapelle feierten die Protestanten ihren Gottesdienst nun in der im Herzen der Stadt gelegenen Domkirche. Damit 110  GStA

PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42), Sei-

te 3. 111  Ebd. 112  Ebd.,

Seite 4. bspw. Mathis Leibetseder, Die Hostie im Hals. Eine ‚schröckliche Bluttat‘ und der Dresdner Tumult des Jahres 1726 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, 18), Konstanz 2009, 98–105. 113  Hierzu

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rückte der Protestantismus nicht nur ins topographische Zentrum der Stadt, sondern auch ins ideelle Zentrum der ‚communitas christiana‘, als welche sich die vormoderne Stadt imaginierte114. Diese Neukodierung der Sakraltopographie Fürstenwaldes wurde Haugwitz zufolge mit Mitteln symbolischer Kommunikation sinnfällig unterstrichen: Die große Kirchenglocke wurde geläutet, die Stadtgemeinde strömte im Dom zusammen, und indem der Pfarrer auf Psalm 24 („Machet die thore weit und die thure in der welt hoch auff, das der konigk der ehren eintzihe etc.“115) predigte, griff er das in den Gewaltausbrüchen der vorausgegangenen Nacht travestierte Motiv des Besuchs noch einmal auf, stellte zugleich aber auch eine Verbindung zur gerade erst verflossenen Osterzeit – der Einzug Jesu in Jerusalem – her. Das Läuten der großen Kirchenglocke erinnerte nämlich an das Ende der Karwoche, während der das Glockenläuten traditionell durch ‚Klappern‘ oder ‚Ratschen‘ ersetzt wurde116. In den Augen und Ohren der protestantischen Stadtbevölkerung mochte sich so die Assoziation einstellen, die ‚wahre Kirche‘ sei zum Ende der Osterzeit 1556 auch in Fürstenwalde auferstanden. Der Gottesdienst beschloss also den Übergangsprozess, welcher mit den nächtlichen Gewaltritualen seine liminale, auf die Herstellung eines neuen Status ausge­ richtete Phase durchlaufen hatte, und bekräftigte die Etablierung ­einer gewandelten Ordnung. Ohne die Parallelen interpretatorisch überstrapazieren zu wollen, sei zumindest auf die strukturelle Opposition der Motivketten ‚Nacht – Unordnung – Gewalt‘ / ‚Tag – Ordnung – Befriedung‘ hingewiesen, wobei sowohl das nächtliche Gegenritual als auch der morgendliche Gottesdienst durch Glockenläuten eingeleitet wurden117. Ob dieser Ablauf einem ungeschriebenen ‚kulturellen Drehbuch‘ entsprach, das auch bei ähnlichen Ausschreitungen  – etwa in Königsberg oder 114  Zur Imagination der Stadt als ‚communitas christiana‘ siehe Vera Isaiasz/ Matthias Pohlig, Soziale Ordnung und ihre Repräsentationen. Perspektiven der Forschungsrichtung ‚Stadt und Religion‘, in: Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnung und ihre Repräsentationen, hrsg. v. Vera Isaiasz u. a., Frankfurt am Main/New York 2007, 9–32, hier 26. Haugwitz’ Darstellung ist ein Indiz dafür, dass sich auch die Stadt Fürstenwalde in diesem Sinne als christ­ liches Gemeinwesen definierte. 115  GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42). Seite 4. 116  Rupert Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, 5., völlig überarbeitete Auflage, Freiburg im Breisgau 1999 [Neuausgabe 2013], 144. 117  Dass reformationszeitliche Hauswüstungen gerade nachts vollzogen wurden, zeigen auch die Erfurter „Pfaffenstürme“ des Jahres 1521; vgl. Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012, 261–264: [Johannes Sömmering und Nikolaus Engelmann] an Ebf. ­Albrecht von Mainz (o. O., 1521-06-27).



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Frankfurt am Main118 – befolgt wurde, ist eine Frage, die weiter führenden Forschungen vorbehalten bleiben muss. Bis zum Gottesdienst am 11. April lag dem lokalen Konfliktaustrag eine dialogische Struktur zugrunde  – zunächst zwischen Kurfürst und Domkapitel, später dann zwischen Bürgerschaft und Obrigkeit  –, in deren Verlauf Formen symbolischer Kommunikation eine zentrale Rolle spielten. Unmittelbar danach setzte das Retablissement der Ordnung ein. Bereits Sonntag, den 12. April wurden die beiden festgesetzten Domherren wieder freigelassen. Allerdings ließ sich der Kurfürst wohl zusichern, dass sie weder gegen die Dynastie noch gegen die Augsburgischen Religionsverwandten neue Schmähungen vorbrachten, sondern sich zukünftig still und ruhig verhielten. Auf die reichsrechtliche Stellung, welche die Anhänger der Confessio Augustana mit dem Abschied des Augsburger Reichstags 1555 erlangt hatten, wurde bei dieser Gelegenheit ausdrücklich hingewiesen119. Damit sie „am wenigen wider ergetzet und tzufriden gestellet“120 werden, wurde den Domherren vorgeschlagen, ihnen die Nutzung des Kirchenchors vorzubehalten, während die evangelischen Stadtbewohner „die forder kirch[en] inne haben sollten“121. Da sich die geistlichen Verrichtungen der Domherren auch in vorreformatorischer Zeit im Allgemeinen überwiegend im Chor hinter dem Lettner abspielten122, entstand im Alltag so möglicherweise der Eindruck einer großen Kontinuität. Zwar mussten die Domherren auf Vigilien und Messen verzichten, aber sogar die Ausarbeitung einer genaueren Ordnung wurde dem Kapitel überlassen123. Dass die spirituelle Reinheit der städtischen ‚communitas christiana‘ mithin nicht gewährleistet war, dürfte 118  Von neueren Untersuchungen über den Königsberger Klostersturm 1525 habe ich keine Kenntnis. Für Frankfurt am Main siehe Lawrence P. Buck, The Reformation, purgatory, and perpetual rents in the revolt of 1525 at Frankfurt am Main, in: Pietas et societas. New trends in Reformation social history. Essays in memory of Harold J. Grimm, hrsg. v. Kyle C. Sessions (Sixteenth century essays and studies, 4), 23–33, besonders 31; Marita A. Panzer, Sozialer Protest in süddeutschen Reichsstädten 1485 bis 1525. Anhand der Fallstudien Regensburg, Augsburg und Frankfurt am Main (Miscellanea Bavarica Monacensia, 104), München 1982, 195–204. 119  GStA PK, I. HA GR, Rep. 59 Nr. 22: Wolfgang Redorffer und Johann Finsterwald … (Anm. 90). 120  GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42), Seite 4. 121  Ebd. (Seite 5). 122  Koerner, Die Reformation des Bildes (Anm. 99), 416–417. 123  Siehe GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Der pfaffen zu Fürstenwalde vorschlege irer kirchen ordnung halben und was ihnen darauff vor verordnunge gemacht“ ([1556]).

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letztlich weder für Haugwitz noch für den evangelischen Teil von Magistrat und Bürgerschaft zufriedenstellend gewesen sein. „Wiewol man uns vertrostet,“ kommentierte Haugwitz die Entwicklungen in seiner Stadt nicht ohne einen Anflug von Ironie, „es sey der Meinunge also verordnet, das die pfaffen mit der tzeit sich selbst vortreiben und die köpffe tzum thor hinaus steken sollen etc.“124 Das Streben nach spiritueller Reinheit galt besonders für den Dom selbst, aber auch die diesbezüglichen Hoffnungen wurden enttäuscht. So hatte „man“ gehofft, die Domherren würden „ir lebenlang in die kirch[en] und chor nicht kome[n]“, da beide in ihren Augen „durch die lutehrisch[en] pfaffen prophaniret und entweihet, auch entheiliget“125 worden seien. Tatsächlich war die Widerstandskraft der Domherren jedoch alles andere als gebrochen. Schon am zweiten Sonntag nach Ostern (19.  April) stimmten sie wieder die Stunden­ gebete an und zeigten dadurch, „wie gros und ernst er [d.  h. ihr Glaubenseifer] ist ubers bapstumb“126. Wen Haugwitz indirekt mit „man“ bezeichnete, dürfte zeitgenössischen Lesern klar gewesen sein: den Kurfürsten. Auch sonst betonte Haugwitz dessen Nachgiebigkeit; so wurde Redorffer „nachgegeben, das[s] er in seinem hause die tzeit seines lebens mag messe halten“127. Ferner durften die Domherrn einen schönen Kelch und eine Reihe von Messgewändern behalten, was darauf hindeutet, dass sie die Kommunion in ihrer Gemeinschaft weiterhin begehen konnten. Um zumindest einen gewissen Ausgleich für die rituell zerstörten Güter herzustellen, wurden die überfallenen Prälaten von der Kur­ familie durch Geldzahlungen entschädigt. Das Kapitel durfte seine Einkünfte weiterhin einziehen, aber keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen. Der Kirchenschatz wurde inventarisiert, aber wohl zunächst an Ort und Stelle belassen. Ein Inventar aus dem Jahre 1561 belegt, dass noch allerhand Stücke in Fürstenwalde vorhanden waren; ein beiliegendes undatiertes, dass Teile des Kirchensilbers nach Berlin überführt wur­ den128. Trotzdem stellte Haugwitz die Öffnung des Doms für die Protestanten letztlich als „ein[e] wunderlich metamorphosis“129 dar. Dem evangeli124  GStA

PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42), Sei-

te 5. 125  Ebd.

(Seite 5). (Seite 5). 127  Ebd. (Seite 5). 128  GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „In der Furstenwaldeschen kyrche befundenn“ (o. O., 1561-04-12); ebd.: „Vorzeichnus des silbers so von Furstenwalde kommen, und den 3ten Decembris gewogen worden“ (o. O., o.D.). 129  GStA PK, I. HA GR, Rep. 21 Nr. 46 Fasz. 2: „Wie die pfaffen“ (Anm. 42), Seite 6. 126  Ebd.



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schen Pfarrer wurde befohlen, nun in dieser Kirche Predigt, Abendmahl und Taufe zu begehen. Dieser war es auch, der den Kirchenschlüssel verwaltete, ein Inventar der Messbücher der Domherren aufstellte und diese, „so nicht reine“130, einzog. Letztlich schloss Haugwitz daher triumphierend, dass „gottlob, dieser baalspfaffen gaudeamus, welchs sie lange gesungen haben, plotzlich tzum requiem worden, wie Amos der prophet sagt[:] ‚Euer lieder in der kirchen sollen in ein heulen vorkeret werden tzur tzeit der straffe des herren‘  “131. Zwar sei die bisherige Strafe der Domherren noch gering; die künftige (am Ende der Tage) werde schwerer ausfallen. „Sie sing[en] ihren alten gesang, schelten und fluch[en] auff d[as] evangelium“132, konstatierte der Stadtschreiber am Ende seines Textes. IV. Fazit Mit insgesamt drei Schlägen, die über einen Zeitraum von sechs Jahren geführt wurden, höhlte Joachim II. also das Bistum Lebus, eine Bastion des alten Glaubens, innerlich aus und öffnete Stadt und Dom Fürstenwalde dem protestantischen Bekenntnis. Das anfangs vorsichtige Vorgehen gegenüber den etablierten kirchlichen Autoritäten wandelte sich erst, als diese sich dauerhaft widerständig zeigten. Für die Domherren erwies sich der letzte Schlag freilich als der bitterste. In einem rauschhaften Karneval verkehrten sich in nur einer Nacht die bisherigen Verhältnisse. Protestantische Bürger drangen in ihre Häuser ein und veranstalteten ein wildes Gastmahl, bei dem das Hab und Gut der Prälaten rituell vernichtet und entfremdet wurde. Am nächsten Tag waren die einstigen Stadtherren auf den Status einer geduldeten Minderheit herabgesunken. Nach 1556 bestanden Stift und Kapitel zwar noch einige ­Jahrzehnte lang de iure fort, spielten aber de facto politisch keine Rolle mehr. Dennoch bleibt festzuhalten: Bereits vor den Geschehnissen des 10./11. April hatte sich die Dynastie gegen das Domkapitel durchgesetzt: Mit der Wahl seines Sohns zum Bischof und der Abtretung der Herrschaften Beeskow und Storkow hatte Joachim  sein vorrangiges Ziel erreicht: Die Unterlandesherrschaft des Kapitels hatte sich nahezu vollständig erledigt, ohne dass die exterritorialen Gebiete des Bistums ­dadurch gefährdet worden waren. Als schwierig sollte es sich jedoch erweisen, die Zustimmung der böhmischen Krone zu der Abtretung zu er-

130  Ebd. 131  Ebd. 132  Ebd.

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halten133. Unterlandesherrschaft und Überherrschung waren also bereits in die Mediatisierung des Hochstifts eingemündet, bevor zum großen ‚Pfaffensturm‘ geläutet wurde. Weshalb kam es in Fürstenwalde dennoch zu einer derart expliziten und  – bezogen auf kurbrandenburgische Verhältnisse  – nahezu singulären Markierung des konfessionellen Umbruchs? Haugwitz’ Darstellung der Fürstenberger Geschehnisse in der Nacht von Freitag auf Sonnabend nach Ostern verfolgt zwei wesentliche narrative oder argumentative Strategien: 1. Stellte er sie als Strafmaßnahmen in einem Ehrenhandel zwischen Kurfürst und Kapitel dar, welche vom Kurfürsten initiiert wurden und somit ein Beispiel obrigkeitlich sanktionierter Gewaltanwendung war. Dieser ‚Pfaffensturm‘ kontrastiert auffallend mit den legalistischen Mitteln, mit welchen Joachim in Fortsetzung der Politik seiner Vorfahren zuvor jahrelang die Aushöhlung der überkommenen Rechte des Hochstifts betrieben hatte und durch welche dafür gesorgt werden sollte, dass die Mediatisierung des Hochstifts innerhalb des Reichs, aber auch innerhalb der römischen Kirche akzeptiert wurde. Die Kehrseite dieses legalistischen Vorgehens waren die Riten der Gewalt. Unabhängig davon, ob der Fürstenwalder ‚Pfaffensturm‘ nun primär vom Kurfürsten oder von der Bürgerschaft (oder von beiden gemeinsam) betrieben wurde, konnten so Teile der städtischen Bevölkerung ihren Unmut gegenüber der Stiftsobrigkeit artikulieren und an der Transformation der sozialen Ordnung mitwirken. Mochte aus Sicht der Dynastie das demonstrative Moment der von ihr entfesselten Gewalt dominieren, so dominierte aus Sicht der Bürgerschaft womöglich das partizipative Moment. Fürst, Magistrat und Bürgerschaft waren also die wesentlichen Akteure in einem sozialen Drama, das dem Wandel der konfessionellen Verhältnisse in Fürstenwalde sinnfällig Ausdruck verlieh. Dass dieser Wandel dem karnevalesken Grundmotiv entsprechend als Umkehr der Verhältnisse interpretiert wurde, spiegelt nicht zuletzt der Ausdruck ‚Metamorphose‘, den Haugwitz für die Übertragung der kirchlichen Oberhoheit an den evangelischen Stadtpfarrer verwendete. Der Gottesdienst am Sonnabend beendete die kurze Phase ritueller Gewaltanwendung, etablierte einen neuen Ordnungszustand, ja retablierte bis zu einem gewissen Grade sogar die Rechte der Domherren. Damit ist auch die zweite narrative oder argumentative Strategie von Haugwitz’ Text angesprochen. Haugwitz stellte die Umkehr der religiösen Verhältnisse als unvollkommen dar. Die Domherren wurden als Obrigkeit keinesfalls mit einem Schlag

133  Scholz,

Zwischen Böhmen, Brandenburg und Sachsen (Anm. 27), 65–67.



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entmachtet und vertrieben, durften ihre überkommenen Rechte vielmehr bis auf Weiteres behalten. Gerade die soziale Stoßrichtung des Aufruhrs verpuffte im Dunkel der Nacht. Dennoch trug der Tumult dazu bei, das kollektive Gedächtnis der Stadtgemeinde in ein Davor und Danach zu gliedern. Das Ritual der Umkehr etablierte die Gewissheit, dass die neue Ordnung allen gegenläufigen Anzeichen zum Trotz gewissermaßen unumkehrbar war. Nicht zuletzt darin besteht auch die Pragmatik des ­Textes jenseits seines lokalen Entstehungshorizonts; er schrieb dem kollektiven Gedächtnis der Protestanten ein weiteres Beispiel einer letztlich geglückten reformatorischen Aktion ein. Mit seiner spezifischen ‚Poetik‘ folgte der Fürstenwalder ‚Pfaffensturm‘ Formen ritueller Gewaltausübung, wie sie andernorts  – etwa in Frankfurt am Main oder Königsberg – bereits im Laufe der 1520er Jahre vorgekommen waren. Bereits nach dem Tod Bischof Georgs von Lebus (1550) war es in Göritz zu ikonoklastischen Ausschreitungen gegen das dortige Marienheiligtum gekommen, welche Markgraf Johann zur Beschleunigung der Reformation im Land Sternberg genutzt hatte134. Der Göritzer ‚Bildersturm‘ und der Fürstenwalder ‚Pfaffensturm‘ markierten gemeinsam die Neutralisierung der letzten papstkirchlichen Bastion im Herrschaftsperimeter der brandenburgischen Kurfürsten. Indem die Beseitigung dieser Machtbasis mit Gewaltanwendung gegen Bildwerke und Personen auch rituell vollzogen wurde, gelangte die Reformation in Brandenburg als Prozess zum Ende. Pointiert ausgedrückt, handelte es sich bei den Fürstenberger Ausschreitungen mit ihren Bezügen auf den Bauernkrieg um eine Art ‚nachgeholter Frühreformation‘. Der eindeutige Bruch mit der Papstkirche, den Kurfürst Joachim II. 1539/40 vermieden hatte, wurde in den volkstümlichen Gewaltritualen zelebriert und durch die Umkehr der Welt selbst unumkehrbar.

134  Gahlbeck,

Das Bistum und Stift Lebus (Anm. 3), 101.

Die evangelisch-lutherischen Bistümer des Herzogtums Preußen (1522–1587) Von Bernhart Jähnig, Berlin Die alte vorreformatorische Kirche war in Kirchenprovinzen und Bistümer1 gegliedert. Im Bereich des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation gab es die Besonderheit, daß sich innerhalb der Bistumssprengel seit dem 10. Jahrhundert Gebiete entwickelt hatten, in denen die Bischöfe als Reichsfürsten landesherrliche Rechte bekamen und ausbauten2; diese Gebiete werden als Hochstifte bezeichnet. In Anlehnung daran verlief die Entwicklung in dem seit dem 13. Jahrhundert entstehenden Deutschordensland Preußen, indem durch die berühmte Zirkumskrip­ tionsbulle von 1243 das Gebiet zwischen unterer Weichsel und unterer Memel in vier Bistümer gegliedert wurde, in denen den Bischöfen mit ihren Domkapiteln zumeist ein Drittel als Hochstift zugesprochen wurde3. 1  Entstanden als Vortrag für die Jahrestagung der Preußischen Historischen Kommission am 4.  November 2016 in Berlin-Dahlem. Etwas ausführlicher erschienen in Bernhart Jähnig, Preußenland, Kirche und Reformation, Berlin/Münster 2019, 107–126. – Im anschließenden Stehkonvent war gesagt worden, daß die preußischen Bistümer dies nur dem Namen nach gewesen wären, während es sich in Wirklichkeit um Superintendenturen mit dem Etikett „Bistum“ gehandelt hätte. Dem war zu entgegnen, daß dieser Einwand davon ausgehe, daß es nur nach dem kanonischen Recht Bistümer geben dürfe. Zu entgegnen war ferner, daß dagegen Luther und andere Reformatoren evangelische Bischöfe für wünschenswert hielten, bevor Luther auf die Landesherren als „Notbischöfe“ zurückgriff, was unten bei Anm. 21–22 angesprochen wird. Daß es sich aus der Sicht der Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts auch bei den evangelischen Bischöfen um eine Einrichtung von politischer Bedeutung gehandelt hat, zeigen die sonst unnötig gewesenen Auseinandersetzungen um deren Bestehen. Die Landesherren hätten nicht auf deren Abschaffung gedrängt, während dagegen die Landstände sich nicht für deren Beibehaltung eingesetzt hätten, wenn auch auf Dauer ohne Erfolg. 2  Vgl. Albert Werminghoff, Geschichte der Kirchenverfassung Deutschlands im Mittelalter, Hannover/Leipzig 1905, Ndr. Darmstadt 1969, 137–301; Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, hrsg. v. Erwin Gatz, Freiburg im Breisgau 2003; Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich  – Deutschsprachige Länder, hrsg. v. Erwin Gatz mit anderen, Regensburg 2009. 3  Preußisches Urkundenbuch, 1/1, Königsberg 1882, Nr. 143. Vgl. Max Toeppen, Historisch-comparative Geographie von Preussen, Gotha 1857, Ndr. Münster 2018,

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Trotz ihrer landesherrlichen Rechte unterstanden die Bischöfe und ihre Domkapitel der Schutzherrschaft des Deutschen Ordens4, zumal die Kanoniker der Domkapitel von Kulm, Pomesanien, Samland und im benachbarten Livland auch Kurland als Priesterbrüder dem Deutschen Orden angehörten. Nach der Teilung des Ordenslandes infolge des Zweiten Thorner Friedens von 1466 blieben dem Orden nur zwei der vier Bistumssitze, nämlich Königsberg und Marienwerder, die Standorte der beiden Kathedralkirchen (Dome) mit ihren Domkapiteln. Die Grenzen der zugehörigen Bistümer (Diözesen) Samland und Pomesanien stimmten nicht mit den neuen politischen Grenzen überein, was im ganzen nicht ungewöhnlich war. Das führte dazu, daß der kleinere Teil des Bistums Pomesanien mit Marienburg zum Königlich Polnischen Preußen gehörte, während etwa zwei Drittel der Diözese Ermland weiterhin der Ordensherrschaft unterstanden, was für die Einführung der Reformation bedeutsam wurde5. Von einem Kirchenhistoriker ist vor einiger Zeit darauf hingewiesen worden, daß die Reformation „in gewisser Hinsicht [- - -] ein Universitätsereignis gewesen“ sei, denn der Beruf von Martin Luther und von anderen Reformatoren sei Universitätsprofessor gewesen6. Das war nicht überall so, auch nicht in Preußen, wo die Universität Königsberg erst im Verlauf der Festigung der Reformation vom Landesherrn, Herzog Albrecht in Preußen, 1544 als Krönung seiner reformatorischen Bemühungen gegründet worden ist, nachdem er einige Jahre lang auch darüber mit den Ständen erfolgreich verhandelt hatte7. Die reformatorische Be111–159; Bernhart Jähnig, Herrschaftsverständnis und Herrschaftsverwirklichung beim Deutschen Orden in Preußen, in: Herrschaft, Netzwerke, Brüder des Deutschen Ordens, hrsg. v. Klaus Militzer, Weimar 2012, 67–92; Andrzej Radzimi´nski, Die Kirche im Deutschordensstaat in Preußen (1243–1525) (Prussia sacra, 4), Toru´n 2014, 15–118. 4  Vgl. Brigitte Poschmann, Bistümer und Deutscher Orden in Preußen 1243– 1525, in: Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde Ermlands 30 (1962), 237– 354. 5  Vgl. unten bei Anm. 21; ferner Andrzej Kopiczko, Bistum Ermland, in: Gatz, Bistümer (Anm. 2), 205; Mario Glauert, Bistum Pomesanien, ebd., 569. 6  Bernd Möller, Die Universität Königsberg als Gründung der Reformation, in: 450 Jahre Universität Königsberg, hrsg. v. Bernhart Jähnig, Marburg 2001, 11–23, hier 17 f. Luthers Weg zum Universitätsprofessor wird ausführlicher behandelt etwa von Gerhard Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 27–33. 7  Vgl. Max Töppen, Die Gründung der Universität Königsberg und das Leben ihres ersten Rectors Georg Sabinus, Königsberg 1844; Iselin Gundermann, Die Anfänge der Albertus-Universität zu Königsberg, zuerst 1995, neu in: Die Albertus-Universität zu Königsberg. Höhepunkte und Bedeutung, hrsg. v. Hans Rothe/ Silke Spieler, Bonn 1996, 23–44; zur Vorgeschichte Helmut Freiwald, Denkwürdig



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wegung im Reich und in den Nachbarländern ist nicht von der Amts­ kirche ausgegangen, sondern von Theologen vielfach mit einem gelehrten Hintergrund, oft mit monastischer Vergangenheit, die als Gelehrte und Prediger auf ihre Herrschaften von Land und Stadt sowie auf das einfache Kirchenvolk eingewirkt haben. Die Amtskirche war auch deshalb nicht dazu in der Lage, weil die Bischöfe als ihre leitenden Vertreter meist keine Theologen, sondern Juristen oft des kanonischen Rechts waren. Letzteres traf auch auf die beiden Bischöfe des Herzogtums Preußen vor und zu Beginn der Reformation zu8. Doch zeigten diese ein für ihren Stand völlig untypisches Verhalten, so daß die Entwicklung der folgenden sechs Jahrzehnte in Preußen im Blick auf die anderen deutschen Länder zunächst ganz ungewöhnlich war9. Als letztes großes feierliches Ereignis der vorreformatorischen Kirche vor Einführung der Reformation im bisherigen Deutschordensland Preußen ist die Inthronisation des samländischen Bischofs Georg von Polentz am 29. Juni 1519 in Königsberger Dom im Beisein der Nachbarbischöfe von Ermland und Pomesanien, Fabian von Lossainen (um 1470–1523) und Hiob von Dobeneck (um 1450–1521), bezeichnet worden10. Schon vorher während der Fastenzeit dieses Jahres hatte als letzte „papistische Procession“ eine solche stattgefunden, die unter Mitwirkung der beiden

Unbeachtetes: Um die Gründung einer Hohen Schule in Preußen, in: Neue Forschungen zur Geschichte des Preußenlandes, vornehmlich zur neueren Kulturgeschichte, hrsg. v. Bernhart Jähnig, Marburg 2003, S. 139–157. 8  Außer den mehr oder weniger ausführlichen thematisch weitergehenden Darstellungen gibt es zu beiden vor allem zahlreiche lexikonartige Artikel. Darüber hinaus ist hervorzuheben Paul Tschackert, Georg von Polentz, Bischof von Samland, in: Kirchengeschichtliche Studien für Hermann Reuter, Leipzig 1888, 145– 194. Zu Erhart von Queiß vgl. den Festschriftbeitrag von Sven Tode (Anm. 15). 9  Vgl. den Abschnitt „Bischöfe oder Konsistorien“ bei Bernhart Jähnig, Die Anfänge der evangelischen Landeskirche im Herzogtum Preußen zur Zeit von Herzog Albrecht, in: Preußen und Livland im Zeichen der Reformation, hrsg. v. Arno Mentzel-Reuters/Klaus Neitmann, Osnabrück 2014, 15–56, hier 24–30. Wegen seiner Materialfülle ist im ganzen immer noch grundlegend: Urkundenbuch zur Reformationsgeschichte des Herzogthums Preußen, hrsg. v. Paul Tschackert (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, 43–45), Leipzig 1890, Bd. 1: Einleitung, Bd. 2–3: Urkunden. 10  Vgl. Caspar Henneberger, Erclerung der preussischen grössern Landtaffel, Königsberg 1595, 212 f., wo ein Werk des Königsberger Chronisten Caspar Schütz als Quelle angegeben wird; August Rudolph Gebser, Geschichte der Domkirche zu Königsberg und des Bisthums Samland (August Rudolph Gebser/Ernst August Hagen, Der Dom zu Königsberg in Preußen, 1), Königsberg 1835, 252–256; Fritz Gause, Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, 1 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, 10/1), Köln/Wien 1965, 31996, 211 (ohne Quellenangabe).

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Deutschordensbischöfe von Pomesanien und Samland sowie Hochmeister Albrechts, seines Bruders Wilhelm und anderer vom Dom zu den Pfarrkirchen der Altstadt und des Steindamm, dann zum Schloß, weiter zur Löbenichter Pfarrkirche, zum Nonnenkloster und schließlich zum Dom zurückgeführt hatte11. Georg von Polentz (1478–1550) war als älterer Freund von Hochmeister Albrecht 1511 mit diesem gemeinsam als Ritterbruder in den Deutschen Orden aufgenommen worden. Nach Durchlaufen mehrerer kleiner Ämter war er vom Domkapitel auf Betreiben des Hochmeisters zum Bischof gewählt worden. Da Georg von Polentz hinsichtlich seines Bekenntnisses zu dieser Zeit für Rom noch unverdächtig war, bekam er die päpstliche Bestätigung als Voraussetzung für die genannte feierliche Amtseinführung. Weniger gradlinig verlief die Entwicklung in Pomesanien nach dem Tod von Hiob von Dobeneck 1521. Da es dem Hochmeister nicht gelang, Pomesanien dem samländischen Bischof in Personalunion verleihen zu lassen, wurde auf Betreiben König Sigismunds I. von Polen das Bistum dem Kardinal Achille Grassi, der Polen politisch nahestand, im Dezember 1521 übertragen, der jedoch bereits im November 1523 starb, ohne Pomesanien je betreten zu haben. Nachdem Hochmeister Albrecht nach dem im April 1521 mit dem König von Polen geschlossenen Waffenstillstand bald außer Landes gegangen war und Georg von Po­lentz als Statthalter (Regent) zurückgelassen hatte, um im Reich politische Hilfe zu suchen, hat die reformatorische Bewegung das Ordensland ergriffen. Führende Persönlichkeit im Lande war der samländische B ­ ischof Georg von Polentz12, der mit dem abwesenden Hochmeister in brieflicher Verbindung stand. Es ist kaum vorstellbar, daß der Bischof erst im Verlauf dieses Briefwechsels für die reformatorische Sache gewonnen werden konnte, vielmehr werden Albrecht und Georg schon vor der Abreise des ersteren gedanklich die Weichen in Richtung eines Bekenntniswechsels gestellt haben. Königsberg war damit nicht nur politisch, sondern wurde auch kirchlich-theologisch die Hauptstadt des Landes13.

11  Ohne weitere Quellenangabe Henneberger, Erclerung (Anm. 10), 212 f.; danach Gebser, Domkirche (Anm. 10), 254 f. 12  Als treibende Kraft in Abwesenheit des Hochmeisters kennzeichnet ihn mit Recht Arno Mentzel-Reuters, Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 47), Wiesbaden 2003, 358 u. ö. 13  Vgl. Bernhart Jähnig, Die Bedeutung von Königsberg für Annahme und Verbreitung der Reformation im östlichen Europa, in: Der Luthereffekt im östlichen Europa  – Geschichte, Kultur, Erinnerung, hrsg. v. Joachim Bahlcke/Beate Störtkuhl/Matthias Weber (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 64), München 2017, 97–106.



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Während Polentz’ reformatorische Tätigkeit auch dem Reformator Martin Luther bekannt war, blieb diesem die Entwicklung im Bistum ­Pomesanien zunächst verborgen. Im Jahre 1523 hatte Hochmeister Albrecht auf Vermittlung seines Schwagers, Herzog Friedrichs II. von Liegnitz, dessen aus der Lausitz (heute zu Brandenburg gehörig) stammenden Kanzler, den Juristen Erhart von Queiß (1490–1529), kennengelernt, der schon reformatorisch eingestellt war. Albrecht veranlaßte noch zu Grassis Lebzeiten, daß das pomesanische Domkapitel Queiß zum neuen Bischof wählte. Obwohl auch dieser danach in den Deutschen Orden eingetreten ist, wurde eine päpstliche Bestätigung unter diesen Umständen nicht mehr ausgesprochen. Damit waren beide Bischöfe, von denen noch vor Abschluß der Krakauer Verträge vom 8. und 10. April 1525 die Reformation tatkräftig gefördert wurde, noch unter den mittelalterlichen Bedingungen, also als Brüder des Deutschen Ordens und unter Mitwirkung ihrer Domkapitel, in ihre geistlichen Ämter gelangt. Die ‚geräuschlose‘ Durchführung der Säkularisation hatte auch eine rechtliche Seite, die hier nicht behandelt wird14. Als erste Maßnahmen beider Bischöfe noch vor dem April 1525 sind die berühmte Weihnachtspredigt 1523 von Georg von Polentz und dessen Reformationsmandat vom 28. Januar 1524 sowie vom 1. Januar 1525 die „Themata episcopi Risenburgensis“ von Erhart von Queiß anzuführen15, dieses Reformationsmandat übertrifft die polentzschen Verfügungen noch an Deutlichkeit. Schon Polentz hatte in seiner Predigt darauf hingewiesen, daß er als Jurist für die eigentliche theologische Arbeit am Kirchenvolk die ausführende Mitarbeit von Theologen nötig hätte. Die inzwischen engen Beziehungen von Hochmeister Albrecht nach Wittenberg machten es möglich, daß auf Luthers Empfehlung nacheinander drei Theologen nach Preußen gekommen sind, die später als die ‚drei Evangelisten Preußens‘ in die Geschichte eingegangen sind16. Das waren im September 1523 Johannes Brismann (1488–1549) vorläufig als Prediger am Dom, ehe er nach Rückkehr aus Riga 1531 dort auf Dauer tätig wer-

14  Vgl. Dietmar Willoweit, Recht, Landesherrschaft und Obrigkeit in Altpreußen. Vom Ordensstaat zum Fürstentum, in: Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren, hrsg. v. Bernhart Jähnig/Jürgen Kloosterhuis, Marburg 2006, 11–26. 15  Die Texte zusammengestellt in: Die Reformation im Ordensland Preußen 1523/24, hrsg. v. Robert Stupperich (Quellenhefte zur ostdeutschen und osteuropäischen Kirchengeschichte, 6), Ulm 1966, 14–23, 108–111 (mit deutscher Übersetzung) und 111–113; ferner Sven Tode, Bischöfliche Reformation, Bischof Erhard von Queiß von Pomesanien und seine „Themata“, in: Zeitenwende. Festgabe für Arno Herzig, Münster u. a. 2002, 219–235. 16  So Tschackert, Urkundenbuch (Anm. 9), 1, S. 123.

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den konnte, dann im Mai 1524 Paul Speratus (1484–1551) als Hofprediger zunächst noch des Hochmeisters, später des Herzogs17, und im Herbst 1525 Johannes Poliander (Graumann) (1486–1541) als Prediger an der Altstädtischen Kirche, von wo der evangelische ‚Heißsporn‘ Johannes Amandus (†1530) vorher als Unruhestörer und Bilderstürmer vom zuständigen Bischof Polentz aus Stadt und Land verwiesen worden war. Er hat wesentlich dazu beigetragen, daß noch in Abwesenheit des Hochmeisters die Bilderstürmerei in Königsberg sich sehr in Grenzen gehalten hat18. Die beiden Domkapitel von Pomesanien und Samland19 bestanden seit ihrer Gründung Ende des 13. Jahrhunderts infolge der sogenannten Inkorporation in den Deutschen Orden von Anfang an nur aus Ordenspriesterbrüdern. Da die Verpfründung in den spätmittelalterlichen Orden und Kollegiatstiften auch das Leben im Deutschen Orden längst ergriffen hatte, haben sich die Domherren beider Kapitel nicht an der reformatorischen Tätigkeit ihrer Bischöfe beteiligt, denn sie waren in erster Linie daran interessiert, ihre Pfründen weiterhin genießen zu können. Evangelischer Pfarrer ist offenbar keiner der Domherren beider Kapitel geworden. Die samländischen Domherren haben sich zumeist 1525 im Kammeramt Saalau versorgen lassen, zwei lebten später im Ermland. Die pomesanischen Domherren leisteten Widerstand gegen die Reformation. Diesen gaben sie erst 1527 auf, als ihnen eine angemessene Versorgung zugesagt wurde. Die beiden Kapitel hatten damit zu bestehen aufgehört, so daß sie für eine mögliche Wahl eines neuen Bischofs als Wahlgremium nicht mehr zur Verfügung standen, zumal das kanonische Recht bei den evangelisch gewordenen Bistümern ohnehin nicht mehr anzuwenden war.

17  Vgl. Paul Tschackert, Paul Speratus von Rötlen, evangelischer Bischof von Marienwerder (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 33), Halle 1891; Robert Stupperich, Dr. Paul Speratus, der „streitbare“ Bischof von Marienwerder, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens, 8 (1983), 159–182. 18  Havelberg war ein Bespiel, wo anders als in Preußen nach Einführung der Reformation in der Markgrafschaft Brandenburg dessen Domkapitel ohne Bischof evangelisch wurde. Um 1700 hat dessen Dekan dem Dom einen neuen barocken Hochaltar gestiftet; den bis dahin erhaltenen gotischen Hochaltar hat er in die Patronatskirche Rossow seines Amtsvorgängers bringen lassen; vgl. Bernd Michael, Der Rossower Altar  – das ehemalige gotische Hochaltarretabel des Havelberger Domes, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Prignitz 18 (2018), 99–164. 19  Vgl. Mario Glauert, Das Domkapitel von Pomesanien (1284–1527) (Prussia sacra, 1), Toru´n 2003; Radosław Biskup, Das Domkapitel von Samland (1285– 1525) (Prussia sacra, 2), Toru´n 2007.



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Ganz anders war die Einstellung der beiden Bischöfe zu ihrem welt­ lichen Besitz, obwohl sie studierte Juristen und keine Theologen waren. Wie eingangs gesagt, hatten die preußischen Bischöfe seit ihrer Gründung in ihren Hochstiftsgebieten landesherrliche Rechte. Dazu kam bedeutender Grundbesitz, der für Einnahmen von der dortigen Bevölkerung sorgte. Der Zweite Thorner Friede 1466 hat die landesherrlichen Rechte der Bischöfe in politischer Hinsicht gemindert, so daß ihre Stellung den Verhältnissen in Brandenburg und Sachsen ähnelte, wo die reichsfürstliche Stellung der Bischöfe kaum noch ihrer politischen Wirklichkeit entsprach20. Nach den Krakauer Verträgen haben die beiden Deutschordensbischöfe wie der Hochmeister und die meisten preußischen Deutschordensbrüder den Orden verlassen. Sie haben außerdem ihre Territorialherrschaften aufgegeben, weil beispielsweise Polentz der Meinung war, das ime als einem prelaten und bischofe, dem das worth Gottes zu predigen und zu verkundigen schuldig ist, nicht geburen will, lande und leute zu regirn, auch schlosser, lant und stete zu besetzen, sondern dem waren und lauteren wort anhengig zu sein und demselben folge zu thun. Georg von Polentz vollzog diesen Schritt am 30. Mai 1525 und ließ sich die Ämter Balga und Taplacken als weltliche Versorgung verschreiben. Wegen des Widerstands der pomesanischen Domherren konnte Erhart von Queiß erst am 23. Oktober 1527 die Abtretungsurkunde ausstellen, er bekam zur Versorgung die Ämter Marienwerder und Schönberg21. Wenn das Ordensland Preußen zum Lehnsverband des Heiligen Römischen Reichs gehört hätte, wären die beiden Bischöfe spätestens durch diesen Verzicht auf ihre Hochstiftsgebiete als Reichsfürsten ausgeschieden, was bekanntlich kein Bischof im Reich getan hat. Die beiden preußischen Bischöfe haben sich schon vorher durch ihre Reformationsmandate von 1523 und 1524 aus der Hierarchie der mittelalterlichen katholischen Kirche verabschiedet. Besonders deutlich stellte Erhart von Queiß fest und verfügte, daß die Bischöfe keine besondere Weihe besäßen, sondern wie die gewöhnlichen Ortspfarrer durch ihre Ordination nur Prediger von Gottes Wort nach der „reinen Lehre“ seien. Die Bischöfe sollten in der Kirche ohne eine höhere geistliche Vollmacht lediglich ordnende Funktionen wahrnehmen22. Das war schon die Meinung Luthers und an20  Vgl. Karl-Heinz Ahrens, Die verfassungsrechtliche Stellung und politische Bedeutung der märkischen Bistümer im späten Mittelalter, in: Mitteldeutsche ­Bistümer im späten Mittelalter, hrsg. v. Roderich Schmidt, Lüneburg 1998, 19–52; Brigitte Streich geb. Knoke, Die Bistümer Merseburg, Naumburg und Meißen, ebd., 53–72. 21  Tschackert, Urkundenbuch (Anm. 9), 2, Nr. 356, 565 f. 22  Vgl. zusammenfassend Heinrich de Wall, Art. Kirchenregiment, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 44, Tübingen 2001, Sp. 1292–1294.

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derer Reformatoren, die das besonders im Zusammenhang mit der Confessio Augustana und dem Augsburger Reichstag 1530 diskutiert haben23. Da im Reich keiner der Bischöfe auf seine aus der Bischofsweihe kommenden Rechte verzichtet und sich der Reformation angeschlossen hat, sind dort auch keine evangelischen Bischöfe ins Amt gekommen. Das hat dazu geführt, daß in Kursachsen und in den anderen nacheinander der Reformation zufallenden Territorien die Landesherren das Kirchenregiment an sich gezogen haben. Das war letztlich auch in Preußen so, denn Albrecht hat nach den Krakauer Verträgen vom April 1525, nachdem er nunmehr als Herzog zurückkehrt war24, die Oberleitung der entstehenden Landeskirche im Herzogtum wahrgenommen. Das betraf sowohl Fragen der „reinen Lehre“ als auch die Anstellung von Pfarrern und damit die wirtschaftliche Lage der Kirchen25. Am 28. Mai 1525 leisteten die beiden Bischöfe wie Landschaft und Städte ihren Huldigungseid26. Herzog Albrecht hat die beiden Bischöfe wie auch die genannten führenden Theologen unter seine Räte aufgenommen. Dennoch waren die Bischöfe keine reinen Befehlsempfänger27, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird, denn sie haben teilweise vom Herzog auch auf eigene 23  Vgl. Paul Tschackert, Die Entstehung der lutherischen und reformierten Kirchenlehre samt ihren innerprotestantischen Gegensätzen, Göttingen 1910, Ndr.  1979, 363–365; Edmund Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 21947, 335–338; Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, 2, Neukirchen 1962, 614–616; Belege bei Irmgard Höß, Episcopus evangelicus. Versuche mit dem Bischofsamt im deutschen Luthertum des 16. Jahrhunderts, in: Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit der Kirche, hrsg. v. Erwin Iserloh (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 118), Münster 1980, 491–516; vgl. oben auch Anm. 1. 24  Verhältnismäßig ausführlich beschrieben bei Walther Hubatsch, Albrecht von Brandenburg–Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490–1568 (Studien zur Geschichte Preußens, 8), Heidelberg 1960, Ndr. Köln/ Berlin 1965, 139. 25  Vgl. Walther Hubatsch, Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, 1, Göttingen 1968, 28 f.; Jähnig, Anfänge (Anm. 9), 27 u. ö. 26  Tschackert, Urkundenbuch, 2 (Anm. 9), Nr. 355. 27  So Höß, Episcopus evangelicus (Anm. 22), 512–516. – Auch andere Kirchenhistoriker untersuchen ausführlich die Stellung Luthers und anderer Reformatoren zur Frage einer evangelischen Kirchenleitung, wobei es darum geht, daß ein Bischof keine andere geistliche Vollmacht haben kann als ein normaler Gemeindepfarrer. Die beiden preußischen Bischöfe haben daraus die Konsequenz gezogen, indem sie 1525/27 auf ihre landesherrlichen Rechte und Besitztümer verzichteten. Im Blick auf diese einzigartigen Ereignisse im vormaligen Ordensland und späteren Herzogtum Preußen erweist sich u. a. als ‚blind‘ Bernhard Lohse, Das Verhältnis des leitenden Amtes in lutherischen Kirchen in Deutschland von 1517–1918, zuerst 1968, neu in: Ders., Evangelium in der Geschichte, Göttingen 1988, 337– 356.



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I­ nitiative wirksame Unterstützung etwa bei den noch zu nennenden Kirchenvisitationen eingefordert. Herzog und Bischöfe haben im wesentlichen im Einvernehmen gehandelt. Für die Landesordnung, die schließlich im Dezember 1525 zwischen Landesherr und Ständen auf einem Landtag ausgehandelt worden war, dürften die die kirchlichen Verhältnisse betreffenden Abschnitte von den Bischöfen verfaßt worden sein. Die Einführung der Reformation machte bald nach 1525 die Neueinteilung des Landes in Diözesen nötig. Weil das in erster Linie ein politisches Problem war, war das zunächst eine Aufgabe für den Landesherrn. Albrecht hat das mit freundlichen Worten dem ermländischen Bischof Mauritius Ferber mitgeteilt28. Da die alten römisch-katholischen Bistümer in ihren vormaligen Sprengelanteilen im nunmehrigen Herzogtum nicht mehr tätig sein konnten, wurde es nötig, die Sprengel der evangelisch gewordenen Bistümer neu festzulegen. Während der Deutschordenszeit folgte die ermländisch-samländische Bistumsgrenze zunächst dem Südufer des Pregels bis oberhalb Insterburg, folgte dann nach Süden weiter der Angerapp bis zum Mauersee, wo Angerburg lag, und ging dann nach Osten bis zur litauischen Grenze29. Mit der Reformation kamen die natangischen Teile der Bistums Ermland, also das Gebiet zwischen Pregel, Angerapp und der Nordostgrenze des Fürstbistums Ermland, an das evangelische Bistum Samland. Masuren und ein kleines Gebiet westlich des Fürstbistums Ermland wurden dem evangelischen Bistum Pomesanien zugeteilt30. Die wichtigste Aufgabe der beiden Bischöfe war vor allem in den beiden ersten Jahrzehnten die Durchführung von Visitationen der Kirchen und Pfarrer sowie die Durchführung von Synoden der Pfarrgeistlichkeit besonders auf dem Lande. In der Residenzstadt Königsberg waren vornehmlich die eingangs genannten Theologen tätig, die aus Wittenberg gekommen waren. Sie waren als Theologen in besonderer Weise dazu 28  Am 5. April 1526 angesichts der bevorstehenden ersten Kirchenvisitation. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, Ostpr. Fol. 62, 9; vgl. das Regest in: Herzog Albrecht von Preußen und das Bistum Ermland (1525–1550). Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten, bearb. v. Stefan Hartmann (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 31), Köln/Weimar/Wien 1991, 19 Nr. 22. 29  Vgl. Gatz, Atlas (Anm. 2), Nr. 29 (Ermland) und 64 (Samland). 30  Vgl. Iselin Gundermann, Herzogtum Preußen, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, 2: Der Nordosten, hrsg. v. Anton Schindling/Walter Ziegler (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 50), Münster 31993, 220–233, hier 224. Die Karten auf S. 220 weisen irrtümlich für die Ordenszeit den Südteil des Bistums Kurland mit der Stadt Memel dem Samland zu; richtig dargestellt in Gatz, Atlas (Anm. 2), Nr. 38 (Kurland) und 64 (Samland).

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ausersehen, die Kirchenordnungen zu verfassen, mit deren Inhalten auf das Kirchenvolk einzuwirken war. Auch einige andere Prediger waren von auswärts gekommen. Theoretisch hatte jede Pfarrkirche wenigstens einen Pfarrer aus der Ordenszeit. Alle hatten eine Kontrolle und Prüfung durch die Visitatoren nötig, damit festgestellt werden konnte, ob und inwieweit sie in der Lage und bereit waren, die reformatorischen Erkenntnisse in Predigt und Seelsorge umzusetzen. Dazu war von alters her die Visitation ein bewährtes Mittel, das in allen reformatorischen Kirchen bald eingesetzt wurde. Das Herzogtum Preußen war wegen der Einsatzfreudigkeit seiner Bischöfe besonders früh, denn hier wurde noch ein Jahr vor Kur­sachsen im Jahre 1526 die erste Visitation offiziell in Gang gesetzt. Der Landesherr und der samländische Bischof stellten Vollmachten für die beiden Visitatoren aus. Wie zu Deutschordenszeiten handelte es sich je um einen Theologen und einen weltlichen Visitator. Das waren 1526 der Hofprediger Dr. Paul Speratus und der vormalige Ritterbruder Adrian von Waiblingen (um 1460–1535). Die Mitwirkung des letzteren ist insofern bemerkenswert, weil er seine Arbeit offenbar zufriedenstellend erledigt hat, obwohl er zu den Ordensbrüdern gehört hatte, die die Reformation nicht mitmachen wollten und der auch später gegen den Herzog intrigiert hat, indem er mit dem Deutschmeister und Administrator des Hochmeistertums, Walter von Cronberg, Briefe gewechselt hat31. Neben den Vollmachten hat der Herzog zusätzlich die Instruktion von 1526 ausgestellt. Ein Bericht (Protokoll) über diese Visitation ist nicht erhalten. Doch sie ist wirklich – wenn auch vielleicht nicht in allen Gemeinden  – durchgeführt worden, denn in der folgenden Visitation von 1528 wird wiederholt auf Anordnungen der Visitatoren von 1526 Bezug genommen. Die zweite Visitation, also die des Jahres 1528, wurde von Bischof Georg von Polentz und Hofprediger D. Paul Speratus durchgeführt, letzterer hat den Bericht zum größten Teil eigenhändig niedergeschrieben. Eine Edition dieses Berichts und solche von weiteren Visitationen sowie ergänzendem Material bis 1539 ist in Arbeit. Beim anderen Bistum war das Visitieren wesentlich schwerer, weil durch den Krieg der Jahre 1519– 1521 Pomesanien erheblich mehr gelitten hatte. Schließlich überzog 1529 eine Seuche, der „Englische Schweiß“, das Land. Diese haben unter anderen das Herzogspaar und Speratus überlebt; gestorben sind jedoch Bi31  Vgl. Marian Biskup, Über die Relationen der Gebrüder von Waiblingen an den Administrator des Hochmeisteramtes Walter von Cronberg (1529–1531), in: Preußische Landesgeschichte. Festschrift für Bernhart Jähnig, Marburg 2001, 27– 38. Erste Hinweise schon in der Biographie von Axel Herrmann, Der Deutsche Orden unter Walter von Cronberg (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 35), Bonn-Godesberg 1974, 96 u. 98.



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schof Erhart von Queiß und dessen Frau. Entgegen dem Wunsch dieses Bischofs, sein Nachfolger möge durch die Pfarrer seines Bistums gewählt werden32, hat der Herzog aus eigener Macht diese Frage entschieden. Er setzte seinen bisherigen Hofprediger Speratus ein, womit er zweifellos die bestmögliche Entscheidung getroffen hat. Damit war Speratus zuständig für die Visitationen in Pomesanien. Noch zu Queiß’ Lebzeiten war der aus Wittenberg über Danzig ins Herzogtum gekommene Pfarrer Michael Meurer (Hänchen; Galliculus) (um 1475–1537) als Archidiakon oder Erzpriester in Rastenburg tätig geworden33. Er visitierte die Kirchen und Gemeinden in den masurischen Ämtern, bevor er 1531 nach Königsberg-Löbenicht ging. Die Visitationen hatten verschiedene Bereiche abzudecken34. Zu untersuchen waren die wirtschaftlichen Verhältnisse der Pfarrer. Sie waren seit der Ordenszeit mit 4 Hufen (zu je 16,8 Hektar) zur eigenen Bewirtschaftung für ihren Lebensunterhalt ausgestattet worden. Mittelpunkte dieser Anwesen waren die Pfarrwiddem, die in den letzten Jahren oft entfremdet worden waren oder sich in schlechtem Zustand befanden, so daß mit landesherrlicher Unterstützung um Abhilfe zu bitten war. Um die Wirtschaftskraft zu ermitteln, wurden die Hofstättenbesitzer als der vermögendere Teil  des Kirchenvolks mit ihren Abgabepflichten an die Pfarrkirche verzeichnet, was einen großen Anteil an den Berichten ausmacht. Die einzelnen Gemeinden waren oft wirtschaftlich und personell so schwach, daß benachbarte Gemeinden nur einen gemeinsamen Pfarrer hatten oder bekamen. Das spielte in den früheren Visitationen eine große Rolle. Darüber hinaus sollten die Visitatoren Erzpriestertümer einrichten; das war eine Verwaltungsmaßnahme, die sicherlich von den ordenszeitlichen Archipresbyteraten ausgehen konnte. Die hat es offenbar nicht im mittelalterlichen Samland gegeben, wohl aber in der Diözese Ermland35, die zum größten Teil  nunmehr zum Herzogtum gehörte. Eine wichtige Frage war die Lebensführung der einzelnen Pfarrer. Die Literaturausstattung der Pfarrhäuser war so wichtig, daß die Visitatoren auch 32  Tschackert,

Urkundenbuch (Anm. 9), 2, Nr. 665, 1. Janusz Małłek, Michał Meurer reformator Mazur [Michael Meurer, der Reformator Masurens], in: Komunikaty Mazursko-Warmi´nskie 77 (1962), 3, 561– 568. 34  Vgl. Hubatsch, Geschichte (Anm. 24), 1, S. 43–48; Iselin Gundermann, Die evangelische Kirche in Ostpreußen. Eigenart in ihrer Entwicklung, in: Ostdeutsche Geschichts- und Kulturlandschaften, 2: Ost- und Westpreußen, hrsg. v. Hans Rothe, Köln/Wien 1987, 119–144, hier 131 f. 35  Vgl. die Edition: Sedes archipresbyterales diocesis Warmiensis, hrsg. v. Martin Saage u. Carl Peter Woelky, in: Scriptores rerum Warmiensium, 1, Braunsberg 1866, 384–444. 33  Vgl.

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danach fragten36. Da vielfach noch die liturgischen Handbücher der Ordenszeit vorhanden waren, wurden schon 1528 auf landesherrliche Kosten Luthers Postillen als Hilfe für die Durchführung der Gottesdienste angeschafft. Besonders die Zustände in Masuren, die Michael Meurer 1529 im Auftrag von Bischof Queiß feststellte und über die er Klagen an den Herzog richtete, veranlaßte diesen, den Bischöfen Synoden für die Pfarrer anzubefehlen. Diese wurden erstmalig 1530 in drei Provinzial- und einer Landessynode durchgeführt. Der Theologe Speratus war inzwischen Bischof von Pomesanien geworden und wird daher die auf der Synode vorgetragenen Glaubenslehren entworfen haben. Die im Namen beider Bischöfe vorgelegten „Constitutiones synodales evangelicae“ sollten die Kirchenordnung hinsichtlich der Glaubensaussagen ergänzen, da sich diese auf gottesdienstliche Anweisungen beschränkt hatte. Dieser vermutlich noch im Jahr 1529 von Speratus entworfene theologische Text ist heute nicht mehr erhalten; er ist auch nicht gedruckt worden, weil bald danach mit der „Confessio Augustana“ ein überregional zugänglicher und von den Evangelischen anerkannter Text vorlag37. Herzog Albrechts Verhältnis zu den Ämtern seiner beiden Bischöfe war in gewisser Weise gespalten. Sein Führungsanspruch zeigte sich auch in Kleinigkeiten, etwa wenn er im Februar 1529 in einem Postscriptum an den samländischen Bischof mahnte, daß dieser lieber visitieren solle als auf die Jagd zu gehen. Er wolle aber nicht zürnen, wenn der Bischof ihm von seinen Jagderfolgen etwas zukommen lassen werde38. Ein möglicher persönlicher Einsatz des Herzogs gegen die Türken unter Führung des polnischen Lehnsherrn 1539/40 war ohne militärischen Einsatz vorübergegangen; dieses Ereignis hat vor allem in der Geschichtswissenschaft sichtbare Spuren hinterlassen, weil das zur Vorbereitung angelegte Türkensteuerregister eine bedeutende historische Quellen geworden ist39. 36  Vgl. Iselin Gundermann, Die Anfänge der ländlichen evangelischen Pfarrbibliotheken im Herzogtum Preußen, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 110 (1974), 104–154. 37  Vgl. Tschackert, Urkundenbuch (Anm. 9), 1, S. 165–172.  – Zur Vorbereitung der Synode hatten die beiden Bischöfe Reste eines vorchristlichen Glaubens ermittelt und niedergeschrieben, vgl. Hans Bertuleit, Das Religionswesen der alten Preußen mit litauisch-lettischen Parallelen, in: Sitzungsberichte der Prussia 25 (1925), 9–113. 38  Tschackert, Urkundenbuch (Anm. 9), 2, Nr. 615. 39  Staatsarchiv Königsberg (Anm. 27), Ostpr. Fol. 911a 1–36; vgl. HistorischGeographischer Atlas des Preußenlandes, hrsg. v. Hans Mortensen u. a., Lfg. 5, Wiesbaden 1978; Hans Heinz Diehlmann, Das Türkensteuerregister im Herzogtum Preußen, bisher Bde. 1–3 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen, 88/1–3), Hamburg 1998–2008.



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Die Türkengefahr veranlaßte die Stände des Herzogtums Preußen dazu, Regelungen anzustreben für den Fall, daß der Herzog wegen Abwesenheit oder Tod nicht mehr handlungsfähig sein werde. Das Ergebnis dieser Verhandlungen war die am 18. November 1542 ausgestellte Urkunde, die in der historischen Literatur als „Regimentsnotel“ bekannt ist40. Bei diesen Verhandlungen hatte Albrecht vorgeschlagen, die beiden Bischöfe einzusparen und ihm selbst das Bischofsamt zu übertragen. Die unmittelbare kirchliche Aufsicht etwa mit dem Recht zur Visitation sollte nach kursächsischem Vorbild von Superintendenten wahrgenommen werden. Dem haben die Stände erfolgreich widersprochen, denn in der Urkunde heißt es, daß die beiden Bischöfe, die im Zuge der Reformation auf ihre weltlichen Rechte verzichtet hätten, in ihren Ämtern zu schützen seien. Die Stände haben es für sie als politisch vorteilhafter angesehen, wenn es weiterhin ein Kräftegleichgewicht zwischen dem Landesherrn und den Bischofsämtern gebe, und haben dabei vielleicht an die führende Stellung der Bischöfe im Landesrat des Königlich Polnischen Preußen gedacht41. Gleichzeitig gingen im Herzogtum die bischöflichen Visitationen weiter. Bischof Speratus hat nicht nur, weil er etwas kränkelte, Herzog Albrecht dazu bewegen können, sich an der Visitation von 1542/43 persönlich zu beteiligen. Vielmehr wollte er auf diese Weise dem Landesherrn einen persönlichen Eindruck vermitteln, mit welchen Nöten sich die Visitatoren auseinanderzusetzen hätten. Speratus hatte sich unter anderem darüber beschwert, daß Amtleute und Kirchenväter allzu oft nicht in die Gottesdienste gingen und daher ein schlechtes Vorbild für das Kirchenvolk seien. Der Landesherr hat daraufhin scharfe Verfügungen erlassen. Die daraus gezogenen Erkenntnisse wurden in der neuen Kirchenordnung von 1544 im wesentlichen von Johannes Brismann zusammengefaßt, die in deutscher, lateinischer und polnischer Sprache gedruckt wurde42.

40  Die archivalische Überlieferung der Ausfertigung mit 45 anhängenden Siegeln ist nicht mehr bekannt; gedruckt in: Privilegia der Stände deß Hertzog­ thumbs Preussen / darauff das Landt fundiert und biß jtzo beruhen, Brunsbergae 1616, Bl. 51–56. 41  Vgl. Janusz Małłek, Ustawa o rz˛adzie (Regimentsnotel) Prus Ksi˛ az˙ e˛ cych z roku 1542 (Towarzystwo Naukowe w Toruniu, 72/2), Toru´n 1967; das Wesentliche zusammengefaßt bei Bernhart Jähnig, 1542. 450. Gedenkjahr. Die „Regiments­ notel“ für das Herzogtum Preußen, in: Ostdeutsche Gedenktage 1992, Bonn 1991, 217–222. 42  Edition: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, hrsg. v. Emil Sehling, Bd. 4, Leipzig 1911, Nr. 12 S. 61–72; vgl. Andreas Zieger, Das religiöse und kirchliche Leben in Preußen und Kurland im Spiegel der evangelischen

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In der Mitte des 16. Jahrhunderts, in den Jahren 1541–1551, ist die Mehrzahl der für die Durchsetzung der Reformation in Königsberg und im Herzogtum Preußen wichtigen Persönlichkeiten gestorben. Von diesen war der samländische Bischof Georg von Polentz am ältesten. 1546 war er so schwach geworden, daß er sich um einen Vertreter bemühte, der auch die Aussicht auf die Nachfolge im Amt des Bischofs haben sollte. Dieser Vertreter wurde „Präsident“ genannt. Diese Stelle hat Polentz’ langjähriger Vertrauter Johannes Brismann übernommen, der jedoch bereits 1549 kurz vor Polentz gestorben ist. Der Bischof selbst ist dann 1550 im Alter von 72 Jahren gestorben. Ihm folgte der um sechs Jahre jüngere pomesanische Bischof Paul Speratus schon im Jahr 1551. Diese aus der Sicht von Herzog Albrecht günstige Lage, daß nämlich fast gleichzeitig beide Bischofsstühle frei geworden waren, suchte er gegen die Bestimmungen der Regimentsnotel auszunutzen, um seinen alten Plan zweier Konsistorien mit je einem Präsidenten durchzusetzen. Der Widerstand der Stände war erheblich. Auch hatte der Herzog Schwierigkeiten, sogleich geeignete und bereitwillige Kandidaten für die beiden neuen Präsidentenstellen zu finden. Nach einigen Jahren gelang es, den Theologen D. Johannes Aurifaber (1517–1568)43, den Bearbeiter der mecklenburgischen Kirchenordnung von 1552, im Jahre 1554 als Professor der Theologie und Präsidenten des samländischen Bistums für Königsberg zu gewinnen. Aurifaber hatte jedoch keinen Erfolg, die nach dem Tod von Andreas Osiander (1496/98– 1552) ausgebrochenen Streitigkeiten zu schlichten, was von ihm erwartet worden war. Auch mit der von ihm bearbeiteten preußischen Kirchenordnung von 155844 konnte er sich bei den Gegnern des Herzogs nicht durchsetzen. Daher lebte er in den folgenden Jahren sehr zurückgezogen, ehe er 1565 in seine Geburtsstadt Breslau zurückgekehrt ist. Schwieriger war es, für Marienwerder einen Theologen zu finden, der bereit gewesen wäre, dort Präsident des Bistums Pomesanien zu werden. Schließlich ließ sich Johannes Drach (Draconites, Carlstadt) (1494–1566), ein als gelehrter Theologe unruhiger Geist mit stets wechselnden Orten seiner Tätigkeiten, 1560 von Herzog Albrecht gewinnen. Da er sein Amt kaum wahrgenommen hat, wurde er vom Herzog 1564 wieder entlassen45. Insgesamt anderthalb Jahrzehnte lang ist es Albrecht gelungen, gegen alle Wider-

Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (Forschungen und Quellen zur Kirchenund Kulturgeschichte Ostdeutschlands, 5), Köln/Graz 1967, 1–9 u. ö. 43  Vgl. Gustav Hammann, Aurifaber, Johann, in: Neue Deutsche Biographie (im Folgenden: NDB), 1, Berlin 1953, 456 f. 44  Edition: Hubatsch, Geschichte (Anm. 24), 3, 34–134. 45  Vgl. Ernst Kähler, Draconites, Johannes, in: NDB 4, Berlin 1959, 95.



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stände eine Wiederbesetzung der beiden Bistümer mit Bischöfen zu verhindern, ehe eine neue kürzere Periode evangelischer Bischöfe im Herzogtum Preußen beginnen konnte. Die in den 1560er Jahren aufgetretene Altersschwäche Herzog Albrechts führte dazu, daß sein Schwiegersohn, Herzog Johann Albrecht I. von Mecklenburg, mit Leuten seines Vertrauens in Königsberg die Macht an sich riss. Das wiederum rief einen verstärkten Widerstand der preußischen Stände hervor46, die schließlich die Hilfe des polnischen Lehnsherrn suchten, der 1566 Kommissare nach Königsberg schickte, die die mecklenburgische Partei vertrieben und drei Albrecht nahestehende Räte, die sogenannten „neuen Räte“, hinrichten ließen. Dieser politische Erfolg der Stände ermöglichte es, daß im Sinne ihres langgehegten Anliegens neue Bischöfe für Samland und Pomesanien berufen werden konnten. Die von den Ständen und auch den Oberräten gewünschten Kandidaten zeigten, daß das Problem des Kirchenregiments eng verbunden war mit den scharfen Auseinandersetzungen um die Rechtfertigungslehre von Andreas Osiander47, die erst mit der Berufung der neuen Bischöfe nach 1566 beendet wurden. Dieser Streit war entstanden, weil Herzog Albrecht noch als Hochmeister 1522 durch eine Predigt Osianders in Nürnberg sein evangelisch-lutherisches Bekehrungserlebnis hatte und ihn daher aus Dankbarkeit nach dem Augsburger Interim von 1548 nach Königsberg holte, dem er weiterhin aus Dankbarkeit bei seiner inzwischen von Luther abweichenden Christologie die Stange hielt, was das Bestehen der evangelischen Kirche des Herzogtums stark erschüttert hat. Die Auseinandersetzungen hatten zur Folge, daß eine Reihe bedeutender Theologen das Land verließ. Darunter waren die von den Ständen gewünschten drei Männer48, nämlich Martin Chemnitz (1522–1586)49 und Joachim Mörlin 46  Vgl. Everhard K. B. Kleinertz, Die Politik der Landstände im Herzogtum Preußen 1562–1568, Phil. Diss. Bonn 1972 (1971). 47  Vgl. Emanuel Hirsch, Die Theologie des Andreas Osiander und ihre geschichtlichen Voraussetzungen, zuerst 1919, neu mit Einführung von Gottfried Seebaß (Emanuel Hirsch, Gesammelte Werke, 4), Waltrop 2003; Gottfried Seebaß, Das reformatorische Werk des Andreas Osiander (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, 44), Nürnberg 1967; zu seinem Wirken in Preußen Jörg Rainer Fligge, Herzog Albrecht von Preußen und der Osiandrismus 1522–1568, Phil. Diss. Bonn 1972; Martin Stupperich, Osiander in Preußen 1549–1552 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, 44), Berlin/New York 1973; Bernhart Jähnig, Der Weg zum evangelischen Königsberger Dom, in: Preußenland 8 (2017), 60–82, hier 66 f. 48  Zum folgenden vgl. Kleinertz, Politik (Anm. 45), 111–118 mit 220–222; Fligge, Herzog Albrecht (Anm. 46), 522–524 mit 797–799. 49  Vgl. Ernst Wolf,  Chemnitz, Martin.  in: NDB, 3, Berlin 1957, 201 f.; Theodor Mahlmann,  Chemnitz, Martin, in: Theologische Real-Enzyklopädie 7, Berlin/New York 1981, 714–721.

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(1514–1571)50, die inzwischen in Braunschweig in Amt und Würden waren, sowie der aus einer preußischen Adelsfamilie stammende Georg von Venediger (um 1519–1574)51, der zuletzt in Pommern tätig war. Als hinsichtlich dieser ersten Bischofswahl die Oberräte eine Beteiligung der Pfarrerschaft nahelegen wollten, erwiderten die Stände, daß das nicht nötig sei, denn seiner Zeit seien ohnehin die besten vertrieben worden. Georg von Venediger war bald bereit, in sein Heimatland zurückzukehren, um neuer Bischof von Pomesanien zu werden, zumal seine Familie in diesem Landesteil ansässig war. Seine Bestallung bekam er schon am 3.  Februar 1567. Schwieriger waren die Verhandlungen mit den beiden anderen, auch weil die Stadt Braunschweig ihre hervorragenden Theologen nicht verlieren wollte. Daher kam auch eine Abordnung auf Zeit ins Spiel. Herzog Albrecht lud Mörlin zum Kommen mit der Bitte ein, ihm kurz vor seinem bald zu erwartenden Lebensende bei der Ordnung der kirchlichen Verhältnisse zu helfen, die früheren ‚Irrungen‘ seien vergessen. Im April 1567 trafen Mörlin und Chemnitz tatsächlich zu weiteren Verhandlungen in Königsberg ein. Sie konnten zwar in den folgenden Wochen nichts entscheiden, aber sie haben zur Klärung grundlegender dogmatischer Fragen eine bedeutende Bekenntnisschrift entworfen, veröffentlicht unter der Überschrift „Repetitio corporis doctrinae Prutenici“ („Wiederholung der Summa und Inhalt der rechten, allgemeinen, christlichen Kirchenlehre“). Sie wurde auf einer zum 25. Mai einberufenen Synode der preußischen Pfarrerschaft diskutiert und am 28.  Mai durch eigenhändige Unterschriften der preußischen Theologen ratifiziert, an deren Spitze bereits der neue pomesanische Bischof (einen samländischen gab es noch nicht) stand. Dieser Text war zugleich eine der vorbereitenden Maßnahmen für die Bemühungen um eine Einigung auf die ‚reine‘ lutherische Lehre, die 1577/80 in der Konkordienformel und danach in der Sammlung des Konkordienbuchs ihr Ergebnis gefunden hat52. Herzog Albrecht mußte hinnehmen, daß Osianders Rechtferti50  Zu Mörlins theologiegeschichtlicher Einordnung und seinem Wirken in Preußen vgl. Erich Roth, Ein Braunschweiger Theologe des 16. Jahrhunderts. Mörlin und seine Rechtfertigungslehre, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 59 (1952), 59–81; Reinhard Schwarz, Lehrnorm und Lehrkontinuität. Das Selbstverständnis der lutherischen Bekenntnisschriften, in: Bekenntnis und Einheit der Kirche, hrsg. v. Martin Brecht/Reinhard Schwarz. Stuttgart 1980, 253–270, hier 257–259; Inge Mager, Herzogin Elisabeth von Calenberg-Göttingen und Joachim Mörlin, in: Göttinger Jahrbuch 61 (2013), 35– 47, besonders 45 f. 51  Vgl. Peter G. Thielen, von Venediger (Venetus), Georg, in: Altpreußische Biographie, 2, Marburg 1967, 756. 52  Vgl. Paul Tschackert, Die Entstehung der lutherischen und der reformierten Kirchenlehre samt ihren innerprotestantischen Gegensätzen, Göttingen 1910,



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gungslehre zu den verworfenen Punkten gehörte. Nach weiteren Verhandlungen in Braunschweig ist Chemnitz dort geblieben, während Mörlin im Oktober nach Preußen zurückkehrte. Mörlins Bestallung erfolgte am 1. Januar 1568. Die feierliche Amtseinführung hat am 6. September 1568 im Königsberger Dom sein Amtsbruder von Venediger vorgenommen53. Bevor die beiden Bischöfe mit ihrer alltäglichen Arbeit beginnen konnten, waren mit den Ständen die Grundlagen dafür zu erarbeiten. Nachdem die Kirchenordnung von 1558 nicht deren Anerkennung gefunden hatte, war 1568 eine Neufassung auf der Grundlage der Ordnung von 1544 zu schaffen. Diese haben die beiden Bischöfe Mörlin und von Venediger erarbeitet54. Daneben und ergänzend entstand eine zweite Ordnung, die als Dienstanweisung für die Bischöfe anzusehen ist und in ihrem langen Titel alles Nötige anspricht. „Von erwehlung der beiden bischoff Samlandt und Pomezan in herzogthumb Preussen, auch von irem ampt, verordnung der visitation und anderem, so zur fürderung und erhaltung des predigtampts und schulen, christlicher zucht und guter ordnung von nöthen ist“55. Die Wahl der Bischöfe sollte durch Hof- und Landräte, je acht Mitglieder des Adels und der Städte und eine ungenannte Zahl von Pfarrern erfolgen. Die Aufsicht als Aufgabe der Bischöfe sollte auch die Universität Königsberg sowie Buchdruck und -handel einbeziehen. Auch über die rechtzeitige Wiederbesetzung frei gewordener Pfarrstellen sollten sie wachen. Die theologische Prüfung der Kandidaten hielten sie für unverzichtbar. Nachdem das Problem mit den Anhängern Osianders praktisch gelöst war, setzte sich im Herzogtum eine strenge Ausrichtung in Glaubensfragen nach Wittenberger Vorbild durch. Man konnte auf die Erfahrungen aus der Zeit der eingangs genannten ‚drei Evangelisten‘ zurückgreifen, von denen Bischof Speratus sich mit Schwenckfeldianern auseinanderzusetzen gehabt hatte56, was damals dadurch erschwert war, weil diese von dem mit Herzog Albrecht sehr vertrauen früheren Ordensritter Friedrich von Heydeck († 1536) unterstützt worden waren. Es erscheint besonders für die Zeit nach 1566 etwas ungewöhnlich, daß gerade der katholische Oberlehns2

1979, 601–603; Schwarz, Lehrnorm (Anm. 49), besonders 253–259 u. Anm. 4; Druck des „nackten“ deutschen Textes bei Hubatsch, Geschichte (Anm. 24), 3, Nr. 8 S. 149–193. Obwohl Preußen nicht einmal auch nur erwähnt wird, vgl. WolfDieter Hauschild, Corpus Doctrinae und Bekenntnisschriften. Zur Vorgeschichte des Konkordienbuchs, in: Bekenntnis und Einheit (Anm. 49), 235–252. 53  Vgl. Kleinertz, Politik (Anm. 45), 118. 54  Edition: Sehling (Anm. 41), 4, Nr. 13 S. 72–106. 55  Edition: Sehling (Anm.  41), 4, Nr.  14 S.  107–122; vgl. Kleinertz, Politik (Anm. 45), 221 Anm. 7. 56  Vgl. R. Stupperich, Dr. Paul Speratus (Anm. 17), 170–178.

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herr die Durchsetzung eines strengen Luthertums im Herzogtum garantiert hat, wie es im preußischen ‚Corpus doctrinae‘ von 1567 formuliert wurde. Mörlin hat im Sinne der Dienstanweisung von 1568 seine Visitations­ tätigkeit im Jahre 1569 aufgenommen57. Zunächst wandte er sich den 18 Kirchspielen der Hauptämter Fischhausen und Schaaken zu, die auch als Vogtei und Landvogtei bezeichnet wurden. Wer als ‚weltlicher‘ Begleiter des Bischofs beteiligt wurde, ist nicht deutlich erkennbar. Sicher werden die zuständigen Amtshauptmänner dabei gewesen sein. Der Bischof hat alle Pfarrstellen besetzt vorgefunden, doch die Amtsführung der Pfarrer war teilweise kritikbedürftig. Zu deren Problemen gehörte auch der Umgang mit dem nicht deutsch sprechenden Teil  des Kirchenvolks, für den oft Übersetzer (Tolken) benötigt wurden. In Mörlins Bistum siedelten vor allem auf der samländischen Halbinsel zahlreiche prußische Freie und Bauern. Für diese hatte seit 1554 Abel Will, Pfarrer von Pobethen, Luthers Kleinen Katechismus („Enchiridion“) übersetzt58. Auch für das litauisch sprechende Kirchenvolk waren Tolken nötig, denn Pfarrer wie Johannes Bretke, seit 1562 in Labiau, seit 1587 an der Steindammer Kirche in Königsberg tätig, der sogar die ganze Lutherbibel vollständig ins Litauische übersetzt hat, gab es nicht allzu viele59. Immerhin hat es zu Bretkes Zeit so viele in litauischer Sprache predigende Pfarrer gegeben, daß es sich gelohnt hat, etwa um 1570 durch Übersetzungen aus verschiedenen lateinischen Predigtsammlungen ein Predigthandbuch zu erarbeiten, das von dem Georgenburger Pfarrer Johannes Bilauk 1573 abgeschrieben wurde. Diese Handschrift ist vermutlich aus dem Nachlaß von Bischof Johann Wigand in die Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel gelangt, so daß sie seit dem späten 19. Jahrhundert in der Fachwelt als „Wolfenbütteler Postille“ bekannt ist60. Im Jahr 1570 hat sich Mörlin als 57  Vgl. Iselin Gundermann, Die Kirchenvisitationen des Bischofs Joachim Mörlin im Jahre 1569, in: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi“. Festschrift für Dietrich Meyer, Köln 2000, 245–267. 58  Vgl. Kurt Forstreuter, Abel Will, ein ostpreußischer Übersetzer, zuerst 1965, neu in: Ders., Wirkungen des Preußenlandes, Köln/Berlin 1981, 296–299; Ing˙e Lukšait˙e, Die Reformation im Großfürstentum Litauen und in Preußisch-Litauen (1520er Jahre bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts), Leipzig 2017, 246. 59  Vgl. Jochen D. Range, Die litauische Bibelübersetzung von Johannes Bretke, ein preußischer Kulturbesitz, in: Kirchengeschichtliche Probleme des Preußenlandes aus Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. v. Bernhart Jähnig, Marburg 2001, 217–233. Von der inzwischen angelaufenen wissenschaftlichen Edition erschien zuletzt: Textedition des Bandes 7 der Handschrift: Das Neue Testament Evangelien und Apostelgeschichte Labiau 1580, bearb. v. Jochen D. Range, Paderborn 2017. 60  Vgl. Jolanta Gelumbeckait˙ e, Die Wolfenbütteler Postille von 1573 – ein frühes Werk litauischer Sprache im Herzogtum Preußen, in: Literatur im Preußenland



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Visitator dem natangischen Bereich seines Bistums zugewandt. Visitiert wurden die Kirchspiele Bartenstein, Gallingen, Schippenbeil und Borken. Weiteres verhinderte die Erkrankung des Bischofs, der am 23.  Mai 1571 gestorben ist. Die Berichte über Mörlins Visitationen sind inzwischen veröffentlicht61. Es war zunächst nicht leicht, einen Nachfolger zu finden, die Stände haben jedoch gegen den Widerstand in der Umgebung Herzog Albrecht Friedrichs den zuletzt vorher in Jena tätigen Theologen Tilemann Heshusius (1527–1588)62 durchgesetzt. Am 21. September 1573 erfolgte die feierliche Einführung im Königsberger Dom durch den pomesanischen Bischof Georg von Venediger63. Zusammen mit Heshusius war sein Freund Johann Wigand (1523–1587)64 nach Königsberg gekommen, der zunächst dort an der Universität Professor der Theologie wurde. Nach dem baldigen Tod Venedigers wurde Wigand sein Nachfolger als Bischof von Pomesanien, die feierliche Einführung im Königsberger Dom erfolgte nunmehr durch Heshusius am 2. Mai 1575. Der temperamentvolle Heshusius geriet bald mit der Universität, die ihm nicht wie vorher andernorts ein Lehramt einräumte, und mit den Ständen in Streit. Er hat Kirchenvisitationen durchgeführt. In seine Amtszeit und in seinen samländischen Sprengel fallen die 1575 in den Ämtern Bartenstein, Balga und Brandenburg durchgeführten Visitationen65. Die dabei festgestellten Mängel verstärkten eine Feindschaft bei den betroffenen adeligen Patronatsherren. Schließlich verstieg er sich zu der überspitzten Formulierung, daß nicht nur der Mensch Christus, also konkret, sondern auch die Menschheit Christi, also abstrakt, allmächtig und zu verehren sei. Als eine Synode im von der ausgehenden Ordenszeit bis ins 20. Jahrhundert, hrsg. v. Bernhart Jähnig, Osnabrück 2012, 43–62. Bereits vorher war die monumentale Edition erschienen: Die litauische Wolfenbütteler Postille von 1573, hrsg. v. Jolanta Gelumbeckait˙e, 1–2, Wiesbaden 2008. 61  Wizytacja Biskupstwa Sambiejskiego z 1569 roku/Visitatio Epicopatus Sambiensis 1569, wyd./ed. Jacek Wijaczka (Towarzystwo Naukowe w Toruniu. Fontes, 90), Toru´n 2001; Wizytacja Biskupstwa Sambiejskiego z 1570 roku/Visitatio Epicopatus Sambiensis 1570, wyd./ed. Jacek Wijaczka (Towarzystwo Naukowe w Toruniu. Fontes, 96),Toru´n 2005. Vgl. auch Jacek Wijaczka, Das kirchliche Leben des Samlands im Spiegel der Visitationsniederschrift des Jahres 1569, in: Kirche und Welt in der frühen Neuzeit, hrsg. v. Bernhart Jähnig, Marburg 2007, 117–132. 62  Vgl. Robert Dollinger,  Hesshus(en), Tilemann, in: NDB, 9, Berlin 1972,  24 f.; Friedrich Wilhelm Bautz, Hesshus (Heßhusen), Tilemann, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, 2, Hamm 1990, Sp. 789–791. 63  Vgl. Hubatsch, Geschichte (Anm. 24), 1, 111. 64  Vgl. Adolf Brecher, Wigand, Johann, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 42, Leipzig 1897, 452–454; Bernhart Jähnig, 21.  Oktober. 400. Todestag. Johann Wigand, Theologe, in: Ostdeutsche Gedenktage 1987, Bonn 1986, 149–152. 65  Staatsarchiv Königsberg (Anm. 27), Ostpr. Fol. 1278 u. 1279.

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Januar 1577 dies als falsch verurteilte und Heshusius nicht widerrufen wollte, folgte am 5.  Mai 1577 seine Amtsenthebung und Landesverweisung, ein Jahrzehnt später ist er in Helmstedt gestorben. Johann Wigand hat sich während dieser öffentlich geführten Auseinandersetzung lange zurückgehalten, erst als alles entschieden war, hat er sich in einem Flugblatt geäußert. Im Jahr danach, 1578, hat er eine Aktenauswahl über diesen Streit veröffentlicht. Nach dem Abgang von Heshusius hat er in Personalunion auch das Bistum Samland übernommen. Er war damit zuständig auch für den Norden des Herzogtums. Dazu ­gehörte das Gebiet nördlich der Memel, das im Mittelalter ein Teil  des ­Bistums Kurland gewesen war. Der Bischof dürfte dahinter gestanden haben, als im Namen Herzog Georg Friedrichs am 6.  Dezember 1578 in litauischer Sprache ein Mandat an die Kirchen im Amt Tilsit erging, in dem eine strenge Einhaltung der Kirchenordnung (Religionsausübung) gefordert wurde66. Herzog Albrecht Friedrich, der einzige Sohn Herzog Albrechts, wurde zunächst wegen seiner Minderjährigkeit, dann wegen Erscheinungen einer Gemütskrankheit infolge einer Intrige der Stände, die an Heftigkeit und damit an Böswilligkeit von seinem Vetter Georg Friedrich von Ansbach-Bayreuth noch überboten wurde, von der Ausübung einer Regierung auf Dauer ausgeschlossen67. Bevor Georg Friedrich nach Preußen kam, hatte dieser schon in Franken das evangelischlutherische Konkordienbuch als Sammlung aller entscheidenden Bekenntnisschriften zu fördern gesucht, um dessen Text sich süd- und norddeutsche Theologen vor allem seit 1576 bemühten. Um dies in Preußen fortsetzen zu können, hatten beide Bischöfe schon entscheidende Vorarbeit geleistet. Eine inhaltlich weitere Vorleistung war das schon genannte „Corpus doctrinae“ von 1567 gewesen. Es gab daher in der Pfarrerschaft kaum Widerstand, so daß auch hier eine Ausfertigung mit zahlreichen Unterschriften der preußischen Pfarrer entstanden ist. Unter den polnisch- und litauischsprachigen Pfarrern, die die deutsche Sprache nicht beherrschten, wurde diskutiert, wie sie den zu unterschreibenden Text zur Kenntnis nehmen sollten. Amtlicherseits wurde schließlich verfügt, daß auf eine wörtliche Übersetzung verzichtet werden könne, wenn 66  Ausführliche sprachwissenschaftliche und inhaltliche Erörterung der im Historischen Staatsarchiv Königsberg vorhandenen Überlieferungen durch Anna Helene Feulner/Wolfgang Hock, Ein frühes preußisch-litauisches Mandat von 1578, in: Archivum Lithuanicum 20 (2018), 237–294. 67  Vgl. Stephan Jaster, Die psychiatrische Krankheit Albrecht Friedrichs von Preußen. Med. Diss. Berlin 2005; ders., Die psychiatrische Krankheit Herzog Albrecht Friedrichs in Preußen  – neue Fakten und Erkenntnisse, in: 750 Jahre Königsberg. Beiträge zur Geschichte einer Residenzstadt auf Zeit, hrsg. v. Bernhart Jähnig. Marburg 2008, 139–175.



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diese Pfarrer sich mit einer ausführlichen Inhaltsangabe zufrieden geben würden68. Wohl dazu wurde mit gedrucktem Anschreiben vom 21. Januar 1579 eingeladen69. 1580 hat die Landesherrschaft das Ganze ratifiziert70. In den zehn Jahren, in denen Johann Wigand beide Bistümer zu verwalten hatte, hat er durch eifriges Visitieren den Zustand der Gemeinden und des Kirchenvolks zu ergründen und zu verbessern gesucht. In den Jahren 1576–1578 wurden die altpomesanischen Ämter Riesenburg, Deutsch Eylau, Schönberg, Osterode und Preußisch Holland visitiert. Im Jahre 1579 hat er sich den ebenfalls altpomesanischen Ämtern Mohrungen, Liebstadt, Preußisch Mark, Hohenstein und Gilgenburg zugewandt. In demselben Jahr folgten die westmasurischen Ämter Johannisburg, Ortelsburg und Lyck71. 1581 wurden die ostmasurischen Ämter Rastenburg, Sehesten, Rhein, Arys, Angerburg und Oletzko visitiert. In den Jahren 1584–1587 wurden die weit auseinanderliegenden Ämter Brandenburg, Ortelsburg, Neidenburg, Marienwerder, Preußisch Holland und Rastenburg erfaßt72. Bei allen früheren Kirchenvisitationen waren die Städte Altstadt, Löbenicht und Kneiphof nicht vorgekommen. Aus dem Jahr 1585 gibt es für jede der drei einen Teilband73. Hinweise auf die Reste des vorchristlichen Glaubenslebens finden sich nicht nur in den zeitgenössischen Landes- und Kirchenordnungen, sondern auch in den landesherrlichen Akten des Staatsarchivs Königsberg und der auf diesen fußenden Literatur74. Wigand war ein fruchtbarer Schriftsteller, worauf hier nicht einzugehen ist. Als er 1587 in Liebemühl starb, endete auch in Preußen das Zeitalter evangelischer Bischöfe, weil sich hinsichtlich des Kirchenregiments Herzog Georg Friedrich ebenfalls gegen die Stände durchgesetzt hat, die vergeblich schriftlich auf die Ein68  Staatsarchiv

Königsberg (Anm. 27), EM 37 f Nr. 2, Bl. 4 f. Hubatsch, Geschichte (Anm. 24), 1, 116 f. Eine Unterschriftensammlung der preußischen Theologen ist nicht bekannt; möglicherweise ist sie nicht entstanden, weil aus den o. g. Gründen sich im Herzogtum das Einigungswerk hat schnell durchsetzen lassen. Eine Abschrift der Unterschriften der Theologen der übrigen evangelisch-lutherischen Länder Deutschlands findet sich im Staatsarchiv Königsberg (Anm. 27), HBA J2 (K. 1007). 70  Vgl. Inge Mager, Aufnahme und Ablehnung des Konkordienbuches in Nord-, Mittel- und Ostdeutschland, in: Bekenntnis und Einheit (Anm. 49), 271–302, hier 286 f. 71  Staatsarchiv Königsberg (Anm. 27), Ostpr. Fol. 1280, 1282, u. 1283. 72  Ebd., Ostpr. Fol. 1284 u. 1281. 73  Ebd., Ostpr. Fol. 1280 a–c. 74  Weit über die bischöfliche Zeit hinaus gehen die Beispiele bei Bernhart Jähnig, Magie im alten Ordensland. Zum Nachleben vorchristlicher Vorstellungen im Herzogtum Preußen, in: Religion und Magie in Ostmitteleuropa, hrsg. v. Thomas Wünsch, Berlin 2006, 159–174. 69  Vgl.

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haltung gegebener Rechte gepocht hatten. Von ihnen wurde auf den Landtagen von 1590, 1594 und noch 1602 angeführt, daß der katholische Lehnsherr unter anderem wegen des Verstoßes gegen die Regimentsnotel von 1542 das evangelische Bekenntnis des Herzogtums beim Tod des Landesherrn gefährden könne75. Argumentiert wurde vom neuen Herzog wie zu Herzog Albrechts Zeiten nach 1550/51 damit, daß wie in Kursachsen die ‚papistische‘ Einrichtung von Bischöfen durch Konsistorien ­ersetzt werden sollte, die dann im Herzogtum Preußen für die beiden ­Bistümer Samland und Pomesanien eingerichtet wurden76.

75  Vgl.

Hubatsch, Geschichte (Anm. 24), 1, 118. Jürgen Petersohn, Bischofsamt und Konsistorialverfassung in Preußen im Ringen zwischen Herrschaft und Landschaft im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, in: Archiv für Reformationsgeschichte 52 (1961), 188–204. 76  Vgl.

Reformation ohne den Landesherrn? Die Durchsetzung der reformatorischen Lehre im Erzstift Magdeburg in der Mitte des 16. Jahrhunderts Von Michael Scholz, Potsdam Die Durchsetzung der Reformation in einem geistlichen Fürstentum wies gegenüber den weltlichen Territorien stets besondere Züge auf  – war doch die Rolle des Landesherrn, der gleichsam qua Amt dem alten Kirchenwesen verpflichtet war, eine grundsätzlich unterschiedliche. Seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 regelte zudem der sogenannte „geistliche Vorbehalt“, dass ein geistlicher Reichsfürst, der zur reformatorischen Lehre übertrat, durch diesen Wechsel sein Amt verlieren sollte1. Doch auch schon zuvor hatte das Beispiel des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied, der sich seit Anfang der 1540er Jahre der Reformation angenähert hatte, gezeigt, dass sich unter den herrschenden Kräfteverhältnissen der Zeit ein protestantischer Bischof nicht im Amt halten konnte. Trotz einigen Rückhalts bei seinen Landständen musste Hermann nach Ende des Schmalkaldischen Krieges in Süddeutschland Anfang 1547 sein Bistum resignieren2.

1  Vgl. hierzu Heinrich de Wall, Art. Geistlicher Vorbehalt, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Bd. 2, 9. Lfg., Berlin 2009, 8–10; Eike Wolgast, Hochstift und Reformation. Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648 (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit, 16), Stuttgart 1995, 255 f.; Heiner Lück, Der Augsburger Religionsfrieden und das Reichsrecht. Rechtliche Rahmenbedingungen für ein epochales Verfassungsdokument, in: Der Augsburger Religionsfrieden. Seine Rezeption in den Territorien des Reiches, hrsg. von Gerhard Graf/Günther Wartenberg/Christian Winter (Herbergen der Christenheit, Sonderbd. 10; Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte, 6), Leipzig 2006, 9–23, hier 20; Inge Mager, Norddeutsche geistliche Territorien und das Reservatum ecclesiasticum des Augsburger Religionsfriedens, in: ebd., 119–130, hier 119 f. 2  Vgl. hierzu zusammenfassend Wolgast, Hochstift (Anm. 1), 91–99; Harm Klueting, Das Herzogtum Westfalen als geistliches Territorium im 16. bis 18. Jahrhundert, in: Das Herzogtum Westfalen, Bd. 1: Das kurkölnische Herzogtum Westfalen von den Anfängen der kölnischen Herrschaft im südlichen Westfalen bis zur Säkularisation 1803, hrsg. v. dems. unter Mitarb. v. Jens Foken, Münster 2009, 443– 518, hier 487–489.

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Dass in der Mitte des 16. Jahrhunderts  – abgesehen von den preußischen Sonderfällen Samland und Pomesanien3  – kein Hochstift dauerhaft zur Reformation übergegangen war4, bedeutete nicht, dass es keine reformatorischen Bestrebungen in diesen Landen gegeben hätte. Wie nahezu überall hatten sich Gemeinden und kleinere Herrschaftsträger auch hier teilweise der neuen Strömung geöffnet5. Eine flächendeckende Durchsetzung der Reformation, wie sie schon in den 1520er Jahren durch landesherrliche Visitationen etwa in Kursachsen oder Braunschweig-­ Lüneburg erfolgt war, musste unter den gegebenen Bedingungen ausbleiben. Auf der anderen Seite stellten die geistlichen Territorien durch die Wahl des Fürsten und die geteilte Herrschaft von Bischof und Domkapitel auch stets prekäre Landesherrschaften dar, in denen die fürstliche Macht begrenzt blieb6. Eine weitgehende Unterdrückung reformatorischer Bestrebungen, wie sie etwa Herzog Georg von Sachsen bis zu seinem Tod 1539 einigermaßen erfolgreich betrieb7, war unter diesen Umständen kaum möglich.

3  Zu den preußischen Bistümer Samland und Pomesanien s. den Beitrag von Bernhart Jähnig in diesem Band. – Vgl. auch Wolgast, Hochstift (Anm. 1), 198–207. 4  Unberücksichtigt bleiben sollen hier die faktisch landsässigen Bistümer Merseburg und Naumburg, Brandenburg sowie Cammin, die in den 1540er Jahren im Gefolge ihrer Schutzherrschaften die Reformation einführten: Wolgast, Hochstift (Anm. 1), 208–222, 237–253; Peter Gabriel, Fürst Georg III. von Anhalt als evangelischer Bischof von Merseburg und Thüringen 1544–1548/50. Ein Modell evangelischer Episkope in der Reformationszeit (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII: Theologie, 597), Frankfurt am Main u. a. 1997. 5  Vgl. den Überblick über die norddeutschen Hochstifte bei Mager, Territorien (Anm. 1), 120–129. – Nicht untypisch ist das allmähliche Vordringen der Reformation im Erzstift Bremen: Hans Otte, Die Reformation im Elbe-Weser-Dreieck, in: Hans-Eckhard Dannenberg/Ders. (Hrsg.), Die Reformation im Elbe-Weser-Raum. Voraussetzungen, Verlauf, Veränderungen (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden, 50), 19–38, hier 29–33.  – Zum Hochstift Halberstadt zuletzt Michael Scholz, Die Reformation im Hochstift Halberstadt, in: Geschichte und Kultur des Bistums Halberstadt 804–1648. Symposium anläßlich 1200 Jahre Bistumsgründung Halberstadt 24. bis 28. März 2004. Protokollband, hrsg. v. Adolf Siebrecht, Halberstadt 2006, S. 629–642. 6  Vgl. Helmut Flachenecker, Bischof oder Domkapitel: Wer regiert eine Diözese bzw. ein Hochstift im Mittelalter?, in: Thomas Scharf-Wrede (Hrsg.), Das Hildesheimer Domkapitel. Dem Bistum verpflichtet (Hildesheimer Chronik, 21), Sarstedt 2012, 5–30, bes. 10–23; Wolgast, Hochstift (Anm. 1), 20. 7  Vgl. hierzu zuletzt Christoph Volkmar, Altgläubige Reform im Land der Reformation? Kardinal Albrecht von Brandenburg und Herzog Georg von Sachsen als Protagonisten der alten Kirche in Mitteldeutschland, in: Sachsen und Anhalt 28 (2016), 57–87, hier 72.



Reformation ohne den Landesherrn? 

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I. Die Rolle der Erzbischöfe Das Vordringen reformatorischer Bestrebungen führte somit die geistlichen Landesherrschaften seit den 1520er Jahren regelmäßig in die Krise. Eine solche ist auch schon früh im Erzstift Magdeburg zu konstatieren, das zu den größeren geistlichen Territorien in Norddeutschland zählte8. Erzbischof war seit 1513 Albrecht von Brandenburg, Bruder des brandenburgischen Kurfürsten Joachim I., gleichzeitig Administrator des benachbarten Bistums Halberstadt und seit 1514 auch Erzbischof von Mainz und Erzkanzler für Deutschland. Berühmtheit erlangte der humanistisch beeinflusste Albrecht in der deutschen Reformationsgeschichte vor allem durch seine Rolle als päpstlicher Ablasskommissar, dessen Kampagne die 95 Thesen Luthers provozierte, sowie durch die Auseinandersetzungen mit dem Reformator um die Ablassverkündigung in seiner Residenz Halle9. In seinem eigenen Territorium geriet Albrecht schon zu Beginn der zwanziger Jahre unter Druck, als sich in der Altstadt Magdeburg und in der Residenzstadt Halle reformatorische Bewegungen zu formieren begannen. Im weitgehend autonomen Magdeburg führte dies bis 1524 zu einer Stadtreformation, die den Landesherrn faktisch ignorierte10. In Halle konnte die reformatorische Bewegung, die sich mit sozialen Unruhen mischte, nach der Niederlage der Bauern bei Franken-

8  Eine umfangreichere Geschichte der Reformation im Erzstift Magdeburg fehlt noch immer. Kurze Überblicksdarstellungen bieten Franz Schrader, Magdeburg, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1600, Bd. 2: Der Nordosten (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 50), Münster 1990, 68–86; Mathias Tullner, Die Reformation in Stadt und Erzstift Magdeburg, in: SachsenAnhalt. Beiträge zur Landesgeschichte 6 (1996), 7–40. 9  Zur Biographie Albrechts vgl. zuletzt Michael Scholz, Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490–1545). Erzbischof von Magdeburg, Administrator von Halberstadt. Renaissancefürst und Reformer?, in: Mitteldeutsche Lebensbilder. Menschen im Zeitalter der Reformation, hrsg. v. Werner Freitag, Köln u. a. 2004, 71–96; Peter Claus Hartmann, Albrecht von Brandenburg. Erzbischof und Kurfürst von Mainz, Erzbischof von Magdeburg und Administrator des Bistums Halberstadt, in: Der Kardinal. Albrecht von Brandenburg. Renaissancefürst und Mäzen, Bd. II: Essays, hrsg. v. Andreas Tacke (Kataloge der Stiftung Moritzburg. Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt), Regensburg 2006, 9–17. 10  Zur Ereignisgeschichte der Magdeburger Reformation vgl. noch immer Friedrich Hülße, Die Einführung der Reformation in der Stadt Magdeburg, in: Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg 18 (1883), 209–369. Vgl. auch Lutz Miehe, Magdeburg im Zeitalter der Reformation (1517–1551), in: Magdeburg. Die Geschichte der Stadt 805–2005, hrsg v. Matthias Puhle/Peter Petsch, Dößel (Saalkreis) 2005, 313–342.

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hausen 1525 im Zaum gehalten werden11. In der zweiten Hälfte der zwanziger und in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts befand sich das Erzstift in einer Phase angespannter Ruhe, in der der Erzbischof versuchte, mit altgläubig-humanistischen Reformmaßnahmen der neuen Lehre den Boden zu entziehen12. Einzelne Nachrichten über adlige Reformationsversuche auf dem Lande oder das „Auslaufen“ hallischer Bürger zum Gottesdienstbesuch im kursächsischen Nachbargebiet zeigen, dass dies nur oberflächlich gelang13. Letztlich waren es weniger die reformatorische Strömungen im Inneren als vielmehr äußere Einflüsse und der finanzielle Zusammenbruch der Herrschaft Albrechts, die den Erzbischof 1541 veranlassten, das Erzstift Magdeburg zu verlassen und die täglichen Regierungsgeschäfte in die Hände seines Koadjutors Johann Albrecht von Brandenburg-Ansbach zu legen. Zwar wurde auf dem Landtag von Calbe 1541, auf dem die Stiftsstände die landesherrlichen Schulden übernahmen, diesen die Einführung der Reformation nicht freigestellt, wie in früherer Zeit gelegentlich behauptet, jedoch war die Macht der lokalen Gewalten erheblich gestärkt14. In der Folge kam es in der Stadt Halle mit der Einsetzung des Justus Jonas als Pfarrer zur Durchsetzung der Reformation, und auch kleinere Städte folgten15. Versuche Albrechts und seines Statthalters,

11  Vgl. hierzu Walter Delius, Die Reformationsgeschichte der Stadt Halle a.S. (Beiträge zur Kirchengeschichte Deutschlands, 1), Berlin 1953, 26–44; Werner Freitag, Residenzstadtreformation? Die Reformation in Halle zwischen Selbstbewußtsein und bischöflicher Macht, in: Kontinuität und Zäsur. Ernst von Wettin und Albrecht von Brandenburg, hrsg. v. Andreas Tacke (Schriftenreihe der Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, 1), Göttingen 2005, 91–118. – Ders., Die aufgeschobene Reformation: Kommunales Ereignis, Ratspolitik und bischöfliche Repression, in: Geschichte der Stadt Halle, Bd. 1: Halle im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Werner Freitag/Andreas Ranft, Halle (Saale) 2006, S. 267–273. 12  Vgl. hierzu Michael Scholz, Residenz, Hof und Verwaltung der Erzbischöfe von Magdeburg in Halle in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Residenzenforschung, 7), Sigmaringen 1998, 273–278; Volkmar, Reform (Anm. 7), 70. 13  Zu den adligen Reformationsversuchen vgl. die unten geschilderten Beispiele. – Zum „Auslaufen“ vgl. Delius, Reformationsgeschichte (Anm. 11), 46 f.; Scholz, Residenz (Anm. 12), 276 f. 14  Vgl. Franz Schrader, Was hat Kardinal Albrecht von Brandenburg auf dem Landtag zu Calbe im Jahre 1541 den Ständen der Hochstifte Magdeburg und Halberstadt versprochen?, in: Ecclesia militans. Studien zur Konzilien- und Reformationsgeschichte Remigius Bäumer zum 70.  Geburtstag gewidmet, Bd. 2: Zur Reformationsgeschichte, hrsg. v. Walter Brandmüller u. a., Paderborn 1988, 333–361, bes. 342–352. 15  Delius, Reformationsgeschichte (Anm. 11), 70–84. Vgl. auch unten.



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dem wachsenden Selbstbewusstsein der Stände in der religiösen Frage Widerstand entgegenzusetzen, waren faktisch schon 1542 gescheitert16. Die konfessionelle Situation im Erzstift blieb für die nächsten beiden Jahrzehnte unentschieden. Johann Albrecht, der 1545 als Erzbischof folgte, blieb für seine Person beim alten Glauben, konnte aber nach der kurzzeitigen Besetzung des Landes durch Kursachsen im Schmalkaldischen Krieg bis zu seinem Tode 1550 nicht mehr wirklich Fuß in seinem Stift fassen17. Bereits 1547 hatte das Domkapitel den minderjährigen brandenburgischen Prinzen Friedrich zum Koadjutor gewählt, den zweiten Sohn des seit 1539 protestantischen Kurfürsten Joachim II. Friedrich starb bereits kurz nach Antritt der selbständigen Regierung 155218. Ihm folgte sein jüngerer Bruder Sigismund19. Die Konfessionszugehörigkeit der jungen Erzbischöfe wurde mit Bedacht in der Schwebe gelassen. Offenbar konnten beide nach längeren Verhandlungen noch die päpstliche Bestätigung erhalten, obwohl der 1538 geborene Sigismund bereits im protestantischen Sinne erzogen worden war20. Das Domkapitel war auch nach 1541 mehrheitlich beim alten Glauben geblieben. Zwar hatte sich der Dompropst Georg von Anhalt schon frühzeitig dem reformatorischen Bekenntnis zugewandt, doch war er nur

16  Vgl.

Schrader, Kardinal Albrecht (Anm. 14), 352. neuere Darstellung seiner Regierung fehlt. Vgl. noch immer Johann Christoph von Dreyhaupt, Pagus Neletici et Nudzici oder […] Beschreibung des […] Saal-Creyses, Tl. 1, Halle 1749 (ND Halle 2002), 210–272; Friedrich Wilhelm Hoffmann, Geschichte der Stadt Magdeburg, neu bearb. von Gustav Hertel und Friedrich Hülße, Bd. 1, Magdeburg 1885, 475–524. 18  Dreyhaupt, Pagus (Anm. 17), Tl. 1, 273; Hoffmann, Geschichte (Anm. 17), Bd.  1, 524 f. 19  Dreyhaupt, Pagus (Anm. 17), Tl. 1, 274–296; Hoffmann, Geschichte (Anm. 17), Bd. 2, Magdeburg 1885, 1–42; Karl Janicke, Art. Sigmund, Erzbischof von Magdeburg, in: Allgemeine Deutsche Biographie 34 (1892), 294–297. 20  Für Friedrich: Dreyhaupt, Pagus (Anm. 17), Tl. 1, 273.  – Ein Quellenbeleg, dass auch Sigismund noch die päpstliche Bestätigung für Magdeburg erlangt hat, konnte durch den Verfasser bisher nicht ermittelt werden. Immerhin hatte der päpstliche Nuntius beim Kaiser im April 1553 die Konfirmation in sichere Aussicht gestellt: Schreiben des brandenburgischen Gesandten Christoph von der Strassen an Kurfürst Joachim II. vom 20. April 1553 (August von Druffel, Beiträge zur Reichsgeschichte 1553–1555, ergänzt u. bearb. v. Karl Brandi [Briefe und Akten zur Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts, 4], München 1896, 120–122, Nr. 110). Josef Pilvousek, Sigismund, Markgraf von Brandenburg (1538–1566), in: in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648. Ein biographisches Lexikon, hrsg. v. Erwin Gatz, Berlin 1996, S. 665, geht von einer Bestätigung 1562 aus. Vgl. auch Wolgast, Hochstift (Anm. 1), 132. 17  Eine

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noch nominell mit dem Kapitel verbunden21. Noch 1544 verlor der Domscholastikus Andreas von Königsmarck seine Präbende, nachdem er geheiratet hatte22. Erst in den fünfziger Jahren vollzog sich ein allmäh­ licher Wandel. Als 1560 der neue Domdekan Christoph von Möllendorff sein Amt antrat, forderte er die Abänderung des Eides, „weil darinnen allerley Abgötterey und Gottloses wesen geschworen werden müste“, wie es in seiner Leichenpredigt heißt, und konnte diese auch erreichen23. Der Amtsantritt Möllendorffs als erster reformatorischer Domdekan markiert eine Zäsur innerhalb des Kapitels, nachdem kurz zuvor auch noch altgläubige Kandidaten aufgenommen worden waren24. Zwar zog sich der endgültige Übergang des Kapitels zu reformatorischen Formen noch einige Jahre hin, bis 1567 schließlich ein evangelischer Domprediger bestellt wurde25. Jedoch war von dieser Seite kein erheblicher Widerstand mehr zu erwarten, als sich Erzbischof Sigismund ab 1561 daran machte, unter Beiseiteschiebung aller reichsrechtlicher Bedenken im gesamten Erzstift ein reformatorisches Kirchenwesen aufzurichten. Ein erster Schritt dazu war die Visitation der Klöster, die im Mandat vom 13. September 1561 mit der landesfürstlichen Sorge um den Erhalt der Klostergüter und einem kaiserlichen Befehl in dieser Sache begründet wurde26. Zwischen dem 29.  September 1561 und dem Januar 1562 wurden alle noch vorhandenen Klöster in den Stiften Magdeburg und Halberstadt von der Visitationskommission, bestehend aus dem Hofrat Friedrich von Schierstedt, dem alten Kammermeister Franz Puchbach, dem Sekretär Bartholomäus Uden sowie Vertretern der Domkapitel, auf21  Zu Georg als Dompropst vgl. Gabriel, Fürst (Anm. 4), S. 72–82. – Zur Stellung der Dompropstei gegenüber dem Kapitel vgl. Gottfried Wentz/Berent Schwineköper, Das Domstift St. Moritz zu Magdeburg, in: Dies., Das Erzbistum Magdeburg (Germania Sacra: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg: Das Erzbistum Magdeburg, 1), Teil 1, Berlin/New York 1972, 1–587, hier 133–138. 22  Gustav Hertel, Die Annahme der Reformation durch das Magdeburger Domkapitel, in: Jahrbuch des Pädagogiums zum Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg und Einladung zum Schulactus 59 (1895), 1–34, hier 11. 23  Siegfried Sack, Christlicher abschied/ Des (…) Hern Christophori von Mollendorf / der Ertzbischofflichen primat Kirchen zu Magdeburg Thumdechand Seligern / welcher den 21. Octobris / seliglich entschlaffen (…), Magdeburg 1575, Bl. Bij r. Digitalisat verfügbar bei der Bayerischen Staatsbibliothek München: (letzter Zugriff: 27.3.2018). Vgl. auch Hertel, Annahme (Anm. 22), 15. 24  Ebd., 16. 25  Zum allmählichen Übergang siehe detailliert ebd., 17–26. 26  Druck des Mandats bei Franz Schrader, Die Visitationen der katholischen Klöster im Erzbistum Magdeburg durch die evangelischen Landesherren 1561– 1651 (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 18), Leipzig 1978, 18–20, Nr. 1.



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gesucht. Die Protokolle stellten den jeweiligen Grundbesitz, das Inventar, die noch vorhandenen Klosterpersonen sowie die vorgefundenen Urkunden zusammen27. Im zweiten Schritt folgte schließlich unmittelbar anschließend eine allgemeine Kirchenvisitation, die die Stände schon 1558 angemahnt hatten28. Dass diese auf einen Beschluss eines Landtags in Calbe vom 5.  Dezember 1561 zurückzuführen ist, wie in der Literatur häufig angegeben, dürfte eher zu bezweifeln sein29. Sicher ist jedoch, dass um die Jahreswende 1561/62 im Auftrag des Erzbischofs durch eine Kommission und den erzbischöflichen Kanzler Dr. Johann Trauterbuhl eine Visitationsinstruktion erarbeitet wurde30. Nach dieser sollte am 14. Januar 1562 in der Stadt Halle und dem Amt Giebichenstein mit dem Visitationswerk begonnen werden31. Tatsächlich wurde aber erst Mitte April die Visitationskommission offiziell berufen, die aus vier Theologen, vier Adligen und zwei Hofbeamten bestand32. Gleichzeitig erfolgte der 27  Zum Verlauf der Visitation: Schrader, Visitationen (Anm. 26), 4; ders., Die landesherrlichen Visitationen und die katholischen Restbestände im Erzbistum Magdeburg, in: Ders., Reformation und katholische Klöster. Beiträge zur Reformation und zur Geschichte der klösterlichen Restbestände in den ehemaligen Bistümern Magdeburg und Halberstadt (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 13), Leipzig 1973, 85–108, hier 86; ders., Ringen, Untergang und Überleben der katholischen Klöster in den Hochstiften Magdeburg und Halberstadt von der Reformation bis zum Westfälischen Frieden (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 37), Münster 1977, 33 f. – Teiledi­ tion der Visitationsprotokolle für das Erzstift Magdeburg: Schrader, Visitationen (Anm. 26), 20–39. 28  Schreiben vom 1.  April 1558: Teildruck in: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, hrsg. v. Emil Sehling, Erste Abtheilung: Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten, Zweite Hälfte, Leipzig 1905, 400 f. 29  Eine entsprechende Nachricht scheint auf die Darstellung von Dreyhaupt, Pagus (Anm. 17), Tl. 1, 290, zurückzugehen. Allerdings zweifelte schon Hoffmann, Geschichte (Anm. 17), Bd. 2, 38, Anm. 1, an der Stichhaltigkeit dieser Nachricht, da der Landtag nur durch eine Notiz des Dompredigers Sack bezeugt sei  – der wiederum nur von der Öffnung des Doms für den evangelischen Gottesdienst bei diesem Anlass spricht  – und Belege in den Akten fehlten. Zweifel äußerte auch Hertel, Annahme (Anm. 22), 20 f. – Als Tatsache nehmen einen derartigen Beschluss dagegen an u. a. Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 28), 401; Delius, Reformationsgeschichte (Anm. 11), 116; Schrader, Ringen (Anm. 27), 34; ders., Visitationen (Anm. 26), 4; Helmut Asmus, 1200 Jahre Magdeburg. Die Jahre 805 bis 1631, Magdeburg 1999, 498 f. 30  Druck: Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 28), 407–411. Dort auch Nachweis der älteren Druckorte. 31  Ebd., 407. 32  Mandat Erzbischof Sigismunds vom 16.  April 1562, gedruckt bei Ludwig Götze, Die Protocolle der ersten evangelischen Kirchen-Visitation im erzstiftischmagdeburgischen Kreise Jüterbogk vom Jahre 1562, in: Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg 10 (1875), 117–162, 209–259, 378–390, hier 119–121. –

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Beginn der Visitation im Amt Calbe. Bis zum November 1564 wurden alle Teile des Erzstifts von den Kommissaren besucht33. Bereits im Juni 1564 hatten die Visitatoren jedoch den Landständen verschiedene Verbesserungsvorschläge vorgelegt, die später in ein undatiertes „Verzeichniss der bei der visitation festgestellten mängel“ einflossen34. Über die Ergebnisse der Visitation geben uns die flächendeckend erhaltenen Protokolle Auskunft35. Umfangreichere Ausführungen sind zu den Städten überliefert, während die Angaben zu den Landgemeinden kürzer und nach einem festen Schema gestaltet sind. Gemeinsam sind allen Protokollen die Angaben zu den einzelnen Pfarrern. So wurde festgehalten, wie alt der jeweilige Amtsinhaber sei, wann und wo er ordiniert worden sei, wer ihn berufen habe und wie lange er die Pfarre besitze. Es folgten Angaben über das Ergebnis seines Examens, gegebenenfalls mit den daraufhin beschlossenen Maßnahmen der Visitatoren. Angaben über die Einkünfte von Pfarrer, Kirchenfabrik und Küster finden sich ebenfalls in den Protokollen, dominieren diese aber nicht so eindeutig, wie es

Mitglieder der Kommission waren Sebastian Boetius, Superintendent von Halle, Valentin Sporer, Pfarrer in Calbe, Jakob Prätorius, Pfarrer in der Neustadt Magdeburg, Jakob Eisenberg, Moritz von Arnim, Hauptmann auf St. Moritzburg in Halle, Joachim von Alvensleben zu Erxleben, Andreas von Meyendorf zu Ummendorf, Christoph von Trotha zu Krosigk, Dr. jur. Antonius Freudemann und der erzbischöfliche Sekretär Bartholomäus Uden. Mit Ausnahme Sporers, Alvenslebens und Freudemanns, die ausdrücklich als abwesend bezeichnet wurden, waren die betreffenden Personen auch an der Formulierung der Visitationsinstruktion beteiligt gewesen. 33  Vgl. die unten genannten Editionen der Protokolle. Eine genaue Untersuchung des zeitlichen Ablaufs der Visitation fehlt bisher, obwohl viele Protokolle sowohl das Visitationsdatum als auch die Namen der Visitierenden aufweisen. 34  Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 28), 402–404. Das „Verzeichniss“ scheint allerdings erst nach dem Tode Sigismunds erstellt worden zu sein, worauf der von diesem noch nicht gebrauchte Titel des „Administrators“ hinweist. 35  Edition der Protokolle für den Holzkreis und den Jerichowschen Kreis bei Friedrich Hermann Otto Danneil, Protokolle der ersten lutherischen General-Kirchen-Visitation im Erzstifte Magdeburg anno 1562–1564, 3 Hefte, Magdeburg 1864, für den Kreis Jüterbog bei Götze, Protocolle (Anm. 32). Die Protokolle des Saalkreises sind bislang nicht ediert, jedoch teilweise ausgewertet bei Walter Delius, Die ersten evangelischen Pfarrer in den Kirchengemeinden des Saalkreises, in: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 17 (1928), 121– 140. – Auswertungen von Visitationsprotokollen finden sich auch bei Moritz Riemer, Die Einführung der Reformation in den Dörfern des Holzkreises. Auf Grund der Protokolle der Kirchenvisitationen in den Jahren 1562, 1563, 1564, in: Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg 36 (1901), 1–48; Walter Delius, Die kirchlichen Zustände der Reformationszeit im Amt Querfurt nach den Kirchenvisitationsakten von 1555, 1563 und 1583, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt 30 (1934), 79–90.



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in den Protokollen der zwei Jahrzehnte zuvor erfolgten brandenburgischen Visitation der Fall gewesen war36. Die Visitatoren fanden auf ihrer Rundreise durch das Land in den meisten Fällen Pfarrer vor, die bereits nach reformatorischen Grundsätzen ordiniert worden waren, oft in Wittenberg, Magdeburg, Berlin oder Stendal37. Nur in verhältnismäßig wenigen Fällen waren noch Geistliche im Amt, die bereits vor dem Rückzug Erzbischof Albrechts von Brandenburg nach Mainz 1541 ihre Tätigkeit begonnen hatten. Ausnahmen wie der Kaplan in Sandau Johannes Berndes, der seit 1518 sein Amt versah, oder der Pfarrer von Hohenseeden und Parchen im Land Jerichow, Andreas Holstein, der seit 1519 in Hohenseeden residierte, bestätigen diese Regel nur38. Etwas häufiger finden wir ehemalige Mönche, die teilweise noch in den fünfziger Jahren auf ländliche Pfarrstellen berufen wurden39. Der Bildungsstand der Pfarrer war unterschiedlich. Tendenziell kann man konstatieren, dass die jüngeren Pfarrer das Examen besser bestanden als die älteren, von denen einige sich als theologisch wenig beschlagen und konfessionell indifferent erwiesen. So wurde dem sich bereits im 65. Lebensjahr befindenden Petrus Fueg in Parchau bei Burg attestiert, er habe auf die ihm vorgehaltenen Artikel der christlichen Lehre so geantwortet, „Das man nit grundtl[ich] vorstehen noch vormerken konnen, ab er luterisch ader papistisch sey“40. Johann Ledigenhusen aus Hohengöhren im Elbe-Havel-Winkel, zur Zeit der Visitation im 70. Lebensjahr, gab selbst zu, „Das er In der lehre nit gegründet u[nd] alle seine predigten aus den buchern list“41. Dagegen wurde Constantius Blanckenberg in Zabakuck, obwohl auch schon im 65. Jahr und fast dreißig Jahre im Amt, 36  Zu den brandenburgischen Visitationen vgl. Viktor Herold, Zur ersten lutherischen Kirchenvisitation in der Mark Brandenburg 1540–45, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 20 (1925), 5–104; 21 (1926), 59–128; 22 (1927), 25–137. Für die Mediatstädte und Dörfer wurden in Brandenburg lediglich „Visitations-Matrikel“ aufgestellt, die die Einkommen der Pfarren und kirch­ lichen Sondervermögen enthielten (ebd., 21 [1926], 75–81). 37  Diese und die folgenden Aussagen stützen sich, sofern nicht einzeln belegt, auf die Auswertung der gedruckten Visitationsprotokolle. 38  Zu Berndes: Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 3, 114; zu Holstein: ebd., 17 f. 39  So beispielsweise die ehemaligen Zisterzienser aus dem Kloster Riddagshausen bei Braunschweig Johannes Voigt, der 1550 Pfarrer in Völpke wurde, und Tiburtius Hertzberg, der 1553 die Pfarrstelle in Schwaneberg bei Egeln übernahm (ebd., H. 2, 129, 47). Martin Kobbe, der 1554 sein Amt in Dönstedt bei Haldens­ leben antrat, war zehn Jahre Benediktiner im Kloster Berge vor Magdeburg gewesen (ebd., 99). 40  Ebd., H. 3, 74. 41  Ebd., 28 f.

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bescheinigt, er sei „wol gelert, hat im latein u[nd] deutschen wol geantwort, hat noch ein guet memoriam, daran die hern visit[atores] ein gefallen gehabt“42. Ähnlich gemischt sah es mit dem Bildungsstand und der Kirchlichkeit der Gemeinden aus. Zwar wird einigen bescheinigt, sie hätten gut beten können43; daneben finden sich aber auch ausgesprochen negative Urteile, die auf eine weitgehende Entkirchlichung schließen lassen. So fanden die Visitatoren im Flecken Jerichow, „welchs sich vor eine stadt ausgibt“, nur wenige Leute, „Die da hetten rechtschaffen beten konnen, Gar weinig haben die Zehen geboth u[nd] den glauben sagen konnen, v[on] den hochwirdigen Sacramenten haben sie fast nichts gewust“. „Ist ein gar ehrloser hauffen“, lautete das Fazit der Kommission, das allerdings in seiner Härte nicht ganz typisch, aber auch nicht einzigartig war44. Wirkten die Ermahnungen der Visitatoren – „Inen ist mit allem ernste allerley undersagt“ – hier etwas hilflos, werden in anderen Fällen konkrete Maßnahmen deutlich. Um den mangelhaften Kenntnisstand in Sachen Katechismus zu heben, sollten im Amt Wanzleben jeden Sonntagnachmittag fünf Gemeindeglieder den Katechismus öffentlich aufsagen, und zwar „nicht allein die iugend, sondern auch die alten sonderlich die haus­ w[irte]“. Immerhin wurde eine Möglichkeit zur Vorbereitung eröffnet. So sollten die der Reihe nach zu Examinierenden jeweils am Sonntag zuvor bekannt gegeben werden45. Der Übergang zur reformatorischen Lehre war im Lande – diese Aussage lassen die Visitationsprotokolle mit einiger Vorsicht zu  – nicht nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten, sondern auch in unterschiedlicher Konsequenz erfolgt. Wer aber waren die Träger dieses Übergangs gewesen? Ging die Initiative von einzelnen Gemeinden aus, oder waren es 42  Ebd.,

48. etwa in Groß Germersleben in der Börde, wo Pfarrer Martin Herzog, ein ehemaliger Zisterzienser aus Riddagshausen, aufgrund dessen trotz seiner Schwerhörigkeit im Amt bleiben durfte: ebd., H. 2, 40. Ähnlich in Gübs im Jerichowschen Kreis: ebd., H. 3, 82.  – Mit dem „Beten“ war offenbar vor allem die Kenntnis des Vaterunsers gemeint, da sonstige Kenntnisse im Katechismus an verschiedenen Stellen gesondert aufgeführt werden. – Riemer, Einführung (Anm. 35), 14, überschätzt die Aussagekraft der Protokolle sicherlich, wenn er solche Passagen als „das untrüglichste Kennzeichen wahrer Religiosität“ ansieht. 44  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 3, 50. – Vgl. auch das harsche Urteil der Visitatoren über die Bewohner der Stadt Frose, die als „gotlose leuthe“ und „erlose vorzweiffelte Buben“, die nicht zur Kirche gingen und „allen muthwillen“ trieben, bezeichnet wurden (ebd., H. 1, 35 f.). Äußerst negativ sind auch die Urteile über die Bauern im Amt Sandau (ebd., H. 3, 27) und die Bewohner des Amtes Dahme (Götze, Protocolle [Anm. 32], 223). 45  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 2, 24. 43  So



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­ atrone oder lokale Herrschaften? Und schließlich: Lässt sich eine zeit­ P liche Schichtung beobachten? II. Reformation von unten? – Die Städte des Erzstifts Werfen wir zunächst einen Blick auf die Städte des Erzstifts, aus denen noch verhältnismäßig viele Nachrichten vorliegen. Die Magdeburger Ereignisse sind an vielen Stellen ausführlich geschildert worden und können daher hier lediglich gestreift werden46. Nachdem es bereits 1521 zu ersten Übergriffen auf Geistliche gekommen war, setzte der Rat seit Sommer 1522 der reformatorischen Bewegung in der Stadt keinen nennenswerten Widerstand mehr entgegen. Im Sommer 1524 wurden durch Gemeindeausschüsse an allen Pfarrkirchen evangelische Pfarrer eingesetzt. Der Rat blieb nach außen zurückhaltend, erkannte die Entwicklung jedoch durch Entsendung von Mitgliedern in die Gemeindeausschüsse an. Im September wurde Nikolaus von Amsdorf in das Amt des Pfarrers an St. Ulrich und zum leitenden Geistlichen der Stadt berufen47. Im August 1525 erkannte auch Erzbischof Albrecht unter dem Eindruck der Bedrohung durch die aufständischen Bauern die Einführung der Reformation in der Altstadt widerstrebend an48. Die Stadt war damit – obwohl sie noch immer zahlreiche Klöster und Stifte in ihren Mauern beherbergte  – faktisch aus dem Kirchenwesen des Erzstifts ausgeschieden und wurde dementsprechend zwischen 1562 und 1564 nicht ­visitiert49. Auf die Verhältnisse in der Stadt Halle wurde bereits hingewiesen. Während der vermeintlich stabilen Phase der dreißiger Jahre hatte die Reformation in der Bürgerschaft mehr und mehr Anhänger gefunden, die sich 1541 nach der faktischen Kapitulation des Erzbischofs zu Wort meldeten. In den Verhandlungen zwischen Rat und Gemeinde um die Übernahme des Teils der auf dem Landtag bewilligten Steuer bildete sich ein Bürgerausschuss aus den vier Gemeinheiten, der die Einführung lutherischer Prediger forderte. Wie in Magdeburg agierte der Rat, der bis 1541 aus ausgewählten altgläubigen Vertretern bestand, zunächst zögerlich, beteiligte sich aber dann doch an der Berufung des Justus Jonas. Auch in 46  Vgl.

oben Anm. 10. Wirken Amsdorfs in Magdeburg vgl. jetzt Hans-Otto Schneider, Amsdorf als Statthalter Luthers in Magdeburg, in: Maren Ballerstedt/Gabriele Köster/ Cornelia Poenicke (Hrsg.), Magdeburg und die Reformation, Teil  1: Eine Stadt folgt Luther (Magdeburger Schriften, 7), Halle (Saale) 2016, 113–127. 48  Miehe, Magdeburg (Anm. 10), 331; Schneider, Amsdorf (Anm. 47), 117. 49  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 1, 1. 47  Zum

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der Folge blieb man in der erzbischöflichen Residenzstadt vorsichtig. Immerhin konnte 1543 eine Kirchenordnung erlassen werden, und 1546 wurde die Umgestaltung des Kirchenwesens vom neuen Erzbischof Johann Albrecht anerkannt50. Die spärlichen Nachrichten aus den kleineren Städten des Erzstifts lassen meist nicht deutlich erkennen, wann sich in ihnen die reformatorische Predigt durchsetzte und wer die treibenden Kräfte hierbei waren. In Jüterbog zeigten sich in den zwanziger Jahren einige Anzeichen einer beginnenden Stadtreformation. Bereits 1524 war es dort zu einigen Neuerungen in den Zeremonien gekommen und mit Thomas Spies ein Prediger berufen worden, der offenbar schon damals der lutherischen Lehre zuneigte. 1526 wurde er wohl zusammen mit anderen Predigern von in erzbischöflichem Auftrag handelnden Reitern gefangen genommen, was zu Unruhen in der Stadt führte. Der Rat wurde gezwungen, sich für die Prediger einzusetzen. Spies wurde 1527 freigelassen, konnte aber nicht nach Jüterbog zurückkehren. Erst 1539 erfolgte ein Neuansatz, als Vertreter der Stadt sich beim inzwischen evangelischen Dompropst über die Verwaltung des Predigtstuhls durch die Franziskaner beschwerten. Oft kämen kaum zehn Personen zur Predigt. Die Jüterboger baten daher Georg um Fürsprache bei Erzbischof Albrecht hinsichtlich der Berufung ­eines evangelischen Predigers. Ob Georg aktiv wurde, muss offen bleiben. Erst nach 1540 erfolgte mit dem Übertritt des Propstes des Zisterzien­ serinnenklosters vor der Stadt der endgültige Durchbruch der Reformation51. Aus dem nordwestlich von Halle gelegenen Könnern wird berichtet, dass dort Ende der dreißiger Jahre der bisherige Pfarrer Antonius Zahn zur lutherischen Predigt überging und nach einer Feuersbrunst vermutlich um 1539 auf dem Giebichenstein gefangen gesetzt wurde. Erst nach der Durchsetzung der Reformation in Halle kam es 1542 zur Einsetzung eines Nachfolgers52. Im selben Jahr findet sich auch in Löbejün der erste 50  Delius, Reformationsgeschichte (Anm. 11), 70–140; zur Kirchenordnung: 96 f., zur Anerkennung der Reformation: 100–103; Freitag, Residenzstadtreformation (Anm.  11), 113 f. 51  Eduard Telle, Urkundliche Nachrichten zur Geschichte der kirchlichen Reformation in der Stadt Jüterbog, in: Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen 4,3 (1839), 114–132, hier 114 f., 118; Ines Staats, Die Jüterboger Predigerentführung von 1526, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 68 (2017), 73–93. Zu älteren Auffassungen über die Predigerentführung vgl. Carl Christian Heffter, Urkundliche Chronik der alten Kreisstadt Jüterbock und ihrer Umgebungen, Jüterbock 1851 (ND Jüterbog 2007), 319 f. 52  Die Beschwerden der Stadt Cönnern vom Jahr 1578, in: Neue Mittheilungen aus dem Gebiete historisch-amtiquarischer Forschungen 4, H. 4 (1838), 99–113,



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reformatorische Prediger53. Gleichzeitig wurde in Aken ein evangelischer Prädikant durch den Rat angenommen, wobei Fürst Georg von Anhalt Unterstützung leistete54. Auch der erste lutherische Pfarrer in Neuhaldensleben, Thomas Moller, wurde 1542 vom Rat berufen, nachdem man vorher den vergeblichen Versuch unternommen hatte, beim ordentlichen Kollator, dem Propst des Klosters Gottesgnaden, einen Vertreter der neuen Lehre zu erhalten55. Schließlich ist für Calbe das erste Abendmahl unter beiderlei Gestalt für den Sonntag nach Fronleichnam desselben Jahres bezeugt. Wie in Jüterbog hatte es auch hier bereits 1524 reformatorisch beeinflusste Unruhen gegeben56. Etwas anders stellte sich die Lage in Wanzleben dar, das wie Calbe Sitz eines landesherrlichen Amtes war. Als zur Zeit des Amtshauptmanns Dietrich von Wirthen (vermutlich in der ersten Hälfte der 1540er Jahre) die Pfarre vakant geworden sei, so berichtete der Rat anlässlich der Visitation 1563, habe der Hauptmann gemeinsam mit dem städtischen Rat den Prädikanten Christian Schüler berufen. Dieser sei in der Folge auch vom ordentlichen Kollator, dem Magdeburger Gangolfstift, mit der Pfarre beliehen worden57. Dagegen scheint es in Wolmirstedt wiederum der Rat gewesen zu sein, der die Initiative zur Einführung der evangelischen Predigt ergriff. Zunächst hätten sie, so der Bericht von 1564, einige wenige Jahre aus ihren eigenen Einkünften Schule und Kirche gehalten und die Kirchendiener bestallt, was aber aufgrund der beengten finanziellen Verhältnisse nicht lange gedauert habe. Schließlich habe sich auf Verwenden des Hauptmanns Valentin von Angern Herzog Georg von Mecklenburg, der das Amt Wolmirstedt seit 1550 besetzt hielt, dafür verwendet, dass das Kloster, hier 100. – Vgl. Der Briefwechsel des Justus Jonas, bearb. v. Gustav Kawerau, Bd. 2 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen, 17), Halle 1885, Nr. 803 (Jonas an Fürst Georg von Anhalt, 29. Mai 1546). – Delius, Pfarrer (Anm. 35), 130 f., und Reformationsgeschichte (Anm. 11), 90, setzt die Gefangennahme Zahns ins Jahr 1541. 53  Delius, Pfarrer (Anm. 35), 132. 54  Otto Gorges, Geschichte der Stadt Aken an der Elbe (Beiträge zur Anhaltischen Geschichte, 10), Cöthen 1908, 24 f.; Schrader, Kardinal Albrecht (Anm. 14), 350 f. 55  Peter Wilhelm Behrends, Neuhaldenslebische Kreis-Chronik oder Geschichte aller Oerter des landräthlichen Kreises Neuhaldensleben im Magdeburgischen, Bd. 1, Neuhaldensleben 1824, 133 f. 56  Gustav Hertel, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904, 28–32. 57  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 1, 18. – Dietrich von Wirth(en) ist seit 1539 als Hauptmann zu Wanzleben bezeugt (Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Magdeburg [LASA, MD], Cop. 72, Bl. 278r). Im Oktober 1545 war er noch im Amt (Staatsarchiv Würzburg, Mainzer Bücher verschiedenen Inhalts Nr. 8, Bl. 237r).

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welches zuvor die Pfarre versorgt hatte, sich an der Unterhaltung des Pfarrers beteilige. Der 1552 eingesetzte Pfarrer Andreas Werner hatte jedenfalls seine Vokation vom Herzog mit Zustimmung der Gemeinde58. Es hat somit den Anschein, als hätte der Rückzug Erzbischof Albrechts aus dem Erzstift Magdeburg auch in den kleinen Städten den Anstoß dazu gegeben, sich endgültig der Reformation zuzuwenden. Die Protokolle der Visitation von 1562–1564 zeigen uns in vielen Fällen bereits die zweite Generation lutherischer Pfarrer. In der Mehrzahl waren sie in den 1550er Jahren berufen worden und hatten ihre Ordination in Wittenberg oder Magdeburg erhalten. Nur in wenigen Kleinstädten, so in Loburg und Möckern, hatten sich Amtsinhaber gehalten, die schon in vorreformatorischer Zeit berufen worden, nun aber zur Reformation übergegangen waren59. Berufen worden waren die Pfarrer in der Regel von Rat und Gemeinde. In der Neustadt Magdeburg hatte der Pfarrer seine Vokation von Rat und Kirchenvätern60, in der Sudenburg vom erzbischöflichen Möllenvogt, Rat und Gemeinde61. Frühere geistliche Patrone waren beiseite gedrängt worden. So hieß es im Abschied von Groß Saltze: „Die pfarre sol vorhin vom probste zu unser lieben frawen zu Magdeburck zu lehen gangen sein vnnd berichtet der Rath, das sie numehr die Collation an sich bracht“.62. Selbst in der unmittelbar südlich des Doms gelegenen Magdeburger Vorstadt Sudenburg hatte das Domkapitel 1555 seine Pa­ 58  Deutlicher als die gekürzte Version von Danneil (ebd., H. 1, 43) ist der Wortlaut des Berichts in LASA, MD, A 12 Gen., Nr. 2434, Bl. 154r. – Vgl. auch Friedrich Danneil, Der Kreis Wolmirstedt. Geschichtliche Nachrichten über die 57 jetzigen und die etwa 150 früheren Ortschaften des Kreises (Beitrag zur Geschichte des magdeburgischen Bauernstandes, 1), Halle a.S. 1896, S. 694 f. Danneil sieht darin in Anlehnung an das Erbbuch der Stadt Wolmirstedt von 1679 Werner als ersten evangelischen Geistlichen der Stadt an. Nach dem von ihm selbst edierten Visitationsprotokoll scheint es aber zumindest temporär ein Vorspiel gegeben zu haben. 59  Ludolf Rosemeyer in Loburg hatte seine Weihe 1520 im Bistum Cammin erhalten und war Ordensgeistlicher in Greifswald gewesen, bevor der 1533 von „den v. adel“ und der Gemeinde nach Loburg berufen wurde. Er erhielt von den Visitatoren ein gutes Zeugnis (Danneil, Protokolle [Anm. 35], H. 3, 95). Noch länger, nämlich seit 1521, war Johannes Dreger in Möckern im Amt. An ihm fand die Gemeinde im Grunde nichts auszusetzen, doch mache sich sein Alter schon sehr bemerkbar (ebd., 110). – Aus vorreformatorischer Zeit gehalten hatte sich auch der bereits genannte Kaplan in Sandau (vgl. oben Anm. 38). – Unklar bleibt, seit wann Hermann Gaul in Schönebeck im Amt war, der etwa 1537 in Erfurth „Im Babs­ tumb“ ordiniert, aber bereits von Rat und Gemeinde berufen worden war. Den Zeitpunkt der Berufung nennt das Visitationsprotokoll nicht (ebd., H. 1, 29). 60  Ebd., 33. 61  Ebd., 35. Ähnlich verhielt es sich in Oebisfelde, wo Amt, Rat und Gemeinde den Pfarrer berufen hatten (ebd., 47). 62  Ebd., 1.



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tronatsrechte nicht mehr wahrnehmen können. Das Beispiel Wanzleben zeigt jedoch, dass ein geistliches Patronat erhalten bleiben konnte, wenn die entsprechende Institution bereit war, letztlich die Berufung eines evangelischen Predigers mitzutragen. So behielt das Magdeburger Gangolfstift bis zu seiner Auflösung im Jahr 1810 das ius patronatus, während der Rat hinsichtlich der ersten Pfarrstelle ein ius eligendi besaß63. Die Tatsache, dass die Gemeinde regelmäßig neben dem Rat als Berufungsinstanz genannt wird, könnte darauf hindeuten, dass auch in vielen kleineren Städten ähnlich wie in Magdeburg und Halle die reformatorische Bewegung ursprünglich aus der Bürgerschaft heraus entstanden war, bevor sich die Räte nach einigem Zögern an die Spitze gesetzt hatten. III. Die ländlichen Gebiete – Reformation durch den Adel oder Gemeindereformation? Noch bruchstückhafter als für die kleineren Städte stellt sich die Quellenlage für die ländlichen Gebiete des Erzstifts dar. Nur selten lässt die Überlieferung einen Blick auf die Geschehnisse vor der allgemeinen Visitation zu. Einer dieser raren Einblicke führt uns in den östlichsten Teil  des Territoriums, in den Winkel zwischen Elbe und Havel. Im Dorf Buckow bei Rathenow hatte sich Margarete von Krüsicke, Witwe des Joachim von Tresckow, nach dem Tod ihres Mannes, offenbar Anfang der 1530er Jahre, der reformatorischen Lehre zugewandt. Durch die Lektüre von Flugschriften Luthers erleuchtet, so berichtet die Leichenpredigt für ihre Tochter, habe sie „die Bäpstliche Grewel gemercket / die Warheit erkant / vnnd die reine Lehr lieb gewonnen“. Daraufhin sei sie nach Wittenberg gereist, habe Luther persönlich um Rat gefragt und nach ihrer Rückkehr in ihrer kleinen Herrschaft „eine Reformation in allen ihren Kirchen angestellet / die Meßpfaffen abgeschafft / Evangelische Prediger angenommen / Gottes Wort lauter und rein predigen / vnd das Abendmal in beyderlei gestalt ausspenden lassen“64. Allerdings war dieser adlige Reformationsversuch auf dem Lande nicht von langer Dauer. Im September 1534 beklagte Margarete in einer Flugschrift, zu der der Reformator Nikolaus von Amsdorf das Vorwort verfasst hatte, gegenüber dem zustän63  Friedrich Hoffmann, Geschichte des Königlichen Domainen-Amts und der Kreis-Stadt Groß-Wanzleben, Berlin 1863 (ND Berlin 2002), 195 f. 64  Sabell Kemenitz, LeichPredigt. In dem Begräbnis der Edlen Ehren unnd Tugentreichen Frawen Catharina von Treßkowen / des […] Andreas von Luderitzen Witwen […], Magdeburg 1603 (HAB Wolfenbüttel, Db 2890 [34b], http://diglib. hab.de/drucke/db-2890-34bs/start.htm [letzter Zugriff 7.4.2018]), Bl. Ciii r–v.

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digen Diözesanbischof, dem Bischof von Havelberg, die Festnahme ihres Pfarrers durch den bischöflichen Offizial und begründete ausdrücklich das reformatorische Abendmahl und die deutsche Messe65. Einen besonderen Aspekt gewinnt der Fall durch die Tatsache, dass sich Margaretes Sohn Joachim am Hof des Erzbischofs Albrecht in Halle befand und sich der Landesherr – nach Aussage der Flugschrift – um Vermittlung bemühte66. Der Ausgang der Sache ist unbekannt, doch zeigt sie, dass es – aus persönlichen Glaubensüberzeugungen motiviert  – bereits zur Zeit Al­ brechts adlige Versuche gegeben hat, die Reformation in lokalen Herrschaften einzuführen. Ein noch früheres Beispiel adliger Hinwendung zur Reformation bietet Matthias von der Schulenburg auf Altenhausen im Holzkreis nahe der Grenze zur Altmark. Bereits 1524 rief dieser einen lutherischen Prediger aus Wittenberg auf sein Gut und soll als erster Adliger im Stift den lutherischen Gottesdienst eingeführt haben67. Ob es dem Schulenburger auch während der dreißiger Jahre im Grenzland zwischen Brandenburg und Mecklenburg gelang, einen evangelischen Prediger zu halten, muss offen bleiben. Als die Visitatoren jedenfalls 1564 nach Altenhausen kamen, fanden sie dort den Pfarrer Paulus Gronemann vor, der 1541 in ­Celle ordiniert worden war und sein Amt bereits 1542 angetreten hatte. Allerdings zeigte sich auch, dass eine frühe Hinwendung zur Reforma­ tion nicht unbedingt eine kirchliche Gemeinde nach sich ziehen musste: Die Bauern im Kirchspiel, so stellten die Visitatoren fest, „haben sich mit ­beten also erzeigt, das man dencken mochte, die christenheit hette zu ­Aldenhausen ein ende“68. Gronemann war damit der dienstälteste Pfarrer in einem adligen Pa­ tronatsdorf im nördlichen Erzstift, der nicht mehr „im Papsttum“ ordi-

65  Ursula Möcke, Margareta von Treskow, eine unbekannte Flugschriftenverfasserin der Reformationszeit, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 108 (1997), 176– 186. 66  Ebd., 182 f. 67  Tobias Jerasius, Continuation Oder Weiterer Volführung des Adelichen/ Geschlechts Derer von der Schulenburg/ Durch die letzten beyde HäuptLinie/ des alten oder weissen Theils/ Die man Berndes und MatthisesLinien pflegt zu nennen: Begriffen im VI. und VII. Buch. Das Vierdte Theil, Magdeburg 1612 (HAB Wolfenbüttel, Db 4257 [6], http://diglib.hab.de/drucke/db-4257-6s/start.htm [letzter Zugriff 7.4.2018]), 25. – Vgl. Georg Schmidt, Das Geschlecht von der Schulenburg. II. Teil: Die Stammreihe, Beetzendorf 1899, 223. 68  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 2, 112. Riemer, Einführung (Anm. 35), 20 f., sucht den Grund für diese Unkirchlichkeit in der frühen Einführung der Reformation, auf die die Bevölkerung nicht vorbereitet gewesen sei.



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niert worden war, also noch die katholischen Weihen empfangen hatte69. Frühe Berufungen eindeutig reformatorischer Prediger finden wir auch in Stülpe im Kreis Jüterbog, wo die Patronin von Hake 1544 den in Wittenberg ordinierten Clemen Herzberg vozierte70, und in Eilsleben in der Börde, wo Antonius Holdefreundt, 1547 in Halle ordiniert, im selben Jahr von Andreas von Meyendorf und der Gemeinde auf die Pfarrstelle berufen wurde71. Auch Meyendorf gehörte zu den frühen Befürwortern der Reformation unter dem magdeburgischen Adel72. Im Unterschied dazu fanden sich auf den Pfarrstellen in den Dörfern der Familie Kotze um Groß Germersleben im Holzkreis zur Zeit der Visitation durchgehend ehemalige Mönche, die teilweise schon längere Zeit amtierten. In Klein Germersleben, wo die Familie auch das Patronat über die Pfarrkirche besaß, wurde 1540 der ehemalige Benediktiner aus Kloster Gröningen Johann Matthias berufen73. Auch nach Groß Germersleben kam 1547 ein ehemaliger Benediktiner, Martin Herzog aus dem Kloster Riddagshausen. Allerdings besaßen hier nicht die Ortsherren das Patronat, sondern die Herren von Warburg, was die Kotze nicht an der Berufung hinderte, die sie zusammen mit der Gemeinde vornahmen74. Bereits 1535 war in das dritte Kotze‘sche Dorf, Klein Oschersleben, der ehemalige Dominikaner aus Seehausen in der Altmark Thomas Molitor von Junkern und Gemeinde geholt worden75. Auch diese Besetzung könnte auf eine frühe Hinwendung der Familie zur Reformation hindeuten. Es scheint jedenfalls, als habe sie nach dem Tod ihres Seniors, des ehemali-

69  Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Auswertung der gedruckten Visitationsprotokolle aus dem nördlichen Erzstift. Die Verhältnisse im Saalkreis sind anhand der Darstellung von Delius, Pfarrer (Anm. 35), nicht immer genau erkennbar, scheinen aber vergleichbar gewesen zu sein. 70  Götze, Protocolle (Anm. 32), 222. 71  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 2, 27. 72  Zu seiner Biographie vgl. Fritz Schwerin, Fünf Edelleute aus den vorigen ­Tagen: Daniel von der Schulenburg auf Altenhausen 1538–1594. Jacob von der Schulenburg auf Angern, 1515–1576. Joachim von Alvensleben auf Erxleben, 1514–1588. Andreas von Meyendorff auf Ummendorf, 1522–1583. Ludolf von Alvensleben auf Hundisburg, 1511–1596. Aus den auf Dieselben gehaltenen Leichenpredigten und andern Quellen zusammengestellt, Halle 1859, 92–105. Vgl. auch Christoph Volkmar, Die Reformation der Junker. Landadel und lutherische Konfessionsbildung im Mittelelberaum (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 92), Heidelberg 2019, 139 f. Ich danke Herrn Dr. Volkmar herzlich für die Möglichkeit, einige Teile des Manuskripts bereits im Vorhinein einsehen zu dürfen. 73  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 2, 42. 74  Ebd., 40. 75  Ebd., 41.

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gen erzbischöflichen Marschalls und Rats Hans Kotze, im April 153576 gezielt Ordensgeistliche berufen, die ihr Kloster verlassen hatten. Eine gewisse Uneindeutigkeit im Bekenntnis konnte in der Übergangszeit durchaus von Nutzen sein. Zur Zeit der Visitation waren die Berufenen bereits recht alt und bekamen eher schlechte Zeugnisse, doch wurde an ihrer reformatorischen Einstellung kein Zweifel geäußert. In den genannten Fällen kann man mit einiger Sicherheit vermuten, dass es sich bei ihnen um die erste Generation evangelischer Geistlicher handelt. Ansonsten geht aus den Visitationsprotokollen von 1562–1564 nicht hervor, ob die angetroffenen Geistlichen bereits reformatorisch predigende Vorgänger gehabt haben. Die Masse der von adligen Patronen berufenen evangelischen Pfarrer, die die Visitatoren im Holzkreis und im Jerichowschen Kreis antrafen, kam in den 1550er Jahre ins Amt. In der Regel hatten sie ihre Ordination in Wittenberg, Magdeburg oder auch in Stendal oder Berlin erhalten und waren beim Amtsantritt noch recht jung77. Nur selten wurde ein in anderen Gemeinden erfahrener Pfarrer für die Pfarrstelle in einem adligen Patronatsdorf gewonnen78. Gelegentlich wurden auch in späteren Jahren noch Personen mit altgläubiger ­Vergangenheit berufen, etwa wenn Ludolf von Alvensleben auf Hundisburg 1560 mit Heinrich Willing in Ackendorf einen Geistlichen einsetzte, der zuvor acht Jahre lang Benediktinermönch im Kloster Ammensleben gewesen war. Der Pfarrer zeigte sich in der Visitation dann auch langsam in seinen Antworten79. Mit der Berufung eines in Wittenberg oder Magdeburg ordinierten Seelsorgers wurde der endgültige Übergang zur Reformation vollzogen, und dies scheint regelmäßig im Verlauf der fünfziger Jahre der Fall gewesen zu sein. Die adligen Patrone hatten dabei ihre Stellung halten können: Auch in Dörfern, in denen sie nicht die Grundherrschaft besaßen,

76  Urkunden-Regesten zur Geschichte und Genealogie der Herren von Kotze […], hrsg. v. George Adalbert von Mülverstedt, Magdeburg 1866, 282.  – Zur Biographie vgl. auch Scholz, Residenz (Anm. 12), 329. 77  Zu den jüngsten Geistlichen gehörten Joachim Gantkow in Derben, der sich zur Zeit der Visitation (wohl Ende 1562) im 23. Lebensjahr befand und die Pfarre 1½ Jahre zuvor von den Edlen von Plotho erhalten hatte (Danneil, Protokolle [Anm. 35], H. 3, 56), und Andreas Müller in Buckow. Letzterer stand im 24. Lebensjahr und war drei Jahre zuvor (wohl 1559) vom Patron Hans von Tresckow berufen worden (ebd., 34). 78  Eine der Ausnahmen war Dionysius Kleinow in Schartau und Niegripp im Jerichower Land, der ca. 1560 von Jürgen und Amandus von Tresckow berufen wurde, seine Ordination aber schon 1546 in Ziesar erhalten hatte (ebd., 73). 79  Ebd., H. 2, 98.



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konnten sie in aller Regel die Prediger berufen80. Nur in einigen Orten mit landesherrlicher oder geistlicher Ortsherrschaft reichte ihr Einfluss offenbar nicht aus. So war im Dorf Wellen, das zum erzbischöflichen Amt Dreileben gehörte, statt der Patrone aus der Familie Alvensleben 1548 die Gemeinde aktiv geworden und hatte den ehemaligen Riddagshäuser Zisterzienser Johannes Moller voziert81. Anders waren die Verhältnisse in Orten mit geistlichem Patronat. Schon 1538 hatte in Bornstedt, das zur Dompropstei gehörte und in dem der Dompropst auch das Patronatsrecht ausübte, die Gemeinde den Pfarrer berufen82. Mag dies noch eine Konzession von Dompropst Georg von Anhalt gewesen sein, der selbst bereits der Reformation anhing, so scheint es bald darauf zu regelrechten Usurpationen gekommen zu sein. 1541 wurde im Flecken Seehausen in der Börde, der den von der Asseburg gehörte, Pfarrer Petrus Richter von diesen und der Gemeinde ins Amt geholt. Das Patronat lag beim Zisterzienserinnenkloster Meyendorf, das allem Anschein nach beiseite geschoben wurde. Vielmehr ließ sich ­Johann von der Asseburg das Ordinationszeugnis des neuberufenen Pfarrers aushändigen und gab es nicht mehr zurück  – vielleicht ein erstes Zeichen für ein beanspruchtes lokales Kirchenregiment83. Das Zusammenwirken von Herrschaft und Gemeinde findet sich in Orten in adligem Besitz mit geistlichem Patronat84. In Dörfern, in denen die Herrschaft bei einem erzbischöflichen Amt lag, wurde dagegen meist die Gemeinde allein aktiv. So war in Brumby im Amt Calbe bereits 1542 der ehemalige Mönch Thomas Kruger statt vom ordentlichen Kollator, dem Archidiakon von Calbe, von seinen Pfarrleuten berufen worden. Im Examen der Visitatoren zeigte sich, dass er ein typischer Vertreter der Übergangsgeneration war, der „vff die furgehaltenen Artt. der Christl[ichen] Lehre gar vbel geandtwortet“85. Anders sah es meist mit den ab der ­Jahrhundertmitte eingesetzten Geistlichen aus. In Domersleben im Amt 80  So die von Plotho um 1561 in Derben, das der Familie Kage gehörte (s. Anm. 77), und Hans von Tresckow in Lübars, das sich im Besitz der von Quitzow befand (ebd., H. 3, 27). 81  Ebd., H. 2, 120. 82  Ebd. Die Visitatoren stellten dem Pfarrer Jodocus Guldersem, der bereits 1522 in Einbeck geweiht worden war, ein denkbar schlechtes Zeugnis aus: Er sei ein alter, abgelebter Mann und habe von der christlichen Lehre wenig verstanden. Dennoch blieb er im Amt. 83  Ebd., 32 f. 84  So auch in Farsleben 1545 (ebd., 86), Klein Wanzleben 1546 (ebd., 30), Beendorf 1554 (ebd., 135), Dönstedt 1554 (ebd., 99), Schermcke 1557 (ebd., 31) und ­Ingersleben 1562 (ebd., 133). 85  Ebd., 1.

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Wanzleben wurde Georg Seßlich, der 1550 in Magdeburg ordiniert und im selben Jahr von der Gemeinde ernannt worden war, bescheinigt, er sei „wol geleret, vorstehet die lere recht“. In seiner Gemeinde nutzte dies aber anscheinend wenig, da „seine pfarleute nicht wol beten kont“. Auch Domersleben besaß eigentlich ein geistliches Patronat, denn die Pfarre ging vom Domkapitel zu Lehn86. Nur selten waren die erzbischöflichen Amtleute bei der Einsetzung der Pfarrer initiativ geworden. 1549 wurde Markus Schneider von Amt und Gemeinde nach Biederitz berufen. Der Ort gehörte zum Amt der Möllenvogtei, und auch das Patronat lag beim Möllenvogt. Auch hier handelte es sich auffälligerweise um einen Geistlichen der älteren Generation, der 1543 in Ziesar, also wohl vom Brandenburger Bischof Matthias von Jagow, ordiniert worden war. Die Visitatoren stellten ihm ein mäßiges ­ Zeugnis aus87. Seit Beginn der fünfziger Jahre wurden auch in den Amtsdörfern mit einiger Regelmäßigkeit Geistliche berufen, die bereits eine reformatorische Ausbildung durchlaufen hatten. Die Initiative ging dabei zumeist von den Gemeinden aus88. Dass 1560 Amtmann Valentin von Angern zu Wolmirstedt wieder den Pfarrer von Meitzendorf einsetzen konnte, blieb vorerst ein Einzelfall89. In den Ämtern, die nicht durch Beamte verwaltet, sondern an Adlige verpfändet waren, konnten diese in der Regel das Heft in der Hand behalten. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist Lippold von Klitzing, Amtmann von Jüterbog90. Seit 1530 Pfandinhaber seines Amtes, seit 1545 auch des benachbarten Amtes Dahme, neigte er offenbar schon früh der lutherischen Lehre zu, machte dies aber wohl erst nach dem Rückzug Erzbischof Albrechts von Brandenburg aus dem Erzstift durch die Einsetzung reformatorisch gesinnter Pfarrer öffentlich. 1544 berief er im Amtsdorf Fröden mit Matthias Moller einen ehemaligen Franziskaner aus dem Kloster Jüterbog zum Pfarrer, der wohl zur Reformation überge-

86  Ebd.,

21. H. 3, 75. 88  So etwa im Amt Wolmirstedt, in dem geistliche Patronate vorherrschten, in Barleben 1552 (ebd., H. 2, 54), Ebendorf 1553 (ebd., 52), Jersleben 1553 (ebd., 61), Elbeu 1556 (ebd., 53), Meseberg 1556 (ebd., 60) sowie in Glindenberg 1559 (ebd., 64). Ebenso in in Kamern 1549 (ebd., H. 3, 23) und Kuhlhausen 1551 (ebd., 24) im Amt Sandau. 89  Ebd., 50. Wer Patron der Pfarre in Meitzendorf war, konnte den Visitatoren 1564 niemand sagen. 90  Zu seiner Biographie vgl. Georg Schmidt, Die Familie von Klitzing. Teil  II: Die Genealogie des Geschlechts, Charlottenhof 1903, 51–56; Scholz, Residenz (Anm.  12), 339 f. 87  Ebd.,



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treten war91. Auch die weiteren nachweisbaren Berufungen erfolgten durch den Pfandinhaber, wobei es sich nun um in Wittenberg und Berlin Ordinierte handelte92. Klitzing handelte damit wie ein adliger Gerichtsherr; ihm kam entgegen, dass sich auch das Patronatsrecht der Pfarren in beiden Ämtern mit jeweils einer Ausnahme in seiner Hand befand93. Ähnliche Verhältnisse finden sich im Amt Altenplathow im Jerichowschen Kreis, das 1526 an die Familie von Meyendorf verschrieben worden war94. In Groß Wusterwitz, Genthin und Altenplathow besaß das Amt das Patronat, das die von Meyendorf in den vierziger Jahren auch ausübten. Nach Groß Wusterwitz wurde noch 1544 der Havelberger Domherr Gregor Sump berufen, der den Visitatoren 1562 als „frecher Man“ und als konfessionell uneindeutig erschien95. Im Flecken Genthin musste bei der Berufung des in Magdeburg ordinierten Johannes Schuefmann 1545 der Gemeinde ein Mitspracherecht eingeräumt werden, während die benachbarte Pfarre Altenplathow im selben Jahr wiederum von den ­ Pfandinhabern allein besetzt werden konnte96. Offenbar hatten die von Meyendorf Mitte der vierziger Jahre den Übergang zur Reformation vollzogen. Selbstverständlich war die starke Stellung der Pfandherren aber auch nicht, wie das Beispiel des benachbarten Amtes Jerichow zeigt, das sich im Besitz der Familie von Plotho befand97. Im Flecken Jerichow hatte die Gemeinde 1546 das Heft an sich gerissen, in Großmangelsdorf amtierte noch ein Pfarrer aus vorreformatorischer Zeit, den das Kloster Jerichow als Inhaber der Pfarre eingesetzt hatte, und in Redekin hatten die von Meyendorf zu Altenplathow das Patronat inne und 1549 auch den

91  Götze, Protocolle (Anm. 32), 161 f. Das Examen der Vistatoren hatte Moller „wol bestanden“. 92  Berufungen im Amt Jüterbog in Langenlipsdorf 1547 (ebd., 157), Dennewitz 1553 (ebd., 150), Bochow 1556 (ebd., 155), Rohrbeck 1556 (ebd., 154). Für Werbig 1556 (ebd., 160) und Niedergörsdorf (ebd.,152) ist der Erzbischof als Vokator im Visitationsbericht angegeben, doch kann angesichts der starken Stellung Lippolds im Jüterboger Kreis davon ausgegangen werden, dass der Amtmann für den Landesherrn handelte. – Im Amt Dahme in Gerbersdorf (ebd., 211), Ihlow (ebd., 212), Illmersdorf (ebd., 213), Rietdorf (ebd., 215) und Rosenthal (ebd., 209). 93  In Borgisdorf im Amt Jüterbog bestand ein Patronat des Klosters Zinna, das dieses noch um 1545 wahrnehmen konnte (ebd., 158). In Wildau im Amt Dahme besaß Michael von Schlieben das Patronat, das er auch ausübte (ebd., 217). 94  Staatsarchiv Würzburg, Mainzer Bücher verschiedenen Inhalts Nr.  8, Bl. 170 ff. 95  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 3, 61. 96  Ebd., 58–60. 97  Staatsarchiv Würzburg, Mainzer Bücher verschiedenen Inhalts Nr. 8, Bl. 90 ff., 114 f., 248r–v.

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Seelsorger berufen98. Lediglich in Bergzow, das aber zum Amt Altenplathow gehörte, konnten die von Plotho 1556 den Pfarrer einsetzen, weil sie hier ihr Patronat behauptet hatten99. Werfen wir zum Abschluss noch einen Blick auf einige Dörfer unter geistlicher Ortsherrschaft. Während in den Dörfern des Domkapitels meist die Gemeinde den Pfarrer vozierte100, konnte der Dompropst in seinen Orten sein Besetzungsrecht früh wiedererlangen und übte es in den fünfziger Jahren gemeinsam mit den Gemeinden aus101 – wohl eine Folge des frühen Übertritts des Amtsinhabers zur Reformation. Unterschiedlich sah es in den Dörfern unter klösterlicher Herrschaft aus. Das Kloster Jerichow hatte in seinen Orten, in denen es auch das Patronat besaß, das Berufungsrecht weitgehend bewahren können. Im Dorf Kabelitz amtierte noch ein Pfarrer aus katholischer Zeit. Johann Schilt hatte 1529 seine Weihe in Halberstadt erhalten, war 1546 vom Kloster auf seine Stelle gesetzt worden und sollte im Zuge der Visitation abgelöst werden102. Die übrigen Pfarrer waren bereits vom seit 1551 amtierenden weltlichen Verwalter Hans Krusemark berufen worden. Nach Großwulkow hatte man mit Friedrich Hoks noch einen ehemaligen Konventualen gesandt, der im Examen als „seicht gelehrt, wie die Monche pflegen“, bezeichnet wurde103. Ab 1559 wurden dann aber auch von Krusemark jüngere, bereits reformatorisch ordinierte Geistliche eingesetzt104. Nicht ganz so eindeutig war die Situation in der weitgehend geschlossenen Herrschaft des Klosters Zinna im Jüterboger Kreis. Dienstältester Pfarrer war hier Franziskus Schulze in Felgentreu, der seit 43 Jahren amtierte. Schulze wurde in der Visitation als „unfleißig befunden, das man auch an den Pfarrleuten, die übel haben beten können, wohl gespüret“. Dennoch wurde er im Amt gelassen, da er „die Lehre verstanden“ habe, also den Visitatoren im reformatorischen Sinne geantwortet hatte105. Dagegen bescheinigten die Visitatoren dem Simon Richter in Bardenitz, der 98  Danneil,

Protokolle (Anm. 35), H. 3, 48–51. 62. 100  So in Dahlenwarsleben 1544, Olvenstedt 1548, Schnarsleben 1549, Niederndodeleben 1551, Groß Ottersleben 1553, Westerhüsen 1555 und Hermsdorf 1555 (ebd., H. 2, 69–76). 101  Alleinbesetzung der Pfarre in Lostau 1547 (ebd., H. 3, 80); Dompropst und Gemeinde 1554 in Förderstedt (ebd., H. 2, 150) und Rothensee (ebd., 81); unklar 1553 in Cracau (ebd., H. 3, 78). 102  Ebd., 54. 103  Ebd., 43. 104  So Erasmus Stubinger 1558 in Melkau und Stephan Horst 1559 in Steinitz (ebd., 44 f.). 105  Götze, Protocolle (Anm. 32), 125 f. 99  Ebd.,



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1520 vom Abt eingesetzt worden war, er sei ein „alter, doch vermüglicher, wohlgelahrter und christlicher Mann“106. Auch Richter hatte also im Amt den Übergang zur Reformation vollzogen. Im Nachbardorf Pechüle und in Dobbrikow hatten 1550 die Gemeinden ihren Geistlichen berufen, ebenso 1553 in Neuhof, was auf den fortschreitenden Verfall des Zisterzienserklosters seit Ende der dreißiger Jahre zurückzuführen sein dürfte107. In Frankenförde kam es allerdings 1552 noch einmal zu einer ordentlichen Vokation108. Gegen Ende der fünfziger Jahre überwogen die regulären Einsetzungen durch das Kloster wiederum, was abermals auf den Einfluss Lippolds von Klitzing zurückzuführen sein dürfte, der nun den Klosterbetrieb mit straffer Hand verwaltete109. Im Dorf Ammensleben in der Börde versah im Januar 1564 noch ein Mönch des dortigen Benediktinerklosters die Pfarre, der für das Abendmahl in beiderlei Gestalt einen anderen Dorfpfarrer heranzog, selbst aber „papistische messen“ abhielt. Ludger Grevehusius erwies sich auch im Verhör der Visitatoren als überzeugter und selbstbewusster Vertreter der alten Lehre und schlug das Angebot der Visitatoren aus, reformatorische Bücher zu lesen. Die Visitatoren forderten daraufhin, dass ihm das Predigen verboten werde, woraufhin der Abt von Ammensleben zusagte, den Pfarrer des benachbarten Gudenswegen zunächst mit der Predigt zu betrauen110. Als im April schließlich dieses Dorf visitiert wurde, musste die Kommission feststellen, dass Pfarrer Bernhard Geller zwar angeblich 1540 in Braunschweig ordiniert worden war, aber kein Zeugnis vorweisen und „gar wenig v[on] christl[icher] lere berichten“ konnte, möglicherweise also ebenfalls nicht fest auf dem Boden der Reformation stand111. Ganz anders sah es in den Dörfern des Klosters Berge bei Magdeburg aus. In Diesdorf und Osterweddingen hatte die Gemeinde 1552/53 die Pfarrer berufen. In Dodendorf war Georg Zehnder 1556 immerhin von 106  Ebd.,

127. 124, 129, 131. Vgl. Willy Hoppe, Kloster Zinna. Ein Beitrag zur Geschichte des ostdeutschen Koloniallandes und des Cistercienserordens (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg), München/Leipzig 1914, 183–203. 108  Götze, Protocolle (Anm. 32), 133. 109  Hoppe, Kloster (Anm. 107), 204. 110  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 2, 59. Zu Kloster Ammensleben vgl. zuletzt Franz Schrader, Ammensleben (Groß Ammensleben), in: Die Mönchsklöster der Benediktiner in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen, bearb. v. Christof Römer/Monika Lücke, Bd. 1 (Germania Benedictina, X/1), St. Ottilien 2012, 49–64, hier 52. 111  Danneil, Protokolle (Anm. 35), H. 2, 70. 107  Ebd.,

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Abt und Gemeinde gemeinsam eingesetzt worden112. Von altgläubigen Resten scheint hier nichts mehr vorhanden gewesen zu sein; die Pfarrer erhielten von den Visitatoren durchweg gute Zeugnisse. IV. Fazit und Ausblick Die Einführung der Reformation in den Orten des Erzstifts Magdeburg war ein Prozess, der sich über mehrere Jahrzehnte und über weite Strecken ohne Beteiligung des geistlichen Landesherrn vollzog. Hatten Al­ brecht und Johann Albrecht von Brandenburg der neuen Lehre noch  – wenn auch in den vierziger Jahren nur noch weitgehend erfolglosen – Widerstand entgegengesetzt, so blieben die beiden folgenden Erzbischöfe aus dem Haus Brandenburg aus naheliegenden Erwägungen lange Zeit weitgehend passiv. Die lutherische Lehre hatte sich schon seit den zwanziger Jahren in den Städten und beim Adel allmählich verbreitet, doch erst der Rückzug Erzbischof Albrechts 1541 ließ es zu, dass sich in den Städten wie auch zunehmend beim Landadel „Reformationen vor Ort“ vollzogen113. Vereinzelt wurden auch in ländlichen Orten – insbesondere wenn sie nicht unter adliger Herrschaft standen  – auch bereits die Gemeinden aktiv. Soweit es aus den Visitationsprotokollen ersichtlich ist, kam es dabei häufig zur Berufung ehemals altgläubiger Geistlicher, deren Bekenntnis nicht immer gefestigt war114. Der endgültige Umschwung scheint sich jedoch erst nach dem Schmalkaldischen Krieg vollzogen zu haben. In den adligen Dörfern waren es Herrschaft und Patrone, die nun Pfarrer beriefen, die eindeutig reformatorisch geprägt waren, und damit in ihren Herrschaftsgebieten eine „Adelsreformation“ vollzogen115. Hierbei zeigt sich, dass nicht immer die 112  Ebd.,

13, 24 f., 67. Begrifflichkeit vgl. Enno Bünz/Heinz-Dieter Heimann/Klaus Neitmann, Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert. Wege der Forschung und Perspektiven, in: Dies. (Hrsg.), Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 20), Berlin 2017, 11–33, bes. 22– 24. 114  Vgl. hierzu auch Georg Liebe, Die Ausbildung der Geistlichen im Herzogtum Magdeburg bis zur Kirchenordnung von 1739, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen 1 (1904), 34–58, hier 36. 115  Vgl. hierzu Martina Schattkowsky, Adel und Reformation. Grundherrschaftliches Engagement zur Konfessionsbildung im ländlichen Raum, in: Perspektiven der Reformationsforschung in Sachsen. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Karlheinz Blaschke, hrsg. v. Winfried Müller (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, 12), Dresden 2008, 125–133; Christoph Volk113  Zur



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Patronatsverhältnisse entscheidend waren, sondern oft die tatsächliche Macht vor Ort. In den Orten unter landesherrlicher und geistlicher Herrschaft kam es offenbar zu regelrechten „Gemeindereformationen“116, bei denen die Patronate faktisch ignoriert wurden. Länger halten konnten sich altgläubige Verhältnisse nur in einigen Klosterherrschaften auf dem Lande. Aber auch hier ist häufig eine konfessionelle Unentschiedenheit zu beobachten. Stellenweise führte die lange Übergangszeit offenbar zu einer weitgehenden Entkirchlichung der Gemeinden. Erst seit Beginn der sechziger Jahre des 16. Jahrhunderts ist wieder eine verstärkte Aktivität des Landesherrn erkennbar. Diese äußerte sich zum einen durch die Einflussnahme erzbischöflicher Amtleute auf die Pfarrerberufungen. Zum anderen gab Erzbischof Sigismund, nachdem sich auch im Domkapitel eine lutherische Mehrheit formiert hatte, auf Druck der Stände seine passive Rolle auf und nahm mit der landesweiten Visitation 1562–1564 das Heft in die Hand. Allerdings gelang es schon aufgrund der inneren Struktur des Erzstift nicht, die Grundlagen eines landesherrlichen Kirchenregiments zu errichten. So unterblieb zunächst die Verabschiedung einer einheitlichen Kirchenordnung; lediglich ein Mandat zur Hebung der Kirchendisziplin und gegen das „rohe, wuste, wilde ungezogen leben“ der Untertanen vor allem in den Dörfern war die Folge der Visitation117. Weiter kam man jedoch vorerst nicht: Weder wurden außerhalb der großen Städte Superintendenturen aufgerichtet, noch mar, Was hatte der Niederadel in Mitteldeutschland durch die Reformation zu verlieren?, in: Werner Greiling/Armin Kohle/Uwe Schirmer (Hrsg.), Negative Implikationen der Reformation. Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470– 1620 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 4), Köln u. a. 2015, 373–400, hier 380; ders., Adlige Patronatsherren als Gestalter der Reformation in der Altmark. Das Beispiel Beetzendorf, in: Reformationen vor Ort (Anm. 113), 135–151, hier 138.  – Vgl. auch die im Forschungsüberblick von Enno Bünz/Christoph Volkmar, Adelslandschaft Mitteldeutschland. Tendenzen und Perspektiven der Forschung, in: Adelslandschaft Mitteldeutschland. Die Rolle des landsässigen Adels in der mitteldeutschen Geschichte (15.–18. Jahrhundert), hrsg. v. Enno Bünz/Ulrike Höroldt/Christoph Volkmar (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde, 49; Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt, Reihe A: Quellen zur Geschichte Sachsen-­ Anhalts, 22), Leipzig 2016, 111–148, hier 137–139, genannte Literatur. 116  Zum Begriff der „Gemeindereformation“: Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil. Studienausgabe, München 1987, 110–122. Zur Diskussion um das Konzept der Gemeindereformation vgl. Olaf Mörke, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung (Enzy­ klopädie deutscher Geschichte, 74), München 22011, 100–103. 117  Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 28), 411–413.  – Das Mandat ist datiert Freitag nach Trinitatis (30. Mai) 1562. Da die Visitation tatsächlich erst im April aufgenommen wurde, kann sie sich – falls kein Datierungsfehler vorliegt – allenfalls auf erste Ergebnisse der Visitation oder die vorausgegangenen Lokalvisita­

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wurde  – trotz einiger Diskussionen darüber  – ein Konsistorium eingesetzt118. Somit blieb bis zum Ende des Erzstifts die starke Stellung der lokalen Kräfte bestehen. Ein Kennzeichen dessen war es, dass die Herren von der Asseburg in Ampfurth bei Oschersleben ihre eigene Superintendentur aufrichteten119. Letztlich fand das Magdeburger Land erst unter brandenburgisch-preußischer Herrschaft mit der 1680 erfolgten Errichtung eines Konsistoriums endgültig den Anschluss an den „Normalweg“ einer nachreformatorischen Kirchenverfassung120.

tionen im Amt Querfurt (1555) und im Saalkreis (1558) stützen (hierzu Delius, Zustände [Anm. 35], 80 f.; ders., Pfarrer [Anm. 35], 124 f.). 118  Vgl. Schrader, Visitationen (Anm. 26), 47; Entwurf einer Konsistorialordnung 1580: Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 28), 414–418, Nr. 84. Ein auf 1585 datierter Entwurf einer Kirchenordnung wurde offenbar nicht verabschiedet (ebd., 406 f.).  – Ebenfalls nicht verwirklicht wurden im Anschluss an die zweite landesweite Visitation von 1583 formulierte Vorschläge, einige der erfahrensten Pfarrer „als Decani, Inspectores oder Superiores (…) über 8 oder 10 benachbarte Pastores“ einzusetzen (Liebe, Ausbildung [Anm. 114], 42 f.).  – Zur vorübergehenden Einrichtung eines Konsistoriums durch den schwedischen Statthalter in Halle 1532 vgl. ebd., 44. 119  Winfried Korf, Die Herren von der Asseburg und ihre Schlösser, [Denkte 1992], 9. 120  Zur Errichtung des Konsistoriums s. Hanns Gringmuth, Die Behördenorganisation im Herzogtum Magdeburg. Ihre Entwicklung und Eingliederung in den brandenburgisch-preußischen Staat, Diss. Halle 1934, 11–13. Vgl. auch den verwaltungsgeschichtlichen Überblick zum Konsistorium Magdeburg in: Gesamtübersicht über die Bestände des Landeshauptarchivs Magdeburg, Bd. 1, bearb. v. Berent Schwineköper (Quellen zur Geschichte Sachsen-Anhalts, 1), Halle (Saale) 1954, 238 f.

II. Der mehrkonfessionelle Landesstaat des 17./18. Jahrhunderts

‚… bitten wir […], Eure Churfürstlichen Gnaden wollen uns in Religionssachen unser gewißen frei […] laßen …‘ Die kurbrandenburgischen Stände und die Konversion des Hauses Hohenzollern zum reformierten Bekenntnis Von Klaus Neitmann, Potsdam Am 2. Oktober 1614 wandte sich der zu Berlin versammelte „Ausschuß von Prälaten, Ritterschaft und Städten Euer Kurfürstlichen Gnaden Landschaft diesseits der Oder“ mit einer Supplik an Kurfürst Johann Sigismund: „Sonsten bitten wir hierbei untertänigst, Eu[re] Ch[urfürstlichen] G[naden] wollen uns in Religionssachen unser gewißen frei, und […] uns bei der einmal erkandten und bekandten wahren religion, der ungeänderten Augsburgischen Confession und derselben Apologia […] bewenden laßen.“ Gleichzeitig ersuchten die nach Berlin berufenen kurmärkischen Pfarrer ihren Landesherrn darum, „hochgedachte E[ure] Ch[ur­ fürstlichen G[naden] wolten nach dem exempel des hochlöblichen Königes in Pohlen, Stephani Bathori, welcher hat pflegen zu sagen[:] Se esse Regem populorum, non conscientiarum: über unsere gewißen nicht herrschen; sondern uns bei unserer religion und ceremonien schützen und handhaben.“1 Die gleichgestimmten Bekundungen des kurmärkischen ständischen Ausschusses und des Pfarrerkonventes wirken wie ein Widerhall auf die Ausführungen Johann Sigismunds vom März 1614, als er nach seinem Übertritt zum reformierten Bekenntnis im Dezember 1613 dem Ausschuß eingehend seinen Schritt erläutert und versichert hatte, er wolle die Gewissen seiner Untertanen nicht zwingen, verlange aber auch von ihnen, seinen eigenen Glauben unangetastet zu lassen. Und es klingt nach einem friedlichen Einvernehmen zwischen Fürst und Ständen, wenn ersterer letzteren in seinem Generalprivileg vom 5.  Fe­ bruar 1615 versprach, „das ein ieder im lande, der da will, bei des herrn Lutheri lehre und ungeenderten Augspurgischen confession, wie die in anno 30 Kayser Carln dem funften übergeben, auch bey dem concordien-

1  Die „Teltowgraphie“ des Johann Christian Jeckel (1672–1737): Von kirchlichen Stadtsachen, bearb. v. Frank-Jürgen Seider (Quellen, Findbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 32), Frankfurt am Main u. a. 2015, 178, 181.

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buche verbleiben soll. Es soll ihnen auch hiervon abezustehen weder drang oder zwang angethan werden, den ihre churfurstliche gnaden maßen sich der herrschafft über die gewissen mit nichten an.“2 Wir alle wissen durch die langen, gerade in jüngster Zeit wiederaufgenommenen Forschungen zum Konfessionswechsel Johann Sigismunds, daß sich hinter den gleich oder ähnlich lautenden Formulierungen tiefe Meinungsverschiedenheiten über die wahre Religion und den rechten Bekenntnisstand des Landes zwischen Lutheranern und Reformierten verbargen und dass diese mit dem Verhandlungsergebnis vom Februar 1615 allenfalls durch einen modus vivendi abgemildert, aber nicht ausgeglichen oder gar versöhnt wurden. Daß das in der Literatur, sowohl in Überblicksdarstellungen wie in Spezialuntersuchungen, schon oft behandelte Thema3 hier vom Verfasser 2  Das Archiv der brandenburgischen Provinzialverwaltung, Bd. 1: Das kurmärkische Ständearchiv, hrsg. v. Melle Klinkenborg, Strausberg o. J. [1920], 441 Nr. 8, hier 444 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (Rep. 23 A) des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, bearb. v. Friedrich Beck (Quellen, Findbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 16), Frankfurt am Main u. a. 2006, 274 Nr. 421 § 2. 3  Hier nur eine kleine Auswahl: Überblicke: Johann Gustav Droysen, Ge­ schichte der Preußischen Politik, 2. Teil: Die territoriale Zeit, 2. Abt., Leipzig 2 1870, 433–439; Reinhold Koser, Geschichte der brandenburgischen Politik bis zum Westfälischen Frieden von 1648, Stuttgart/Berlin 21913, 369–378; Johannes Schultze, Die Mark Brandenburg, Bd. 4, Berlin 1964, 32004, 190–195; Martin Lackner, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten (Untersuchungen zur Kirchengeschichte, 8), Witten 1973, 47–57; Wolfgang Gericke, Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur Preußischen Union 1540 bis 1815 (Unio und Confessio, 6), Bielefeld 1977, 22–29; Gerd Heinrich, Religionstoleranz in Brandenburg-Preußen. Idee und Wirklichkeit, in: Preußen. ­ Beiträge zu einer politischen Kultur (Preußen. Versuch einer Bilanz, 2), Reinbek 1981, 61–88, hier 61–64; ders., Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frank­ furt/M/Berlin/Wien 1984 (zuerst 1981), 71–73; Manfred Rudersdorf/Anton Schindling, Kurbrandenburg, in: Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Refor­ mation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 2: Der Nordosten, hrsg. v. Anton Schindling/Walter Ziegler (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensbewegung, 50), Münster 31993, 34–66, hier 54–61; Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, Bd. 1: Anfänge, Landesstaat und monarchische Autokratie bis 1740 (Urban-Taschenbücher, 573), Stuttgart/ Köln/Berlin 1996, 136 f.; Achim Beyer, Die Religionspolitik der Hohenzollern im Reformationsjahrhundert: Zwischen Autonomie und Abhängigkeit, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 148 (2012), 239–275, hier 266–273; Andreas Stegmann, Die Reformation in der Mark Brandenburg, Leipzig 2017, 225–231.  – Spezialuntersuchungen: R[udolf] Kniebe, Der Schriftenstreit über die Reformation des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg seit 1613 (Hallesche Abhandlungen zur Neueren Geschichte, 41), Halle 1902; Ulrich Stutz, Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg und das Reformationsrecht (Sitzungsberichte der ­



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wiederaufgegriffen wird, ist in seinem Eindruck begründet, daß die Debatte sich über weite Strecken allzu dominant und damit allzu einseitig auf Johann Sigismund konzentriert, seine Haltung, seine Motive für den Übergang zu den Reformierten wie seine Bemühungen zur Umwandlung der Mark Brandenburg in ein reformiertes Territorium, eingehend untersucht hat, aber dabei seine Gegenspieler, die märkische Pfarrerschaft, vor allem aber die politisch gewichtigen märkischen Stände und deren Positionen und Absichten allzu sehr vernachlässigt und sich dadurch Verständnis und Einordnung des Ergebnisses und seiner langfristigen Folgen erschwert hat. Denn mag man auch zunächst zu Recht die Ursachen und Ziele des Kurfürsten für seinen Bekenntniswechsel ergründen, so hat dann doch das historische Urteil im Hinblick auf das eingetretene Ergebnis vor allem zu erhellen, warum Ritterschaften und Städte sich der von ihm angestrebten Einführung der „zweiten Reformation“ widersetzt und warum insbesondere sie ihren Kontrahenten weitgehend überwunden haben. In diesem Beitrag werden daher die konfessionellen Auffassungen der lutherischen kur- und neumärkischen Stände in den Mittelpunkt gerückt, wird vorrangig ebenso nach deren Kerngehalten wie nach den Bedingungen für ihre Behauptung und ihre Durchsetzung gegenüber dem reformierten Landesherrn gefragt, also nach den Punkten,

Preussischen Akademie der Wissenschaften, 1922, II), Berlin 1922; Eberhard Faden, Der Berliner Tumult von 1615, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 5 (1954), 27–45, bes. 29–32; Walter Delius, Der Konfessionswechsel des brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund. Eine Berliner Weihnachtsüberraschung am Anfang des 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 50 (1977), 125–129; Hans-Joachim Beeskow, Der Konfessionswechsel des brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund im Jahre 1613, in: Herbergen der Christenheit 14 (1983/84), 7–18; Bodo Nischan, Kontinuität und Wandel im Zeitalter des Konfessionalismus. Die zweite Reformation in Brandenburg, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 58 (1991), 87–133; ders., Prince, People, and Confession. The Second Reformation in Brandenburg, Philadelphia 1994; Rudolf von Thadden, Die Hinwendung des Kurhauses zum reformierten Bekenntnis (1598 bis 1620), in: Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, hrsg. v. Gerd Heinrich, Berlin 1999, 255– 265; Franz Josef Burghardt, Zwischen Fundamentalismus und Toleranz. Calvinistische Einflüsse auf Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg vor seiner Konversion (Historische Forschungen, 96), Berlin 2012 (vgl. dazu meine Rezen­sion in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 62 [2016], 315–318); Eike Wolgast, Heidelberger Einflüsse auf Brandenburg, in: Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reiches. Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte (Veröffent­lichungen zur badischen Kirchen- und Religionsgeschichte, 5), Stuttgart 2015, 119–130; ders., Der Übertritt des Kurfürsten Johann Sigismund zum Calvinismus im Jahre 1613 und seine innenpolitischen Folgen, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 70 (2015), 69–96.

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die die gängigen Darstellungen zumeist vernachlässigen oder gar übergehen, indem sie zwar das Faktum der Opposition konstatieren, aber auf dessen nähere Erläuterung und Einordnung verzichten. Dazu müssen wir zunächst einen längeren Blick zurück auf die Entwicklung der kirchlichen Verhältnisse der Mark Brandenburg von 1540 bis 1608, von der Einführung der lutherischen Reformation bis zum Regierungsantritt Johann Sigismunds, werfen, bevor wir dann die bestimmenden Voraussetzungen, unter denen sich die konfessionspolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 1613/15 abspielten, zu klären suchen. Als Leitfaden unserer Betrachtung dienen uns dabei die Aussagen der General- und Spezialprivilegien, die die Kurfürsten ihren Untertanen erteilten, über Religions­ angelegenheiten, weil in diesen Dokumenten die maßgeblichen rechtsverbindlichen Bestimmungen, zu denen sich die ersteren gegenüber den letzteren auf deren Gravamina hin verstanden hatten, dauerhaft festgelegt waren. In diesen Entscheidungen offenbaren sich besonders deutlich die Anliegen der Stände, sowohl die Zugeständnisse, die ihr Herr ihnen einzuräumen bereit war, als auch die Grenzen, die er ihnen zu setzen gewillt war. Joachim II. hat 1539/40 die Reformation in der Mark im Einvernehmen mit den Ständen eingeführt, nachdem zuvor in den ersten Jahren seiner Regierung aus der Reihen der Städte und des Adels immer häufiger und nachdrücklicher auf die Zulassung lutherischer Prediger gedrängt worden war4. Allen deren lutherfreundlichen Äußerungen zum Trotz achtete er dabei sorgsam darauf, das Heft selbst in der Hand zu behalten und den Übergang ins reformatorische Lager, wie er in der Kirchenordnung

4  Zum Folgenden vgl. die auf die Regierungszeit Joachims II. konzentrierten Ausführungen von Frank Göse, Die kurmärkischen Stände in der Reformationsbewegung. Motive  – Akteure  – Bilanz, in: Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert, hrsg. v. Enno Bünz/Heinz-Dieter Heimann/Klaus Neitmann (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 20), Berlin 2017, 35–54, bes. 43–51. – Für einen eindringlichen Überblick über die brandenburgische Kirchen- und Konfessionsgeschichte von Joachim I. bis Joachim Friedrich vgl. Iselin Gundermann, Kirchenregiment und Verkündigung im Jahrhundert der Reforma­ tion (1517 bis 1598), in: Tausend Jahre Kirche (wie Anm. 3), 147–241. – Grundzüge der evangelischen Kirchenverfassung des 16. Jahrhunderts beschreibt trefflich Otto Hintze, Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen, in: Ders., Geist und Epochen der preußischen Geschichte (Gesammelte Abhandlungen, 3), Leipzig 1943, 64–104, hier 69–77.  – Die Kirchenpolitik Joachims II. ist in jüngerer Zeit wiederholt eindringlich von Andreas Stegmann untersucht worden, vgl. hier nur pars pro toto: Andreas Stegmann, Die Kirchenpolitik des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. (1535–1571), in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 71 (2017), 42–148.



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von 15405 und der nachfolgenden Kirchenvisitation kulminierte, nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. In seinem Generalprivileg für die kurmärkischen Stände vom 29. September 1538, noch vor dem Konfessionswechsel, hatte er sich ihnen gegenüber mit gänzlich unbestimmten Aussagen alle Türen offengelassen, indem er deren Anfrage, „wie es der christlichenn religion unnd ceremonien halben gehalten werden soll,“ mit einer allgemeinen, unangreifbaren Bemerkung erwiderte: So wie er sich bislang in der Religionsfrage verhalten habe, wie es sich einem christlichen Kurfürsten gebühre, so wolle er sich auch künftig so zeigen, wie er es Gott und dem römischen Kaiser und König als ordentlicher Obrigkeit mit gutem Gewissen verantworten könne6. Nach vollzogenem Übertritt sicherte er sich auf dem Landtag vom März 1540 die Zustimmung der Stände, indem er den Städten das Recht einräumte, in ihren Patronatskirchen gelehrte, taugliche Pfarrer und Prediger und in den dazugehörigen Schulen geschickte Schulmeister nach ihrer Wahl einzusetzen, sofern diese sich gemäß der landesherrlichen Ordnung – sprich: der gleichzeitig fertiggestellten neuen reformatorischen Kirchenordnung  – verhielten, das Volk zur Erkenntnis Christi und zu einem züchtigen, ehrlichen Lebenswandel anleiteten, keinen Aufruhr predigten und Irrtümer verursachten, und indem er dem Adel zugestand, im Besitzstand der Bistümer, Stifte, Klöster und Johanniterordenskomtureien „keine unbilliche voranderung“ vorzunehmen, „dodurch die ehre des almechtigen geschmellert“, damit sie weiterhin der Versorgung von Kindern und Verwandten vornehmlich der Ritterschaft dienen könnten7. Die bestehenden Patronate der Stadträte wurden mithin unter der Voraussetzung bestätigt, daß die von ihnen bestellten Pfarrer und Schulmeister die kurfürstliche Kirchenordnung anerkannten und gemäß deren Glaubenslehren das Kirchenvolk unterrichteten. Der Ritterschaft kam der Kurfürst nicht 5  Andreas Stegmann, Die brandenburgische Kirchenordnung von 1540, in: Reformationen vor Ort (wie Anm. 4), 235–288. 6  Das kurmärkische Ständearchiv (wie Anm. 2), 353 Nr. 8, hier 355 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 169 Nr. 233 § 2. – Markgraf Johann von Küstrin übernahm für seine am 7. November 1539 nachfolgende Privilegierung seiner neumärkischen Stände nahezu unverändert diesen Paragraphen aus der Privilegienbestätigung seines Bruders für die kurmärkischen Stände. Vgl. Kurmärkische Ständeakten aus der Regierungszeit Kurfürst Joachims II., Bd. 1: 1535–1550, hrsg. v. Walter Friedensburg (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg), München/Leipzig 1913, 58 Nr. 13, hier 60 § 2. 7  Das kurmärkische Ständearchiv (wie Anm. 2), 370 Nr. 10, hier 372 § 7 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 179 Nr. 253 § 6 (Privileg für die Städte). – Das kurmärkische Ständearchiv, 374 Nr. 11, hier 375 f. § 4 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände, 180 Nr. 254 § 3 (Privileg für den Adel). – Vgl. Felix Engel, Stadt und Reformation in der Mark Brandenburg (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 24), Berlin 2020, 135.

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so weit entgegen, wie sie es sich von ihm in ihrem vorangegangenen Beschwerdekatalog gewünscht hatte: Nach ihrer Vorstellung sollte der Landesherr Veränderungen an Gütern und Zubehör von Bistümern, Stiften, Klöstern und Komtureien nicht ohne Wissen und Rat der gemeinen Landstände vornehmen, und er sollte nicht in die Verhältnisse der unter adliger Obrigkeit und Schutz stehenden Klöster oder Stifte sowie der ländlichen und städtischen Patrone von Pfarreien und sonstigen (Kirchen-)Lehen eingreifen8. Ein förmliches ständisches Mitbestimmungsrecht über den künftigen Umgang mit den geistlichen Gütern gestand Joachim II. nicht zu, behielt sich seine Entscheidungsfreiheit vor, anerkannte aber grundsätzlich das adlige Verlangen nach geistlichen Pfründen für seine zu versorgende Nachkommenschaft, band sich nur nicht in dem Ausmaß von dessen Erfüllung – wohlweislich, da die Klöster in den Folgenjahren und -jahrzehnten zumeist aufgelöst wurden9. Zwei kurfürstliche Privilegien vom 4.  Oktober 1549 und vom 1.  Juli 1550, also aus den stürmischen Zeiten des Interims Kaiser Karls V., bezeugen, daß die Städte darauf drangen, die Neuordnung der lokalen Kirchenorganisation in materieller und personeller Hinsicht zum Zwecke ihrer Vervollkommnung fortzuführen, unter Wahrung ihrer Patronatsrechte. Sie beschwerten sich darüber, daß die Beschlüsse der vorangegangenen Visitation von 1540/45 noch nicht hinreichend umgesetzt und die Kirchen- und Schuldiener nicht hinreichend versorgt seien, und verlangten daher, daß ein einzusetzender Generalsuperintendent das gesamte Personal visitiere, „damit es in den kirchen und schulen ordenthlich zugehen, gottes ehre gefurdert, gute zucht und disciplina gehalten werde.“ Sie forderten, daß den Räten und Gewerken das ihnen genommene Pa­ tronatsrecht an geistlichen Lehen und Pfründen zurückgegeben werde, denn jetzt könnten entgegen der ursprünglichen Stiftung ihre Kinder und Verwandten wegen der ausbleibenden Einkünfte nicht mehr zum Studium geschickt werden. Überhaupt sollten aus dem ehemaligen Klostervermögen entsprechend dem christlichen Gebrauch geistlicher Güter Stipendien für arme städtische Studenten finanziert werden, „damit im lande auch gelehrte leute zu erhaltunge der kirchen, regiment und pollicei auferzogen“ würden. Der Wunsch wurde später präzisiert in dem Sinne, daß „zu furderunge, auch erhaltung der rechten wahren christlichen religion“ 16 Stipendien zur Unterhaltung geeigneter junger Gesellen  – mit 40 Gulden auf drei Jahre – geschaffen werden sollten. Die Universität Frankfurt müsse mit Einkommen zur Besoldung der Professoren aus8  Kurmärkische Ständeakten (wie Anm. 6), 85 Nr. 17, hier 87 § 5 (Beschwerden der oberen Stände, vor 1540 März 17), dazu Friedensburgs Vorbemerkung, 67 f. 9  Vgl. Gundermann, Kirchenregiment (wie Anm. 4), 170.



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gestattet, fleißige getreue Dozenten besonders in Theologie und Jura müßten bestellt werden10. Die beiden kurfürstlichen Privilegien nahmen den städtischen Wunschkatalog in allgemein gehaltenen Formulierungen weitgehend auf. Die erbetene landesherrliche Visitation sollte dazu dienen, die bestehenden Mängel zu beseitigen, die Unterhaltung der Kirchen und die Besoldung der Kirchen- und Schuldiener zu gewährleisten, den allein von den Stadträten ausgewählten Studenten Stipendien für das Studium an der Universität Frankfurt (die mit tüchtigen Dozenten und ausreichenden Einkünften auszustatten war) zu gewähren zwecks ihrer Ausbildung für den späteren landesherrlichen oder städtischen Dienst; die Städte behielten das Recht zur Berufung ihrer Pfarrer, mit der Pflicht zu ihrer Präsentation gegenüber dem Landesherrn, während Einsetzung und Entlassung der Küster ausschließlich ihnen oblagen11. Dem Adel bekräftigte der Kurfürst das Patronat über geistliche Lehen und Kirchen in Städten und Dörfern, unter der Bedingung, daß die präsentierten Pfarrkandidaten vom Superintendenten bzw. geistlichen Bischof bestätigt und die Besoldung vom Patron geleistet würden12. Ansonsten schweigen die zahlreichen kurfürstlichen Privilegien zugunsten der Stände aus der Regierungszeit Joachims II. über das Religionsthema. Er sah sich offensichtlich nicht dazu veranlaßt, sich ihnen gegenüber über die Bestätigung überkommener ständischer Patronatsrechte und die Zusagen zur finanziellen Sicherung des neuen Kirchenwesens hinaus, die ohnehin schon in seinem eigenen Interesse lagen, in irgendeiner Weise zusätzlich zu verpflichten und sich für den Neuaufbau seiner Landeskirche bzw. die Ausgestaltung seines landesherrlichen Kirchenregimentes verstärkt an die ständische Zustimmung zu binden. In diesem Sinne äußerte er pointiert in seiner Vorrede zu einer 1561 erarbeiteten, aber unveröffentlichten „Geistlichen Polizei-, Visitations- und Konsistorialordnung“, es stehe ihm „als dem landtsfursten auß furstlicher obrigkeit, hoheit vnnd wegen vnsers tragendem ampts“ zu, nicht allein in weltlichen, sondern auch in geistlichen Sachen jedermann Recht und Gerechtigkeit 10  Kurmärkische Ständeakten (wie Anm. 6), 431 Nr. 155, hier 431–433, §§ 1–8, bes. § 1 (daraus das erste Zitat), 2, 4, 5; 690 Nr. 239, hier 691 f.; 693 Nr. 240, hier 694; 697 Nr. 241, hier 697 (daraus das zweite Zitat). 11  Das kurmärkische Ständearchiv (wie Anm. 2), 386 Nr. 13, hier 387 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 214 Nr. 327, hier §§ 1–4 (Privileg von 1549 Oktober 4). – Das kurmärkische Ständearchiv, 390 Nr. 14, hier 397 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände, 219 Nr. 334, hier 220 (Privileg von 1550 Juli 1). – Die Haltung der märkischen Städte zur Reformation, ihre Bestrebungen und Maßnahmen zur Einführung eines evangelischen Kirchenwesens werden jetzt umfassend behandelt von Engel, Stadt (wie Anm. 7), 129–237. 12  Das kurmärkische Ständearchiv (wie Anm. 2), 403 Nr. 16, hier 405 § 3 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 223 Nr. 337, hier § 3.

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zu gewähren und geistliche Ordnungen zu errichten, und er sei deswegen nicht verbunden, „vnserer landtschaft bewilligung darinne zu requiriren vnnd zuerfordern“, da er in die vorherigen Rechte der Bischöfe und ihrer Offiziale eingetreten sei13. Mit dem Regierungsantritt seines Sohnes Johann Georg 1571 trat in den landesherrlich-ständischen Rechts- und Verfassungsbeziehungen eine wesentliche Änderung dadurch ein, daß beide Seiten sich förmlich und verbindlich darauf verständigten, den religiösen und kirchlichen Status des gesamten Landes zu beschreiben und festzulegen und dabei insbesondere die ständischen Gerechtigkeiten in der Religionsfrage und im Bereich der Landeskirche zu klären14. Das kurfürstliche Generalprivileg vom 16. Juni 157215 war, wie seine Narratio unumwunden zu erkennen gab, davon ausgelöst worden, daß die kurmärkischen Stände die von Joachim II. hinterlassene Schuldenlast abtragen sollten, und sie verstanden sich zu den erbetenen finanziellen Zugeständnissen in Höhe von 675.000 Talern, indem sie ihre alten und neuen Gerechtsame in den landesherrlichen Revers einfügen ließen, wobei die einleitenden vier Artikel von den Religionsangelegenheiten handelten. Der erste Artikel enthielt die Grundsätze, indem er die wörtlich wiederaufgegriffene konfessionspolitisch neutrale Aussage Joachims II. vom 29. September 1538 ergänzte durch eine unzweideutige, gemäß den ständischen Gravamina vorgenommene Positionierung: „Wollen auch sie [sc. die Stände] irer itzo abermals geschehenen underthenigstenn bitte nach bey der einfeltigenn lehre des 13  Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (1517–1615), bearb. v. Andreas Stegmann (Einzelveröffentlichung des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 25), 470 Nr. 177, hier 473 f.  – Vgl. die allgemeinen zutreffenden Bemerkungen von Engel, Stadt (wie Anm. 7), 135, zum landesherrlichen Vorrang in Religionsangelegenheiten vor ständischen Mitbestimmungsansprüchen. 14  Zu den Auffassungen und Verhandlungsergebnissen der Kurfürsten Johann Georg und Joachim Friedrich und der Stände über die Religionsfrage (Konkordienformel, Konsistorium, Patronat, Bildungs- und Schulwesen) vgl. Martin Haß, Die kurmärkischen Stände im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts (Veröffent­ lichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg), München/Leipzig 1913, 91–98. 15  Das kurmärkische Ständearchiv (wie Anm. 2), 408 Nr. 17, hier 409–411 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 253 Nr. 384, hier 253 §§ 1–4. Die Urkunde ist auch gedruckt mit sehr genauer, differenzierter Kennzeichnung der aus früheren landesherrlichen Reversen entlehnten Bestimmungen bei Haß, Die kurmärkischen Stände (wie Anm. 14), 317–330 (Anlage 1). – Zu den vorangegangenen Verhandlungen zwischen Kurfürst und Ständen um die Bedingungen der Privilegienbestätigung vgl. Helmuth Croon, Die kurmärkischen Landstände 1571–1616 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, IX, 1), Berlin 1938, 13–24; die Religionsfrage wird von ihm nur beiläufig erwähnt (15, 18).



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gottlichen wortts, wie das in den prophetischen unnd apostolischenn schriftenn, inn der waren ungeendertenn Augspurgischenn confeßion samptt der apologia vorfassett und durch D. Lutherum seligenn bey seinem leben gelehrett und getriebenn, gnedigst beharren unnd bleibenn unnd mitt gottlicher vorleihung darwider inn unsernn landenn nichtt lehren noch predigen noch andere corpora doctrinae, kirchenordnung oder ceremonien, vielweiniger aber ergerliche secten und sakramentschwermereyen einreißenn lassenn.“16 Das in diesen Worten ausgesprochene grundsätzliche Ziel, der in seinem religiöse Bekenntnis homogene lutherische Landesstaat, dessen Angehörige – Landesherr ebenso wie Untertanen – sich ausnahmslos in ihrer Gesamtheit auf die Augsburgische Konfession von 1530 und die Lehre Martin Luthers verpflichten und keine andere Lehre, Doktrin und Kirchenordnung und erst recht keine Sekten zulassen, wird in den nachfolgenden drei Artikeln in der Weise konkretisiert, daß die Rechte und Pflichten der Stände in Bezug auf die Stiftskapitel, die Pfarrerberufungen und die Frankfurter Universität festgelegt werden. Die Prälaturen und Kanonikate der Brandenburger und Havelberger Stiftskapitel soll der Kurfürst vornehmlich märkischen Adligen verleihen. Die Landstände werden im unbeschwerten Besitz ihrer Pfarrlehen bestätigt. Die Patrone unter ihnen dürfen die Pfarrstellen mit tüchtigen Personen besetzen und sie nötigenfalls wieder entlassen; allerdings sollen ihre Kandidaten vom Superintendenten auf ihre Lehre und auf ihren Lebenswandel vor ihrer Bestallung geprüft und, wenn sie „inn der lehre reine befundenn“ werden, bestätigt werden – um zu verhindern, daß „in diesen letzten und bösen Zeiten verführerische Lehren, Sekten und Ketzereien erregt werden.“ Da dem Kurfürsten ebenso wie den Landständen an der Frankfurter Universität viel gelegen ist, sichert er ihnen zu, für die Berufung gelehrter Professoren und für die Verbesserung der universitären Einkünfte zu sorgen. Man erkennt an den vorstehenden Bestimmungen die Kernpunkte der ständischen Wünsche: Sie drehen sich neben der Sicherung geistlicher Pfründen um die Bekräftigung des Patronats, um das Recht zur Berufung des Pfarrers in den eigenen Patronatskirchen, wobei die theologische Prüfung der Bewerber auf die Reinheit ihrer Lehre durch den landesherrlichen Superintendenten hingenommen wird. Denn Kurfürst und Landstände stimmen darin überein, damit so zu verfahren, wie es 16  Wenn Beyer, Die Religionspolitik (wie Anm. 3), 262, dieses (von ihm mit irrtümlicher Quellenangabe wiedergegebene) Zitat für eine Erklärung Johann ­Georgs vor den Ständen hält, verkennt er deren Rechtsqualität insofern, als sie für Landesherr wie für Stände verbindliches Privilegienrecht schuf und mit ihrem verfassungsrechtlichen Rang über eine fürstliche Meinungsäußerung weit hinausging.

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„inn allenn unserer wahren christlichen religion der Augspurgischen confeßion vorwanten landenn breuchlich“ ist. Und die Frankfurter Via­ drina bedarf auf ausdrücklichem ständischem Verlangen der kurfürst­ lichen Fürsorge, weil sie den gelehrten theologischen, juristischen und medizinischen Nachwuchs des Kurfürstentums ausbildet. Die Aufgaben, die den Ständen als lokalen Patronatsherren wie überhaupt als lokalen Obrigkeiten im kirchlichen Bereich oblagen, wurden ein Jahr nach dem Generalprivileg in der Visitations- und Konsistorialordnung Johann Georgs von 157317 detailliert beschrieben. Die Visitationsordnung richtete sich zwar in ihren abschließenden Passagen an alle weltliche Obrigkeiten in den Städten und Dörfern, aber darunter fielen neben den landesherrlichen Amtleuten insbesondere die adligen Grundherren, die Stadträte und die Dorfschulzen: Sie alle waren aufgefordert, die Kirchenordnung von 1572 im Allgemeinen und vor allem einzelne Ordnungen zum christlichen Kirchenleben im Besonderen durchzusetzen. Sie hatten sich um die Befolgung der vorgegebenen geistlichen Lehre und des geistlichen Kultus durch eigene Beobachtungen und Prüfung zu kümmern, indem sie die christliche Lebensführung sowohl der Laien als auch der Geistlichen beobachteten, gegebenenfalls deren Zuwiderhandlungen selbst bestraften oder der zuständigen landesherrlichen Behörde meldeten. Sie hatten vornehmlich darauf zu achten, daß die Gemeindemitglieder an Sonn- und Feiertagen am Gottesdienst teilnahmen, die Predigten und das göttliche Wort hörten, „damit sie trost in ihrem gewissen aus den predigten erlangen mögen“, und davon nicht durch weltliche „Verlockungen“ wie Markthandel, Alkoholkonsum, Feste, Zusammenkünfte, Arbeit oder Dienst abgehalten wurden; sie hatten dafür zu sorgen, daß Eltern und Haushälter ihre Kinder und ihr Gesinde im Katechismus unterrichten ließen. Oberstes Ziel war es, die Untertanen 17  Abdruck in: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, hrsg. v. Emil Sehling, Bd. 3: Die Mark Brandenburg. Die Markgrafentümer Oberlausitz und Niederlausitz. Schlesien, Leipzig 1909, Ndr. Aalen 1970, 105–141, zum Folgenden vgl. ebd., 128–130; jetzt auch kritisch ediert (mit Nachweis der Übernahmen aus den verschiedenen Vorlagen) in: Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 13), 1461 Nr. 193, hier 1523–1528.  – Zu den Kirchen-, Visitations- und Konsistorialordnungen von 1572/73 im Allgemeinen vgl. Gundermann, Kirchenregiment (wie Anm. 4), 208–214; ferner: Andreas Stegmann, Die brandenburgische Kirchenordnung von 1572, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 72 (2019), 214–221. Vgl. den konzentrierten Überblick über das brandenburgischen Kirchenleben unter den Kurfürsten Johann Georg und Joachim Friedrich bei Stegmann, Die Reformation (wie Anm. 3), 218– 225, sowie die ausführlichere Darlegung bei Albrecht Beutel, Die brandenburgische Landeskirche unter den Kurfürsten Johann Georg (1571–1598) und Joa­chim Friedrich (1598–1608), in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 69 (2013), 161–180, bes. 166–170, 175.



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durch die Predigt über das rechte christliche Leben zu unterrichten und dieses gemäß Gottes Geboten einzurichten. Die weltlichen Obrigkeiten hatten selbstverständlich über die kirchlichen Verhältnisse zu wachen, da das Wohlergehen des Gemeinwesens von der Einhaltung der göttlichen Gebote abhing und das sündige Dasein einer Gemeinschaft durch Gottes Gericht bestraft wurde. Die Obrigkeit stand mit ihren Handlungen unter Gottes Aufsicht, sie hatte Gott zu bitten und anzurufen, daß er all ihre Händel und Geschäfte wie die ihrer Gemeinde und Diener „gnedig und seliglich, zu ehre seines namens, regieren und führen wolle“; sie war mithin in ihrem Erfolg auf seinen Segen über ihre gottgefälligen Taten angewiesen. Im Hinblick auf die kontroversen Diskussionen der Jahre 1613/15 verdient Erwähnung, daß Kurfürst Johann Georg trotz seiner ausgeprägten Abneigung gegen Calvinisten Bürgermeister und Ratsherren mit reformierten Glaubensneigungen zwar dazu ermahnte, keine Anhänger zu werben und „ganz stille [zu] halten“, jedoch versicherte, „Keines Gewissens [zu] zwingen“ und wegen der verbindlichen Einführung des Konkordienbuches keine „Unterthanen oder treue Lehrer beschweren noch verfolgen“ zu wollen18. Eine Generation später, nach dem Regierungsantritt von Johann Georgs Sohn Joachim Friedrich 1598, wiederholte sich der Vorgang von 1572 in den Grundzügen. Die kurmärkischen Stände erklärten sich dazu bereit, 600.000 Taler zur Begleichung der Schulden Johann Georgs aufzubringen (von denen die neumärkischen Stände 120.000 Taler übernahmen), ließen sich aber ihr finanzielles Entgegenkommen u. a. mit kirchenpolitischen Zugeständnissen vergüten, die sie in ihren Gravamina von 1599 ausführlich dargelegt hatten19. Der Kurfürst erneuerte in seinem Generalprivileg vom 11. März 160220 – dem sein Sohn, Kurprinz Johann Sigismund, zur Wahrung der Rechtskontinuität über nachfolgende Regierungswechsel hinaus tags darauf mit einer eigenen Urkunde beitrat, indem er für sich persönlich und seine Nachkommen zusicherte, den mit seinem Wissen und Willen abgefaßten väterlichen Revers mit seinen alten und zusätzlichen, erweiterten Erklärungen einhalten zu wollen21 – in den 18  Beutel,

Die brandenburgische Landeskirche (wie Anm. 17), 177. zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 13), 648 Nr. 212.  – Ausführliche Darstellung der mehrjährigen Verhandlungen zwischen dem Kurfürsten und den Ständen bei Croon, Die kurmärkischen Landstände (wie Anm. 15), 40–77, zur Religionsfrage bes. 49, 63–65. 20  Das kurmärkische Ständearchiv (wie Anm. 2), 420 Nr. 18, hier 421–423 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 267 Nr. 413, hier 267 f. §§ 1–5. 21  Das kurmärkische Ständearchiv (wie Anm. 2), 439 Nr. 20 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 271 Nr. 415, 416. 19  Quellen

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an der Spitze des Paragraphenwerkes stehenden Bestimmungen zu Kirchen- und Religionsangelegenheiten in großen Teilen wörtlich oder sinngemäß die Festlegungen der väterlichen Vorurkunde vom 16.  Juni 1572 und zog mit den Ergänzungen die damaligen Linien und Ansätze in derselben Richtung weiter aus, unter Orientierung an den vorliegenden ständischen Beschwerden. Nachdem Gott das Licht seines heiligen, allein seligmachenden Wortes in Brandenburg seit geraumer Zeit habe hell und klar scheinen lassen, zweifelten die Stände nicht daran, wie sie 1599 erklärt hatten, der Kurfürst werde sie gemäß dem Revers von 1572 „bey solcher reinen gesunden lehre des heyligen götlichen wordts,“ wie sie im Alten und Neuen Testament, in den (antiken) Glaubensbekenntnissen der allgemeinen christ­ lichen Kirche, in der Augsburgischen Konfession und in den Schriften Luthers beschrieben sei, „one verenderungen vnd auftringung anderer newer vnd frembder buecher gnedigst pleiben laßen“; sie baten den Kurfürsten darum, den Predigern zu befehlen, daß sie nicht ärgerliche Dispute und Lästerungen auf die Kanzel brächten, sondern ihr Amt in christlicher Einigkeit ruhig und friedlich wahrnähmen; und sie ersuchten ihn darum, daß entsprechend seiner Instruktion der Generalsuper­ intendent mit weltlichen Räten und Theologen eine Generalvisitation durchführe, „damit kirchen vnd schulen dieser lande in reiner vnd richtiger lehre gottes worts, geistlicher zucht, erbarkeit vnd guter ordnung erhalten“ würden. Der kurfürstliche Revers greift all diese ein wenig weitläufigen ständischen Darlegungen in sehr konzentrierter Form, aber gänzlich in ihrem Sinne auf: Religion und christliche Zeremonien verbleiben in dem 1572 zugesagten Stand, es gelten die „unveränderte“ Augsburgische Konfession von 1530 und der dementsprechende Gebrauch der Sakramente, es gelten in Kirchen und Schulen nur – neu im Vergleich mit 1572 – das Konkordienbuch von 1580 und die Lehren von Luthers theologischen Anhängern und Nachfolgern, damit Friede und Einmütigkeit unter den Theologen bewahrt werden, wozu auch Generalund Partikularvisitationen vorgesehen sind. Der Kurfürst sicherte mithin den Ständen zu, daß seine Lande allein Lehre und Liturgie der lutherischen Theologie gemäß ihren maßgeblichen Bekenntnisschriften  – unter denen das Konsistorium besonders auf die Erwähnung des Konkordienbuches zur Abwehr des Calvinismus gedrungen hatte22 – folgten, und die Reinheit der lutherischen Lehre wurde gewährleistet, indem der maßgebliche theologische Lehrstand im Hinblick auf seine rechte Unterweisung seiner Schäflein kontrolliert wurde. Land und Leute der Mark Brandenburg verpflichteten sich zur unbedingten Behauptung und Durchsetzung 22  Croon,

Die kurmärkischen Landstände (wie Anm. 15), 65 Anm. 175.



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der einen lutherischen Konfession  – was bezeichnenderweise der allgemeinen ständischen Privilegienbestätigung vorangestellt war. Die Pfründen in den Stiftskapiteln stehen weiterhin vornehmlich Adligen zu, unter ihnen aber in erster Linie unter Übernahme der ständischen Formulierung denjenigen, die der Landesherrschaft und den Ständen auf allgemeinen Landtagen, in Gesandtschaften und Kommissionen mit ihrem Rat dienen. Die Regelungen zu den Pfarreien unter ständischem Patronat präzisieren diejenigen von 1572 unter weitgehender Berücksichtigung der ständischen Anliegen: Die ständischen Patronatsherren behalten das Recht zur Auswahl und Einsetzung oder Entlassung ihrer Pfarrer, sind jedoch daran gebunden, sie dem Generalsuperintendenten in Frankfurt (bzw. die altmärkischen und prignitzschen Patrone dem Superintendenten zu Stendal) zur Prüfung ihrer theologischen Eignung in ihrer Lehre und durch eine Probepredigt zu präsentieren und sich dessen Urteil zu beugen, wenn sie Kandidaten mit ungenügenden Kenntnissen des gött­ lichen Wortes und der heiligen Schrift abweisen. Die Stände hatten zusätzlich zuvor gefordert, es solle den Patronen freistehen, verdächtige Prediger, die der unrechten Lehre und der ärgerlichen Lebensweise überführt seien, nach vorangegangener Untersuchung abzusetzen und zu entlassen, ohne den Einspruch des Konsistoriums befürchten zu müssen; eine derartige Freiheit ist ihnen im Reversbrief nicht zugestanden worden. Die einmal vom Konsistorium ausgesprochene Bestätigung eines Pfarrers gilt dauerhaft und braucht nicht bei Regierungsantritt eines neuen Kurfürsten erneuert zu werden. Um die Mängel an der Viadrina zu beseitigen, sollen wiederum nach ständischem Vorschlag landesherrliche Räte wie ständische Deputierte gemäß kurfürstlicher Instruktion die Universität visitieren und Professoren und Studenten zur heilsamen Reforma­ tion und zum statutengemäßen Leben bewegen. Darüber hinaus regten die Stände an, eine oder mehrere mit eingezogenem klösterlichen Vermögen auszustattende Partikularschulen für die Unterrichtung jugendlicher eingeborener Landeskinder über Gottes Wort, die guten Künste und die Sprachen unter Gewährung von Stipendien einzurichten, welchen Plan Joachim Friedrich in seinen Revers nicht aufnahm, aber ein halbes Jahrzehnt später mit der Stiftung der Fürstenschule zu Joachimsthal sinngemäß umsetzte. Kurfürst und Landstände waren, so könnte man die Einzelbestimmungen von 1602 zusammenfassen, vereint in dem Bestreben, für die Einhaltung und Beachtung der reinen lutherischen Lehre einzutreten, unter unausgesprochener Abwehr aller anderen Konfessionen, vor allem der in den gleichzeitigen Visitationsabschieden immer wieder angesprochenen drohenden calvinistischen Irrlehren; sie stimmten, anders ausgedrückt, überein in der Sicherung des konfessionell einheitlichen lutherischen

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Landesstaates. Der Erreichung dieses Zieles diente es vor allem, daß der Pfarrerstand in seiner Verkündung der rechten Lehre und in seiner theologischen Eignung überprüft wurde. Gerade die Gravamina der Stände offenbaren, daß sie zwar die möglichst uneingeschränkte Ausübung ihrer Patronatsrechte gewährleistet sehen wollten, daß sie aber weit darüber hinaus überhaupt für die uneingeschränkte Beachtung und Befolgung der lutherischen Lehre im ganzen Land eintraten und daß alle Untertanen dementsprechend von einer ausgebildeten lutherischen Pfarrerschaft zu unterweisen waren. Den territorialstaatlichen Rechtszustand, den die ständische Verlautbarungen und Gravamina beschworen und die ständischen Privilegien fixierten, erhob der kurfürstliche Hofprediger Johann Fleck in den Rang eines christlichen Verfassungsideals, als er 1602 den Landtag mit seiner sogleich auf kurfürstliche Veranlassung unter dem ­Titel „Idea Christiane Reipublicae Oder Einfeltiger Abriß eines Christ­ lichen Regiments“ gedruckten und veröffentlichten Predigt eröffnete: Unter seinen vier „Regimentssäulen“ stand die Reinhaltung der lutherischen Lehre an erster Stelle, wie sie gegründet sei in der Heiligen Schrift und in den drei Haupt-Symbola und dargestellt sei durch die „uralte ungeänderte Augsburgische Konfession, wie auch derselben Bekenntnis Apologia und denn letztlich das selige und edle Buch Formular Concordiae.“ Die Stände wurden dazu ermahnt, dem Calvinismus die „herzhafte Arzenei des göttlichen Worts“ entgegenzusetzen und darauf zu achten, daß nicht die calvinische Sekte als ein tötliches Seelengift den einfältigen Laien beigebracht werde, was weder die Obrigkeit noch die Stände vor Gott verantworten könnten23. Die Generalprivilegien von 1572 und 1602 setzten stillschweigend ­ oraus, daß die märkischen Landstände in der zweiten und dritten Genev ration nach Einführung der Reformation 1540 uneingeschränkt und vorbehaltlos die lutherische Glaubenslehre, sowie sie etwa in Luthers ­ Katechismus, in der Augsburgischen Konfession von 1530 und im Konkordienbuch von 1580 ihren schriftlichen Niederschlag gefunden hatte, für sich übernommen, ja, sie als allein wahre Religion und als alleinige Richtschnur und Maßstab einer christlichen Lebensführung verinnerlicht hatten24. Die Bestimmungen von 1572 und 1602 kreisten um die 23  Gundermann, Kirchenregiment (wie Anm. 4), 228 f.; Haß, Die kurmärkischen Stände (wie Anm. 14), 88–90. 24  Mit Gewinn sind zur Analyse dieses Vorganges die allgemeinen Untersuchungen zur „Konfessionalisierung“ der zweiten Hälfte des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts heranzuziehen: Heinz Schilling. Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), 1–45; speziell zu Brandenburg: Ders., Nochmals „Zweite Reformation“ in Deutschland. Der Fall Brandenburg in mehrspektivi-



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ständischen Rechte an geistlichen Pfründen, am Patronat und Pfarrerstand, an der Universität, aber immer unter der selbstverständlichen Vorgabe, daß alle diese Rechte im Sinne der wahren evangelischen Religion genutzt und gemäß den Aufgaben und Zwecken einer christlichen, lutherischen Obrigkeit gebraucht würden. Man studiere einmal die Protokolle und Abschiede der Generalvisitationen von 1573/81 und 160025 über die kirchlichen Gegebenheiten in den märkischen Gemeinden, also auf der lokalen Ebene, auf der die adligen und bürgerlichen bzw. städtischen Patrone ihren maßgeblichen Einfluß ausübten: Die wiedergegebenen Bekundungen von Geistlichen und Laien ebenso wie die geschilderten Verhältnisse zeugen davon, daß der lutherische Glaube unter Land und Leuten zutiefst verankert war und die calvinistische Konkurrenz auf keinen Widerhall stieß. Die Wirkmächtigkeit von Luthers Lehre unter Adel und Bürgerschaft der Mark, ihre innere Annahme sei an dieser Stelle wenigstens beispielhaft mit zwei verschiedenartigen Quellenzeugnissen veranschaulicht und belegt. Matthias von Saldern, Kammerherr und Finanzier Joachims II., Inhaber der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack in der Prignitz, die ihm

scher Sicht von Konfessionalisierungsforschung, historischer Anthropologie und Kunstgeschichte, in: Zeitschrift für Historische Forschung 23 (1996), 501–524, bes. 512–524 (Beschreibung der verschiedenen methodischen Ansätze zur Erkenntnis und Analyse der Konfessionalisierung). – Zu beachten ist, daß die gesellschaftsgeschichtlichen Ansätze dazu neigen, Theologie und Glauben funktional zu betrachten; vgl. etwa die Kritik von Kurt-Victor Selge in seiner Rezension des derartig orientierten Buches von Peter Blickle, Die Reformation im Reich, 1982, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), 155 f., hier 156: „die Frömmigkeit, den Glauben und die Ethik der Reformatoren und evangelischen Fürsten, Bürger, Bauern kann man aus ihm [sc. diesem Buch] nur begrenzt erkennen.“ – Es kommt schon einer argen historiographischen Verzerrung nahe, wenn in einem gedrängten Überblick über die brandenburgische Geschichte, wie ihn Peter-Michael Hahn, Geschichte Brandenburgs, München 2009, bietet, die Reformation auf knapp zwei Seiten (S. 41–43, 50) weitgehend negativ – mit unzulänglichen Argumenten – unter alleiniger Hervorhebung ihrer politischen und sozialen Folgen, also funktional unter Absehung von der Glaubensbewegung und Glaubenserneuerung, abgehandelt wird. 25  Vgl. dazu nur Christiane Schuchard, Landesherr und Reformation  – Visita­ tionen in der Mittelmark, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 71 (2017), 263–277. – Auf der (beispielhaft zu verstehenden) Auswertung der märkischen Visitationsberichte des 16. Jahrhunderts beruht die stadtgeschichtliche Darstellung von Klaus Neitmann, Perlebergs reformatorische Wandlung: sein evangelisches Kirchenleben im 16. Jahrhundert, in: Stadt Perleberg (Hrsg.), Auf den Spuren des mittelalterlichen Perleberg, Berlin 22018, 49–56. Benutzte Quellenedition: Die brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und -Register des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Bd. 1: Die Prignitz, hrsg. v. Victor Herold (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, IV), Berlin 1931.

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sein Kurfürst wegen seiner treuen Dienste aus dem säkularisierten Besitz der Havelberger Bischöfe verliehen hatte, leitete 1570 sein Testament auf vier Seiten mit geistlichen Betrachtungen, mit seinem eigenen persönlichen Glaubensbekenntnis ein, das eine gedrängte Wiedergabe der lutherischen Rechtfertigungslehre enthielt, darin die allein durch Christi Tod und Auferstehung bewirkte Sündenvergebung betonte und jegliche Werkgerechtigkeit verwarf; seine eindringlichen Worte bezeugen die Kraft seines Glaubens, aus dem heraus er sein Leben aktiv gestaltet hatte. „Und erstlich bekenne ich, daß [ich] vormittelst der unzertheilten, allerheyligsten gottlichen dreyfaltigkeitt krafft und vorleihung als ein ­ getauffter christ im rechten, wahren, apostolischen und christlichen glauben von nun an bestendiglich unwiderruflichen leben und sterben will, und das Jesus Christus, […] mein herr, trost und heyland, mich und alle christgleubige mit seinem bittern leiden, ausgeißung seines heyligen, teuren, werden rosenfarben bluts unschuldigen und schmelichen tods aus lauterer gnad und barmhertzigkeit one einig verdinst oder ansehen meiner unwirdigen sundtlichen menschlichen werk Gott dem almechtigen und himlischen vater versohnet und vor alle meine sunde gnug gethan hatt. […] Rueffe auch hiemit den wahren, ewigenn Gott aus grunndt meines hertzen flelichen an, do seine gotliche almechtigkeit aus veterlicher barmhertzigkeitt und umb des gehorsambs, bitter leiden unnd blutvorgießens, sterbens, frolichen uberwindung des todes und aufferstehung ­Jesu Christi willen […] mich in gnaden aufnehmen und alle begangene mißethat und sunde, so ich von meiner jugendt auf wißentlich und un­ wißentlich wider seine gotliche maytt., meinen negsten und allen mit christlichen menschen als eine sundhafte schwache creatur gehtan, gnediglich vorzeihen und vorgeben […] wolle.“26 Das zweite Beispiel stammt aus Prenzlau: 1597 einigte sich Bernd von Arnim zu Gerswalde und Grünow mit dem Rat der Stadt darüber, die ihm gehörige Kirche beim ehemaligen Grauen Kloster in Prenzlau wieder aufzubauen und darin Gottesdienst unter Hinzuziehung der ihm vom Rat dafür bewilligten städtischen Kirchen- und Schuldiener halten zu lassen. Wenn, so heißt es abschließend, nachfolgende Besitzer der Klosterkirche die Religion entgegen der Augsburgischen Konfession ändern, ist der Rat zum Widerruf seiner personellen Unterstützung befugt. Und umgekehrt: Wenn die calvinische oder andere irrige Religionen und Sekten entgegen der Augsburgischen Konfession, der gegenwärtigen Kirchenordnung und dem ein26  Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, Rep. 37 Plattenburg-Wilsnack, Nr. 6086. Vgl. zum Testament ausführlicher Jan Peters, Märkische Lebenswelten. Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack, Prignitz 1500–1800 (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 53), Berlin 2007, 173–175.



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geführten christlichen Brauch dieses Landes in den Prenzlauer Pfarrkirchen einreißen, ist Arnim befugt, in seiner Kirche andere christliche Prediger für Predigten und Sakramentreichungen zu bestellen27. Diese beiden Quellenzeugnisse sollen an dieser Stelle mehr nicht leisten als die Leerstelle andeuten, die im Rahmen dieses Aufsatzes nur berührt, aber nicht gefüllt werden kann: Es gilt zu schildern und zu analysieren, in welcher Weise und mit welcher Intensität die „lutherische Konfessionalisierung“ oder die „lutherische Konfessionskultur“28 so nachhaltig unter den märkischen Ständen und überhaupt unter dem märkischen Kirchenvolk durchdrang, daß sie nach 1613 dem reformierten Bekehrungsversuch unüberwindlichen Widerstand entgegensetzten. Es überrascht in keiner Weise, daß die kur- und neumärkischen Stände nach dem Tod Joachim Friedrichs seinen damals in Preußen weilenden Nachfolger Johann Sigismund am 23.  August 1608 mit einer Supplik ­begrüßten, in der sie ihn darum ersuchten, sie „bey der einmal erkandtenn und bekandten wahren Religion der Augspurgischen Confession sowoll bey gleichmeßiger Justitien, unsern wolhergebrachtten Privile­ gien, Statuten, Gnadenn, Freiheitten, Gerechtigkeitten und Reverßenn, als den Landesbanden, gnedigst zue schutzenn, zu erhalttenn unnd zue handthaben.“29 In seiner in Königsberg genau vier Wochen später, am 23.  September 1608, verfaßten Antwort griff der neue Kurfürst ihr Ansinnen teilweise unter wörtlicher Wiederholung ihrer Formulierungen auf und versicherte ihnen in seinem Abschied, sie „bey der rechten erkanten und bekanten wahren Religion, die auf Gottes Wordt gegrundet und der Augspurgischen Confession gemeß ist, schutzen und handhaben“ und sich ihnen „in andern Religion- und Prophan-, die justicia und eure 27  Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, Rep. 8 Prenzlau, U 517.  – Wie der Prenzlauer Rat, der sich als „christliche Obrigkeit“ verstand, das städtische Leben umfassend im Sinne der christlichen Lehre zu gestalten suchte, offenbaren die 1577 von ihm in Kraft gesetzten Statuten, die hauptsächlich aus einer „christlichen Policeyordnung“ bestehen. Vgl. Klaus Neitmann, Das lutherische Prenzlau zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg: Städtische „Konfessionalisierung“ und „konfessionelle Sozialdisziplinierung“ zur Sicherung „zeit­ licher und ewiger Wohlfahrt“, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 71 (2017), 245–262. 28  Andreas Stegmann, Konfessionelle Kultur im frühneuzeitlichen Brandenburg, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 72 (2019), 211–213, fordert zu Recht für die frühneuzeitliche Mark Brandenburg die Erforschung seiner Konfessionskultur(en); dabei geht es ihm u. a. „um die Wechselwirkungen zwischen Religion und Lebenswelt und damit um den Aufweis der weltdurchdringenden Prägekraft des Religiösen“ (212). 29  Acta Brandenburgica. Brandenburgische Regierungsakten seit der Begründung des Geheimen Rates, hrsg. v. Melle Klinkenborg, Bd. IV/1, Berlin 1930, 108 Nr. 2389, hier 110.

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Privilegien, Statuten, Begnadigungen, Freyheiten, Gerechtigkeiten, Reversen, aufgerichten Vörtragen, und was dem mehr anhenget, betreffenden Sachen“ im Sinne von deren Einhaltung gnädig erweisen zu wollen30. Ein umfassendes Generalprivileg für die kur- und neumärkischen Stände, wie es sein Vater und Großvater nach ihrer Regierungsübernahme, ausgelöst durch den Zwang zur Tilgung der vom jeweiligen Vorgänger hinterlassenen Schulden, ausgefertigt hatten, bereitete er allerdings zunächst nicht vor. Allein den neumärkischen Ständen gewährte er am 11. Juni 1611, nachdem sie ihm Hilfe zur Abtragung seiner Schuldenlast versprochen hatten, ein Privileg31, indem zum ersten Mal überhaupt für die Neumark seitens des Landesherrn gegenüber den Ständen religiöse und kirchliche Verhältnisse geregelt wurden – und zwar gänzlich in traditioneller Weise, indem die diesbezüglichen Bestimmungen aus den Privilegien für die kurmärkischen Stände von 1572 und vor allem von 1602 weitgehend wörtlich mit geringfügigen Ergänzungen und Klarstellungen übernommen wurden. Der für die Religionsfrage maßgebliche erste Artikel stützte sich weitgehend auf den Wortlaut des Privilegs von 1572, ließ in den aus dem Privileg von 1602 übernommenen Formulierungen die dortige ausdrückliche Bezugnahme auf das Konkordienbuch und die Luther folgenden Kirchenlehrer aus  – wie schon die kurfürstliche Erklärung vom September 1608 nur die Augsburgische Konfession erwähnt hatte  – und fügte der Bezugnahme auf die Sakramente hinzu, „wie die bißhero in unsern Landen getrieben undt auß dem abschewlichen Finsternuß des Pabstumbs wiederumb repurgiret undt ans Tagelicht gebracht“. Daß das Konkordienbuch und die Anhänger der lutherischen Orthodoxie nicht mehr ausdrücklich erwähnt wurden, konnte die ständischen Adressaten schwerlich darauf schließen lassen, daß der Kurfürst von ihnen abgerückt wäre; die Verwerfung anderer Kirchendoktrinen, -ordnungen und -zeremonien rechtfertigten solche Zweifel nicht, wenn sie denn ein Zeitgenosse überhaupt gehabt haben sollte32. Zwei Jahre später behauptete allerdings Johann Sigismunds Vizekanzler Dr. Friedrich Pruckmann, der Kurfürst habe anläßlich der Entgegennahme der Erbhuldigung das Konkordienbuch, ein von Menschen erdachtes, Spal-

30  Ebd.,

139 Nr. 2412, hier 141. Archiv der Brandenburgischen Provinzialverwaltung, Bd. 2: Das neumärkische Ständearchiv, hrsg. v. Melle Klinkenborg, Strausberg o. J. [1925], 195 Nr. 16, hier 197–201, bes. 197 f. 32  Ebd., 197 f. Die Textanleihen aus der Vorurkunde von 1572 sind von Klinkenborg nicht hinreichend durch Petitdruck gekennzeichnet worden, auch die Schlußpassage entstammt ihr.  – Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 3), 11, schließt aus dem Wegfall der Konkordienformel auf die Absicht des Kurfürsten, „von der lutherischen Orthodoxie abzurücken“. 31  Das



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tungen verursachendes Buch, übergehen lassen, weil er es niemandem habe aufdrängen wollen33 – eine Aussage, die allzu sehr von der neuen konfessionspolitischen Lage des Jahres 1613 bestimmt ist, als daß sie ohne Weiteres Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen dürfte. Nichts schien nach Johann Sigismunds Regierungsantritt und seinen konfessionspolitischen Verpflichtungen für die Stände darauf hinzudeuten, daß der lutherische Landesstaat binnen kurzem von ihrem Fürsten selbst in Frage gestellt werden würde. Aber gut zwei Jahre später, im Spätherbst 1613, drohte die Welt der lutherischen Mark Brandenburg aus den Fugen zu geraten, als Johann Sigismund nach einer voraufgegangenen Ankündigung seines Bekenntniswechsels gegenüber der Berliner Geistlichkeit zu Weihnachten 1613 an einer Abendmahlsfeier nach reformiertem Ritus teilnahm34. Die Stände hatten ihn noch vor diesem öffentlichen Akt auf die ersten Anzeichen seines Überganges zum Calvinismus gewarnt, indem ihn ihr Ausschuß in seiner Supplik vom 8.  Dezember 161335 bat, das calvinistische Treiben des neuen Hofpredigers am Berliner Dom, Salomon Finck, der die lutherische Lehre, Zeremonien und Kirchenbräuche den Zuhörern verdächtig mache und durch Calvins Dogmen zu ersetzen suche, zu unterbinden. Zur rechtlichen Begründung ihres Verlangens beriefen sie sich auf die ihnen gewährten früheren kurfürstlichen Reverse, im allgemeinen darauf, daß nach ihnen der Kurfürst „keine wichttige sache, daran dem lande gedey oder vorterb gelegen, ohne der gemeiner landtstende vorwissen vnd rath schlissen oder vornehmen wollen“, im besonderen darauf, daß nach dem wörtlich zitierten Paragraphen aus dem Revers Joachims Friedrich vom 11.  März 1602 der lutherische Bekenntnisstand für das Land unverändert aufrechterhalten werden sollte; sie erinnerten Johann Sigismund an seine eigenen Zusicherungen, an seine Bestätigung des ­väterlichen Reverses vom 12. März 1602, an seine Resolution vom 23. September 1608 und an seine jüngere Neuruppiner Erklärung gegenüber dem Ständischen Ausschuß, er werde bei der im Lande üblichen Augs-

33  Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 13), 708 Nr. 225, hier 712. 34  Zu den nachfolgend geschilderten landesherrlich-ständischen Verhandlungen der Jahre 1613 bis 1615 vgl. insbesondere die aus den Akten des Geheimen Rates und den Landtagsakten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz erarbeitete, grundlegende Darstellung von Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Am. 3), 12–20. – Ebenso wichtig die Darstellungen von Croon, Die kurmärkischen Landstände (wie Anm. 15), 188–198, und Nischan, Prince (wie Anm. 3), 204–211. 35  Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 13), 702 Nr. 223.

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burgischen Konfession und Religion verbleiben, sie seinen Untertanen belassen und keine Änderung gestatten. Sie erinnerten den Kurfürsten daran, daß der „teure mann“ Luther die Mark und benachbarte Lande aus der Finsternis des Papsttums zum hellen Licht des Evange­liums gebracht habe, und drückten ihre Zuversicht aus, daß der Kurfürst derselben Religion wie sein Urgroßvater, Großvater und Vater anhängen und niemanden davon abwenden lassen werde. Folgerichtig forderten sie ihn dazu auf zu veranlassen, daß der calvinistische Hofprediger und andere calvinistische Prediger ihre Predigt am Hofe und im ganzen Land einstellten, und zu diesem Zweck dem General- und den anderen Superintendenten dementsprechende Maßnahmen zu befehlen. Der gefällige Stil und Tonfall des Schreibens vermochte die Härte der Forderungen nicht zu verdecken: Im Sinne der lutherischen Homogenität der Mark Brandenburg hatte der Kurfürst jegliche calvinistische Predigt zu unterbinden, und zwar, weil er an den in den ständischen Privilegien zugesicherten lutherischen Landesstaat gebunden war und sich nicht nach eigenem freien Ermessen über ihn und über das ständische Votum für ihn hinwegsetzen durfte. Johann Sigismund ließ die Supplikanten nicht nur fast vier Monate auf seine Antwort warten, sondern fertigte sie darin am 28. März 161436 recht rüde und mit großer Wucht ab, indem er ihnen geradezu von oben herab die Unzulänglichkeit und Verkehrtheit ihrer Argumentation und die Anmaßung, ihrem Landesfürsten vorschreiben zu wollen, „was er vor sich vnndt ohne aller vntherthanenn zwang vnndt drang glauben soll,“ vorhielt. In dem langen Mittelstück seiner Darlegungen legte er seine reformierten Überzeugungen zur Abendmahls- und Prädestinationslehre dar, aber eingangs und ausgangs wehrte er unwirsch die Zumutungen der Stände ab. Er unterstellte ihnen die theologische Unkenntnis der maßgeblichen Bekenntnisschriften und empfahl ihnen, sich durch eigene Lektüre der Bibel und der strittigen Religionsartikel ihr eigenes Urteil zu bilden, statt nur auf die Kanzelreden ihrer Prediger zu hören; dann würden sie keinen Anstoß mehr an reformierten Gottesdienstformen und Lehrinhalten nehmen. Der Kurfürst suchte sie also unverhohlen von ihren lutherischen Geistlichen zu trennen. Die unveränderte Augsburgische Konfession, auf die sie sich theologisch stützten, habe sicherlich keiner von ihnen gelesen, selig könne man gewiß ohne die Konkordienformel werden, und Luther habe noch tief in der Finsternis des Papsttums gesteckt und sich nicht hinreichend von menschlichen Lehren trennen kön36  Ebd., 724 Nr. 230. Vgl. dazu wie auch zur kurfürstlichen Argumentation in der hier nicht zu behandelnden „Confessio fidei Iohannis Sigismundi“ Wolgast, Der Übertritt (wie Anm. 3), 83–85.



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nen. Ebenso wie er ihnen die Unabhängigkeit ihres Gewissens belasse, gebühre es ihnen als Untertanen nicht, in sein Gewissen einzugreifen. Sein Gewissen habe er allein vor Gott zu verantworten und darüber keinem Untertanen Rede und Antwort zu geben – und mit dieser Berufung auf die fürstliche Gewissensfreiheit wehrte er das Kernstück des ständischen Verlangens ab, die Berufung auf die ständischen Reverse. „Dan in gottes Sachen gelten keine reuerß. Was vor eine vnuerantwortliche sunde were auch das, wan wir dem heyligen geiste alle zugänge, thurer vnndt thor durch reuerse versperren solten, sein werck in vnns zuuerrichten vnd vns zu weiterer erkentnus der gotlichen warheit vnnd worts zubringen.“ Dieses Schreiben, das der in diesen Jahren auf landesherrlicher Seite in Religionssachen federführende Vizekanzler Friedrich Pruckmann konzipiert hatte, konnten die Stände nicht anders als Kampfansage verstehen: Deutlicher konnte man ihnen nicht vor Augen stellen, daß der Kurfürst die ihnen von seinen Vorgängern gewährten konfessionspolitischen Rechte, die Zusage des lutherischen Bekenntnisstandes, für überholt, nichtswürdig und irrelevant hielt; stattdessen waren sie unter Abwendung von der lutherischen Geistlichkeit zum Übertritt ins reformierte Lager aufgefordert, wenn auch in denkbar ungeschickter Weise. Denn wenn auch der Kurfürst seit Dezember 1613 wiederholt mündlich und schriftlich versicherte, keinen Anspruch auf die Herrschaft über die Gewissen seiner Untertanen zu erheben, niemandem seinen Glauben aufzwingen zu wollen, da dies doch vor Gott keinen Wert hätte, und die Lutheraner in ihrem Glauben zu belassen37, brachte er sich doch zugleich aus der Sicht seiner Opponenten um seine Glaubwürdigkeit, wenn er selbst oder sein Sprachrohr Pruckmann in ihren Erklärungen die maßgebliche und geltende Rechtsgrundlage, eben die ständischen Privilegien von 1572 und 1602 zugunsten der Bewahrung der reinen lutherischen Lehre, als belanglos abtaten. Wie die Verhandlung zwischen Pruckmann und der Berliner und Cöllner Geistlichkeit im Cöllner Schloß am 18. Dezember 161338 offenbarte, beriefen sich zwar beide Seiten auf die der jeweiligen Gegenseite zugestandene Gewissens- und Religionsfreiheit, aber aus dieser Einigkeit erwuchs keine gemeinsame Überzeugung über den Religionsstand der Mark Brandenburg und ihrer Bewohner, weil sie aus dem gleichen Ausgangspunkt unterschiedliche Schlußfolgerungen zogen. Pruckmanns Rede stellte die Gewissensfreiheit in den Mittelpunkt, be-

37  Vgl. die von Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 3), 30 f., zusammengestellten Belege. 38  Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 13), 708 Nr. 225; Wolgast, Der Übertritt (wie Anm. 3), 80.

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tonte in wiederholten Ansätzen, keine Obrigkeit dürfe sich anmaßen, das Regiment über die Gewissen der Untertanen auszuüben und sie zu einem Glaubensbekenntnis entgegen ihrem Gewissen zu zwingen, zitierte beispielhaft die Könige Alfons von Aragon und Stephan Bathory von Polen, die nur „Könige der Leute“, aber nicht „Könige der Gewissen“ hätten sein wollen39, und sicherte zu, der Kurfürst werde entsprechend seinem Huldigungsversprechen in die Gewissensfreiheit der Untertanen nicht eingreifen und ihnen auch ihre überkommenen Zeremonien belassen. Aus all dem leitete er seinen entscheidenden Punkt ab: So wie die Obrigkeit ihren Untertanen die Gewissensfreiheit gönne, so dürften diese umso mehr ihrem Herrn nicht vorschreiben, was er seinem Gewissen gemäß predigen lasse  – also: Die kurfürstliche Gewissensfreiheit erlaubt ihm gemäß seiner geistlichen Überzeugung die Verbreitung des reformierten Bekenntnisses von der Kanzel40. Pruckmanns Widersacher Simon Gödicke, der Sprecher der lutherischen Geistlichen, begrüßte die Einigkeit darüber, daß das Regiment über die Gewissen niemandem als Gott zustehe, und war erfreut darüber, daß ihnen die bisher innegehabte Religionsfreiheit belassen werde, gemäß den angedeuteten lutherischen Lehrgrundlagen, nämlich insbesondere der unveränderten Augsburgische Konfession und der Apologie von 1530, Luthers Katechismus und den Schmalkaldischen Artikeln und der Konkordienformel41. Folgerichtig forderte er den Kurfürsten dazu auf, die Untertanen in ihrem so mit Gottes Wort gefüllten Gewissen zu beschützen, und er erinnerte ihn an seine Erklärung, bei der Religion der Eltern zu verbleiben, keine neue Kirchendoktrin einzuführen; er wisse kein Fundament, auf dem der Kurfürst die Änderung der Religion setzen könne  – also: Der Kurfürst gewährt seinen lutherischen Untertanen Religionsfreiheit, indem er entsprechend seinen Zusicherungen in seinen Reversen selbst im lutherischen Bekenntnis wie sie verharrt. Am Schluß seiner Replik unterließ es Gödi39  Pruckmanns Zitate wurden Anfang Oktober 1614 auf dem Berliner Reli­ gionsgespräch von den lutherischen Geistlichen aufgegriffen und von ihm in seiner Erwiderung bekräftigt, vgl. Die „Teltowgraphie“ (wie Anm. 1), 181, 188. 40  In ganz ähnlicher Weise argumentierte Johann Sigismund gegenüber Kurfürst Johann Georg von Sachsen am 10. Februar 1614, als er dessen Behauptung bestritt, seine Landschaft habe sich wegen seines Glaubensbekenntnisses von ihm abgewendet; allerdings sollten Untertanen sich nicht anmaßen, ihrem Herrn seinen Glauben vorzuschreiben, obwohl er ihnen ihre Gewissensfreiheit belasse; er werde sich mit seiner Landschaft zu vereinbaren wissen. Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 13), 715 Nr. 228, hier 719. 41  Zur grundsätzlichen Bedeutung der unveränderten bzw. veränderten Augsburgischer Konfession und des Konkordienbuches für die lutherische und cal­ vinistische Konfessionalisierung vgl. Schilling, Die Konfessionalisierung (wie Anm.  24), 20 f., 25 f.



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cke nicht, auf seine maßgeblichen Unterstützer hinzuweisen: Die „Landschaft“, mithin die Stände, habe sich bereits gegen die kurfürstliche Position gewandt, und es drohe daraus dem Land ein großes Ärgernis zu erwachsen. Aber eben das ständische Privilegienrecht bzw. seine verpflichtende Geltung in der Bekenntnisfrage hatte Pruckmann zuvor verworfen: Vor Gott gälten keine Reverse, auch Joachim II. habe zuerst seinem altgläubigen Vater die Befolgung der katholischen Religion versprochen, aber dann doch mit der zwischenzeitlich gewonnenen besseren Einsicht die Reformation im Lande eingeführt. Als Johann Sigismund lutherische und reformierte Geistliche zu einem Religionsgespräch am 29.  September 1614 nach Berlin eingeladen hatte42, bekannten sich die versammelten lutherischen Pfarrer und Inspektoren am Folgetag auf die ungeänderte Augsburgische Konfession und das Konkordienbuch und verpflichteten sich dazu, sich weder durch gegenwärtige noch künftige Gefahr davon abbringen zu lassen. Die zuvor erbetene und verlesene Stellungnahme der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg empfahl den märkischen Geistlichen, sich eng an die kurmärkischen Stände anzuschließen und entsprechend ihrem Rat und mit ihrem Wissen vorzugehen, denn „die vornehme Lutherische landschaft werde mit ernst darauf bedacht sein, und allerhand mittel zeigen, damit ihre Lutherische Confession, welche […] von allen bishero regirenden Churfürsten zu Brandenb[urg] gehandhabt worden, ferner unperturbiret bleiben möge.“43 Die an die kurmärkischen Stände gerichtete Erwartung sollte nicht trügen: Obwohl ihr gleichzeitig in Berlin zusammengetretener Ausschuß vom Kurfürsten nicht wegen der Religionsfrage einberufen worden war, stellte er sich unzweifelhaft und eindeutig auf die Seite der lutherischen Geistlichkeit, und er formulierte in dem Schlußabsatz seines Schreibens vom 2.  Oktober an Johann Sigismund kurz und knapp seine konkreten Forderungen zur Bewahrung der lutherischen Mark: Er verlangte Gewissensfreiheit in Religionssachen, den Verbleib des Landes bei der in ihm seit vielen Jahren beachteten ungeänderten Augsburgischen Konfession und deren Apologie, als der „einmal erkandten und bekandten wahren religion“, die Besetzung des Konsistoriums mit unverdächtigen Leuten, also mit Lutheranern, die Ordination und Bestätigung der Pfarrer durch die General- und Superintendenten nach althergebrachter Weise, die Belassung der Universität zu Frankfurt, der Fürstenschule zu Joachimsthal und aller Kirchen und Schulen in der gesamten Mark bei der „einmal erkandten und bekandten wahren Reli­ 42  Vgl. dazu die in der „Teltowgraphie“ (wie Anm. 1), 145–191, abgedruckten Schriftstücke vom September/Oktober 1614. 43  Ebd., 170 f.

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gion.“44 Mit anderen Worten: Die kurmärkischen Stände traten dafür ein, daß Land und Leute treu in ihrem lutherischen Bekenntnis verblieben und daß dazu das Personal an den Pfarrkirchen, an der kirchlichen Oberbehörde wie an den höheren und niederen Bildungsstätten ausschließlich den Reihen der Lutheraner entnommen wurde. Auf dem Weg zum Höhepunkt des Dramas und zur Entscheidung der Kontroverse wirken im Rückblick wie ein Vorspiel die Verhandlungen des Kurfürsten mit den neumärkischen Ständen im November und Dezember 1614 und deren Ergebnisse. Sie zeigten bereits die politische Gesamtlage, in die die Konfessionsfrage eingebettet war, und sie zeigten, wie weit Johann Sigismund zu diesem Zeitpunkt der neumärkischen Landschaft, die in ihrem Rang und Gewicht immer der kurmärkischen nachstand, entgegenzukommen bereit war. Der Große Ausschuß der neumärkischen Landschaft und der ihr inkorporierten Fürstentümer, Weichbilder und Herrschaften hatte die ihm am 12. November vorgelegten und erläuterten kurfürstlichen Anträge wegen mangelnder Entscheidungsvollmacht an die Prälaten, Herren, Ritterschaft und Städte der Kreise weitergeleitet, und auf Grundlage der dortigen Beratungen verhandelten bevollmächtigte Deputierte am 28.  November und ab dem 18. Dezember in Küstrin mit der Landesherrrschaft, erreichten dabei eine Übereinstimmung, die in einer dort am 23.  Dezember ausgefertigten Urkunde45 festgehalten wurde. Die kurfürstliche Proposition schildert die ausführliche Narratio: Nachdem die Mitglieder der protestantischen Union den ­Kurfürsten von Brandenburg dazu ermahnt hatten, in den von Tag zu Tag gefährlicheren Zeitläuften innerhalb und außerhalb des Reiches für den Notfall zur Abwehr des Unglücks, „so dem ganzen evangelischem Wesen angetrohet wurde, ja gleichsamb uber dem Haupte albereits schwebete“, etliche Gelder vorzuhalten, hat der Kurfürst dem Ausschuß den üblen Zustand Deutschlands vor Augen stellen und beantragen lassen, daß die neumärkischen Stände der Union mit einer Beisteuer von 100.000  Gulden zur Hilfe kommen, eine Defensionsordnung beschließen und 150.000 Taler zur Abzahlung seiner dringlichsten, „des Gülichschen Wesens halber“ entstandenen Schulden wie zur Einrichtung der Ämter und der „Reformation“ des Hofstaates zu gewähren. Am Ende der tagelangen Verhandlungen bewilligten die ständischen Deputierten 100.000 Taler, von denen die Städte 58.000 und die Prälaten, Herren und Ritterschaft 42.000 Taler aufbringen sollten und die in zwei Raten zu je 50.000 Taler am 26. Februar (Invocavit) und am 11. November (Martini) 44  Ebd.,

177 f. Neumärkische Ständearchiv (wie Anm. 31), 231 Nr. 18, zum Folgenden bes. 231–233, 236. 45  Das



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1615 jeweils in den einzelnen Kreisen erhoben werden sollten. Die Steuerbewilligung erwiderte der Kurfürst in der Weise, „ob sich zwar ihre churfürstliche Gnaden vor ihre selbst Persohn zu der reformirten Religion öffentlich mit Herzen und Munde bekennen, daß sie jedoch einem jeden die Freyheit seines Gewißens gönnen sollen und wollen; auch wollen sie niemandten der Religion halben haßen und noch viell weniger verfolgen; […] Es soll auch unter dem Schein praetendirten iuris patronatus in effectu solchem Reverse nicht wiederkommen oder deme von der Ritterschafft und Städten, wen von diesem zu Ersezung der erleddigten Pfarrdienste qualificirte Persohnen in Fellen, da sie es berechtiget und es bis hierher Herkommens gewesen ist, vorgeschlagen, nicht etwa verdechtige oder unannembliche eingeschoben und auffgestellet werden“. Der letzte Satz nahm den ständischen Formulierungsvorschlag, abgesehen von dem nachträglich von Pruckmann eingefügten relativierenden Nebensatz über die Berechtigung und das Herkommen der ständischen Patronatsrechte, auf, da sie darauf beharrten, „wider die neue Reformation, dazu wir uns mit gutem reinen Gewissen nicht verstehen können, vorsichert zu sein“. Pruckmann wies im Gegenzug darauf hin, daß der Kurfürst seine eigenen Patronatsrechte keinesfalls beeinträchtigen lassen wolle46. Kurz gesagt: Die Stände versprachen die baldige Entrichtung einer Steuer von 100.000 Taler auf Grund der finanziellen Anforderungen der protestantischen Union an ihr Mitglied Kurbrandenburg, und dafür gewährte ihnen der Kurfürst im Gegenzug Zugeständnisse in der Reli­ gionsfrage: Obwohl er selbst sich zur reformierten Religion bekenne, sichere er ihnen Gewissensfreiheit zu, werde sie wegen der Religion weder hassen noch verfolgen, und erledigte Pfarrstellen, für die das Patronat nach Recht und Herkommen der Ritterschaft und den Städten zustehe, sollten nach ihrem Vorschlag mit qualifizierten Personen und nicht mit verdächtigen, unannehmbaren besetzt werden. Deutlicher formuliert: Der reformierte Kurfürst gestand seinen lutherischen Ständen uneingeschränkte, von keinerlei landesherrlichem Zwang beeinträchtigte reli­ giöse Gewissensfreiheit zu und anerkannte vorbehaltlos, daß die Stände in ihren Patronatskirchen geeignete lutherische Pfarrkandidaten verbindlich vorschlugen und nicht an reformierte gebunden waren. Zwei andere Punkte, die der Kurfürst in seine Proposition aufgenommen hatte, wurden in der Einigung entweder nur beiläufig berührt oder künftigen Verhandlungen überlassen. Die ständische Erinnerung an die Einschränkung des großen Hofes nahm er entgegen, ohne sich dazu in irgendeiner Weise zu verpflichten. Zur Neuordnung der Landesverteidigung wurde nur ein Verfahrensweg zur Erörterung und Beschlußfassung vereinbart: 46  Croon,

Die kurmärkischen Landstände (wie Anm. 15), 195.

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Der Kurfürst sollte die wesentlichen Gesichtspunkte zur Umgestaltung des Defensionswesens darstellen lassen, die dann die von den Ständen in jedem Kreis bestimmten Personen beraten würden, und deren Empfehlungen sollten den Kreisen ausführlich berichtet werden, damit nach ihrem Einverständnis sämtliche Stände einen Beschluß faßten und das Werk umgesetzt wurde. Die finanz- und militärpolitischen Forderungen des Fürsten hatten somit die Stände mit ihren konfessionspolitischen Erwartungen verknüpft, sie hatten die außenpolitischen Verlegenheiten, in die das protestantisch-katholische Ringen im Besonderen um die JülichKlevische Erbschaft und im Allgemeinen um die (Religions-)Verfassung des Reiches Johann Sigismund gestürzt hatte, dazu ausgenutzt, sich von ihm die Freiheit ihres lutherischen Bekenntnisstandes verbriefen zu lassen. Wenn man bedenkt, daß die Stände die beantragten Finanzmittel nur teilweise bewilligt und die beantragte Landesverteidigung dilatorisch behandelt hatten, hatten sie ihre Vorstellungen stärker zur Geltung bringen können. Das Verhandlungsergebnis des Kurfürsten mit den neumärkischen Ständen war jedoch kein bindendes Präjudiz für seine Erörterungen mit den kurmärkischen Ständen, die wie bemerkt seit jeher innerhalb der gesamten Mark Brandenburg das entscheidende Gewicht auf die Waagschale warfen  – und so sieht das von ihnen erreichte Resultat deutlich anders aus als das vom 23.  Dezember 1614. In den entscheidenden Verhandlungen des Januar 1615 sind sie mit ihrer Position weitgehend, wenn auch nicht vollständig durchgedrungen; sie haben jedenfalls mit ihren neuen Rechten, die sie ihrem Herrn abtrotzten, verhindert, daß er seine Vorstellungen von der konfessionellen Zukunft des Kurfürstentums mit Aussicht auf durchschlagenden Erfolg weiterverfolgen konnte. Die Analyse der kontroversen Debatten wird zwei Leitfragen zu beantworten haben: Mit welchen Bestimmungen und in welcher Weise vermochten die Stände dem Kurfürsten den vorgesehenen Weg in den reformierten Landesstaat zu versperren? Und warum gelang ihnen die Durchsetzung ihrer Haltung in den entscheidenden Punkten, warum gab Johann Sigismund ihnen nach? Eine wichtige Grundlage war bereits in den heftigen Debatten vom Dezember 1613 bis zum Dezember 1614 mit dem ersten Zwischenergebnis vom 23.  Dezember 1614 gelegt worden. Der Kurfürst wie die Stände traten von vornherein für die Gewissensfreiheit in Glaubensfragen ein: Kein Untertan sollte entgegen seinen Gewissensüberzeugungen, entgegen seinem bisherigen religiösen Bekenntnis zur Annahme eines anderen gezwungen werden, d. h. er sollte in der Ausübung seines Glaubens unbeeinträchtigt und unverfolgt bleiben und nicht unfreiwillig zu dessen Aufgabe gedrängt werden. Vorausgesetzt wurde also von beiden Seiten, daß jede von ihnen – wenn auch mit Bedauern über die Religions-



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spaltung  – das andere Bekenntnis des jeweiligen anderen hinnahm, daß jede von ihnen die Freiheit des Glaubensbekenntnisses (also z. B. die Lutheraner die unveränderte Augustana und das Konkordienbuch) bzw. die Gewissensfreiheit für sich beanspruchen und folgerichtig niemand wegen seines Glaubens bevorzugt oder zurückgesetzt werden durfte. Ein, wenn nicht der zentrale Punkt des Augsburger Religionsfriedens von 1555, der Auszug des religiösen Abweichlers aus dem eigenen anderskonfessionellen Land, war damit aufgegeben. Es war zugleich die gleichartige Position verlassen, die Joachim II. in seiner Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 verkündet hatte: Zur Wahrung der kirchlichen und geistlichen „Gleichförmigkeit“ in seinen Landen sollte zwar jedermann Mängel dem Kurfürsten, seinen Bischöfen und Visitatoren vortragen, aber niemand seine Freiheit dazu ausnutzen dürfen, aus eigener Autorität die Kirchenordnung nach seinem Gefallen heute so und morgen anders zu verändern. Wer sich der landesherrlichen Kirchenordnung nicht unterwerfen wolle, erhalte die Erlaubnis zum Abzug aus der Mark Brandenburg: „ist aber jemands des eigensinnigen gemüts und […] zenkisch, der sich dieser unser christlichen ordnung zu vergleichen nicht gedenkt, den wollen wir also hiemit gnediglich erlaubt haben, sich an die örter zu begeben, da er seines gefallen gebaren möge.“47 Statt ggf. ihre Heimat verlassen zu müssen, durften Lutheraner und Reformierte fortan in ihrem gemeinsamen Land nebeneinander leben, ohne die Unterdrückung ihrer religiösen Überzeugung befürchten zu müssen. Beide Seiten hatten sicherlich unterschiedliche, ja gegensätzliche Hintergedanken, wenn sie mit dem Leitbegriff der „Gewissensfreiheit“ operierten. Die Stände hofften, daß der Kurfürst so daran gehindert werde, Lutheraner mit starkem obrigkeitlichen Druck oder gar Gewalt ins reformierte Lager zu treiben. Und Johann Sigismund hoffte, den lutherischen Widerstand mittel- und langfristig durch reformierte Überzeugungsarbeit überwinden zu können. Aber sie stimmten trotz verschiedener Voraussetzungen im Ergebnis überein, daß zwischen Lutheranern und Reformierten, also (natürlich) nur unter ihnen beiden unter Außerachtlassung aller anderen religiösen Konfessionen und Gruppen, Gewissensfreiheit und damit individuelle freie Religionsausübung in Kirchen und Schulen gelten sollten. Unter dieser beiderseits akzeptierten Prämisse drehte sich der langwierige Disput zwischen Ständen und Kurfürsten im Januar 161548 um 47  Die Evangelische Kirchenordnungen (wie Anm. 17), 53.  – Zur Einordnung dieser Bestimmung in die Aufgaben der „christlichen Obrigkeit“ des 16. Jahrhunderts vgl. Hintze, Die Epochen (wie Anm. 4), 73. 48  Vgl. dazu die auf die Akten des Geheimen Rates gestützte Darstellung von Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 32), 14–19. Knapp und oberflächlich die Darstellung bei Kniebe (wie Anm. 3), 39–42.

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institutionelle und personelle Vorkehrungen, mit denen die Bedingungen für die künftige Ausbreitung des reformierten Bekenntnisses unter der märkischen Bevölkerung je nach Standpunkt verbessert oder verschlechtert würden. Die Stände verlangten unter Bezugnahme auf die alten Reverse einen neuen, auch vom Kurprinzen zu unterschreibenden Revers. Konkret forderten sie erneut die Stellenbesetzungen im Konsistorium, in der Generalsuperintendentur, in der Frankfurter Universität und der Joachimsthalschen Fürstenschule nach dem unter Joachim Friedrich ­ praktizierten Verfahren, damit offene oder verdeckte Anhänger der reformierten Lehre ausgeschlossen würden, so wie es die neumärkischen Stände Ende 1614 bereits (vergeblich) gefordert und begründet hatten. Zum Patronatsrecht und damit zu den lokalen Kirchengemeinden begehrten sie anfänglich nur, daß ihren eigenen Patronatskirchen nicht neue reformierte Prediger aufgedrängt sowie nicht die alten lutherischen entlassen würden. Aber im Fortgang der Verhandlungen steigerten sie ihre Wünsche erheblich, indem der Kurfürst in Stadt und Land auch dort, wo er selbst der Patronatsherr war, den Untertanen keine „verdächtigen und unannehmlichen“ Prediger wider ihren Willen aufzudrängen befugt und solche Prediger, die zum reformierten Bekenntnis überträten, zu entfernen und durch lutherische zu ersetzen aufgefordert sein sollte. Dadurch, daß alle Stellen in den Kirchen und Bildungseinrichtungen der Mark, auch diejenigen unter kurfürstlichem Patronat, so ausnahmslos Lutheranern vorbehalten bleiben sollten, wäre der Kurfürst praktisch um jegliche Möglichkeit gebracht worden, sie mit reformierten Geistlichen zu besetzen und durch sie die Ausbreitung seines Bekenntnisses unter weiteren Bevölkerungskreisen zu befördern; ihm wäre das entscheidende personelle Instrument genommen worden. Johann Sigismund und Pruckmann widersetzten sich lange den ständischen Ansinnen, etwa mit dem Hinweis, die Prediger seiner eigenen Religion zu verfolgen und abzuschaffen, wäre die größte Unbilligkeit. So bogen sie manche vorgebrachte Forderung ab und verhinderten, daß die landeskirchliche Rechte des summus episcopus allzu offensichtlich eingeschränkt wurden. Im kurfürstlichen Revers vom 5.  Februar 161549 wurden Universität und Fürstenschule gar nicht erwähnt und blieben damit alleiniger kurfürstlicher Verfügungsgewalt vorbehalten. Das geistliche Konsistorium sollte im Hinblick auf die anliegenden Fälle personell ausreichend besetzt werden und wie zu Zeiten der beiden Vorgänger Johann Sigismunds 49  Das kurmärkische Ständearchiv (wie Anm. 2), 441 Nr. 22, zum Folgenden bes. 443–445 = Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 274 Nr. 421 § 2.  – Vgl. zum Revers Klaus Neitmann, Reformationsgeschichtliche Quelle: Die Gewährung der Religionsfreiheit in der Mark Brandenburg 1615: der Anfang konfessioneller Toleranz, in: Brandenburgische Archive 34 (2017), S. 49–52.



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in wichtigen Fällen unter Hinzuziehung weltlicher Räte  – aus dem damals fast ausschließlich mit Reformierten besetzten Geheimen Rat – und nötigenfalls unter Hinzuziehung eines oder zweier ständischer Vertreter entscheiden  – womit der Plan des Kurfürsten zur weitgehenden Ausschaltung des (lutherischen) Konsistoriums durch einen (reformierten) Kirchenrat faktisch unterbunden war. Den Patronen und Gemeinden unannehmbare Pfarrer sollten nicht automatisch wegen ihres reformierten Bekenntnisses entlassen werden dürfen, sondern ihr Fall erst vom Kurfürsten untersucht und nach Recht und Billigkeit und gemäß dem kurfürstlichen Revers für die Stände entschieden werden – womit dem Kurfürsten wenigstens ein gewisser Handlungsspielraum eröffnet wurde, wenn ein Pfarrer zum reformierten Bekenntnis übergetreten war. Auf Begehren der ständischen Patrone sollten die Prüfungen, Ordinationen und Bestätigungen der Pfarrer wie zu Zeiten Joachim Friedrichs durchgeführt werden. In Bezug auf die landesherrlichen Patronatsrechte lautete die entscheidende Festlegung  – im unmittelbaren Anschluß an die eingangs dieses Aufsatzes zitierte Stelle über die Freiheit der Gewissen: „Dahero sie [sc. ihre churfurstliche gnaden] dann auch niemanden, auch nicht an denen örtern, da ihre churfurstliche gnaden selbst das ius pa­ tronatus haben, es seye in städten, communen oder dorffern […] wider seinen willen einige verdechtige und unannehmliche prediger auftringen wollen.“ D. h.: Der Kurfürst verzichtete darauf, in seinen eigenen Patronatskirchen gegen den Willen der Kirchengemeinde reformierte Pfarrer einzusetzen. Er hatte somit den kurmärkischen Ständen noch sehr viel weiter entgegenkommen müssen als sechs Wochen zuvor den neumärkischen. Daß er die Stellenbesetzung in Frankfurt und in Joachimsthal in der alleinigen Hand behielt und dort in der Folgezeit Reformierte einsetzte, verschaffte ihm Vorteile in den hochrangigen Bildungsstätten. Aber in der Fläche, im Niederkirchenwesen, in den Kirchen nicht nur unter adligem und städtischem, sondern auch und gerade unter landesherrlichem Patronat war ihm das entscheidende Instrument, der reformierte Prediger, aus der Hand genommen: Dort trat gegenüber der großen Masse der Bevölkerung keine Person für sein Bekenntnis ein. Der Kurfürst war daran gehindert, einen entscheidenden Punkt des von seinen Beratern entwickelten Programms umzusetzen, nach dem nämlich die Landprediger durch Unterrichtung von Zweck und Ursachen der reformierten Reformation und durch Lektüre der reformierten Schriften gewonnen und die Pfarrer- und Lehrerstellen möglichst mit Personen „reiner [sc. reformierter] Lehre“ besetzt werden sollten50. Er mußte die Ankündigung zurücknehmen, mit der er im Dezember 1613 kurmärkische Adlige 50  Wolgast, Heidelberger Einflüsse (wie Anm. 3), 126–128; ders., Der Übertritt (wie Anm.  3), 87 f.

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zur reformierten Abendmahlsfeier in Berlin eingeladen hatte: Es gebühre ihm kraft seines Berufes und Amtes, so hatte er damals geäußert, „daß wir in unseren kirchen und schulen Gottes wort“ zu predigen und die Sakramente, „wie es bei der apostel zeiten und in der reformierten evangelischen kirchen breuchlich, administririen zu lassen.“51 Folgerichtig und geradezu selbstverständlich hatte der Geheime Rat im Januar 1614 die Bestellung reformierter Pfarrer in den kurfürstlichen Patronatskirchen beschlossen: „Item wo El[ector] das jus patronatus hatt, daselbsten muß er seine Religionsverwanten einsetzen“52. Die reformierte Bekehrung von Land und Städten der Mark Brandenburg war damit gescheitert, noch bevor sie überhaupt ernsthaft hatte einsetzen können; die Stände hatten sich mit ihrem Willen zur Behauptung des lutherischen Konfessionsstandes weitgehend durchgesetzt53. Daß den Ständen in erster Linie an der Wahrung ihrer Patronatsrechte, weniger an der Abwehr der Calvinisten gelegen gewesen sei, wie in der Literatur behauptet wurde54, ist ein allzu kurzschlüssiges Urteil. Denn

51  Kurfürst Johann Sigismund an einige vom kurmärkischen Adel auf dem Land, 12./22.  Dezember 1613, gedruckt bei: Anton Chroust, Aktenstücke zur brandenburgischen Geschichte unter Kurfürst Johann Sigismund, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 9 (1897), 1–21, hier 17; auf breiterer Überlieferung in: Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 13), 706 Nr. 224. 52  Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 3), 16 Anm. 1. 53  In den kraftvollen Worten Droysens: „In der mißtrauischen Überwachung des reformirten Hofes, in der Obhut über die in den Reversen vorgesehenen Dinge geistlich und weltlich, in der hochheiligen Pflicht, das Land vor der Ketzerei des Landesherrn und seines Geheimenrathes zu schützen, mußte das ständisch-lutherische Wesen zu der vollen Höhe seiner Bedeutung gelangen.“ Droysen, Geschichte der Preußischen Politik (wie Anm. 3), 439. 54  Croon, Die kurmärkischen Landstände (wie Anm. 15), 190. Hintze, Epochen (wie Anm. 4): „In allen Territorien besteht eine merkwürdige Verbindung zwischen dem orthodoxen Luthertum und dem Ständetum, die ihre Quelle eben in den ­Patronatsverhältnissen hat.“ Beeskow, Der Konfessionswechsel (wie Anm. 3), 14: „Die märkischen Stände und die mit ihnen verbundenen orthodox-lutherischen Geistlichen fürchteten angesichts des Konfessionswechsels um ihren gesellschaftspolitischen Einfluß und um ihre Privilegien.“ Genauso Nischan, Kontinuität (wie Anm. 3), 119. Die Formel erklärt überhaupt nicht, warum die Geistlichen und die Stände so sehr auf ihrem lutherischen Bekenntnis beharrten, denn weder hätten die Pfarrer ihre Anstellung verloren noch Adel und Städte auf ihre geistlichen Rechte verzichten müssen, wenn sie sich dem kurfürstlichen Schritt angeschlossen hätten. Die Stände traten für ihre Privilegien ein, weil sie die Rechtsgrundlage für ihr Verlangen nach dem lutherischen Territorium lieferten, und sie hätten befürchten müssen, daß grundsätzlich alle ihre Privilegien ihren Wert verlören, wenn der Landesherr sein wesentliches Versprechen zum Konfessionsstand seines Landes widerspruchslos hätte verwerfen können.



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ihr eigenes Patronat war nie grundsätzlich in Zweifel gezogen worden, in ihren eigenen Patronatskirchen sollten ihnen von vornherein keine reformierten Prediger aufgezwungen werden, und vor allem reichten ihre Forderungen in der letzten Zuspitzung des Konfliktes weit über die eigenen Patronate hinaus, wurde das Ringen mit dem Kurfürsten vor allem um dessen Patronatskirchen und um dessen kirchliche Behörden und Bildungseinrichtungen ausgetragen. Sicherlich bezogen die Stände diese in ihre Forderungen ein, damit dem Kurfürsten die Möglichkeit genommen wurde, über seine zahlreichen Patronatskirchen in der Mark für sein Bekenntnis zu werben und seine Untertanen von ihm zu überzeugen. Aber indem sie sich eben nicht auf ihre eigenen Kirchen beschränkten, verhalfen sie wohl mehr unbewußt als bewußt dem landesweiten Prinzip zur Geltung, daß der Landesherr seine Patronatsrechte nicht im Sinne seines eigenen Bekenntnisses zu dessen Propagierung und Missionierung ausnutzen durfte. Ihre Haltung bleibt unverständlich, wenn man nicht davon ausgeht, daß sie auf Grund ihrer eigenen Überzeugungen um die Bewahrung des lutherischen Bekenntnisses der Mark Brandenburg kämpften. In den mehr als 70 Jahren seit Einführung der Reformation 1539/40 waren sie so sehr von der lutherischen Lehre durchdrungen worden, daß sie nicht auf einmal den Glauben, in dem sie jahrzehnte- und generationenlang aufgewachsen waren und nach dem sie ihr Leben eingerichtet hatten, ablegen und ein neues Gewand anlegen wollten, nur weil ihr Landesherr plötzlich und überraschend zu einer neuen Glaubensentscheidung gelangt war und zur Nachfolge aufforderte; sie beharrten unbeirrt darauf, treu zu ihrem überkommenen lutherischen Bekenntnis stehen zu wollen55. Das Verhalten der Stände 1614/15 lag konsequent auf der kon55  Vgl. die grundsätzliche Bemerkung von Schilling, Die Konfessionalisierung (wie Anm. 24), 38 f.: „So wie Bekenntniszwang zur Vereinheitlichung von Staat, Kirche und Gesellschaft eingesetzt wurde, so war es umgekehrt die Bekenntnistreue, die immer wieder den prinzipiellen Widerspruch gegen Anmaßungen der Obrigkeit hervortrieb und einzelne wie soziale Gruppen – nicht zuletzt unter den Theologen – zum Widerstand gegen den frühmodernen Obrigkeitsstaat und seine überkommene Freiheiten aufhebende Untertanengesellschaft veranlaßte. […] in Brandenburg-Preußen und in zahlreichen anderen Territorien, die durch obrigkeitliche Entscheidung dem Calvinismus zugeführt werden sollten, war es das Luthertum, das sich mit dem [sc. ständischen] Widerstand in Stadt und Land verbündete.“ Vgl. dazu auch die treffliche Bemerkung von Stegmann, Die Reforma­ tion (wie Anm. 3), 230. Haß, Die kurmärkischen Stände (wie Anm. 14), 87, urteilt für das letzte Drittel des 16. Jahrhunderts pointiert: „Daß das neu gewonnene lutherische Bekenntnis in seiner ursprünglichen Form strengstens festgehalten werden müsse, war aufs tiefste in den Überzeugungen der Stände gegründet. Ist doch die religiöse Idee die einzig allgemeine gewesen, von der sich das Ständetum jemals hat fortreißen lassen, […]. Für alle kirchlichen Fragen bezeugten Junker und Stadträte allezeit das lebhafteste Interesse: hier waren sie auch mehr als ein-

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fessionspolitischen Linie, wie sie von den Kurfürsten mit ihnen in den Reversen von 1572 und 1602 abgestimmt worden war: Die Verpflichtung auf die reine lutherische Lehre lag ihnen damals mindestens ebensosehr am Herzen wie Johann Georg und Joachim Friedrich; nicht sie, sondern Johann Sigismund hatte mit seinem Konfessionswechsel die ihnen gewährten kirchlichen Gerechtigkeiten gebrochen oder zumindest in Frage gestellt56. Daß der Kurfürst vor den lutherischen Ständen zurückwich, rührte aus seiner schlechten Verhandlungsposition her, die gleich durch zwei Umstände von vornherein erheblich geschwächt war. Zum einen vermochte er nicht eindeutig und unzweifelbar das ius reformandi des Augsburger Religionsfriedens für sich zu beanspruchen. Dabei spielte allerdings in der zeitgenössischen brandenburgischen Diskussion der Jahre 1613 bis 1615 nur am Rande die Frage eine Rolle, ob ein reformierter Landesfürst überhaupt zu den im Religionsfrieden so betitelten Augsburger Religionsverwandten zu rechnen sei, wie Johann Sigismund und Pruckmann im Interesse ihres Bekenntniswerkes, aber mit zweifelhaften Argumenten behaupteten57, aber nicht ohne lauten lutherischen Widermal mit positiven Vorschlägen zur Hand.“  – Es erstaunt, daß Hahn, Geschichte Brandenburgs (wie Anm. 24), 52, mit seiner allgemeinen Bevorzugung der Lokalund Regionalgewalten in der vormodernen märkischen Geschichte zwar den Widerstand der Bevölkerung gegen den reformierten Bekenntniswechsel erwähnt, aber über dessen Ursachen kein Wort verliert; bezeichnenderweise leitet er wider alle eindeutigen Quellenaussagen den Schritt des Kurfürsten aus (außen-)politischen und nicht aus Glaubenserwägungen ab; vgl. dagegen die abwägenden Überlegungen zu Johann Sigismunds Motiven von Wolgast, Der Übertritt (wie Anm.  3), 81 f. 56  Insofern ist die Behauptung Lackners von der damals unbestrittenen Rechtmäßigkeit der Konversion des Kurfürsten und des Landes fragwürdig, weil sie die maßgebliche Rechtsgrundlage, die ständischen Reverse, übergeht; vgl. Lackner, Die Kirchenpolitik (wie Anm. 3), 52: „Die Rechtmäßigkeit des Übertritts und die Rechtlichkeit des Verfahrens bei der Einführung der reformierten Kirchenlehre in der Mark Brandenburg ist von keiner Seite bestritten worden.“ 57  Vgl. Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 3), 26–29, bes. die 27 Anm. 5 und 28 Anm. 2 zitierten Stellen aus dem Schreiben Johann Sigismunds an Kurfürst Johann Georg von Sachsen vom 10. Februar 1614. Nach Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit. Politik und Staatsbildung im 17. und 18. Jahrhundert, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, hrsg. v. Wolfgang Neugebauer unter Mitarbeit von Frank Kleinehagenbrock, Bd. I: Das 17. und 18. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 2009, 3–407, hier 140, „stand dem Kurfürsten nach dem gültigen Recht des Heiligen Römischen Reiches kein Reformationsrecht zu.“ Im selben Sinne: Schultze, Die Mark Brandenburg (wie Anm. 3), 192 (im Anschluß an Stutz). Anders Delius, Der Konfessionswechsel (wie Anm. 3), 127 („Im Geist des Territorialismus, also nach dem Grundsatz, daß der Landesfürst die Zugehörigkeit zu der einen oder



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spruch58. Sehr viel mehr fiel ins Gewicht, daß Johann Sigismunds beide Vorgänger sich in ihren Generalprivilegien ausdrücklich gegenüber den Ständen zur Einhaltung und Bewahrung des alleinigen lutherischen Bekenntnisstandes in der Mark Brandenburg verpflichtet hatten. Sie hatten damit das ius reformandi tatsächlich schon aus der Hand gegeben, indem sie auf die nach dem Religionsfrieden allein ihnen zustehende Freiheit der Bekenntnisentscheidung verzichteten und sich mit den Ständen auf Grund von deren Wunsch und wegen der gemeinsamen Glaubensüberzeugungen dauerhaft an die lutherische Reformation banden59. Das Vorgehen war 1572 und 1602 völlig unproblematisch gewesen, weil beide Seiten in der Konfessionsfrage gänzlich übereinstimmten. Aber die Zusagen mußten sich sofort für einen kurfürstlichen Konfessionswechsel als schwerer Hemmschuh erweisen, sobald die Stände sich ihm mit ihrer Auffassung und auf Grund ihrer Privilegien verweigerten; nur mit deren Einverständnis hätte der Landesherr jetzt den Bekenntnisstand des Landes ändern dürfen. Zwar fügte Pruckmann in den Passus des kurfürstlichen Reverses über die Begrenzung des landesherrlichen Patronatsrechts eine Bemerkung über das (eigentlich) unbegrenzte landesherrliche Recht zur Festsetzung der Religion in seinem Land ein („ob sie [sc. ihre churfurstliche gnaden] sich woll sonsten der einfuhrung der religion als des höchsten regaals frey und ohne militation vermöge aller rechte gebrauchten konten“)60. Aber abgesehen davon, daß der tatsächliche Verzicht auf das ius reformandi hier nur zur besseren Gesichtswahrung als großzügige kurfürstliche Gnade hingestellt wurde, war Johann Sigismund auf Grund der ständischen Privilegien seiner Vorgänger gar nicht frei in der Handhabung seines Reformationsrechtes, was sein Vizekanzler nach außen hin aber zu verschleiern suchte.

anderen Kirche bestimmen kann, hätte Johann Sigismund allen Brandenburgern die reformierte Konfession aufzwingen können. Strenge Lutheraner hätten dann das Land verlassen können.“); Gericke, Glaubenszeugnisse (wie Anm. 3), 28, und, beiden letztgenannten folgend, Beeskow, Der Konfessionswechsel (wie Anm. 3), 13; ebenso Lackner, Der Kirchenpolitik (wie Anm. 3), 52. Vgl. auch Beutel (wie Anm. 17), 179.  – Unabhängig davon, wie die Frage beantwortet wird, bleibt festzuhalten, daß sie in der politischen Debatte der Mark 1613/15 nur nachrangig und beiläufig von den Beteiligten behandelt wurde und, wie sogleich oben im Haupttext ausgeführt wird, gegenüber dem beherrschenden Thema, dem ständischen Privilegienrecht, deutlich zurücktrat. 58  Vgl. die Hinweise bei Kniebe, Der Schriftenstreit (wie Anm. 3), 40  f. mit Anm. 2. 59  Treffend von Wolgast, Der Übertritt (wie Anm. 3), 71, in seiner Wertung des Generalprivilegs von 1572 hervorgehoben. 60  Ausführlich zur Deutung dieser Formulierung vgl. Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 32), 20–22.

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Zum anderen machte sich in der konkreten allgemeinpolitischen Lage der Mark Brandenburg im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts61 für den Kurfürsten höchst nachteilig bemerkbar, daß er wegen der anstehenden außenpolitischen Konflikte auf die finanzielle und militärische Unterstützung der Stände dringend angewiesen war. Man braucht nur sein Generalprivileg für die kurmärkischen Stände vom 5. Februar 1615 aufmerksam zu studieren, um zu erkennen, daß er unter dem Druck seiner außenpolitischen Verpflichtungen in der Konfessionsfrage nachgab bzw. nachgeben mußte. Wie aus der langen Narratio hervorgeht, hatte er eine ständische Vertreterversammlung nach Berlin wegen zweier „hauptsächlicher Punkte“ einberufen: wegen der Bewilligung von 400.000 Gulden, „so dem gemeinem evangelischen wesen zu guete anzukehren,“ und wegen der Verabschiedung einer Defensions- und Landrettungsordnung62. Die Finanzhilfe war für die militärische Behauptung Brandenburgs in den neuerworbenen niederrheinischen Territorien bestimmt, um sie nach den schlechten Erfahrungen in den Jahren nach 1609 spürbarer gegen ausländische Interventionen verteidigen zu können, und der Aufbau einer militärischen Landesverteidigung in der Mark ergab sich aus den Verpflichtungen, die der Kurfürst mit seinem Beitritt zur evangelischen Union eingegangen war. Sein Finanzbedarf war mithin eine unmittelbare Folge der brandenburgischen Ansprüche auf das niederrheinisch-westfälische Erbe63 und aus den zunehmenden Spannungen im Reich zwischen 61  Vgl. dazu die fundierte Analyse von Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 57), 121–145 („Brandenburg-Preußen im 1600: Struktur  – Dynastie  – Konfession“); ders., Die Hohenzollern (wie Anm. 3), 127– 138. 62  Zur Militärverfassung der Mark Brandenburg im frühen 17. Jahrhundert und zu den diesbezüglichen gegensätzlichen landesherrlichen und ständischen Grundsatzpositionen vgl. Schultze, Die Mark Brandenburg (wie Anm. 4), 195–198; Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 57), 145–149. Zu dem hier erwähnten, zentralen militärischen Vorhaben einer „Landesdefension“ vgl. im allgemeinen Gerhard Oestreich, Zur Heeresverfassung der deutschen Territorien von 1500 bis 1800, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969; Gerhard Papke, Das Defensionswesen, in: Von der Miliz zum stehenden Heer. Wehrwesen im Absolutismus (Deutsche Militärgeschichte 1648–1939, hrsg. v. Militärgeschichtlichem Forschungsamt, Abschnitt I), Herrsching 1983 (zuerst 1979), 66–100, bes. 96–98 (betr. Brandenburg-Preußen). 63  Vgl. die die strukturellen militärischen und finanziellen Schwierigkeiten Kurbrandenburgs in der Durchsetzung seiner Erbansprüche herausarbeitende Studie von Frank Göse, Von überforderten Statthaltern, fragilen Loyalitäten und gestörter Kommunikation. Das militärische Engagement Kurbrandenburgs am Niederrhein und in Westfalen während des Jülich-Klevischen Erbfolgekonflikts, in: Der Jülich-Klevische Erbstreit 1609. Seine Voraussetzungen und Folgen, hrsg. v. Manfred Groten/Clemens von Looz-Corswarem/Wilfried Reininghaus (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde. Vorträge, 36 = Veröffentli-



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den Bündnissen der protestantischen Union und der katholischen Liga. Die Grundlinie der brandenburgischen Außenpolitik seit Joachim II., die Friedenswahrung als oberste Priorität unter Verzicht auf Bündnisse mit anderen Mächten wegen drohender außenpolitischer Verwicklungen, ließ sich, wie das beginnende 17. Jahrhundert allzu deutlich schon gezeigt hatte, nicht mehr einhalten; der Kurfürst war dazu aufgerufen, die finanziellen und militärischen Ressourcen der Mark in zuvor ungeahntem Ausmaß zu aktivieren, wenn er die Ziele seiner Politik nicht aufgeben wollte. Dazu war er zwingend auf die Hilfe seiner Stände angewiesen, die seine Notlage auszunutzen verstanden64. Sie gaben ihm in den Verhandlungen vom Januar 1615 zu verstehen, daß sie zu einer Steuerbewilligung geneigt seien, wenn er ihnen in der Religionsfrage entgegenkomme. Und die Geheimen Räte verstanden ihre Darlegungen so, daß mit nennenswerten Geldbewilligungen erst zu rechnen sei, wenn deren Forderungen zum Bekenntnisstand des Landes angenommen würden. So ist der landesherrliche Revers vom 5. Februar 1615 in der Weise aufgebaut, daß er durch die finanziellen und militärischen Propositionen des Kurfürsten eingeleitet wird, daß er von dort aus auf die ständischen Forderungen nach einem neuen Generalprivileg übergeht und die erweiterten ständischen Rechte, beginnend mit den Religionsangelegenheiten, darlegt und daß er mit den ständischen Zugeständnissen in den Finanz- und Militärfragen endet. Die kurmärkischen Stände bewilligten 135.000 Taler, die in vier Raten zwischen dem 30.  April 1615 und dem 29.  September 1616 gezahlt werden sollten, und sie erklärten sich genau entsprechend der vorangegangenen Absprache mit den neumärkischen Ständen damit einverstanden, daß der kurfürstliche Entwurf einer Defensionsordnung den Kreisständen zur Beratung übergeben und sie unter Berücksichtigung von deren Stellungnahmen beschlossen werden sollte – es verwundert angesichts eines solchen vorgenommenen langatmigen und umständlichen Verfahrensweges nicht, daß das Vorhaben auf Grund des ständischen Pazifismus im Sande verlaufen und chungen der Historischen Kommission für Westfalen N.F., 1 = Veröffentlichungen des Arbeitskreises niederrheinischer Kommunalarchivare), Düsseldorf 2011, 203– 224, bes. 213–217, zu den finanziellen Schwierigkeiten.  – Bereits am 6.  Oktober 1614 hatte sich Kurfürst Johann Sigismund zur Aufbringung einer größeren Geldsumme im Verlauf des spanischen Einfalls in das Herzogtum Jülich dazu ver­ stehen müssen, der altmärkisch-prignitzschen und mittelmärkisch-ruppinschen ­Ritterschaft gegen Zahlung von 210.000 Talern vier altmärkische Ämter auf die Dauer von 12 Jahren zu verpfänden. Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 273 Nr. 420. 64  Vgl. die Schilderung der brandenburgischen Außenpolitik unter Johann Sigismund bei Koser, Geschichte der brandenburgischen Politik (wie Anm. 3), 348– 386.

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kein Ergebnis erzielt worden ist65. Der Revers enthüllt in geradezu schonungsloser Offenheit, daß die lutherisch-reformierte Koexistenz in der Mark Brandenburg in ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung aus den außenpolitischen Zwängen des Kurfürsten, wie sie sich in der Durchsetzung seiner westlichen Erbansprüche ergeben hatten, resultierte. Die an sich dieser Politik abgeneigten Stände beförderten sie schließlich mit ihren Bewilligungen und erkauften sich dadurch die ungefährdete Behauptung ihres lutherischen Bekenntnisses. Die großen außenpolitischen Ziele, die das Haus Hohenzollern seit den 1590er Jahren verfolgte, und sein Ringen um konfessions- und allgemeinpolitische Selbstbehauptung der protestantischen Mark Brandenburg innerhalb des Reichsverbandes versetzten die (kur-)märkischen Stände in die Lage, die Umwandlung ihres Landes in eine reformierte Herrschaft zu unterbinden und sich ihre lutherische Bekenntnisfreiheit garantieren zu lassen, da der Kurfürst für die von ihm benötigten finanziellen und militärischen Mittel ihres Entgegenkommens bedurfte. Außen- (einschließlich Finanz- und Militär-)Politik und Innenpolitik (d. h. die territoriale Konfessionsfrage) müssen in ihrer gegenseitigen Beziehung zusammen betrachtet werden, was die ­Literatur bislang weitgehend unterlassen hat. Erst die außenpolitische Lage Kurbrandenburgs erklärt den ständischen Sieg in der Konfessionsfrage. Die landesherrlich-ständische Religionsdebatte der Jahre 1613 bis 1615 kreiste, wenn man auf ihren prinzipiellen Gehalt schaut, um den Leitbegriff der Gewissensfreiheit. Der Kurfürst hatte ihn in die Diskussion eingebracht – wobei hier dahingestellt sei, ob aus politischer Opportunität bzw. aus Einsicht in die politische Notwendigkeit oder aus grundsätzlicher Überzeugung von der Unzulässigkeit jeglichen Glaubenszwanges (wofür mir seine wiederholten Bekundungen zu sprechen scheinen)66. Die Stände hatten diesen Leitbegriff nur allzu gerne aufgegriffen, weil er ihre Position, ihre lutherische Bekenntnistreue, stärkte. Wie die Erör­ 65  Vgl. die detaillierte Beschreibung von Croon, Die kurmärkischen Landstände (wie Anm. 13), 166–188, zu den miteinander verquickten Problemen der Schuldentilgung und der Landesdefension. 66  Wolgast, Der Übertritt (wie Anm. 3), 94, urteilt über die Gewissensfreiheit in der Sicht Johann Sigismunds: „Die Freigabe der Gewissen durch den Kurfürsten war ein Akt politischer Notwehr, um die Verhältnisse im Land stabil zu halten, und nicht ein Beweis für den Respekt vor dem Individualgewissen.“ Das Bekenntnis zur Gewissensfreiheit wird damit zu einer politischen Opportunitätserwägung herabgestuft. Übersehen wird dabei jedoch, daß der Kurfürst von Anfang an, noch bevor die Haltung des Landes eindeutig offenbar geworden war, die Gewissensfreiheit verkündete und daß vor allem die weitere Entwicklung davon abhing, welche praktischen Schlußfolgerungen aus dem Prinzip gezogen wurden. Dazu mehr oben im Text.



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terungen um die praktischen Folgen der Gewissensfreiheit und um die konkreten Bedingungen ihrer Gewährleistung zeigen, verstanden die Zeitgenossen darunter, daß weder ein Lutheraner noch ein Reformierter welchen Standes auch immer vom Landesherrn oder von den Ständen dazu gezwungen werden sollte, sein eigenes bisheriges Religionsbekenntnis entgegen seinem Willen aufzugeben und unter Druck und Verfolgung zu einem anderen zu wechseln. Jedermann durfte, so die schließlich gefundene Übereinstimmung, frei und ungehindert seinen lutherischen oder reformierten Glauben ausüben, ihn insbesondere öffentlich ausüben, indem er unbeeinträchtigt in seiner Gemeinde den von ihm frei gewählten Gottesdienst feierte. Gewissensfreiheit war aber damals nicht mit konfessioneller Parität gleichzusetzen, mit gleichrangiger bzw. gleichberechtigter Stellung beider Konfessionen innerhalb des Territo­ riums, etwa mit dem gleichen Anspruch auf Stellenbesetzungen. Die Bekenntnis- und Gewissensfreiheit, die Johann Sigismund am 5.  Februar 1615 der einen Seite, den lutherischen kurmärkischen Ständen, zugestanden hatte, bekräftigte und bestätigte er am folgenden Tage der anderen Seite, den Reformierten in seinen Landen, indem er ihnen auf Grund ihrer zweifelnden Nachfragen zum Ergebnis vom 5.  Februar mit einer Art verbindlichen Erklärung zu deren Deutung und Auslegung67 wortreich seinen Entschluß zusicherte, alle seine jetzigen und künftigen Bewilligungen und Zusagen seien ohne jegliche Benachteiligung der reformierten Religion und ihrer freien Ausübung zu verstehen, und er sei entschlossen, nicht nur der lutherischen Religion ihren freien Gang und Lauf ohne Bedrückung der Gewissen zu gönnen und jedermann nach seinem Willen darin verbleiben zu lassen, sondern auch mit dieser seiner abschließenden Resolution der reformierten Religion ihre freie Ausübung ohne jegliche Verfolgung zu belassen, wie er denn die Anverwandten beider Religionen in seinen Schutz und Schirm aufgenommen habe. Seine Resolution mündete darin, „denen von der reformierten Religion“ in allen Ständen, den gegenwärtigen wie den künftigen, zu versprechen, daß sie in der freien Ausübung und dem Bekenntnis ihres Glaubens nicht behindert würden, zumal sie für die Landessteuern nicht weniger als die von der lutherischen Religion beitragen müßten. Der den Reformierten gewährte kurfürstliche Revers vom 6. Februar gibt sich als Gegenstück zu dem den Lutheranern am Vortage gewährten Revers und vermag kaum zu verbergen, daß er nicht mehr war als ein dürftiger Notbehelf zur kurfürstlichen Gesichtswahrung. Allein schon dadurch, daß er sich auf die Verhandlungsergebnisse mit den Lutheranern bezog, ohne sie 67  Siehe den Abdruck des kurfürstlichen Reverses unten im Quellenanhang, 216–218.

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auch nur konzentriert zu wiederholen, offenbarte er in inhaltlicher Hinsicht seine Abhängigkeit von dem vorangegangenen ständischen Privileg. Und seine formale Minderrangigkeit zeigte er dadurch, daß er auf Papier geschrieben und mit dem kurfürstlichen papiernen Sekretsiegel besiegelt war, im Gegensatz zum ständischen Privileg, das auf dem höherwertigen Pergament beschrieben und mit dem kurfürstlichen großen Siegel besiegelt war. Schließlich ist die Bezeichnung der Privilegienempfänger bezeichnend: Das Privileg vom 5. Februar ist für die kurmärkischen Stände, also für eine Korporation, bestimmt und wurde ihnen in fünf Exemplaren für ihre Archive überlassen; dasjenige vom 6. Februar war für „die von der reformierten Religion“, wie es heißt, bestimmt, also für eine in ihrem Umfang unbestimmtere Gruppe ohne feste eigene Organisation; das einzige überlieferte Exemplar entstammt dem kurfürstlichen Archiv bzw. dem Archiv des kurfürstlichen Geheimen Rates, ein Druck aus dem Jahre 1782 benutzte ein Exemplar aus dem Archiv der altmärkischen Stände68. Aber obwohl die Privilegierung der Reformierten eigentlich nur die kurfürstliche Niederlage gegenüber den lutherischen Ständen abmildern sollte69, verdient sie dennoch Aufmerksamkeit, weil hier der allgemeine Grundsatz der freien Religionsausübung für Lutheraner und Reformierte noch einmal bekräftigt wurde. Im Anschluß an die vorstehenden Bemerkungen zu formalen Eigen­ arten des kurfürstlichen Privilegs vom 6. Februar 1615 sei hier noch eingeschoben, daß auch die beiden anderen maßgeblichen Privilegien Johann Sigismunds für die neumärkischen und kurmärkischen Stände vom 23. Dezember 1614 und 5. Februar 1615 formale Besonderheiten zeigen, mit denen sie sich von den landesherrlichen Reversen seiner Vorgänger für die Stände deutlich abheben. Es fällt zunächst auf, daß Zahl und Empfänger der Urkundenausfertigungen am Schluß des Textes, vor oder nach der Siegelankündigung, ausdrücklich festgelegt werden. Das neumärkische Privileg wurde in „sechs Originalia eines Lautes“ ausgefertigt: Das erste verblieb dem kurfürstlichen Archiv, die anderen fünf nahmen die Stände an sich, nämlich jeweils ein Exemplar die Prälaten und die Ritterschaft der Neumark sowie die (der eigentlichen Neumark 68  Die Urkunde vom 6. Februar 1615 ist zwar jetzt dem Bestand der Kurmärkischen Stände im Brandenburgischen Landeshauptarchiv eingeordnet, befand sich aber, wie die Hinweise auf der ersten Seite des Papierlibells zeigen, unter der Aktenüberlieferung des Geheimen Rates (Rep. 47 „Geistliche Angelegenheiten“) bzw. später des Preußischen Geheimen Staatsarchivs. Vgl. ferner die Bemerkung zur Überlieferung bei Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 3), 19 Anm. 3. 69  „Diese Resolution […] war und blieb eine bloße Demonstration und […] ein ohnmächtiger Protest der Partei, die bei diesen Verhandlungen den Kürzern gezogen hatte.“ Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 3), 19.



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inkorporierten) Kreise Crossen und Cottbus und die Stadt Soldin „wegen allgemeiner Städte“, also als Vertreterin aller neumärkischen Städte. Das kurmärkische Privileg wurde ebenfalls sechsmal gleichlautend ausgefertigt und in ähnlicher Weise verteilt: Das erste Exemplar verblieb dem kurfürstlichen Archiv, die fünf anderen wurden den Ständen ausgehändigt, und zwar insgesamt drei Exemplare für die Ritterschaft, nämlich je eines für die altmärkische, mittelmärkische und uckermärkische Ritterschaft, und insgesamt zwei Exemplare für die Städte, nämlich je eines für die altmärkischen und die mittelmärkischen Städte. Die Streuung von Mehrfachausfertigungen bezweckte offensichtlich, daß die wesentlichen regionalen ständischen Gruppen jeweils in ihrem eigenen Archiv das Privileg über ihre (lutherische) Religionsfreiheit verwahrten und im Bedarfsfall zur Abwehr ihm widersprechender Worte und ­Taten direkt auf ihr eigenes Original im eigenen Urkundenmagazin zurückgreifen konnten. Beide Privilegien wurden wie üblich vom Kurfürsten besiegelt, und zwar mit seinem größeren Sekret, wie es heißt, und von ihm eigenhändig unterschrieben. Das neumärkische Privileg sticht dadurch hervor, daß Siegel und Unterschrift Johann Sigismunds durch angekündigte Siegel und Unterschriften zahlreicher ständischer Angehöriger ergänzt werden: Für den Kreis Soldin, für den Kreis Königsberg, für die Kreise Landsberg und Friedeberg, für die Kreise Arnswalde, Dramburg und Schievelbein, für das Kreis Sternberg und das Meistertum des Johanniterordens, für die Kreise Crossen und Züllichau sowie für den Kreis Cottbus drücken jeweils zwei bis sechs Adlige der Urkunde ihr Petschaft auf und zeigen im Text ihre Unterschrift an; ihnen treten die Städte Soldin, Königsberg, Landsberg, Arnswalde, Drossen, Crossen und Cottbus mit ihrem Sekret zur Seite. Tatsächlich hängen 33 Siegel an drei Schnüren (statt der angekündigten 35) an der Urkunde und haben zwölf Personen (statt der angekündigten 28) unterschrieben. In dem kurmärkischen Privileg fehlt eine derartige ständische Besiegelung und Unterschriftsleistung. Dagegen stimmen beide Privilegien wiederum in dem für die Formulierung des Textes verwandten Stil überein70. Denn erstaunlicherweise trifft der Leser nicht auf den Kurialstil – der herrscherliche Aussteller spricht von sich in der ersten Person Plural („Wir“) –, der für landesherrliche Weisungen einschließlich Privilegien aller Art, darunter auch der für die Stände bestimmten General- und Spezialprivilegien, gebraucht 70  Die nachfolgenden aktenkundlichen Beobachtungen stützen sich auf die allgemeinen Darlegungen von Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Göttingen 1969, 137–149 (betr. Landesherrliche Weisungen im Wir-Stil), bes. 145; 156–161 (betr. Herrscherdekretschreiben), bes. 156; 321 f. (betr. Revers, Rezeß). Etwas abweichend die Einordnung von Rezeß und Revers bei Haß, Die kurmärkischen Stände (wie Anm. 14), 80 Anm. 1.

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wird, sondern ihm begegnet der unpersönliche Stil (stilus relativus) des Herrscherdekretschreibens: Der Fürst spricht von sich in der dritten Person („der durchlauchtigste hochgeborne Fürst und Herr, Herr Johann Sigismundt Marggraf zu Brandenburgk [usw.]“ bzw. „ihre churfürstliche Gnaden“), als ob er als Abwesender einen ihm vorgelegten B ­ ericht approbiert hätte. Während die landesherrliche Weisung im Wir-Stil gegenüber einzelnen Untertanen bzw. Institutionen die gewährte Gnade und Huld des Ausstellers gegenüber dem Empfänger herausstreicht, rücken der unpersönliche Stil und ferner die protokollartige Darstellung der von beiden Seiten erreichten, begrifflich als „Revers“ bzw. „Rezess“ gefaßten Verhandlungsergebnisse den Vereinbarungs­charakter in den Vordergrund. Während die traditionellen Reverse des Landesherrn durchgängig dessen Gegenbewilligung zu den vom ständischen Empfänger zugesicherten Bewilligungen enthalten und vom ersten einseitig aus eigener Machtvollkommenheit – jedenfalls dem Anspruch nach – im Kurialstil mit eigener Besiegelung und Unterschrift ausgestellt werden, betonen hier der objektive Stil eines Protokolls die Auseinandersetzung und den Vergleich zweier Vertragspartner, ihren bilateralen Abschied (= Rezess). Die ungewöhnliche äußere Gestaltung der Urkunden deutet an, wie sehr den Ständen an der Verbriefung ihrer Religions- und Gewissensfreiheit gelegen war. Dieser Grundsatz hatte freilich erst noch seine Bewährungsprobe in der Praxis zu bestehen, oder, anders und präziser ausgedrückt, er bedurfte aus der Sicht der lutherischen Stände institutioneller Vorkehrungen, damit die Religionsfreiheit gewährleistet und nicht zu ihrem Nachteil schleichend ausgehöhlt wurde. Kein kirchlicher Patron, auch nicht der Kurfürst, so hatte es schließlich Johann Sigismund hinnehmen müssen, war befugt, seine Gemeindemitglieder gegen ihre erklärte Absicht wenigstens indirekt unter Bekehrungsdruck zu setzen, indem er ihnen einen Pfarrer anderen Bekenntnisses aufdrängte und sie damit gewissermaßen wehrlos seiner Missionspredigt aussetzte. Wie schwer dem Kurfürsten dieses im Februar 1615 den kurmärkischen Ständen gewährte Zugeständnis gefallen war, erwies sich schon wenig später, als seine Übernahme von den neumärkischen Ständen verlangt wurde71. Johann Sigismund verweigerte sich ihrem Ansinnen mit einer Argumentation, die unfreiwillig enthüllte, wie wenig ihm der ideelle Kern seines Privilegs eingegangen war. Er brachte nämlich letztlich nicht mehr als seinen Wunsch nach Wahrung seiner unmittelbaren kirchlichen Einflußsphäre zum Ausdruck, wenn er die Berufung auf die kurmärkische Regelung mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Verhältnisse in beiden Landesteilen zurück71  Zum Folgenden vgl. Croon, Die kurmärkischen Landstände (wie Anm. 15), 196 f.



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wies: In der Kurmark besitze er nur an wenigen Orten das Patronat, in der Neumark aber in sämtlichen Städten und Amtsdörfern! Obwohl er den Neumärkern eine Revision der Religionsparagraphen ihres Generalprivilegs vom Dezember 1614 im Sinne der kurmärkischen Bestimmungen vom Februar 1615 verweigerte, mußte er auch in der Neumark wegen des ständischen Widerstandes in der Folge auf seine zweite Reformation verzichten. Daß beide Parteien sich nur sehr schwer in einem für sie gerade noch erträglichen Ausmaß auf eine Koexistenz verständigten, war letztlich darin begründet, daß jede von ihnen, die lutherischen Stände ebenso wie der reformierte Kurfürst, an ihrem unbedingten Wahrheitsanspruch unbeirrt festhielt72. Die Stände beriefen sich immer wieder auf das einmal erkannte und bekannte, allein wahre Bekenntnis, wie es in der Augsburgischen Konfession von 1530 niedergeschrieben sei, und sie erhofften sich lange Zeit, daß der Kurfürst dabei verbleiben werde wie seine (prononciert lutherische) Gattin Anna oder zu ihm zurückkehren werde. Wie Johann Sigismund über das Religionsproblem in der Mark nach dem ­ Übereinkommen mit den Ständen dachte, offenbarte er am deutlichsten in seiner Instruktion für seinen Sohn Georg Wilhelm anläßlich der Regierungsübergabe vom Oktober 1619, zwei Monate vor seinem Tode. Da jedes Regiment auf zwei Säulen, der Religion und der Justiz, ruhe, empfahl er ihm „die befordderung unserer wahren religion (welche man die reformirte nennet),“ zu welcher er sich mit Herz und Mund bis zu seinem ­Ende zu bekennen und in der er ohne Wanken zu verharren gedenke. Und er empfahl seinem Sohn, „alles das dabei [zu] thuen, was zu deren ausbreitung gereichend ist;“ allerdings habe er dabei darauf zu achten, „das  durch zwang keine religion fortzupflanzen“ sei und daß daher das „aequi­librium“ so eingehalten werden solle, „auf das keiner, der sonsten from und still zu leben begehret, darueber beschweret werde.“73 Johann Sigismund wiederholte hier im Kern seine Überzeugung, mit der er 1614 72  „Für die Zeitgenossen stand nichts weniger als die Wahrheit des Bekenntnisses und damit das Heil des Menschen auf dem Spiel.“ Stegmann, Die Reformation (wie Anm. 3), 229. – Daß der Landesherr „das, ‚was Doktor Luther bei seinem Leben gelehrt‘ und was in der Augustana Invariata und deren Apologie kodifiziert, als die stete Richtschnur für das religiöse Leben des Territoriums beibehalte, war allemal eine der vornehmsten Forderungen der Stände; denn nur wer an dieser bestimmten Bekenntnisform strikt festhält, kann jene erstrebte ewige Wohlfahrt, das Heil seiner Seele gewinnen.“ Haß, Die kurmärkischen Stände (wie Anm. 14), 91. 73  Die Testamente der Kurfürsten von Brandenburg und der beiden ersten Könige von Preußen, hrsg. v. Hermann von Caemmerer (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg), München/Leipzig 1915, 406 Beilage Nr. 3, hier 409 § 4.

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seine „Confessio Fidei Sigismundi“ hatte ausklingen lassen: Er bekenne sich zur evangelischen reformierten Kirche, wünsche sich nichts mehr, als daß Gott seine Untertanen „mit dem Liecht der vnfelbaren Wahrheit beseligen und erleuchten“ wolle; aber weil der Glaube ein Geschenk Gottes sei, niemand über die Gewissen herrschen und Herr des Glaubens sein dürfe, so werde er, der Kurfürst, zu seinem eigenen Bekenntnis keinen Untertanen öffentlich oder heimlich wider Willen zwingen, sondern den Lauf der Wahrheit allein Gott befehlen74. Der brandenburgische Landesherr ist dazu verpflichtet und aufgerufen, für die Ausbreitung der nach seiner unumstößlichen Überzeugung einzig wahren reformierten Religion in seinen Landen zu wirken, aber er darf dabei keinen Zwang auf seine fromm und still lebenden Untertanen anderen Bekenntnisses ausüben: Sie sollen frei und unbeschwert, allerdings ohne laute öffent­ liche Polemik gegen andere ihrem Glauben folgen – obwohl der Kurfürst davon überzeugt ist, daß ihr Gewissen sich irrt, andererseits darauf hofft, daß sie doch noch dank der Gnade Gottes zur Erkenntnis des wahren Glaubens kommen werden. Wenn in der Mark Brandenburg 1615 ein lutherisch-reformiertes „Gleichgewicht“, wie es der Kurfürst an dieser Stelle bezeichnete, Einzug hielt, war es nicht von beiden Seiten entsprechend ihrer eigenen Einsicht angestrebt worden, leitete es sich nicht aus dem ihnen vertrauten grundsätzlichen intellektuellen Zweifel daran ab, ob eine weltliche Obrigkeit überhaupt dogmatische Streitigkeiten entscheiden oder gar ihre Auffassungen von Wahrheit gegenüber widerstrebenden Untertanen mit Gewalt durchsetzen und Menschen anderen Glaubens töten dürfe, also aus dem Zweifel, der bedeutende Geister des 16. Jahrhundert vornehmlich aus dem romanischen Europa intensiv über die Toleranzidee hat nachdenken lassen75. Dieses „aequilibrium“ ergab sich schlichtweg aus dem Umstand, daß keine der beiden Parteien die andere zu bekehren und zu überwinden vermochte. Weder war der Kurfürst in der Lage, die Stände entgegen ihrem tief verwurzelten Glauben von der Richtigkeit seines Schrittes zu überzeugen und zur Nachfolge zu bewegen, da sie wegen ihrer konfessionellen Privilegien und ihres Steuerbewilligungsrechtes in Zeiten außenpolitischer Herausforderungen am längeren Hebel saßen; noch waren die Stände in der Lage, den Kurfürsten von dem in einem langen Reifeprozeß mit ganzer Glaubenskraft gefaßten Entschluß zum Bekenntniswechsel abzubringen. So einigte man sich notgedrungen auf 74  Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (wie Anm. 13), 744 Nr. 234, hier 754 f.; auch bei Gericke, Glaubenszeugnisse (wie Anm. 3), 131. 75  Erich Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300–1600 (Geschichte der Neuzeit), Braunschweig 21966, 195–204 („Das Toleranzproblem im 16. Jahrhundert“).



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einen modus vivendi, auf ein geduldetes Nebeneinander, ohne die (damals wohl kaum von vornherein als illusionär oder utopisch empfundene) Zuversicht aufzugeben, es doch eines näheren oder ferneren Tages wieder beseitigen zu können, indem die andere Seite durch geduldige Mission zur Annahme der eigenen, einzig wahren Religion gebracht und damit konfessionelle Einheit im Territorium wiederhergestellt würde. Für die Arbeit an diesem Ziel galt es, sich günstige Ausgangspositionen zu verschaffen, Bedingungen, die das eigene geplante Bekehrungswerk zu befördern geeignet waren. Die Stände hatten dadurch einen spürbaren Vorteil gewonnen, daß sie die lutherischen Pfarrer behaupteten und damit deren Predigt unter der breiten Bevölkerung sicherten. Der Kurfürst hatte sich trotz seines dortigen Rückzuges wenigstens die Verfügungsgewalt über die oberste kirchliche Behörde und über die höheren Bildungsanstalten gewahrt. Die Bedeutung dieses Punktes tritt insbesondere durch die Johann Sigismund von hochrangigen Persönlichkeiten geäußerten Empfehlungen hervor; so wie bereits der 1614 nach Berlin berufene kurpfälzische Theologe Abraham Scultetus ihm dazu geraten hatte, an Hohen Schulen und Ausbildungsstätten wie etwa der Universität Frankfurt und dem Joachimsthalschen Gymnasium reformierten akademischen Nachwuchs auszubilden,76 so empfahl der Statthalter Johann Georg ­Ende  1615, „zur Erhaltung der reformierten Kirche“ die Lehrkörper in Frankfurt und Joachimsthal nur mit „orthodoxis“ zu füllen, und in den Geheimen Rat, der jetzt – zu seiner Genugtuung – „mit lauter [sc. calvinistischen] Orthodoxis“ besetzt sei, keinesfalls einen Nichtreformierten unter irgendeinem Vorwand aufzunehmen77. Die Positionskämpfe zwischen Landesherrn und Ständen, die von diesen Voraussetzungen ausgingen, füllten die folgenden Jahrzehnte, und es ließe sich leicht zeigen, wie sich die Denkweisen, Argumentationen und Absichten der widerstreitenden Parteien wiederholten oder wie sie wiederauflebten, als Kurfürst Friedrich Wilhelm und die kur- und neumärkischen Stände 1652/53 über ein neues Generalprivileg unter betonter Berücksichtigung der Reli­ gionsfrage verhandelten78. Der berühmte Landtagsrezeß von 1653 erneuerte und ergänzte in dieser Hinsicht das Ergebnis von 1615, weil die grundlegenden Konstellationen, das ständische Privilegienrecht einerund die finanz-, militär- und außenpolitischen Anforderungen des Kurfürsten andererseits, sich nicht geändert hatten.

76  von Thadden, Die Hinwendung (wie Anm. 3), 261; Wolgast, Der Übertritt (wie Anm. 3), 87. 77  Schultze, Die Mark Brandenburg (wie Anm. 3), 195; Koser, Geschichte der brandenburgischen Politik (wie Anm. 3), 377. 78  Lackner, Die Kirchenpolitik (wie Anm. 3), 111–113.

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Versucht man sich die Kernelemente des ständisch-landesherrlichen Konfliktes von 1613/15 zu vergegenwärtigen, mag man zu seiner historischen Einordnung geneigt sein, an die Hegelsche Dialektik zu denken. Der lutherischen These, von der zuvor die Mark Brandenburg insgesamt, Landesherr und Stände ohne Unterschied, durchdrungen gewesen war, wurde auf einmal auf Grund kurfürstlichen Beschlusses die reformierte Antithese entgegengestellt. Das Ergebnis des Ringens wird man kaum als Synthese bezeichnen wollen, da der Gegensatz nicht in einer höheren Einheit, in einer Art lutherisch-reformierter „Union“, aufgehoben wurde. Aber es war doch eine völlig neue, zuvor unbekannte und ungeahnte Lage dadurch eingetreten, daß These und Antithese irgendwie trotz ihrer fortbestehenden scharfen Gegensätze miteinander im selben Territorium auskommen, sich in einer halbwegs gedeihlichen Koexistenz einrichten mußten, unter der allseits akzeptierten Voraussetzung, daß jeder märkische Untertan von Rechts wegen für sich Gewissensfreiheit und freie Religionsausübung beanspruchte. Ohne daß es den Zeitgenossen wohl in aller Deutlichkeit bewußt geworden wäre: Auch wenn jedes Bekenntnis auf seinem eigenen unbezweifelten Wahrheitsanspruch beharrte, hatte es hinzunehmen, daß neben ihm im selben Land ein anderer Glaube mit demselben Anspruch von anderen Landesangehörigen ungestört und unbestraft vertreten werden durfte. Die Logik des Augsburger Religionsfriedens von 1555, die Koppelung des jus reformandi des Landesherrn und des jus emigrandi des Glaubensabweichlers, war aufgegeben – zwar nicht erstmals überhaupt in einem Territorium des Reiches79, aber erstmals in einem seiner konfessionell und politisch gewichtigsten Territo­ rien: Der Andersgläubige brauchte nicht mehr, um die (damals allgemein als unverzichtbar erscheinende) konfessionelle Homogenität des Territoriums zu gewährleisten, seine Heimat zu verlassen, sondern er war berechtigt, in ihr zu verbleiben trotz seines vom Landesherrn abweichenden Glaubens, ohne von Zwang und Verfolgung heimgesucht zu werden. Er brauchte nicht mehr wie die Kurpfälzer einige Male in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und im 17. Jahrhundert zu befürchten, daß ihn die Konfessionspolitik eines andersgläubigen (lutherischen oder reformierten) neuen Fürsten früh oder später nach dessen Regierungsantritt aus dem Lande treiben werde, sofern er an seinem eigenen bisherigen Glauben festhalten wollte – so daß die pfälzische Kirchen- und Konfessionsgeschichte der Zeit durch einen mehrfachen Elitenwechsel geprägt ist: Vor allem Geistliche, Lehrer, Professoren, also die Verwal79  Schilling, Nochmals „Zweite Reformation“ (wie Anm. 24), 509 f., verweist auf die in der Grafschaft Ostfriesland in den 1590er Jahren von den calvinistischen Ständen gegenüber dem lutherischen Grafen durchgesetzte, vertraglich festgeschriebene Bikonfessionalität des Territoriums.



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tungs- und Bildungseliten, sahen sich zur Auswanderung gezwungen80. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die 1615 in der Mark Brandenburg beiden evangelischen Konfessionen, den Lutheranern ebenso wie den Reformierten, eingeräumt wurde, fand ihren Weg in den Westfälischen Frieden von 1648, nach dessen Bestimmungen der Konfessionswechsel des protestantischen Landesherrn ihn nicht dazu berechtigte, die Religionsausübung der anderen evangelischen Konfession zu beeinträchtigen und seine Untertanen ebenfalls zum Bekenntniswechsel zu zwingen81. Daß die Auswanderung der Andersgläubigen 1615 in Brandenburg aufgegeben wurde, war in erster Linie den kurmärkischen Ständen zu „verdanken“: nicht, weil sie ihn in voller gedanklicher Klarheit angestrebt hätten, sondern weil sie aus der Kraft ihrer überkommenen, in einem Dreivierteljahrhundert befestigten Glaubenstradition heraus der kurfürstlichen Religionspolitik widerstanden und deren Ziel durch die nachhaltige Nutzung ihrer politischen Rechte und Möglichkeiten zu Fall brachten82. Es waren die lutherischen Stände, die die lutherische Geistlichkeit in ihrer Opposition gegen die kurfürstliche reformierte Konfes­ sionspolitik maßgeblich stützte und die sich als landesherrlich privi­ legierte Hüter des lutherischen Landesstaates gegen ihren Kurfürsten durchzusetzen vermochten. An ihnen scheiterte in der Kurmark Brandenburg die zweite Reformation, während sie in der Kurpfalz gelungen war, weil dort Landstände fehlten, die dem Willen ihres Landesherrn hätten entgegentreten können83. Ob 1615 religiöse Toleranz, also die gegenseitige Duldung unterschiedlicher (christlicher) Konfessionen, in die Mark Mark Brandenburg einge80  Eike Wolgast, Konfessionswechsel und Kirchenpolitik der Pfälzer Kurfürsten im 16. und 17. Jahrhundert, in: Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa. Begleitband zur 2. Ausstellung der Länder Baden-Württemberg, RheinlandPfalz und Hessen, hrsg. v. Alfried Wieczorek/Bernd Schneidmüller/Alexander Schubert/Stefan Weinfurter (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, 60), Regensburg 2013, 31–38, hier 33 f.  – Heinrich, Religionstoleranz (wie Anm. 3), 63 f.: „Brandenburg mit seinen Annexen war fortan ein paritätischer protestantischer Landesstaat, in dem der Grundsatz ‚cuius regio, eius religio‘ nicht mehr galt“. 81  Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 3), 24 mit Anm. 5. 82  In demselben Sinne fällt das abschließende Urteil von Stutz, Kurfürst Johann Sigismund (wie Anm. 3), 38, über die Vorgänge von 1613/15 und ihr Ergebnis aus. 83  Wolgast, Heidelberger Einflüsse (wie Anm. 3), 129. Vgl. auch die grundsätzliche Bemerkung Schillings zum „Aufeinanderprallen von reformierter Konfessionalisierung von oben und lutherischer Konfessionalisierung an der ständischen, städtischen und […] dörflichen Basis“; Schilling, Nochmals „Zweite Reformation“ (wie Anm. 24), 503 Anm. 7.

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führt wurde, wie seit Generationen von Historikern behauptet oder bestritten wird84, scheint mir eine müßige Diskussion zu sein. Gezielt und 84  Vgl. dazu etwa die Bemerkungen von Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 57), 141 („Man wird […] nicht von dem Beginn einer preußischen Toleranzpolitik sprechen dürfen, die nach 1613 zu beobachten war.“); Stegmann, Reformation (wie Anm. 3), 228 (Der Kurfürst und seine Helfer machten in Staat und Kirche klar, „daß es nicht einfach um ein schiedlich-friedliches Nebeneinander zweier Konfessionen oder gar um den Auftakt zu konfes­ sioneller Toleranz ging. Vielmehr war die reformierte Kirche die eine wahre Kirche.“); Koser, Geschichte der brandenburgischen Politik (wie Anm. 3), 376 (Die Bedeutung des Übertritts Johann Sigismunds lag „lediglich darin, daß im Gegensatz zu der überall sonst herrschenden Staatsdoktrin, die das Bekenntnis des Fürsten als maßgebend für das Volk hinstellte, von jetzt ab in den brandenburgischen Gebieten der Landesherr inmitten einer überwiegenden Mehrheit andersgläubiger Untertanen sich gebieterisch auf den Grundsatz religiöser Duldung, der Gewissensfreiheit hingewiesen sah.“); Faden, Der Berliner Tumult (wie Anm. 3), 43 („Fürst und Stände beschieden sich schließlich mit dem Nebeneinander, das sie beide nicht gewollt; es war eine Duldung ‚wider Willen‘, keine wirkliche Toleranz.“); Schultze, Die Mark Brandenburg (wie Anm. 3), 193 („Das Prinzip der religiösen Toleranz war somit in der Mark sanktioniert, aber der Kurfürst hatte sich nicht aus freien Stücken dazu durchgerungen, er war zu dem Bekenntnis gezwungen worden.“); Hans-Joachim Schoeps, Preußen. Geschichte eines Staates, Berlin 1966, 27 („Johann Sigismund [hat] eine seiner Zeit weit vorauseilende moderne Tradition religiöser Toleranz im Hohenzollernhaus begründet […]. Er hatte erkannt, daß eine tolerante Religionspolitik zur Staatsnotwendigkeit geworden war.“); von Thadden, Die Hinwendung (wie Anm. 3), 264 („Die Einbürgerung der Reformierten konnte lediglich bewirken, daß sich früher als in anderen Territorien eine relative konfessionelle Toleranz durchsetzte, die dann zum Signum brandenburg-preußischer Kulturpolitik werden sollte.“); Schilling, Nochmals „Zweite Reformation“ (wie Anm. 24), 511 f. („Nicht die Neigung oder die theologische Einsicht standen am Anfang der vielbeschworenen preußischen Toleranz, sondern der politische Zwang, der sich aus der multikonfessionellen Realität nach dem Scheitern der Zweiten Reformation und dem Zugewinn gemischtkonfessioneller Territorien im Westen des Reiches ergab.“ [512]); Nischan, Kontinuität (wie Anm. 3), 125 f.; Burghardt, Zwischen Fundamentalismus (wie Anm. 3), 83–84; Wolgast, Der Übertritt (wie Anm. 3), 94–96 („Unter Johann Sigismund war von Toleranz auf keiner der beiden Seiten auch nur das Geringste zu spüren.“ [94]).  – Wenn Beeskow, Der Konfessionswechsel (wie Anm. 3), 13 f., den märkischen Ständen und der orthodox-lutherischen Geistlichkeit „prinzipielle Intoleranz“ gegenüber dem reformierten Bekenntnis vorhält und Heinrich, Religionstoleranz (wie Anm. 3), 62; ders., Geschichte Preußens (wie Anm. 3), 71, Johann Sigismund den Willen zur Überwindung der „Intoleranz der Lutheraner“ unterstellt, urteilt bereits vom Boden eines bi- oder polykonfessionellen Staatswesens aus, und er wird der Haltung der Lutheraner kaum gerecht, indem er ihre Ausgangspunkte, den Religionsfrieden von 1555 und die Privilegien von 1572 und 1602, übergeht und übersieht, daß keine Seite 1613/15 mit ihren Forderungen dauerhafte religiöse Duldung anstrebte, auch der Kurfürst nicht mit seiner Hoffnung auf die langfristige Überzeugungskraft seines reformierten Bekenntnisses.  – Erhellend ist die Skizzierung von vier unterschiedlichen Toleranzpraktiken bei Winfried Müller,



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bewußt angestrebt war sie von keiner Seite: Die einen wollten den homogenen lutherischen Landesstaat bewahren, die anderen ihn (mindestens mittel- und langfristig) durch einen homogenen reformierten Landesstaat ersetzen. Aber indem letztlich jede Konfession die (berechtigte und unangreifbare) Existenz der anderen Konfession im Territorium hinzunehmen hatte, standen beide auf einmal unbeabsichtigt und unerwartet auf einer anderen Ebene, auf einem anderen Diskussionsstand mit anderer Voraussetzung: Sie hatten vorrangig zu bedenken, wie sie die neue religiöse Koexistenz gestalten wollten85, ob sie etwa nicht doch die konfessionelle Homogenität des Landesstaates weiterhin anstrebten sollten oder ob sie den konfessionellen Kontrahenten in seinen Wirkungsmöglichkeiten einzugrenzen und einzuengen oder ob sie nicht eher mit ihm über Religionsgespräche unter Gleichen eine innerprotestantische Duldung und einen innerprotestantischen Ausgleich herbeizuführen suchen sollten86. Die brandenburgische Kirchengeschichte des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts mit ihrem Kernproblem, dem Verhältnis von Lutheranern und Reformierten, preßt man jedenfalls in einen falschen interpretatorischen Rahmen, wenn man sie unter den Leitbegriff der Toleranz stellt und dabei ausgesprochen oder unausgesprochen den aufklärerischen Toleranzbegriff bzw. ein Wort- oder Sinnverständnis zugrunde legt, das jenseits der Denkmaßstäbe des frühen 17. Jahrhunderts liegt. Selbstverständlich nahmen die Kontrahenten von 1613/15 (und ihre Nachfolger im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts) nicht den Erfahrungshorizont und die Gedankenwelt eines aufgeklärten Monarchen oder eines „Nathan des Weisen“ vorweg. Der Maßstab zur Beurteilung der konfessionellen Ordnung von 1615 sollte nicht von den Idealen des nachfolgenden Jahrhunderts abgeleitet sein, weder von Friedrich dem Großen 174087 noch

Konfessioneller Pluralismus und Toleranz in der Ober- und Niederlausitz, in: Die Nieder- und Oberlausitz  – Konturen einer Integrationslandschaft, Bd. II: Frühe Neuzeit, hrsg. v. Heinz-Dieter Heimann, Klaus Neitmann u. Uwe Tresp (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 12), Berlin 2014, 38–45 (in Anlehnung an die Toleranzmodelle des Philosophen Rainer Forst). 85  Vgl. die ähnlich geartete Problematik auf der Ebene des Reiches in der Untersuchung von Fritz Dickmann, Das Problem der Gleichberechtigung der Konfessionen im Reich im 16. und 17. Jahrhundert, in: Ders., Friedensrecht und Friedenssicherung. Studien zum Friedensproblem in der Geschichte, Göttingen 1971, 7–25 (zuerst 1965). 86  Vgl. Wolfgang Ribbe, Brandenburg auf dem Weg zum polykonfessionellen Staatswesen (1620 bis 1688), in: Tausend Jahre Kirche (wie Anm. 3), 267–292. 87  Vgl. die sorgsam abwägenden Darstellungen von Heinrich, Religionstoleranz (wie Anm. 3), 74–87, zu Idee und Wirklichkeit der Toleranz im preußischen Absolutismus des 18. Jahrhunderts, und von Frank-Lothar Kroll, Das Problem der ­Toleranz bei Friedrich dem Großen, in: Ders., Das geistige Preußen. Zur Ideen­

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von Gotthold Ephraim Lessing 177988. Stattdessen sollte der Bezugspunkt 1555 sein. Wenn man auf den Augsburger Religionsfrieden zurückblickt, ist weiterhin dem Urteil Otto Hintzes über das Ergebnis von 1613/15 zuzustimmen: „Der in sich abgeschlossene konfessionelle Territorialstaat war […] innerlich überwunden.“89 Diese emphatische Aussage ist allerdings insofern zu präzisieren und einzuschränken, als 1615 Gewissens- und Religionsfreiheit nur den beiden protestantischen Hauptkirchen, den Lutheranern und Reformierten, eingeräumt wurde, nicht aber anderen protestantischen Glaubensrichtungen und Sekten, geschweige denn den Katholiken. Die Ausdehnung der Religionsfreiheit auf andere christliche oder gar auf nicht-christliche Gemeinschaften wurde erst in einem langen Prozess im 18. und im 19. Jahrhundert erreicht, befördert insbesondere vom Gedankengut der Aufklärung, die, wie Lessings „Nathan“ belegt, sowohl die Gleichberechtigung aller Religionen als auch darüber hinaus ihre gegenseitige geschichte eines Staates, Paderborn/München/Wien/Zürich 2001, 11–30, zu den Motiven der Toleranzidee des Königs wie zu ihrer praktischen Handhabung. 88  Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 4, Gütersloh 1951, 120–165, bes. 164 f. 89  Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, Berlin 81916, 165. Ganz ähnlich in: Ders., Die Epochen (wie Anm. 4), 80; beachte allerdings den umfassenderen Gedankengang, in dem dieses Urteil gefällt wird: Der Kurfürst hatte auf sein jus reformandi verzichtet; „das war eine Toleranz, die nicht eigentlich aus religiöser, sondern aus politischer Quelle stammte; in dem konfessionell so stark gespaltenen Deutschland konnte nur ein Fürstenhaus, das religiöse Duldung übte, sich zu einer Großmacht erweitern“ (ebd.). Hier wird das Toleranzprinzip so sehr teleologisch im Hinblick auf den preußischen Aufstieg zur Großmacht gedeutet, daß die Aussage der Lage von 1613/15 keinesfalls mehr gerecht wird.  – Vgl. dagegen das nüchterne, treffende Urteil Heinrichs, Religionstoleranz (wie Anm. 3), 61: „Tatsächlich handelte es sich nicht so sehr um eine subjektiv-aktive toleranzpolitische Aktion, sondern um die Entstehung objektiver Voraussetzungen für eine künftige staatliche Toleranzpolitik und für das Heranwachsen eines Toleranzbewußtseins vorerst bei den oberen Bevölkerungsschichten in den brandenburg-preußischen Landen“. Erfreulich präzisierend die Einschätzung Gerickes, Glaubenszeugnisse (wie Anm. 3), 29: „Bei Johann Sigismund hat die Sache, die wir unter ‚Toleranz‘ verstehen, nur erst den Sinn einer zeitlich begrenzten Zulassung und eine Gewährenlassens, da der Kurfürst niemals das Endziel einer schließlichen Integration des Luthertums in die reformierte Kirche aus den Augen gelassen hat.“ Ebenso abgewogen und weiterführend das Urteil von Rudersdorf/Schindling, Kurbrandenburg (wie Anm. 3), 69: „Die doppelte Weichenstellung Kurfürst Johann Sigismunds von 1613 und 1615 eröffnete in Kurbrandenburg schon frühzeitig die Chance zu einem friedlichen Nebeneinander der verschiedenen Konfessionen im Zeichen einer noch unvollkommenen Parität und eines erst am Anfang stehenden religiös-politischen Toleranzgedankens“.



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­ ertschätzung forderte. Davon waren unsere Protagonisten im frühen W 17. Jahrhundert weit entfernt. Der reformierte Kurfürst wie die lutherischen Stände waren wie bemerkt felsenfest von der unbedingten und alleinigen Wahrheit ihrer Konfession überzeugt. Jede Seite war bestrebt, ihre eigene kirchenpolitische Stellung zu behaupten oder auszubauen, der Kurfürst etwa in der Weise, daß er an seinem Hof und in seinen Behörden seine Glaubensgenossen bevorzugte und sie weit überproportional in leitende Positionen brachte90, auch wenn er den Ständen gegenüber erklärte, er fördere Lutheraner und Reformierte in seinen Diensten gleichmäßig und benachteilige niemanden um seiner Religion willen. Aber all solchen Einschränkungen zum Trotz ist Hintzes zitiertes Urteil im Kern zu bekräftigen, denn 1615 einigten sich Landesherr und Stände der Mark Brandenburg auf Dauer darauf, daß in ihrem Land zwei Konfessionen gleichberechtigt, mit dem gleichen Anspruch auf ihre private und öffentliche Ausübung, nebeneinander bestehen durften und niemand auf Grund seiner Religion seiner Heimat verwiesen werden durfte  – in der Annahme, daß dem Frieden unter den Landesbewohnern am meisten gedient sei, wenn keine Religionspartei die andere zu überwältigen und zu unterdrücken suche. Die Geburt der Religionsfreiheit in der protestantischen Mark Brandenburg des zweiten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts ist umso bemerkenswerter, als wenige Jahre später im katholischen Habsburgerreich das genaue Gegenteil verkündet und durchgesetzt wurde. Die den böhmischen Ständen 1609 von Kaiser Rudolf II. eingeräumte Glaubensfreiheit wurde verworfen, als dessen Nachfolger Ferdinand II. nach seinem militärischen Sieg über die protestantische Opposition in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 gewaltsam die katholische Homogenität des Königreiches wiederherstellte. Die brandenburgische Lösung der Konfessionsfrage von 1615, also die grundsätzlich anerkannte Koexistenz zweier protestantischer Konfessionen innerhalb desselben Territoriums zur Wahrung des kirchlichen und zugleich auch des öffentlichen Friedens, nahm in der Praxis vorweg, was ein halbes Jahrhundert später auf Grund der leidvollen Erfahrungen des 30jährigen Krieges zwischen 1618 und 1648, der auch ein konfessioneller Bürgerkrieg war, Theophil Lessing, der Großvater Gotthold Ephraims, in seiner Leipziger 90  Vgl. Peter Bahl, Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 8), Köln/Weimar/Wien 2001, 196–218. Die auf umfassender Quellenauswertung gestützten Ergebnisse Bahls widerlegen die Behauptung Hahns, Geschichte Brandenburgs (wie Anm. 24), 52, selbst der geringste Amtsträger am Berliner Hof habe die Konfession seines Herrschers und seiner Hofspitze teilen müssen. Daß Johann Sigismund die bevorzugte Besetzung sämtlicher im Lande von ihm vergebener Ämter, vor allem in den Städten, mit Calvinisten gefordert habe (ebd.), trifft vollends nicht zu.

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Dissertation von 1669 „Disputatio politica de Religionum Tolerantia“ („Über die Duldung der Religionen“) theoretisch auf den Punkt brachte: „Irrende,“ die zwar „verkehrte Anschauungen hegen, aber keine Unruhe stiften und die staatlichen Gesetze achten, sind zu dulden, da der Glaube eine Sache des Überzeugens, nicht des Befehlens ist. Allerdings muß man darauf achten, daß nicht der Eindruck entsteht, sie würden nicht bloß geduldet, sondern anerkannt.“91 Quellenanhang Johann Sigismund, Markgraf von Brandenburg und Kurfürst, bekennt, daß die von der reformirten Religion ihn während der jüngsten Anwesenheit der Landstände gebeten haben, ihnen durch seinen Revers zu versichern, daß all seine Bewilligungen der freien Ausübung der reformierten Religion, zu der er selbst sich mit Herz und Mund öffentlich bekennt, unschädlich sei. Dementsprechend reversiert sich der Kurfürst hiermit so, daß alle seine jetzigen und künftigen Bewilligungen und Zusagen ohne jegliche Benachteiligung der reformierten Religion und ihrer freien Ausübung zu verstehen sind. Gemäß seinen in den Verhandlungen vom 16. Januar bis 6. Februar [1615] abgegebenen Erklärungen ist er entschlossen, nicht nur der lutherischen Religion ihren freien Gang und Lauf ohne Bedrückung der Gewissen zu gönnen und jedermann nach seinem Willen darin verbleiben zu lassen, sondern auch mit dieser seiner abschließenden Resolution zu bestimmen, daß der reformierten Religion ihre freie Ausübung ohne jegliche Verfolgung verbleibt, wie er denn die Anverwandten beider Religionen in seinen Schutz und Schirm aufgenommen hat. So wiederholt er denen von der reformierten Religion in allen Ständen, den gegenwärtigen wie den künftigen, seine bereits mehrmals abgegebene Erklärung, daß sie in der freien Ausübung und dem Bekenntnis ihres Glaubens nicht behindert werden sollen, zumal sie für die Landessteuern nicht weniger als die von der lutherischen Religion beitragen müssen. Trebbin, 1615 Februar 6. Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, Rep. 23 A Kurmärkische Stände, U I Nr. 212 A (ol. Preußisches Geheimes Staatsarchiv, Berlin, Urkunden, Ecclesiastica generalia, 1615 Febr. 6). Papierlibell, zwei durch Schnur verknüpfte Bogen Folio, Bl. 2r–3v (zeitgenössische Blattzählung: 168a/168b/168c) beschrieben; Bl. 1r Überschrift (17. Jh.): Original Revers des Churfursten Johann Sigismunds wegen des freien Exercitii Religionis Reformatie [dieses Wort zweifach un91  Zitiert

nach Müller, Konfessioneller Pluralismus (wie Anm. 84), 43.



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terstrichen] in dero landen vom 6. Febr. 1615. – R. 47 N. 16. – S. 6: aufgedrücktes Daumsekretsiegel aus Papier und eigenhändige Unterschrift des Ausstellers Hannß Sigißmundt Churfürst etc. Regest: Regesten der Urkunden Kurmärkische Stände (wie Anm. 2), 276 Nr. 423. Wir Johan Sigismundt, von Gottes gnaden Marggraf zu Brandenburgk, des heyligen Römischen Reichs Ertzcämmerer unnd Chuerfurst, inn Preußen, zu Gülich, Cleve, Berge, Stettin, Pommern, der Caßuben unnd Wenden, auch in Schlesien zu Croßen und Jägerndorf Hertzogk, Burggraff zu Nurmbergk, Furst zu Ruegen, Grafe zu der Marck und Ravensbergk, herr zu Ravenstein, Urkunden und bekennen hiermitt gegen mennigklich vor Uns, Unsere Erben und Nachkommen, Marggrafen unnd Chuerfursten zu Brandenburgk, Nach deme bei iungster anwesenheit unserer getrewen Landtstände gaar viel erregett und auf die bahn bracht worden, so das ansehen vor sich geführet und gehabt, sambt wurde darunter eines und das ander gesuchet und begehrett, so zur untertrückung und einem hochschädlichem praejuditz der Reformirten Religion, zu welcher Wir uns selbsten mitt hertzen unnd munde offentlich bekennen, noch anitzo auch gegen zuvorvermeltte Landtstände selbsten vielfaltig erkleret unnd bekannt haben, hinausschlahen möchte. Dannenhero dann die von der reformirten Religion bewogenn worden, sich durch unterschiedtliche protestationen bei uns zu verwahren, auch zugleich unterthenigst zu bitten, damitt Wir auch sie durch gnugsame Reverß versichern möchten, das alles das, was vorgangen, gesucht, gebehten unnd gewilliget worden, allenthalben der offenen freien ubung der reformirten Religion durchs gantze Landt unschädlich sein soltte. Alß verreversiren Wir Uns hiermitt unnd inn Kraft diese Unsers Reversses gegenwerttiglich vor Uns, Unsere Erben unnd Nachkommen, Marggrafen unnd Chuerfursten zu Brandenburgk und sonsten iedermenniglich, das alles das, was furgangen, verwilliget, zugesaget und versprochen, auch nachmaln hierauff erfolgen möchte, nie keinen andern verstandt, meinung noch sinn bei Uns gehabt, auch ins künfftige nicht uberkommen solle, als das alles unnd iedes ohne allen schaden, praejuditz, nachtheill unnd verfang der reformirten Religion, deren fortpflantzung und freihen ubung solle geredet, gemeinet, verstanden, aufgenommen unnd versprochen sein. Gestaldt Wir Uns dan deßen in der gantzen handlung, so vom 16ten January an biß auff den 6ten Februarium gewahret, zu eingang, mittell ­unnd ende derselben verwahrlich gnugsam erkleret, daß wie Wir eines

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theils die Luttherische Religion auszurotten nicht, sondern vielmehr derselben Ihren freihen gang unnd lauff ohne allen zwang und trang der gewißen zu gönnen und einen ieden, der da will, darbei verbleiben zu laßen gentzlich entschloßen, also wehre auch nicht weniger Unsere endliche resolution dieses, das auch der reformirten Religion Ihre freihe ubung sicher, richtig unnd ohne alle verfolgung unnd pressur uberall verbleiben soltte. Gestaltdt Wir dann beider Religion anverwandte inn gleichen schutz, schirm und protection wollen aufgenommen haben. Demnach so erholen Wir nun solche Unsere erklerung, beederseits Ständen, zu der zeitt zu mehrmahlen geschehen, alles inhalts auch Unnd zusagen unnd versprechen denen von der reformirten Religion in allen Ständen, wie die itzo sein oder sich ins kunftige ferner dazu bekennen möchten, bei Unsern Chuerfurstlichen wahren wortten und glauben, daß Ihnen an der freihen ubung unnd bekenntnus Ihres glaubens durchaus kein eintragk noch verhindernus begegnen noch wiederfahren solle, Sonderlich, da sie bei den Landesstewren und bürden nicht weniger alß die von der Luttherischen religion das Ihre zutragen mueßen. Alles ­getrewlich und ungefehrlich. Deßen zu urkundt haben Wir Unser daumsecret selbsten auß rechter wißenschafft aufgetruckt, Uns auch mitt eigenen handen unterschrieben. Geschehen und geben zu Trebbin am ­ 6ten  February im Jahre nach Christi Geburt Tausentsechshundert unnd funfzehen.

Bugenhagens Erbe in einem geteilten Land. Die Konfessionsfrage in Pommern in den ersten beiden Jahrhunderten nach Einführung der Reformation Von Haik Thomas Porada, Leipzig Ein sogenanntes Immediatschreiben der Konsistorialräte Schiffmann und Protzen aus Stettin vom 15.  Juli 1749 an König Friedrich  II. von Preußen, das im Bestand „Stettiner Geistliches Konsistorium“ im Staatsarchiv Stettin überliefert ist, vermittelt uns einen Eindruck vom Nebenund ansatzweise auch noch Gegeneinander der lutherischen und reformierten Konfession in Pommern, wie es knapp ein Jahrhundert nach dem ersten offiziell gefeierten reformierten Gottesdienst im nunmehr preußischen Teil des Landes Alltag war.1 Dort heißt es: Wir sehen uns gedrungen Ew. Königl. Maytt. Liebe zur Gerechtigkeit allerunterhänigst um Beijstand anzuflehen; Man will denen Lutherischen Consistorial-Räthen in Stettin dasjenige Gehalt entziehen, welches ihnen allein zukommt. Es soll hingegen dem reformirten Consistorial-Rath beijgeleget werden, der daran keinen Anspruch hat, wir haben nicht nöthig unserer Forderung durch erzwungenen einen Anstrich zu geben, sondern wir begnügen uns nur Eur. Königl.  Maijtt: erleuchteten Einsicht die wahre Beschaffenheit der Sache schlechthin vorzulegen. Aus einer uhralten Stifftung genießet der aelteste geistliche Rath 100 Gulden, diese sind zu einer Zeit gestifftet, da kein reformirter Prediger oder Rath in Stettin war, folglich kann daher auch keiner ein Recht machen. Die Lutherischen Räthe sind auch allezeit in ungestörten Besitz und Genuße dieses kleinen Gehaltes gewesen, wie die Pommersche Regierung selbst für uns 1  Die grundlegende Darstellung zur Einführung der lutherischen Reformation in Pommern sowie zum Verhältnis zwischen Lutheranern und Reformierten in den folgenden Jahrhunderten findet sich bei Hellmuth Heyden, Kirchengeschichte Pommerns, 2 Bde., Köln-Braunsfeld 1957. Daran anknüpfend siehe den jüngsten Überblick bei: Haik Thomas Porada, „Die Calvinisten sind mit Fuchsschwänzen und spitzen Hörnern auf dem Kopf dargestellt“. Ein Überblick zur Geschichte des reformierten Bekenntnisses in Pommern seit dem 16. Jahrhundert, in: Der Heidelberger Katechismus und seine Verbreitung in den Territorien des Reichs, hrsg. von Johannes Ehmann (Veröffentlichungen zur badischen Kirchen- und Religionsgeschichte, 5/Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte), Stuttgart 2015, 193– 206.

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berichtet hat, es kann auch um so weniger zweiffelhafft seyn, da nicht ein einiges Exempel vorhanden, daß es ein reformirter genoßen, er kann es endlich auch nicht als ein Lohn seiner Bemühungen, der in der Billigkeit gegründet ist, verlangen, indem er mit den Sachen der Lutherischen Kirche, sonderlich mit der mühsahmen Abnahme aller Rechnungen der piorum corporum gar nichts zu thun hat. So ist auch die alte jetzige Pommersche Kirchen Verfassung gantz anders als die Chur Markische Einrichtung, daher von dieser auf jener gar kein Schluß zu machen ist. So wenig wir vermuthen können, daß nur jemand einen Gedanken bekommen möchte, dieses Alte Lutherische Salarium einem Reformirten beijzulegen, so hat es doch dem Etats Ministerio gefallen, per Decretum es zu bewerckstelligen. Da wir nun nirgends Gehör finden können, so flehen wir Ew. Königl.  Maijtt: Unpartheijlichkeit und Gerechtigkeit allerunterthänigst an, uns beij dem Besitz und Genutz des alten Lutherischen Salarii allergnädigst zu schützen, und die gemachte Änderung hinwiederumb aufzuheben.2

Es gab beim Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1740 in Hinterpommern und Altvorpommern mehrere reformierte Gemeinden, es gab in Stettin auch schon eine erste katholische Gemeinde, und seit einigen Jahrzehnten konnten sich in verschiedenen Städten auch wieder Juden ansiedeln. Eine derartige Toleranz gegenüber anderen Konfessionen war zu diesem Zeitpunkt in Schwedisch-Pommern noch undenkbar. Weder gab es reformierte noch katholische Gemeinden, und Juden durften sich im Gebiet nördlich der Peene und östlich des Peenestroms nicht niederlassen.3 Lediglich in Stralsund wurden einige wenige Familien geduldet, die in Verbindung zur Münze standen. Ihnen war allerdings selbst die Bestattung ihrer Toten verwehrt, die sie außer Landes nach Sülze in Mecklenburg bringen mußten, um sie beizusetzen.4 Die Unterschiede in der 2  Staatsarchiv Stettin/Archiwum Pa    nstwowe ´ w Szczecinie (im folgenden APS), Stettiner Geistliches Konsistorium/Konsystorz Ewangelicki w Szczecinie, Lp 60. 3  Vgl. exemplarisch die Darstellung für die Situation in Schwedisch-Pommern: Georg Friedrich Schmidt/Sven Thurow/Haik Thomas Porada, Der jüdische Friedhof in Grimmen als Erinnerungsort, in: Die Marienkirche in Grimmen und ihre Gemeinde. Beiträge zur Kirchengeschichte einer pommerschen Stadt, hrsg. von Norbert Buske, Haik Thomas Porada und Wolfgang Schmidt, Kiel 2015, 375–378. Grundlegend sind die Darstellungen von: Margret Heitmann/Julius H. Schoeps (Hrsg.), „Halte fern dem ganzen Land jedes Verderben …“ Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Hildesheim/Zürich 1995. – Wolfgang Wilhelmus, Geschichte der Juden in Pommern, Rostock 2004. – Ders., Juden in Vorpommern (Beiträge zur Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns, 8), 3., überarb. und erweiterte Fassung, Schwerin 2007.  – Gerhard Salinger, Die einstigen jüdischen Gemeinden Pommerns. Zur Erinnerung und zum Gedenken. „… und wie ein Traum, der verfliegt“, 4 Bde., New York 2006. 4  Karl-Heinz Bernhard/Fritz Treichel, Der jüdische Begräbnisplatz in Niederhof, in: Baltische Studien N.F. 47 (1960), 111–136. Siehe jetzt auch: Gunnar Möller,



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Religionspolitik zwischen den Teilen Pommerns, die unter preußischer, und denen, die unter schwedischer Hoheit standen, waren also Mitte des 18. Jahrhunderts markant. Nachfolgend soll in drei Schritten skizziert werden, wie es zu dieser divergierenden Entwicklung kam. Dazu werden zuerst die Ausgangslage umrissen, die mit der Einführung der Reformation im Jahre 1534 im Herzogtum Pommern entstanden war, und die konfessionelle Entwicklung bis zum Aussterben der einheimischen Greifendynastie während des Dreißigjährigen Krieges dargestellt. In einem zweiten Schritt wird die Situation in Pommern im ersten Jahrhundert der schwedischen Herrschaft an der südlichen Ostseeküste betrachtet. Und schließlich sei der so ganz andersartige Weg in Hinterpommern sowie in den schrittweise der schwedischen Krone verlorengegangenen Gebieten beschrieben, in denen die Kurfürsten von Brandenburg bzw. die preußischen Könige die Landesherrschaft seit 1653, 1679 und 1720 ausübten. Zwei Jahrhunderte einer hochkomplexen konfessionellen Entwicklung, noch dazu unter so unterschiedlichen landesherrlichen Prämissen, in einem relativ kurzen Aufsatz zu beschreiben, stellt eine gewisse Herausforderung dar. Allerdings gibt es zahlreiche Studien zum Thema in einer langen Forschungstradition, so daß bei Bedarf auch ein Hinweis auf weiterführende Literatur genügen mag. Um einen Eindruck in das reichhaltige Quellenmaterial zur Präsenz deutsch- und französisch-reformierter Gemeinden zu vermitteln, wird am Ende des Beitrags in einem Exkurs der Bestand „Stettiner Geistliches Konsistorium“ im Staatsarchiv Stettin vorgestellt. I. Die Einführung der Reformation auf dem Landtag von Treptow an der Rega 1534 und die Entwicklung der lutherischen Kirche bis zum Ende der Greifenherrschaft 1637 Die Einführung der lutherischen Reformation in Pommern war ein vielschichtiger Prozeß, in dem zwischenzeitlich immer wieder andere Organisationsmodelle für das neue Kirchenwesen erwogen wurden. Die Gestalt, die die pommersche Kirche im Laufe des 16. Jahrhunderts annahm, war also keineswegs vorgezeichnet, sondern eher das Ergebnis zahlreicher Kompromisse.5 Der Gutspark Niederhof bei Stralsund  – eine spätbarocke Anlage des 18. Jahrhunderts, in: Schriften der Stralsunder Akademie für Garten- und Landschaftskultur 2016 (http://galerien.stralsunder-akademie.de/2016/schriften/gutsparkniederhof.pdf, zuletzt abgerufen am 21. Januar 2018), hier 7. 5  Vgl. als Übersicht zum Reformationsverlauf in Pommern: Norbert Buske/ Hans-Günter Leder, Reform und Ordnung aus dem Wort. Johannes Bugenhagen und die Reformation im Herzogtum Pommern, Berlin 1985. Die Entwicklung in

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Eine Keimzelle für die Reformation war das Prämonstratenserstift in Belbuck bei Treptow an der Rega in Hinterpommern. Hier war Johannes Bugenhagen als Lektor tätig, der sich bereits 1521 entschied, nach Wittenberg zu gehen. Auch in den Städten gärte es bereits frühzeitig, allen voran in Stolp, Pyritz, Treptow an der Rega, Stettin und Stralsund. Dabei kam es teilweise zu gewaltsamen Aufläufen und zum Bildersturm in den Kirchen. Die erste Stadt, die sich offen der Reformation anschloß, war Stralsund, wo schon 1525 von Johannes Aepinus eine eigene Kirchenordnung verfaßt wurde.6 Die herzogliche Familie verhielt sich zu dieser Zeit noch abwartend und war um eine Beruhigung bemüht. Auf dem Lande war, mit Ausnahme einiger Feldklöster, kaum etwas von der Unruhe in den Städten zu spüren. Im Adel gab es einige wenige Vertreter wie z. B. Jobst von Dewitz, der in Wittenberg studiert hatte, die sich ihrerseits früh der Reformation zuwandten.7 Nachdem zu Beginn der 1530er Jahre die wichtigsten Städte nur noch evangelische Prediger in den Pfarr- und Klosterkirchen innerhalb ihrer Mauern duldeten und die Situation aus Sicht der Landesherrschaft immer bedrohlicher wurde, entschlossen sich die Herzöge Barnim IX. und Philipp I. zur Einführung der Reformation. Dazu wurde auf dem Landtag, der im Dezember 1534 in der Heilgeistkirche von Treptow an der Rega anberaumt worden war, seitens der Herzöge erklärt, daß sie jetzt diesen Schritt zu gehen bereit seien. Da sie bei der Aufhebung der Feldklöster dem Adel nicht entgegenkommen wollten, verließ die ritterschaftliche Kurie vor der Verkündung eines förmlichen Landtagsabschieds die Versammlung, so daß lediglich die Proposition der

Stettin wurde trotz immenser Quellenverluste am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg anschaulich rekonstruiert von: Eberhard Völker, Die Reformation in Stettin (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte, 38), Köln/Weimar/Wien 2003. 6  Vgl. jetzt die Edition und den Kommentar: Die Stralsunder Kirchen- und Schulordnung von 1525, mit Beiträgen von Norbert Buske, Heiner Lück und Dirk Schleinert (Beiträge zur Kirchen-, Kunst- und Landesgeschichte Pommerns, 20), Schwerin 2017. Zum Verlauf des Bildersturms und den Folgen für die Klöster in Stralsund vgl. jetzt: Gunnar Möller, Die Stralsunder Klöster zur Zeit der Reformation, in: Pommern – Zeitschrift für Kultur und Geschichte, 55. Jg., Heft 2/2017, 37–46. 7  Roderich Schmidt, Das historische Pommern. Personen  – Orte  – Ereignisse (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte, 41), Köln/Weimar/Wien 2007, darin insbesondere seine Aufsätze: Die Torgauer Hochzeit 1536. Die Besiegelung des Bundes zwischen Pommern und Sachsen in der Zeit der Reformation; mit unveröffentlichten Briefen des Pommerschen Rats Jobst von Dewitz, 311–333. – Der herzogliche Rat Jobst von Dewitz und seine Mitwirkung bei der Reformation in Pommern, 393–405.  – Zur Familiengeschichte des pommerschen Rates Jobst von Dewitz, 406–409.



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Herzöge vom Tage Lucia 1534 sowie die wenige Wochen später gedruckte erste pommersche Kirchenordnung, die Johannes Bugenhagen formuliert hatte, den Übertritt des gesamten Landes zum lutherischen Bekenntnis markierte.8 Allerdings gab es eine Ausnahme: das Hochstift des Bistums Cammin mit den Stiftsstädten Kolberg und Köslin, das das Gebiet des Herzogtums in Hinterpommern in einen östlichen Landesteil um Stolp und einen westlichen um Stargard teilte. Da der Camminer Bischof Erasmus von Manteuffel nicht bereit war, die ihm zugedachte Rolle zu übernehmen, nämlich als geistliches Oberhaupt dem neuen Kirchenwesen vorzustehen und dafür auf seine weltlichen Rechte als Reichsfürst im Hochstift zu verzichten, mußte erst sein Tod 1544 abgewartet werden, ehe auch die Stiftslande offiziell zum neuen Glauben übertreten konnten.9 Der Anspruch der pommerschen Herzöge, die neue Kirchenverfassung in den Grenzen ihrer Landesherrschaft umzusetzen, sollte für mehrere Jahrzehnte mit den benachbarten Landesherren, die sich als Rechtsnachfolger „ihrer“ Bistümer sahen, zu Streitigkeiten führen. Zwar deckte das Bistum Cammin einen großen Teil des Herzogtums Pommern ab, es reichte selbst aber im Süden in den Herrschaftsbereich der Kurfürsten von Brandenburg und im Westen in den der Herzöge von Mecklenburg.10 Da8  Die pommersche Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen 1535. Text mit Übersetzung, Erläuterungen und Einleitung von Norbert Buske. Berlin 1985.  – Die Bugenhagen-Forschung hat in den zurückliegenden mehr als drei Jahrzehnten einen großen Aufschwung genommen. Aus der Vielzahl der daraus resultierenden Veröffentlichungen seien hier die folgenden drei genannt: Johannes Bugenhagen, „Pomerania“  – Faksimiledruck und Übersetzung der Handschrift von 1517/18, hrsg. von Norbert Buske, übersetzt von Lore Poelchau unter Mitwirkung von Boris Dunsch und Gottfried Naumann, mit Anmerkungen versehen durch ­Sabine Bock, Boris Dunsch und Dirk Schleinert sowie einer Einführung von Volker Gummelt (Beiträge zur pommerschen Landes-, Kirchen- und Kunstgeschichte, 11), Schwerin 2008; Studienausgabe Schwerin 2009.  – Norbert Buske (Hrsg.), ­Johannes Bugenhagen. Sein Leben. Seine Zeit. Seine Wirkungen. Mit Beiträgen von Irmfried Garbe, Felix Biermann, Heinrich Kröger, Boris Dunsch und Gottfried Naumann (Beiträge zur pommerschen Landes-, Kirchen- und Kunstgeschichte, 14), Schwerin 2010. – Irmfried Garbe/Heinrich Kröger (Hrsg.), Johannes Bugenhagen (1485–1558). Der Bischof der Reformation. Beiträge der BugenhagenTagungen 2008 in Barth und Greifswald, Leipzig 2010. 9  Vgl. zu Erasmus von Manteuffel jetzt: Jürgen Petersohn, Die Kamminer ­Bischöfe des Mittelalters. Amtsbiographien und Bistumsstrukturen vom 12. bis 16. Jahrhundert (Beiträge zur Kirchen-, Kunst- und Landesgeschichte Pommerns, 19), Schwerin 2015, 94–97. 10  Vgl. dazu in: Historischer und geographischer Atlas von Mecklenburg und Pommern, Band 2: Mecklenburg und Pommern – Das Land im Rückblick, hrsg. im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1996, die folgenden drei thematischen Karten: Martin Schoebel und Gyula Pápay, Christianisierung und Bistumsgründungen in Mecklenburg und

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gegen war das festländische Rügen fast vollständig als Archidiakonat Tribsees Teil  des Bistums Schwerin, die Insel Rügen wiederum gehörte zum Bistum Roskilde.11 Auch im Osten des Herzogtums Pommern gab es eine vergleichbare Abweichung in den Ländern Lauenburg und Bütow, die außerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reichs lagen und mit denen die pommerschen Herzöge von der polnischen Krone belehnt waren. Während Bütow zum Bistum Cammin gehörte, war Lauenburg Teil des Bistums Leslau.12 In Verbindung mit den Ergebnissen der pommerschen Hauptlandesteilung der Jahre 1532/154113 führte diese Ausgangslage innerhalb der folgenden drei Jahrzehnte zu einer Vielzahl von Konsistorien als neuen geistlichen Gerichten und damit einer starken Zersplitterung der Zuständigkeitsbezirke.14 Nachfolgend seien diese Konsistorien hinsichtlich ihres Gründungsdatums und des Zeitraums ihrer Tätigkeit aufgelistet, da sie in ihrer Wirksamkeit maßgeblich für die Ausgestaltung des Kirchenwesens waren.15 Pommern bis 1250, 11 (Karte 2); Antje Sander-Berke und Gyula Pápay, Kirchliche Gliederung in Mecklenburg und Pommern um 1500, 35 (Karte 7); Norbert Buske und Gyula Pápay, Kirchenorganisation und Bekenntnisstand nach der Reformation in Mecklenburg und Pommern, 39 (Karte 8). Für die Folgen der Überschneidung von kirchlichen und weltlichen Grenzen aus mittelalterlicher Zeit in den Jahrzehnten nach der Reformation zwischen Pommern und Brandenburg siehe die Übersicht bei: Dirk Schleinert, Der untere Oderraum und nördliche Neumark. Exkursion 2006 der Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte, in: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte, 44. Jg. (2006), Heft 3, 2–6. 11  Grundlegend dazu: Bengt Büttner, Die Pfarreien der Insel Rügen. Von der Christianisierung bis zur Reformation (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte, 42), Köln/Weimar/Wien 2007. 12  Roderich Schmidt, Die Lande Lauenburg und Bütow in ihrer wechselnden Zugehörigkeit zum Deutschen Orden, zu Pommern und Polen und zu Brandenburg-Preußen, in: Dietmar Willoweit und Hans Lemberg (Hrsg.), Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa – Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegimitation, München 2006, 93–106, hier 94. Vgl. zu den Camminer Diözesangrenzen auch die Übersicht bei: Jürgen Petersohn, Bistum und Hochstift Kammin um 1500, in: Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich, Deutschsprachige Länder, hrsg. v. Erwin Gatz, Regensburg 2009, 86–87. 13  Vgl. die jüngste kartographische Darstellung auf den beiden Faltkarten in der Rückentasche bei: Haik Thomas Porada, Das pommersche Bergwerk  – Die Bodden, Haffe und Strandseen Pommerns in der fürstlichen Herrschaftspraxis vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert (Beiträge zur pommerschen Landes-, Kirchen- und Kunstgeschichte, 13), Schwerin 2009. 14  Norbert Buske, Das alte Greifswalder Konsistorium. 300 Jahre kirchliche Rechtsprechung, in: 487 Jahre Rechtsprechung, Organisation, Leitung und Verwaltung der Pommerschen Evangelischen Kirche. Zur Geschichte der Konsistorien, hrsg. von Christoph Ehricht (Beiträge zur pommerschen Landes-, Kirchen- und Kunstgeschichte, 16), Schwerin 2012, 11–54.



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1556 nahm das Greifswalder Konsistorium seine Arbeit auf. Seit 1563 war es eine ständige Behörde. Seine Zuständigkeit erstreckte sich auf das Teilherzogtum Pommern-Wolgast, das gleichzusetzen ist mit dem in dieser Zeit aufkommenden Terminus Vorpommern. Greifswald blieb bis 1849 Standort des Konsistoriums. Es war nach dem Ende der Greifenherrschaft für Schwedisch-Pommern und schließlich seit 1815 für den Regierungsbezirk Stralsund zuständig, der auch als Neuvorpommern und Rügen bezeichnet wurde.16 15

1558 wurde das Kolberger Konsistorium gegründet. Es war für das Hochstift Cammin, die sog. Stiftslande, zuständig, die seit 1556/57 de facto eine Sekundogenitur der pommerschen Herzöge darstellten. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde es aufgehoben, allerdings 1653 wieder eröffnet, nachdem Hinterpommern von den schwedischen Truppen geräumt worden war und der Große Kurfürst auch realiter die Herrschaft im östlichen Teil  Pommerns antreten konnte. Allerdings wurden die Regierungsbehörden bereits 1668 von Kolberg nach Stargard verlegt.17 1563 trat das Stettiner Konsistorium hinzu. Sein Sprengel war das Teilherzogtum Pommern-Stettin, das seinerseits ab dem 16. Jahrhundert mit der Bezeichnung Hinterpommern gleichzusetzen ist. Auch das Stettiner Konsistorium stellte nach dem Tod des letzten Greifenherzogs Bogislaw XIV. seine Tätigkeit ein, wurde jedoch von der schwedischen Administration 1641 bereits wieder begründet, allerdings bald dem Greifswalder Konsistorium unterstellt und 1657 schließlich ganz aufgehoben. Angesichts der Entfernung nach Greifswald entschloß sich die schwedische Regierung im Jahr 1700 erneut zur Einrichtung eines Unterkon­ sistoriums in Stettin, dessen Arbeit gut ein Jahrzehnt später wieder zum Erliegen kam, als Stettin in preußische Hände fiel. Auch nach dem Stockholmer Frieden und dem damit festgeschriebenen Übergang des südlichen Vorpommerns an Preußen sollte es noch knapp zwei Jahrzehnte dauern, ehe Stettin zum Sitz des Konsistoriums für alle der preußischen Krone unterstehenden pommerschen Landesteile wurde. Bis 1945 war diese Kirchenbehörde schließlich in Stettin tätig.18 15  Eine kurzgefaßte Übersicht zu den Standorten der Superintendenturen und Konsistorien bietet: Norbert Buske, Kirchenorganisation und Bekenntnisstand nach der Reformation in Mecklenburg und Pommern, in: Historischer und geographischer Atlas von Mecklenburg und Pommern, Band  2: Mecklenburg und Pommern – Das Land im Rückblick, hg. im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1996, 38–43. 16  Norbert Buske, Das alte Greifswalder Konsistorium (wie Anm. 14), 11–39. 17  Ebd., 41. 18  Ebd., 40–41.

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Seit 1668 war Stargard für mehrere Jahrzehnte lang Standort des Konsistoriums für Hinterpommern und die Stiftslande, allerdings immer wieder mit Unterbrechungen. Zusammen mit den anderen Regierungsbehörden für den brandenburgischen Teil  Pommerns wurde das Konsisto­ rium zwischen 1674 und 1676 sowie von 1683 bis 1686 noch einmal nach Kolberg verlegt. Schließlich wurde es 1738 von Stargard nach Stettin umgesetzt. In der napoleonischen Zeit war Stargard 1809 für kurze Zeit sein Sitz. Als die Konsistorien in Preußen ab 1814 zu modernen Verwaltungsbehörden umgestaltet wurden, entschied man sich, die alte Funk­ tion als geistliches Gericht von Stettin nach Stargard auszulagern. Es ist unklar, wie lange dieses Konsistorium dann dort noch tätig war.19 In Stralsund gab es bereits 1561 Pläne für die Schaffung eines eigenen Konsistoriums für das Gebiet der Stadt innerhalb der Mauern, die 1575 nach dem Muster der kursächsischen Konsistorialinstruktion umgesetzt wurden. 1810 war die Zuständigkeit dieses geistlichen Gerichts auf die Vorstädte ausgeweitet worden. Es wurde zeitgleich mit dem Greifswalder Konsistorium 1849 aufgehoben.20 In Lauenburg war 1662 ein Konsistorium gebildet worden, das dem Kolberger Konsistorium unterstellt wurde. Es war bis 1773 tätig. Inwiefern die besondere Stellung des Landes Lauenburg, das zum Bistum Leslau gehörte, nach dem Aussterben der Greifenherzöge als erledigtes ­Lehen an die polnische Krone heimfiel und massiven Rekatholisierungsbemühungen ausgesetzt war, die Gründung eines eigenen Konsistoriums begünstigte, muß noch untersucht werden.21 Nachdem Köslin 1721 zum Standort eines eigenen Hofgerichts für die östliche Hälfte Hinterpommerns geworden war, wurde hier 1747 für dessen Sprengel auch ein Konsistorium begründet, das bis 1815 tätig war.22 Weitere Konsistorien waren zwar geplant, wurden aber nicht realisiert. So war bereits 1545 erwogen worden, in Cammin ein Oberkonsistorium für ganz Pommern zu errichten, wobei aber immer noch der Gedanke, der Camminer Bischof werde künftig die Leitung des neuen Kirchenwesens übernehmen, eine Rolle spielte.23 Seit 1616 hatte man bedacht, für 19  Ebd.,

42. 43. Einen konzisen Überblick bietet jetzt: Norbert Buske, Zur Geschichte des eigenständigen evangelischen Kirchenrechts in Stralsund  – Stichworte und Hinweise, in: Die Stralsunder Kirchen- und Schulordnung von 1525, mit Beiträgen von Norbert Buske, Heiner Lück und Dirk Schleinert (Beiträge zur Kirchen-, Kunst- und Landesgeschichte Pommerns, 20), Schwerin 2017, 13–57. 21  N. Buske, Das alte Greifswalder Konsistorium (wie Anm. 14), 42. 22  Ebd., 42. 23  Ebd., 41. 20  Ebd.,



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den östlichen Landesteil von Pommern-Stettin, der durch die Stiftslande vom Rest des Territoriums abgeschnitten war, ein eigenes Konsistorium in Stolp zu begründen, diesen Plan aber nicht mehr umgesetzt.24 Auch für die Ämter Barth und Neuenkamp, die die Apanage Herzog Bogislaws  XIII. und das Gros des bis zur Reformation in geistlicher Hinsicht zum Bistum Schwerin gehörigen festländischen Teils des Fürstentums Rügen ausmachten, war Ende des 16. Jahrhunderts ins Auge gefaßt worden, in Barth ein eigenes Konsistorium zu schaffen.25 Ähnlich hatte man bereits Mitte des 16. Jahrhunderts überlegt, für die Insel Rügen ein Konsistorium zu gründen, da zu diesem Zeitpunkt die Frage der Superintendentur für dieses bis zur Reformation den Bischöfen von Roskilde unterstellte Gebiet nunmehr zwischen den Herzögen von Pommern und der dänischen Krone umstritten war.26 Letztlich wurde ganz Vorpommern einschließlich der Insel Rügen vom Greifswalder Konsistorium betreut, mit einer Ausnahme – der selbstbewußten Stadt Stralsund.27 Oberste theologische Vertreter in den Konsistorien waren die Superintendenten, die in Greifswald, Kolberg und Stettin den Titel eines Generalsuperintendenten führten. Wir werden noch sehen, welch herausragende Rolle gerade die Greifswalder Generalsuperintendenten in den folgenden Jahrhunderten spielen sollten.

24  Ebd.,

43–44. 44. Vgl. zu den langwierigen Verhandlungen über die pommerschen Ansprüche auf die Camminer Einkünfte in Mecklenburg und die Schweriner Einkünfte in Vorpommern die Darstellung bei Dirk Schleinert, Die Ablösung des Schweriner Bischofszehnten im Archidiakonat Tribsees, in: Mecklenburgische Jahrbücher 120 (2005), 33–55, und ders., „Wie von alterß zwischen diesen beiden landen … allewege gute correspondentz gewesen.“ Zur zweiten Hochzeit Herzog Ulrichs III. von Mecklenburg mit Anna von Pommern und weiteren Beziehungen zwischen den Herzögen von Pommern und Mecklenburg im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: Leder ist Brot. Beiträge zur norddeutschen Landes- und Archivgeschichte. Festschrift für Andreas Röpcke, hrsg. von Bernd Kasten, Matthias Manke und Johann Peter Wurm, Schwerin 2011, 153–166, hier 154 f. 26  N. Buske, Das alte Greifswalder Konsistorium (wie Anm. 14), 44. Die dänische Überlieferung zu den nachreformatorischen Beziehungen zwischen Pommern und Dänemark bezüglich der Stellung der Insel Rügen und der Ablösung der Ansprüche der Bischöfe von Roskilde dokumentiert jetzt: Joachim Krüger, Dänemark und Pommern. Sachthematisches Archivinventar zu den Beständen an Pomeranica und Sueco-Pomeranica im dänischen Reichsarchiv in Kopenhagen (Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte, 12), Greifswald 2010. 27  N. Buske, Das alte Greifswalder Konsistorium (wie Anm. 14), 43. Den Weg Stralsunds zu seiner relativen kirchenpolitischen Sonderstellung innerhalb des Territoriums beleuchtet Roxane Berwinkel, Weltliche Macht und geistlicher Anspruch. Die Hansestadt Stralsund im Konflikt um das Augsburger Interim (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 28), Berlin u. a. 2012. 25  Ebd.,

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Welchen Bekenntnisstand legten diese pommerschen Konsistorien nun ihrer Rechtsprechung bis zum Aussterben des Greifenhauses zugrunde? Da in der 1569 erlassenen pommerschen Konsistorialinstruktion hierzu keine Angaben gemacht worden waren, ließ Bogislaw  XIV. 1636, wenige Monate vor seinem Tod, eine Zusammenstellung der für sein Herzogtum gültigen Normalbücher vornehmen:28 1. Die Heilige Schrift. 2. Die unveränderte Augsburgische Konfession von 1530. 3. Das Corpus doctrinae Pomeranicum, zu dem es heißt „nicht das lateinische oder Meißnische, sondern das in Pommerischer Sprache mit dem Fürstlich Pommerischen Wappen ao 1565 ediret und zu Wittenberg gedruckt ist und sich forne an im Titel auf die Tomus Lutheri beruffet“. Es bestand aus dem Corpus doctrinae Saxonicum, wie es 1559 von Melanchthon zusammengestellt worden war, und weiteren Schriften Luthers. Es enthielt die drei altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, die deutsche Augustana und Apologie von 1540, die Wiederholung der Augustana von 1551, den großen und den kleinen Katechismus, die Schmalkaldischen Artikel sowie Melanchthons „Loci communes“ von 1553. Dieses pommersche Corpus doctrinae hatte von Anfang an lehrverpflichtenden Charakter. 4. „Die Streitschriften Lutheri, auf Anordnung der Fürstl. Pommerschen Herrschaft absonderlich zusammen ao 1573 gedruckt und den Kirchen in Pommern beygeleget“. 5. „Die letzte Bekenntniß in der großen Stettinischen Synode 1593 von den streitigen Articuln 1. von der Person Christi, 2. von dem heiligen Abendmahl, 3. von der GnadenWahl, aus der Formula Concordiae von Wort zu Wort genommen und in öffentlichen Druck gegeben ao 1593“. Hinsichtlich des Konkordienbuches ist festzuhalten, daß es von den Theologen auf der neunten pommerschen Generalsynode in Greifswald 1578 abgelehnt worden war. Dabei war damals auf das Corpus Doctrinae von 1565 verwiesen worden. Allerdings wurden Teile des Konkordienbuches, nämlich die hier genannten drei Artikel, 1593 angenommen. 1623 befahl Herzog Philipp Julius von Pommern-Wolgast für die Theologische Fakultät der Greifswalder Universität die An28  Grundlage für diese Aufstellung ist Anhang B „Grundlagen für die Rechtsprechung der pommerschen Konsistorien, soweit sie den Bekenntnisstand in Pommern bezeichnen“ bei N. Buske, Das alte Greifswalder Konsistorium (wie Anm. 14), 45–46.



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nahme des gesamten Konkordienbuches als Liber symbolicus. In Schwedisch-Pommern wurde das Konkordienbuch offiziell erst 1688 für alle Geistlichen für verbindlich erklärt. 6. Die Pommersche Kirchenordnung von 1563 und Agende von 1569 in „Pommerscher Sprache“ mit den Insignien der Fürsten publiziert. Generell spielte der Buchdruck für die Verbreitung der lutherischen Lehrschriften eine große Bedeutung. Erinnert sei hier nur an die Barther Druckerei, die Ende des 16. Jahrhunderts sämtliche Pfarrer in Pommern u. a. mit niederdeutschen Bibeldrucken auf Kosten Herzog Bogislaws ­XIII. versorgte.29 Für das pommersche Herzogshaus und die Landstände lassen sich bis zum Ende der Greifenherrschaft keine Abweichungen von dieser streng lutherischen Linie beobachten. Im schwedischen Teil  Pommerns blieben diese Bekenntnisschriften prinzipiell bis 1815 gültig, während in den unter brandenburgische Hoheit gelangten Landesteilen nach 1653 eine andere Entwicklung einsetzte. An dieser Stelle sei kurz auf die große Unruhe verwiesen, die der Übertritt Johann Sigismunds von Brandenburg zum reformierten Bekenntnis 1613 in Pommern auslöste. Da auch der benachbarte Fürst im Westen, Herzog Johann Albrecht II. von Mecklenburg-Güstrow (1611–1636), diesen Schritt vollzog, mußte bei den Vertretern der letzten Generation des Greifenhauses ein Gefühl zunehmender Isolation um sich greifen.30 Als dann die jüngste Schwester aus dieser letzten Generation, Anna von Pommern, 1619 – im ersten Jahr des Dreißigjährigen Krieges – in Stettin mit Ernst von Croy einen katholischen Reichsfürsten heiratete, schrillten bei ihren älteren Brüdern alle Alarmglocken. An anderer Stelle wurde bereits ausführlich auf die überaus aufschlußreichen familieninternen Überlegungen hinsichtlich der Gefahr einer Konversion Annas eingegangen, so daß dies hier nicht weiter verfolgt werden muß.31 Anna konver29  Norbert Buske, Geschichte und Bedeutung der Barther Druckerei unter besonderer Berücksichtigung der Illustrationen der Barther Bibel, in: Ders. (Hrsg.), Niederdeutsche Bibeltradition. Entwicklung und Gebrauch des Niederdeutschen in der Kirche, Berlin und Altenburg 1990, 13–33. Zuvor schon als Übersicht: Ders., Niederdeutsche Passionsharmonie von Johannes Bugenhagen. Faksimiledruck nach der Barther Ausgabe von 1586 mit einem Nachwort zur Geschichte der Barther Druckerei, Berlin 1985. 30  Ders., Das evangelische Pommern. Bekenntnis im Wandel (Beiträge zur pommerschen Landes-, Kirchen- und Kunstgeschichte, 12), Schwerin 2009, 27–31. 31  Haik Thomas Porada, Finstingen an der Saar – Auf pommerschen Spuren in Lothringen (Teil I), in: Pommern  – Zeitschrift für Kultur und Geschichte, 46. Jg., Heft 4/2008, 2–8, (Teil II), in: ebd., 47. Jg., Heft 1/2009, 8–15.

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tierte nicht, setzte die Taufe ihres Sohnes Ernst Bogislaw von Croy durch einen lutherischen Geistlichen in der Schloßkirche von Finstingen in Lothringen durch und floh mit ihrem Kind zu ihrem einzigen noch ­lebenden Bruder nach Pommern, nachdem ihr Mann im zweiten Jahr des Dreißigjährigen Krieges als kaiserlicher Offizier in einem Feldlager am Oberrhein einem Seuchenzug erlegen war. Sie selbst war bis zu ihrem Tod 1660 die letzte Vertreterin des Greifenhauses in Pommern, ihr Sohn Ernst Bogislaw bis zu seiner Resignation 1650 der letzte Bischof von Cammin, der anschließend als brandenburgischer Statthalter erst in Pommern und schließlich in Ostpreußen bis zu seinem Tod 1684 amtierte. Mutter und Sohn waren in den ersten Jahren der kurfürstlichen Herrschaft in Hinterpommern geradezu Hoffnungsanker für die lutherischen Theologen in Pommern. Anna und Ernst Bogislaw von Croy förderten deshalb auch die im schwedischen Landesteil gelegene Greifswalder Universität maßgeblich.32 Zum Zeitpunkt des Todes Bogislaws  XIV. im Jahre 1637 war die Zukunft Pommerns völlig ungewiß. Zehn Jahre zuvor war das Land von kaiserlichen Truppen besetzt, seit Sommer 1630 schrittweise von Gustav II. Adolf von Schweden erobert und in der zweiten Hälfte der 1630er Jahre sowie nochmals in Hinterpommern in der ersten Hälfte der 1640er Jahre von kaiserlichen Verbänden okkupiert worden. Die Restitution geistlicher Territorien stand auf kaiserlicher Seite ganz oben auf der Agenda. Dabei war das Hochstift des Bistums Cammin von besonderem Interesse. Der König von Polen hatte für seinen Sohn Karl Ferdinand, ähnlich wie andere katholische Fürsten, Anspruch auf den Camminer Bischofsstuhl erhoben.33 Für Kolberg als der bedeutendsten Stiftsstadt war die Errichtung eines Jesuitenkollegs geplant.34 In den Gebieten, die als erledigte Lehen an die polnische Krone fielen, die Starostei Draheim und die Länder Lauenburg und Bütow, setzte unmittelbar 1637 schon eine umfassende Gegenreformation ein. Mit der Rückeroberung durch die schwedische Krone wurden zumindest im Hochstift Cammin die Pläne 32  Ders., Zur Bedeutung von Konfession und Dynastie im Leben des letzten Bischofs von Cammin, Ernst Bogislaw von Croy, in: Christi Ehr vnd gemeinen Nutzen willig zu fodern vnd zu schützen. Beiträge zur Kirchen-, Kunst- und Landesgeschichte Pommerns und des Ostseeraums. Festschrift für Norbert Buske, hrsg. von Michael Lissok und Haik Thomas Porada (Beiträge zur pommerschen Landes-, Kirchen- und Kunstgeschichte, 18), Schwerin 2014, 511–572. 33  Ders., Pommern, Skandinavien und das Baltikum – Sachthematisches Archivinventar zu den frühneuzeitlichen Beständen an Nordica, Baltica und Sueco-Pomeranica im Staatsarchiv Stettin (Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, 6), Schwerin 2005, 206, 244. 34  Hellmuth Heyden, Kirchengeschichte Pommerns (wie Anm. 1), Bd. 2, 85.



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der kaiserlichen Seite verhindert. Für die Starostei Draheim mit der Stadt Tempelburg sowie die Länder Lauenburg und Bütow gab es für viele Jahrzehnte auch unter kurbrandenburgischer Herrschaft angesichts der Reservatrechte der polnischen Krone das latente Problem, daß an den Stadtpfarrkirchen katholische Geistliche amtierten, die aber kaum Gemeindeglieder zu versorgen hatten, während die fast gänzlich lutherische Bevölkerung nur unter großen Schwierigkeiten geistlich betreut werden konnte. Wir verdanken Christoph Motsch eine grundlegende Darstellung der frühneuzeitlichen Verhältnisse in diesen Randgebieten Pommerns, bei der er auf einem breiten Quellenfundament die Sichtweisen der unterschiedlichen Akteure anschaulich herausgearbeitet hat.35 II. Schwedisch-Pommern als Hort des „reinen Luthertums“ seit 1648 Die Situation im Herzogtum Pommern königlich schwedischen Anteils stellte nach dem Frieden von Osnabrück in gewisser Weise eine Fortsetzung der streng lutherischen Ausrichtung des Gesamtterritoriums zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg dar. Die Konsistorien waren in herzoglicher Zeit den jeweiligen Hoflagern zugeordnet, d. h. also den Landesregierungen in Wolgast, Stettin und Kolberg. Im Namen der Herzöge sprachen sie als Landesgerichte Recht, waren unabhängig von den Hofgerichten, den obersten Landesgerichten, und ihnen im Rang gleichgestellt. An erster Stelle und dem Fürsten gegenüber verantwortlich war der jeweilige Generalsuperintendent für den Landesteil. Zwei weitere Theologen und zwei Juristen waren als Beisitzer berufen. Sie wurden später als Assessoren bezeichnet. Außerdem gab es an jedem Konsistorium einen Notar. Die Direktion und damit die Verhandlungsführung, die Zitationen sowie die Ausfertigung der Urteile oblag einem der beiden Juristen. Für das Greifswalder Konsistorium hatte sich bereits bei seiner Gründung die Konstellation herausgebildet, daß der Generalsuperintendent von Pommern-Wolgast zugleich Pfarrer an der Greifswalder Nikolaikirche und Inhaber der ersten theologischen Professur an der Universität war. Die anderen beiden theologischen Konsistorialassessoren waren zugleich Inhaber der anderen beiden theologischen Professuren an der Universität und jeweils der ersten Pfarrstelle an der Ma­ rien- und an der Jakobikirche in Greifswald. Die Inhaber der ersten beiden juristischen Professuren an der Universität wiederum waren zugleich 35  Christoph Motsch, Grenzgesellschaft und frühmoderner Staat. Die Starostei Draheim zwischen Hinterpommern, der Neumark und Großpolen (1575–1805) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 164), Göttingen 2001.

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die juristischen Konsistorialassessoren. Mit der Konfirmation der pommerschen Landesprivilegien von 1650 durch die schwedische Krone und schließlich mit der Königlichen Regierungsform von 1663 wurden für Schwedisch-Pommern die landständischen Privilegien so stark konserviert, daß im Prinzip bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nahezu jegliche Veränderung des Status Quo verhindert wurde. Davon waren auch die Stellung und Zusammensetzung des Greifswalder Konsistoriums be­ troffen. Die enge Verquickung mit der Greifswalder Universität, der Generalsuperintendentur, den Stadtpfarrkirchen und dem ebenfalls in ­ Greifswald angesiedelten Hofgericht wurde zum bestimmenden Merkmal dieses Konsistoriums und hatte nachhaltigen Einfluß auf seine Entscheidungen.36 Die Konservierung des lutherischen Bekenntnisstandes in Schwedisch-Pommern wurde das erklärte Ziel der leitenden Theologen und Juristen, die sich dabei der Unterstützung seitens der schwedischen Regierung im Lande sowie des Hofes in Stockholm gewiß sein, vor allem aber auf den Konsens der Landstände vertrauen konnten. Das Greifswalder Konsistorium wurde geradezu ein Hort der lutherischen Orthodoxie. Waren das ausgehende 16. und das gesamte 17. Jahrhundert von der Auseinandersetzung mit den Calvinisten geprägt, so trat mit ähnlicher Schärfe zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Streit mit dem Pietismus an diese Stelle. In Greifswald hatten dessen Vertreter lediglich während der dänischen Besetzung des nordwestlichen Pommerns zwischen 1715 und 1720 Zugriff auf kirchenleitende Positionen.37 Ihr Einfluß wurde nach der erneuten Übernahme der Landesherrschaft durch die schwedische Krone schnell wieder zurückgedrängt. Erst 1729 wurden in SchwedischPommern erstmals Reformierte toleriert, soweit sie ihre Gottesdienste „in der Stille und für sich selbst verrichteten“. Gottesdienste waren den ­Katholiken erst seit 1761 gestattet; 1784 wurde der Grundstein für die erste katholische Kirche in Stralsund gelegt.38 Angehörige beider Konfessionen gab es in nennenswertem Umfang zu diesem Zeitpunkt lediglich im Umfeld der Stralsunder Garnison, die im 18. Jahrhundert außerhalb der Kriegszeiten nur aus geworbenen deutschen Truppen bestand.39

36  Die Darstellung zur inneren Struktur des Greifswalder Konsistoriums folgt N. Buske, Das alte Greifswalder Konsistorium (wie Anm. 14), S. 28–32. 37  Martin Meier, Dänische Kirchenpolitik in Vorpommern nördlich der Peene 1715–1721, in: Baltische Studien N.F. 90 (2004), 143–160. 38  N. Buske, Das evangelische Pommern (wie Anm. 30), 70. 39  Robert Oldach, Stadt und Festung Stralsund. Studien zur Organisation und Wahrnehmung schwedischer Militärpräsenz in Schwedisch-Pommern 1721–1807 (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns, 20), Köln/Weimar/Wien 2018.



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Die Greifswalder Universität verfügt über eine bemerkenswerte Gemäldesammlung, die bis in ihre Gründungszeit zurückreicht. Das ermöglicht uns einen Gang durch die illustre Galerie der Greifswalder Generalsuperintendenten und Konsistorialräte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. An einigen ausgewählten Biogrammen seien als Abschluß für diesen Abschnitt nachfolgend einige der Akteure des konfessionellen Zeitalters in Pommern in Auswahl skizziert.40 •• Barthold von Krakewitz (1582–1642), seit 1607 Generalsuperintendent, seit 1627 Rektor der Universität. Nachdem am 20.  November 1627 Wallensteins Truppen Greifswald besetzt hatten, währte die Einquartierung die kommenden vier Jahre. Krakewitz soll mehrmals mit den kaiserlichen Söldnern Disputationen über die päpstliche Lehre gehalten haben. Er beging mit den Angehörigen der Universität im Beisein der kaiserlichen Truppen am 25.  Juli 1630 die 100-Jahrfeier der Verkündung der Augsburgischen Konfession. Kommentare und diverse Streitschriften, nicht zuletzt seine Warnungen vor der reformierten Lehre, machten ihn über Greifswald hinaus bekannt.41 •• Moevius Völschow (1588–1650), seit 1642 Generalsuperintendent und Professor der Theologie in Greifswald. Seine Berufung fiel in eine Zeit harter Streitereien zwischen der lutherischen Orthodoxie und dem Synkretismus. Die schwedische Krone hatte ein starkes Interesse daran, mit Funktionsträgern wie ihm die Greifswalder Universität als Basis für die Ausbildung lutherischer Theologen für ihre neu erworbenen Territorien im Reich sowie ihre übrigen Herrschaftsgebiete im Ostseeraum auszubauen.42 •• Balthasar Rhaw jun. (1601–1658), seit 1628 Pastor an St. Marien in Greifswald, seit 1629 Assessor am Konsistorium, seit 1638 Pastor an der Nikolaikirche in Stralsund und Superintendent daselbst. Er genoß in seiner Zeit in seinem lutherischen Umfeld hohe Wertschätzung als beeindruckender Prediger und geschickter Katechet, nicht zuletzt 40  Die Gemälde der nachfolgend genannten Persönlichkeiten sind großformatig zum 550. Gründungsjubiläum der Universität reproduziert und mit Kurzbiographien veröffentlicht worden von: Dirk Alvermann und Birgit Dahlenburg, Greifswalder Köpfe. Gelehrtenporträts und Lebensbilder des 16.–18. Jahrhunderts aus der pommerschen Landesuniversität, Rostock 2006. Zu einzelnen der nachfolgend präsentierten Persönlichkeiten sowie weiteren nachreformatorischen Theologen erscheinen jetzt fortlaufend biographische Skizzen auf aktuellem Forschungsstand: Dirk Alvermann und Nils Jörn, Biographisches Lexikon für Pommern, Band  1 ff. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte, 48), Köln/Weimar/Wien 2013 ff. 41  D. Alvermann/B. Dahlenburg, Greifswalder Köpfe (wie Anm. 40), 118–119. 42  Ebd., S. 200–201.

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wegen seiner Polemik gegen Jesuiten und Calvinisten, die sich in diversen Druckschriften manifestierte.43 •• Abraham Battus (1606–1674), seit 1658 kommissarischer, seit 1662 berufener Generalsuperintendent, außerdem bis zu seinem Tod Konsistorialpräsident, viermal Dekan der Philosophischen Fakultät und fünfmal Rektor der Greifswalder Universität. Er veröffentlichte 1665 posthum Barthold von Krakewitz’ „Warnung vor der reformierten Lehre“, die sich großen Zuspruchs bei den Lutheranern erfreute. Er wurde wie sein als Konsistorialassessor und ebenfalls fünfmal als Rektor der Greifswalder Universität amtierender Vater, Bartholomäus Battus (1571–1639), von seinen lutherisch-orthodoxen Zeitgenossen im gesamten deutschen Sprachraum in besonderer Weise geschätzt, was nicht zuletzt auf ihre eifrige Publikationstätigkeit zurückzuführen war.44 •• Johann Bering (1607–1658), seit 1651 Generalsuperintendent. Während seines Studiums in Franeker in den Niederlanden kam er aufgrund seines ostentativ vorgetragenen lutherischen Bekenntnisses mit den dort tonangebenden calvinistischen Studenten und Lehrern in Streitereien und mußte deswegen nach Leiden ausweichen, was ihn in den Augen des neuen schwedischen Generalgouverneurs in Pommern, Carl Gustav Wrangel, in besonderer Weise für sein Amt qualifizierte.45 •• Matthäus Tabbert (1625–1675), seit 1660 Professor der Theologie und Pastor an St. Marien in Greifswald, seit 1675 Generalsuperintendent. Er hat sich als Autor einiger Druckschriften über die konfessionellen Unterschiede seiner Zeit einen Namen gemacht.46 •• Konrad Tiburtius Rango (1639–1700), seit 1689 Generalsuperintendent, sah als streng lutherisch-orthodoxer Geistlicher sein Hauptbetätigungsfeld im Kampf gegen pietistische Strömungen.47 •• Johann Friedrich Mayer (1650–1712), seit 1701 Generalsuperintendent, einer der herausragenden Inhaber dieses Amtes und naher Vertrauter Karls  XII. von Schweden, sah wie seine Vorgänger im Pietismus das Übel seiner Zeit, was nicht zuletzt auf den starken politischen Gegensatz zwischen Schweden und Dänemark zurückzuführen war.48 43  Ebd.,

164–165. 44–45. 45  Ebd., 50–51. 46  Ebd., 194–195. 47  Ebd., 156–157. 48  Ebd., 136–137. 44  Ebd.,



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•• Albert Joachim von Krakewitz (1674–1732), seit 1715 Generalsuperintendent, ein Amt, das er aber ebenso wie seine theologische Professur erst 1721 nach dem Abzug der dänischen Truppen antreten konnte. Als Vertreter der lutherischen Orthodoxie hatte die schwedische Krone große Erwartungen in ihn gesetzt, waren doch in den sechs Jahren dänischer Besetzung alle Professuren innerhalb der theologischen Fakultät ausschließlich mit Anhängern des Pietismus besetzt worden. Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen sollten sein letztes Lebensjahrzehnt überschatten, ohne daß ihm eine Lösung im Sinne seiner Landesherrschaft gelang.49 •• Timotheus Lütkemann (1671–1738), seit 1733 Generalsuperintendent. Ähnlich wie bei seinem Vorgänger war auch ihm die Aufgabe zugedacht, den Einfluß der Pietisten an der Theologischen Fakultät der Greifswalder Universität zurückzudrängen, um die auch für Studenten aus Schweden wichtige Hochschule im Sinne eines als unverfälscht verstandenen Luthertums wieder profilieren zu können; eine Aufgabe, an der auch er scheiterte, zumal die ihm verbleibende Zeit im Amt sehr kurz war.50 III. Die brandenburg-preußische Konfessionspolitik in Hinterpommern seit 1653 und in Altvorpommern seit 1720 Nachdem nunmehr ein Eindruck von der Situation in Vorpommern vermittelt wurde, soll in diesem dritten Abschnitt mit der so ganz andersartigen Entwicklung in Hinterpommern vertraut gemacht werden. Für alle größeren Städte in Pommern können wir – wie in weiten Teilen des Ostseeraums – in gewissem Umfang mit einer Zuwanderung reformierter Familien seit dem 16. Jahrhundert rechnen. Neben vereinzelten Niederländern ist hier vor allem an die größere Gruppe der Schotten zu denken, die sich in Städten wie Stralsund, Greifswald, Stettin oder Kolberg niederließen. Unsere Kenntnisse gehen hier leider immer noch nicht über die Ergebnisse einer ersten Studie von Rudolf Biederstedt und Ilse von Wechmar, die allerdings schon über 50 Jahre alt ist, hinaus.51 In Hinterpommern finden wir in der ausgehenden Herzogszeit einen Landadligen aus der Familie Hepburn mit ausgedehntem Besitz rund um das nach ihm

49  Ebd.,

116–117. 124–125. 51  Ilse von Wechmar/Rudolf Biederstedt, Die schottische Einwanderung in ­Vorpommern im 16. und 17. Jahrhundert, in: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch  5 (1965), 7–28. 50  Ebd.,

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benannte Hebrondamnitz.52 Auch in seinem Fall können wir nur mutmaßen, wie er sich in sein lutherisches Umfeld eingefügt hat. Selbst unter den schwedischen Offizieren, die im Dreißigjährigen Krieg nach Pommern kamen und z. T. hier auch Güter erwarben, finden sich mehrere Schotten und Niederländer, die ursprünglich aus reformierten Familien stammten.53 Diesen ersten Angehörigen des reformierten Bekenntnisses ist gemein, daß sie nachweislich keine Gemeinden bilden konnten. Erst mit der Übernahme der Regierungsgewalt in Hinterpommern durch den Großen Kurfürsten im Gefolge des Stettiner Grenzrezesses von 1653 sollte sich aus lutherischer Sicht zumindest in der östlichen Landeshälfte eine durchgreifende Veränderung der konfessionellen Situation ergeben. Wir verdanken Helmut Backhaus mit seiner großen Studie über die Verfassungsentwicklung in Pommern im mittleren Drittel des 17. Jahrhunderts eine Vorstellung von der Zerrissenheit, in der sich die Landstände hinsichtlich ihrer Loyalität gegenüber der Krone Schweden bzw. dem Kurhaus Brandenburg befanden.54 Einerseits war es breiter Konsens, daß Brandenburg nach den Erbverträgen in ganz Pommern die Übernahme der Regierungsgewalt zustand. Die Stände hatten schließlich seit mehr als einem Jahrhundert bei jeder Erbhuldigung die Eventualsukzession Brandenburgs bekräftigt. Andererseits wirkten gerade die Theologen in Vor- und Hinterpommern massiv auf die Stände ein, um die Gefahr des Eindringens des reformierten Glaubens in Pommern für diesen Fall deutlich an die Wand zu malen. Daraus ergab sich geradezu zwingend eine proschwedische Position. Als mit dem Osnabrücker Friedensschluß die Teilung des Landes zwischen Schweden und Brandenburg vereinbart wurde und Brandenburg das 1653 von den Schweden geräumte Hinterpommern einschließlich des Hochstifts Cammin übernahm, wurde Kolberg zum ersten kurfürstlichen Regierungssitz erklärt. Mit den Beamten der Regierung und des Hofgerichts sowie durch die Garnison k ­ amen zahlreiche Reformierte in die Stadt. Franziskus Sieffert, der aus Elbing stammende erste reformierte Prediger in Kolberg, konnte am 25. Dezem52  Hannelore Schardin-Liedtke, Hebrondamnitz. Aus der Geschichte eines pommerschen Dorfes. Lutken Dampnitze, Damnitz, Hebron-Damnitz,  Hebrondamnitz, D˛ebnica, Damnica, Berlin 2016. 53  Zu einem bemerkenswerten Beispiel für den Einfluß reformierter Traditionen unter adligen Offizieren bzw. Beamten, die aus dem Nordseeraum stammten und während des Dreißigjährigen Krieges in schwedische Dienste getreten waren, vgl. die Ausführungen zur 1653/54 von Gerdt Anthoniison Rehnskiöld etwa zehn Kilometer westlich von Greifswald errichteten Griebenower Kapelle von: N. Buske, Das evangelische Pommern (wie Anm. 30), 46–54. 54  Helmut Backhaus, Reichsterritorium und schwedische Provinz. Vorpommern unter Karls XI. Vormündern (1660–1672) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 25), Göttingen 1969.



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ber 1657 im Audienzsaal des Regierungsgebäudes in der Landesbandstraße seine Antrittspredigt vor 50 Gemeindemitgliedern halten.55 Es verwundert nicht, daß es nun gerade in Kolberg zu einem heftigen Streit zwischen Lutheranern und Reformierten kam. Der Protagonist auf lutherischer Seite war der seit 1653 am dortigen Dom als Pastor primarius wirkende Johannes Colberg (1623–1687), der zwar weniger im Rat, dafür aber umso mehr in der Bürgerschaft großes Vertrauen genoß. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß er während seines Studiums in Königsberg 1644 verdächtigt worden war, Anhänger des Calvinismus zu sein, und deswegen an die Universität Frankfurt an der Oder gewechselt war. Seine umfassende theologische Ausbildung, die er in Greifswald, Wittenberg, Leipzig, Helmstedt, Jena und Erfurt genoß, sowie die ersten beruflichen Stationen in Göteborg, Dresden und Eisleben ließen ihn geradezu prädestiniert erscheinen für eine herausragende Stellung unter den lutherischen Theologen in Hinterpommern. Neben der ersten Pfarrstelle an St. Marien in Kolberg wurde er auch zum Konsistorialassessor berufen. Allerdings war er in den folgenden Jahren in so heftige Streitereien sowohl mit dem Kolberger Generalsuperintendenten, dem Rektor des Kolberger Lyzeums als auch den drei reformierten Hofpredigern in seiner Zeit verwickelt, daß der Große Kurfürst sich 1675 gezwungen sah, ihn des Amtes zu entheben und aus seinen Staaten auszuweisen. Johannes Colberg wich ins schwedische Stettin aus und wurde 1677 auf die mit der ersten Pfarrstelle an der Greifswalder Marienkirche verbundene theologische Professur an der Universität berufen und zum Konsistorialassessor ernannt. Auch in Greifswald erwies er sich als Eiferer, nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit seinem Fakultätskollegen Jakob Henning. 1678 eroberte der Große Kurfürst Greifswald und entsetzte Johannes Colberg erneut all seiner Ämter. Für die folgenden acht Jahre wich dieser nach Rostock aus, ehe er ein Jahr vor seinem Tod nach Greifswald zurückkehrte. Die Schmähschriften und vor allem seine Predigten in seinen Kolberger Jahren gegen die Reformierten können als das Schärfste gelten, was uns aus der Zeit der konfessionellen Grabenkämpfe zwischen Lutheranern und Reformierten aus Pommern überliefert ist. Insbesondere geißelte Colberg Konvertiten, von denen es gerade unter den Adligen in Hinterpommern, aber auch unter den Kolberger Bürgern nicht wenige gab. Es paßt zu dem Charakterbild, das uns aus zeitgenössischen Quellen von diesem rigorosen Verfechter eines streng lutherischen Glaubens überliefert ist, daß sich der Streit mit dem lutherischen Rektor Valerius Jasche 55  Peter Jancke, Kolbergs Reformierte Gemeinde, in: Ders.  u. a., Kirchen und kirchliches Leben im deutschen Kolberg. Eine Dokumentation (Beiträge zur Geschichte der Stadt Kolberg und des Kreises Kolberg-Körlin, 35), Hamburg 2009, 331–348, hier 331 f.

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u. a. an der Frage der Hexenverbrennung entzündete. Colberg setzte sich in dem Streit durch und erreichte 1667 die Verbrennung der letzten drei Frauen, die in Kolberg diesem Wahn zum Opfer fielen.56 Aufhalten konnte Johannes Colberg das Anwachsen der Kolberger reformierten Gemeinde ebensowenig wie die Gründung neuer Gemeinden in ganz Hinterpommern, so z. B. 1669 in Stargard und 1672 in Stolp, sowie nach 1720 auch in Altvorpommern. In den ersten Jahrzehnten waren es naturgemäß deutsch-reformierte Gemeinden in den größeren Städten, deren Gründung auf die Initiative kurfürstlicher Beamter und Offiziere zurückging. In Einzelfällen versuchten auch konvertierte Adlige wie der Staatsrat, Kanzler und Erbkämmerer des Herzogtums Pommern und des Fürstentums Cammin, Lorenz Christoph von Somnitz in Charbrow bei Lauenburg, die Kirchspiele, über die sie das Patronat hatten, mit reformierten Predigern besetzen zu lassen.57 Mit der Ankunft der Hugenotten bildeten sich schrittweise auch französisch-reformierte Gemeinden in Hinterpommern. Nach 1720 erlebte Stettin einen massiven Zuzug von Deutsch- und Französisch-Reformierten, ebenso der Rest von Altvorpommern, wobei der Garnisonsstandort Pasewalk und die neugegründete Hafenstadt Swinemünde herausstachen. Die Nähe zur stark mit Refugiés besiedelten Uckermark machte sich in Altvorpommern und im angrenzenden westlichen Hinterpommern in den folgenden Jahrzehnten deutlich bemerkbar, so daß es zu einer engen Verflechtung auch und gerade unter reformierten Familien zwischen Brandenburg und Pommern kam.58 Im Stargarder Konsistorium gab es schon vor 1720 einen reformierten Assessor, ab 1747 dann im Stettiner Konsistorium lediglich noch drei Theologen, neben dem lutherischen Generalsuperintendenten nur noch einen lutherischen und einen reformierten Assessor. Das auch zu diesem Zeitpunkt die Zusammenarbeit zwischen den Vertretern beider Konfes56  Vgl. zum Lebensbild von Johannes Colberg: D. Alvermann/B. Dahlenburg, Greifswalder Köpfe (wie Anm. 40), 64–65; P. Jancke, Kolbergs Reformierte Gemeinde (wie Anm. 55), 332; ders., Die untergegangene Bibliothek im St. MarienDom, in: Ders. u. a., Kirchen und kirchliches Leben (wie Anm. 55), 194–196. 57  Karl Spannagel, Somnitz, Lorenz Christoph von, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd, 34, Leipzig 1892, 617–619. Eine neuere biographische Skizze findet sich bei: Peter Bahl, Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 8), Köln/Weimar/Wien 2001, 592–593. 58  Gerd Heinrich/Wolfgang Scharfe, Kolonistenzuzug und Staatssiedlung 1688– 1786, Erläuterungen zu Lfg. 35 des Historischen Handatlas’ von Brandenburg und Berlin (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin), Berlin 1971. Die zugehörige Karte wurde bearbeitet von Gerd Heinrich, Hilmar Ruminski und Wolfgang Scharfe.



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sionen noch nicht konfliktfrei verlief, hat das Quellenzitat am Beginn dieses Beitrags gezeigt. Aber gegenüber der aufgeheizten Stimmung 100 Jahre zuvor war nunmehr das friedliche Nebeneinander der Konfessionen in Hinter- und Altvorpommern gelebter Alltag geworden. Johannes Bugenhagens lutherisches Erbe dominierte weiterhin sowohl das schwedische als auch das preußische Pommern, aber zumindest im preußischen Landesteil hatte auch der Genfer Reformator Jean Calvin seine Spuren hinterlassen. Im südlichen Vorpommern und in der angrenzenden Uckermark sind in der Mitte des 19. Jahrhunderts drei markante Erinnerungsorte für die Versöhnung zwischen Lutheranern und Reformierten entstanden: •• Das vom konfessionsverschiedenen „Bölschen Ehepaar“ der Ueckermünder Stadtpfarrkirche gestiftete Gemälde, auf dem sich Luther und Calvin vor dem Kruzifix über dem Altar die Hand reichen. •• Luther am Schreibtisch und links und rechts neben ihm die Brustbilder von Reuchlin, Melanchthon, Bugenhagen und Calvin als Ausmalung an der Rückwand und an den Seitenwänden der Eingangshalle des von Woldemar von Heyden 1855–1858 errichteten Herrenhauses in Kartlow bei Demmin. •• Ebenfalls 1858 wurde im Auftrag von Herrmann Graf von Schwerin nach vierjähriger Bauzeit die Pfarrkirche von Wolfshagen am Nordrand der Uckermark in neogotischer Formensprache fertiggestellt. Neben dem Turmportal wurden links und rechts lebensgroße Standbilder Calvins und Luthers errichtet. Mit dem Gut Wolfshagen war 1652 der aus Pommern stammende Otto Freiherr von Schwerin (1616–1679) vom Großen Kurfürsten belehnt worden. Er war nicht nur einer der einflußreichsten Politiker am kurbrandenburgischen Hof zwischen dem Dreißigjährigen und dem Schwedisch-Brandenburgischen Krieg, sondern auch mit der Leitung der Berliner Religionsgespräche 1662/63 zwischen Lutheranern und Reformierten betraut.59 Noch heute erlebbar sind im Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis reformierte Gemeinden mit einer hugenottischen Tradition in Plöwen und Bergholz an der Grenze zwischen der Uckermark und Vorpommern. Beide noch immer als Simultankirchen genutzten Gotteshäuser werden einerseits vom Löcknitzer Pfarramt der Landeskirche, andererseits vom Pfarramt der reformierten Gemeinde in Potsdam betreut. Ne59  Abbildungen und weiterführende Erläuterungen zu diesen drei Erinnerungsmalen finden sich bei N. Buske, Das evangelische Pommern (wie Anm. 30), 61, 63 und vierte Umschlagseite.

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ben dem französisch-reformierten Pfarrhaus hat sich auch das Gebäude der französisch-reformierten Schule in Bergholz erhalten, in dem seit den 1990er Jahren eine sehenswerte Heimatstube das Leben der Refugiés in den 1680er Jahren und ihrer Nachkommen bis heute veranschaulicht.60 IV. Exkurs: Beispiele aus der Quellenüberlieferung zu den reformierten Gemeinden in Pommern Das Stettiner Dienstgebäude des Evangelischen Konsistoriums der Kirchenprovinz Pommern der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union in der Elisabethstraße 9 war am Ende des Zweiten Weltkriegs eine Ruine. Große Teile des Archivs und der laufenden Registratur waren bei zwei schweren Bombenangriffen im August 1944 vernichtet worden.61 In den 1889–1892 aufgeführten Zweckbau war allerdings die ältere Überlieferung der Kirchenverwaltung nicht mehr überführt worden. Sie war zunächst im Stettiner Schloß verblieben, das bis dahin Dienstsitz des Konsistoriums gewesen war. Noch gut ein Jahrzehnt länger als das Konsistorium hatte im Schloß das Staatsarchiv seinen Sitz, ehe auch dieses ein neues Dienstgebäude an der Turnerstraße mit Magazinbau an der Karkutschstraße unweit des neuen Konsistoriums beziehen konnte. Die älteren kirchlichen Akten wurden in das neue Magazin überführt. Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Bestände des Stettiner Staatsarchivs zu großen Teilen auf diverse Güter in Vor- und Hinterpommern ausgelagert. An diesen Auslagerungsorten traten dann beim Einmarsch der sowjetischen Truppen sowie in den Wirren der Folgezeit enorme Verluste am Archivgut auf. Nur ein Teil der Akten wurde in den Jahren danach schrittweise von polnischen Archivaren in das unzerstört gebliebene Magazingebäude in Stettin sowie von deutschen Archivaren und ehrenamtlichen Helfern in die Kaserne in Greifswald, die künftig als Landes- bzw. Staatsarchiv dienen sollte, verbracht.62 Auch die ältere 60  Die Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte hat 2013 anläßlich des 450. Jubiläums des Heidelberger Katechismus’ eine Studienfahrt mit mehr als 50 Teilnehmern in diesen Raum unternommen, vgl.: Michael Lissok, Geschichte und Gegenwart des reformierten Bekenntnisses und der reformierten Gemeinden in Pommern. Bericht über eine Exkursion der Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte am 22.  Juni 2013 in die Uecker-Randow-Region, in: Pommern – Zeitschrift für Kultur und Geschichte, 52. Jg., Heft 1 (2014), 43–48. 61  Hans-Martin Harder, Das pommersche Konsistorium im Wandel der Zeiten und Systeme, in: Christoph Ehricht (Hrsg.), 487 Jahre (wie Anm. 14), 55–93. 62  Vgl. zur Geschichte der Archivstandorte Stettin und Greifswald die grundlegenden Beiträge von: Dirk Schleinert, Das Staatsarchiv Stettin von 1939 bis 1945, in: Baltische Studien N.F. 99 (2013), 111–131. – Ders., Zeitgenössische Berichte zu



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Überlieferung zur obersten Ebene der kirchlichen Verwaltung und Rechtsprechung hatte zwar erhebliche Verluste erlitten; trotzdem sind die in Greifswald und Stettin auf uns gekommenen Bestände recht ansehnlich.63 Von der Forschung wurden sie bisher erst in Ansätzen genutzt, auch wenn die Qualität der Erschließung, z. B. beim heute in Stettin befindlichen Bestand „Stettiner Geistliches Konsisto­ rium“, schon in der Zwischenkriegszeit recht gut war.64 Angesichts der Tatsache, daß die Bestände der Pfarrarchive in Hinterpommern und im östlichen Vorpommern seit 1945 zu einem großen Teil  ganz verloren gegangen, zu einem kleinen Teil  in stark dezimierter Form auf uns gekommen sind, und die Situation der Pfarrarchive im restlichen Vorpommern in sehr vielen Fällen problematisch ist, kann der Wert der Bestände der kirchlichen Zentralbehörden im Staatsarchiv Stettin und im Landesarchiv Greifswald nicht hoch genug eingeschätzt werden.65 Gerade der Bestand „Stettiner Geistliches Konsistorium“ enthält Dutzende von Akten, die sich auf die deutsch- und die französisch-reformierten Gemeinden in Hinterpommern und schließlich auch in Vorpommern beziehen. Mit ihrer Hilfe läßt sich in bisher noch nicht geschehener Weise die Kirchen- und Kulturgeschichte Pommerns zwischen der Mitte des 17. und dem frühen 19. Jahrhunderts beleuchten. Gerade die Etablierung der kurfürstlichen Verwaltung nach dem Dreißigjährigen Krieg und die damit einhergehende Gründung deutsch-reformierter Gemeinden soden Anfängen des Landesarchivs Greifswald. Eine kommentierte Quellenedition, in: Baltische Studien N.F. 101 (2015), S. 161–181. – Willi Nemitz/Joachim Wächter, Vom Staatsarchiv Stettin zum Landesarchiv Greifswald, in: Pommern  – Zeitschrift für Kultur und Geschichte, 53. Jg., Heft 3 (2015), 42–47. 63  Heiko Wartenberg, Archivführer zur Geschichte Pommerns bis 1945 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 33), München 2008, 86 f., 119 f., gibt für das Landesarchiv Greifswald folgende Umfänge an: Konsistorium Greifswald: 1108 Akteneinheiten (im folgenden AE), 17,7 laufende Meter (im folgenden lfm), 1560–1878; Konsistorium Stettin: 70 AE, 1,12 lfm, 1590–1816; Konsistorium Köslin: 0,1 lfm, 1747–1815; Generalsuperintendent Greifswald: 224 AE, 4,12 lfm, 1456–1858; Konsistorium der Provinz Pommern: 92 AE, 3,5 lfm, 1809–1881. Im Staatsarchiv Stettin sind auf dieser Ebene von Interesse das Domkapitel Cammin mit 1510 AE, 17,55 lfm, 1338/1488–1834, und das Stettiner Geistliche Konsistorium mit 12.364 AE, 202 lfm, 1556–1815/1939. 64  Vgl. dazu H. T. Porada, Pommern, Skandinavien und das Baltikum (wie Anm.  33), 42 f. 65  Zu einem Zeitpunkt, als im Gebiet der Pommerschen Evangelischen Kirche die Lage der Pfarrarchive und des Landeskirchlichen Archivs in Greifswald schon sehr ernst war, entstand dieser Bericht: Haik Thomas Porada, Pfarrarchive und -bibliotheken als Schatzhäuser einer Landeskirche  – Aus der Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte e. V. (in der Rubrik „Berichte“), in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 9 (2002), 252–257.

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wie das Eintreffen der Hugenotten seit den 1680er Jahren können mit Hilfe dieser Quellen detailliert nachvollzogen werden. Am Beispiel der Stolper Schloßkirche, die bis zu seinem Tod 1684 unter dem Patronat des Ernst Bogislaw von Croy, des Sohns von Anna von Croy, der letzten Angehörigen des Greifenhauses, stand, läßt sich gut studieren, wie in kurfürstlichem Auftrag in einem ursprünglich lutherischen Gotteshaus eine reformierte Gemeinde implementiert wird. Der Vorgang trägt den Titel: Acta betreffend die Anstellung deß reformirten Gottesdienstes in der Stolpischen Schloßkirchen, vocation Ehrn Diterici Farvers zum Churfürstlich Hoffprediger, alternation deß reformirten undt lutherischen Predigers derselben Gehalt. Ao: 1684. Hiebeij auch Ehrn Schwartzmeijers vocation Ao: 1693.66 Die Akte eröffnet der Schriftwechsel zwischen Lorentz Georg von Crockow, wirklicher geheimer Rat, Kanzler des Herzogtums Hinterpommern und Fürstentums Cammin, Probst der Collegiatkirche zu Colberg, der am 1. Juli 1684 aus Kolbatz an die anderen Regierungsmitglieder wegen der Änderungen, die mit dem Tod des Herzogs von Croy an der Stolper Schloßkirche anstanden, schrieb. Er hatte am 19. Juni in Kolbatz ein Schreiben des Großen Kurfürsten erhalten, das dieser am 20. Mai 1684 in Potsdam ausgefertigt hatte (fol. 4): Unsern gnädigen gruß zuvor, würdiger, vester Raht und lieber getreüer. Was die Reformirte Gemeinde zu Stolpe, wegen vocirung Ihres Predigers, Diterici Farvern, zu der Stolpischen Schloß-Kirchen, in Unterthänigkeit gebethen, solches zeiget der Beijschluß mit mehrem: Wan wir dan darauß gnädigst resolviret, daß erwehnter Ditericus Farver, zum Hoff-Prediger zu Stolpe bestellet, undt von denen zweijhundert thlrn so des verstorbenen Hertzogs von Croij Lbd. dem Lutherischen Prediger vermacht gehabt, hundert Thlr. haben, die andern 100. Thlr aber der Lutherische Prediger, so in der Schloßkirche zu Stolpe prediget, genießen und beijde Prediger in der Kirchen mit den Morgenund MittagsPredigten alterniren sollen; Als werdet Ihr Eüch darnach gehorsahmst zuachten wißen.

Kern der Akte ist das Protokoll der Verhandlung auf dem Kurfürstlichen Haus zu Stolp vom 8. April 1685 (fol. 13–15 und in von Friedrich III. am 22. Oktober 1693 in Cölln an der Spree beglaubigter Abschrift fol. 21– 26) im Beisein des Kurfürstlichen Burgrichters Georg von Below, des Hauptmanns Gneomar von Zitzewitz, des Referendars Johannes Zacharias Mylij, des Hofpredigers Dieterici Farveri, hiesigen Praepositi Adami Placotomi, Diaconi Petri Hillen und Bublitzschen Predigers Johann Drenckhanen anläßlich der Introduktion des reformierten Gottesdienstes in der Stolper Schloßkirche. 66  APS,

Stettiner Geistliches Konsistorium, Lp 7900.



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Die Bestallung und Vereidigung der reformierten Hofprediger in Pommern erhellt aus einer Akte mit dem Titel: Bestellung des Hofpredigers 1714–1766.67 Darin enthalten sind die folgenden Vorgänge: 1.  Bestallung des LegationsPred. Stocken zum Hofprediger 1714. 2.  Abreise des Hofpredigers Ammann von Stolpe 1715. 3.  Bestallung des p. Giller zum Hofprediger 1715. 4. Dito – Meierotto dito und wegen 60 Rthlr Zulagen demselben ex Cass. Mons. Piet. 1715. 5.  Bestallung des p Stubenrauch zum Hofprediger 1723/4. 6. Dito  – Clässon dito. Erhält 200fl. Reise und Transportkosten von Cüstrin nach Stolpe, ex Cass. Mons. Piet. 1732/3. 7. Bestallung des p. Wassmuth nach abgang des p. Claessen, in die Dienste des Fürsten Nassau Dillenburg. Wegen nachgesuchter 84 Rthlr. Reisekosten dem p. Wassmuth ex Cass. Mons piet. abschlägig 1733/44. 8. Bestallung des p. Lorentz nach Absterben des p. Wassmuth. Gnadenjahr der Wittwe des p. Lorentz erhalt 60 Rthlr. Reise und Transportkosten aus der Königl. Casse. 1760/6.

Als Beispiel für einen Eid sei auf das von Emanuel Wasmuth, nachmals Prediger an der Schloßkirche zu Stolp, in Berlin am 14. August 1733 gezeichnete und mit eigenem Petschaft gesiegelte Formular verwiesen, das auf pag. 305 überliefert ist: Ich Endes unterschreibener Prediger bei der Evangelischen Reformirten Gemeinde zu Stolpe bekenne daß ich schuldig und willig sey, mit bestand göttlicher Gnade meiner Vocation und Bestallung in allen Punckten getreu nachzukommen, auch nachdem ich die Confession des Gottseeligsten Churfürsten und Herrn Johannis Sigismundi wolbedächtig gelesen habe, daß zu derselben, und wie sich hernach zu Leipzig und Thorn von den Churfürstl. Brandenburgischen Theologis wiederhohlet erkläret und vertähtiget worden, auch mit Herz und Mund bekennen auch predigen, noch die Jugend unterrichten, sonst auch in meinem Lehramt, was die zwischen den Evangelischen schwebende Controversien anlanget, mich also verhalten wolle, wie in denen Königl. und Churfürstlichen Edictis de anno 1614, 1662. und 1664. so wol den Reformirten als Lutherischen anbefohlen ist, und mein Gebet und Arbeit, Tuhn und Laßen dahin richten wolle, damit zwischen den dissentirerenden Evangelischen in den noch übrigen Streitigkeiten mutua tolerantio gestiftet und erhalten werde, so wahr mir Gott helfe um Christi willen.

Dahinter finden sich auf pag. 307–326 die gedruckten Edikte. Auf der ersten Seite des Drucks Confessio Fidei Johannis Sigismundi, Electoris Brandenburgici steht unten der handschriftliche, in Berlin am 14. August 67  Ebd., Lp 7897. Auch in Lp 6624 finden sich z. B. Vorgänge rund um die Bestellung der Hofprediger und Prediger 1714–1730 in der Synode Stargard.

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1733 datierte und mit Emanuel Wasmuht berufener Hoffprediger nach Stolpe mppr. gezeichnete Vermerk: Zu dieser Confession des Gottseeligsten Churfürsten Johannis Sigismundi, welche ich wolbedächtig durchgelesen, bekenne mich mit Mund und Herzen, werde auch nicht anders lehren als sie von den ChurBrandenburgischen Theologis zu Leipzig und Thorn ercläret, vertäthiget und wieder hohlet worden. Einen wesentlichen Teil  der Aktenüberlieferung machen erwartungsgemäß Zuständigkeitsfragen bei konfessionsverschiedenen Trauungen und Taufen von Kindern in der deutsch- bzw. französisch-reformierten Gemeinde aus. Als Beispiel sei hier genannt: Des Consistorial-Rath und Hoff-Prediger Wessel zu Stettin Vor- und des Lutherischen Ministerii zu Stargard Gegen-Vorstellung, wegen Proclamation derer Verlobten, davon das eine Theil zur Evangelisch Lutherschen das andere Theil aber sich zur Evangelisch Reformirten Kirche bekennet. 1746.68 Ein weiteres Beispiel liefert der Schriftwechsel zwischen einem H Mieg […] (aus Stargard 10.  März 1699) und H. Ammann (beide Prediger der reformierten deutschen Gemeinde in Stargard) um gnädigste Declaration, wie es mit Tauffen und Information der Kinder in denen specifischen casibus wolle gehalten werden zwischen ihnen und dem französischen Ministerio daselbst; dazu gehört die Erklärung von Moysen. Laurent Perruguier à Stargard bittet unterthänl., daß seine Kinder wie bißher also auch ferner bej der Reformirten Teütschen Gemeinde möchten gelassen werden.69 König Friedrich Wilhelm I. unterrichtete mit Schreiben aus Berlin vom 19. August 1713 die Hinterpommersche Regierung über die Einrichtung eines Reformirten Kirchen Directoriums in Berlin nebst einem Extrakt aus dessen Instruktion. Die Regierung in Stargard notierte am 3.  Oktober 1713, diese Nachricht solle allen Reformierten Gemeinden in Pommern kommuniziert werden.70 Eine weitere Akte zeigt anschaulich, wie die Besetzung des Inspektorats über die reformierten Gemeinden in Pommern seit den 1720er Jahren gehandhabt wurde. Ursprünglich war der Hofprediger in Stargard mit dieser Aufgabe betraut, während nunmehr der Hofprediger in Stettin das Amt übernahm. Deutlich wird zum einen die enge Abstimmung zwischen dem Reformierten Kirchendirektorium in Berlin und der Pommerschen Regierung in allen Personalfragen, zum anderen, wie die Versetzung von reformierten Predigern zwischen den Gemeinden in Stargard,

68  Ebd.,

Lp 12211. Lp 6653. 70  Ebd., Lp 93. 69  Ebd.,



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Stolp, Lauenburg und Stettin im Zusammenhang mit der Besetzung des Inspektorats gehandhabt wurde.71 Die Rangstreitigkeiten zwischen den lutherischen und reformierten Geistlichen haben sowohl auf lokaler Ebene als auch in den Konsistorien in Hinterpommern und später auch für Altvorpommern einen umfangreichen Schriftwechsel produziert. So beschäftigt sich z. B. eine Akte mit den Auswirkungen des neuen Landrechts in den 1790er Jahren auf die Stellung der Reformierten in Pommern. Es handelt sich um Kommentare und Erläuterungen aus dem Stettiner Konsistorium. Eingeheftet ist ein weiterer Vorgang, wonach es am Ende, vermutlich schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Reformiertes Kirchen Archiv zu Stettin gab.72 Mit Schreiben vom 6. Oktober 1748 bat Heinrich Moritz Litius, Professor und Archidiakon zu Stettin, Friedrich II. um die Stelle des ersten Konsistorialrats nach dem Generalsuperintendenten. Dabei schilderte er das Gewohnheitsrecht, wie er es aus lutherischer Sicht wahrnahm, wie folgt: 1. Der Praepositus zu Alten Stettin und Pastor zu Marien ist nach den Landes Statutis nach dem General Superintendenten unläugbar der erste Geistliche in Vor- und Hinterpommern. Er folget bey öffentlichen Landes-Vorfällen, als Huldigungen p. nicht nur unmittelbar auf den General-Superintendenten, sondern verwaltet auch bey vacirender General-Superintendentur alle Vices. 2.  Nach dem neuen Justitz Reglement haben Ew. Königl. Majestät allergnädigst die Praespositur zu Alten Stettin zur eintzigen Wesentlichen Consistorial Rath Stelle nebst dem General-Superintendenten erklährt, die beständig bleiben, beständig Gehalt genießen soll, da im Gegentheil die noch vorhandenen ex gratia gelaßenen Constistorial-Rähte, aussterben und ihre Stelle eingehen sollen. 3. Wie also sonst in einem collegio die Räthe nach dem Alter, wie sie im Collegio gewesen, rangiren, so kann diese Regel hieher nicht gezogen werden, da die Rede gar nicht von einem jure personali, sondern reali ist, welches mit der Stelle Praepositur wesentlich verknüpfet worden, die Sr. Königl. Majestät nebst dem General-Superintenden zum loco fixo et immutabili erkläret haben. Bey Locis fixis aber kann ja die Ancienaité nichts gelten. 4. Es kann folglich, ohne den natürlichen Worten des […] im neuen JustitzReglement, welche besagen, daß hinfort nebst dem General-Superintendenten nur der Zeitige Praepositus mit dem Reformierten Prediger dem Collegio beijwohnen sollen, offenbahre Gewalt zu tuhn […].

71  Ebd., Lp 99. Bei einer Konsultation der Akten, die sich auf die einzelnen Gemeinden beziehen, läßt sich auch dort der jeweilige Wechsel der Prediger zwischen den reformierten Gemeinden gut rekonstruieren, z. B. in Lp 3532, wo für den Draheimer Prediger, der nach Minden gezogen war, ein Nachfolger gesucht wurde. 72  Diese und die folgenden Ausführungen nach: Ebd., Lp 60.

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Von seinem reformierten Kontrahenten, Johann Jacob Wessel, ist in der gleichen Akte ein undatiertes Schreiben an die Königl. Preuß. zum Evangelisch-Reformirten Kirchen-Directorio hochverordnete Präsidenten & Räthe überliefert. Darin schildert er die Situation, die nach dem Tod von Jacob Andreas Loeper, Konsistorialrat und Archidiakon an St. Marien in Stettin, eingetreten ist. Loepers Nachfolger, Heinrich Moritz Litius, beanspruchte nun dessen Rang und Besoldung. Wessel verwies darauf, daß der Hofprediger zu Stargard schon als Assessor im Konsistorium vertreten war, seit der Verlegung des Konsistoriums nach Stettin (1738) sei der Hofprediger zu Stettin in dieser Position gewesen. Die Frage, die in den kommenden Monaten die Pommersche Regierung und die Berliner Stellen beschäftigte, lautete, ob die Besoldungszulage für den ältesten Konsistorialrat ohne Unterscheid der Confession zu gewähren sei oder ob das Pommersche Konsistorium in dieser Beziehung eine Ausnahme bilde. Wessel erläuterte dazu am 2. Juni 1749 gegenüber Monsieur le Baron de Danckelmann, Minstre d’Etat et de Guerre du Roj, President du Conseil privé de Justice, du Consistoire de la Marche Electorale et du Consistoire Superieur Francois, Chef de toutes les Affaires Ecclesiastiques et Francoise in Berlin: Es wäre auch vergeblich, wenn man sich auf den Stockholmischen Friede de 1720 bezöge, denn das Pommersche Consistorium respiaret nicht nur Vor- sondern auch HinterPommern, und ist lange zuvor zu Stargard, und schon vor 1720 ein Reformirter Geistlicher Consistorial-Rath im collegio gewesen. Seit 1738 aber ist das Consistorium mit andern Hohen Collegiis allererst hieher nach Stettin versetzet worden.

In diesen Kontext gehört das eingangs zitierte Immediatschreiben der Konsistorialräte Schiffmann und Protzen aus Stettin vom 15.  Juli 1749 an den König. Friedrich II. wies schließlich am 22. Juli 1749 aus Potsdam Danckelmann an, die Sache zu prüfen, damit die Lutheraner in ihren Rechten nicht beeinträchtigt würden, worauf dieser wiederum die Pommersche Regierung konsultierte. Wessel schrieb am 19.  September 1749 aus Stettin an Danckelmann, daß seine lutherischen Kollegen die Stiftungsurkunde, auf die sie sich beriefen, nicht vorlegen könnten. Das Geld für die Besoldung stamme aus der Kasse des Königs, folglich könne es keine Bevorzugung der Lutheraner geben. In weiteren Schreiben aus den folgenden Wochen wies er noch auf das Ziel des Justiz-Reglements von 1747 hin, künftig unterhalb des Generalsuperintendenten nur noch zwei Konsistorialräte, einen lutherischen und einen reformierten, im Stettiner Konsistorium zu beschäftigen. Reichlich Stoff für die Wahrnehmung der eigenen reformierten Vorstellungen und der fremden, lutherischen, sprich einheimisch-pommerschen,



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Identität bietet der Schriftwechsel des reformierten Predigers Johann Heinrich Ammann.73 Er schrieb am 19. August 1719 aus Kolberg an das Reformierte Kirchendirektorium in Berlin, daß der Hofprediger Widekind zu Kolberg dem Königl. Amtshauptmann zu Körlin Herr von Lettow und anderen herum wohnenden Reformirten das Heijl. Abend-Mahl auf dem Schloß in einem großen Logament administriret; nachdem aber anjetzo solches alte und zimliche zerfallene Gebäu auf hohe ordre Sr. König. Majesté niedergerissen worden, umb ein Neues Königliches Gebäu aufzuführen, sei der Amtshauptmann derzeit in einem kleinen Häuschen in der Stadt untergekommen. Dieses Haus biete aber nun nicht mehr genügend Platz für die Reformierten und vor allem die Soldaten. Deshalb wurde das Direktorium ersucht, den Magistrat und das Ministerium von Körlin anzuweisen, die Stadtpfarrkirche an einem Tag in der Woche, an der die Lutheraner sie nicht nutzten, für die Reformierten zur Verfügung zu stellen. Dabei wurde darauf verwiesen, daß gerade für die Einquartierten auch in anderen Städten die Stadt-Kirchen von Regiments-Predigern genutzt werden könnten. Dem Schreiben ist ein kurzer Bericht des Amtshauptmanns von Lettow aus Körlin vom 17. August 1719 beigefügt, in dem dieser bestätigte, daß durch die Garnison die Zahl der Reformierten auf 14 Personen angewachsen sei. Aus Stargard schrieb Ammann am 22.  September 1719, daß er auf der Rückreise von der in Stolp gehaltenen Kirchenvisitation in Rügenwalde das Schreiben des Direktoriums erhalten habe und daraufhin direkt nach Körlin weitergefahren sei, um sich mit dem Amtshauptmann zu beraten. Dieser habe erklärt, es handle sich um eine geistliche Angelegenheit, in der Ammann eher als er die Befugnis habe. Daraufhin habe er sich an den Magistrat und den Präpositus gewandt, die wiederum erklärten, diese Entscheidung obliege dem Konsistorium. Als er trotz zugestoßener Steinschmerzen dem Konsisto­ rium in Stargard ein Memorial übergab, verwies dieses wiederum darauf, daß die Entscheidung das Jus Episcopale Sr. Königl. Majestät betreffe, weswegen das Konsistorium keine eigenmächtige Verordnung treffen könne. Verbittert kommentierte Ammann seine Erlebnisse in dieser Angelegenheit: Diß ist es waß ich vorhergesehen. Weilen ich mir in Zeit von 23. Jahren die Pommersche Art und Maximen gar wohl bekannt gemachet habe, ich habe daher mich gleich anfangs an Ein Hochw. Kirchen Directorium gewendet, und gebeten, einen Befehl von Sr. Königl.  Maijtt. außzuwürcken, wohl vorhersehend daß solches werde seijn müßen.

Interessant ist ein in der gleichen Akte überlieferter Bericht vom 1.  Mai 1720 aus Kolberg, den Melchior Widekind, Königl. Hoffprediger 73  Ebd.,

Lp 2944.

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und Pastor der Reform. Kirchen zu Colberg und Coslin und M. Christian Schmidt, Praepositus Synodi und Pastor zu Cöslin, gemeinsam zeichneten und an den König sandten. Es ging um den Brand der Kösliner Schloßkirche vom 11. Oktober 1718, dem das Gebäude bis auf die Grundmauern zum Opfer gefallen war. Sowohl die lutherische Gemeinde, die danach in eine kleine Kapelle vor den Toren der Stadt auswich, als auch die reformierte Gemeinde, die seit 1705 einmal im Quartal die Schloßkirche nutzte und jetzt auf ein Gemach im Schloß angewiesen war, baten um die Gewährung einer Generalkollekte für den Wiederaufbau der Schloßkirche. Als 1724 das Presbyterium der Reformierten Gemeinde zu Kolberg darum ersuchte, der Gemeinde in Köslin einen eigenen Prediger zu stellen, forderte das Kirchendirektorium eine Liste der zur Gemeinde gehörenden Personen. Diese wurde, untergliedert nach Von Kriegs-Bedienten und deren Domestiquen, Vom Königl. Hoff-Gericht und Bedienten, Bürger und Außwärtig zur Coßlinschen Gemeine gehören, mit insgesamt 51 Positionen am 13.  Mai 1724 geliefert. Am 18.  Mai 1724 wurde eine weitere Liste, nunmehr mit 61 Namen, eingereicht. 1725 wurde schließlich der Kolberger Hofprediger Friedrich Landau beim Kirchendirektorium vorstellig, um für seinen Aufenthalt in Köslin ein Logament zu erbitten, das ihm seit dem Brand der Stadt, bis zu dem sein Vorgänger auf dem Schloß beim Rentmeister gegen eine gewisse Miete untergekommen war, fehlte.74 Besonders aufschlußreich ist die Überlieferung zur Lage der reformierten Gemeinde in Pasewalk, das wie ganz Altvorpommern erst nach dem Nordischen Krieg an Preußen gefallen war. Aufgrund der strategischen Lage sollte die Garnison in der Stadt eine große Rolle in den folgenden gut zwei Jahrhunderten spielen, was von Anfang an reichlich Anlaß für Konflikte mit den Bürgern, aber auch mit der lutherischen Geistlichkeit bot, wie die folgenden Beispiele zeigen.75

74  Ähnlich wie im hier geschilderten Kösliner Fall, der von weiteren Namenslisten reformierter Gemeindemitglieder auf einzelnen Dörfern im Kolberger Umland flankiert wird, bietet auch Lp 3535 die Möglichkeit, alle Angehörigen dieser Konfession und insbesondere die Hugenotten namentlich für einzelne Orte und Zeitschnitte zu erfassen. Diese Akte beschäftigt sich mit den Reformierten in Demmin, die den König 1730/31 baten, den reformierten Prediger aus Strasburg in der Uckermark offiziell nach Demmin zu schicken, da er ohnehin auch nach Anklam reisen werde. Sie selbst könnten ihn nicht auf eigene Kosten holen. Das erste Schreiben ist von mehreren Gemeindemitgliedern unterzeichnet, darunter auch Frauen. Es ist beachtlich, wie viele Hugenotten sich bereits zehn Jahre nach der Einverleibung Altvorpommerns in die preußische Monarchie in den Städten entlang der Peene niedergelassen hatten.



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Der schlechte bauliche Zustand der Pasewalker Ober-Marien-Kirche, der es im Herbst und Winter nicht erlaubte, dort Gottesdienst zu halten, und die viel zu kleine Unter-Nikolai-Kirche, die als Simultan-Kirche genutzt werden sollte, riefen den Garnisonskommandanten, den Magistrat und das Konsistorium in Stargard auf den Plan. Nach einem gemeinsamen Protokoll vom 9.  September 1732 war damals das Marggräffliche Brandenburg Bayreuthischen Regiment Draguner mit zwei Esquadronen verstärkt worden, so daß mit Frauen und Kindern die Garnison auf 1.025 Personen angewachsen war. Am 8.  November 1732 wurde aus Pasewalk vermeldet: 75

Durch eine verordnete Commission, von welcher Protocollum hiebey lieget, ist gut gefunden worden, daß zu Pasewalk in der Nicolaj Kirche, die Garnison und die Reformirte Gemeine miteinander das Simultaneum halten sollten p. welches auch das Pommerische Consistorium confirmiret hat. Nur ist dabey die eintzige Schwierigkeit, daß die Evangelisch-Lutherischen Soldaten keine Psalmen singen können, die Frantzosen vnd Wallonen aber, aus welchen die Reformirte Gemeine meistenteils bestehet, keine Lieder singen wollen, daher dann folget, daß solche Gemeinen den Gottesdienst miteinander nicht füglich üben können. Es hat zwar H. Rindfleisch ein vernünfftig Expediens vorgeschlagen, nehmlich daß er Anfang des Gottesdienstes mit einem Psalm gemacht, nach dem Gebät aber, (so vor der Predigt geschiehet) ein Lied gesungen würde; es scheinet aber die Opiniatreté der Wallonen diesem entgegen zu stehen, die schlechterding kein Lied singen wollen. Um nun aller Zerrüttung des Gottesdienstes, auch zu befürchtender Indignation […] vorzukommen, wäre zu versuchen, ob die Wallonen nicht Autoritate Directorij mit Güte dahin zu bewegen, daß sie einige wenige Lieder, laut der Offerte des Herrn ObristLieutenants von Willenssons, vnd des Apostels Befehl (ol. 3x16.) mitsingen möchten. Insonderheit wäre dahin zu sehen, dann die frantzösische Jugend, nebenst dem Lesen vnd Schreiben, auch zum Singen der Lieder so wol als der Psalmen, in der Schule angehalten würde.

Seitens des Stargarder Konsistoriums hieß es darauf wenige Tage später: Consentio. Ang. diesen Vergleich werden keine Einwendungen helffen. Und können Herren Wallonen die Teutsche Predigt verstehen, so können sie auch wohl teutsche Leider singen und wird der H. Rindfleisch allezeit vorgetragen die geistl. Lieder singen zu laßen, welche ao 1722 unter dem titul Le Choeur des Ange: das chor der Engel Grenaeus [?] in Teutsch und Frantzösisch gedruckt sind, so können sich die Wallonen nicht beschwehren, daß sie nicht mit singen können. Darin sich die Wallonen auch destomehr zu schicken haben,

75  Das folgende nach APS, Stettiner Geistliches Konsistorium, Lp 5432. Aus Lp.  5436 lassen sich darüber hinaus die Bemühungen um eine Regulierung des Gottesdienstes für die deutsch-reformierte Gemeinde und die Garnison in Pasewalk um 1730 erhellen.

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dies Simultaneum nur so lange dauren soll, als die Oberkirch in Pasewalck verfertiget. MN d. 10. Nov. 1732 Reichenbach 14. Nov. 1732.

Die Querelen rissen aber nicht ab, so daß Friedrich Wilhelm I. sich am 1.  Februar 1733 genötigt sah, aus Berlin gegenüber dem reformierten Prediger in Pasewalk zu verfügen: Es soll zwar dieses Jahr wieder nach unserer bekandten allergnädigsten Intention in allen Kirchen von denen Reformirten Predigern über dem Heijdelbergischen Catechismum geprediget werden, wobeij dann dieselbe ihrer darzu vor sich habenden Instruction gemäß allezeit einige Fragen daraus zunehmen und zu verlesen pflegen. Gleich wie wir aber auff Ansuchen des Obristen von Bissing, da die dasige Guarnison meist aus lauter Lutheranern und Catholischen bestehen, allergdst erlaubet, daß Ihr anstatt die Fragen aus gedachtem Catechismo zu verlesen, bloß einen zu solchen Fragen convenablen Spruch aus der Bibel nehmen und verlesen, und solchergestalt über den Catechismum predigen möget; alß werdet Ihr Euch darnach gebührend zu achten wißen […].

Auch Androhungen von Disziplinarmaßnahmen gegenüber einzelnen Predigern finden sich in den Akten, so z. B. als die Königl. Preußisch Pommersche Kriegs und Domänenkammer in Stettin am 13.  November 1742 an den Prediger Rindfleisch zu Pasewalk schrieb, weil er die Pfälzer Kolonistenfamilien im Amt Königsholland aufgewiegelt und für sie Supplikationen verfaßt haben sollte. Ihm wurde diese Aktivitäten außerhalb seines Predigerdienstes nachdrücklich verboten.76 An fast allen Standorten der neu begründeten reformierten Gemeinden gab es Nutzungskonflikte hinsichtlich der vorhandenen kirchlichen Gebäude mit den vor Ort sie nutzenden lutherischen Gemeinden. In Stettin, Köslin oder Stolp konnte aus landesherrlicher Sicht auf die Schloßkirchen aus der Zeit der Greifenherrschaft zurückgegriffen werden. In anderen Fällen wurden ehemalige Klosterkirchen zu Garnisonkirchen hergerichtet. In vielen Fällen mußten sich aber die reformierten Prediger mit ihren lutherischen Kollegen über die Zeiten für ihre Gottesdienste verständigen. Wie schwierig das sein konnte, zeigt die Acta des Evangelisch Reformierten Kirchen-Directoriums betreffend Separirung der Französischen Gemeine zu Stargardt von der Concordien Kirche und Irrungen zwischen dieser und der deutschen Gemeine wegen der Sacristeij. 1717–1737.77 Die Akte ist in vier Faszikel gegliedert: 1. Des Stargardischen Francösischen Presbijterio Mem. vom 8. Jan. 1717 um eine eigene Kirch zu haben […]. 76  APS, 77  APS,

Stettiner Geistliches Konsistorium, Lp 5441. Stettiner Geistliches Konsistorium, Lp 6636.



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2. Ammanns Bericht vom 29.  Januar. 1717 […]. 3. Des Francösischen OberConsistorii Antworth Schreiben vom 25. Febr. 1717 […]. 4. Königl. Rescript vom 2.  April 1717 […] darin der Separation allergnädigst verwilliget und der Francösischen Gemeinde in und außerhalb Sr K.M. Landen eine Collecte verstattet wird […].

Auf fol. 5  r und v schreibt der reformierte Prediger H.Ammann am 29. Januar 1717 aus Stargard: Ad P:Sc: 2um. Rescripti vom 16. Janu: welches mit dem Rescript den 25 Janu: a:c. erhalten, habe ich so fort zur Bezeügung meines schuldigst-schleünigen gehorsams, pflichtmäßig und beij meinem gewüßen attestiren wollen. Daß deß französischen Presbyterii Klag und Gesuch allerdings gegründet seijn, welches ein Hw. Kirchen Directorium unschwehr darauß erkennen wird, daß deß Sonntags der Gottesdienst von 3 Gemeinden, 5 Mahl in dieser Concordien Kirch gehalten wird. Wir Reformierte Teütsche machen den anfang umb 8 uhr des Morgens, welches dann zu Winterszeit höchst beschwerlich und vielen vast unmöglich fället, dahero auch die versamlung offt sehr gering ist, umb halb zehen uhr sollten wir dann endigen, um der französischen Gemeind Raum machen, fangen wir nun etwas späther an, welches beij den kurzen duncklen tagen nothwendig sein muß, so müßen wir dann die französische Gemeind nothwendig auffhalten, und sonderlich wann wir die heilige Communion halten, dann da können wir kaum 2 oder 3. Verse auß dem Lobwaßer singen ./ eben als wann der Gesang kein nöthiges stück beij dem Gottes dienst wäre. / und nur eine halbe Stunde predigen, die übrige zeit gehet zu auff Administration deß Heiligen AbendMahls, wollen wir aber den Gottesdienst ordenlich, und nicht nur als auff der flucht halten, so müßen wir notwendig die Zeit überschreiten: Fanget nun hierauff die französische Gemeinde erst umb 10 Uhr an, so bleibet Ihnen, gar zu eine kurze Zeit übrig, sonderlich wann sie communiciren, dann nach 11. Uhr eilen die Ewangel: Luthersche nach dieser Kirch, da das wüste gemeine Volck die französsiche Gemeind mit ihrem Hereintringen in ihrer Andacht stöhret, verschließen sie aber die KirchenThüren, so machet der Pöfel und Junge böse Buben einen solchen Lärmen an den Thüren, daß es höchst ärgerlich ist. Umb 1 Uhr sollte der luthersche Gottesdienst sein Ende haben. Wann dann aber diese auch etwas auffgehalten werden, so schließen sie auch desto späther, und dann müßen wir Reformierte Teütsche auff solche vor den thüren wahrten, welches dann causiret, daß viele lieber gar auß der Versamlung bleiben, sonderlich zu WintersZeit, da mann nicht gern in Kälte und Schnee vor den Thüren stehet, und daß andere wann sie vermeinen etwas späther zu kommen und die rechte Zeit zutreffen, dann offt allzu späth kommen, und den Gottesdienst halb geendiget finden. Kommen dann aber die Ewangelisch-Lutherschen etwas späther auß der Kirch, weilen Sie späther hinein kommen, so müßen die Reformierte Teütsche

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auch widerum späther den Nach Mittags Gottesdienst anfangen, und also abermahl unseren Gottesdienst auff der flucht verrichten umb der französischen Gemeind widerum Raum zu laßen, oder diese muß zu WintersZeit den Gottesdienst im Dunkelen halten, welches ihnen dan freilich beschwährlich fället. Zur SommersZeit aber da ich nach gehaltener Predig öffentliche Catechisation zu halten habe, fället es uns Teütschen beschwerlich, daß wir der französischen Gemeind praecise umb 3 uhr weichen sollen, dann da muß der Gesang, Predig und Catechisation, alles ganz kurz geschehen, wann wir die französische Gemeinde nicht aufhalten, und von Ihnen ungestöret bleiben wollen. Und ist also ganz gewüß und unvermeidlich, daß da dreij Gemeinden diese Kirche gebrauchen, allerhand Unordenung entstehe, und eine der anderen auch wider willen Intention verhinderlich seije, auch keine Gemeind ihren Gottesdienst recht förmlich ordenlich abwahrten könne. Diesem nach ist das Gesuch der schönen und zahlreichen französischen Gemeind zu Auffbauung einer eigenen Kirchen nicht allein billich, sonder höchst nöthig, und die Bewilligung dieser Bitt wird uns allen höchst nüzlich seijn, dahero ich Ein Hochw. KirchenDirecktorium gehorsam bitte, zu dieser Concession, und der darzu nöthigen Collecte nicht allein beij den Französischen sonder auch beij den Teütschen so wohl Lutherschen als Reformierten, weil wir Reformierte auch oft zu Luthersche Collecten das unserige beijtragen, wenigst durch außgesezte Beckken, beförderlich zu sein. Damit also die französische Gemeind ihren Gottesdienst ungehindert allein verrichten könne, wir Reformierte Teütsche aber diese Concordien Kirch den vor und nach Mittag freij und ohne Hinterniß zu unserem gebrauch haben können, da hingegen die Evangelische-Lutherschen ihre Stunde von 11. biß 1. Uhr auch ohne auffgehalten zu werden zu ihrem dienst haben können, verbleibe ad supra.

Auf fol. 13–36 wird in der gleichen Akte deutlich, daß das Verhältnis zwischen deutsch- und französisch-reformierter Gemeinde nicht immer von Solidarität untereinander geprägt war. Dort werden die Irrungen der Jahre 1736/37 zwischen der französischen und der deutschen reformierten Gemeinde in Stargard wegen Zugänglichkeit und Nutzung der Sakristei an der gemeinsam genutzten Kirche mit direkten Supplikationen der französischen Gemeinde an den König und ausführlichen Berichten der deutschen Gemeinde über die Entwicklungen der zurückliegenden Jahre seit 1710 überliefert, wobei der in den 1730er Jahren erfolgte Umzug der Regierung von Stargard nach Stettin insbesondere die deutschreformierte Gemeinde offenkundig sehr geschwächt hatte.

Konfessionalisierung als Instrument einer schwachen Landesherrschaft. Brandenburg und die Fürstentümer Jülich-Kleve-Berg und Mark im 17. Jahrhundert Von Michael Kaiser, Köln I. Einleitung: Das Prinzip der konfessionellen Duldsamkeit Als sich der kleve-märkische Rat Adolf Wüsthaus in den 1670er Jahren zur Bedeutung und zur Funktion der Religion in einem Gemeinwesen äußerte, brachte er seine Ansichten wie folgt auf den Punkt: Die Religion sei Band  und Gürtel, durch die die Einigkeit in einem Staatswesen garantiert werde; fehle sie, sei es schwierig, das Volk zusammenzuhalten. Es drohten Spaltung und Uneinigkeit zu entstehen, die letztlich zur „Verachtung der Obrigkeit“ führten. Dementsprechend sei es nur zu begrüßen, wenn in einem Land nur eine Konfession vorhanden sei. Wüsthaus war sich allerdings nur zu sehr bewußt, daß genau dies in den Territo­ rien, auf die er sich bezog, nicht der Fall war. In Kleve und in Mark gab es drei Konfessionen in einer durchaus unübersichtlichen Verteilung, und hier war an die Durchsetzung einer einheitlichen Konfession keinesfalls zu denken. Entsprechend fügte er hinzu, daß ein kluger Regent diese konfessionelle Pluralität hinnehmen solle. Dessen Duldsamkeit sei entscheidend, damit der innere Frieden nicht aufs Spiel gesetzt werde1. Wüsthaus machte sich diese Gedanken zunächst einmal für sich selbst. Zu welchem Zweck er seine Aufzeichnungen anlegte, ist nicht klar; doch 1  Adolf Wüsthaus war von 1648 bis 1690 Protokollführer der kurfürstlichen Regierung in Kleve, nahm zudem auch archivarische Funktionen wahr. Dementsprechend besaß er intime Kenntnis in allen obrigkeitlichen Vorgängen, die er in seinen umfänglichen Aufzeichnungen niedergelegt hat: Historica Clivo-Markana (Historische Beschreibung dessen, was von a. 1609–1682 sich in dem Hertzog­ thumb Cleve und in der Grafschaft Marck, auch in der Nachbahrschaft zugetragen habe) in fünf Bänden, hier Bd. 3: Landesarchiv Nordrhein Westfalen (im Folgenden: LA NRW), Abt. Rheinland, HS C III 5 Bd. 3 fol. 549–553; benutzt bei Volker Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts. Argumentationsgeschichtliche und herrschaftstheoretische Zugänge zur politischen Kultur der frühen Neuzeit (Frühneuzeit-Forschungen, 12), Epfendorf am Neckar 2005, 131 f.

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ist davon auszugehen, daß sie nicht weiter rezipiert wurden und daher auch keine weitergehende Wirkung erzielt haben2. Aber seine Aussagen spiegeln die besondere konfessionelle Situation der westlichen Territo­ rien, die sich eben von den anderen des brandenburgischen Herrschaftsverbunds unterschied. Ein kurfürstlicher Rat wie Wüsthaus mochte sich mit dieser durchaus pragmatischen Haltung zufrieden geben. Doch entsprach dies auch der Einstellung des brandenburgischen Kurfürsten in seiner Funktion als Landesherr von Kleve und Mark? Hinweise dazu bietet der Kontext, in den Wüsthaus seine Ausführungen eingebettet hat. In seinen Aufzeichnungen zu den Ereignissen in den beiden Territorien Kleve und Mark hat er immer Dokumente eingefügt oder paraphrasiert, was ihm als Archivar mit unmittelbarem Zugriff auf die Registratur der kurfürstlichen Regierung leicht fiel. Im vorliegenden Fall zitierte er eine kurfürstliche Anweisung an die Geistlichen aller drei Konfessionen aus dem Jahr 1656, daß sie sich bei der Ausübung ihres Amtes aller „leidenschaftlicher und verläumderischer Aeßerungen [zu] enthalten“ und auf diese Weise „ihrerseits zur politischen Ruhe und Eintracht der Unterthanen […] beizutragen“ hätten. Zudem wurden die Geistlichen ermahnt, „durch eigne gegenseitige Freundlichkeit und Verträglichkeit, ihren Pfarrkindern ein gutes Beispiel christlicher Duldsamkeit [zu] geben“3. Wüsthausens Feststellung lag also ganz auf der landesherrlichen Linie. Diese Haltung läßt sich durchaus als Ausdruck einer nüchtern kalkulierten Konfessionspolitik begreifen. Allerdings gab es auch landesherrliche Äußerungen, die sehr viel markanter eine strikt calvinistische Ausrichtung erkennen ließen und damit dem Primat einer Konfessionalisierung entsprachen, wie ihn die Forschung als zeittypisch erkennt4. So 2  Zur Tätigkeit Wüsthaus’ wie auch speziell zu seinen Aufzeichnungen fehlen eigene Untersuchungen; siehe die knappen Angaben in: Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 5: Ständische Verhandlungen, 1. Bd., hrsg. v. August von Haeften, Berlin 1869, 75 mit Anm. 97, und Otto Hötzsch, Stände und Verwaltung von Cleve und Mark in der Zeit von 1666 bis 1697 (Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 2), Leipzig 1908, 2. 3  Mandat der kurfürstlichen Regierung, Kleve 3.10.1656, in: Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Herzogthum Cleve und in der Grafschaft Mark über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung (…) vom Jahre 1418 bis zum Eintritt der königlich preußischen Regierungen im Jahre 1816, Bd. 1: Vom Jahr 1418 bis zum Jahr 1700, zusammengetragen und hrsg. von J. J. Scotti, Düsseldorf 1826, 323, Nr. 240. 4  Die schon lange uferlose Literatur zum Konfessionalisierungsparadigma (und der Kritik daran) soll hier nicht wiedergegeben werden; für die Problematik frühmoderner Staatlichkeit sei hier hingewiesen auf den Sammelband: Meinrad ­Schab



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hielt Friedrich Wilhelm in seinem Politischen Testament von 1667 mit Bezug zur Religion ausdrücklich fest: „So ist furnehmlich dahin zu sehen, vnd zu trachten, auf das die Reformirte Religion, welche auff das wahre wortt Gottes, vndt auff die Simbola der Apostellen allein gegrundet, vndt ohne Menschen zusatz ist, In allen Eweren Landen moge vortgepflantzet werden“5. Allerdings erfolgte auch hier gleich eine wesent­ liche Einschränkung: Maßnahmen zur Unterstützung des Calvinismus sollten „nicht mitt zwangsmittelen“ erfolgen. Weiteren Auftrieb für die calvinistische Konfession versprach sich der Kurfürst zudem von einer Personalpolitik, die zielgerichtet reformierte Vertreter bevorzugen und bei personellen Engpässen auch Landfremde heranziehen sollte. Wie sehr das pragmatische Denken auch hier durchschlug, zeigen die beiden Vorbehalte: Die Geförderten sollten fachlich geeignet („So da qualificirt vndt geschickt“) und im Fall der calvinistischen Prediger „moderat, vndt nicht zancksuchtig“ sein6. Die weiteren Ausführungen im Politischen Testament beziehen sich dann auf die verschiedenen Territorien des Hohenzollernschen Herrschaftskomplexes samt deren konfessioneller Situation. Diese Bestandsaufnahme machte gar keinen Hehl daraus, daß die Lutheraner allenthalben in der Überzahl seien und nur „die wenigsten der Reformirten Religion zugethan“. Friedrich Wilhelm kommentierte diesen Befund aber keineswegs kämpferisch, vielmehr beschrieb er im Weiteren mit einiger Ausführlichkeit die verbrieften Vorrechte der verschiedenen Konfessionen, die es unbedingt zu beachten gelte – auch mit Blick auf die Territorien im Westen, in denen der Kurfürst vor allem die Bestandsgarantie für die katholische Konfession hervorhob7. Mit dieser Einstellung verfolgte die Dynastie der Hohenzollern eine Religionspolitik, die sich deutlich von der anderer Reichsterritorien unterschied. Nicht strikte Konfessionalisierung, sondern lediglich eine Bevorzugung des Calvinismus bei faktischem Verzicht auf eine vollkomme(Hrsg.), Territorialstaat und Calvinismus (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Forschungen 127), Stuttgart 1993; für den brandenburgischen Bezug sei verwiesen auf die Forschungen von Bodo Nischan, Prince, People, and Confession. The Second Reformation in Brandenburg, Philadelphia 1994, und ders., Lutherans and Calvinists in the Age of Confessionalism, Aldershot 1999. 5  Politisches Testament des Großen Kurfürsten, Cölln a.d.Spree 19. Mai 1667, in: Die politischen Testamente der Hohenzollern, bearb. v. Richard Dietrich (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 20), Köln/Wien 1986, 179–204, hier 181. 6  Ebd., 182. 7  Ebd., 182–184.

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ne Durchsetzung dieser präferierten Konfession erscheint als kennzeichnend. Dieses Prinzip galt, wie das Politische Testament von 1667 ausweist, für alle Territorien. Für die westlichen Territorien galt es, wie die Bemerkungen des Archivars Wüsthaus zeigen, erst recht. Konfessionelle Duldsamkeit und damit religiöser Pluralismus wurden in Kleve und Mark jedenfalls am stärksten praktiziert. Ungeachtet dessen spielte der Faktor der Religion im gesamten 17. Jahrhundert und natürlich auch am Niederrhein eine immense Rolle, und auch die Hohenzollern verfolgten ihre eigene konfessionspolitische Agenda. In der älteren Forschung hat man diese geradezu als Alleinstellungsmerkmal für die brandenburg-preußische Staatswerdung angesehen, insofern gerade der Calvinismus als Religion einer Minderheit als ein mitentscheidender Faktor für die Ausprägung der spezifischen Form des hohenzollernschen Staatsbildungsprozesses angesehen wurde8. Ohne den Calvinismus als Faktor für die hohenzollernsche Staatsbildung zu leugnen, erscheint dieser Ansatz heutzutage doch zu teleologisch; gerade die Hohenzollernherrscher im 17. Jahrhundert hatten lange Zeit wenig Anlaß, hochfliegende und weitschauende Pläne zu verfolgen und dafür auch die Konfessionspolitik zielgerichtet zu instrumentalisieren. Vielmehr wird man – und dies soll die Grundannahme für die folgenden Ausführungen sein – davon ausgehen müssen, daß sie durchaus konfessionsorientierte Politik zu betreiben versuchten, so weit sie es nur konnten; doch genau dies war nur in höchst beschränktem Maße der Fall. Denn diese Politik verfolgten sie von einer Position der relativen Schwäche heraus. Wenn nun zu untersuchen ist, wie diese Politik realisiert wurde, soll eine Unterscheidung zwischen religiösen und konfessionellen Aspekten im innerterritorialen Kontext und im auswärtigen Bereich gemacht werden. Auch wenn dies nicht immer trennscharf durchzuhalten ist, lassen sich hier doch grundsätzliche Differenzen sowohl hinsichtlich der Zielsetzungen als auch der politischen Spielräume zeigen. Vorab soll aber allgemein die Situation in den westlichen Territorien im frühen 17. Jahrhundert nachgezeichnet werden. II. Das frühe 17. Jahrhundert: brüchige Erfolge Unter der weitverzweigten Dynastie der Hohenzollern schien Anfang des 17. Jahrhunderts vor allem dem brandenburgischen Zweig des Hauses eine glänzende Zukunft bereitet zu sein. Zahlreiche, durchaus reali8  Siehe dazu Peter-Michael Hahn, Calvinismus und Staatsbildung: Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert, in: M. Schaab (Hrsg.), Territorialstaat und Calvinismus (wie Anm. 4), 239–269, bes. 240–242.



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stische Optionen auf Machterweiterung ließen den Kurfürsten von Brandenburg nicht nur innerhalb des Heiligen Römischen Reiches als einen bedeutsamen Machtfaktor erscheinen, sondern hielten für diese Dynastie auch eine europäische Machtposition bereit9. So bereiteten die Brandenburger die Herrschaftsnachfolge im Herzogtum Preußen vor, hatten die Anwartschaft auf das Herzogtum Pommern im Blick und stellten seit langen Jahrzehnten den Erzbischof bzw. den Administrator des Erzstifts Magdeburg10. Vor allem rückte noch vor der Jahrhundertwende die Jülich-Klevische Erbschaft immer stärker in den Fokus der brandenburgischen Politik. Die Expektanzen sowohl auf Preußen als auch auf das im Westen des Reichs gelegene Territorienkonglomerat wurden vor allem durch die Verheiratung Annas von Preußen, der erstgeborenen Tochter des preußischen Herzogs, mit dem Markgrafen von Brandenburg Johann Sigismund im Jahr 1594 genährt11: Nicht nur das Haus Habsburg, sondern auch das Haus Brandenburg verstand sich auf eine geschickte und aussichtsreiche Heiratspolitik. Allerdings zeigten sich in all diesen Fällen, von Preußen über Pommern und Magdeburg bis zu Jülich-Kleve-Berg, erhebliche Probleme, die die brandenburgischen Erwartungen dämpfen sollten. Dies galt insbesondere für den Erbfall in den westlichen Territorien, um die es hier vor allem gehen soll. Die schon länger absehbare Erbfolgekrise hatte bereits seit den frühen 1590er Jahren intensive diplomatische Aktivitäten verschiedener Erbanwärter ausgelöst, die sich für die Herrschaftsnachfolge am Niederrhein zu positionieren versuchten12. Als mit dem Tod Johann Wilhelms 1609 dann der Erbfall eintrat, vermochte es neben Pfalz-Neuburg eben auch Brandenburg, sich in den niederrheinischen Fürstentümern 9  Das Stichwort von den Hohenzollern als „europäische[r] Dynastie“ im 16. und 17. Jahrhundert bei Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, Bd. 1: Anfänge, Landesstaat und monarchische Autokratie bis 1740, Stuttgart/Berlin/Köln 1996, 102, siehe auch 116. 10  Zum Erzstift Magdeburg als Zankapfel zwischen den großen Dynastien des Reiches siehe Michael Kaiser, Dynastische Prätentionen auf Magdeburg. Das Erzstift zwischen Hohenzollern, Wettinern und Habsburgern im Dreißigjährigen Krieg, in: Gabriele Köster/Cornelia Poenicke/Christoph Volkmar (Hrsg.), Magdeburg und die Reformation, Teil 2: Von der Hochburg des Luthertums zum Erinnerungsort (Magdeburger Schriften, 8), Halle a. d. Saale 2017, 206–229. 11  Zur diesbezüglichen Rolle Annas von Preußen siehe Michael Kaiser, Anna von Preußen und der Kampf um das Jülicher Erbe, in: Frauensache. Wie Brandenburg Preußen wurde, hrsg. von der Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Dresden 2015, 230–239. 12  Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit 1609. Seine Voraussetzungen und Folgen. Vortragsband, hrsg. von Manfred Groten, Clemens von Looz-Corswarem und Wilfried Reininghaus (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Vorträge 36), Düsseldorf 2011.

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festzusetzen. Beide Herrscherhäuser avancierten zu den „beati possidentes“, die die anderen Dynastien von diesen Territorien fernhalten konnten: Während Pfalz-Neuburg in den Herzogtümern Jülich und Berg die Herrschaft antreten konnte, etablierte sich Brandenburg als neuer Landesherr im Herzogtum Kleve, in der Grafschaft Mark sowie der Grafschaft Ravensberg. Dieser Zustand fand im Xantener Vertrag von 1614 eine erste Sanktionierung, die auch von auswärtigen Mächten mitgetragen wurde. Allerdings darf man nicht übersehen, daß es sich beim Xantener Vertrag lediglich um ein Provisorium handelte13. Dies galt sowohl für PfalzNeuburg als auch Brandenburg, die beide die Hoffnung auf das Gesamterbe nicht aufgegeben hatten, und erst recht galt dies für die anderen Erbanwärter. Vor allem Kursachsen war ein mächtiger wie hartnäckiger Konkurrent14, und über allem schwebte immer auch noch die Möglichkeit eines kaiserlichen Sequesters, daß also der Kaiser die Erbmasse als erledigte Lehen ein- und somit den Erbprätendenten entzog. Dabei hatte der Xantener Vertrag überdeutlich werden lassen, daß eine Lösung dieses Erbstreits nicht allein durch die involvierten Erbanwärter herbeigeführt werde. Vielmehr befand sich die Region in einem geostrategischen Kräftefeld, das andere Mächte nicht unbeteiligt lassen konnte. Beteiligt waren bei den Xantener Verhandlungen nicht nur französische und englische Diplomaten, sondern auch Vertreter der spanischen Krone und der Generalstaaten: Gerade letztere Mächte zogen den Erbfall in den Schlagkreis des spanisch-niederländischen Konflikts hinein. Für die „beati possidentes“ war dies Fluch und Segen zugleich. Einerseits saß man am Niederrhein auf einem Pulverfaß, das jederzeit explodieren konnte – die starke Truppenpräsenz der Spanier wie der Generalstaaten ließ daran keinen Zweifel. Andererseits konnten sich die beiden Erbanwärter an diese Mächte anlehnen; die erstaunlich schnelle Etablierung sowohl der pfalz-neuburgischen wie auch der brandenburgischen Herrschaft wäre ohne die mehr oder weniger offene Unterstützung der Spanier respektive der Generalstaaten nicht möglich gewesen. Insbesondere für Brandenburg, auf dem hier vornehmlich das Augenmerk liegt, war dies naheliegend. Trotz der jahrelangen Kontakte an den Nieder­ rhein und des durchaus vielfältigen Engagements im Vorfeld des Erbfalls 13  Zum Begriff „Xantener Provisionalvergleich“ siehe Wolfgang Bergerhausen, Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit: Diplomatische Verhandlungen und Verträge, in: Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit 1609 (Anm. 12), 55–68, hier 62 f. 14  Siehe dazu immer noch Moriz Ritter, Sachsen und der Jülicher Erbfolgestreit (1483–1610) (Abhandlungen der III. Classe der königlichen Akademie der Wissenschaften, XII), München 1873.



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war Brandenburg, als es dann 1609 so weit war, schlecht vorbereitet. Es fehlte an Machtmitteln und vor allem an Geld. Den Haag vermochte beides zu bieten. Bereits 1605 gab es eine Verabredung über eine generalstaatische Unterstützung im Jülicher Erbfolgefall, und noch Jahre später verhandelte Brandenburg mit Den Haag über Hilfszusagen für zu erwartende Konflikte am Niederrhein15. Die brandenburgischen Positionen zu stützen, hatte für die Generalstaaten den Vorteil, im Glacis der eigenen Territorien Operationsräume und Quartiere für das eigene Militär zu sichern. Da sie auf diese Weise gleichzeitig diese Region den Spaniern vorenthielten, erwies sich das Zusammengehen mit Brandenburg als eine sinnvolle strategische Option für Den Haag16. Als finanzielle Unterstützung ist vor allem die sog. Hoefysersche Schuld bekannt geworden17. Mit ihr ist eine Anleihe von 100.000 Rtlr. (248.000 holländische Gulden) bei einem Zinssatz von 8 % gemeint, mit der die kurbrandenburgische Regierung in Kleve im Jahr 1616 Finanzierungslücken überbrücken mußte, für die Gelder selbst aufzubringen sie nicht fähig war. Dieser Kredit sollte im Laufe der kommenden Jahre und Jahrzehnte eine schwere Belastung für die westlichen Territorien darstellen. Die Zinsleistungen ließen die Summe in astronomische Dimensionen anwachsen: Im Februar 1641 wurde die Schuld auf ungefähr 1.000.000 fl. beziffert18, um 1650 beliefen sich die Ausstände auf rund 1.700.000 fl., Anfang 1661 waren es bereits 2.860.000 fl.19. Die Schuldenlast schränkte die Handlungsfähigkeit der Landesregierung ein, zumal Domänen und das Amt Neuhof als Sicherheiten verpfändet worden waren20. Gleichzeitig boten die Ausstände immer wieder die Möglichkeit für die General15  Siehe Theodor von Moerner (Bearb.), Kurbrandenburgs Staatsverträge von 1601 bis 1700. Nach den Originalen des Königl. Geh. Staats-Archivs, Berlin 1867, 33 (Vertrag von 1605), und Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, Berlin 41915, 161. 16  Generell dazu Simon Groenveld, Der Jülich-Klevische Erbfolgekrieg aus Sicht der Niederlande um 1592–1614, in: Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit 1609 (Anm. 12), 27–43. 17  Siehe dazu Urkunden und Actenstücke, Bd. 5 (Anm. 2), 49, sowie Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 4: Politische Verhandlungen, 2. Bd., hrsg. von Bernhard Erdmannsdörffer, Berlin 1867, 9, und Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie, Erster Teil: 1620–1660, Zweiter Teil: 1660–1688, Göttingen/Frankfurt a. M./Zürich 1971/1978, hier Bd. 1, 67 f. – Es fehlt dringend eine Spezialstudie zur Hoefyserschen Schuld. 18  Urkunden und Actenstücke, Bd. 5 (Anm. 2), 130. 19  Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 3: Auswärtige Acten, hrsg. von Heinrich Peter, Berlin 1866, 65 und 143. 20  Urkunden und Actenstücke, Bd. 5 (Anm. 2), 49.

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staaten, in Kleve und Mark zu intervenieren. Die „schwere und gefähr­ liche Schuld an Hoeffyser“21 destabilisierte die brandenburgische Herrschaft, wie überhaupt die generalstaatische Präsenz am Niederrhein letztlich eine Bedrohung für den Kurfürsten als Landesherrn in Kleve und Mark insgesamt darstellte22. An dieser Stelle genügt es aber festzuhalten, daß Brandenburg die ­ ositionen in Kleve und Mark nur dank generalstaatischer UnterstütP zung halten konnte; die Stärke der neuen Landesherrschaft war hier bloß eine geliehene. Handelte es sich also bei den Vereinigten Herzogtümern im Westen um ein „gefürchtetes Erbe“23? Sicher gab es widerstreitende Kräfte und Fraktionen am kurbrandenburgischen Hof, die die Erbsache ­Jülich-Kleve differenziert beurteilten und sich entsprechend unterschiedlich stark dafür zu engagieren bereit waren. Insofern lagen die Priori­täten nicht immer im Westen, aber genau dies ist ein Indiz für die ­Überdehnung der Kräfte, mit der sich Brandenburg anfangs des 17. Jahrhunderts konfrontiert sah. Um die ganz unterschiedlich gelagerten Interessen vermochte sich das in seinen Ressourcen limitierte Kurhaus eben doch nicht adäquat zu kümmern; denn die politischen Strukturen Brandenburgs konvergierten in keiner Weise mit den Ansprüchen, die das Haus tatsächlich zu realisieren sich anschickte24. Dementsprechend limitiert war der politische Spielraum, der zumal mit Blick auf die west­ lichen Territorien mehr oder weniger von den verbündeten Generalstaaten mitdiktiert wurde. Wie schwierig sich die Verhältnisse am Niederrhein gestalteten, wurde den Brandenburgern gleich zu Beginn der Herrschaftsübernahme verdeutlicht. Die Landstände waren sich sehr bewußt, daß eine Brandenburger Landesherrschaft in Kleve und Mark keineswegs alternativlos war. Sie blieben also vorsichtig und verweigerten dem neuen Landesherrn im Frühjahr 1609 die geforderte Huldigung – ein sog. Handschlag (oder auch Handstreich), also eine mindere Form der Treueverpflichtung, mußte aus21  So die bezeichnende Formulierung seitens der kurfürstlichen Regierung in Emmerich gegenüber Friedrich Wilhelm, 3.10.1641, Urkunden und Actenstücke, Bd. 4 (Anm. 17), 49. 22  Siehe dazu Michael Kaiser, Die vereinbarte Okkupation. Generalstaatische Besatzungen in brandenburgischen Festungen am Niederrhein, in: Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert, hrsg. von Markus Meumann und Jörg Rogge (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 3), Münster 2006, 271–314. 23  Rouven Pons, Das gefürchtete Erbe. Die jülich-klevische Erbfolge und das Haus Brandenburg, in: Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit 1609 (Anm. 12), 137– 162. 24  Zu den inneren Strukturen Neugebauer, Hohenzollern (Anm. 9), 131–135.



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reichen25. Diese Konstellation hielten die Stände übrigens bis 1666 durch, als sie sich erst nach dem Vertrag von Kleve zur Huldigung gegenüber Kurfürst Friedrich Wilhelm bereit erklärten26. Bis dahin mußten sich die Hohenzollern mit Blick auf Kleve und Mark einer Sache stets bewußt bleiben: Sie hatten viel erreicht, aber noch war nichts gesichert. Das Bewußtsein für die unbestimmte und offene Situation bestimmte weithin die politische Praxis und prägte auch den Bereich der Konfessionspolitik. Den Erbanwärtern Brandenburg wie auch Pfalz-Neuburg war klar, daß sie nicht umhin konnten, den Landständen eine Garantieerklärung über all ihre bestehenden Rechte auszustellen. Genau dies war der sehr pauschale, aber deswegen auch umfassende Tenor des Reverses vom 14. Juli 1609, der die bestehenden konfessionellen Verhältnisse anerkannte: „Die Catholische Römische / wie auch andere Christliche Religion / wie so wol im Römischen Reich: als diesen Fürstenthumben vnnd Graffschafften von der Marck / an einem jeden Orth in offentlichem Gebrauch vnnd Vbung zu continuiren / zu manuteniren vnd zuzulassen / vnd darüber niemand in seinem Gewissen noch Exercitio zu turbiren / zu molestiren / noch zu betrueben“27. Richtete sich diese Erklärung an die Stände von Kleve, Mark und Ravensberg, folgte wenige Tage später ein entsprechender Revers für Jülich und Berg28. Zu Recht hat man auf die sehr weitreichenden Formulierungen hingewiesen, die faktisch eine „Freistellung“ bedeuteten, damit eben nicht nur die beiden durch den Augsburger Religionsfrieden sanktionierten Konfessionen, sondern unterschiedslos alle Glaubensrichtungen unter den Schutz der neuen Landesherren gestellt wurden und die landesobrigkeitliche Regulierungsgewalt über die Konfession der Untertanenschaft praktisch preisgegeben wurde29. Daß 25  Urkunden

und Actenstücke, Bd. 5 (Anm. 2), 42 f. mußte Friedrich Wilhelm auch zu Beginn seiner Regierungszeit erfahren, als er 1647 von den Ständen erfolglos die „schuldige Erbhuldigung“ einforderte, ohne sich damit durchsetzen zu können, siehe Urkunden und Actenstücke, Bd. 5 (Anm. 2), 317 zum 18.1.1647. Erst am 7. November 1649 bequemten sich die klevischen und märkischen Stände in Wesel dazu, dem Kurfürsten den Handschlag zu leisten, eine Huldigung verweigerten sie; siehe das Protokoll kurfürstlicher Provenienz zum 7.11.1649, ebenda, 395 f. 27  Gründtlicher Bericht/ Uber das Kirchen unnd Religionswesen in den Fürstenthumben Gülich/Cleve/ unnd Berg/ Auch zugehörigen Graffschafften Marck/ und Rauensperg/ [et]c, o. O. 1649, HAB Wolfenbüttel , 28 f.; Teildruck bei Ludwig Keller, Die Gegenreformation in Westfalen und dem Niederrhein. Actenstücke und Erläuterungen (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, 62), Bd. 3, Leipzig 1895, 140, Nr. 56. 28  Gründtlicher Bericht (Anm. 27), 30 f., und Keller, Gegenreformation (Anm. 27), 143 f., Nr.  59. 29  Der Begriff der „Freistellung“ im Regest bei Keller, Gegenreformation (Anm. 27), 143; weitere Wertungen in diesem Sinne bei Dorothea Coenen, Die ka26  Dies

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diese Haltung im Laufe der Jahre nicht lange von Bestand war und die Landesobrigkeiten durchaus in ihrem Sinne um eine konfessionelle Regulierung bemüht waren, wird im Weiteren noch deutlich werden30. Bezeichnend bleibt hingegen, wie stark die neuen Landesherren ihre konfessionspolitischen Ambitionen von Anfang an zurücknehmen mußten. Die Situation wurde gerade in religiöser Hinsicht komplizierter, als beide Erbprätendenten wenige Jahre nach dem Herrschaftsantritt am Niederrhein ihre Konfession wechselten. Während der Lutheraner Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg im Mai 1614 seine Konversion zum Katholizismus öffentlich bekannt machte31, wandte sich Kurfürst Johann Sigismund vom Luthertum dem Calvinismus zu. Diese Entscheidung hatte eine längere Vorgeschichte, insofern einige Mitglieder im Umfeld des Kurfürsten schon früh calvinistische Neigungen gezeigt hatten32. So hingen einige Räte, die bereits in den westlichen Territorien tätig waren wie Otto Heinrich von Bylandt und Adam Gans Edler zu Putlitz der reformierten Konfession an, der sich Markgraf Ernst im Mai 1610 öffentlich anschloß33. Er war damit nicht nur der erste Vertreter dieser Dynastie, sondern als Statthalter zugleich auch erster Repräsentant des Hauses Brandenburg am Niederrhein. Als Johann Sigismund dann das Weihnachtsfest des Jahres 1613 nach reformiertem Ritus feierte und somit seitholische Kirche am Niederrhein von der Reformation bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 93), Münster 1967, 86; Alexander Weber, Konfessionelle Konflikte nach dem Westfälischen Frieden. Die Religionsbeschwerden der katholischen Kirche des Herzogtums Kleve im 18. Jahrhundert (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, 77), Hamburg 2013, 81 mit Anm. 239. 30  Dies erfuhren insbesondere die Täufer, siehe dazu Stefan Ehrenpreis, Die Obrigkeit, die Konfessionen und die Täufer im Herzogtum Berg 1535–1700, in: Dietz/ Ehrenpreis, Drei Konfessionen in einer Region (Anm. 55), 113–152, bes. 136 f. 31  Wolfgang Wilhelm war bereits Ende 1612 konvertiert, hatte dies aus politischer Rücksichtnahme aber zunächst geheim gehalten; Gerüchte kursierten gleichwohl, siehe dazu Olaf Richter, Der Übertritt des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm zur katholischen Konfession in Düsseldorf im Jahr 1614, in: Landes- und Reichsgeschichte. Festschrift für Hansgeorg Molitor zum 65. Geburtstag, hrsg. von Jörg Engelbrecht und Stephan Laux, Bielefeld 2004, 117–145, vor allem 125 f.; zuletzt auch Eric-Oliver Mader, Die Konversion Wolfgang Wilhelms von Pfalz-Neuburg. Zur Rolle von politischem und religiös-theologischem Denken für seinen Übertritt zum Katholizismus, in: Ute Lotz-Heumann/Jan-Friedrich Mißfelder/ Matthias Pohlig (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2007, 107–146. 32  Zur Motivation für die Konversion Johann Sigismunds siehe Neugebauer, Die Hohenzollern (Anm. 9), 136, und Nischan, Prince (Anm. 4), 94–98. 33  Franz Josef Burghardt, Zwischen Fundamentalismus und Toleranz. Calvinistische Einflüsse auf Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg vor seiner Konversion (Historische Forschungen, 96), Berlin 2012, 47–54.



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nen Übertritt zum Calvinismus öffentlich bekundete, tat er dies in einem Umfeld, das zumindest in wesentlichen Teilen längst darauf vorbereitet war34. Dennoch waren die Erschütterungen dieses Schritts immens. Ausgesprochen reserviert reagierte nicht nur seine Frau Anna, die rasch zum Kristallisationspunkt des Luthertums am brandenburgischen Hof wurde35. Vor allem für die Landstände und auch die Untertanenschaft bedeutete die Konversion zum Calvinismus eine Entfremdung von ihrem Landesherrn36. Besonders bedrohlich wurde dies im Zuge des sog. Ber­ liner Tumults, der 1615 in Reaktion auf die reformierten Bestrebungen ausbrach37. Auswirkungen hatte Johann Sigismunds Konversion auch auf die Verhältnisse in den westlichen Territorien. Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm, brandenburgischer Machtkonkurrent, aber damals noch im protestantischen Konfessionslager, wünschte Kurfürstin Anna als strikte Lutheranerin „Christliche gedult, vnnd daß Sie sich ia zum Caluinischen groben Jrthumb nit verführen lassen“. Gleichzeitig sagte er der Kurfürstin eigene Anstrengungen zu, „damitt die arme Leut [in Jülich, Kleve, Berg und Mark; M.K.] zum Calvinismo nit verfüret werden“38. Sicherlich war dies zunächst ein Versprechen, die Religionsverhältnisse am Niederrhein zu stabilisieren. Gleichzeitig aber wurde deutlich, wie sehr der Erbstreit nun auch von einem konfessionellen Antagonismus überlagert werden würde. Daran änderte sich auch nichts, als sich Wolfgang Wilhelm wenige Monate später offen zum Katholizismus bekannte: Anders als 1609, als sich beide Erbprätendenten zumindest konfessionell nahestanden, fand man sich nun in verfeindeten Lagern wieder. Diese Erfahrung machte Kurprinz Georg Wilhelm bereits im Oktober 1612, als er erstmalig diese Region bereiste und dem Vater Johann Sigismund von seinen Erfahrungen im Düsseldorfer Schloß berichtete. So sei „kurtz vor meiner ankunft 34  Axel Gotthard, Zwischen Luthertum und Calvinismus, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm  II., München 2000, 74–94, hier 82, spricht von einem „Schritt, den er wohl lange schon erwogen hatte“. 35  Toni Saring, Kurfürstin Anna (von Preußen), in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 53 (1941), 248–295, hier 275 u. 277–281. 36  Eindrücklich die Schilderung bei Helmuth Croon, Die kurmärkischen Landstände 1571–1616 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Hauptstadt Berlin, IX/1 = Brandenburgische Ständeakten, 1), Berlin 1938, bes. 189–197. 37  Eberhard Faden, Der Berliner Tumult von 1615, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 5 (1954), 27–45. 38  Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm an Kurfürstin Anna, Düsseldorf 15./25.11.1613, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden: GStA PK), I. HA Geheimer Rat (im Folgenden: GR) Rep. 34 Nr. 4628 Fasz. 3 fol. 71–76’, Ausf.

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in diesem lande die abgöttische Messe wiederümb eingeführet, vnd fort vnd fort alle Sontag verleset wirdt“. Überhaupt, so stellte der Georg Wilhelm mit einiger Betroffenheit fest, „wurde es [..] den Bäpstlichen dienern an Stadtmessen, auch gantz nahe am Schloss, nicht mangeln“39. Einen anderen Fall stellte Mülheim dar40. Der etwas nördlich von Köln, am rechten Rheinufer gelegene Ort wurde zum protestantischen Zufluchtsort, zumal für die in der Reichsstadt lebenden Protestanten. Köln ahndete nicht nur den Besuch des lutherischen und reformierten Gottesdienstes in dem zum Herzogtum Berg gehörigen Flecken, sondern wandte sich vor allem gegen die Baumaßnahmen, die Mülheim zur befestigten Stadt machen sollten. Hier verschränkten sich die wirtschaftspolitischen Interessen Kölns mit einer rigorosen Konfessionspolitik, die den seit 1610 schwelenden Konflikt, durchaus mit kaiserlicher Billigung, immer mehr eskalieren ließen. Georg Wilhelm verfolgte die Entwicklung von Anfang an mit bangem Blick und sah hier vor allem die Unterdrückung aus religiösen Gründen: „Der stein, welchen zu Mülheimb auf bitt dero des Euangelii halben aus Cöllen vertriebene Christen zum kirchen grunde geleget, hoffe nicht das ihmanden ergernüs geben werde“41. Noch 1615 zeigte sich Georg Wilhelm empört über die Maßnahmen der Reichsstadt Köln, die im September dieses Jahres bei militärischer Rückendeckung spanischer Truppen alle Mülheimer Neubauten fachmännisch abreißen ließ, und geißelte sie als „gantz vnbarmhertzig, Ja fast grausam“, zumal man „den armen leuten nicht Soviel zeit [hat] geben [wollen], das Sie Jhre mobilien vndt bereitschaft aus den heusern weck bringen können, auch hat man mit den kintbettern kein mitleiden gehabt“42. Desweiteren beobachtete der Kurprinz, damals längst auch offiziell mit dem Statthalteramt in Kleve betraut43, das Verhalten der anderen Mächte: „Der Konig in Engelandt erzeiget sich bei diesen sachen kalt; 39  Kurprinz Georg Wilhelm an Kurfürst Johann Sigismund, Wesel Oktober 1612 [Tagesdatum fehlt], GStA PK, I.HA GR Rep. 34 Nr. 5232 fol. 39–41, Ausf. 40  Grundlegend zum Konflikt um Mülheim Hans-Wolfgang Bergerhausen, Köln in einem eisernen Zeitalter, 1610–1686 (Geschichte der Stadt Köln, 6), Köln 2010, 27–41. 41  Kurprinz Georg Wilhelm an Kurfürstin Anna, Wesel 8./18.10.1612, GStA PK, Brandenburg-Preußisches Hausarchiv, Rep. 34, Nr. 47, unfol. Ausf. 42  Kurprinz Georg Wilhelm an Kurfürstin Anna, Kleve 7./17.10.1615, GStA PK, Brandenburg-Preußisches Hausarchiv, Rep. 34, Nr. 47, unfol. Ausf. 43  Offiziell erfolgte die Ernennung Georg Wilhelms zum Statthalter erst nach dem Tod Markgraf Ernsts, siehe das entsprechende Mandat für Georg Wilhelm als Statthalter in den Jülich-Kleve-Bergischen Territorien von Kurfürst Joachim Sigismund und Kurfürstin Anna, Cölln an der Spree 2.1.1614 a.St., GStA PK I.HA GR Rep. 34 Nr. 5211 fol. 57–60 Konzept.



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die herren Staden sitzen stille, sehen dem spiele zu“44. Hilfe war also auch von Konfessionsverwandten nicht unbedingt zu erwarten  – eine Lehre, die der junge Fürst hier am Niederrhein lernte. Gerade in einer Phase, in der die Zeitgenossen die Kriegsgefahr zumal in dieser Region lebhaft vor Augen hatten45, schaute Georg Wilhelm, der in wenigen Jahren als Kurfürst die Geschicke des Hauses Brandenburg lenken würde, auf eine konfessionell aufgeheizte Konstellation. Besonders der Streit um das Jülicher Erbe bescherte den Brandenburgern prägende Erfahrungen. Daß die Reverse von 1609 eine faktische Freistellung der Religion ermöglichten und damit die konfessionellen Verhältnisse im Westen des Reiches dynamisierten, die Possedierenden also selbst für die wachsende Instabilität gesorgt hatten46, hat man auf brandenburgischer Seite offenbar nicht wahrgenommen. Hier machte sich eher eine wachsende Angst bemerkbar. Der Vertrag von Xanten brachte hier keine nachhaltige Beruhigung, die konfessionellen Spannungen blieben bestehen. Mit diesem Bedrohungsszenario waren die Brandenburger nicht allein; auch andere reformierte und lutherische Reichsfürsten sahen die Zukunft unter konfessionspolitischen Vorzeichen immer düsterer. Für die Brisanz der Situation dieser Jahre ist bezeichnend, daß die Wahrnehmung auf katholischer Seite denselben Mustern folgte und einer angstgetriebenen Politik Vorschub leistete47. So hatte der Konfessionswechsel der beiden possedierenden Fürsten auch die reichsweite Wahrnehmung der konfessionellen Situation im Reich allgemein beeinflußt. Unter den katholischen Reichsfürsten kursierten Schreckensszenarien, die eine existentielle Gefährdung der katholischen Religion zu erkennen glaubten48. So sah der bayerische Herzog Maximilian die katholische Konfession am Niederrhein „sonderlich nach eingefürter blutgiriger calvinischer sect“ 44  Kurprinz Georg Wilhelm an Kurfürstin Anna, Kleve 7./17.10.1615, GStA PK, Brandenburg-Preußisches Hausarchiv, Rep. 34, Nr. 47, unfol. Ausf. 45  Vgl. die Beobachtung des Syndicus der Grafschaft Ravensberg Franz Giesenbier an Wilhelm Ledebur zu Mollenborg, Düsseldorf 10.3.1614, praes. 14.3.1614, LA NRW, Abt. Westfalen, Grafschaft Ravensberg, Landstände, Nr. 541, unfol. Ausf., übrigens mit konkretem Bezug zur Mülheimer Krise: „Es stehen die sachen alhier gar vbell vnd imb fall kein mittell getroffen wirt besorge ich einen krieg vnnd denselbigen geferligen vnd beschwerliger als ehr ie gewesen.“ 46  Diese Beobachtung aber bei Bergerhausen, Köln (Anm. 40), 27. 47  Siehe dazu Michael Kaiser, Angstgetriebene Politik. Maximilian von Bayern und die Katholische Liga, in: Robert Rebitsch (Hrsg.), 1618. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges, Wien/Köln/Weimar 2017, 101–128. 48  Hugo Altmann, Die Reichspolitik Maximilians I. von Bayern 1613–1618 (Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in den Zeiten des vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher, 12), München/Wien 1978, hier 267, 270 und 277.

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in großer Gefahr, da ihre Anhänger „thails durch list, thails durch gwalt von ieren exercitiis verfhuerth und abgehalten“ würden, und warb beim Kaiserhof für Unterstützung49. Nicht weniger besorgt reagierte die Katholische Liga, die kurze Zeit später im Abschied des Ingolstädter Ligatages die Lage ähnlich dramatisch bewertete50. Es ist generell schwierig einzuschätzen, inwieweit den Beteiligten überhaupt bewußt war, daß das Gefühl der Bedrohung allenthalben verbreitet war; wahrscheinlich hat man vor allem die eigenen Befürchtungen wahrgenommen. So stellte sich zumindest auf brandenburgischer Seite die Sicht auf die Dinge dar. Bereits im Frühjahr 1610 äußerte sich Kurfürst Johann Sigismund gegenüber dem dänischen König, daß es im Erbfolgestreit vor allem darum gehe, diese Lande den Evangelischen vorzuenthalten51. Überdeutlich sahen die Brandenburger die territorialen Streitigkeiten mit den konfessionellen Antagonismen verbunden. Erschwerend kam für die Dynastie die faktische Schwächung der eigenen Herrschaft, gerade auch im Kernterritorium, durch die Einführung des Calvinismus hinzu, der die Untertanen von ihrem Herrscher „abalienieret“ hatte52. Gleichwohl hatten die Hohenzollern in den ersten Jahren nach dem Erbfall einiges erreicht. Diese Erfolge waren allerdings auf mehreren Ebenen bedroht. Denn Gegensätze ergaben sich neben den erb­ rechtlichen Kontroversen durch den Streit der Konfessionen: zum einen mit den anderen Erbprätendenten, aber auch mit dem Kaiser, dem man ebenfalls eine strikt konfessionell geprägte Politik unterstellte; zum anderen innerhalb der westlichen Territorien, die konfessionell durchmischt waren. Die konfessionellen Faktoren in der auswärtigen wie der inneren Politik sollen im Folgenden untersucht werden. III. Religionspolitik und Konfessionalisierung nach innen: Herrschaftsstabilisierung Konfessionelle Konflikte in Kleve und Mark waren im 17. Jahrhundert nicht selten. Von der via media, die als Leitwort für das obrigkeitliche 49  So in der Instruktion des bayerischen Herzogs für seinen Gesandten zum kaiserlichen Hoflager nach Linz Ende Mai 1614, bei Altmann, Die Reichspolitik Maximilians (Anm. 48), 414 und 413. 50  Abschied des Ingolstädter Ligatags vom 12.7.1614, bei Altmann, Die Reichspolitik Maximilians (Anm. 48), 420 f. 51  Briefe und Acten zur Geschichte des Dreissigjährigen Krieges in den Zeiten des vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher, 3. Bd.: Der Jülicher Erbfolgekrieg, bearb. von Moriz Ritter, München 1877, 354 Anm. 1. 52  Croon, Die kurmärkischen Landstände (Anm. 36), 190, mit Bezug zu einer Einschätzung des Kurfürsten Johann Georg von Sachsen vom 1.2.1614.



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Handeln in Religionssachen der Vereinigten Herzogtümer fungiert und auch das religiöse Klima im 16. Jahrhundert weitgehend geprägt hatte – Erasmus von Rotterdam ist hier als geistige und auch geistliche Referenz zu nennen –, war nicht mehr viel übrig geblieben53. Nach wie vor war die konfessionelle Diversität in den westlichen Territorien immens54. Es war aber sehr viel weniger zu einer Konfessionalisierung im Sinne einer ­territorialen Homogenisierung, wohl aber zu einer allgemeinen konfessionellen Verhärtung gekommen. Diese resultierte zumindest zu einem Teil  auch daraus, daß viele Gläubige sich mittlerweile stärker bewußt waren, welcher Denomination sie angehörten oder angehören wollten. Dieser Prozeß der Konfessionsbildung hatte nicht nur dazu geführt, daß es nun „drei Konfessionen in einer Region“ gab55. Mehr denn je waren Gläubige nun auch bereit, für die eigene religiöse Überzeugung zu streiten. Angestachelt wurden solche Konflikte vor allem von den Geistlichen; Vertreter aller Konfessionen beteiligten sich an der Verunglimpfung Andersgläubiger56. Es waren also keineswegs nur obrigkeitliche Verfügungen in Religionssachen, die entsprechende Streitigkeiten hervorriefen; ebenso gab es erhebliches Konfliktpotential in der Untertanenschaft selbst. Gerade in Alltagssituationen kam es zu Konflikten, die mit Verbalinjurien beginnen mochten, sich dann aber rasch bis hin zu massiven Behinderungen in der Ausübung der jeweiligen Religion steigerten. Immer wieder eskalierten derartige Vorfälle oder traten gehäuft auf. Spätestens dann war die landesherrliche Autorität gefordert einzuschreiten, um die streitenden Parteien zu beruhigen und die Konflikte beizulegen. So schritt Georg Wilhelm Anfang 1614 ein, als sich die Lutheraner in Wattenscheid von den Katholiken bedrängt fühlten57. Der Statthalter 53  Siehe dazu neuere Arbeiten in folgendem Band: Herrschaft, Hof und Humanismus: Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg und seine Zeit, hrsg. von Guido von Büren, Ralf-Peter Fuchs, Georg Mölich und Bert Thissen (Schriftenreihe der Nieder­ rhein-Akademie, 11), Bielefeld 2018. 54  Zur konfessionellen Situation am Niederrhein um 1610, die eine große Zersplitterung zeigt, wobei vielfach die konfessionelle Eindeutigkeit fehlte, Irmgard Hantsche, Atlas zur Geschichte des Niederrheins (Schriftenreihe der NiederrheinAkademie, 4), 4., überarb. Aufl., Bottrop/Essen 2000, 78 f. 55  Das Stichwort nach Burkhard Dietz/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Drei Konfessionen in einer Region. Beiträge zur Geschichte der Konfessionalisierung im Herzogtum Berg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 136), Köln 1999. 56  Siehe dazu ausführlich Coenen, Katholische Kirche (Anm. 29), 154–161. 57  „Gewalthaber“ Georg Wilhelm an Bürgermeister und Rat der Freiheit Wattenscheid, Düsseldorf 17.1.1614, GStA PK, I.HA GR Rep. 34 Nr. 3626 fol. 42–43’, Kopie; die Beschwerde der Lutheraner zu Wattenscheid erfolgte am 14.1.1614, ebd. fol. 35–35’, Kopie.

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am Niederrhein wies den Rat der märkischen Freiheit an dafür zu sorgen, daß sich die Katholiken „hinfuro dergleichen vnziemblichen freuelhafften attentirens, Molestirens, aufwiglens, Tumultirens, wie auch alles Gottes lesterlichen scheltens vnd schwehrens, gegen einen vnd den andern, bey vermeidung vnserer frenern vnmahleßigen straff, genzlich zuenthalten“; im weiteren sollte der Magistrat dafür sorgen, „daß Clagende Euangelische Gemeine, vnd Jhre Jederzeit erforderte Predicanten, bey dem freien Exercitio mehrg.r Religion, Jn Jhren heußern, vermueg vndt Jnhalts besagtes Furstlichen Patents ohne einige weitere molestation sicherlich vndt vnuerhindert gelassen, vnd sie darwieder im geringsten nicht beschweret werden“. Was den Kurprinzen besonders alarmieren mußte, war das Agitieren des katholischen Priesters Cosmas Schirmer, der die Bürgerschaft aufstachelte, „alle Euangelische Religionsverwandte zuermorden“; daß dabei in seinen Predigten „wieder seine Landes Furstliche Obrigkeit vieler schimpflichen aufruhrischen vndt vnleitlichen freuels vndt muthwillens mehr gewesen“, empörte die Landesregierung genauso wie der Umstand, daß der Priester von etlichen Ratsherren mehr oder weniger unverhüllte Unterstützung erfahren hatte. Angefangen hatte in Wattenscheid alles „mit vielen vnziemblichen Jniurien, Scheltwortten vnd hönlichen bedrewungen“. Wie sehr gerade die Bezeichnungen der verschiedenen Konfessionsangehörigen ein Stein des Anstoßes blieben, zeigte sich noch Jahrzehnte später. Im Jahr 1669 monierte die Landesobrigkeit die Verwendung despektierlicher Worte, so auch den Begriff „UnCatholisch“. Zwar versuchte sich die beschuldigte Geistlichkeit mit dem Hinweis zu rechtfertigen, daß man das Wort „allein ad melius exprimendum discretionum seu differentiam religionum“ gebraucht habe. Allerdings war diese Bezeichnung längst ein Kampfbegriff in einem Diskurs geworden, in dem für die eigene Konfession die Rechtgläubigkeit reserviert und den anderen Konfessionen das Odium des Ketzertums angehängt werden sollte58. Daß zudem meist die Reformierten und damit die herrschende Dynastie als „unkatholisch“ bezeichnet und beschimpft wurden, machte diesen Vorfall erst recht pikant – erklärt aber auch die harsche obrigkeitliche Reaktion. Es war ohnehin naheliegend, den Amtsträgern des reformierten Kurfürsten antikatholische und auch antilutherische Tendenzen zu unterstellen. Selbst wenn einiges dafür sprach, daß konfessionspolitische Maßnahmen im Kern den calvinistisch geprägten Vorstellungen des Landesherrn folgten, hat die Landesregierung entsprechende Verdächtigungen stets zurückgewiesen – so schon 1614 –, „als ob wir eine oder andere in 58  Zu dem Vorfall und der entsprechenden Einordnung Coenen, Katholische Kirche (Anm. 29), 157.



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diesen Landen befundene Religion und deren Exercitium zu drücken oder nicht zu gedulden […] gesinnet sein sollen“59. In ähnlichem Tenor war das Edikt gehalten, das Kurfürst Johann Sigismund im Jahr 1617 erließ. Es forderte von allen lutherischen Predigern, bevor sie ihre Pfarrstelle antraten, Zusagen bezüglich ihres Wohlverhaltens gegenüber Calvinisten ein. So sollten sie die reformierte Konfession nicht schmähen, vielmehr ihr mit Bescheidenheit und Toleranz begegnen, ja sogar, wenn es auskommt, auch in geistlichen Dingen kooperieren – dies alles gegründet auf der Annahme, daß „man vor Jahren von den differenten Namen der beiden Confessionen in diesen Landen nichts gewußt, sondern insgemein, wie sie auch sein, für Augsburgische Confessionsverwandte sich genennet und gehalten“60. Diese Sicht auf das Verhältnis zwischen Reformierten und Lutheranern war überaus optimistisch und ignorierte die mannigfaltigen Spannungen in den westlichen Territorien. Eine Erklärung für dieses fast begütigende Edikt mag in dem stillschweigenden Eingeständnis des Landesherrn liegen, daß eine schärfere Gangart gegen andere Konfessionen einfach nicht durchzuhalten war. Zunächst standen der Vorstellung, eine aktive Konfessionalisierungspolitik zu betreiben, die Zusicherungen entgegen, die die Hohenzollern zu Beginn der brandenburgischen Herrschaftsübernahme gemacht hatten: Gemäß den Reversalien von 1609 waren sie verpflichtet, die Konfessionen im Land anzuerkennen und den konfessionellen Status Quo zu bewahren. Vor allem aber verboten es die mangelnden Machtmittel dieser Landesherrschaft, daß die Hohenzollern in den ersten Jahrzehnten der brandenburgischen Herrschaft am Niederrhein tatsächlich unter NichtBeachtung der Religionsprivilegien eine eigenständige Konfessionalisierungspolitik verfolgten. Dabei waren die Gedanken an eine konsequentere Verfolgung religionspolitischer Ziele durchaus präsent. Bereits im Herbst 1612 hielt der Kurprinz gegenüber seinem Vater fest: „Weil ich dan niemals gehöret, das irgent ein Fürst im Heil: Reich ein ander, als dero von ihm erkanten vnd bekanten religionis exercitium in seinem hofflager, vndt gleichsamb in seinem angesicht, erdulde: kann obermelter Grewel61 eben so leicht als er eingeführet, wiederumb, durch E G befehlich abgeschaffet, vnd dieses besser gegen Gott verandtwortet werden“62.

59  Das Zitat Georg Wilhelms als Statthalter in Kleve bei Coenen, Katholische Kirche (Anm. 29), 93. 60  Kurbrandenburgisches Edikt, Kleve 6.7.1617, Keller, Gegenreformation (Anm. 27), 250–252, Nr. 180. 61  Gemeint waren katholische Praktiken, die Georg Wilhelm beobachtete. 62  Kurprinz Georg Wilhelm an Kurfürst Johann Sigismund, Wesel Oktober 1612 [Tagesdatum fehlt], GStA PK, I.HA GR Rep. 34 Nr. 5232 fol. 39–41, Ausf.

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Doch Konsequenzen hatten diese Äußerungen nicht. Wenig später mochten gerade auch die Reaktionen in der Mark Brandenburg auf den Übertritt des Herrscherhauses zum Calvinismus vor ähnlichen Schritten im Westen zurückschrecken lassen; mehr als die daraufhin vollzogene „kalte Reformation“ schien nicht vertretbar63. Die herrschende Dynastie war sich offenbar bewußt, daß eine aktivere Konfessionalisierungspolitik ihre gesamte Herrschaft destabilisiert hätte. Ein genauerer Blick auf das Land zeigte ohnehin, wie konfessionell zersplittert es war. Sinnfällig wurde dies etwa anhand der „Designatio der Graffschafft Marck etc.“ aus dem Jahr 1641, die eine Übersicht über die märkischen Städte, Freiheiten, Amthäuser, Herrlichkeiten sowie alle geistlichen Einrichtungen bot64. Es gab praktisch keinen Ort, an dem nicht mindestens zwei Konfessionen vertreten waren. So wurde Unna als „theils Evangelisch, theils Reformirter Religion, darinnen gelegenes Nonnen Kloister aber Paebstisch“ klassifiziert; auch Schwerte wurde als gemischt lutherisch und reformiert angesehen. Die Abtei in Werden war „Paebstisch“, doch die Bürger und im Amt Eingesessenen wurden als „mehrentheils reformiret“ eingeschätzt. Besonders kompliziert erschien Bochum, das in den 1620er Jahren infolge starken pfalz-neuburgischen Einflusses rekatholisiert wurde, „Jn Ao. 1634 aber wiederumb reformiret worden“; desungeachtet blieben die zu Bochum gehörigen Freiheiten Castrop und Wattenscheid „mehrentheils Evangelisch vndt Päbstisch“, während der dort ansässige Adel reformiert war. Diese Unübersichtlichkeit mochte die Scheu des Landesherrn, konfessionspolitisch aktiv zu werden, erst recht verstärken. Konflikte entstanden ohnehin; sie von obrigkeitlicher Seite noch zu schüren, konnte unkontrollierbare Folgen haben. Eine Folge davon war, daß gerade an dem Ort, der eigentlich am vorzüglichsten die landesherrliche Prärogative ins Spiel zu bringen vermochte, das Thema Religion und Konfession kaum von Gewicht war: dem Landtag. Bezeichnenderweise waren es Finanzierungsfragen, die im Zuge des Bielefelder Religionsvergleichs vom April 1672 aufgekommen waren und die auch umgehend die Stände mobilisierten65. Denn hier hatte der Kurfürst Zusagen gemacht, die zum einen eine steuerliche Entlastung der katholischen Geistlichkeit und zum anderen finanzielle Aufwendungen für zugesagte katholische Gotteshäuser vorsahen – beides sollte auf Landtagen umgesetzt werden, löste aber heftige Reaktionen aus. Als auf einem klevischen Landtag im Oktober 1673 63  Der

Begriff bei Croon, Die kurmärkischen Landstände (Anm. 36), 190. der Graffschafft Marck“, undatiert (ca. 1641/42), GStA PK, I. HA GR Rep. 34 Nr. 132 b (1641–1642) unfol., unter Nr. 8. 65  Siehe Martin Lackner, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten (Untersuchungen zur Kirchengeschichte, 8), Witten 1973, 212 f. 64  „Designatio



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die landesherrliche Seite mit Blick auf die „newlich gemachten reli­ gionstractaten“ darauf hinwies, „daß den römisch=Catholischen Geist­ lichen wegen ihnen abgehender beneficien 5.000 reichsthr außgekehret werden solten, und daß die Stände die pensiones darab biß zu ablegung des capitalis über sich nehmen mögten, antworteten die Stände, daß sie ohne die Marckische hierinnen nichts zu thun vermögten“66. Sie enthielten sich also jeglicher konfessionell gefärbter Argumentation, sondern verfielen auf die klassisch eingeübten Mechanismen ständischer Obstruktion, indem sie eine Beschlußfassung ohne Absprache mit den märkischen Ständen als formal nicht korrekt deklarierten. Einerseits brüskierten sie auf diese Weise den Kurfürsten, der beim Religionsvergleich anderslautende Zusagen gemacht hatte, andererseits wußten sie sich in konfessioneller Hinsicht stillschweigend einig mit ihm. Die Umsetzung der Bielefelder Beschlüsse für die katholische Kirche sollte noch Jahre dauern und insbesondere auf Landtagen immer wieder ausgebremst werden67. Doch dies stellte eben einen „der ganz wenigen Fälle [dar], wo auf den Landtagen die Verschiedenheit im Bekenntnis unter den Ständen von Cleve-Mark ernstlich hervortritt“68. Tatsächlich gab es schon weitere Beispiele für konfessionelle Konflikte, die sich auch in den Landtagsverhandlungen niederschlugen. Dies war der Fall im überwiegend katholisch geprägten Kalkar, dessen katholischer Magistrat am 22. Oktober 1653 einen Vergleich mit der dort angesiedelten reformierten Gemeinde abschloß  – dies durchaus unter gelindem Druck der kurfürstlichen Regierung69. Zwei Jahre später gab es eine Supplikation der märkischen Stände zugunsten der Lutherischen in der märkischen Freiheit Wattenscheid. Wenn daraufhin aber die kurfürstliche Regierung den Statthalter Johann Moritz auf „vielfältige hochststrafbare insolentien“ hinwies, die die Augsburger Konfessionsverwandten ihrerseits den Reformierten gegenüber verübt hatten, zeigte sich doch, wie sehr die Situation bereits eskaliert war. Entsprechend zog sich der Streit in Wattenscheid noch einige Zeit hin70. Einen anderen Kontext hatte der 66  So die Darstellung im Landtagsprotokoll zum Klever Landtag 9.–24.10.1673, Stadtarchiv Rees, Landtagsakten (1670/1673), pag. 191–198, hier pag. 197. 67  Zur dilatorischen Politik gegenüber den Katholiken siehe Weber, Konfessionelle Konflikte (Anm. 29), 150–152. 68  So Hötzsch, Stände und Verwaltung (Anm. 2), 528. 69  Vergleich zwischen dem Magistrat von Kalkar und den Reformierten dort, 22.10.1653, LA NRW, Abt. Westfalen, Kleve-Mark Landstände Nr. 29 R fol. 248– 250’ Kopie. 70  Vgl. die kurfürstliche Regierung an den Statthalter Johann Moritz (der derzeit in Den Haag weilte), Cleve 20.3.1655, LA NRW, Abt. Westfalen, Kleve-Mark Landstände Nr. 32a R fol. 102–103, Konzept.

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Bericht von „der Catholischen zu Rees Tyranney wieder die Evangeli­ schen“71. Er stammt aus der zweiten Julihälfte 1673, als sich gerade erst wieder in Kleve eine kurfürstliche Regierung zusammenfand, nachdem die meisten Räte im Zuge der französischen Okkupation des Nieder­ rheins nach Dordrecht und Den Haag geflüchtet waren72. Es ist nicht ganz eindeutig nachzuweisen, aber naheliegend, daß das Aufbegehren der Katholiken in Rees auch durch die Anwesenheit der Truppen des ­„allerkatholischen Königs“ befördert worden war73. Genau diese militärische Ausnahmesituation, die bereits die kurfürstliche Regierung lahmgelegt hatte, mag auch verhindert haben, daß dieser konfessionelle Konflikt nicht direkt als Gravamen auf einem klevischen Landtag vorgebracht worden ist. Durchaus auf der Landtagsebene verhandelt wurde aber der Fall des Johann Jakob Fabricius74. Seit Ende 1644 als lutherischer Pfarrer im märkischen Schwelm tätig, war er die Hauptperson des sog. Schwelmer Kirchenstreits. Aufgrund der Publikation radikaler Schriften, in denen er weitergehende kirchliche Reformen propagierte, wurde Fabricius zunächst des Amts enthoben, sollte aber aufgrund einer landesherrlichen Intervention, ausgelöst durch Gutachten vor allem reformierter Theologen, reinstalliert werden – schon hier waren die konfessionell verworfenen Fronten unübersehbar. An dieser Stelle nahmen sich die Landstände des Falls an und opponierten gegen die Wiedereinsetzung des Pfarrers in sein Amt: Das Thema wurde auf dem Landtag von 1653 verhandelt und im Sinne der Landstände entschieden75. Allerdings hatte sich der Charakter des Konflikts vollkommen gewandelt. War es anfangs ein theologischer Zwist gewesen, ausgelöst durch umstrittene Schriften, so schalteten sich die Stände aus rein politischen Gründen ein. Sie sahen in der kurfürstlichen Verfügung einen Eingriff in das Pfarrwahlrecht und erkannten in der Schwelmer Angelegenheit einen gefährlichen Präzedenzfall, der dem Landesherrn weitreichende Eingriffsmöglichkeiten in die

71  Bericht für die Zeit vom 14.7. bis 26.7.1673, GStA PK, I.  HA GR Rep. 34 Nr. 276 b, fol. 562–580. 72  Hötzsch, Stände und Verwaltung (Anm. 2), 509 f. 73  Hinweise dazu habe ich in den Reeser Landtagsakten allerdings nicht finden können. Vgl. aber Hötzsch, Stände und Verwaltung (Anm. 2), 471, bezüglich der Freude bei den Katholischen anläßlich der französischen Besatzung. 74  Grundsätzlich dazu Harm Klueting, Reformatio vitae. Johann Jakob Fabri­ cius (1618/20–1673). Ein Beitrag zur Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung im Luthertum des 17. Jahrhunderts (Historia profana et ecclesiastica, 9), Münster 2003, v. a. 159–182. 75  So der Landtagsrezeß, Kleve 14.10.1653, Urkunden und Actenstücke, Bd. 5 (Anm. 2), 689, Nr. 4.



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Besetzung von Pfarrstellen ermöglichte. Der Schwelmer Kirchenstreit war also im Kern ein konfessioneller Konflikt, der aber als Konflikt um widerstreitende Herrschaftsansprüche zwischen Landesherrn und Ständen ausgetragen wurde76. Bei all diesen Beispielen fällt auf, daß konfessionell bestimmte Themen beinahe ausschließlich seitens der Landstände vorgebracht wurden; es waren also die ständischen Gravamina, nicht die Propositionen des Landesherrn, durch die die Religion die politische Bühne des Landtags erreichte. Dies erklärt zudem, warum es sich in vielen Fällen um lokale Vorfälle handelte, kaum einmal um generelle Angelegenheiten – was angesichts der konfessionellen Splitterlage aber auch nicht überraschen kann. Die landesherrliche Seite reagierte auf die ständischen Beschwerden und tat dies durchaus mit einer konfessionell geprägten Sichtweise, die also meist eine reformierte Prägung aufwies. Ihrerseits vermied es die kurfürstliche Regierung, konfessionelle Themen zum Thema des Landtags zu machen; proaktiv wurde sie, wie es den Anschein hat, in diesem Bereich gar nicht. Anstelle sich in konfessionellen Streitigkeiten zu verkämpfen, forcierte der Kurfürst viel eher Fragen der Steuer- und Heeres­ aufbringung. Es war offenkundig, daß diese Themen für die landesherr­ liche Agenda zentral waren. Die Konfessionsfrage hingegen wurde als nicht so drängend empfunden oder auch nicht als so erfolgversprechend eingeschätzt, daß der Kurfürst damit von sich aus glaubte Staat machen zu können. Wie sehr die kurfürstliche Seite sich bei einer konfessionspolitischen Deutung von innerterritorialen Konflikten zurückhielt, zeigt das Beispiel Dietrich Karls von Wilich zu Winnenthal, der um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu den Wortführern der Landstände in Kleve zählte. Seine ­katholische Konfession hielt Kurfürst Friedrich Wilhelm nicht davon ab, Wilich Anfang 1647 zum klevischen Justizrat zu ernennen77. In den frühen Jahren sah es durchaus so aus, als ob der Kurfürst ihn bewußt in seine Klientel einbinden wollte. Umso enttäuschender mußte es für Friedrich Wilhelm daher sein, Wilich immer stärker in die Ständeopposition abgleiten zu sehen, die dann in der ständischen Deputation zum Regensburger Reichstag 1653/54 gipfelte. Bekanntermaßen war dies einer der wenigen Konstellationen, in denen der Kurfürst gegen ständische Vertreter mit nackter Gewalt vorging: Konnte sich mit Konrad Philipp von Romberg der zweite Kopf der landständischen Delegierten noch retten, wurde Wilich von Soldaten gefangen gesetzt und nach Spandau ge-

76  Siehe 77  Siehe

Klueting, Reformatio vitae (Anm. 74), 168 f. Urkunden und Actenstücke, Bd. 5 (Anm. 2), 309 mit Anm. 110.

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bracht78. Im Zuge des hier durchgeführten Prozesses, in dem dem Beschuldigten Hochverrat vorgeworfen wurde, kamen tatsächlich auch konfessionelle Aspekte zur Sprache. Im Verhör wurde Wilich gefragt, ob er vor dem Reichstag nicht auch „in puncto Religionis, nahmens der gesambten Stände, clagen und Memorialia übergeben“ – was er „absolute“ von sich wies79. Und im weiteren Verlauf kam die Sprache auf Wilichs Kontakte zum Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm, ob er nicht vielmehr dem Neuburger „als einem seiner Römischen Catholischen Religion zugethanen fürsten, mehr als Sr:Churf. dhr. affectioniret“ seie und deswegen auch viel lieber ihn als den Kurfürsten von Brandenburg als Herrscher dieser Lande sähe. Auch diese Anschuldigung wies Wilich mit aller Entschiedenheit zurück, fügte noch an, daß er die Herrschaft sehr gerne dem Kurfürsten gönne, „wan S.Churf. dh. vermöge der reversall, wie biß dato löblich geschehen, seine religion toleriret vnd frey laßet“. Die Anklagestrategie war also bemüht, aus der katholischen Konfession des Angeklagten eine konfessionell bedingte mangelnde Loyalität gegenüber dem Landesfürsten abzuleiten. Bemerkenswert war aber weniger Wilichs Gewandtheit, diesen Vorwurf zu parieren, als vielmehr der Umstand, daß die beiden genannten Punkte die einzigen Passagen von insgesamt 272 „Jnquisitionales“ waren, in denen überhaupt das Thema Religion und Konfession auftauchte (Nr. 145 und 266). So scharf die Befragung Wilichs auch sein mochte, legten die brandenburgischen Justizbeamten den Fokus eindeutig nicht auf eine konfessionell begründete Anklage. Ohnehin zielte die Untersuchung auf einen ganz anderen Verdacht: Daß nämlich Wilichs Aktionen auf eine „vertreibung Sr. Churf. dht. auß diesen landen“ abzielten. Auch der Vorwurf „bey Jhr.Kay. Maytt. in puncto religionis“ vorgesprochen zu haben, stand also im Kontext der Sequestrationsfrage80. Und damit hatte aus landesherr­ licher Sicht das potentiell konfessionell determinierte Handeln Wilichs eher eine auswärtige denn eine innerterritoriale Stoßrichtung. 78  Zum Kontext Ernst Opgenoorth, Politische Prozesse unter Kurfürst Friedrich Wilhelm. Eine Studie über Macht und Recht im Absolutismus, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte NF 18 (2008), 135–152, bes. 140–142. 79  Die folgenden Zitate entstammen den „272 Jnquisitionales Contra Dieterich Carln von Wylich zu Winnenthal. So der Advocatus Fisci übergeben am 7. Octob. Anno 1654“, LA NRW Abt. Westfalen, K-M Landstände Nr. 31c, beglaubigte Kop. unfol. , sowie der „Befragung Des von Winnenthals, über die Jnquisitionales vnndt deßelben Darauf erfolgen Responsiones“, 18.–20.10.1654, ebd. beglaubigte Kop., unfol. 80  So die Zusammenfassung einer „Extractio articulorum inquisitionalium deren der inhafftierter Dieterich Carln von Wylich, entweder durch seine bekentnüß oder agnoscirte handtschreiben oder andere unterzeichnete schrifften conuincirt und überzeugt“, o. O. o.D. [ca. Dez. 1654], ebd., K-M Landstände Nr. 31e unfol.



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Ungeachtet dieser eher zurückhaltenden oder gebremst wirkenden Religionspolitik des Kurfürsten gab es doch konfessionspolitische Aktionen, die ganz im Sinne des calvinistischen Landesherrn waren. Für ihn war es grundsätzlich nicht schlimm, wenn das reformierte Bekenntnis in Kleve und Mark auf Kosten der Katholiken prosperierte. So war die Entwicklung in Emmerich, wo die Reformierten ab 1614 allmählich die Überhand gewannen. Sie besetzten zur Mitte des 17. Jahrhunderts die wichtigsten städtischen Ämter81. Ebenso gingen vormals katholische Kirchen und Schulen in protestantische Hände über82. Ähnlich war die Entwicklung in Sonsbeck: Hier waren die Reformierten deutlich in der Minderheit, doch gingen von den fünf Vikariaten im Laufe des 17. Jahrhunderts vier an reformierte Prediger und Schullehrer83. Im besonderen Fokus der Verfolgung standen naturgemäß die Geistlichen84. Ein extremes Beispiel war das Schicksal des katholischen Priesters Jan Otten. Er wurde im Herbst 1630 in Emmerich hingerichtet. Dies geschah zumindest vordergründig nicht aus konfessionellem Eifer, vielmehr wurde ihm Verrat zur Last gelegt85. Schließlich richtete sich der Konfessionseifer auch gegen das Schulwesen.86 Von großer Bedeutung war vor allem die von Jesuiten geleitete Schule in Emmerich, die sogar regen Zulauf auch von Niederländern erhielt87. Wenig überraschend war vor dem Hintergrund die Ausweisung der Jesuiten im September 162988.

81  Everhard Wassenberg, Embrica, sive urbis Embricensis descriptio, Kleve 1667, 261. 82  Vgl. Andreas Dederich, Annalen der Stadt Emmerich, Wesel 1867, 499, sowie Heiner Faulenbach, Aus der Geschichte der evangelischen Gemeinde zu Emmerich. 1574–1974, Emmerich 1974, 45–48. 83  Weber, Konfessionelle Konflikte (Anm. 29), 122 f. und 134 f. 84  Coenen, Katholische Kirche (Anm. 29), 161–164. 85  Vgl. Weseken zum 25.10.1630, Klaus Bambauer/Hermann Kleinholz (Bearb.), Geusen und Spanier am Niederrhein. Die Ereignisse der Jahre 1586–1632 nach den zeitgenössischen Chroniken der Weseler Bürger Arnold von Anrath und Heinrich von Weseken (Studien und Quellen zur Geschichte der Stadt Wesel, 14), Wesel 1992, 389. 86  Allgemein dazu Stefan Ehrenpreis, Catholic Minorities and School Educa­ tion: The Cases of Brandenburg and the Dutch Republic, 1600–1750, in: Eszter Andor, István György Tóth (Hrsg.), Frontiers of Faith. Religious Exchange and the Constitution of Religious Identities 1400–1750, Budapest 2001, 177–193. 87  Hier griff die generalstaatische Besatzungsmacht ein, verbot den niederländischen Schülern den Schulbesuch und ließ sie auch gewaltsam aus der Schule schaffen, vgl. Dederich, Annalen (Anm. 82), 441 f. Zur Schule in Emmerich auch Coenen, Katholische Kirche (Anm. 29), 182 f. 88  Weseken zum 11.9.1629, Bambauer/Kleinholz, Geusen und Spanier (Anm. 85), 381.

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Alle diese Vorfälle atmeten den Konfessionalisierungseifer, den man durchweg jeder Landesherrschaft, eben auch einer reformiert geprägten, im frühen 17. Jahrhundert zuschreiben kann. Tatsächlich waren für diese Maßnahmen aber nicht die kurfürstliche Regierung, sondern die generalstaatischen Besatzer verantwortlich. Sie unterhielten besonders in den klevischen Orten eine starke militärische Präsenz; Kleve, Emmerich und Rees waren die bedeutendsten, teilweise gab es auch in weiteren Orten Garnisonen, so etwa in Büderich und Orsoy89. Ihre Anwesenheit war vielfach die Voraussetzung dafür, daß es überhaupt zu diesen Übergriffen auf Einrichtungen und Angehörige anderer Konfessionen kam90. In nicht wenigen Fällen waren die Soldaten aber auch direkt beteiligt, teilweise wohl auch die treibende Kraft91. Das prominenteste Beispiel für den konfessionellen Umschlag von einer prokatholischen zu einer proreformierten Religionspolitik stellte Wesel dar, dessen gegenreformatorische Phase durch die generalstaatische Eroberung im Jahr 1629 ein abruptes Ende fand92. Offiziell konnte sich der Kurfürst von diesen Aktionen distanzieren und bei Beschwerden die Verantwortlichkeit nach Den Haag weiterleiten; nur konsequent war es daher, daß sich Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm im Jahr 1634 angesichts der Bedrückungen der Katholiken in Wesel gleich an die Generalstaaten wandte93. Im Kern aber war die antikatholische Religionspolitik der generalstaatischen Besatzer im Sinn des Kurfürsten. Dabei zeigte sich ein Mechanismus, der überhaupt die Kooperation zwischen den Generalstaaten und den Hohenzollern als Landesherrn in Kle89  Vgl. dazu die Generalstaaten an die Gouverneure von Schenckenschantz, Emmerich, Rees, Wesel, Rheinberg und Orsoy am 5.10.1637, GStA PK, I. HA GR Rep. 34 Nr. 245 unfol., Beilage von Norprath an Kurfürst Friedrich Wilhelm am 13.6.1643; Instruktion für die Regierungsräte Bellinghoven und Motzfeld, Cleve 6.9.1646, GStA PK, I. HA GR Rep. 34 Nr. 133 I, unfol. Ausf. 90  Vgl. das Beispiel bei Coenen, Katholische Kirche (Anm. 29), 180 Anm. 72. 91  Siehe dazu aus katholischer Perspektive Coenen, Katholische Kirche (Anm. 29), 169 f.  – Wie sehr generalstaatische Truppen nicht nur Kleve, sondern auch in Berg gegen katholische Geistliche vorgingen, zeigen einige Beispiele bei Stefan Ehrenpreis, „Wir sind mit blutigen Köpfen davongelaufen …“. Lokale Konfessionskonflikte im Herzogtum Berg 1550–1700, Bochum 1993, 146–149. 92  Jutta Prieur, Wesels große Zeit – Das Jahrhundert in den Vereinigten Herzogtümern, in: Dies. (Hrsg.), Geschichte der Stadt Wesel, Bd. 1, Düsseldorf 1991, 166– 212, hier 208 f. 93  Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm an Johann van der Veecken, Düsseldorf 29.4.1634, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (im Folgenden: Bay HStA), Kasten blau 73/7 unfol. Reinschrift. – Veecken fungierte als Agent in Den Haag, siehe Michael Kaiser, Nachrichten aus Den Haag. Johann van der Veecken als kurkölnischer Agent zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 217 (2014), 63–147, bes. 84.



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ve und Mark kennzeichnete: Mal mochte es opportun erscheinen, wenn das in den klevischen Städten einlogierte Militär als generalstaatisch galt; andernfalls  – etwa falls der Status der Neutralität bedroht war  – firmierten diese Söldner durchaus als brandenburgisch94. In den oben skizzierten Fällen besorgte nun die Besatzungsmacht konfessionspolitische Maßnahmen zumindest im Sinne des Kurfürsten, wenn nicht zumindest stillschweigend für ihn, ohne daß dieser dafür Verantwortung übernehmen mußte. Der Preis für diese Konstruktion war allerdings hoch. Denn auf diese Weise wurde die Schwäche der brandenburgischen Landesherrschaft evident, so vor der Reichsöffentlichkeit95, vor allem aber auch vor der eigenen Untertanenschaft. Gerade das Beispiel Emmerich ist hier bezeichnend, denn hier gab es nicht nur eine starke generalstaatische Garnison, sondern hier befand sich auch zwischen 1621/22 und 1643 der Sitz der kurfürstlichen Regierung. Daß konfessionspolitische Maßnahmen von Besatzern initiiert wurden und damit die eigentliche Landesherrschaft dieses obrigkeitliche Recht preiszugeben schien, war ein höchst problematisches Zeichen. Eine Stabilisierung der Herrschaft, die ohnehin auf tönernen Füßen stand, konnte so nicht wirklich gelingen96. IV. Religionspolitik und Konfessionalisierung nach außen: Aufrechterhaltung dynastischer Ansprüche Im Sommer 1611 wandte sich der Kurkölner Koadjutor Ferdinand, der schon in wenigen Monaten als Erzbischof und Kurfürst die Geschicke Kurkölns für die nächsten vier Jahrzehnte nach strikten gegenreformatorischen Prinzipien leiten sollte, an die brandenburgischen und pfalzneuburgischen Räte in Kleve, um sich über Eingriffe in die kirchlichen

94  Siehe dazu Michael Kaiser, Generalstaatische Söldner und der Dreißigjährige Krieg. Eine übersehene Kriegspartei im Licht rheinischer Befunde, in: Andreas Rutz (Hrsg.), Krieg und Kriegserfahrung im Westen des Reiches 1568–1714 (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 20), Göttingen 2016, 65–100, bes. 67–69. 95  So verwies Kurfürst Georg Wilhelm 1630 gegenüber den katholischen Kurfürsten wegen der Gravamina des katholischen Klerus implizit auf die Generalstaaten, siehe Coenen, Katholische Kirche (Anm. 29), 111. 96  Zu diesem Aspekt generell Michael Kaiser, Die vereinbarte Okkupation. Generalstaatische Besatzungen in brandenburgischen Festungen am Niederrhein, in: Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert, hrsg. von Markus Meumann und Jörg Rogge (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 3), Münster 2006, 271–314.

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Strukturen im klevischen Rees zu beschweren97. Konkret lautete der ­Vorwurf, daß in dieser Stadt „gegen die daselbsten von Vhralten zeitten hero  […] hergebrachte, wahre, Catholische Apostolische Religion, eine ­ wiederwertige newe Lehr“ eingeführt worden sei, indem der Pastor, der „so dem herkommen gemeß, von der Abtißin zue St. Vrsulae in Cölln dahin verordnet gewesen“, durch einen Lutheraner ersetzt worden sei. Entsprechend forderte Ferdinand, daß die in Rees, aber auch andernorts „vorgenombene vngebuerliche verneurung, mit allem ernst abgeschafft, die geistlichenn bey ihrem Altenn Exercitio vnndt herbringen, wie nit weniger die burger, Vnterthanen, vnndt eingeseßene der ort bey Jrer Religion […] vngeschreckt vnndt vngeirrt gelaßen“. Und generell schloß der kurkölnische Koadjutor mit der Erwartung, daß auch im Weiteren „keine anndere alß die obgemelte offentliche herbracht Alte Religion einngefuhrt, aufgetrungen, oder darzue einige anleittung gegeben oder verstattet werden moege“. Die kurkölnische Initiative war unbestreitbar von dem Willen getragen, die katholische Konfession in Rees „vnndt anderswo im Herzog­ thumb Cleue vnndt Graueschaft Margkh“ zu schützen. Gleichzeitig argumentierte dieses Schreiben mit verbrieften Rechten, bei denen es nicht nur um das Patronats- und Präsentationsrecht von St. Ursula in Köln in Rees ging, sondern um die generelle Zuständigkeit des Erzstifts für die geistliche Jurisdiktion in den besagten Territorien insgesamt. Hinter dem konfessionellen Zwist stand also ein handfester Konflikt um Herrschaftsrechte, die Kurköln in den niederrheinischen Gebieten reklamierte. Da 1611 Brandenburg und Pfalz-Neuburg tatsächlich eine gemeinsame Regierung der Vereinigten Herzogtümer zu praktizieren versuchten, wandte sich das kurkölnische Schreiben korrekterweise an beide Fürsten. Sinnfällig wurde damit auch, daß die Possedierenden mit den erstrebten Territorien auch all die Konflikte ererbt hatten, die bereits das Jülicher Herzoghaus mit dem Erzstift ausgefochten hatte98. Während Pfalz-Neuburg bereits im Jahr 1621 einen Kompromiß mit Kurköln finden konnte, setzte sich der Konflikt zwischen Kurköln und Brandenburg in den folgenden Jahrzehnten fort. Dabei blieb immer seine Doppelpoligkeit erkennbar: Einerseits ging es um das Verhältnis zwischen den Konfessionen, ihrer Bevor- und Benachteiligung und das daraus resultierende starke wechselseitige Mißtrauen, andererseits standen territorialrechtliche Kompetenzen auf dem Spiel, bei dem keiner der Beteiligten 97  Ferdinand, Coadjutor von Kurköln, an die kurbrandenburgischen und pfalzneuburgischen Räte zu Kleve, Brühl 28.7.1611, GStA PK, I. HA Rep. 34 Nr. 191, 1 (1611–1723), unfol. Kopie. 98  Dazu jetzt ausführlich Weber, Konfessionelle Konflikte (Anm. 29), 221–373.



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nachzugeben gewillt war99. Für Brandenburg blieb dabei die „fremde Judicatur“ stets inakzeptabel100. Wie sehr der brandenburgische Kurfürst, gerade angesichts seiner konsolidierten Machtposition und dem daraus resultierenden Souveränitätsanspruch, in der Mißachtung seiner Verordnungen einen Angriff auf seine landesherrliche Prärogative sah, veranschaulicht insbesondere das sog. Säckeedikt101: Alle, die hier zuwiderhandelten, sollten als „Rebellen“ angesehen, dementsprechend abgestraft und „auß dem Wege geräumet“ werden, nämlich mit der „steckung in den Säcken und werffung auff das Wasser“. Die Notorietät dieses Edikts verweist dabei vor allem auf die konfessionelle Anspannung, in der diese Maßnahme beschlossen wurde (und mit der zumindest die ältere Historiographie darauf reagierte). Tatsächlich bezog sich das Säckeedikt von 1661 auf eine entsprechende Verordnung aus dem Jahr 1508; Kurfürst Friedrich Wilhelm stellte sich also ganz in die Tradition der Jülicher Herzöge102. Mehr als der Konflikt mit Kurköln bestimmte aber das Verhältnis zu Pfalz-Neuburg die Konfessionalisierungspolitik des brandenburgischen Landesherrn. Daran konnte auch die Xantener Regelung nichts ändern, die sich von Anfang an als überaus brüchig erwies. Die beiden Possedierenden beäugten sich ohnehin voller Argwohn, wie der jeweils andere sich in der konfessionell komplexen Situation verhielt. Noch 1618 meinte der Geheime Rat Schwarzenberg an den brandenburgischen Hof vom Geschick des Pfalzgrafen berichten zu müssen, der zu Beginn seiner Herrschaft „alle welt seher caressirt vnd allen, die sich nur praesentirt, geweltige audientz gegeben, ohne vnderscheidt der religion“; erst später habe er neuburgisches Hofgesinde nachgeholt und zu Räten gemacht103 – ein deutliches Indiz für eine schleichende Konfessionalisierung. Dabei dachten die beiden beati possidentes, Brandenburg und PfalzNeuburg, ohnehin nicht daran, ihre Ansprüche auf das gesamte Erbe aufzugeben. Diese untermauerten sie, indem sie in die jeweiligen Territorien des Konkurrenten hineinregierten104. Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm adres99  Wie sehr dieser Konflikt auch die Geistlichkeit vor Ort betraf und damit das alltägliche Leben, läßt Coenen, Katholische Kirche (Anm. 29), 98–101, erkennen. 100  Ein frühes Beispiel ist das kurbrandenburgische Schreiben an Kurköln, Kleve 28.10./7.11.1615, in: Max Lehmann, Preußen und die katholische Kirche seit 1640 (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, 1), 1. Theil: Von 1640 bis 1740, Leipzig 1878, Nr. 2, 134 f. 101  Edikt vom 7.9.1661, Scotti, Sammlung (Anm. 3), Bd. I, 387–389, Nr. 269. 102  Siehe den Verweis bei Lackner, Kirchenpolitik (Anm. 65), 252. 103  Graf Adam zu Schwarzenberg an Kurfürstin Anna von Brandenburg, Kleve 3.4.1618 st.n., GStA PK, I.HA GR Rep. 34 Nr. 4629 fol. 6–12, Ausf. 104  Michael Kaiser, Zwischen zwei Herrschern. Die Landstände von KleveMark und Jülich-Berg und die Herrschaftsansprüche Brandenburgs und Pfalz-

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sierte also die Landstände von Kleve und Mark, korrespondierte mit ihnen und äußerte sich dabei über anliegende Landesangelegenheiten  – konkret ging es etwa um Steuer- und Organisationsfragen auf dem Landtag. Vielfach sollten diese Aktionen einfach nur den Herrschaftsanspruch dokumentieren, ohne daß seine Realisierung wirklich möglich schien. Aber auch die brandenburgische Seite war bemüht, nach Kräften mitzuhalten, und engagierte sich in vielen Punkten zugunsten der Jülicher und bergischen Stände. Neben all den anderen Themen spielte hier auch die Konfessionspolitik eine wichtige Rolle. Auch sie erwies sich als ein wirksames Mittel, um die Erbansprüche weiter aufrecht zu erhalten: Wer sich um die religiösen Angelegenheiten eines Territoriums kümmerte, mußte folgerichtig auch Herrschaftstitel an diesem Land haben. Deutlich wurde dies am Beispiel der Grafschaft Mark, als der ab 1621 wieder aufflammende spanisch-niederländische Konflikt zunächst die spanische Macht im Vorteil sah105. Generalstaatische Truppen mußten sich anfangs der 1620er Jahre weitgehend aus Mark zurückziehen, und spanisches Militär rückte nach. In diesem Gefolge wurde auch die brandenburgische Herrschaft brüchig. Wolfgang Wilhelm fühlte sich in dieser Phase machtpolitisch stark genug, um unter dem Schirm der spanischen Waffen in Mark die Verwaltung mit seinen Parteigängern zu besetzen106. Auch konfessionspolitisch wurde der pfalz-neuburgische Einfluß spürbar – besonders reformierte Prediger wurden vertrieben, die katholische Konfession erlebte eine starke Förderung. Der Provisionalvergleich von 1624 und erst recht der von 1629 atmete genau diese Machtkonstellation, derzufolge die brandenburgische Herrschaft weiter zurückgedrängt schien107. Doch schon zum Ende der 1620er Jahre restabilisierte sich die Neuburgs, in: Fürsten, Macht und Krieg. Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit, hrsg. von Sigrid Kleinbongartz (Schriftenreihe Stadtmuseum Düsseldorf), Düsseldorf 2014, 42–51. 105  Ralf-Peter Fuchs, Der 30jährige Krieg und die Grafschaft Mark, in: Jahrbuch des Vereins für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark 100 (2000), 103–138, bes. 110–119, und Michael Kaiser, Ein schwieriger Anfang. Die Hohenzollern und die Grafschaft Mark im 17. Jahrhundert, in: Preußen  – Aufbruch in den Westen. Geschichte und Erinnerung – die Grafschaft Mark zwischen 1609 und 2009, hrsg. von Eckard Trox und Ralf Meindl (Forschungen zur Geschichte Preußens im südlichen Westfalen, 8), Lüdenscheid 2009, 13–34, bes. 19 und 22. 106  Generell auch Stefan Ehrenpreis, Der Dreißigjährige Krieg als Krise der Landesherrschaft: Das Beispiel Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg, in: Ders. (Hrsg.), Der Dreißigjährige Krieg im Herzogtum Berg und in seinen Nachbarregionen (Bergische Forschungen, 28), Neustadt a.d.Aisch 2002, 66–101, zur Konfessionspolitik 95–100. 107  Moerner, Kurbrandenburgs Staatsverträge (Anm.  15), 86–92 und 97–101. Zum Kontext Lackner, Kirchenpolitik (Anm. 65), 204 f.; Ulrich Kober, Eine Karriere im Krieg. Graf Adam von Schwarzenberg und die kurbrandenburgische Po-



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Macht der Generalstaaten, und auch die Hohenzollernherrschaft in Kleve und Mark sollte davon profitieren. Vor allem ab den 1640er Jahren verbesserte sich die Lage für Brandenburg, hier vor allem im Zuge des Hessenkrieges. Die Möglichkeit für konfessionspolitische Maßnahmen hing also von den militärischen und allgemein machtpolitischen Konjunkturen ab. So bemühte sich der Kurfürst, über Kleve und Mark hinaus auf die Verhältnisse in den beiden anderen Territorien Einfluß zu nehmen. Allerdings geschah dies auch hier nicht nur aus eigenem Antrieb, ebenso erwarteten die protestantischen Vertreter in Kleve ein entsprechendes Engagement des Landesherrn, daß er sich auch für Glaubensgenossen in Jülich und Berg einsetzte108. Wie schwergängig die Unterstützung sein konnte, zeigt das Beispiel des reformierten Kirchenbaus im bergischen Ratingen. Nach verschiedenen Provisorien strebte die dortige Gemeinde seit den 1630er Jahren einen Kirchenbau an. Als das bis dahin in Gebrauch stehende Predigthaus 1668 dringende Reparaturen benötigte, wurde mit expliziter Billigung Kurfürst Friedrich Wilhelms in Kleve und Mark eine Kollekte „wegen erweiterung und reparation ihres [= der Ratinger; M.K.] zerfallenen Kirchen Hauses“ durchgeführt. Die Bauarbeiten stockten jedoch wegen einer fehlenden Baugenehmigung, die erst nach mehrfacher brandenburgischer Intervention erteilt wurde109. Vielfach folgten die konfessionspolitischen Maßnahmen sowohl auf pfalz-neuburgischer wie auf brandenburgischer Seite einem Vergeltungsprinzip. So wies Wolfgang Wilhelm schon 1634 darauf hin, daß Aktionen gegen die katholische Kirche in Wesel dem „jus talionis“ gefolgt seien110. Dies hatte sich auch 1661 nicht geändert, als Friedrich Wilhelm gegenüber dem Pfalzgrafen drohte, daß man bei weiterer Bedrückung der Protestanten im pfalz-neuburgischen Machtbereich ebenso in Kleve und Mark den katholischen Untertanen „alles dasjenige widerfahren lassen, was E. L. dero Orten denen Evangelischen zuzufügen gestatten … werden “111. litik von 1619 bis 1641 (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 24), Berlin 2004, 132–136 und 225 f. 108  So supplizierte die Synode in Kleve zugunsten der Glaubensbrüder mehrfach während der 1630er Jahre, G. Marseille, Studien zur kirchlichen Politik des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm von Neuburg, in: Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 13 (1898), 1–111, hier 78 f. 109  Wera Groß, Die Kirchen des ‚Bergischen Typs‘ als prägende Elemente der Kirchenlandschaft im Bergischen Land des 18. Jahrhunderts, in: Dietz/Ehrenpreis, Drei Konfessionen in einer Region (Anm. 55), 407–445, hier 409 f. 110  Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm an Johann van der Veecken, Düsseldorf 29.4.1634, Bay HStA, Kasten blau 73/7, unfol. Reinschrift. 111  Kurfürst Friedrich Wilhelm an den Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm, Kleve 22.2.1661, in: Lehmann, Katholische Kirche (Anm. 100), Nr. 45, 167 f.

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Jedoch erschöpfte sich die Konfessionspolitik am Niederrhein zwischen den beiden Possedierenden keineswegs in den Einzelaktionen in bestimmten Streitfällen vor Ort. Vielmehr rangen beide Fürsten um vertragliche Festlegungen. Sie waren Ausdruck der jeweiligen Kräfteverhältnisse am Niederrhein; die hohe Frequenz der verschiedenen Vergleiche und Verträge spiegelte dabei nicht nur die Offenheit der Situation im Erbfolgestreit, sondern auch die Verbissenheit, mit der die Kontrahenten in diesem Konflikt agierten. In erster Linie waren es stets Regelungen bezüglich des Jülicher Erbes, doch gerade die frühen Verträge haben immer auch die konfessionelle Situation im Blick gehabt. Von den Provisionalvergleichen im Jahr 1624 und 1629 war bereits die Rede. Angesichts des Mächteumschwungs zu Beginn des neuen Jahrzehnts wurde der Vergleich von 1624 kassiert112, es blieben daraufhin allein die Reversalien von 1609 als rechtliche Orientierungsmarken in Kraft. Neu ausgehandelt wurden die Verhältnisse in dem Provisionalvergleich von 1647, demzufolge eine Kommission zur Beilegung aller Religionsgravamina eingesetzt werden sollte; hinsichtlich des Kirchenbesitzes und der -einkünfte wurde das Jahr 1609 festgelegt. Die Regelung konnte man als Ausweis einer neu gewonnenen Stärke Brandenburgs interpretieren, doch gab es auch hier von Vertretern der protestantischen Konfession Unmutsäußerungen, die Friedrich Wilhelm ernst nahm113. Doch dieser Provisionalvergleich wurde bereits im kommenden Jahr durch die Regelungen des Westfälischen Friedens obsolet. Die Regelungen des Instrumentum Pacis Osnabrugense setzten nun das Jahr 1624 als Normaljahr fest, sprich als zeitliche Wasserscheide für den Besitzstand der einzelnen Konfessionskirchen114. Für Kurfürst Friedrich Wilhelm bedeutete dies einen Rückschlag, während der Pfalzgraf diese Bestimmungen sofort für sich zu akzeptieren bereit war. Allerdings sollte die Umsetzung dieser Regelung schwierig werden. Das galt für den Westfälischen Frieden generell, aber auch im Hinblick auf die konfessionellen Belange, und nicht nur am Niederrhein. Wie sehr auch in anderen Teilen des Reiches darum gerungen wurde, erlebten die kurbrandenburgischen Gesandten gleich auf dem ersten Reichstag nach dem Friedenssschluß, der 1653/54 in Regensburg stattfand. So beschwerte sich der Abgesandte der 112  Worauf

vor allem Weber, Konfessionelle Konflikte (Anm. 29), 83, hinweist. die auch in der Literatur unterschiedlichen Bewertungen siehe Lackner, Kirchenpolitik (Anm. 65), 205–207; Ehrenpreis, Der Dreißigjährige Krieg als Krise der Landesherrschaft (Anm. 106), 100; Weber, Konfessionelle Konflikte (Anm. 29), 83. 114  Ralf-Peter Fuchs, Ein „Medium zum Frieden“. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges (bibliothek altes Reich, 4), München 2010, 185–191. 113  Für



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oberschwäbischen Reichsstadt Ravensburg bei den Brandenburgern über die Katholischen in seiner Stadt: Sie würden das Kapuzinerkloster, das die Schweden zerstört hätten, „contra Jnstrumentum pacis“ wieder aufbauen115. Die Stadt Ravensburg erbat von Brandenburg Unterstützung im Kampf um den im Frieden verbürgten konfessionellen Status  – und wie die Gesandten in Regensburg dies auch zusagten, wollte die brandenburgische Politik auch in den Territorien Jülich und Berg darauf achten, protestantische Positionen zu wahren. Zu diesem Zeitpunkt hatte die brandenburgische Seite längst ihre eigenen Erfahrungen mit der Opposition gegen die Bestimmungen von 1648 gemacht. Bei Friedrich Wilhelm verquickte sich die Ablehnung von 1624 als Normaljahr mit der Aussicht, in der Frage des Jülicher Erbstreits neue Fakten schaffen zu können – dafür war der Kurfürst 1651 auch bereit, militärisch vorzugehen. Der lange Zeit in der Forschungsliteratur als „Kuhkrieg“ bezeichnete Konflikt – was den Charakter der Auseinandersetzung in keiner Weise angemessen widerspiegelt – wird jetzt treffenderweise als Normaljahrskrieg bezeichnet116. Militärisch war das Unternehmen ein Fehlschlag. Dem Kaiserhof bot sich dadurch unverhofft die Gelegenheit, sich mittels einer kaiserlichen Kommission als Bewahrer des Friedens ins Spiel zu bringen – Kurfürst Friedrich Wilhelm stand in der Reichsöffentlichkeit als politischer Hitzkopf, ja als Friedensbrecher da117. Sogar die Landstände protestierten mehrheitlich gegen diese Ak­ tion ihres Landesherrn und ließen sich nur zu gern von den an den Niederrhein entsandten kaiserlichen Kommissaren, dem kaiserlichen Feldmarschall Melchior von Hatzfeldt und dem ehemaligen kurtrierischen Kanzler Dr. Johann Anethanus, zu separaten Verhandlungen einladen118. Bemerkenswerterweise waren sich die Landstände – und hier waren Deputierte aller vier Territorien, also von Jülich, Kleve, Berg und Mark, zusammengekommen  – einig, daß die konfessionellen Streitigkeiten lediglich „die praetext dieses gegenwertigen kriegs gewesen“119. 115  So nach dem Diarium des Geheimen Rats Claus Ernst von Platen vom 5./15.8.1653, GStA PK, I. HA Rep. 10 Nr. 7 unfol. gebunden. 116  Ralf-Peter Fuchs, 1609, 1612 oder 1624? Der Normaljahrskrieg von 1651 in der Grafschaft Mark und die Rolle des Reichshofrates, in: Westfälische Forschungen 59 (2009), 297–311; ders., Medium zum Frieden (Anm. 114), 317–332. 117  Opgenoorth, Friedrich Wilhelm (Anm. 17), Bd. 1, 216–222. 118  Knapp dazu Michael Kaiser, Erweiterte Spielräume. Möglichkeiten landständischer Politik in Kleve und Mark im frühen 17. Jahrhundert, in: Der JülichKlevische Erbfolgestreit 1609 (Anm. 12), 83–110, hier 100. 119  Die Stände sahen hier vor allem die Möglichkeit, ihre Ständeunion zu erneuern; an der konfessionellen Thematik waren sie „nicht so viel alß die Printzen interessirt“, siehe dazu „Schrifftliche relation der Cleuischen herrn deputirten, welche am 3ten 8bris ao 1651 nacher Coln, zu anhörungh der Kayserlicher [!] pro-

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In den Verhandlungen konnte sich der Kurfürst allerdings behaupten, insofern er sich nach wie vor gegen das im Westfälischen Frieden vorgeschriebene Normaljahr 1624 wandte und stattdessen den konfessionellen Status Quo der Vorkriegszeit bewahrt wissen wollte. Letztlich wurde ein Kompromiß hergestellt, indem das Jahr 1651 als ein weiteres Normaljahr festgesetzt wurde120  – durchaus ein wichtiger Erfolg für Friedrich Wilhelm, gerade auch in konfessionspolitischer Hinsicht: Er hatte sich gegen den pfalz-neuburgischen Konkurrenten durchgesetzt und sich als Vorkämpfer für die evangelische Sache präsentieren können. Dies war also ein konfessionspolitisches Signal, das reichsweite Wirkung besaß, aber eben auch auf die eigenen Territorien, allen voran Kleve und Mark wirkte. Dabei darf nicht der Eindruck entstehen, daß Friedrich Wilhelm den Westfälischen Frieden in toto bekämpft habe. Den Kernpunkt seiner Kritik stellte tatsächlich das konfessionelle Anliegen dar, das sich mit der Frage nach dem Normaljahr verband. Mit den weiteren Regelungen konnte er sich mehr oder weniger arrangieren121. Dies zeigte durchaus die Regierungspraxis der folgenden Jahre, die sich selbstverständlich auf den Westfälischen Frieden bezog122. Die Konflikte um die konfessionellen Zuständigkeiten in den westlichen Territorien gingen jedoch auch nach 1648 und 1651 weiter123. Nach dem Normaljahrskrieg sollte es tatsächlich keine gewaltsamen Auseinandersetzungen mehr in diesen Fragen geben. Das bedeutete keineswegs, daß sich die Brisanz auf konfessionspolitischem Terrain verflüchtigt hatte. Gleichwohl hatte sich die Erkenntnis sowohl beim Kurfürsten als auch beim Pfalzgrafen durchgesetzt, daß ausschließlich Verhandlungen den Weg zu einer tragfähigen Lösung darstellten. Es war nicht überraschend, daß ein wichtiger Meilenstein die grundsätzliche ­Einigung der Possedierenden in der Erbfrage darstellte: Der Vertrag von Kleve 1666 entschärfte überhaupt die Thematik der politischen Machtfragen am Niederrhein. Ein Nebenrezeß zum Klever Erbvergleich brachte in der position abgeschicket“, Stadtarchiv Rees, Landtagsakten XXVIII (1651), pag. 203– 213, hier 212. 120  Fuchs, Medium zum Frieden (Anm. 114), 330 f. Klaus Jaitner, Die Konfessionspolitik des Pfalzgrafen Philipp Wilhelm von Neuburg in Jülich-Berg von 1647– 1679 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 107), Münster 1973, 101, spricht bereits vom „Quasinormaljahr“. 121  Zu dem Problemkreis Peter Baumgart, Kurbrandenburgs Kongreßdiplomatie und ihre Ergebnisse, in: Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, hrsg. von Heinz Duchhardt (Historische Zeitschrift, Beiheft 26), München 1998, 469–484. 122  Vgl. etwa das kurfürstliche Mandat, Kleve 3.10.1656, Scotti, Sammlung (Anm. 3), Bd. I, 323, Nr. 240. 123  Grundsätzlich Weber, Konfessionelle Konflikte (Anm. 29), 84–91.



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Konfessionsfrage jedoch noch keinen Durchbruch. Erst fünf Jahre später wurden die Verhandlungen dazu wieder aufgenommen und führten 1672 zum sogenannten Bielefelder Rezeß (oder auch Cöllner Rezeß)124. Bemerkenswert war damals übrigens, daß die gefundene Lösung sich abermals von vorigen Normaljahrskonzepten verabschiedete und den gegenwärtigen konfessionellen Status quo festschrieb  – was sich auch als eine Emanzipation von reichsrechtlichen Vorgaben deuten ließ125. Erst mit diesen Vereinbarungen vermochte es der Kurfürst von Brandenburg, ein Summepiskopat für seine Landesherrschaft in Kleve und Mark zu begründen, indem er nun die Kirchenhoheit für die Protestanten wie die Katholiken innehatte126. Dies war keineswegs der Endpunkt aller konfessionellen Streitigkeiten. In der praktischen Umsetzung gab es nach wie vor vielfache Herausforderungen, die immer wieder auch zu konfessionellen Übergriffen führten; in den konfessionellen Streitigkeiten läßt sich auch im Laufe des 18. Jahrhunderts immer noch eine nicht unerhebliche Brisanz erkennen127. Entscheidend war jedoch, daß die prinzipielle Zuständigkeit des Landesherrn für die Regelung in Konfessionsfragen unstrittig blieb – sowohl Pfalz-Neuburg wie Brandenburg waren sich einig, daß über die Religionspolitik die Souveränität und Legitimität der Landesherrschaft am Niederrhein nicht in Frage gestellt wurde. V. Fazit: Religionspolitik als Ausweis von landesherrlicher Macht Die brandenburgischen Herrscher im 17. Jahrhundert waren nach allem, was wir wissen, Menschen mit einer klar ausgeprägten Religiosität. Allerdings mußten sie sich gerade in konfessionspolitischen Belangen in Geduld üben. Die cura religionis war zwar ein wichtiger Bestandteil im Katalog herrscherlicher Tugenden, doch für eine kraftvolle und vor allem eigeninitiativ angelegte Konfessionspolitik waren die Brandenburger zu schwach; angesichts der prävalierenden Konflikte um Steuern und Truppenwerbungen spielte Religion eine nur untergeordnete Rolle128. Das sah nicht nur der Kurfürst so, sondern auch sein Gegenspieler, der Pfalzgraf von Neuburg. 124  Lackner,

Kirchenpolitik (Anm. 65), 211–214. den Umstand verweist zu Recht Weber, Konfessionelle Konflikte (Anm. 29), 89. Die kaiserliche Ratifikation erfolgte erst 1678. 126  So Lackner, Kirchenpolitik (Anm. 65), 251, mit Verweis auf Johannes Heckel. 127  Dazu grundlegend jetzt die Studie von Weber, Konfessionelle Konflikte (Anm. 29), bes. 144–220. 128  Seresse, Politische Normen (Anm. 1), 317 und 406 mit Anm. 7. 125  Auf

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Erinnert sei an der Stelle nur daran, daß von den beiden Köpfen der ständischen Opposition, die auch die landständische Delegation an den Regensburger Reichstag 1653/54 geführt haben, mit Wilich von Winnen­ thal ein Katholik, mit Konrad Philipp von Romberg aber auch ein Calvinist dabei war. Bei anderen wichtigen Amtsträgern war die konfessionelle Zugehörigkeit hingegen nicht bekannt oder nicht eindeutig: so bei dem Geheimen Rat und zeitweiligen Statthalter Johann von Norprath als auch bei dem klevischen Oberkommissar Johann Paul Ludwig129. Selbstverständlich besaß die konfessionelle Ausrichtung einen (hohen) Stellenwert, doch kann eine Versachlichung dieser Frage nicht übersehen werden – gerade auf Seiten des Fürsten130. Wie sehr eine bewußt distanzierte Haltung zur konfessionell geprägten Politik lange Jahre sehr erfolgreich praktiziert werden konnte, hat in den Zeiten des Kriegs ein vom Niederrhein stammender überzeugter Katholik in brandenburgischen Diensten vorgeführt: Schwarzenberg hat mit seiner „unkonfessionellen“ Haltung nicht nur einen entsprechenden Politikstil entwickelt, sondern damit auch den politischen Spielraum ­ Brandenburgs in schwierigen Jahren deutlich erweitert131. Daß er damit auf das Unverständnis und den Widerwillen der anderen, reformierten Geheimen Räte stieß, die die politischen Konfliktfelder sehr viel eher von einem konfessionell geprägten Winkel aus wahrnahmen, verweist auch darauf, daß Konfessionsfragen im 17. Jahrhundert keineswegs nur ein ­relevantes Thema für die Landesobrigkeit darstellten. Vielmehr zeigen die zahlreichen Konflikte auf Gemeinde- und regionaler Ebene, wie sehr es eben auch eine „konkurrierende Konfessionalisierung von unten“ gegeben hat132. Sie trat dabei gar nicht in eine bewußte Konkurrenz zur landesherrlichen Konfessionspolitik. Wohl aber haben lokale Aktivitäten die territorialen Obrigkeiten immer wieder in reli­ 129  Peter Bahl, Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 8), Köln/Weimar/Wien 2001, 549 und 506. 130  So die Einschätzung bei Bahl, Hof (Anm. 129), 198. 131  Diese Einschätzung bei Ulrich Kober, Der Favorit als „Factotum“: Graf Adam von Schwarzenberg als Oberkämmerer und Direktor des Geheimen Rates unter Kurfürst Georg Wilhelm von Brandenburg, in: Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Michael Kaiser und Andreas Pecar (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 32), Berlin 2003, 231–252, hier 237. 132  Dazu Stefan Ehrenpreis, Konfessionalisierung von unten. Konzeption und Thematik eines bergischen Modells?, in: Dietz/Ehrenpreis, Drei Konfessionen in einer Region (Anm. 55), 3–13, hier 8–10, mit Bezug auf das Herzogtum Berg, was aber auch auf die anderen Territorien der Vereinigten Herzogtümer übertragen werden kann.



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gionspolitischen Zugzwang gebracht oder  – je nach Perspektive  – ihnen die Möglichkeit für ein konfessionspolitisches Intervenieren eröffnet. Doch unabhängig davon, ob regionale Kräfte als Störfaktor oder als Katalysator der Religionspolitik wirkten, das Bild der konfessionellen Streitigkeiten in dieser Zeit bestimmte eben nicht allein der Landesherr. Sicher stand die Konfessionspolitik für das Haus Brandenburg nicht an erster Stelle. Gerade mit Blick auf die gefährdeten Herrschaftstitel im Westen kam der Stabilisierung der Landesherrschaft die unangefochtene Priorität auf der politischen Agenda zu. Dem stand nicht entgegen, daß die Wahrnehmung konfessionspolitischer Befugnisse die Position des Kurfürsten als Landesherrn festigte. Dies wurde besonders sinnfällig in den Fällen, in denen der reformierte Kurfürst sich auch als für Katholiken und Lutheraner zuständiger Landesherr immer mehr durchsetzen konnte. Der Summepiskopat war daher zunächst ein machtpolitischer Erfolg und zeitigte erst in weiterer Perspektive die religionspolitischen Dimensionen. Dabei bereitete die Konsolidierung der Landesherrschaft einer erst dann „nachgeholten Konfessionalisierung“ den Weg133. Doch einer schrankenlosen Konfessionalisierung war der Weg bereits verschlossen; längst hatten verschiedene Vereinbarungen und Verträge nicht nur die Spielräume eingeschränkt, sondern auch den Verhandlungsweg als einzigen Pfad zur Lösung konfessioneller Widrigkeiten etabliert. Am Ende läßt sich deswegen wieder auf Adolf Wüsthaus zurückkommen, der genau in diesem Sinne für Kurfürst Friedrich Wilhelm gegutachtet hat134. Sein Bericht über die konfessionellen Verhältnisse am Niederrhein aus dem Jahr 1683 schloß die langjährige Mitarbeit an den Religionsvergleichen und ihren Umsetzungsbestimmungen in den Jahren 1666, 1672/73 und 1682 ab und zog ein Resümee daraus135. Mit Blick auf die durchaus vorhandenen Rigoristen in der klevischen Regierung hielt er an der Idee eines konfessionellen Ausgleichs fest. Die Möglichkeit, „daß [..] Seine Churfürstl. Durchl. sich Jhrer macht, womit Sie des Herrn Pfalzgrafen zu Newburg Fürstl. Durchl. weit überlegen, zu best gelegener zeit gebrauchet“, wies er angesichts der Reversalien zurück. Und der Frage nach einer gewaltsamen Revision der konfessionellen Verhältnisse begegnete er mit der vertraglichen Festlegung von 1651, „daß wer von 133  Siehe dazu Ehrenpreis, Die Obrigkeit, die Konfessionen und die Täufer (Anm.  30), 140 f. 134  Otto Hollweg, Ein Bericht des klevischen Regierungsrats Adolf Wüsthaus an den Großen Kurfürsten über das Religions- und Kirchenwesen am Niederrhein (1683), in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 50 (1917), 81–114. 135  Hollweg, Bericht (Anm. 134), 82; auch Lackner, Kirchenpolitik (Anm. 65), 214.

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den Chur- und Fürsten die wapfen deßfals wieder gebrauchen würde, der des Erbrechts am diesen Landen ipso facto verlustig sein sollte“136. Wüsthaus war zweifelsohne der brandenburgische Experte für die Geschichte der Konfessionsstreitigkeiten in den westlichen Territorien. Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um das Jülicher Erbe wußte er sehr genau, daß es gar nicht so sehr um eine konsequente Konfessionalisierung ging. Vielmehr stand eine vertraglich fixierte und damit für alle drei Konfessionen verbindliche und damit ­ ­berechenbare Religionspolitik zum Zwecke der Herrschaftsstabilisierung im Vordergrund.

136  Hollweg,

Bericht (Anm. 134), 113 f.

Habsburgische Konfessionspolitik im bikonfessionellen Schlesien von ca. 1648 bis 1740 Von Peter Baumgart, München Religionspolitisch war Brandenburg-Preußen seit dem frühen 17. Jahrhundert, jedenfalls nach den Intentionen seiner regierenden Dynastie und Führungsschicht (kaum allerdings seiner Kirchenmänner und Theologen), ein Staatswesen auf dem Wege zur Mehrkonfessionalität und zu einer letztlich aus Staatsräson gespeisten Toleranz. Wenn dies zutrifft  – und die Ergebnisse unserer Tagung dürften es wohl bestätigen  –, dann lässt sich die geschichtliche Bedeutung dieser Entwicklung erst im Vergleich zur Religionspolitik gleichzeitiger deutscher Territorialstaaten oder europäischer Mächte voll ermessen. Erst ein derartiger Vergleich kann die Dimension oder „Nachhaltigkeit“ des Prozesses verdeutlichen, der nach den großen Gebietserwerbungen in West und Ost zu Beginn des 17. Jahrhunderts den noch ziemlich heterogen zusammengesetzten Kurstaat von der Monokonfessionalität zur tolerierten Mehrkonfessionalität führte. Dafür dürfte eine kontrastierende Untersuchung der parallelen Abläufe in der Habsburger Monarchie hilfreich sein, die aus der komplexen Ländermasse dieser „Union von Ständestaaten“ (J. Kunisch im Anschluss an O. Brunner) unter kaiserlicher Oberhoheit dasjenige Territorium auswählt, in dem die existierende Mehrkonfessionalität zum religionspolitischen Kernkonflikt wurde. Dies trifft vorrangig auf das Herzogtum Schlesien1 zu, in dem die habsburgische Landesherrschaft spätestens seit der Regierung Ferdinands II. eine strikte Monokonfessionalisierungspolitik betrieb und sich davon ungeachtet aller Verträge und ausländischen Interventionen nicht abbringen lassen wollte2. 1  Grundlegende Darstellung: Norbert Conrads, Schlesiens frühe Neuzeit (1469– 1740), in: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien, hrsg. v. dems., Sonderausgabe Berlin 2003 (zuerst 1994), 178–344; daneben: Geschichte Schlesiens, Bd. 2: Die Habsburger Zeit 1526–1740, hrsg .v. Ludwig Petry u. Josef Joachim Menzel, Sigmaringen 21988. 2  So besonders Arno Herzig, Die Monokonfessionalisierung Schlesiens als politisches Programm der Habsburger vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Religia i polityka. Kwestie wyznaniowe i konflikty polityczne w Europie w XVIII wieku, hrsg.

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Als Nebenland der Krone Böhmen unter den Habsburgern seit 1526 war Schlesien nicht allein aufgrund seiner Verfassungsstruktur auf allen Ebenen ein alteuropäisch-ständisch organisiertes und stark regionalisiertes Staatsgebilde3; es blieb zugleich ein seit der Reformationszeit konfessionell gespaltenes Territorium, ohne dass sich in dieser Periode die numerische Stärke der Religionspartien statistisch exakt bestimmen ließe4. Obschon der Alten Kirche die gesamte kirchliche Organisation des Oderlandes mit dem Breslauer Fürstbistum, den zahlreichen Klöstern, alten wie neuen Orden etc. zur Verfügung stand, vermochte sie dort nur sehr allmählich in nachtridentinischer Zeit mit Unterstützung der weltlichen Gewalt seit der Regierung Kaiser Rudolfs II. ihre alte Vormachtstellung zurückzugewinnen5. Jedoch konnten sich daneben die schlesischen Protestanten evangelisch-lutherischer Konfession, gedeckt durch die Anerkennung ihres Bekenntnisses im Augsburger Religionsfrieden von 1555 für das Reich, weiterhin nachhaltig behaupten, zumindest als v. Lucyna Harc u. Gabriela Was (Acta Universitatis Wratislavensis, 3148), Wroclaw 2009, 87–96; ders., Die katholische Monokonfessionalisierungspolitik im Alten Reich, in: Die Altranstädter Konvention von 1707. Beiträge zu ihrer Entstehungsgeschichte und zu ihrer Bedeutung für die konfessionelle Entwicklung in Schlesien, hrsg. von Hans-Wolfgang Bergerhausen (Beihefte zum Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte, 11), Würzburg 2009, 39–57. 3  Neben Conrads, Schlesien (Anm. 1), 191 ff., vgl. die ältere Monographie von ­Felix Rachfahl, Die Organisation der Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens vor dem Dreißigjährigen Krieg (Staats- u. Sozialwissenschaftliche Forschungen, 13/1), Leipzig 1894; auch: K. Orzechowski, Ogonoslaskie zgromadzenia stanowe, Warschau 1979; dazu: Norbert Conrads, Regionalismus und Zentralismus im schlesischen Ständestaat, in: Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Hugo Weczerka (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien, 16), Marburg 1995, 159–170; vgl. auch Joachim Bahlcke, Das Herzogtum Schlesien im politischen System der Böhmischen Krone, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 44 (1995), 27–55. 4  Zur Problematik der Konfessionsstatistik vgl. Peter Baumgart, Schlesien als eigenständige Provinz im altpreußischen Staat (1740–1806), in: Conrads, Schlesien (Anm. 1), 367; Konfessionsproblematik: Dieter Mempel, Der schlesische Protestantismus vor und nach 1740, in: Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich und Preußen, hrsg. v. Peter Baumgart unter Mitwirkung von Ulrich Schmilewski (Schlesische Forschungen, 4), Sigmaringen 1990, 287–306, mit weiterer Literatur. 5  Vgl. Franz Machilek, Schlesien, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, hrsg. v. Anton Schindling u. Walter Ziegler, Teil2: Der Nordosten (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 50), Münster 1990, 102–138, hier 125 ff.; auch Conrads, Schlesien (Anm. 1), 258 ff.; ferner: Schlesien und die Schlesier, hrsg. v. Joachim Bahlcke (Studienbuchreihe Ostdeutscher Kulturrat, 7), München 1996, darin ders., Geschichte, 51 ff.



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starke Minderheit, während der Calvinismus nur in intellektuellen Kreisen und einem kleinen Teil des Adels Fuß fasste. Noch einmal konnten die schlesischen Protestanten ihre Position festigen, als Kaiser Rudolf II. im Ringen um die Rettung seiner Herrschaft im „Bruderzwist des Hauses Habsburg“ Majestätsbriefe für die böhmischen und schlesischen Stände erlassen musste. Der Majestätsbrief für Schle­ sien (vom 20.  August 1609), den sein Bruder Matthias in ähnlicher Zwangslage sogar in erweiterter Fassung 1611 bestätigte, proklamierte ausdrücklich Glaubensfreiheit für die Anhänger beider Bekenntnisse überall im Lande, schloss allerdings die Reformierten und weitere christliche Randgruppen davon aus; er blieb also insofern hinter den späteren Erwartungen an eine umfassende Toleranz zurück, als deren Urheber die Geschichtsschreibung Kaiser Rudolf preisen wollte6. Indessen wendete sich seit dem Regierungsantritt Ferdinands II. und dem damit eng verquickten Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges das Blatt rasch zu Ungunsten der schlesischen Protestanten. Zwar hatte ein Generallandtag der böhmischen Stände unter Beteiligung der Schlesier in Prag am 19.  August 1619 König Ferdinand für abgesetzt erklärt und stattdessen eine Woche danach den calvinistischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zum böhmischen König gewählt, aber wenige Tage später wählten die deutschen Kurfürsten in Frankfurt eben diesen Ferdinand zum römisch-deutschen König und Kaiser, und zwar einstimmig am 27.  August 1619. Bekanntlich fiel die Entscheidung in dem Ringen zwischen dem monarchischen und dem ständischen Staatsmodell, das zugleich konfessionell vom Antagonismus zwischen Katholiken, Calvinisten und Lutheranern überlagert wurde, in der Schlacht am Weißen Berge bei Prag am 8. November 1620. Sie endete mit der totalen Niederlage für den pfälzischen Winterkönig und die ständisch-böhmische „Revolution“ gegen Ferdinand II. Dieser erhielt nun freie Hand, sein erklärtes Ziel einer umfassenden Rekatholisierung der Erblande und zumal Schlesiens zu realisieren7. Zunächst brach über die böhmischen und mährischen Stände ein Strafgericht enormen Ausmaßes herein mit zahlreichen Hinrichtungen und ausgedehnten Konfiskationen adliger Güter, die langfristig die dortigen Besitzverhältnisse einschneidend veränderten. Dagegen kamen die an der „Rebellion“ beteiligten schlesischen Stände sehr viel günstiger davon. Sie verdankten dies der Fürsprache des lutherischen Kurfürsten von Sachsen, der dafür sorgte, dass die schlesischen Protestanten unter 6  Conrads, 7  Ebd.,

Schlesien (Anm. 1), 269 ff.; Toleranzthese bei Ludwig Petry. 271 ff.; zusammenfassend Machilek, Schlesien (Anm. 5), 130 ff.

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das schützende Dach des Dresdner Akkords vom Februar 1621 gelangten. Ferdinand verlangte zwar von den Schlesiern bedingungslose Anerkennung als König von Böhmen und legte ihnen eine schwere Geldbuße von 300 000 fl. auf, aber er bestätigte überraschend ihre bisherigen Privile­ gien. Lediglich der hohenzollernsche Markgraf Johann Georg8 als einer der „Rädelsführer“ des böhmischen Aufstands verfiel der Ächtung. Sein oberschlesisches Territorium Jägerndorf übertrug der Kaiser dem Troppauer Fürsten Karl von Liechtenstein, einem seiner militanten Parteigänger. Ferdinand veranlassten wohl die unsichere Lage im Reich und ein drohender Einfall Bethlen Gabors aus Siebenbürgen in die Habsburger Monarchie zur schließlichen Anerkennung des Dresdner Akkords. Allerdings gab es nachweislich schon vorher Pläne zur rigorosen Gegen­ reformation im Oderland, wie zwei einschlägige Denkschriften für den Wiener Hof von 1621 und 1625 belegen9. Insgesamt erfasste die katholische Restauration die schlesischen Erbund Mediatfürstentümer nur schrittweise10: nach der militärischen Besetzung der überwiegend protestantisch gewordenen böhmischen Grafschaft Glatz (im Oktober 1622) die benachbarten Fürstentümer Troppau, Jägerndorf und das Bischofsland Neiße, die Deutschordensherrschaften, ferner die großen (vorher verpfändeten) Fürstentümer Oppeln und Ratibor, die Erzherzog Ferdinand übertragen wurden, dem später (1626) auch noch Schweidnitz und Jauer zufielen. Reichsfürsten gab es hinfort im böhmischen Kronland Schlesien nicht mehr. Die Herrschaft BeuthenOderberg vergab der Kaiser hingegen an einen Lutheraner, seinen unentbehrlichen Bankier Lazarus Henckel von Donnersmarck. Die unbedingte Förderung der katholischen Stände und loyalen Parteigänger Habsburgs im Rahmen der Landesverfassung, die ihre Untertanen rasch rekatholisierten, ferner die einseitige Ämtervergabe bei den Landesbehörden, in den Erbfürstentümern und Städten zugunsten der Katholiken schwächte zwar zunehmend die Stellung der Lutheraner im öffentlichen Leben. Aber noch konnten sie sich der Protektion des ­sächsischen Kurfürsten erfreuen, bis sie dann durch den Prager Sonderfrieden von 1635 nur noch in den von der Piastendynastie regierten Mediatfürstentümern, also in Liegnitz, Brieg und Wohlau, sowie im ­ Fürstentum Oels und in der Stadt Breslau das Privileg der freien Religionsausübung behielten; in den Erbfürstentümern, Standesherrschaf8  Über ihn Georg Jaeckel, Johann Georg II. Markgraf von Brandenburg, Herzog von Jägerndorf 1577–1624, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 52 (1973), 65–82; 53 (1974), 57–95. 9  Machilek, Schlesien (Anm. 5), 131. 10  Ebd. 132 f.; auch Conrads, Schlesien (Anm. 1), 274 ff.



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ten und Minderherrschaften hingegen waren sie auf die bloße Hausandacht beschränkt. Im Jahre 1626 wurde Schlesien erstmals zum Kriegsschauplatz im Dreißigjährigen Krieg, als Truppen Ernst von Manfelds im Oderland operierten, um eine Verbindung zu Bethlen Gabor herzustellen. Wallenstein konnte dies für den Kaiser mit seiner Armee verhindern, zwei Jahre später wurde er von Ferdinand II. mit dem Fürstentum Sagan und 1632 auch mit Glogau belohnt11. Der Kaiser schien auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung im Reich angekommen zu sein, wie der Erlass des Restitutionsedikts vom 6. März 1629 offenbar bestätigte. Nach seiner Interpretation des Augsburger Religionsfriedens von 1555 konnte er die Säkularisationen von Kirchengütern durch die Protestanten nach dem Normaljahr 1552 des Passauer Vertrages rückgängig machen und die Calvinisten vom Religionsfrieden ausschließen. Es zeigte sich alsbald, dass dieses Edikt im Reich kaum oder gar nicht durchsetzbar war; für Schlesien besaß es keine Bedeutung. Und mit dem Eingreifen Schwedens in den Krieg (Landung König Gustav Adolfs an der pommerschen Küste im Juli 1630) gewannen die schlesischen Protestanten einen neuen Fürsprecher. Schwedische Truppen operierten dann im Verlauf des Krieges ebenso wie Brandenburger wiederholt im Oderland12. Sehr zum Verdruss der Wiener Hofburg wurden bei den zähen Friedensgesprächen in Osnabrück und Münster Teile des Herzogtums als Entschädigungsobjekt für schwedische Satisfaktionsforderungen bzw. als Kompensation an Kurbrandenburg für den drohenden Verlust des pommerschen Erbes angeboten. In der entscheidenden Verhandlungsphase gelang es dem kaiserlichen Chefunterhändler Maximilian Graf von Trautmannsdorff dann aber, derartige Pläne zu vereiteln13. Ebenso gelang es dem Vertrauten Kaiser Ferdinands III. ( ab 1637), den künftigen Religionsstatus Schlesiens nach den Vorstellungen des Habsburgers zu regeln, obschon die militärische Lage für die kaiserliche Partei im Reich inzwischen ungünstiger geworden war. Trautmannsdorff setzte durch, die habsburgischen Erb- und Nebenländer von wesentlichen Bestimmungen 11  Ebd.,

133. Schlesien (Anm. 1), 277 f.; zum Kriegsverlauf und Restitutionsedikt vgl. etwa knapp Gerhard Schormann, Der Dreißigjährige Krieg (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1506), Göttingen 1985, 41 f., 43 f. 13  Schwedisches Maximalprogramm: ganz Habsburgisches Schlesien, kurbrandenburgische Präferenz: die Fürstentümer Glogau und Sagan: Peter Baumgart, Kurbrandenburgs Kongressdiplomatie und ihre Ergebnisse, in: Der Westfälische Friede, hrsg. v. Heinz Duchhardt (Historische Zeitschrift, Beiheft 20), München 1998, 469–484, hier: 477 f., 480; generell Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, Münster 61992 (zuerst 1959). 12  Conrads,

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des künftigen Reichsreligionsfriedens auszunehmen14: Demnach behielt der Kaiser dort weiterhin ein landesherrliches Reformationsrecht (ius reformandi), obschon ansonsten gemäß Artikel V IPO für den Religionsstatus im Reich der 1. Januar 1624 als Stichtag gelten sollte; die konfessionellen Besitzstände und etwaige Streitigkeiten darüber waren nach diesem Datum zu regeln. Demgegenüber blieb also der Kaiser als Landesherr in seinen Territorien berechtigt, Religionspolitik nach dem von ihm postulierten Grundsatz der „Glaubenseinigkeit“ durchzusetzen, er konnte den geschlossenen Konfessionsstaat in Schlesien und anderswo in seinem Herrschaftsbereich wiederherstellen15. Dieser Grundsatz diente allen Habsburgern seit Ferdinand II. als Devise ihrer Religionspolitik. Sie ließen sich dabei nicht allein von den Zielen frühmoderner Staatlichkeit leiten, etwa zum Zweck der staatlichen Kontrolle über die Kirche oder, eng damit verknüpft, zur „Sozialdisziplinierung“ der Untertanen (G. Oestreich). Vielmehr erstrebten sie „Glaubenseinigkeit“ auch im Dienste des eigenen wie der Seelenheils ihrer Landeskinder16. Zur Durchsetzung bedienten sie sich, abhängig von den Zeitumständen und politischen Konjunkturen, unterschiedlicher Mittel und Methoden, die von geschickter Überredung und vielfältiger Beeinflussung Andersgläubiger oder der Entfaltung großer kirchlicher Pracht bis hin zu massivem Druck und körperlichem Zwang reichen konnten. Immerhin erreichten die Schweden gegen kaiserlichen Widerstand bei den Verhandlungen in Osnabrück, dass den Anhängern der Augsburgischen Konfession in Schlesien gemäß einer Sonderregelung im Friedensinstrument (Artikel V, §§ 38–41) die öffentliche Religionsausübung (exercitium publicum) wenigstens in den piastisch regierten Mediatfürsten­ tümern konzediert wurde17 (also in Liegnitz, Brieg-Wohlau), ferner noch in Münsterberg-Oels sowie in der Stadt Breslau, allerdings nur ex gratia Caesarea et regia, während in den Immediatfürstentümern und Standes14  Vgl. Peter Baumgart, Schlesien im Spannungsfeld der europäischen Mächtekonflikte um 1700. Zur Vorgeschichte der Altranstädter Konvention von 1707, in: Die Altranstädter Konvention (Anm. 2), 15–38, hier 28; benutzte Ausgabe des IPO: Instrumenta Pacis Westfalicae – Die Westfälischen Friedensverträge 1648 (Quellen zur neueren Geschichte, 12/13) Bern 31975 (künftig: IPO). 15  Zugleich für das Folgende: Hans-Wolfgang Bergerhausen, Habsburgische Kirchenpolitik in Schlesien nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Archiv für Schlesische Kirchengeschichte 64 (2006), 133 ff., hier 134; daneben bezogen auf die Fürstentümer Glogau und Schweidnitz: Jörg Deventer, Gegenreformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte, 8), Köln/Weimar/Wien 2003, hier 248 ff. 16  Betont von Bergerhausen, Habsburgische Kirchenpolitik (Anm. 15), 134. 17  Gemäß Artikel V, §§ 38–41 IPO (Anm. 14).



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herrschaften – wie schon erwähnt – nur das Privatexerzitium zugelassen blieb. Der königlich-böhmische Oberlandesherr verzichtete ferner darauf, den dortigen Adel samt Untertanen zur Auswanderung oder Besitzaufgabe zu zwingen. Vielmehr durften sie ihren Besitz bei freiwilligem Abzug entweder veräußern oder durch Dritte verwalten lassen. Gnadenhalber durften sie schließlich ihren lutherischen Gottesdienst in Nachbarterritorien besuchen. Der Landesherr konzedierte ihnen darüber hinaus den Bau von drei Gotteshäusern außerhalb der Städte Schweidnitz, Jauer und Glogau, selbstverständlich auf deren eigene Kosten. Von diesen später so genannten Friedenskirchen18 mit einem enormen Fassungsvermögen existieren heute noch die imposanten Fachwerkbauten im Stile ´ des schlesischen Barock in Schweidnitz (Swidnica) und Jauer (Jawor), die von Pastoren „Augsburgischen Bekenntnisses“ betreut werden! Da sich weitere Konzessionen in Osnabrück nicht durchsetzen ließen, verlangten und erhielten die schwedischen Unterhändler die Aufnahme einer Vertragsklausel, die ihnen und protestantischen Reichsständen ein obschon vages Fürspracherecht für ihre schlesischen Glaubensverwandten beim Kaiser einräumte exclusa omni violentia et hostilitate (§ 41). Die schlesischen Passagen im Religionsfrieden von 1648 schienen die Handlungsfreiheit der Habsburger doch merklich einzuschränken. Bei genauerer Interpretation lassen sich allerdings Lücken und Ungenauigkeiten im Vertragstext erkennen, die den Spielraum für die Landesherren beträchtlich erweiterten, ohne den Friedensvertrag offen zu verletzen. Ferdinand III. und seine Nachfolger haben ihn geschickt genutzt, um die Gegenreformation in Schlesien sukzessive voranzutreiben. Als Beispiel für eine derartige Vertragsinterpretation sei hier nur die Beschränkung auf die „Anhänger der Augsburgischen Konfession“ angeführt19: Sie erlaubte den Ausschluss der Reformierten, die ja nach Artikel  VII IPO ausdrücklich in den Religionsfrieden einbezogen und den Lutheranern gleichgestellt waren. Dies konnte geschehen, obschon die Liegnitzer und die Brieger Piastenherzöge als verbliebene Mediatfürsten inzwischen dem reformierten Bekenntnis anhingen. Selbstverständlich blieben die vorhandenen Reste der Schwenckfelder in ihren Rückzugsgebieten sowie die Täufer als „Sektierer“ kategorisch von jeder Anerkennung ausgeschlossen. Die beiden schlesischen Hauptkonfessionen kannten ihnen gegenüber keine Toleranz; sie kooperierten außerdem bisweilen untereinander bei der Abwehr und Verdrängung der Reformierten, die 18  Etwa Małgorzata Morawiec, Die schlesischen Friedenskirchen, in: Duchhardt (Hrsg.), Der Westfälische Friede (Anm. 13), 740 ff., mit kunstgeschichtlichen Erläuterungen. 19  Vgl. Baumgart, Schlesien im Spannungsfeld (Anm. 14), 32.

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ohnehin nur eine kleine Minderheit, eine „Hofreligion“, blieben. Vollends seit dem Aussterben der letzten Piastenfürsten 1675 hatten sie auch in den Mediatfürstentümern keine Chance mehr, sich zu behaupten. Dies änderte sich erst seit der preußischen Inbesitznahme des größten Teils des Oderlandes 1742. Gravierender für den religiösen Status der schlesischen Protestanten war, dass dieser von kaiserlich-königlicher Gnade abhing (ex gratia Caesarea et regia), denn Gnade begründet bekanntlich keinen Rechtsanspruch, sie konnte jederzeit widerrufen werden. Die Position der Landstände, des Adels samt ihrer Untertanen in den Erbfürstentümern unter böhmischer Oberhoheit gemäß Artikel V IPO, § 38 blieb daher stets unsicher, weil der Kaiser sich das ius reformandi vorbehalten hatte. Abgesehen von ihrem „Bleiberecht“ in Schlesien besaßen sie keine vertragliche Sicherheit, ihr religiös-kirchliches Leben, ihre Kirchenorganisation, aber auch ihre Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse etc. gemäß der lutherischen Lehre selbständig zu regeln. Landesherrliche Eingriffe oder Verbote waren ständig zu befürchten. Auf eine reichsrechtliche Änderung dieses Zustandes, etwa auf dem nächsten Reichstag, der dann erst 1654 zusammentrat, war nicht zu hoffen. Die schlesischen Religionsfragen gehörten nicht zu den sogen. „negotia remissa“, die 1648 auf den nächsten Reichstag vertagt wurden (Artikel VIII IPO)20. Daher verwundert es nicht, wenn die Habsburger in der Folge zunächst unbehelligt von außen, etwa durch die Krone Schweden, ihre ursprünglichen Ziele realisieren konnten. Sie warteten nur den Abzug der schwedischen Armee nach dem Friedensschluss ab, der sich wegen der fünf Millionen Reichstaler Satisfaktionsgelder bis 1650 hinzog, um zum „Generalangriff der Gegenreformation“ (so Jaeckel, Eberlein) in Schlesien anzusetzen21. Ferdinand III. ließ 1653 mit Hilfe sog. Reduktionskommissionen die protestantisch-lutherischen Kirchen in den Erbfürstentümern, also in der inzwischen übergroßen Mehrheit aller Lehnsherrschaften, einziehen. Von der Aktion waren insgesamt 656 Kirchen betroffen. In ganz Oberschlesien gab es ab 1660 keine einzige evangelische Kirche mehr. Sie wurden entweder katholischen Geistlichen übergeben oder aber einfach geschlossen, die evangelischen Pfarrer verloren ihr Amt und wurden ausgewiesen. Gleichzeitig mussten auch die evangelischen Schu-

20  Ebd. 21  So Conrads, Schlesien (Anm. 1), 292, im Anschluss an Georg Jaeckel, Die staatsrechtlichen Grundlagen des Kampfes der evangelischen Schlesier um ihre Glaubensfreiheit, Teil VII: Der Generalangriff der Gegenreformation, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 47 (1968), 7 ff.; ebenso Hellmut Eberlein, Schlesische Kirchengeschichte, Ulm 41962 (zuerst 1932), 81.



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len schließen und die Lehrer ausscheiden, selbst evangelischer Privat­ unterricht stand hinfort unter Strafandrohung. Noch 1669 bekräftigte Kaiser Leopold I. das Verbot des „Schulehaltens“, sogar bei den drei Friedenskirchen22. Den bekennenden Protestanten blieb de facto nur die Hausandacht, die devotio domestica, es sei denn, sie besuchten auf langen Anmarschwegen die Gottesdienste in den Nachbarländern. Möglich war dies vorerst noch in den Piastenherzogtümern oder in den Grenzdörfern ­ Kursachsens und Brandenburgs. Dort ließen diese Reichsstände sog. ­ „Zufluchtskirchen“ einrichten oder neu erbauen23. Den Versuchen der katholischen Landesherrschaft, dieses „Auslaufen“ der Gläubigen zu verhindern und nach Kräften zu erschweren, war nur geringer Erfolg beschieden. Sie konnte auch den Exodus zahlreicher Exulanten ins benachbarte Ausland nicht verhindern, darunter auch nach Polen24. Selbstverständlich gab es immer wieder hartnäckige Widerstandsak­ tionen gegen das Vorgehen der Katholisierungskommissionen. Zuweilen mussten sie mit ihren Priestern das Feld räumen, vorrangig in den Städten, aber auch auf dem Lande bis in die 60er Jahre; die Vorbilder dafür lieferten die Vorgänge bei der vorangegangenen oft gewaltsamen Re­ katholisierung Innerösterreichs und der Grafschaft Glatz25, wohl auch die oberösterreichischen Bauernaufstände von 1595/96 sowie 1626. Jedoch war absehbar, dass bei ungehinderter Fortsetzung dieser habsburgischen Religionspolitik das evangelische Kirchenwesen in den alten wie neuen Erbfürstentümern über kurz oder lang zum Erliegen kommen musste.

22  Näheres bei Bergerhausen, Habsburgische Kirchenpolitik (Anm. 15), 142 ff.; auch Colmar Grünhagen, Geschichte Schlesiens, Bd. 2, Gotha 1886 (Nachdruck 1979), 317 ff. 23  Grenzkirchen in Kurbrandenburg und Kursachsen-Lausitz, zwei Kirchen auf polnischem Gebiet, teilweise Neubauten; vgl. Gerhard Eberlein, Die schlesischen Grenzkirchen im 17. Jahrhundert, in: Vorträge […] des Vereins für Reformationsgeschichte (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 76), Halle 1901, 40–68; auch Conrads, Schlesien (Anm. 1), 294 f.; ferner Alfred Schirge, Grenz- und Zufluchtskirchen für evangelische Niederschlesier im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/98), 205 ff. 24  Das „Auslaufen“ der Protestanten war auch mit der Anwerbung von Handwerkern, insbesondere Tuchmachern, bei den Nachbarn verbunden, insbesondere in Polen; Auswanderungsverbote ergingen 1681 und wieder 1686. 25  Widerstand in Schlesien bis in die sechziger Jahre bei Herzig, Monokonfes­ sionalisierungspolitik (Anm. 2), 46 f.; auch ders., Schlesien und die Grafschaft Glatz im Zeitalter des Konfessionalismus, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 75 (1996), 1–22.

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Die Tendenz verschärfte sich noch, als 1675 die reformierten Piastenherzöge in den Herzogtümern Liegnitz, Brieg und Wohlau in männlicher Linie ausstarben. Der kaiserliche Oberlehnsherr, inzwischen Kaiser Leopold I., zog daraufhin die drei Herzogtümer als heimgefallene Lehen ein. Allerdings musste Leopold I. vorsichtiger operieren als seine Vorgänger, weil die außenpolitische Lage sowie Wirtschaftsprobleme im Innern ihn dazu zwangen. So begnügte er sich vorerst damit, den reformierten Kult abzuschaffen (Liegnitzer Hofkapelle), die landesherrlichen und ständischen Ämter mit Katholiken zu besetzen, die eigenen Patronatsrechte bei den Kammergütern und Stiftsgütern konsequent zu nutzen etc. Obwohl es nicht zu einer allgemeinen Kirchenreduktion kam, verloren die Protestanten jetzt nochmals bis zum Jahr 1706 109 Kirchen (von 241), mithin fast die Hälfte ihres bisherigen Besitzstandes. Repressive Vorschriften etwa für das Vormundschaftswesen, für die Feiertage, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen schränkten das religiöse wie das gesellschaftliche Leben der Lutheraner weiter ein26. Aus eigener Kraft konnten sie dem gegenreformatorischen Druck kaum noch länger standhalten. Ihre ohnehin prekäre Rechtsbasis wurde immer schmaler. Ihre sehr zahlreichen, aber letztlich ohnmächtigen Petitionen und Eingaben bei den Landesbehörden und Magistraten, ebenso die vergeblichen Gesandtschaften an den Wiener Hof liefen ins Leere. Auch glaubensverwandte Reichsstände, die auf den Reichstagen zu ihren Gunsten intervenieren wollten, vermochten ihnen nicht substantiell zu helfen27. Das Ende der traditionellen Bikonfessionalität im Oderland schien also näher gerückt. Die regierende Dynastie hatte ihr erklärtes Ziel beinahe erreicht. Nur eine europäische Großmacht, die sich über die westfälischen Religionsartikel hinwegsetzte oder aber nach den eigenen Intentionen uminterpretierte, vermochte den fortschreitenden Aushöhlungsprozess noch aufzuhalten. In einer derartigen Position befand sich im Frühjahr 1707 der junge, aber schon kriegserfahrene und mehrfach im Nordischen Krieg erfolgreiche Schwedenkönig Karl XII.28 Er verschaffte der schwe26  Zur zweiten Welle der Rekatholisierung speziell in den Piastenherzogtümern vgl. neben Bergerhausen, Habsburgische Kirchenpolitik (Anm. 15), 146 ff., noch die ältere Studie mit Listen der eingezogenen Kirchen von Dorothee von Velsen, Die Gegenreformation in den Fürstentümern Liegnitz-Brieg-Wohlau. Ihre Vorgeschichte und staatsrechtlichen Grundlagen (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 15), Leipzig 1931. – Verschont blieb das Herzogtum Oels. 27  Dazu knapp Baumgart, Schlesien im Spannungsfeld (Anm. 14) 35; positiver Conrads, Schlesien (Anm. 1), 296 f. 28  Von zahlreichen Biographien (Otto Haintz u.  a.) Ragnhild M. Hatton, Charles XII of Sweden, London 1968.



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dischen Krone unversehens eine Schlüsselstellung zwischen den bisher sorgfältig getrennten europäischen Konfliktfeldern des Spanischen Erbfolgekrieges im Reich wie in Westeuropa und des Dritten Nordischen Krieges im Baltikum und Osteuropa. Es galt, die durch seine Feldzüge drohende Verbindung zwischen den beiden Kriegsschauplätzen um jeden Preis zu verhindern29. Nach der Besetzung Kursachsens durch seine Truppen, die dort für ein ganzes Jahr blieben, bezog Karl sein Hauptquartier in Altranstädt bei Leipzig, wo er von den Abgesandten der verschiedenen Kriegsparteien als Bündnispartner heftig umworben wurde, sich aber nicht festlegen wollte. Von Altranstädt aus konnte Karl nicht allein dem unterlegenen und als Polenkönig (August II.) bereits abgesetzten Kurfürsten Friedrich August30, sondern auch dessen Verbündeten Joseph I.31 in Wien seine Bedingungen für einen raschen Abzug der Schweden aus dem benachbarten Sachsen und dem Reichsgebiet stellen. Daran hatte der junge Joseph das größte Interesse, zumal schwedische Truppen zuvor die habsburgische Souveränität wiederholt verletzt hatten und ohne Genehmigung auch über schlesisches Territorium gezogen waren. Dort waren sie mit den Protestanten in Kontakt gekommen, die ihnen ihre Notsituation klagten. Obschon es weiteren Konfliktstoff zwischen den beiden Monarchen gab, machte sich Karl XII. die Forderungen der schlesischen Lutheraner spontan zu eigen und räumte ihnen sogar Vorrang ein. Er verlangte, beraten vor allem von seinem wohlinformierten Wiener Gesandten Freiherrn von Stralenheim, für den Abzug der Schweden aus Kursachsen und aus dem Reich ultimativ die rasche Behebung der schlesischen Religionsgravamina. Obschon es sich dabei um einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten der Habsburgermonarchie und damit um die streng gehüteten Souveränitätsrechte des Monarchen handelte, lenkte Joseph überraschend ein. Beraten von seinem böhmischen Hofkanzler Graf Wratislaw war der eher von den Toleranzideen der Frühaufklärung als von dem überkommenen Barockkatholizismus seines frommen Vaters Leopold geprägte Monarch bereit, auf die berechtigten Religionsbeschwerden wenigstens partiell einzugehen. Er akzeptierte und ratifizierte am 6. September die Altran29  Politische Situation bei Baumgart, Schlesien im Spannungsfeld (Anm. 14), 18 ff., zugleich für das Folgende mit weiterer Literatur. 30  Vgl. etwa Helmut Neuhaus, Friedrich August I. (1694–1733), in: Die Herrscher Sachsens […] 1089–1918, München 2004, 173 ff. 31  Etwa Hans Schmidt, Joseph I. (1705–1711), in: Die Kaiser der Neuzeit 1519– 1918, hrsg. v. Anton Schindling u. Walter Ziegler, München 1990, 186 ff.; Charles W. Ingrao, Joseph I., der vergessene Kaiser, deutsche Ausgabe Graz/Wien/Köln 1982. – Joseph I. und die „katholische Frühaufklärung“: Conrads, Schlesien (Anm. 1), 299 f., auch Baumgart, Schlesien im Spannungsfeld (Anm. 14), 27, 35 f.

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städter Konvention vom 1. September 170732, während Karl XII. noch am Tage der Unterzeichnung des Abkommens aufbrach, um mit seiner Armee in den für ihn katastrophalen Rußlandfeldzug zu ziehen. Die für die schlesischen Protestanten einschlägigen Bestimmungen des zweigeteilten Vertragswerkes33, die hier allein interessieren, sollten „den wahren Verstand des Osnabrückischen Frieden-Schlusses“ wiederherstellen. § 1 sah deshalb die Rückgabe aller seit 1648 kassierten Kirchen und Schulen in den 1675 eingezogenen piastischen Mediatfürstentümern sowie in Breslau und im Fürstentum Oels-Münsterberg vor. Ferner sollten die früheren evangelischen Konsistorien in den Fürstentümern wieder eingerichtet (§ 7) und Schulen bei den drei Friedenskirchen wieder zugelassen werden (§ 2). Jedoch blieb das exercitium publicum in den alten Erbfürstentümern auch in Zukunft untersagt; lediglich die private Hausandacht (devotio domestica), verbunden mit Gewissensfreiheit und evangelischem Hausunterricht, auch auswärts, sollte gestattet sein (§3), ein Religionszwang sollte nicht länger ausgeübt, Waisen- und Ehesachen nach lutherischem Kirchenrecht geregelt werden. Auch die Appellation an höhere Instanzen, an das Oberamt in Breslau oder an den Kaiser in Wien, verbunden mit einer eigenen Ständevertretung dort, war vorgesehen (§ 6). Die bürgerliche Gleichberechtigung wie der Zugang zu öffentlichen Ämtern wurde den Protestanten zugesichert (§ 9). Schließlich beharrte der Schwedenkönig für sich und die konfessionsverwandten ­ Stände auf dem Interventionsrecht des Osnabrücker Friedens (§ 10), und Kaiser Joseph verpflichtete sich, die Vertragsbedingungen binnen sechs Monaten zu erfüllen, und zwar unter schwedischer Beteiligung (§ 11). Diese Konvention bildete hinfort die Vertragsbasis für die Beziehung zwischen den schlesischen Protestanten und ihrer böhmischen Landesherrschaft in Wien, und zwar bis zum Ende der Habsburgerzeit und für ganz Schlesien sogar darüber hinaus. Die unvollständige Umsetzung in die Realität wurde zu einem langen und schwierigen Kapitel, das ich nur noch mit einigen Stichworten ­skizzieren kann. Eine kaiserliche Kommission hatte an Ort und Stelle die Durchführung des Abkommens zu leiten. In langwierigen Verhandlungen mit den schwedischen Abgesandten arbeitete sie bis 1709 einen „Exe­

32  Grundlegend Norbert Conrads, Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707–1709 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, 8), Köln/Wien 1971, zugleich für das Folgende.  – Karl XII. unterzeichnete das Dokument in Liebertwolkowitz auf dem Weg zu seinen Truppen. 33  Text der Konvention abgedruckt im Anhang zu Conrads, Altranstädter Konvention (Anm. 32), 317 ff., dort auch über die formale Vertragsgestaltung.



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kutionsrezess“34 aus, der schon einen deutlich restriktiven Charakter besaß und daher die Stellung der evangelischen Kirche nicht grundlegend verbesserte: Sie blieb eine „ecclesia pressa“35. Sie erhielt zwar ab 1709 insgesamt 125 Kirchen (Liste) nebst dazugehörigen Schulen restituiert36, und die Lutheraner durften ferner sechs sog. „Gnadenkirchen“ außerhalb der Städte errichten, davon fünf in Niederschlesien, in Hirschberg, Landeshut, Sagan, Freystadt und Militsch, nur eine einzige im oberschlesischen Teschen37. Eine kaiserliche Konzession zum Bau bekamen sie aber nur gegen teils hohe Darlehnszahlungen und Geldgeschenke an den geldbedürftigen Landesherrn. Diese selbstverständlich auf e­ igene Kosten zu errichtenden „Toleranzkirchen“ in den alten Erbfürstentümern verdankten also ihre Existenz weniger dem Prinzip der „Glaubensfreiheit“ als merkantilistischen Erwägungen. Dennoch herrschte „Aufbruchstimmung“ unter den Lutheranern, die sich teilweise in einer übersteigerten Volksfrömmigkeit äußern konnte. Das trifft etwa auf die vieldiskutierte mystische Bewegung der betenden Kinder38 zu, die auf freiem Feld für die Wendung „der Noth im Lande Schlesien“ Festgottesdienste abhielten, vielleicht mit Blick auf den raschen Abzug der schwedischen Truppen nach Polen schon im August und September 1707.

34  Text bei Conrads, Altranstädter Konvention (Anm. 32), 355  ff., dazu auch ebd., 139 ff.; ausführlich ebd. 35  Zur „ecclesia pressa“ mit zahlreichen prägnanten Beispielen Hans-Wolfgang Bergerhausen, Die Altranstädter Konvention als Rechtsgrundlage schlesischer Kirchenpolitik 1707–1804, in: Die Altranstädter Konvention (Anm. 2), 105–128; er demonstriert die nach wie vor repressive habsburgische Kirchenpolitik auch während der Geltung der Konvention sowohl unter dem „Frühaufklärer“ Kaiser Joseph I. wie vollends unter Kaiser Karl VI. und dann unter Maria Theresia in Österreichisch Restschlesien; dazu schon Elisabeth Kovács, Österreichische Kirchenpolitik in Schlesien 1707 bis 1790, in: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 4), 239–256. 36  Liste der (in ganz Schlesien) zurückgegebenen Kirchen bei Conrads, Altranstädter Konvention (Anm. 32), 360 ff. 37  Vgl. Verena Friedrich, Die schlesischen Gnadenkirchen. Geschichte, Architektur und Bildprogramm, in: Die Altranstädter Konvention (Anm. 2), 79–104, mit zahlreichen Abbildungen; auch Conrads, Schlesien (Anm. 1), 300 ff.: Gnadenkirchen als „sichtbarer Ausdruck für die Kurskorrektur der kaiserlichen Konfes­ sionspolitik“; dort auch zur Bedeutung der Gnadenkirche in Teschen als einziger evangelischer Kirche in Oberschlesien und zugleich im späteren ÖsterreichischSchlesien, wo sie zur „Mutterkirche vieler Länder“ (Oskar Wagner) wurde mit ca. 8.000 Plätzen! 38  Dazu speziell Christian-Erdmann Schott, Die Transformation des Luthertums in Schlesien als Reaktion auf die Konvention von Altranstädt (1707–1709), in: Die Altranstädter Konvention (Anm. 2), 59–77, hier 64 ff.

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Es zeigte sich bald, dass die Altranstädter Konvention zwar dem religionspolitischen Gestaltungswillen der Habsburger in Schlesien deutliche Grenzen setzte, dass sie aber an ihrem Grundprinzip des geschlossenen katholischen Konfessionsstaates entschieden festhielten. Die Phase der Gegenreformation war daher mit dem Jahr 1707 nicht beendet, wie man gemeint hat39. Die Arbeiten von Elisabeth Kovács nach Wiener Quellen haben gezeigt, dass damals nur eine vorübergehende Phase der Lockerung des religionspolitischen Kurses einsetzte; diese wurde dann unter dem Nachfolger Josephs I., seinem Bruder Karl VI., also ab 1711, vollends unter Maria Theresia von einer deutlichen Reaktion abgelöst, die gerade auch Schlesien erfasste. Noch Kaiser Joseph hatte 1711 dafür vorgesorgt40: Im Exekutionsrezess blieb der Geltungsrahmen auf die Angehörigen der „unveränderten Augsburgischen Confession“ beschränkt, eine Einbeziehung der ohnehin wenigen Calvinisten war also ausgeschlossen; die Lutheraner blieben Mitglieder ihrer katholischen Parochie, mussten an den Priester Abgaben zahlen und seine Genehmigung für ihre geistlichen Amtshandlungen einholen. Die wieder eingerichteten drei lutherischen Konsistorien erhielten einen von Wien ernannten katholischen Präsidenten, sie wurden faktisch zu einer kaiserlichen Kirchenbehörde. Zu deren Aufgaben gehörte die Prüfung und Präsentation der Lehrer und Pfarrer, die wiederum orthodox-lutherisch sein mussten; Pietisten hatten demgemäß kaum eine Chance, wie das Beispiel der Gnadenkirche in Teschen zeigt41, an der August Hermann Francke, das Haupt des Halleschen Pietismus, seine ­ Kandidaten präsentierte, die rasch aufgeben mussten. Die lutherische Kirche in Schlesien wurde in das „katholisch-österreichische Staatssystem“ i­ntegriert, von ihm kontrolliert und reglementiert. Es erfolgte eine „Ver­östereicherung des schlesischen Luthertums“, die zugleich Stagna­ tion auf dem Stand der lutherischen Orthodoxie war42. Im Ergebnis hat die Altranstädter Konvention den schlesischen Protestanten fraglos große Erleichterungen gebracht, die auch über den Systemwechsel von 1742 in Österreichisch Schlesien bestehen blieben und sogar für Preußisch-Mehrheitsschlesien aufgrund der Friedensverträge von 1742 und 1745 Bedeutung erlangten. Es war den Habsburgern nicht gelungen, die in der Reformationszeit entstandene Bikonfessionalität zu 39  So Bergerhausen, Altranstädter Konvention als Rechtsgrundlage (Anm. 35), 106, gegenüber Conrads, Schlesien (Anm. 1), 302; zu Kovács vgl. Anm. 35. 40  Bergerhausen, Altranstädter Konvention als Rechtsgrundlage (Anm.  35), 107 f. 41  Schott (wie Anm. 38), 61 ff. mit weiterer Literatur (Patzelt, Wagner). 42  So dezidiert Schott, ebd., 74 f.



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beseitigen, wie es während der ganzen Zeit, fast zwei Jahrhunderte lang, ihr Ziel geblieben war. Die Politik der Monokonfessionalisierung um beinahe jeden Preis mussten sie aufgeben, wenngleich vorerst nur in einem Nebenland der Krone Böhmen und als Folge einer Nebenabmachung zweier Großmächte während einer Krisenzuspitzung des europäischen Staatensystems um 1700. Sicherlich bedeutete dies religionspolitisch eine tiefe Zäsur, deren Bedeutung über Schlesien weit hinausreicht; zugleich leitete die Konvention eine weitere Etappe auf dem langen Weg zu einer konfessionsübergreifenden Toleranz im Reich wie in der Habsburgermonarchie ein. Aber ein „Ende des konfessionellen Zeitalters“, wie einige allzu optimistische Historiker uns glauben machen wollen, war damit noch längst nicht erreicht! Ein Anschluss an die großen geistigreligiösen Bewegungen der Zeit, an Pietismus und Aufklärung, fand nicht statt.

Zur Konfessionspolitik Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I. in den brandenburgisch-preußischen Landen und im Reich (1688–1740) Von Frank Göse, Potsdam Bis in die Niederungen der Tagespolitik hinein dürfte wohl innerhalb der älteren Preußen-Historiographie kaum eine Zuschreibung so wirkungsmächtig gewesen sein wie der Topos der religiösen Toleranz.1 Demnach hätten es die brandenburgischen Hohenzollern in besonders vorzüglicher Weise verstanden, für die sich in ihren Territorien in einer ­Minderheitenposition befindenden Konfessionsgruppen solche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen diese mehr oder weniger gleichberechtigt ihre Religion ausleben konnten. In der Tat ließe sich hierzu eine ganze Reihe von Belegen anführen, die diese Sichtweise bestätigen. Aus plausiblen Erwägungen wird man hier zuvörderst auf die persönliche Haltung der in diesem Zeitraum regierenden Herrscher zu verweisen haben. Diese entwickelte sich aus dem vorgegebenen Erziehungsideal und folgte bestimmten Traditionen der Dynastie. Dabei sahen sich die Hohenzollern gerade auf diesem Terrain seit dem frühen 17. Jahrhundert vor höchst schwierige Herausforderungen gestellt. Schließlich zog die seit 1613 bestehende Divergenz zwischen der Konfessionszugehörigkeit des Herrscherhauses und der konfessionellen Orientierung des überwältigenden Teils der Bevölkerung eine Vielzahl von Problemen nach sich. Die Hoffnung, dass dem Glaubenswechsel des damaligen Kurfürsten Johann Sigismund auch eine massenhafte Konversion der Untertanen zum Reformiertentum folgen werde, hatte sich aus

1  Vgl. hierzu komprimiert: Otto Hintze, Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen, in: Historische Zeitschrift 97 (1906), 67–118; Hans-Joachim Schoeps, Die Toleranz in Europa, in: Ders., Studien zur unbekannten Religionsund Geistesgeschichte (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Geistesgeschichte, 3), Göttingen 1963, 199–205; Gerd Heinrich, Religionstoleranz in BrandenburgPreußen. Idee und Wirklichkeit, in: Preußen. Politik, Kultur, Gesellschaft, Bd. 1, hrsg. v. Manfred Schlenke, Hamburg 1981, 83–102; Heinz-Dieter Heimann, Brandenburger Toleranz zwischen Anspruch, Mythos und Dementi. Historisch-politische Annäherungen an das „Edikt von Potsdam“, in: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 52.2 (2000), 115–125.

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verschiedenen Gründen nicht erfüllt.2 Demzufolge unterstützten die im 17. und 18. Jahrhundert regierenden Landesherren alle Entwicklungen und Projekte, die auf eine Verstärkung der Position der Reformierten im Lande zielten, wobei hier natürlich vor allem an die Peuplierungspolitik erinnert wurde und wird, die den aus Frankreich vertriebenen Hugenotten, aber auch Wallonen, Schweizern und Pfälzern als konfessionellen Exulanten eine neue Heimat in den brandenburgisch-preußischen Landen geboten hatte.3 Diese noch zu vermehrenden Belege könnten in der Tat das Buch der „Erfolgsgeschichte“ brandenburgisch-preußischer Religionstoleranz füllen, zumal geflissentlich auf zeitgenössische Monarchen verwiesen wurde, denen eine solche Haltung eben nicht selbstverständlich erschien. Um nun aber etwas Wasser in den allzu vollmundig schmeckenden Wein zu gießen, verwundert allerdings schon etwas, dass man gegenüber der Durchsetzungsfähigkeit dieser politischen Vorgaben nicht jene Zurückhaltung aufzubringen geneigt war, die aus guten Gründen gegenüber anderen Bereichen von Staat und Gesellschaft geübt wurde und wird. Auch für die konfessionspolitische Praxis gilt es zum Einen das Auseinanderklaffen zwischen den normativen Vorgaben und der realen Umsetzung obrigkeitlicher Edikte, Verordnungen und Mandate zu beachten. Hier wird man immer wieder auch die retardierenden Faktoren in Rechnung zu stellen haben, die uns zur Zurückhaltung gegenüber einer scheinbar linearen Entwicklung hin zu einem von Toleranz geprägten Staat mahnen.4 Und zum Anderen sollte die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Landesherren und obersten Amtsträger reduziert werden. Vielmehr gilt es auch jene Akteure zu berücksichtigen, die in den einzelnen Regionen der Hohenzollernmonarchie bis hin zur lokalen Ebene auf diesem politischen Feld wirksam waren.5 2  Vgl. dazu Bodo Nischan, Prince, People, and Confession. The Second Reformation in Brandenburg, Philadelphia 1994. 3  Vgl. hierzu übergreifend: Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land  – Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006. 4  Vgl. hierzu die jüngst vorgelegten Studien, die in diesem Sinne argumentieren: Mathis Leibetseder, Alltag zwischen Konflikt und Toleranz. Beobachtungen zur Konfessionspolitik Brandenburg-Preußens im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für historische Forschung 41 (2014), 230–260; Gabriel Almer, Calvinista AulicoPoliticus. Konfession und Herrschaft in Brandenburg-Preußen (ca. 1660–1740), Phil. Diss. Berlin 2016. 5  Vgl. hierzu Balthasar Haußmann, Zwischen Verbauerung und Volksaufklärung. Kurmärkische Landprediger in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Diss. Potsdam 1999; jüngst auch M. Leibetseder, Alltag (Anm. 4).



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Demzufolge soll im Folgenden neben einer knappen Vorstellung der religionspolitischen Haltung der beiden für unseren Untersuchungszeitraum relevanten Landesherren (I.) der Blick zum Einen auf jene Akteure ausgeweitet werden, die einen entscheidenden Einfluss auf die inhalt­ liche Prägung und landesweite Umsetzung der Konfessionspolitik ausübten (II.), und zum Anderen danach gefragt werden, ob und in welcher Weise die landesherrlichen Grundsätze in den ländlichen und städtischen Gesellschaften der Gesamtmonarchie implementiert werden konnten (III.). Und schließlich wird der Fokus auch auf die reichspolitische Dimension der brandenburgisch-preußischen Konfessionspolitik ausgeweitet. Denn, wie zu zeigen sein wird, beeinflussten die Vorgänge im Reich mehr als einmal den konfessionspoltischen Kurs der Monarchen und der hierfür zuständigen hohen Amtsträger im Innern (IV.). I. Ungeachtet des zu Beginn knapp geschilderten Grundakkords unterschied sich die Konfessionspolitik Kurfürst bzw. König Friedrichs III./ I. und König Friedrich Wilhelms I. in bestimmten Facetten. Für beide Monarchen nahmen Fragen der Konfession zwar stets einen hohen Stellenwert im Gesamtspektrum ihrer Regierungsarbeit ein, gleichwohl versah jeder Regent die Religionspolitik mit seiner persönlichen Handschrift und musste auf unterschiedliche innere und äußere Rahmenbedingungen reagieren.6 Friedrich III. hatte eine Reihe konfessionspolitischer „Baustellen“ von seinem Vater übernommen. Auch wenn die in den 1650er und 1660er Jahren eine besondere Schärfe erreichenden Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Reformierten zu Beginn der Regierungszeit des neuen Kurfürsten etwas abgeflaut waren, blieben die Vorhalte und mehr versteckten als offenen Anfeindungen zwischen den beiden Konfessionen virulent. Von daher erklären sich seine Bemühungen, die auf eine Harmonisierung des Verhältnisses zwischen den Luthera6  Jürgen Luh, Zur Konfessionspolitik der Kurfürsten von Brandenburg und Könige in Preußen 1640 bis 1740, in: Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, hrsg. v. Horst Lademacher, Renate Loos, Simon Groenveld, München u. a. 2004, 306–324; Hans-Christof Kraus, Staat und Kirche in Brandenburg-Preußen unter den ersten beiden Königen, in: Daniel Ernst Jablonski. Religion, Wissenschaft und Politik um 1700, hrsg. v. Joachim Bahlcke, Werner Korthaase, Wiesbaden 2008, 47– 85; Frank Göse, Zwischen religiösem Dissens und konfessionspolitischen Ausgleichsversuchen. Die Kirchenpolitik der brandenburgisch-preußischen Herrscher 1640–1740, in: Kreuzwege. Die Hohenzollern und die Konfessionen 1517–1740, hrsg. v. Mathis Leibetseder, Berlin 2017, 92–103. Zu König Friedrich I.: Frank Göse, Friedrich I. Ein König in Preußen, Regensburg 2012, 299–330.

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nern und Reformierten zielten. Doch auf welchem „verminten“ Gelände man sich dabei bewegte, zeigten die harschen Reaktionen auf das 1696 in die Welt gesetzte angebliche „Glaubensbekenntnis“ dieses Kurfürsten. Man interpretierte nämlich dieses Dokument als einen Aufruf zur Gleichmacherei und dogmatischen Aufweichung der Glaubensgrundsätze beider Konfessionen. Sowohl die Lutheraner als auch die Reformierten zeigten sich sehr verstimmt, so dass man sich von höchster Stelle zu einer Gegendarstellung in Gestalt einer Ministerial-Declaration veranlasst sah: In diesem angeblichen Glaubensbekenntnis, einer „Lügenschrift“, seien „solche Principia enthalten, welche directe ad Indiffe­ rentismum in Religions- und Glaubenssachen, so der nächste Grad ad Atheismum ist, anführen“. Gleichwohl aber müsse das klare unverfälschte Bekenntnis zu seinem Glauben keinen Anlass geben, „andere, so in Glaubenssachen dissentiren, anzufeinden …, sondern vielmehr mit Sanftmuth, Geduld, Liebe und Wohlthun zu tragen und zu überzeugen“.7 Diese Kontroverse führt uns bereits repräsentativ den Grundkonflikt vor Augen, der sich gleichermaßen wie ein roter Faden durch die Kirchenpolitik der brandenburgisch-preußischen Landesherren zog. Auf der einen Seite war man bestrebt, den eigenen reformierte Glauben unverfälscht beizubehalten und nach Möglichkeit zu fördern; auf der anderen Seite zeigte man sich aber zugleich bemüht, das Zusammenleben der beiden protestantischen Konfessionen so zu gestalten, dass die landesherrliche Autorität ungeschmälert und gerade in einem damals so neuralgischen Bereich wie der Kirchenpolitik gewahrt blieb. Zwar konnten die Hohenzollern de jure das landesherrliche Kirchenregiment gegenüber den Lutheranern wahrnehmen, jedoch kam es immer wieder mit der – überwiegend orthodox eingestellten  – lutherischen Geistlichkeit zu Konflikten, weil diese sich schwertat, sich von reformierten Landesherren und Amtsträgern in Fragen der Glaubenspraxis hineinreden zu lassen. Mit Verdruss hatten die lutherischen Geistlichen es zum Beispiel hinzunehmen, dass sie sich einer Prüfung durch reformierte Geistliche zu stellen hatten. Zudem mussten sie sich seit 1683 mit dem „Kleinen Katechismus“ Luthers als anerkannter Bekenntnisgrundlage zufriedengeben, weil andere Schriften eine zu stark anticalvinistische Stoßrichtung aufwiesen.8 In der Tat barg dieser Dissens enormen Zündstoff in sich. Die Geschichte des Konfessionellen Zeitalters bietet bekanntlich genügend Beispiele 7  Zit. nach: Nicolovius, Erinnerungen an die Kurfürsten von Brandenburg und Könige von Preußen aus dem Hause Hohenzollern hinsichtlich ihres Verhaltens in Angelegenheiten der Religion und der Kirche, Hamburg 1838, 200 f. 8  Peter-Michael Hahn, Calvinismus und Staatsbildung: Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert, in: Territorialstaat und Calvinismus, hrsg. v. Meinrad Schaab, Stuttgart 1993, 239–269, hier 250.



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dafür, in welch existenziell bedrohlicher Weise die Autorität des Herrschers durch das Argument der „Andersgläubigkeit“ in Frage gestellt werden konnte.9 Hinzu kam, dass auch die persönliche Religiösität der Herrscher durchaus Rückwirkungen auf die konfessionspolitische Ausrichtung während ihrer Regierungszeit hatte. Während Friedrich I. an der reformierten Auslegung der Prädestinationslehre unbeirrt festhielt – „ich muß eben der Prädestination Glauben geben und gedenken, daß mir kein Haar ohne Gottes Willen kann vom Haupt fallen, und ich bin darin gut reformiert, in welchem Glauben ich auch zu sterben hoffe“10 –, hatte sein Sohn und Nachfolger hier größere Bedenken, die sich zu einer wahren „Prädestinationsangst“ entwickeln sollte.11 Auf diese Vorbehalte mochte es zurückzuführen sein, dass Friedrich Wilhelm I. die lutherische Lehre in ihrem pragmatischeren Verständnis bald sympathischer erschien.12 Freimütig bekannte er in diesem Sinne: „Ich bin in der Reformirten Religion geboren und erzogen, ich werde wohl auch darinnen leben und sterben, aber die Lutheraner liebe ich auch und gehe lieber in ihre als in unsere Kirche.“13 Aus diesem Grunde konnte er äußerst ungnädig reagieren, wenn ihm eine schlechte Behandlung der Lutheraner zu Ohren kam: „Wo ferne sie die Evange Lutte­ ri[schen] drücke wie vor diessen geschen ist da werde ich vor streitten

9  Vgl. übergreifend zu diesem Problem: Luise Schorn-Schütte, Konfessionskriege und europäische Expansion. Europa 1500–1648 (C.H. Beck Geschichte Europas), München 2010, v. a. 93–132. 10  So Friedrich I. in einem Brief vom 13.  Oktober 1709. Zit. nach: Aus dem Briefwechsel König Friedrichs I. von Preußen und seiner Familie, hrsg. v. Ernst Berner, Berlin 1901, 180. 11  Carl Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. Eine Biographie, Leipzig 1941; Heinrich Borkowski, Erzieher und Erziehung König Friedrich Wilhelms I, in: Hohenzollernjahrbuch 8 (1904), 92–142. Die Berufung des Kronprinzen Friedrich auf die Prädestinationslehre im Rahmen der Katte-Affäre dürfte den König in seiner ablehnenden Haltung noch zusätzlich bestärkt haben. Während seiner Haftzeit in Küstrin sollte der Prediger Müller den Kronprinzen „von der Dordrecht’schen oder Calvin’schen Lehre (von der unbedingten Vorherbestimmung des Menschen zur Seligkeit oder Verdammnis) abbringen, und ihm die lutherische Lehre von der allgemeinen Gnade einschärfen“. Nicolovius (Anm. 7), 277. 12  Wolfgang Gericke, Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der Brandenburgischen Herrscher bis zur Preußischen Union 1540 bis 1815, Bielefeld 1977; Wilhelm Stolze, Aktenstücke zur evangelischen Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms I., in: Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte 1 (1904), 264–290; jüngst dazu auch G. Almer (Anm. 4), 212–218. 13  Zit. nach: Jochen Klepper, Der Soldatenkönig und die Stillen im Lande, Berlin 21938, 82.

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biss an mein toht“.14 Allerdings hat die Tatsache, dass der König lutherische Gottesdienste besuchte, bei seinen Glaubensverwandten eher Unverständnis und Unsicherheit ausgelöst.15 Die Motive für diese Ausrichtung der Konfessionspolitik lagen indes nicht nur in der subjektiven religiösen Haltung Friedrich Wilhelms I. begründet, sondern entsprangen auch dem Unbehagen über die zwar im Vergleich zu den 1660er Jahren abebbenden, indes aber immer noch vorhandenen Zwistigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten in seinen Territorien. Und dabei gab der König  – im Unterschied zu seinen Vorgängern – nicht per se den lutherischen Geistlichen die Hauptschuld an den Zerwürfnissen. Vielmehr richtete sich seine Kritik mitunter auch auf jene reformierten Geistlichen und Amtsträger, die einer in seinen Augen zu unduldsamen Religionspolitik das Wort redeten. Mit seiner in diesen Dingen eher pragmatischeren Position vertrug es sich nicht, „wenn ich meinen Nächsten ohne Noth verfolge und drücke!“16 Des Weiteren wird man das vergleichsweise große Entgegenkommen Friedrich Wilhelms I. gegenüber den Lutheranern, wie partiell schon unter seinem Vorgänger, auch auf die Zwänge der Integrationspolitik zurückzuführen haben – ein für den brandenburgisch-preußischen Staatsbildungsprozess bekanntlich kaum zu unterschätzendes Strukturmerkmal.17 Die in Gestalt des Herzogtums Magdeburg und des südlichen Teils von Vorpommern am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts neu erworbenen Territorien waren lutherisch geprägt. Als problematisch für die Integrationsabsichten der Landesherrschaft konnte sich erweisen, dass die in diesen Landschaften besonders starken Landstände das entscheidende Rückgrat für ein dezidiert politisch verstandenes Luthertum 14  So in einem eigenhändigen Schreiben des Königs an seine Geheimen Räte Rüdiger v. Ilgen und Marquard Ludwig v. Printzen am 3.  Januar 1722. zit. nach: Wilhelm Stolze, Ein Beitrag zur Unionspolitik Friedrich Wilhelms I., in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 6 (1909), 57–67, hier 59, Fn. 3. 15  W. Stolze, Unionspolitik (Anm. 14), 57 f. 16  Zit. nach: Gneomar Ernst von Natzmer, Lebensbilder aus dem Jahrhundert nach dem großen deutschen Kriege, Gotha 1892, 193. 17  Vgl. hierzu Wolfgang Neugebauer, Staatliche Einheit und politischer Regionalismus. Das Problem der Integration in der brandenburgisch-preußischen Geschichte bis zum Jahre 1740, in: Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte, hrsg. v. Winfried Brauneder (Beiheft 12 zu „Der Staat“), Berlin 1998, 49–87. Des Weiteren vgl. dazu jüngst die Ergebnisse der von der Preußischen Historischen Kommission 2017 ausgerichteten Jahrestagung: Gabriele Schneider/Thomas Simon (Hrsg.), Gesamtstaat und Provinz. Regionale Identitäten in einer „zusammengesetzten Monarchie“ (17. bis 20. Jahrhundert) (Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F., Beihefte 14), 2019.



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bildeten.18 So wie die lutherische Geistlichkeit in der Mark Brandenburg eine wichtige intellektuelle Schützenhilfe seitens der Theologen der Universität Wittenberg im benachbarten Kursachsen erhalten hatte19, konnten die Lutheraner im preußischen Teil Vorpommerns auf argumentative Munition der im schwedischen Herrschaftsbereich liegenden Universität Greifswald bauen.20 In den ersten Jahren mussten der Monarch und die nun in das Land kommenden preußischen Amtsträger dort immer wieder eine offene bzw. versteckte Parteinahme zu Gunsten der schwedischen Krone wahrnehmen, die stets mit einer prolutherischen Haltung verbunden war. Demzufolge musste der König in diesen „neuen“ Landschaften von Beginn an eine duldsamere Haltung gegenüber den Forderungen der lutherischen Gemeinden aufbringen.21 II. Fragt man danach, wie die Konfessionspolitik im Lande umgesetzt wurde, geraten mit den Konsistorialpräsidenten zunächst jene hohen Amtsträger in den Blick, denen auf Grund ihrer kirchenpolitischen Kompetenzen eine zentrale Rolle zufiel. Neben der in diesem Amt sicher bedeutendsten Persönlichkeit Paul von Fuchs (1695–1704) bekleideten Silvester Jacob von Danckelman (1689–1695), Daniel Ludolph Freiherr von Danckelman (1704–1709) und Marquard Ludwig von Printzen (1709– 1725) während des hier interessierenden Zeitraumes diese Charge. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die genannten Personen zugleich Mitglieder des Geheimen Rates waren und damit dem während der Regierungszeit des ersten preußischen Königs höchsten politischen Ent18  Zum Herzogtum Magdeburg vgl. die entsprechenden Passagen in Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, v. a. 216–300. 19  Deshalb wurden die Edikte zum Verbot eines Studiums an der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg bis in die 1720er Jahre mehrmals erneuert, auch wenn sich eine zunehmend pragmatischere Handhabung durchsetzte, die sich in der Gewährung von Dispensen durch den zuständigen Konsistorialpräsidenten widerspiegelte. Ulrich Niggemann, Kurfürst Friedrich III. und die lutherische Kirche. Das Verbot des Studiums in Wittenberg und seine praktische Umsetzung 1690 bis 1702, in: Jahrbuch für Berlin-brandenburgische Kirchengeschichte 65 (2005), 63–82. 20  Die Theologische Fakultät dieser Alma Mater hatte bereits in den 1660er Jahren die lutherische Geistlichkeit im Herzogtum Preußen „zu öffentlicher Stellungnahme gegen die Calvinischen Irrtümer und zu ihrer Brandmarkung als verderblicher Seelengifte“ ermuntert. Hellmuth Heyden, Kirchengeschichte Pommerns, Bd. 2: Von der Annahme der Reformation bis zur Gegenwart, Köln-Braunsfeld 1957, 101. 21  H. Heyden (Anm. 20), 114–117.

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scheidungsgremium angehörten.22 Deshalb wird man davon auszugehen haben, dass diese Personalunion zu einer gewissen Bedeutungsminderung des Konsistoriums führte, da wichtige kirchenpolitische Entscheidungen im Geheimen Rat gefällt wurden und das Konsistorium diese ­lediglich umzusetzen hatte.23 Entscheidend waren die Zugangsmöglichkeiten zu den einflussreichsten Amtsträgern bzw. zum Monarchen selbst. Die kommunikativen Strukturen am Hof und in der Zentralverwaltung unterlagen in dem hier zur Debatte stehenden Zeitraum durchaus gewissen Veränderungen.24 Gleichwohl zeichneten sie sich dadurch aus, dass der Herrscher in ständigem persönlichen Kontakt zu seinen wichtigsten Amtsträgern stand. Während der erste König solche Themen nachweislich der Protokolle des Geheimen Rates noch zumeist „kollegial“ innerhalb der Spitzenbehörde entschieden hatte, regierte Friedrich Wilhelm I. vornehmlich „aus dem Kabinett“ bzw. empfing die zuständigen Ressortchefs zum Rapport in „Privat-Audienzen“. Das Wissen um diese Zuständigkeiten und Abläufe erweist sich insofern als bedeutsam für die Analyse, weil damit aufgezeigt werden kann, inwiefern einerseits die Monarchen selbst die Richtung der konfessionspolitischen Entscheidungen vorgegeben hatten und an deren Umsetzung beteiligt waren und innerhalb welchen Spielraums andererseits die zuständigen Amtsträger auf den verschiedenen Ebenen agieren konnten. Eine ebenso wichtige Position nahmen die Hofprediger ein, die in allen Landesteilen der Monarchie eingesetzt wurden.25 Dieses Amt war nicht nur mit kirchlichen und konfessionspolitischen Aufgaben verbunden, sondern konnte auch für dessen Inhaber enormes Prestige bedeuten. Am bedeutsamsten waren in dieser Hinsicht die Hofprediger in Berlin, wo sie schon faktisch die größte Nähe zum Herrscherhaus besaßen. Ungeachtet der ohnehin herausgehobenen Bedeutung dieser Charge konnten Persönlichkeit und Format des jeweiligen Hofpredigers dem Amt eine zusätz­ liche Aura verleihen. In besonderer Weise galt dies für Daniel Ernst Ja­ 22  Vgl. zur Stellung des Geheimen Rates im Gesamtgefüge des politischen Systems jüngst F. Göse, Friedrich I. (Anm. 6), 110–115. 23  O. Hintze, Epochen (Anm. 1), 78. 24  Vgl. hierzu Wolfgang Neugebauer, Hof und politisches System in Brandenburg-Preußen, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 46 (2001), 139–169. 25  Rudolf von Thadden, Die Brandenburgisch-Preußischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der absolutistischen Staats­ gesellschaft in Brandenburg-Preußen, Berlin 1959. Im Herzogtum Kleve war der reformierte Hofprediger indes nicht vom Kurfürsten berufen, sondern von der Gemeinde gewählt worden. G. Almer (Anm. 4), 168 sowie 219–230.



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blonski, der fünfzig Jahre lang unter drei preußischen Monarchen in dieser Funktion agierte.26 Er war verantwortlich für die geistliche Betreuung der Herrscherfamilie, predigte regelmäßig im Berliner Dom, saß im lutherischen Konsistorium, war Mitglied im reformierten Kirchendirektorium, beteiligte sich an der Kandidatenauswahl für Pfarrstellen, an der Schulaufsicht und nahm Einfluss auf die Zensurpolitik und auf das Visitationswesen. Für die genannten Amtsträger war es wie für alle Angehörigen der Hof- und Residenzgesellschaft unverzichtbar, sich durch das Knüpfen von informellen Verbindungen zu anderen hochstehenden Mitgliedern der politisch-höfischen Führungsgruppe eine stabile Stellung zu verschaffen, denn die Fallstricke lauerten allenthalben auf dem glatten höfischen Parkett.27 Genau so wichtig wie die Etablierung solcher Netzwerke erschien es für die mit konfessionspolitischen Fragen befassten Amtsträgern bedeutsam, auch eine Wirkung in die Weite des Landes hinein zu entfalten. Über Kenntnisse über die Verhältnisse vor Ort zu verfügen, erleichterte nicht nur die Akzeptanz bei der Umsetzung der kirchenpolitischen Vorgaben. Konnte man „Erfolge“ vermelden, erwies sich dies auch als hilfreich für die Befestigung der eigenen Stellung am Hof. Repräsentativ kann dies etwa bei der Förderung pietistischer Aktivitäten im Land vorgeführt werden. Diese „politisch-soziale Reformbewegung“ hatte die persönliche Frömmigkeit des einzelnen Gläubigen und die Erziehung zu einem sich nicht nur auf die formale Teilnahme am Gottesdienst beschränkenden, sondern vor allem im karitativen Bereich und im Bildungswesen tätigen Christentum in den Mittelpunkt gerückt.28 Die Anhänger dieser Bewegung, für die die „äußeren“, zeremoniellen Formen des Kirchenlebens gegenüber der Verkündung der evangelischen Botschaft ohnehin nur eine marginale Stellung einnahmen, teilten die Ablehnung der noch zu stark an die altkirchliche Praxis ange26  Vgl. hierzu jüngst Wolfgang Neugebauer, Daniel Ernst Jablonskis Spielräume in Brandenburg-Preußen, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 57 (2011), 37–55. 27  Vgl. mit Belegen für diese Beobachtung Frank Göse, Zwischen Hof und Land. Pietistische Einflüsse in Brandenburg-Preußen im Spannungsfeld zwischen Residenzgesellschaft und Adelslandschaften um 1700, in: Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen, hrsg. von Holger Zaunstöck u. a., Halle 2017, S. 103–122. 28  Vgl. hierzu neben C. Hinrichs, Preußentum (Anm. 18), auch: Ders., Der Hallische Pietismus als politisch-soziale Reformbewegung des 18. Jahrhunderts, in: ders., Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hrsg. von Gerhard Oestreich, Berlin 1964, 171–184.

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lehnten Liturgie in den lutherischen Landeskirchen der preußischen Monarchie.29 Von den Pietisten erhoffte man sich zudem eine gewisse befriedende Wirkung auf die beiden protestantischen Konfessionen im Land, die vor allem seit den 1650er Jahren heftige Kontroversen ausgetragen hatten.30 Solche Effekte sind, wenn man die Situation in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts mit den durch erbittert ausgetragene Konflikte gekennzeichneten 1660er Jahren vergleicht, durchaus im Verlauf der Zeit eingetreten. Philipp Jacob Spener selbst urteilte am Ende seines Lebens in einem Brief an den preußischen König mit Genugtuung, dass „bey vielen die Bitterkeit der beyden protestierenden partheyen nachgelassen hat, und eine Liebe gegen einander in die Hertzen gebracht worden“ sei, was er vor allem auf den Einfluss seiner Anhänger meinte zurückführen zu können.31 Nicht unerheblich dürfte dafür in den Augen der Pietisten und ihrer königlichen Förderer die eben angesprochene Netzwerkbildung gewesen sein. So bestand zum Einen eine entscheidende Möglichkeit, um die pietistischen Ideen zu verbreiten, darin, frei werdende Chargen mit Anhängern oder Sympathisanten zu besetzen. Dieses Thema nahm in der Tat einen recht großen Umfang in der Korrespondenz Franckes, Porsts, Jablonskis und anderer führender Geistlichen ein. Dabei wurde von Seiten der bestimmenden Pietisten versucht, in ihren Augen geeignete Geistliche auf eine wichtige Position zu lancieren. So unterrichtete zum Beispiel der Hofprediger Johann Porst im Mai 1711 August Hermann Francke über die Anstellung verschiedener „Informatoren“ in Berlin.32 Der Geheime Rat Rüdiger von Ilgen bot im Jahre 1712 einem Advokaten auf Vermittlung Franckes eine Anstellung in der Residenz an; später avancierte dieser zum Landrentmeister im Herzogtum Magdeburg – ein gerade vor dem Hintergrund des starken ständischen Widerstandes gegen den Pietismus in dieser Provinz nicht zu unterschätzender Schachzug.33 29  Thomas Klingebiel, Pietismus und Orthodoxie. Die Landeskirche unter den Kurfürsten und Königen Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. (1688 bis 1740), in: Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, hrsg. v. G. Heinrich, Berlin 1999, 293–324. 30  Paul Schwartz, Die Verhandlungen der Stände 1665 und 1668 über die Religionsedikte, in: Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte 30 (1935), 88–115. 31  Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem [im Folgenden: GStA PK], I. HA Rep. 47 B 4 Fasz. 20 „Berlin 1702–1710“, Bl. 2. 32  Brief v. J. Porst an A. H. Francke. Berlin 19.05.1711. Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Nachlass A. H. Francke: 17,1/1: 13. 33  Es handelte sich dabei um einen Zacharias Grübe. Karl Weiske, Pietistische Stimmen aus der Mark Brandenburg. Auszüge aus Briefen der Handschriftensammlung der Hauptbibliothek in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte (24) 1929, 178–241, hier 224.



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Zum anderen wurden  – um die entgegengesetzte Perspektive in den Blick zu nehmen  – auch Wünsche nach geeigneten Kandidaten aus dem Land selbst artikuliert. In solchen Fällen konnten die mit dem Pietismus sympathisierenden hohen Amtsträger gewissermaßen als „Kontaktbörse“ fungieren.34 Dabei gelang es solchen führenden Pietisten wie Philipp Jacob Spener zuweilen, ihr Renommee in die Waagschale zu werfen, um eine in ihren Augen ungeeignete Persönlichkeit für eine Pfarrstelle zu verhindern. So sprach er sich im Juli 1703 gegen einen aus Kursachsen stammenden Theologen aus, der „zwar lang studiert und viel gelesen“, ihm aber als ein „miserabler Mensch“ bekannt sei.35 Eine wichtige Rolle kam der genannten und vornehmlich mit der Religionspolitik betrauten Amtsträger-Gruppe in der Zensurpolitik zu. Angesichts der lange Zeit noch als fragil bewerteten konfessionspolitischen Lage im Land reagierte man von Seiten der Landesherrschaft empfindlich auf Traktate, in denen tatsächliche oder vermeintliche Angriffe auf die Reformierten enthalten waren oder die man in die Nähe eines reli­ giösen Indifferentismus rückte. Sofern man die Verfasser solcher Schriften ermitteln konnte, wurden diese streng bestraft.36 Gerade mit Blick auf ein, wenn nicht gar das religionspolitische Herzensanliegen beider Könige – die Bildung einer Union zwischen den beiden protestantischen Konfessionen  – wuchs die Sensibilität gegenüber solchen polemischen Traktaten, aber auch angesichts zunehmender ungefragt eingehender Vorschläge.37 Zum Einen handelte es sich dabei um „Störfeuer“ einiger lutherischer Theologen; zum Beispiel tat sich hier ein Hamburger Pfarrer, Erdmann Neumeister, in den Augen des Königs sehr unrühmlich hervor. Schon allein die Titel der von ihm in Umlauf gesetzten Schriften sprachen für sich: 1721 erschien ein „Kurtzer Beweis / Daß das Vereinigungs-Wesen Mit den so genannten Reformirten oder Calvinisten / Allen Zehn Geboten / Allen Articuln des Apostolischen Glaubens-Bekenntnisses … und also dem gantzen Catechismo schnurstracks zuwieder lauffe“, und ein Jahr später verfasste er die polemische Schrift: „Calvinistische Arglistigkeit“. Zum Anderen wurden aber auch einige „gut gemeinte“ und in die Öffentlichkeit“ lancierte „Projecte“ mit Missfallen zur Kenntnis genommen.38 34  Belege

dazu bei F. Göse, Zwischen Hof und Land (Anm. 27). PK, I. HA Rep. 47 Nr. 5 „Pfarrbesetzungen (1692–1719)“, unpag. 36  Belege dazu bei Nicolovius (Anm. 7), 220 f. Aus diesem Grunde wurde am 5. November 1703 eine General-Verordnung erlassen, nach der künftig keine theologische Schrift ohne Zensur in den Druck gegeben werden solle. 37  Vgl. hierzu die mehrere solcher Schriften beinhaltende Akte GStAPK I. HA Rep. 13 Nr. 19 d Fasz. 22: „Die zu stiftende Union …“ (1721/22), unpag. 38  Ebd. 35  GStA

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Wie brüchig indes die kaum zu bestreitenden Konsensbemühungen der Landesherrschaft waren, zeigen die auch noch im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer wieder einmal aufflackernden Konflikte zwischen Re­ formierten und Lutheranern. Es erscheint jedoch müßig, hier einseitige Schuldzuweisungen vorzunehmen. Es waren eben nicht nur die Reformierten, die sich der Angriffe einer eifernden lutherischen Geistlichkeit zu erwehren hatten. Gleichwohl verstanden erstere sich geschickt auf Grund ihrer zumeist gegebenen Minderheitenposition in einer Opferrolle zu inszenieren. In umgekehrter Weise überzogen auch die Reformierten – mit dem Wissen der landesherrlichen Autorität in ihrem Rücken – die lutherischen Gemeinden und Theologen mit etlichen Zumutungen. Besonders in jenen Regionen der Gesamtmonarchie, in denen sie sich ohnehin in einer stärkeren Position befanden, versuchten sie ihre Überlegenheit gegenüber den Lutheranern auszuspielen. Im Herzogtum Kleve war es eine reformierte Obrigkeit, die häufig auf die sich in der Minderheit befindenden Lutheraner Druck auszuüben trachtete. Hier tat man sich im ausgehenden 17. und im frühen 18. Jahrhundert schwer, die ­Eigenständigkeit der Lutheraner zu akzeptieren, und war bestrebt, die Erweiterung lutherischer Pfarrerstellen möglichst zu verhindern.39 Aus nachvollziehbaren Gründen brachen solche Streitigkeiten vor allem dort aus, wo reformierte und lutherische Gemeinden sich in einem Ort befanden und gewissermaßen gezwungen waren, miteinander auszukommen. Da die zumeist nur wenige Mitglieder umfassenden reformierten Gemeinden in den kleineren und mittleren Kommunen selten eine eigene Kirche besaßen, wurde ihnen die Möglichkeit eingeräumt, ihren Gottesdienst in den Kirchen der Lutheraner zu zelebrieren. Bei der Umnutzung bzw. dem Neubau von Gotteshäusern mit dem Ziel, diese als ­Simultankirchen zu verwenden, scheute man mitunter nicht vor Zwangsmaßnahmen zurück, da die lutherischen Gemeinden nicht ohne Weiteres bereit waren, ihre Häuser dafür zur Verfügung zu stellen.40 In nicht wenigen Fällen handelte es sich bei diesen sogenannten „Simultankirchen“ um Gotteshäuser im residenznahen Raum, wo sich die Landesherrschaft im besonderen Maße daran interessiert zeigte, den Anteil der Reformierten kontinuierlich zu erhöhen. Schließlich war die brandenburgischpreußische Hof- und Residenzgesellschaft seit den Zeiten des Großen 39  G.

Almer (Anm. 4), 180. selteneren Fällen kam es  – wie in den 1680er Jahren im hinterpommerschen Stargard  – zu Gewaltexzessen, als eine erregte Menschenmenge die zum Gottesdienst in die nunmehr beiden Konfessionen vorbehaltene Augustinerkirche schreitenden Reformierten mit Steinen bewarf. Erst der Einsatz von Dragonern bot den Reformierten dann einen ausreichenden Schutz in der Stadt. H. Heyden (Anm. 20), 98. 40  In



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Kurfürsten durch eine Dominanz der Reformierten geprägt.41 Die Förderung der Simultaneen lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Teil der kurfürstlich-königlichen Patronagepolitik verstehen. Diese gemeinsame Nutzung der Simultankirchen barg in der alltäg­ lichen Praxis viel Konfliktpotential. Um hier nur ein Beispiel herauszugreifen: 1695 vernahm der Kurfürst missfällig, „daß eine Zeit hero zwischen denen beyden Predigern bey der Kirchen zu Oranienburg dem Reformirten und Lutherischen verschiedene Streitigkeiten und irrungen, sowohl wegen alternirens im Predigen, als auch wegen der beidigen pracidentz entstanden“ sei, so dass man sich genötigt sah, eine Untersuchungskommission einzusetzen.42 Ein Regelwerk sollte einen halbwegs geordneten Ablauf des Kirchenlebens in beiden Gemeinden garantieren, wie etwa den Zeitpunkt des Gottesdienstes, die Gestaltung der kirch­ lichen Feiertage und die Verwaltung des Gemeinen Kastens. Diese von den höchsten kirchlichen Behörden sanktionierten Maßnahmen verfolgten zugleich das Ziel, die entstandenen Gräben zwischen den beiden Konfessionen durch Gewohnheit allmählich zuzuschütten. Mit der Anlage von Simultankirchen, die eine gemeinsame Kirchennutzung der lutherischen und reformierten Gemeinden einschloss, erwartete man zugleich eine „von unten“ allmählich wachsende Annäherung beider Konfessionen. So hoffte man zum Beispiel darauf, dass die Lutheraner „Exzorzismus und Loseln zurück lassen“ würden“.43 Denn in der Tat gehörte die Anwendung des Exzorzismus bei Taufen in einigen lutherischen Reichsterritorien, so auch in Brandenburg, zu den am meisten durch die Reformierten und Pietisten kritisierten Elemente der lutherischen Glaubenspraxis.44 Doch diese wohlgemeinten Absichten sind häufig seitens der beteiligten Protagonisten vereitelt worden. Auch der weitere Verlauf der eben geschilderten Oranienburger Vorgänge führt das Dilemma solcher Bemühungen vor Augen und belegt zugleich eine von der landesherrlichen Orientierung abweichende Interessenlage der Geistlichen „vor Ort“. Denn ihnen war zumeist daran gelegen, die eigene Konfession sowohl aus materiellem Interesse als auch im Sinne einer zu vermittelnden und in ihren Augen unverfälschten Lehre gegen jede Ab- und Aufweichung zu vertei41  Peter Bahl, Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens, Köln/Weimar/Wien 2001, 199. 42  GStA PK, I. HA Rep. 47 B 8 „Pfarrsachen“, unpag. 43  GStA PK, I. HA Rep. 21/127 Nr. 42, unpag. 44  Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, Bd. 1: Bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus, Göttingen 1937, 294–298.

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digen.45 Der schon erwähnte lutherische Pfarrer in Oranienburg beschwerte sich in den 1690er Jahren über Eigenmächtigkeiten seines reformierten Kollegen Diederich bei der Zelebrierung der Gottesdienste: So habe sich Diederich angemaßt, das Prozedere zwischen Gründonnerstag und Karfreitag zu wechseln und am „stillen Freitag“ [am Karfreitag – F.G.] vormittags zu predigen. Resignierend kommentierte der lutherische Pastor: „Ich lies Ihm den Willen, weil Ich besorgete, das es Mir nicht so wie Ihm gelingen möchte, wenn Ich mit gewalt Mich zum predigen dränge.“ Diedrich wiederum lamentierte darüber, dass der lutherische Pfarrer besser als er gestellt sei. Hinzu traten Präzedenzstreitigkeiten zwischen den Geistlichen, die weniger mit konfessionellen Divergenzen zu tun hatten, sondern vielmehr die existenzielle Bedeutung von Ehre, Status und Prestige widerspiegelten  – mithin also Materien, die nicht nur für die Adelsgesellschaft der damaligen Zeit konstitutiv waren, sondern ein Strukturmerkmal für die mentale Verfassung aller Bevölkerungsgruppen in der Frühen Neuzeit darstellten. Auch wenn der Kurfürst solche Streitigkeiten nicht gern sah, denn „stehet es wohl nicht frey, das prediger sich darumb zancken“, gehörten solche Auseinandersetzungen zur alltäglichen Praxis. Man versuchte den Konflikt dadurch zu bereinigen, dass künftig das Anciennitätsprinzip Anwendung finden sollte, also „daß die beyden Prediger gehen sollen nach der Zeit, in welcher Sie bey der Kirche bestellet und angenommen worden“.46 Für die 1720er Jahre ist ein durch Verbalinjurien gespickter Streit in dem Amtsstädtchen Ziesar überliefert, dem insbesondere Auseinandersetzungen um die gemeinsam durch den lutherischen Inspektor und den reformierten Prediger wahrzunehmende Verwaltung der Armenkasse zugrunde lagen.47 Und in der havelländischen Mediatstadt Kremmen eskalierte sogar noch im Jahre 1748 ein Konflikt zwischen der reformierten Gemeinde, die aus zehn Bürgern mit ihren Familien bestand, und dem lutherischen Pfarrer Roth. Während eines Streites um die Bezahlung der Schulcolleg-Gelder griff Roth im Einverständnis mit dem königlichen Steuerrat zum Mittel der Pfändung von Mobiliar der reformierten Gemeinde. Die Auseinandersetzung zog weite Kreise, und die in diesem Zusammenhang geäußerten Bemerkungen des reformierten Predigers Twist, die gegen seine Gemeindemitglieder angewandten Restriktionen seien „ungerecht und schandvoll, daß selbst Juden, Heyden und Türcken davor

45  Vgl.

hierzu M. Leibetseder, Alltag (Anm. 4), 254. PK, I. HA Rep. 47 B 8 „Pfarrsachen“, unpag. Derzeit war der lutherische Pfarrer der Dienstälteste. Wenn er sterbe, solle der Reformierte den Vorrang erhalten. 47  Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, Rep. 40 A Nr. 908, unpag. 46  GStA



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ausspeien möchten“, zeigen sinnfällig, auf welchem schwachen Boden die immer wieder beschworene unzertrennliche „Einigkeit zwischen beyden Evangelischen Religions-Verwandten“ stand.48 Ungeachtet solcher lokalen Auseinandersetzungen ist gleichwohl kaum zu bestreiten, dass es – wenn auch nicht zu einer Annäherung im engeren theologischen Sinn – zu einem Abflauen der gegenseitigen Vorhaltungen und Unterstellungen gekommen war. Mehrere Initiativen, hinter denen oftmals auch die Landesherren persönlich standen, beförderten eine solche Entwicklung. Allerdings zeigt die durchwachsene Bilanz dieser Vorstöße, dass sich Toleranz nicht so einfach mit administrativen Mitteln erzwingen ließ und zudem alle Bemühungen einer durchgreifenden Konfessionalisierungsabsicht an ihre Grenzen stoßen mussten:

– Dazu gehörte etwa das gemeinsame Begehen von Jubiläen, die die gemeinsamen Wurzeln beider protestantischer Kirchen betonen und den Lutheranern verdeutlichen sollten, dass ihr Landesherr sich sehr wohl in dieser übergreifenden protestantischen Tradition verortete.49 So wurde auf Befehl des Königs nicht nur das Reformationsjubiläum 1717, sondern am 25. Juni 1730 auch das zweihundertjährige Bekenntnis des Augsburger Bekenntnisses in allen Kirchen des Landes mit Predigten und Gebeten gefeiert.50 – Die wiederholten „Kanzel-Edikte“ gegen das gegenseitige Schmähen durch die Geistlichen beider Konfessionen blieben – nicht zuletzt durch stete Wiederholung und das Heranwachsen einer neuen Generation von Pfarrern – durchaus nicht folgenlos. Man erachtete es als erforderlich, die strittigen Punkte, die kurzfristig kaum einer Lösung zugeführt werden konnten, in den Predigten möglichst auszusparen. So untersagte zum Beispiel das am 21. April 1722 publizierte Edikt, die besonders umstrittene Lehre von der Gnadenwahl nicht mehr zum Gegenstand von Predigten zu machen.51 Auch 48  Ebd.,

Nr. 49, unpag. hierzu übergreifend Johannes Burkhardt, Reformations- und Lutherfeiern, in: Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. v. Dieter Düding, Reinbek 1988, 212–236. 50  Vgl. die Verordnungen bzw. Mandate in: Corpus Constitutionum Marchicarum [im Folgenden: C.C.M.], Teil  1, Abtlg. 2, Nr. 111 (5.  April 1717] und Nr. 128 [3. Mai 1730]. 51  C.C.M., Teil 1, Abtlg. 1, Nr. 91. Allerdings baten führende lutherische Geistliche schon wenige Monate später um die Aufhebung des verhängten Verbotes, von der Gnaden-Wahl zu predigen, und erinnerten dezent daran, dass sich doch der König selbst im Sinne der lutherischen Gnadenlehre geäußert habe. Christus habe für alle Menschen – und nicht allein für die Auserwählten – genug getan, so dass alle diejenigen, die „im Glauben beständig beharren würden, zum ewigen Leben erwählet“ seien. Von einer Gewährung dieser Bitte ist allerdings nichts bekannt. Stolze, Unionspolitik (Anm. 14), 59. 49  Vgl.

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in den Katechismuspredigten solle „nichts von Verschiedenheit in der Religion gesagt werden“.52 – Geraume Zeit verfolgten Friedrich I. und vor allem Friedrich Wilhelm I. das Projekt einer „Union“, also einer Vereinigung beider protestantischen Konfessionen.53 Sowohl im Umfeld der Königskrönung von 1701 als auch des Reformationsjubiläums von 1717 bemühte man sich, dem Ziel näher zu kommen, indem – auch in der Öffentlichkeit wahrnehmbare – sichtbare Zeichen gesetzt wurden.54 Argwohn und Widerstände kamen nicht von ungefähr vor allem von lutherischer Seite, die befürchtete, bei diesem Kompromiss den Kürzeren ziehen zu müssen. In der Tat setzte man voraus, dass sich die Lutheraner mehr als die Reformierten in ihrer Lehrmeinung zu bewegen hätten. Diese Bestrebungen erwuchsen jedoch nicht nur aus dem Wunsch der Landesherren, die nun schon mehrere Generationen lang anhaltenden konfessionellen Differenzen innerhalb ihrer eigenen Territorien abzumildern, sondern ergaben sich auch aus reichspolitischen Motiven, worauf im letzten Abschnitt unserer Studie noch etwas näher eingegangen wird. Doch mussten diese Versuche zum Leidwesen des Königs alsbald als „ein project ohne Folge“ aufgegeben werden.55 – Schließlich hat man immer wieder daran erinnert, dass Lutheraner und Reformierte während des sogenannten Konfessionellen Zeitalters seitens der katholischen Majorität in den Reichsinstitutionen gemeinsam unter Druck gestanden hätten, so dass sich daraus zumindest zeitweise und anlassbezogen gewisse Solidarisierungseffekte ergaben. So hat der preußische Reichstagsgesandte v. Metternich 1719, als infolge der Pfälzer Wirren die konfes­sionspolitischen Wogen wieder einmal besonders hoch zu schlagen begannen, warnend darauf verwiesen, dass man von Seiten der katholischen Reichstagsgesandten die evangelischen Stände zusammen „für kein Corpus achten, und also mit denenselben in communi nicht tractiren“ wolle, was sich nachteilig auf die Durchsetzung der eigenen religions­politischen Wünsche auswirken müsse.56 In Kleve wurde bereits schon kurze Zeit nach der 52  Nicolovius

(Anm. 7), 250. Delius, Berliner Kirchliche Unionsversuche im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 45 (1970), 7–121; W.  Stolze, Unionspolitik (Anm. 14); jüngst zusammenfassend dazu H ­ .-C.  Kraus (Anm. 6), 76–81. 54  So zum Beispiel durch die Ernennung eines reformierten und eines lutherischen Bischofes für den Salbungsakt in der Königsberger Schlosskirche. Iselin Gundermann, Die Salbung König Friedrichs I. in Königsberg, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 63 (2001), 73–88. 55  Zit. nach: Berliner geschriebene Zeitungen aus den Jahren 1713 bis 1717 und 1735, hrsg. v. Ernst Friedländer, Berlin 1902, 636. 56  GStA PK, I. HA Rep. 13 Nr. 29 Fasz. 5, Bl. 13. 53  Walter



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Übernahme der Herrschaft durch den brandenburgischen Kurfürsten ins Gedächtnis gerufen, dass man seit vielen Jahren „von den differenten Nahmen der beyden Confessionen in diesen Landen nichts gewust, sonderen insgemein, wie sie auch sein, fur Augsburgische Confessions-Verwandten sich genennet und gehalten“ habe.57 – Auch die kontinuierliche gemeinsame Nutzung der Simultankirchen für den lutherischen und reformierten Gottesdienst konnte gewisse Gewöhnungseffekte im Alltag der Gemeinden bewirken. Obgleich diese Simultaneen in der älteren Literatur gern als Beleg für den Erfolg der auf Ausgleich angelegten landesherrlichen Konfessionspolitik angeführt wurden, bleibt indes festzuhalten, dass es sich dabei um „kein Massenphänomen“ handelte, „sondern eher um Einzelerscheinungen, die allenfalls punktuell die konfessionelle Homogenität des Territoriums in Frage stellten“.58 – Des Weiteren haben auch gemischtkonfessionelle Ehen, denen man zunächst mit großem Argwohn begegnete, dazu beigetragen, die mentalen Gräben etwas zu füllen. Die lutherische Geistlichkeit versuchte lange Zeit, diese hohen Barrieren bestehen zu lassen, und arbeitete dadurch den landesherrlichen Intentionen entgegen. 1694 gelangte zum Beispiel eine Beschwerde an die neumärkische Regierung über den lutherischen Pfarrer M. Gladow, der gegen „die Ehen ungleicher Religion“ gepredigt haben sollte.59 Doch ähnlich wie die ursprünglich großen Ressentiments gegenüber den reformierten Einwanderungsgruppen durch das Zusammenleben im Alltag zunehmend zurückgedrängt werden konnten und der Assimilationsprozess – nicht zuletzt ablesbar auch an der Zunahme von Heiraten zwischen reformierten Hugenotten und lutherischen Einheimischen60 – immer größere Fortschritte machte, schliffen sich auch die Vorbehalte zwischen den Konfessionsgruppen zunehmend ab. Der lutherische General Adam Friedrich Brandt v. Lindau hatte zum Beispiel anlässlich einer Kreditgewährung keine Skrupel und bekundete, „daß ihm das reformirte Geld keinen Schaden gethan habe“.61 Hier offenbarte sich eine Denk- und Verhaltensweise, die vereinzelt auch in der Hofgesellschaft zu finden war und die belegt, dass man bei aller Brisanz der konfessionellen Konflikte für Kontakte zu den Angehörigen der anderen Konfession auf­ geschlossen 57  Zit.

nach G. Almer (Anm. 4), 176. 119. 59  GStA PK, I. HA Rep. 47 Lit. C 6, Bl. 558. 60  M. Asche (Anm. 3), v. a. 560–583. Detailliert belegt etwa für Berlin bei Helga Schultz, Berlin 1650–1800. Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1987, 403 ff. 61  Die Herrschaft Wiesenburg unter den Herren Brandt von Lindau und deren späteren Mitbesitzern, den Herren von Watzdorff, von Trotta-Treyden, von Goldacker und von Tschirschky. Ein Versuch, Berlin 1883, 132. 58  Ebd.,

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blieb.62 Bereits über den in den ersten Regierungsjahren des Großen Kurfürsten in hohem Ansehen stehenden und frühzeitig zum reformierten Glauben konvertierten Konrad v. Burgsdorff ist eine Äußerung überliefert, wonach er „zwar reformirt [sei], aber um der Religion willen … er sich nicht brennen lassen“ würde.63 – Geschickt versuchte man bei dem Bemühen zur Ausmerzung der altkirchlichen Feiertage die Lutheraner mit „im Boot“ zu behalten und erinnerte an die gemeinsamen Wurzeln in dem solidarisch zu führenden Kampf gegen die Überbleibsel des Katholizismus in den Landeskirchen der brandenburgisch-preußischen Monarchie, wohl wissend, dass die lutherische Haltung hier von einer gewissen Ambivalenz geprägt war.64 Äußere Bedrohungssyndrome der wachsenden Gefahr einer Rekatholisierung sollten diese Strategie zusätzlich argumentativ stärken. – Und schließlich dürfte auch der Generationswechsel innerhalb der lutherischen und reformierten Geistlichkeit sein Übriges getan haben, um die Anfeindungen wenn auch nicht völlig zum Verstummen, wohl aber zurücktreten zu lassen.65 III. Damit ist bereits die Sonde auf jene Trägergruppen gerichtet, die für die Normendurchsetzung auf unterer Ebene, also in den Stadt- und Landgemeinden zuständig waren. Aus nachvollziehbaren Gründen kam den Pfarrern die Hauptrolle bei der Umsetzung der für die religiöse Unterweisung der Untertanen in Stadt und Land erlassenen gesetzlichen Vorgaben zu. In gewissem Sinne können sie als „Agenten der Konfes­ sionsbildung“ angesehen werden „mit dem Ziel, konfessionelle Eindeutigkeit zu erreichen“.66 Allerdings haben die bisher präsentierten Beispiele bereits vor Augen geführt, dass sich die Stadt- und Landpfarrer sowie die lutherischen Inspektoren „auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts einer Instrumentalisierung für die landesherrliche Kirchenund Religionspolitik widersetzten und sich einer vollständigen Unter62  Weitere Belege zur konfessionellen Haltung des brandenburgischen Adels bei Frank Göse, Rittergut – Garnison – Residenz. Studien zur Sozialstruktur und politischen Partizipation des brandenburgischen Adels 1648–1763, Berlin 2005, 383– 401. 63  Zit. nach Bernhard Erdmannsdörffer, Graf Georg Friedrich von Waldeck. Ein preußischer Staatsmann im siebzehnten Jahrhundert, Berlin 1869, 55. 64  F. Göse, Zwischen religiösem Dissens (Anm. 6), 101. 65  Entsprechende Beobachtungen bei H. Heyden (Anm. 20), 118. 66  M. Leibetseder, Alltag (Anm. 4), 236.



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ordnung unter das Kirchenregiment verweigerten“.67 Damit werden auch aus dieser Perspektive die Grenzen des Konfessionalisierungsparadigmas aufgezeigt, vor allem in seiner etatistischen Verengung.68 Mit einer Vielzahl von Edikten versuchte man vor allem seit dem ­ egierungsantritt Friedrich Wilhelms I., ein Mehr an Kirchendisziplin bei R den Gläubigen69 und eine höhere Professionalität in der Amtsführung der Geistlichen zu erreichen.70 Zudem wurde auf eine Ausmerzung der immer noch beobachteten Formen religiöser Devianz gedrängt. Denn in der Tat war die Situation alles andere als zufriedenstellend. Dabei wird man nicht nur die sicher zu hochgesteckten Erwartungen pietistischer Geistlicher, gewissermaßen als „religiöse Übererfüller“, als Maßstab he­ ranziehen dürfen.71 Aus dieser Perspektive fiel die Zustandsbeschreibung besonders düster aus.72 Doch abgesehen von solchen zur Übertreibung neigenden, weil von einem anderen Erwartungshorizont ausgehenden Befunden ließ die Befolgung der in den Verordnungen vorgegebenen Normen generell zu wünschen übrig.73 Mehrfach führte zum Beispiel der 67  G.

Almer (Anm. 4), 89. Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen (Bayreuther Historische Kolloquien, 18), hrsg. v. Thomas Brockmann/Dieter J. Weiß, Münster 2013. 69  Hier sind Parallelen zur Schulgesetzgebung zu beobachten, so z. B. in: C.C.M. 1. Teil, 1. Abtlg., Nr. XCVII [„Verordnung, daß die Eltern ihre Kinder zur Schule, und die Prediger die Catechisationes halten sollen“], 28.  September 1717; „Verordnung an die Inspectores wegen derer zuhaltenden Catechismus-Predigten, und was dabey zu beobachten, insonderheit wegen derer zwischen beyden Evangelischen Religionen streitigen Puncten“, Verordnung vom 13.  November 1720, CCM 1. Teil, 1. Abtlg, Nr. 107; des Weiteren bekräftigt durch die Verordnungen vom 10.  November 1724 und vom 2.  Dezember 1729, in: CCM 1. Teil, 1. Abtlg, Nr. 114 und 120. 70  Am 18.  April 1733 wurde die „Verordnung, daß derer zum Pfarr-Ambt praesentirten Candidaten Tüchtigkeit wohl geprüffet werden, und von wem es geschehen soll“, erlassen; C.C.M. 1. Teil, 1. Abtlg., Nr. 126. Um die Gemeindemitglieder besser erreichen zu können, wurden den Geistlichen Anleitungen zu verständlichen und erbaulichen Predigten vorgegeben. Vgl. dazu die Verordnung vom 8. Februar 1740; CCM Cont. I, Nr. 4. 71  Daniel Eißner, Fromme Devianz. Pietistische Handwerker als religiöse Übererfüller, in: Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter, hrsg. v. Erich Piltz/ Gerd Schwerhoff (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 51), Berlin 2015, 333–351. 72  Vgl. hierzu etwa die Beobachtungen der in der Altmark wirkenden pietistischen Pfarrer bei Walter Wendland, Der pietistische Landgeistliche in Brandenburg um 1700, in: Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte 29 (1934), 76–102. 73  Vgl. hierzu viele Belege über nichtkonformes Verhalten im Kirchenleben der Kurmark Brandenburg bei Lieselott Enders, Die Uckermark. Geschichte einer 68  Das

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Köpenicker Pfarrer in den 1690er Jahren Klage über den KleinschmiedMeister Peter Krüger, der „ein gantz Epikurisches unchristliches Leben führe, indem er einige Jahre weder die Christlichen Versamblungen besuchet, noch des Abendmahls gebrauchet, sondern täglich der Völlerey sich ergebe und dabey erschrockliche Gotteslästerung geführet“. Jedoch hätten die bisherigen Ermahnungen seitens des Magistrats und von seiner Seite bislang nicht gefruchtet.74 Doch konnten die Geistlichen, die durch eine Vielzahl von Aufgaben zeitlich stark eingespannt waren, diese hohen Erwartungen überhaupt erfüllen? Die überlieferten Klagen von Pfarrern lassen daran zweifeln. Vor dem Hintergrund dieser Lebensumstände bemüht man sich heute um eine verständnisvollere Bewertung gerade der lutherischen Geistlichkeit, deren Wirken vormals zu stark im Lichte der pietistischen Kritik be­ urteilt wurde.75 Hinzu kam, dass die Geistlichen in immer stärkerer Weise auch für „staatliche“ Obliegenheiten hinzugezogen wurden – eine angesichts des vergleichsweise geringen personellen Tableaus landesherr­ liche Amtsträger in Preußen leicht erklärbare Entwicklung.76 So hatten die Landpfarrer im Zuge der seit dem frühen 18. Jahrhundert an Bedeutung gewinnenden Statistik bei der Erstellung von Populationslisten mitzuwirken.77 Schließlich galten die von ihnen geführten und verwahrten Kirchenbücher als die „wichtigste Informationsbasis für die bürokratische Herrschaft auf dem Land“.78 Des Weiteren sollten sie nicht nur die königlichen Edikte und Mandate in ihren Gemeinden verlesen, sondern möglichst auch die Umsetzung der in diesen Dokumenten geforderten

kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 28), Weimar 1992. – Dies., Die Prignitz. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 38), Potsdam 2000.  – Dies., Die Altmark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft in der Frühneuzeit (Ende 15. bis Anfang des 19. Jahrhunderts) (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 56), Berlin 2008. 74  GStA PK, I.HA Rep. 47 Tit. 1 „Rescripte, Relationen“, Nr. 4, Bl. 63. 75  Vgl. hierzu jüngst die abwägende Beurteilung bei Wolfgang J. Weber, Luthers bleiche Erben. Kulturgeschichte der evangelischen Geistlichkeit des 17. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2017. 76  Zur relativ geringen Zahl landesherrlicher Amtsträger, selbst noch im friderizianischen Preußen vgl. Hubert C. Johnson, Frederick the Great and his officials, New Haven/London 1975, 249 f. 77  Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Kgl. Statistischen Bureaus, Berlin 1905. 78  Gerd Spittler, Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980), 574–604, hier 597.



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Normen überwachen.79 Die Übernahme solcher zusätzlicher Aufgaben im Sinne eines „verlängerten Armes“ der landesherrlichen Verwaltung wurde allerdings durch einen Teil der Geistlichkeit durchaus kritisch gesehen. Denn es stehe zu befürchten, dass damit die eigentliche Zielsetzung der seelsorgerischen Arbeit angesichts der  – in der Wahrnehmung der Geistlichen – ohnehin nur gering entwickelten christlichen Werte der ihnen anvertrauten Gemeinden konterkariert werden würde. Gerade die dem Pietismus nahestehenden Pfarrer wünschten, dass die Verlesung ­dieser „weltlichen Abkündigung“ nach dem Gottesdienst nicht durch sie selbst, sondern durch den Schulmeister oder weltliche Amtsträger und nicht im Gotteshaus, sondern auf dem Kirchhof durchgeführt werden sollte.80 Gelegentlich kam es – vor allem für die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. ist dies belegt  – zu direkten Einflussnahmen von allerhöchster Stelle auf die Wahrnehmung des Pfarramtes. Gefürchtet waren die von diesem König geforderten Predigten des Pfarrers in den Orten, die der Monarch während seiner Inspektions- und Revuereisen passierte. Ein 1736 in Kossenblatt, einem zum Amt Beeskow gehörenden Dorf, amtierender Pfarrer habe dabei in Anwesenheit Friedrich Wilhelms I. „so elend und miserabel“ gepredigt, dass dieser meinte, kaum „in der gantzen Churmark noch einen Prediger von dergleichen absurden Wesen zu haben oder zu finden“. Doch als der König eine Woche später im ruppinschen Rheinsberg weilte, wohnte er auch dort einem Gottesdienst bei und befand, „daß obschon der bekandte Prediger in dem Beeskowschen Ambts-Dorfe wenig oder nichts werth ist, dennoch dieser gegen den Prediger zu R[h]einsberg, vor einigen großen Heiligen zu achten“.81 So spektakulär solche Begebenheiten auch sein mochten, in der Regel waren die Pfarrer in Stadt und Land eingebunden in die üblichen Hie­ rarchisierungen und Loyalitätszwänge. Auch vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, gegenüber den Vorstellungen über eine allzu wirkungsvolle Umsetzung der landesherrlichen Konfessionspolitik die gebotene Zurückhaltung aufzubringen. Der adlige Patronatsherr oder der städtische Magistrat sowie die zuständigen Superintendenten waren die entscheidenden Bezugspersonen, die an die Wahrnehmung des Pfarramtes der Stadt- und Landgeistlichen gewisse Erwartungen knüpften.82 Die 79  Vgl.

hierzu B. Haußmann (Anm. 5), v. a. 142–145. Wendland (Anm. 72), 87. 81  GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1 Nr. 13 „Disputationes vor einige Prediger von der Anherokunft nach Berlin“, unpag. 82  Dies variierte in den einzelnen Regionen der Gesamtmonarchie. Als besonders weitgehend kann der ständische Einfluss in Preußen bewertet werden. Vgl. 80  W.

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Pfarrer liefen demzufolge Gefahr, in Konflikte hineingezogen zu werden, die ihrerseits deren Amtsführung beinträchtigen konnten. Besondere Streitpunkte bildeten die Gewährung der Besoldung, die Zuweisung und Bewirtschaftung des Pfarrackers oder die Kirchenbaulast.83 Immer wieder sah sich die Landesherrschaft hier zum Eingreifen aufgefordert, stieß aber genau so häufig an ihre Grenzen. Im Zusammenhang eines 1696 ausgetragenen Konfliktes im kurmärkischen Amt Saarmund ist im kurfürstlichen Namen entschieden worden, dass „die zu denen Kirchen und Pfarren von alters her gewidmete Äcker und Ländereien dabey … gelassen und denen Predigern, welche ohnehdem eine geringe Subsistentz haben, das Ihrige keinesweges entzogen oder veräußert werden solle“.84 Das mehrmalige Insistieren kündet aber davon, dass die Umsetzung zu wünschen übrig ließ. Die Patrone von acht ehemals zum Erzstift Magdeburg gehörenden und nun unter brandenburgisch-preußischer Herrschaft stehenden Kirchengemeinden weigerten sich im Jahre 1700, die Zugehörigkeit zur Kircheninspektion Ziesar zu akzeptieren. Die Pfarrer dieser Dörfer, hin und her gerissen zwischen den Erwartungen der unmittelbar vorgesetzten Kirchenbehörde und der Abhängigkeit von ihren Patronatsherren, kamen dadurch in eine missliche Lage. Einige von ihnen seien dann im Verlauf dieser Auseinandersetzung von ihren Patronen „mit beschwerlichen reversen beleget“ worden.85 Diese zu beobachtende Abhängigkeit der Landgeistlichen von den adligen Patronatsherren lag häufig schon begründet in der Kandidatenauswahl für eine vakante Pfarrstelle. Mit Unbehagen nahm man von Seiten der Zentralverwaltung die sich bei der Neubesetzung der Pfarrstellen eingeschlichene „Unsitte“ wahr, dass man dabei zu oft auf die „Beybehaltung der Pfarr-Wittwe/ oder Beforderung eines Kinder-Informatoris, oder eine Heyrath/ oder andere weltliche unanständige … Dinge“ schaue. Dieser Brauch führe dann dazu, dass die Kandidaten bei dieser „vorzeitigen Vocation … allererst bey dem examine ihre … Unfähigkeit an den Tag legen“ würden. Dennoch werde diese eigentlich ungeeignete Person auf die Stelle gesetzt, weil sie „ex vocatione bereits ein Recht erlanget / und nicht zurück gesetzet werden könten“. Künftig solle deshalb kein Pfarrkandidat die Vocation erhalten, der nicht zuvor vom Konsistorium O. Hintze, Epochen (Anm. 1), 67; übergreifend dazu: Walther Hubatsch, Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, Bd. 1, Göttingen 1968. 83  In dem im Westen Brandenburgs liegenden Grabow sei das „Klockenguht der Kirche eigenmächtig nach Burg verkaufft und das Geldt haben die Patronen zum Theil an sich behalten“. GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1 „Rescripte, Relationen“, Nr. 4, Bl. 99. 84  GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1 „Rescripte, Relationen“, Nr. 4, Bl. 99. 85  GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1 „Rescripte, Relationen“, Nr. 4, Bl. 157.



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oder von einem Inspector „ein beglaubtes Testimonium“ über seine fachliche Eignung und guten Lebenswandel erhalten habe.86 Worauf die geschilderten Begebenheiten des Königs mit den Landpfarrern exemplarisch hinzudeuten scheinen, ist eine  – im Übrigen auch durch andere Quellen bestätigte  – mitunter gravierende Kluft zwischen den Erwartungen an eine professionelle Amtsführung und den sich vor Ort widerspiegelnden Realitäten. Offenbar ließen die zur Wahrnehmung des Predigtamtes erforderlichen Fähigkeiten und der Bildungsstand et­ licher Geistlicher immer noch zu wünschen übrig, obwohl es seit dem frühen 18. Jahrhundert erhebliche Anstrengungen gegeben hatte, auf diesem Terrain zu nachhaltigen Verbesserungen zu gelangen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das 1709 erlassene Edikt zur Neuregelung des theologischen Examens.87 Vor allem während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. ist eine Fülle von Verordnungen erlassen worden mit dem Ziel, das Niveau der theologischen Ausbildung und die Amtsführung der Pfarrer anzuheben. Mitunter entstanden solche Willensbekundungen als unmittelbarer Reflex auf scheinbar unprofessionelles Verhalten einzelner Pfarrer, das der König persönlich wahrgenommen hatte oder von dem ihm berichtet worden war. So forderte Friedrich Wilhelm I. als Konsequenz auf die während seiner in Kossenblatt und Rheinsberg gemachten und bereits geschilderten Beobachtungen von den zuständigen Amtsträgern  – in diesem Falle handelte es sich um den Minister v. Cocceji, den Vize-Präsidenten v. Reichenbach und die Berliner Pröpste Jablonski, Roloff und Reinbeck  –, dass künftig kein Prediger in sein Amt eingeführt werden dürfe, der nicht zuvor von ihnen examiniert worden sei. Keiner solle berufen werden, „der nicht vorher in Berlin zu drey verschiedenen mahle geprediget hat“.88 Allerdings zeigt sich nachweislich verschiedener Quellenbelege, dass auch hier die Umsetzung auf gewisse Probleme stieß, nicht zuletzt deshalb, weil die Reisekosten für die Examinierung in Berlin von den angehenden Pfarrern vorerst allein bezahlt werden sollten. Angesichts der häufig desolaten finanziellen Lage, in der sich diese befanden, wurde einer Reihe von Pfarrkandidaten unter bestimm86  GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1, Nr. 5 „Rescripte an das Konsistorium und dessen Relationen (1706–1732)“, Bl. 10. 87  CCM, 1. Teil, Abtlg. 1, Nr. 75. Demnach solle keinem keinen Kandidaten eine Vocation erteilt werden, bis „derselbe vom Consistorio oder dem Inspectore loci mit 2. Predigten tentiret und examiniret worden“ sei. 88  GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1 Nr. 13 „Disputationes vor einige Prediger von der Anherokunft nach Berlin“, unpag. Die Minister v. Cocceji und v. Reichenbach wandten sich kurz darauf an die Theologische Fakultät der Universität Halle mit der Forderung, dass man sich untereinander beraten solle, „wie ein so heilsames Werck am besten zu regulieren“ sei.

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ten Bedingungen ein „Dispens“ gewährt, „sich nicht in Berlin zu ge­ stellen“.89 Angesichts des aus der Perspektive der zentralen Kirchenbehörden als unbefriedigend angesehenen Kirchenlebens in Stadt und Land erschien es nachvollziehbar, dass man bei der Verbesserung der Amtsführung der Pfarrer angesetzt hatte. „Weil die tägliche Erfahrung bezeuget“, ließ der König 1720 in einem Reskript verlauten, dass viele Gemeindemitglieder „in einer solchen Unwissenheit stecken / daß sie nicht einmahl die ersten Buchstaben der Christlichen Lehre gefasset“, sollte künftig der Lutherische Catechismus auch Gegenstand der öffentlichen Predigten werden.90 Dennoch drang man aus den bereits aufgezeigten Gründen oftmals kaum bis in die Pfarrgemeinden vor, so dass die Effekte der gut gemeinten ­Verordnungen begrenzt blieben. Den Konsistorien mangelte es oft „an regelmäßiger Information über die Vorgänge innerhalb der landeskirch­ lichen Gemeinden“, und „regelmäßige Kirchenvisitationen hatten seit Jahrzehnten nicht mehr stattgefunden“.91 Erst ab 1710 wurden wieder regelmäßige Kirchenvisitation durchgeführt92, und Friedrich Wilhelm  I. forderte 1715 jährliche „Local-Visitationen“.93 Größere Erfolg wurden erzielt, wenn die kirchenpolitischen Maßnahmen in ein umfassenderes Reformprogramm eingebettet werden konnten, wie zum Beispiel bei der Ansiedlung der Salzburger Emigranten in Preußisch-Litauen.94 Hier, in dieser durch gravierende Bevölkerungsverluste in so erheblicher Weise in Mitleidenschaft gezogenen Landschaft konnte im Zeichen eines Krisenbewältigungsprogramms in wesentlich durchgreifender Weise an die Reformierung bzw. Neueinrichtung des Kirchenwesens herangegangen werden. Zudem gelang es mit dieser bewussten 89  Ebd. 90  GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1, Nr. 5 „Rescripte an das Konsistorium und dessen Relationen (1706–1732)“, Bl. 49. Dies floss in die im gleichen Jahr erlassene „Verordnung an die Inspectores wegen derer zuhaltenden Catechismus-Predigten“ ein; C.C.M. 1. Teil, Abtlg. 1, Nr. 107. 91  Klingebiel (Anm. 29). 92  Vgl. hierzu die Verordnung vom 8.  Februar 1710; C.C.M. 1. Teil, Abtlg. 1, Nr. 76. Auch wenn gewisse Effekte in einigen Orten nicht zu verkennen sind, dürften Einschätzungen, wonach diese Verordnung „in dem Kirchenwesen eine vortreffliche Ordnung herbeiführte“, indes an der Realität vorbeigehen. Nicolovius (Anm. 7), 225. 93  C.C.M. 1. Teil, Abtlg. 1, Nr. 91 [3. Mai 1715]. 94  Vgl. hierzu jüngst Gabriele Emrich, Die Emigration der Salzburger Protestanten 1731–1732. Reichsrechtliche und konfessionspolitische Aspekte, Münster 2002; Mack Walker, Der Salzburger Handel. Vertreibung und Errettung der Salzburger Protestanten im 18. Jahrhundert, Göttingen/Zürich 1997.



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Förderung einer lutherischen Einwanderungsgruppe sichtbar zu demonstrieren, dass es die Landesherrschaft ernst meinte mit der gleichberechtigten Behandlung beider protestantischen Konfessionen. Dagegen wurde die gezielte Peuplierungspolitik der Hugenotten, Pfälzer und Waldenser zu Recht als Versuch interpretiert, die bislang anzutreffende „soziale Isolierung der reformierten Gemeinden“ zu verringern und die eigene  – reformierte – Konfession zu fördern.95 Und noch ein anderes Problem prägte in nicht unwesentlicher Weise das Kirchenleben in Stadt und Land. In nicht wenigen Teilen der preußischen Gesamtmonarchie stieß man im Alltag auf altgläubige Traditionsbestände; so erregte die Altarausstattung der Kirchen mit altgläubigen Relikten oder die Verwendung der lateinischen Sprache in Teilen der ­Liturgie ebenso das Missfallen wie die Bekleidung der Pfarrer mit C ­ aseln oder weißen Chorröcken.96 Auch waren zum Beispiel noch am Ende des 17. Jahrhunderts zum Andenken an Heilige eine Reihe von katholischen Feiertagen wie die Marien- und Johannis-Festtage in Gebrauch, „deren Feier“ – so wurde vorwurfsvoll vermerkt – „sogar festlicher, als selbst die des Charfreitags begangen zu werden pflegte“.97 Im Herzogtum Preußen schien die Furcht vor dem „einreissenden Papismus“ besonders groß zu sein. Aus diesem Grund wurde die preußische Regierung 1694 angewiesen, alle Vorkehrungen zu treffen, um in der alltäglichen Kirchenpraxis auf eine klare Unterscheidung in den Lehrinhalten der Konfessionen hinzuwirken. In der unzulässigen Vermischung von evangelischen und katholischen Glaubenssätzen sahen die Verantwortlichen offenbar einen Hauptgrund dafür, dass einige Protestanten, selbst Gelehrte, „allerhand Scrupel in ihrer Religion gefasset“, dennoch aber – obwohl sich nach außen noch zu den Lutheranern zählend – „im Herzen und mit der That den Katholischen angehänget“ hätten.98 Solcher Argwohn blitzte immer wieder auch in scheinbar ganz banalen Fällen auf, belegt aber, wie tief das Misstrauen im unmittelbaren Umfeld des Monarchen verwurzelt war. Gegen die Gattin des Marquis de ­Varennes, der sich schon seit längerer Zeit in Berlin aufhielt, hegte man den  – letztlich unbegründeten  – Verdacht, katholisch geworden zu sein. Als sie zu ihrem Mann in die preußische Residenz kommen wollte und deshalb um einen Pass bat, beschloss der Geheime Rat auf seiner Sitzung

95  P.-M.

Hahn (Anm. 8), 268. dazu ausführlich Graff (Anm. 44). 97  Zit. nach Nicolovius (Anm. 7), 197. 98  Zit. nach Max Lehmann, Preußen und die katholische Kirche seit 1640. Erster Theil von 1640 bis 1740, Leipzig 1878, 631. 96  Vgl.

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am 31. Oktober 1690: „Weill sie catholisch worden, muß man erst wissen, ob sie bey dem manne bleiben will, anderer gestalt kan ihr kein pass gegeben werden“.99 Im Zuge von Renovierungen oder Neubauten von Kirchen bot sich die Gelegenheit, gezielt darauf einzuwirken, dass die missbilligten altkirchlichen Relikte wie das Absingen von lateinischen Liedern, Altarleuchtern, Kaseln, Messgewändern und Chorröcken von vornherein nicht mehr in Gebrauch kamen.100 Doch selbst in solchen Fällen konnte man auf das Beharrungsvermögen vor Ort stoßen. So versuchten in dem unweit Berlin-Cöllns gelegenen Dorf Malchow die Gemeindemitglieder anlässlich des Umbaus ihres Gotteshauses, „einige alte Götzenbilder, welche in der alten Kirche daselbst stehen blieben, … ohne des Patron Vorwissen und Bewilligung wieder hineinzutragen und aufzurichten“.101 Bei diesem ­Patron handelte es sich indes um keinen Geringeren als den damaligen Konsistorialpräsidenten Paul von Fuchs. König Friedrich Wilhelm I., der noch deutlicher als sein Vater aus seiner Abneigung gegen den katholischen Glauben keinen Hehl machte, ­reagierte höchst ungehalten, wenn er in den von ihm besuchten Kirchen auf solche Restbestände des altgläubigen Kultus stieß. So hatte er auf einer seiner Reisen angeordnet, dass „insbesondere die bisherige superstitiöse Gewohnheit des Lichtbrennens auf denen Altären beym Gebrauch des Heyl. Abendmahles … gäntzlich abgeschaffet werde“.102 Aus einigen Regionen des Gesamtstaates wurde allerdings deutlicher Unmut gegenüber den Bestrebungen nach Ausmerzung der altgläubigen Traditionsbestände aus dem Kirchenleben bekundet. Was sei denn „unschuldiger“, hieß es in einer solchen Stellungnahme, „als Singen beim Altar, das vor dem Papstthum schon im Kirchengebrauche war? Soll ein gesungenes Gebet vor Gott nicht treten; müßt es auch Sünde sein, Ge­ sänge blos zu beten.“ Und was „schadet uns ein Licht, das bei dem Nachtmahl brennt, da unser Glaube sich vom Aberglaube trennt“?103 Vor allem sahen die lutherischen Gemeinden in diesen Maßnahmen „eine unzulässige Einmischung des reformierten Herrschers in die Angelegenheiten i­hrer Religion und befürchteten eine Calvinisierung“.104 99  GStA

PK, I. HA Rep. 21/127 Nr. 40, unpag. Almer (Anm. 4), 100. 101  GStA PK, I. HA Rep. 47 M 8 „Malchow“, unpag. 102  GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1 Nr. 15 „Allerhöchste Bestimmungen und Circularia betr. des Kirchen-Ceremoniell und Rituale in den evangelischen Kirchen (1736–1740)“, Bl. 5. 103  Zit. nach Nicolovius (Anm. 7), 267. 104  H. Heyden (Anm. 20), 118. 100  G.



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Interessanterweise berief man sich in den auf eine Beibehaltung der alten liturgischen Formen drängenden Appellen an den Monarchen auf die Gewährung von Toleranz, bediente sich also genau jenes Motivs, das der Landesherr bei der Umsetzung seiner konfessionspolitischen Vorgaben zur Förderung der Reformierten einforderte. Man wünsche „Gewissensfreiheit … an statt Gewissenszwingen“. Dies würde „tausend Segen bringen“.105 Anlässlich der 1695 vollzogenen Einweihung der neuen Kirche vor dem Köpenicker Tor in der brandenburgisch-preußischen ­ ­Residenz hatte der Cöllner Magistrat in diesem Sinne argumentiert. Man hielt an den dabei verwendeten weißen Chorröcken fest „mit der Begründung, dass es sich dabei um einen urchristlichen Brauch handle“.106 Diese Vorgänge vermitteln uns zugleich interessante Rückschlüsse auf die religiöse Mentalität in den Kirchengemeinden: Diese sahen sich in ­einer längeren christlichen Tradition, über scharf reglementierende konfessionelle Abgrenzungen hinweg. Zugleich führen sie uns deutlich den nach wie vor unabgeschlossenen Konfessionalisierungsprozess vor ­Augen, worauf erst kürzlich noch einmal Lucien Hölscher eindringlich hingewiesen hat.107 Hinzu kam, dass auch auf diesem Feld die subtil wirkenden Beharrungskräfte und Eigenlogiken der kleinen Lebenswelten mitunter ein allzu rigides Vorgehen der landesherrlichen Behörden ausbremsten. So hatten etwa der Cottbusser Magistrat und die Repräsentanten der umliegenden Landgemeinden auf unliebsame Weiterungen aufmerksam gemacht, sollte man  – wie vom König gewünscht  – die an die altgläubige liturgische Praxis erinnernden Elemente in den dortigen Kirchen sofort beseitigen. Es stehe dann zu befürchten, dass die „36 dahin eingepfarrte Sächsischen Dörffer Mine machten, sich künfftig zu den Sächsischen Kirchen zu halten“. Zudem würden viele sächsische Prediger „in E. K. M. Landen Filial-Kirchen versehen,“ und diese wollten „keine neue Einrichtung agnosciren“.108 Natürlich erklärt sich die Besonderheit dieses Falles vor allem aus der Lage der Enklave Cottbus-Peitz, die umgeben war von der sächsischen Niederlausitz. Jedoch sind solche die landesherrlichen 105  Nicolovius

(Anm. 7), 267. Almer (Anm. 4), 96. 107  Lucien Hölscher, Frömmigkeit und Konfessionalität in der frühen Neuzeit und heute, in: Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 20), hrsg. v. Enno Bünz/HeinzDieter Heimann/ Klaus Neitmann, Berlin 2017, 324–335. 108  GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1 Nr. 15 „Allerhöchste Bestimmungen und Circularia betr. des Kirchen-Ceremoniell und Rituale in den evangelischen Kirchen (1736–1740)“, Bl. 6. 106  G.

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Intentionen relativierenden Bedenken nicht nur in den Grenzlandschaften zu beobachten. Man hat sich auch für den hier behandelten Themenbereich eine Tatsache vor Augen zu führen, die sich mittlerweile innerhalb der jüngeren Preußenforschung als festes Strukturmerkmal e­ tabliert hat: der ausgeprägt regionalistische Charakter der Hohenzollernmonarchie des Ancien Régime.109 Demnach erwiesen sich die in den Provinzen der Gesamtmonarchie wirkenden und vor allem von den Ständen getragenen Beharrungskräfte wesentlich stärker, als man lange Zeit im Lichte der Aufstiegsgeschichte des preußischen „Einheitsstaates“ geglaubt hatte.110 Somit nahm es nicht wunder, dass sich auch die kirchlichen Verhältnisse auf Grund des seit dem Reformationsjahrhundert eingespielten Prozederes die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung oder auch der Grad der Einbindung in die Behördenstruktur des Gesamtstaates teilweise gravierend voneinander unterschieden. Zum Beispiel hatte man das 1695 von der Regierung des Fürstentums Halberstadt entworfene Edikt über Appellationen in geistlichen Angelegenheiten für geeignet gehalten, „auch in allen Unsern übrigen im Reich habenden Provincien“ anzuwenden. Gleichwohl erfolgte die Einschränkung, dass es „in Preußen [hier verstanden als das Herzogtum Preußen – F.G.] aber … bey den dortigen Landesverfassungen verbleiben müssen und von dem Ober-Appellation-Gericht, wohin auch die causa Ecclesiastica in ultima instantia daselbst gehen, keine weitere appellatio an Unsern Geheimen Rhat introduciret werden können“.111 Wir konnten bisher erkennen, dass die Bemühungen der zentralen und lokalen Akteure zur Normdurchsetzung eines gottesfürchtigen Lebens, verstanden auch im Sinne der Herstellung einer konfessionellen Eindeutigkeit, an ihre Grenzen stießen. Zudem hat man dabei zu bedenken, dass die mitunter sehr harsche Kritik mancher eifriger Pastoren an ihren Gemeinden mitunter über das Ziel hinausschoss und mehr über die individuelle Religiösität des klagenden Pfarrers als über die scheinbar rudimentär entwickelte Glaubensfestigkeit der kritisierten Gläubigen aussagt. Gerade bei den zahlreich überlieferten Wortmeldungen pietistischer Geistlicher hat man dies stets zu berücksichtigen. Dennoch nutzten die preußischen Monarchen das Potential der pietistischen Bewegung im Sinne einer Intensivierung der „Policey-Gesetzgebung“ und einer gewissermaßen als konfessionell zu umschreibenden Disziplinierung der Bevölkerung. Während etwa im benachbarten Kursachsen die dem Pietis109  Vgl.

hierzu nur Neugebauer, Staatliche Einheit (Anm. 17). Tümpel, Die Entstehung des brandenburg-preußischen Einheitsstaates im Zeitalter des Absolutismus (1609–1806), Breslau 1915. 111  GStA PK, I. HA Rep. 47 Tit. 1 „Rescripte, Relationen“, Nr. 4, Bl. 89. 110  Ludwig



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mus nahestehenden Geistlichen in ihrem wenig auf die tradierte populare Frömmigkeit Rücksicht nehmendem Eifer in den Augen ihrer Obrigkeit über das Ziel hinausschossen und selbst der religiösen Devianz bezichtigt wurden, konnte diese Reformbewegung in Brandenburg-Preußen auf eine größere  – wenn auch nicht völlig vorbehaltlose  – Unterstützung in höchsten Kreisen zählen. Allerdings wird man letzten Endes auch für die brandenburgischpreußischen Verhältnisse eine insgesamt pragmatischere Haltung des „Staates“ einzuräumen haben, die nicht soweit von der kursächsischen Linie entfernt lag. Denn im „Konfliktfalle war der weltlichen Obrigkeit eher an Ruhe, Ordnung und Stabilität gelegen,“ als sich zum Sachwalter eines in seinem moralischen Rigorismus mitunter über das Ziel hinausschießenden pietistischen Eiferers zu machen. Die landesherrlichen und ständischen Amtsträger auf der mittleren und unteren administrativen Ebene wussten sehr wohl um die fast unüberwindlichen Hemmnisse, um mit den Vorgaben in den kleinen Lebenswelten in Dorf und Stadt durchzudringen, und begnügten sich deshalb zumeist „mit konformem Verhalten und durchschnittlicher Frömmigkeit“.112 Schon allein die vergleichsweise geringe Zahl pietistischer Pfarrer außerhalb der bekannten Zen­ tren in Berlin und Halle/Saale bewahrt uns hier vor allzu euphorischen Bewertungen. Vor diesem Hintergrund erklären sich auch die Ermahnungen des Königs, das Predigtamt in einem falsch verstandenen moralischen Rigorismus nicht exzessiv auszuüben. Hier lauerten für ihn und die für das Kirchenwesen zuständigen hohen Amtsträger nicht zu Unrecht gewisse Gefahren für die innere Stabilität. In seinen Augen wäre dies zudem eine unzulässige Einmischung in die „Politica“, die zudem Unruhe in die Kirchgemeinden bringen könnte. Die Pfarrer sollten sich demnach zurückhalten mit vorschnellen Verurteilungen vermeintlicher oder tatsächlicher Irrlehren und Verhaltensweisen anderer Geistlicher und deren Stigmatisierung. Es müsse vermieden werden, dass „der unwissende Haufe …, der am wenigsten geschickt ist, davon zu urtheilen, zum Richter gesetzt“ werde.113 IV. Ebenso wie man die konfessionellen Entwicklungen in den brandenburgisch-preußischen Landen aus der Außenperspektive stets zur Kenntnis nahm, widmete man auch am Berlin-Potsdamer Hof der Konfessionspolitik im Reich seine volle Aufmerksamkeit. Denn in der Tat hatte der 112  Eißner 113  Zit.

(Anm. 79), 343. nach Nicolovius (Anm. 7), 271.

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Faktor „Konfession“ auch in der dem sogenannten „Konfessionellen Zeitalter“ folgenden Epoche seinen hohen Rang kaum eingebüßt.114 Die inneren konfessionspolitischen Probleme in den brandenburgisch-preußischen Landen entfalteten immer eine Wirkung nach außen, ebenso wie Vorgänge im Reich auf Preußen ausstrahlten. Gerade im Verhältnis zum benachbarten Kursachsen bildete dies lange Zeit ein wichtiges Thema, auch in der persönlichen Korrespondenz zwischen den Fürsten. So klagte Friedrich  III. in einem 1690 an Johann Georg III. gerichteten Schreiben über die vor allem von der Universität Wittenberg ausgehende fortgesetzte anticalvinistische Polemik, beteuerte aber zugleich, dass „Wir in dieser Welt nichts mehr verlangen, alß das die Evangelischen unter sich in Brüderlicher einig- und verträgligkeit mit einander halten“. Zudem appellierte er an die fürstliche Standessolidarität und gab zu bedenken, dass es schließlich „die liebe und treue der Unterthanen gegen ihre Obrigkeit nicht wenig schwächet, wan man ihnen verprediget, daß dieselbe ketzerisch sey“.115 Mit stärker werdendem Nachdruck beanspruchten die brandenburgisch-preußischen Landesherren die Führungsstellung unter den protestantischen Reichsterritorien, also auch der lutherischen. Demzufolge nahmen die Aktivitäten Kurbrandenburgs innerhalb des Corpus Evangelicorum  – so nannte man den Zusammenschluss der auf dem Reichstag vertretenen protestantischen Territorien – seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert erheblich zu. Als der sächsische Kurfürst Friedrich August  I. 1697 im Zusammenhang mit seiner Wahl zum polnischen König zum katholischen Glauben konvertiert war, bot sich für den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. die Chance, die – zumindest de facto so empfundene  – entstandene Vakanz im Direktorium des Corpus Evangelicorum auszufüllen.116 Diese Bemühungen scheiterten aber nicht nur an der bestehenden Rivalität mit Kurhannover, also der anderen norddeutschen protestantischen Macht, sondern auch daran, dass die Mehrheit der diesem Gremium angehörenden Reichsstände nicht bereit war, das Direktorium einem reformierten Herrscherhaus anzuvertrauen. 114  Vgl. hierzu übergreifend Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 11), Stuttgart 2006, vor allem 326–346. 115  GStA PK, I. HA Rep. 13 Nr. 19 d Fasz. 16, Bl. 2 und 6. 116  Vgl. hierzu Jürgen Luh, Unheiliges Römisches Reich. Der konfessionelle Gegensatz 1648–1806, Potsdam 1995; ders., Kampf ums Direktorium. Preußen, Sachsen und die Führung des Corpus Evangelicorum, in: Preußen und Sachsen. Szenen einer Nachbarschaft. Erste Brandenburgische Landesausstellung Schloss Doberlug, hrsg. v. Frank Göse/Winfried Müller/Kurt Winkler/Anne-Katrin Ziesak, Dresden 2014, 170–175.



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Zudem blieb nicht verborgen, dass Preußen das Agieren im Corpus Evangelicorum hin und wieder auch für andere politische Ziele instrumentalisierte, so zum Beispiel für dynastische Interessen. Als sich der (katholische!) nassau-siegensche Gesandte 1707 anmaßte, den Titel eines Fürsten von Orange zu führen, ergriff der preußische Gesandte die „Gelegenheit, … die Evangelische Gesandtschaften … zu ersuchen, Sie mögten mit diesem Mann so umgehen, daß E. Kgl. Majestät hierdurch kein Verdruß gemachet, noch tort zugefüget würde.“ Schließlich komme niemandem „als E. K. M. der Titul eines souverainen Printzen von Oranien zu“.117 Ein wichtiges Motiv für die Bemühungen um einen engeren Schulterschluss zwischen Lutheranern und Reformierten entsprang der gemeinsamen Abwehrhaltung gegenüber dem katholischen Lager. Die Angst Friedrichs III./I. vor einer katholischen Dominanz, die in der Furcht gipfelte, „daß die Catholischen die evangelischen gäntzlich ausrotten“ könnten, zog sich durch seine gesamte Regierungszeit.118 Die steigende ­Attraktivität der römisch-katholischen Kirche, die sich zum Beispiel in einer Reihe von Fürstenkonversionen bzw. in engen Kontakten von Angehörigen protestantischer Fürstenfamilien zu Repräsentanten des katholischen Klerus widerspiegelte, nahm nicht nur der König mit einiger Unruhe zur Kenntnis, sondern hielt die Landesherrschaften und Stände der protestantischen Reichsterritorien generell in Atem.119 Diese bedenkliche Entwicklung verlieh den Bemühungen um ein engeres Zusammengehen der beiden protestantischen Konfessionsparteien bis hin um die bereits erwähnten Pläne zur Bildung einer Union zwischen Lutheranern und Reformierten in Preußen mehr Überzeugungskraft. Der preußische Gesandte Henniges gab in seinem Schreiben an den preußischen König im Februar 1707 zu bedenken, dass „ohne dem eine mutuelle Christliche tolerantz unter denen Evangelischen von beyderley Kirchen zu Ihrer gemeinsahmen Conservation das allernothwendigste“ sei, denn es „könnte denen Römisch-Catholischen keine größere Freude nach gewünschter Spiel gemachet werden, als wan die Evangelische sich untereinander selbst verfolgeten.“120 Am 28. Februar 1722 wurde im Corpus Evangelicorum ein Beschluss gefasst, der „die Herbeifüh-

117  GStA

PK, I. HA Rep. 13 Nr. 27, Bl. 78. nach: Die Politischen Testamente der Hohenzollern, hrsg. v. Richard Dietrich, Köln/Wien 1986, 213. 119  Vgl. dazu Dieter Stievermann, Politik und Konfession im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1989), 177–199. 120  GStA PK, I. HA Rep. 13 Nr. 27, Bl. 74. 118  Zit.

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rung eines guten modus vivendi zwischen den beiden Schwesterkonfes­ sionen bezweckte“.121 Auch in anderen Fällen beeinflussten die religionspolitischen Interessen im Reich die Konfessionspolitik im eigenen Land. Im Besonderen bekam dies hier die katholische Minderheit zu spüren. Im Gegensatz zu seinem Nachfolger ging Kurfürst Friedrich III. allerdings etwas behutsamer vor, denn er zeigte sich besorgt, dass eine zu rigide Haltung gegenüber den einheimischen Katholiken ein Zusammengehen mit dem Kaiser gegen Ludwig XIV. von Frankreich erschweren könnte. Es war in Berlin nicht verborgen geblieben, dass die französischen Diplomaten bemüht waren, den Wiener Hof durch das Spielen auf der konfessionspolitischen Klaviatur von einer Bindung an die entstehende antifranzösische Allianz abzuhalten. Darin seien schließlich vorrangig protestantische Mächte engagiert, und es könne doch nicht  – so die französische Argumentation  – angehen, dass sich der katholische Kaiser dafür hergebe, der Sache der „Ketzer“ zum weiteren Durchbruch zu verhelfen. Das war in der Tat ein Argument, das aufhorchen ließ und das man in seiner Wirkung nicht gering zu veranschlagen hatte. Folgerichtig sah sich der brandenburgische Gesandte in Wien, Nikolaus Bartholomäus v. Danckelman, in seinem Schreiben vom 26. Dezember 1688 veranlasst zu betonen, dass man „von allem widrigen Verfahren gegen die Katholische“ Abstand nehmen sollte, „damit I. Kais. Maj. keine Ursache hätten an denen französischen Ausstreuen zu deferieren“.122 Die Haltung gegenüber den Katholiken im Herzogtum Preußen war wiederum von Rücksichten gegenüber dem Königreich Polen beeinflusst. Kurbrandenburg zeigte sich deshalb zur ­ Vermeidung von Verstimmungen mit der polnischen Seite des Öfteren zum Entgegenkommen bereit, zumal es sich dabei in der Regel nur um kleinere Zugeständnisse handelte, wie etwa die Genehmigung des Wiederaufbaus einer katholischen Kapelle oder die Erlaubnis der Grundstücksübertragung an einen Katholiken.123 Die relativ starke Präsenz einer katholischen Minderheit in den niederrheinischen Landen des Gesamtstaates hatte die brandenburgisch-preußischen Landesherren stets vor besondere Herausforderungen gestellt, galt es doch zum Einen, aus reichspolitischen Erwägungen auf die Belange der „eigenen“ Katholiken 121  W.

Stolze, Unionspolitik (Anm. 14), 62. nach M. Lehmann (Anm. 98), 364. 123  Gerade dieser für 1691 überlieferte Fall belegt die Rücksichtnahme auf Polen, wenn in dem Erlass an die preußische Regierung zwar betont wird, dass man „ungerne“ sehe, „dass die Zahl der römisch-katholischen Eingesessenen alldort im Lande vermehrt wird“. Jedoch sei mit den katholischen Kaufinteressenten so zu verhandeln, „ohne mit der Kron Polen Uns zu committiren“; M. Lehmann (Anm. 98), 629. 122  Zit.



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Rücksicht zu nehmen, zum Anderen konnte ein Entgegenkommen gegenüber den Wünschen dieser Untertanen-Gruppe aber auch als Druckmittel auf anderem religionspolitischem Terrain im Reich instrumentalisiert werden.124 Doch war auch Friedrich I. gegebenenfalls bereit, die Gangart in seiner Konfessionspolitik zu verschärfen. Als die diplomatischen Vorstöße auf Reichsebene zur Beendigung des rigiden Vorgehens des katholischen Kurfürsten von der Pfalz gegenüber seinen reformierten Untertanen kaum eine befriedigende Wirkung gezeigt hatten, setzte man am Berliner Hof auf ein neues Druckmittel. Angesichts der unverminderten Verfolgung der Glaubensverwandten sei es recht und billig, wenn – so in einem königlichen Befehl vom 6. Dezember 1704 – „Wir in Unsern Landen, und an denen in denselben befindlichen Unterthanen katholischer Religion, non nun an so fort, eben das Procedere anfingen, welches die katholischen Obrigkeiten an ermeldten Orten mit ihren evangelischen Unter­ thanen halten“.125 Auch unter seinem Nachfolger fand diese Haltung ihre Fortsetzung; die sogenannten „Pfälzer Wirren“ bildeten bis in die 1720er Jahre hinein ein wichtiges Thema der Konfessionspolitik im Reich.126 Dabei suchte Friedrich Wilhelm I. auch den Schulterschluss mit anderen protestantischen Staaten wie Großbritannien und Schweden, um der von ihm favorisierten Politik mehr Nachdruck zu verleihen. Der preußische König reizte dabei seine Möglichkeiten auf diesem politischen Terrain mehr aus als sein Vorgänger und war in diesem Zusammenhang auch bereit, die Beziehungen zur Wiener Hofburg nicht geringen Belastungen auszusetzen. Kaiser Karl VI. verwies im August 1728 in einem Schreiben an Friedrich Wilhelm I. auf seine Bemühungen in der Pfalz-Frage und beklagte dabei das den Konflikt eher anheizende Vorgehen des preußischen Königs gegen die in seinen Territorien lebenden Katholiken, vor allem in Kleve, Mark und Ravensberg. Dagegen hatte inzwischen der pfälzische Kurfürst Religionsbeschwerden eingelegt. Der Kaiser mahnte Friedrich Wilhelm I., diese „Religions Beschwerden Lieber von selbst güetlich abzustellen … als es zu Vorwürffen und Reichs-Satzungsmäßigen Verordnungen und unangenehmen weitläuffigkeiten kommen zu lassen“. Und er sparte dabei nicht mit dem maliziösen Hinweis darauf, „was gegen einen 124  Vgl. hierzu längsschnittartig jüngst die Studie von Alexander Weber, Konfessionelle Konflikte nach dem Westfälischen Frieden. Die Religionsbeschwerden der katholischen Kirche des Herzogtums Kleve im 18. Jahrhundert (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, 77), Hamburg 2013. 125  Zit. nach Nicolovius (Anm.  7), 210 f. 126  Vgl. hierzu zusammenfassend Burkhardt, Vollendung (Anm. 114), 326–328.

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recht seyn soll, wieder den anderen nicht unrecht seyn kann“.127 Schließlich erinnerte Karl den preußischen König an seine Verpflichtungen als Kurfürst des Reiches gegenüber der Reichssatzung und Bestimmungen des Badener Friedens.128 Auf die in den 1720er Jahren zu beobachtenden konfessionspolitischen Zuspitzungen im Reich mag es u. a. zurückzuführen sein, dass die auf die Geistlichkeit gerichtete Personalpolitik des Königs rigider wurde. Ein Studium an einer ausländischen Universität sollte künftig die absolute Ausnahme bilden.129 Lediglich den Reformierten wurde, wenn sie den Wunsch nach einem Auslandstudium verspürten, empfohlen, in Utrecht oder Basel zu studieren. Seit dem Ende der 1720er Jahre stellte ein Studium an der Universität Halle in der Regel die Voraussetzung für eine Anstellung als Pfarrer dar.130 V. Anstelle eines Resümees seien abschließend noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse aus den präsentierten Beobachtungen thesenartig zusammengefasst. 1. Die Konfessionspolitik nahm bei beiden hier behandelten preußischen Königen innerhalb ihrer Herrschaftspraxis einen hohen Stellenwert ein, sie bestimmten letztlich deren Leitlinien. Die im 17. Jahrhundert etablierte Mehrkonfessionalität im brandenburgisch-preußischen Gesamtstaat stellte die zentrale Herausforderung dar, auf die die Landesherrschaft in mehrfacher Hinsicht zu reagieren hatte. Die Kontinuitäten überwogen auf diesem Politikfeld ungeachtet gewisser Nuancierungen sowohl in der persönlichen Religiösität beider Herrscher als auch mit Blick auf die sich wandelnden Herausforderungen inner- und außerhalb ihrer Territorien. Zudem bietet auch die zumeist über den Herrscherwechsel hinaus konstant bleibende Zusammensetzung der mit konfessionspolitischen Fragen betrauten Amtsträgerschaft eine Erklärung für diese Entwicklungen. 2.  Die Umsetzung der Konfessionspolitik, an der im Übrigen viele Akteure auf den verschiedenen Ebenen des Gesamtstaates beteiligt waren, stieß jedoch auf mehrfache Hindernisse. Diese liegen zum Einen in der 127  Haus- Hof- und Staatsarchiv Wien, Bestand Reichskanzlei K. 32 Brandenburgica 1728–1740, Bl. 12 f. 128  Ebd., Bl. 88. 129  G. Almer (Anm.  4), 53 f. 130  C.C.M., Teil 1, Abtlg. 2, Nr. 126.



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regionalistischen Grundstruktur der preußischen „composite monarchy“ begründet und können zum Anderen mit den auch für andere Reichs­ territorien bzw. europäische Staaten analysierten Grenzen der Konfessio­ nalisierbarkeit erklärt werden. So entwickelten die Geistlichen in Stadt und Land und die mit dem Kirchenwesen befassten Behörden einen zum Teil  erstaunlichen Freiraum bei der konkreten Umsetzung der landesherrlichen Vorgaben, oder aber sie scheiterten mit ihren zum Teil überzogenen Erwartungen an der oft noch tief in altgläubigen bzw. vorchrist­ lichen Traditionsbeständen verhafteten Religiösität „ihrer“ Gemeinden. Vor diesem Hintergrund darf man die in den landesherrlichen Edikten vorgegebenen Materien allenfalls als Absichtserklärung interpretieren, der Realität entsprach das dort vermittelte Bild nur bedingt. Das für die Frühe Neuzeit typische Auseinandertreten von Norm und Wirklichkeit, obgleich mittlerweile eigentlich schon fast als Binsenweisheit daherkommend131, besitzt auch für die hier behandelte Thematik ein hohes erklärendes Potential. 3. Die Konfessionspolitik im Land muss stets vor dem Hintergrund der Herausforderungen der Reichspolitik gesehen werden, vor allem in jenen Jahrzehnten, für die man zu Recht Tendenzen einer „Rekonfessionalisierung“ beobachtet hat.132 Beide preußischen Könige haben diese Interdependenzen stets aufmerksam im Blick behalten und waren gegebenenfalls bereit, die internen Konflikte in ihren Landen für ihre konfessionspolitischen Interessen im Reich zu instrumentalisieren.

131  Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 647–663. 132  Burkhardt, Vollendung (Anm. 114), 326 f.

Spätkonfessionalismus und Frühaufklärung – Christian Wolff zwischen August Hermann Francke und Friedrich II. Von Hans-Christof Kraus, Passau I. „[…] der schwehre Krieg zwischen Herrn Wolfen und seinen Gegnern  […], welcher fast ganz Europa aufmercksam gemacht und an bedenklichen Umständen nicht nur in der alten Historie der Philosophen seines gleichen nicht hat“, so ist wörtlich in einem Text aus dem Jahr 1741 zu lesen, wurde bereits sehr früh als zentrale Auseinandersetzung um Bedeutung und Grenzen von Theologie, Aufklärung und Wissenschaftsfreiheit aufgefasst. „Es ist auch derselbige“, heißt es dort weiter, „mit so grosser Hitze von beyden Seiten geführt, über so wichtige Puncten gestritten, und mit so wunderbaren Abwechslungen des Erfolgs begleitet worden, daß er allerdings bey der Nachwelt eines der wichtigsten Stücke der philosophischen Historie seyn, und dieser grosse Philosophe nicht weniger merckwürdig seyn wird, als es in den alten Zeiten Anaximander, Socrates, Aristoteles, Democritos, Epicurus und andere […] worden sind, welchen ein gleiches, oder doch ähnliches Schicksal in der philosophischen Historie ein ewiges Andencken gemachet hat“1. Der Autor Jacob Brucker, der diese Worte in seinem bald nach Wolffs Rückkehr an die Universität Halle erschienenen „Bildersal heutigen ­Tages lebender / und durch Gelahrtheit berühmter Schriftsteller“ drucken ließ, brachte noch einmal die Tatsache auf den Begriff, dass die große Kontroverse zwischen dem Philosophen Christian Wolff und seinen theologischen Widersachern an der Universität Halle, allen voran August Hermann Francke und Joachim Lange, die „Causa Wolffiana“, wie sie damals ebenfalls bezeichnet wurde, als Ereignis von zentraler Bedeutung für den Fortgang der Sache der Aufklärung keineswegs nur in Deutsch-

1  Bildersal heutiges Tages lebender / und durch Gelahrtheit berühmter Schriftsteller, von Jacob Brucker u. Johann Jacob Haid. Erstes Zehnt, Augsburg 1741, Nr. 8, 3 f.; hier zit. nach Michael Albrecht, Einleitung, in: Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica (Anm. 19), IL–L.

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land angesehen wurde2. Dem entspricht wohl auch die Tatsache, dass die Deutung der Vertreibung Wolffs im Jahr 1723 und die spätere Korrektur dieser Maßnahme durch den jungen König Friedrich II. im Jahr 1740, also nach siebzehn Jahren, bis heute eigentümlich umstritten ist, was sich vor allem an der geistesgeschichtlichen Einordnung und Bewertung der eigentlichen Protagonisten dieser Kontroverse festmacht. Das etwas simple Schwarz-Weiß-Schema, das in der Auffassung gipfelt, mit Wolffs Rückkehr habe der Geist einer aufgeklärt-fortschritt­ lichen Denkweise über die rückständigen Auffassungen der theologischen Dunkelmänner um Francke den endgültigen Sieg davongetragen, ist tatsächlich lange Zeit vorherrschend gewesen; vertreten wurde es vor allem von der älteren Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, von denen hier nur an Eduard Zeller und Werner Frauendienst erinnert sei3.

2  Aus der Fülle der älteren und neueren Literatur zur „Causa Wolffiana“ siehe zuerst die als Quelle noch wichtige zeitgenössische Darstellung von Johann Christoph Gottsched, Historische Lobschrifft Herrn Christians, Freyherrn von Wolf, Halle a. S. 1755, 53–104, hierzu auch Detlef Döring, Johann Christoph Gottsched als Biograph Wolffs, in: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004, Teil 5, hrsg. v. Jürgen Stolzenberg/Olivier-Pierre Rudolph (Wolffiana II.1; C ­ hris­tian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente, 101), Hildesheim/Zürich/ New York 2007, 87–102. Sodann: Heinrich Wuttke, Ueber Christian Wolff den Philosophen. Eine Abhandlung, in: Ders., Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung. Herausgegeben mit einer Abhandlung über Wolff, Leipzig 1841, 1–106, hier 12–71; Eduard Zeller, Wolff’s Vertreibung aus Halle; der Kampf des Pietismus mit der Philosophie, in: Ders., Vorträge und Abhandlungen, Bd. I, 2. Aufl. Leipzig 1875, 117–152; Hans Droysen, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 23 (1910), 1–34; Werner Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker (Historische Studien, 171), Berlin 1927, 27–35, 44–63; Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als politisch-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, 389–441; Wolfgang Drechsler, Christian Wolff (1679–1754). A Biographical Essay, in: Jürgen G. Backhaus (Hrsg.), Christian Wolff and Law & Economics. The Heilbronn Symposium (Christian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente, 45), Hildesheim/Zürich/New York 1998, 111– 128, bes. 113–117; wichtige Darstellung mit neuem Quellenmaterial: Albrecht Beutel, Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen Halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie, in: Ders., Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 124–169; sodann Thomas P. Saine, The Problem of Being Modern or The German Pursuit of Enlightenment from Leibniz to the French Revolution, Detroit 1997, 146–152; Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert  – ein Epochenbild, Berlin 2015, 263– 293; Anna Szyrwi´nska, Die Pietisten, in: Robert Theis/Alexander Eichele (Hrsg.), Handbuch Christian Wolff, Wiesbaden 2018, 383–403. 3  Siehe Anm. 2.



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Erst nach 1945 begann sich die vergleichende Perspektive auf Wolff und Francke nachhaltig zu ändern; so waren es etwa Autoren der DDR-Forschung wie Rosemarie Ahrbeck, Peter Wermes oder vorher schon Günter Mühlpfordt, die beide Kontrahenten, Francke ebenso wie Wolff, nunmehr dem „fortschrittlichen“ Lager der deutschen Geistesgeschichte zuordnen zu können meinten und den Konflikt zwischen beiden als einen „Streit in der Aufklärung“4 deuteten. Den entgegengesetzten Weg wiederum beschritt auf der  – damals  – westlichen Seite Carl Hinrichs, der in seiner bedeutenden, bis heute grundlegenden Untersuchung über „Preußentum und Pietismus“ diesen Konflikt vor dem Hintergrund neuer Quellenfunde zur Geschichte des Pietismus in Halle ein weiteres Mal rekonstruierte und analysierte; Hinrichs arbeitete seinerseits die stark alteuropäisch-traditionalistischen Elemente in der Philosophie Wolffs deutlich heraus und rückte ihn auf diese Weise wiederum näher an die christliche Gedankenwelt mancher seiner theologischen Zeitgenossen heran5. Das Problem einer abschließenden, allseits befriedigenden Deutung des Konflikts wird sich vermutlich kaum lösen lassen, da bis heute die partiell sehr verschiedenen Perspektiven der Historiker, der Philosophen und der Theologen jeweils sehr unterschiedliche Schlaglichter auf die Vorgänge der Jahre 1723 bis 1740 werfen und wohl auch weiterhin werfen werden. Deshalb sollte die Frage nach vermeintlicher „Fortschrittlichkeit“ oder „Rückständigkeit“ der streitenden Protagonisten oder auch nach beider Verwurzelung in den geistig-religiösen Traditionen der frühen Neuzeit nicht im Mittelpunkt einer solchen Untersuchung stehen; das Dilemma ist ohnehin kaum in befriedigender Weise zu klären, denn alles hängt nun einmal davon ab, welches Verständnis von Aufklärung, von Fortschritt, von Rückständigkeit oder von Tradition hier jeweils zugrunde gelegt wird. Und vielleicht vermag gerade eine multiperspektivische Betrachtungsweise das komplexe Thema am besten zu erhellen.

4  Rosemarie Ahrbeck, Wolff und Francke  – Kontrahenten oder Kampfgefährten?, in: Hans-Martin Gerlach/Günter Schenk/Burchard Thaler (Hrsg.), Christian Wolff als Philosoph der Aufklärung in Deutschland (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1980/32), Halle a. S. 1980, 101– 110; Peter Wermes, Aufklärung im Streit oder Streit in der Aufklärung? Bemerkungen zum Verhältnis von Pietismus und Wolffianismus, in: ebd., 111–117; siehe bereits Günter Mühlpfordt, Christian Wolff, ein Bahnbrecher der Aufklärung, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. II, Halle a. S. 41952, 31–39; ders., Christian Wolff, ein Enzyklopädist der deutschen Aufklärung, in: Jahrbuch für Geschichte der deutsch-slawischen Beziehungen und Geschichte Ost- und Mitteleuropas 1 (1956), 66–102. 5  Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 397 ff. u. passim.

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Und es mag aus heutiger Sicht ebenfalls angemessen sein, wenn man auch und gerade die institutionellen, d. h. hier: die im engeren Sinne universitäts- und bildungsgeschichtlichen Aspekte des Themas etwas näher in den Blick nimmt und sich die Tatsache vergegenwärtigt, dass im Konflikt zwischen Philosophie und Theologie sich nicht nur einzelne Personen, sondern eben auch zwei unterschiedliche geistige Disziplinen und nicht zuletzt zwei Fakultäten gegenüberstanden, von denen die eine sich bereits um und nach 1700 darum bemühen musste, ihre jahrhundertelange privilegierte Stellung als rangmäßig erste und damit die drei anderen dominierende Fakultät zu wahren und zu behaupten6, während die andere danach strebte, ihren niederen Status als bis dahin unterste und letzte nach Möglichkeit zu erhöhen, mit den anderen Fakultäten wenigstens gleichzuziehen und damit ebenfalls den neuen Stellenwert der Philosophie als Leitwissenschaft der Aufklärung zu unterstreichen und auch institutionell abzusichern. Immanuel Kant konnte 1798 in seiner letzten Schrift „Der Streit der Fakultäten“ bereits die Bilanz dieser Auseinandersetzung ziehen und mit seiner selbstbewussten Forderung, die Philosophische Fakultät in der Universität nunmehr an die erste Stelle zu setzen, im Grunde schon den Sieg der eigenen Fakultät und Disziplin verkünden7. Doch acht bis neun Jahrzehnte vorher, zu der Zeit nämlich, in der die Geschichte jener „Causa Wolffiana“ einsetzte, begann sich ein mit äußerster Schärfe und dazu noch öffentlich geführter Konflikt zwischen Theologen und Philosophen allererst als vage Möglichkeit am Horizont der Wissenschaften abzuzeichnen8. Sicher war es kein Zufall, dass sich diese Auseinandersetzung an der damals neuesten und auch nach Lehrmethode und Lehrprogramm modernsten deutschen Universität, nämlich der erst 1694 gegründeten Friedrichs-Universität zu Halle, abspielen sollte9, denn 6  Zur Entstehung, Geschichte und Funktion der Fakultäten siehe u. a. Hartmut Boockmann, Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, Berlin 1999, 59 ff.; Hans-Albrecht Koch, Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution, Darmstadt 2008, 37 ff.; speziell auch Reinhard Wittram, Die Universität und ihre Fakultäten (Göttinger Universitätsreden, 39), Göttingen 1962, bes. 8 ff. 7  Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Berlin 1917, 1–116 („Der Streit der Fakultäten“), hier 35; siehe auch unten den Schluss der vorliegenden Abhandlung. 8  Grundlegend für den Zusammenhang und auch für das Verhältnis zwischen Offenbarungsreligion und Universitätsphilosophie des 18. Jahrhunderts noch immer Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, 32), Tübingen 1945, passim. 9  Immer noch unverzichtbar Wilhelm Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bde. I–II, Berlin 1894; zum Zusammenhang auch Günter Jerou-



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dort wirkte, als Christian Wolff 1706 berufen wurde, bereits einer der führenden deutschen Frühaufklärer, der an der Juristischen Fakultät lehrende Christian Thomasius, der noch vor Wolff in das Visier der pietistischen Universitätstheologen geraten und bei der Berliner Regierung verleumdet worden war  – doch diese Angelegenheit war in seinem Fall noch relativ glimpflich, nämlich nur mit einer milden Verwarnung und Mahnung zu größerer Zurückhaltung, zu Ende gegangen10. Der Fall Christian Wolff endete bekanntlich ganz anders, und dies hängt nicht nur mit dem spezifischen Charakter, dem geradezu extrem ausgebildeten Selbstbewusstsein dieses Philosophen zusammen. Denn in der Auseinandersetzung Wolffs mit seinen theologischen Kollegen und schließlich auch mit König und Regierung in Berlin verknüpften sich verschiedene, in der Sache nur schwer voneinander zu trennende, jedoch in der Analyse sorgsam zu unterscheidende Konfliktebenen, die als solche erst zusammen dieses Ereignis und dessen Folgen bestimmt haben. Es handelte sich dabei erstens tatsächlich um einen Kampf zwischen pietistischer, also stark gefühlsmäßig bestimmter, offenbarungsgläubiger Theologie und akademischer, rational-abstrakt argumentierender Philosophie sowie ebenfalls zwischen den Personen, die sich mit eben diesen Glaubens- und Denkinhalten identifizierten; zweitens ging es um einen akademischen Institutionenkonflikt, d. h. um eine Neubestimmung des Verhältnisses nicht nur dieser beiden Disziplinen, sondern auch zweier Fakultäten; es waren bei diesem Konflikt drittens einige (zumeist erst auf den zweiten Blick erkennbare) eigentlich banale universitäre Intrigen im Spiel, so ging es etwa um den Einfluss auf Lehrstuhl- und Stellenbesetzungen, um akademische Klientelwirtschaft, und es handelte sich viertens ebenfalls – und zwar nicht zuletzt – um eine genuin politische Auseinandersetzung, in der durchaus nicht nur über die Bestimmung des Stellenwertes von Religion und Glauben innerhalb der Gesellschaft gestritten wurde, sondern es ging zugleich, auf der rein pragmatischen Ebene, um einen Kampf um Möglichkeit und Ausmaß politischer Einflussnahme auf den bekanntermaßen ausgesprochen streng gläubigen König von Preußen sowie ebenfalls auf den im Laufe der 1730er Jahre immer wichtiger werdenden, seinerseits eindeutig der modernen Philosophie zuneigenden Kronprinzen. – Alle diese Aspekte sind also zu berück-

schek/Arno Sameso (Hrsg.), Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806), Hanau/ Halle a. S. 1994. 10  Vgl. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. I (Anm. 9), 205–211; Wundt, Die deutsche Schulphilosophie (Anm. 8), 19–61; Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 352–387.

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sichtigen, wenn es darum geht, diesen Konflikt sowie dessen Verlauf und dessen Folgen zu verstehen. II. Christian Wolff stammte aus Breslau, damit aus dem bikonfessionellen, seinerzeit noch habsburgisch regierten Schlesien, und er nahm  – wenn man der hier leider nur schmalen und eher bruchstückhaften Überlieferung trauen darf – schon als junger Gelehrter großen Anteil an den konfessionellen und politischen Debatten seiner Zeit; sein frühes ausgeprägtes Interesse gerade an theologischen Fragen, mit denen er sich auch während seines Studiums in Leipzig befasste, ist jedenfalls eindeutig belegt11. Und heutige Theologen und Kirchenhistoriker bestätigen, dass „für einen antitheologischen Impetus“ im frühen Bildungsgang Christian Wolffs „keine Spur“12 zu finden sei. Auch die Berufung des jungen aufstrebenden Wissenschaftlers nach Halle im Jahr 1706, wo er in den ersten Jahren vor allem mathematische und naturwissenschaftliche Vorlesungen hielt, erregte noch nicht den Widerspruch der dortigen Theologen13. Die theologische Fakultät in Halle wurde durch die dort an führender Stelle wirkenden Pietisten14 dominiert, an deren Spitze August Hermann 11  Vgl. Wuttke, Ueber Christian Wolff den Philosophen (Anm. 2), 9–12; Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker (Anm. 2), 11 f.; zum geistesgeschichtlichen Hintergrund immer noch wichtig Herbert Schöffler, Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff, 3. Auf. Frankfurt a. M. 1974, 184–194; Saine, The Problem of Being Modern (Anm. 2), 126 f. 12  Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 128. 13  Vgl. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. I (Anm. 9), 168 ff.; Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker (Anm. 2), 17 ff.; Wundt, Die deutsche Schulphilosophie (Anm. 8), 131 ff. 14  Siehe aus der umfangreichen Literatur neben der bekannten älteren Darstellung von Albrecht Rischl, Geschichte des Pietismus, Bd. II/1, Bonn 1884, 383–584, auch Ferdinand Josef Schneider, Das geistige Leben von Halle im Zeichen des Endkampfes zwischen Pietismus und Rationalismus, in: Sachsen und Anhalt 14 (1938), 137–166; Klaus Deppermann, Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.), Göttingen 1961, sowie das unüberholte Standardwerk von Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), jeweils passim; ders., Der Hallische Pietismus als politisch-soziale Reformbewegung des 18. Jahrhunderts, in: ders., Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. Gerhard Oestreich (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 10), Berlin 1964, 171–184; Martin Brecht, August Hermann Francke und der Hallesche Pietismus, in: Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, hrsg. v. Martin Brecht, Göttingen 1993, 439–539; Udo Sträter, Aufklärung und Pietismus  – das Beispiel Halle,



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Francke stand, der sich nicht nur als einflussreicher Vertreter und sehr aktiver Propagandist des pietistischen Gedankenguts einen Namen gemacht hatte, sondern auch als angesehener, höchst erfolgreicher Sozialreformer, dessen großes, bald über die Grenzen Brandenburg-Preußens hinaus ­ bekanntgewordene „Waisenhaus“ mit angeschlossenen Schulen, Ausbildungs- und Produktionsstätten ein (bis heute als Stiftung bestehendes) eindrucksvolles Werk darstellte15. Die soziale und damit politische Bedeutung von Franckes Tätigkeit brachte ihn rasch in engen Kontakt mit der Regierung in Berlin und darüber hinaus vor allem in persönliche Verbindung zum seit 1713 regierenden, streng gläubigen und an theologischen Fragen stark interessierten König Friedrich Wilhelm I.16 in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Universitäten und Aufklärung (Das achtzehnte Jahrhundert, Supplemata 3), Göttingen 1995, 49–61; mit wichtigen Einzelbeiträgen: Norbert Hinske (Hrsg.), Zentren der Aufklärung I: Halle  – Aufklärung und Pietismus (Wolffenbütteler Studien zur Aufklärung, 15), Heidelberg 1989. 15  Zu Person und Werk siehe u. a. Erich Beyreuther, August Hermann Francke, Berlin 1960, passim; zu den „Stiftungen“ (neben den bereits genannten Arbeiten von Hinrichs) noch: Erhard Selbmann, Die gesellschaftlichen Erscheinungsformen des Pietismus hallischer Prägung, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Bd. II, Halle a. S. 1952, S. 59–76; Friedrich de Boor, Die Franckeschen Stiftungen als „Fundament“ und „Exempel“ lokaler, territorialer und universaler Reformziele des Hallischen Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 10 (1984), S. 213– 226; Helmut Obst, A. H. Francke und die Franckeschen Stiftungen in Halle, Göttingen 2002; neuerdings auch Kelly Joan Whitmer, The Halle Orphanage as Scientific Community. Observation, Eclecticism, and Pietism in the Early Enlightenment, Chicago 2015. 16  Vgl. neben Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 88  ff., ebenfalls Wilhelm Stolze, Friedrich Wilhelm I. und der Pietismus, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 5 (1907), 172–205; Texte und Zeugnisse u. a. in: Jochen Klepper, Der Soldatenkönig und die Stillen im Lande. Begegnungen Friedrich Wilhelms I. mit August Hermann Francke/Gotthilf August Francke/Johann Anastasius Freylinghausen/Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (Der EckartKreis, 41), 2. Aufl. Berlin 1938; siehe ebenfalls noch Hans J. Hillerbrand, Religion und Politik in Preußen: Friedrich Wilhelm I. und der Pietismus, in: Friedrich Beck/ Julius H. Schoeps (Hrsg.): Der Soldatenkönig. Friedrich Wilhelm I. in seiner Zeit (Brandenburgische Historische Studien, 12), Potsdam 2003, 49–68.  – Zum allgemeinen Kontext der preußischen Kirchenpolitik um und nach 1700 vgl. auch Thomas Klingebiel, Pietismus und Orthodoxie. Die Landeskirche unter den Kurfürsten und Königen Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. (1688 bis 1740), in: Gerd Heinrich (Hrsg.), Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999, 293– 324; Rudolf von Thadden, Die Geschichte der Kirchen und Konfessionen, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 3: Vom Kaiserreich bis zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 2001, 547–711, hier 567–572, sowie Hans-Christof Kraus, Staat und Kirche in Brandenburg-Preußen unter den ersten beiden Königen, in: Joachim Bahlcke/Werner Korthaase (Hrsg.), Daniel Ernst Jablonski. Religion, Wissenschaft und Politik um 1700, Wiesbaden 2008, 47–85, hier 69 ff.

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Und Francke verstand es denn auch sehr bald, diese wichtigen Kontakte nicht nur zu pflegen, sondern für seine Zwecke intensiv zu nutzen. Seit genau dieser Zeit, etwa um 1712/13, geriet der junge Professor Christian Wolff in das Visier seiner pietistisch orientierten Universitätskollegen von der Theologischen Fakultät, denn er war inzwischen nicht nur dazu übergegangen, philosophische Vorlesungen zu halten, sondern er hatte es zugleich unternommen, mit allergrößtem Fleiß ein eigenes philosophisches System auszuarbeiten, das er zuerst, wohl nach dem Vorbild seines Kollegen Thomasius (mit dem ihn sonst jedoch nicht viel verband), in deutscher Sprache zu publizieren begann  – mit den Schwerpunkten Logik, Metaphysik, Ethik und Politik. Es versteht sich, dass hierbei immer wieder auch religiöse und theologische Fragen behandelt wurden. Wolff war bestrebt, die zentralen Dogmen der christlichen Religion in sein streng durchkomponiertes und rational-logisch argumentierendes philosophisches System zu integrieren; das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele stellten für ihn nicht nur Glaubenswahrheiten, sondern ebenfalls rational zu begründende und daher unbestreitbare Tatsachen dar17. Aber auch aus politischen Gründen, nämlich um den inneren Zusammenhalt und die Funktionsfähigkeit eines Gemeinwesens zu gewährleisten, betonte Wolff nachdrücklich die Unantastbarkeit der Religion: In seiner zuerst 1721 veröffentlichten sog. „Deutschen Politik“  – sie trug den vollständigen Titel „Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschafftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes“ – vertrat er die Auffassung, man könne Atheisten, die Gott leugneten und damit auch die politischen und sozialen Grundwerte der Religion in Frage stellten, „im gemeinen Wesen nicht dulden“18.

17  Zu den religiös-theologischen Fundamenten der Lehren Wolffs vgl. besonders Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. II, Gütersloh 1964, 48–91, bes. 63 ff. u. passim; ebenfalls Werner Schneiders, Deus est philosophus absolutus summus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff, in: Ders. (Hrsg.), Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 4), Hamburg 1986, 9–30, bes. 24–28; Mario Casula, Die Theologia naturalis von Christian Wolff: Vernunft und Offenbarung, in: ebd., 129–138; Günter Gawlick, Christian Wolff und der Deismus, in: ebd., 139–147; Saine, The Problem of Being Modern (Anm. 2), 125–146; Ulrich Barth, Von der Theologia naturalis zur natürlichen Religion. Wolff – Reimarus – Spalding, in: Ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 145–171; Robert Theis, Theologie, in: Theis/Eichele (Hrsg.), Handbuch Christian Wolff (Anm. 2), 219–250.



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Zum Stein des Anstoßes aber entwickelte sich eine im gleichen Jahr (1721) von Wolff zum Abschied aus seinem Prorektorat öffentlich gehaltene lateinische Rede, die „Oratio de Sinarum philosophia practica“19. Wie auch andere europäische Denker seiner Zeit hatte sich Wolff intensiv mit der älteren chinesischen Philosophie befasst, die ihm durch eine in lateinischer Übersetzung vorliegende Anthologie chinesischer Philosophen, vor allem des Konfuzius, vermittelt worden war; diese Anthologie hatte ein ehemaliger französischer Missionar in China, der Jesuit François Noël, zusammengestellt und veröffentlicht20. Die als solche etwas langatmige und im Grunde auch nicht besonders originelle Rede Wolffs versuchte den Nachweis zu erbringen, dass schon die alten Chinesen auf dem Weg vernünftiger Überlegung und rationaler Argumentation  – also unter Anwendung der, wie er sagt, „echten Grundsätzen der Weisheit […], die mit der Natur des menschlichen Geistes übereinstimmen“21 – zur Er18

18  Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschafftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes, Neudruck der 4. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1736 (Gesammelte Werke, I, 5), Hildesheim – New York 1975, S. 327; siehe dazu auch die Ausführungen ebd., 322–333 (§§ 366–369). In dieser Auflage fügt Wolff – fraglos vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen  – noch an, man solle „sowohl diejenigen […] bestraffen, welche wegen ihres Verstandes berühmte Männer in Verdacht der Atheisterey bringen; als die welche die Atheistische Lehren unter die Leute bringen, und mit Atheistischen Reden andere ärgern“, ebd., 328 (§ 369). 19  Zweisprachige Neuausgabe: Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica / Rede über die praktische Philosophie der Chinesen [1726], hrsg. v. Michael Albrecht (Philosophische Bibliothek, 369), Hamburg 1985, mit wichtiger Einleitung des Herausgebers Michael Albrecht, ebenda, IX–LXXXIX. 20  Zur Bedeutung von Christian Wolffs sehr spezifischer China-Rezeption vgl. u. a. Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920– 23), Bd. III, Frankfurt a. M. 1989, 210–214; Donald F. Lach, The Sinophilism of Christian Wolff (1679–1754), in: Journal of the History of Ideas 14 (1953), 561–574; Hans-Martin Gerlach, Christian Wolffs „Rede von der Sittenlehre der Sineser“ (1721) oder vom wahren philosophischen Erkennen zum rechten moralischen und politischen Handeln, in: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 2: Frühmoderne, hrsg. v. Erich Donnert, Weimar/Köln/Wien 1997, 87–95; neuerdings auch Eun-Jeung Lee, „Anti-Europa“. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung (Politica et Ars. Interdisziplinäre Studien zur politischen Ideen- und Kulturgeschichte, 6), Münster/Hamburg/London 2003, 84–110; Thomas Fuchs, Christian Wolff und das China-Bild der Aufklärung, in: Christian Wolff und die europäische Aufklärung, Teil  1 (Anm. 2), 397–410; JeanMarc Rohrbasser, Christian Wolff et la philosophie pratique des Chinois, in: ebd., 411–433; Martin Schönfeld, Wolffs Chinarede und ihre Bedeutung für Kant, in: ebd., 377–395. 21  Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica (Anm. 19), S. 22 f.: „Quis ergo vestrum dubitabit, sapientiae principia genuine censeri debere, quae

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kenntnis der noch in der Gegenwart gültigen ethischen Regeln gelangt seien. Der erhebliche geistige Sprengstoff dieser These lag nun jedoch darin – und dies erkannten Wolffs Gegner auch sehr rasch –, dass sich der Philosoph hier für die Möglichkeit einer rationalen Erkenntnis allgemein­ gültiger ethischer Normen aussprach. Denn wenn die nun einmal nicht christlichen, sondern „heidnischen“ Chinesen zu dieser Leistung fähig waren, dann bedurfte es, so konnte wenigstens im Umkehrschluss gefolgert werden, nicht unbedingt einer religiös oder theologisch fundierten Moralbegründung – oder anders gewendet: Menschliche Sittlichkeit ohne Religion war also nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch möglich. Wolff selbst formulierte diese Schlussfolgerungen als solche zwar ausdrücklich nicht, aber der Gang seiner Argumentation legte sie mehr oder weniger nahe. Immerhin erschien er mit seiner Rede, wie treffend gesagt wurde, in dieser Zeit als „der wichtigste unter denen, die damals im Bereich der deutschen Kultur über den engen Kreis einer religiös begründeten Sittlichkeit hinausgestrebt haben“22. Anstößig für die pietistischen Theologen aber musste weiterhin Wolffs Plädoyer für eine nach rationalen Prinzipien vorzunehmende Bibelexegese sein23, die dem stark emotional geprägten Bibel- und Glaubensverständnis der Pietisten diametral entgegenstand. In gewisser Weise hatte Wolffs „Chinesenrede“ aus Sicht seiner Gegner den Bogen überspannt; sie fühlten sich durch die selbstgewisse Art provoziert, in der Wolff argumentierte und in der er zudem ausgerechnet „heidnisches“, also nichtchristliches Denken für seine Argumentation heranzog. Vor allem, wenn auch nicht nur aus diesem Grund gingen sie nun entschlossen zum Angriff über24.

mentis humanae naturae convenient, tandem adulterine rejici debere, quae mentis humanae naturae repugnant?“; vgl. dazu auch Albrecht, Einleitung (Anm. 19), XXXIX, XLII–XLIV, sowie Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 401 f. 22  Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie II (Anm. 17), 82. 23  Dazu vgl. die Bemerkungen bei Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 130. 24  Zu den komplexen Details des zunächst nur langsam, später jedoch immer rascher eskalierenden Konflikts siehe neben der älteren universitätsgeschicht­ lichen Darstellung von Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. I (Anm. 9), 211–233, auch den knappen Abriss bei Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker (Anm. 2), 32–35, sowie vor allem Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 402–418; Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 134–159.



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III. Zuerst einmal forderte Francke in seiner Eigenschaft als Dekan der Theologischen Fakultät von Wolff den Text seiner Rede an, da, wie er wörtlich etwas umständlich formulierte, „Dero vorgestern bey Ablegung des Prorectorats gehaltene Oration, nicht nur allen Membris unserer ­Facultät, sondern auch vielen Studiosis und auch einigen Fremden, anstößig vorgekommen“. Aus diesem Grund nehme sich, so Francke weiter, die „Facultas Theologica […] die christliche Freyheit, Ew. Hochedelgeb. um Communication Dero M[anu]S[crip]ti von gedachter Oration hiemit durch mich anzusprechen, und lebet der Zuversicht, Dieselben werden sodann nicht ungleich interpretiren, wenn wir unsere Erinnerungen darüber Demselben collegialisch communiciren“25. Das bedeutete im Klartext: Francke und seine Kollegen maßten sich an, Wolffs Vortragstext offenbar gemeinsam zensieren zu können. Dieses denkwürdige Ansinnen lehnte Wolff verständlicherweise sofort entschieden ab. Er stellte anheim, die Theologen könnten ihm die aus ihrer Sicht anstößigen Aspekte seiner Rede mitteilen; er sei in diesem Fall zur Verteidigung und Rechtfertigung seiner bereits seit Längerem öffentlich in Wort und Schrift vertretenen Thesen bereit. Und im Übrigen konnte der Philosoph sich auch auf die Statuten der Universität Halle berufen, die im Falle von auftretenden Streitigkeiten um Lehrinhalte eine gemeinsame mündliche Klärung dieser Fragen durch die Professorenschaft vorsah26. Er schloss mit den Worten: „Sollte Ihnen belieben, meine Oration zu schelten, so kann ich es geschehen lassen. Ich will sie nur drucken lassen, und an alle Orte und Wege, wo Gelehrte sind, hinschicken; ich hege keinen Zweifel, sie wird so

25  Die Zitate: Gottsched, Historische Lobschrifft Herrn Christians, Freyherrn von Wolf (Anm. 2), Beylagen, 18 (Francke an Wolff, 14. 7. 1721). 26  Siehe ebd., Beylagen, 18 f. (Wolff an Francke, o. D.): „[…] wenn Studiosi von mir was Widriges Ihnen beybrächten“, sollten die Kollegen der Theologischen Fakultät „deswegen mündlich mit mir […] communiciren, damit ich Ihnen nöthige Erklärungen meiner Meynung geben könnte […] Hiedurch aber habe ich mich niemals anheischig gemacht, Ew. Hochehrwürden und dero Speciales Collegas für Richter über meine Lehren zu erkennen. […] Warum meine neulich gehaltene Oration allen Membris ihrer Facultät anstößig vorkommen, kann ich nicht begreifen, und soll mir lieb seyn, wenn ich die Puncte vernehmen kann, welche anstößig geschienen. Die Hauptsachen gehen die sinesischen Philosophie an, und werde ich mich darüber mit niemandem in einen Streit einlassen, ob ich ihre Meynung recht getroffen, oder nicht. Wer sie besser zu treffen vermeynet, der kann sich drüber machen und es sagen, ohne daß er sich von mir einiges Widerspruchs zu besorgen hat. Denn ich lasse einem jeden gar gerne seine Meynung, und habe an Streitschriften niemals Gefallen gehabt“.

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wohl aufgenommen werden, wie meine übrigen Sachen, die insgesamt nach ihrem Geschmack sind“27. An diesem Punkt ist freilich darauf hinzuweisen, dass es hier, wie bald erkennbar wurde, keineswegs nur um theoretische und fachliche Aspekte ging, also nicht nur um Streitfragen in der Behandlung philosophischer oder theologischer Spezialprobleme, sondern ebenfalls um inneruniversitäre Konflikte und akademische Machtkämpfe28. Denn die Theologen bemühten sich damals – an sich bereits sehr befremdlich – um eine erhebliche, sowohl personelle als auch inhaltliche Einflussnahme auf Stellenbesetzungen innerhalb der benachbarten Philosophischen Fakultät, die neben anderem auch den ausgesprochen gereizten Tonfall von Wolffs Antwortschreiben an Francke zu erklären vermag. Konkret gesagt: Es ging um die Besetzung einer frei gewordenen Philosophieprofessur, die Wolff seinem Schüler Ludwig Thümmig zugedacht hatte. Als nächster Konkurrent Thümmigs galt jedoch der Sohn des prominenten Theologen und Francke-Schülers Joachim Lange, der sich nach 1721 wiederum als einer der entschiedensten Gegner Wolffs profilierte und bereits vorher manche Aspekte der Lehren Wolffs aus theologisch-philosophischer Perspektive kritisch beleuchtet hatte29.

27  Ebd.,

Beylagen, 19. hat bereits Hinrichs hingewiesen; siehe ders., Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 405 ff.; neuerlich auch Barbara Mahlmann-Bauer, Wolffs Hochschulpolitik. Institutionsgeschichtliche Hintergründe von Wolffs Vertreibung aus Halle, in: Christian Wolff und die europäische Aufklärung, Teil  5 (Anm. 2), 319– 363; Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 139 ff.; Michael Albrecht, Wolff an den deutschsprachigen Universitäten, in: Theis/Eichele (Hrsg.), Handbuch Christian Wolff (Anm. 2), 427–465, hier 430 ff. 29  Vgl. Bruno Bianco, Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff, in: Hinske (Hrsg.), Zentren der Aufklärung I: Halle (Anm. 14), 111–155; Martin Kühnel, Joachim Lange und die Verteidigung der Freiheit, in: Joachim Lange und die Verteidigung der Freiheit. Bearbeitet und mit begleitenden Texten versehen von Martin Kühnel (Bibliothek mitteldeutscher Denker, I, 3), Halle a. S. 1992, S. I–XVII; ders., Joachim Lange (1670–1744), der „Hällische Feind“ oder: Ein anderes Gesicht der Aufklärung, in: Ders. (Hrsg.), Joachim Lange (1670–1744), der „Hällische Feind“ oder: Ein anderes Gesicht der Aufklärung. Ausgewählte Texte und Dokumente zum Streit über Freiheit  – Determinismus (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte. Texte und Dokumente), Halle a.S. 1996, 9–30; Udo Sträter, Wolffs Gegner Joachim Lange im Kontext der Theologischen Fakultät Halle, in: Christian Wolff und die europäische Aufklärung, Teil 1 (Anm. 2), 77– 95; zur Lehre Langes auch Wundt, Die deutsche Schulphilosophie (Anm. 8), 75–82, 236–242, sowie Anna Szyrwi´nska, Zur Rezeption der molinistischen Lehre von der scientia media im Pietismus. Joachim Langes Theorie des göttlichen Wissens, in: Albrecht Beutel/Martha Nooke (Hrsg.), Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie (Collo28  Darauf



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Noch komplizierter wurde die Angelegenheit dadurch, dass ein anderer Schüler Wolffs, der Philosoph Daniel Strähler, sich von seinem Lehrer übergangen fühlte und nunmehr zu dessen Gegnern, den Theologen, überlief; er hatte sich ihnen mit einer gegen die Wolffische Philosophie entschieden Stellung nehmende Publikation angedient30, mit der er sich auch seinerseits in den Kampf gegen Wolff auf Seiten der Pietisten einreihte und auf diese Weise so etwas wie einen „akademischen Vatermord“ beging31. Hiermit verstärkte sich ebenfalls die bereits seit längerer Zeit bestehende inneruniversitäre Gegnerschaft zwischen dem in der Lehre höchst erfolgreichen Wolff und dem bei den Studenten wiederum ausgesprochen unbeliebten Lange. Der überaus selbstbewusste Wolff wehrte sich entschieden gegen diese Angriffe32, und im Frühjahr 1723 begann der Konflikt tatsächlich zu eskalieren: Zuerst holte er mit einer eigenen Schrift und einer Beschwerde bei der Universitätsleitung zum Schlag gegen Strähler aus, der mit seinen gegen den eigenen akademischen Lehrer gerichteten Aktivitäten eindeutig gegen die Statuten der Universität verstoßen hatte. Als die Uniquia historica et theologica, 2), Tübingen 2016, S. 479–488; dies., Die Pietisten (Anm.  2), 395 ff. 30  Daniel Strähler, Prüfung Der Vernuenftigen Gedancken Des Herrn Hoff-Rath Wolffes Von GOTT, Der Welt Und Der Seele des Menschen, Auch allen Dingen ueber­haupt, Worinnen Des Herrn Autoris Schlueße examiniret, die Unrichtigkeiten derselben gezeiget, dessen Irrthuemer an den Tag geleget und die Metaphysische ingleichen die damit verknuepffte Moralische Wahrheiten in groeßeres Licht gesetzet werden. Erstes Stueck, Jena 1721; dazu auch Wundt, Die deutsche Schul­ philosophie (Anm. 8), 234 ff., der anmerkt: „Ein geschlossener und durchgeführter Standpunkt ist in den ja wesentlich verneinenden Ausführungen Strählers kaum zu erkennen“ (ebd., 235); knapp ebenfalls Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 406 f., und Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 140 f. 31  Lukas Hofmann/Maik Rudolph, Ein akademischer Vatermord? Daniel Strähler gegen Christian Wolff, in: Andreas Peˇcar/Holger Zaunstöck/Thomas MüllerBahlke (Hrsg.), Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen, 15), Halle a. S. 42015, 49–58. 32  Die heftige und mit einer Fülle von Pamphleten geführte Kontroverse ist zeitgenössisch mit viel Material (und in der Sache zugunsten Wolffs parteinehmend) dargestellt von dem Wolff-Schüler Georg Volkmar Hartmann, Anleitung zur Historie Der Leibnizisch-Wolffischen PHILOSOPHIE Und der darinnen Hn. Prof. Langen erregten Controvers, Nebst einer Historischen Nachricht vom Streite und Ubereinstimmung der Vernunfft mit dem Glauben, oder Nutzen der Philosophie in der Theologie, und denen drey Systematibus der Gemeinschafft zwischen Seele und Leib; Nach ihrem natürlichen Zusammenhange deutlich und gründlich fürgetragen, Mit Anmerckungen erläutert Und aus Liebe zur Wahrheit heraus gegeben, Frankfurt/Leipzig 1737 (Christian Wolff, Gesammelte Werke. Materialien und Dokumente, 4), Hildesheim/New York 1973.

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versitätsleitung jedoch kein Vorlesungsverbot gegen Strähler aussprach, wandte sich Wolff an die Berliner Regierung33. Genau dies taten nun allerdings auch seine Gegner, die namens der Theologischen Fakultät der Universität Halle in einer Klageschrift an den Oberkurator der Univer­ sität, den Kabinettsminister Marquardt Ludwig von Printzen, ihren Kollegen von der Philosophischen Fakultät mit dem Vorwurf denunzierten, die von diesem mündlich und schriftlich gelehrte Philosophie enthalte bestimmte, dem Geist und Inhalt der christlichen und natürlichen Religion nachteilige „principia“34. Zuerst schien Wolff Recht zu behalten. denn der ihm augenscheinlich sehr gewogene Minister Printzen verbot jedenfalls umgehend Strählers Vorlesungstätigkeit. Gleichzeitig untersagte der Minister weitere öffentliche Debatten an der Universität, sondern zog stattdessen die Klärung des Konflikts an sich: Wenn begründete Vorwürfe gegen einen Professorenkollegen zu erheben seien, sollten diese zuerst nach Berlin gemeldet werden35. Genau dies taten nun Wolffs Gegner, die auf der Basis eines Textes von Joachim Lange, der sich schon seit einiger Zeit als entschiedener Gegner der Wolffschen Philosophie exponiert hatte36, ein ausführliches und natürlich negativ ausfallendes Gutachten über die Wolffische Philosophie ausarbeiteten, das sie Ende Mai 1723 im Namen der gesamten Universität Halle in Berlin einreichten, was umso merkwürdiger war, als einige Angehörige der Philosophischen Fakultät ihre Mitwirkung ausdrücklich verweigert hatten und sich zudem weder die Juristische noch die Medizi33  Vgl.

Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 142 f. Klageschrift vom 27.  März 1723 ist (nach dem Original im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz) ausführlich zitiert ebenda, 143 f. 35  So der Erlass von Printzens, datiert auf den 5. April 1723, im Auszug zitiert ebd., 144. 36  Siehe oben, Anm. 29. – Auf den theoretischen Kern des seit längerem bereits schwelenden Konflikts zwischen Joachim Lange und Christian Wolff, der sich besonders um die Sachdifferenz zwischen Determinismus und geistiger Freiheit des Menschen drehte, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Während die ältere Forschung, etwa Wundt, Die deutsche Schulphilosophie (Anm. 8), 75–82, die philosophischen Ideen Langes sehr kritisch beurteilte, ähnlich übrigens auch Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 413, können die neueren Verteidiger Langes in ihren Bemühungen, den Theologen Lange als einen Wolff nahezu ebenbürtigen Philosophen zu rehabilitieren, kaum überzeugen; das gilt ebenso für Bianco und Kühnel (zu beiden Anm. 29) wie neuerdings auch für Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 145 ff., der die beiden Protagonisten als Vertreter „unterschied­ liche[r] Strömungen der Aufklärungsphilosophie“ (ebd., 147) deutet. Langes „Ideal einer Weisheit […], die direkt von der Offenbarung inspiriert wird und so vor allem auf der Anerkennung der geschöpflichen Abhängigkeit des Menschen von Gott beruht“, so die Formulierung von Bianco, Freiheit gegen Fatalismus (Anm. 29), 114, gehört in die Theologie, nicht jedoch in die Philosophie. 34  Die



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nische Fakultät an dieser Aktion beteiligten37. Im Auftrag des Königs wiederum übersandte dessen enger Mitarbeiter Heinrich Rüdiger von ­Ilgen den (im Wortlaut leider nicht überlieferten) Text dieses Gutachtens38 an Wolff mit der Bitte um eine schriftliche Stellungnahme39, und diese wiederum – publiziert ein Jahr später unter dem Titel „Gründliche Antwort auf der theologischen Facultät zu Halle Anmerkungen“40 – fiel, wie bei ihm gewohnt, scharf polemisch aus; der Angegriffene verteidigte sich nicht nur mit philosophischen Argumenten, sondern er ging zugleich zum Angriff über und attackierte sehr entschieden seine gegnerischen Kollegen von der Theologischen Fakultät41. Daraufhin setzte Minister von Printzen zur endgültigen Klärung des Sachverhalts eine Kommission ein, die allerdings ausschließlich aus vier angesehenen Berliner Geistlichen und Theologen bestand, zwei Pietisten, den Pröbsten Johann Gustav Reinbeck und Michael Roloff, sowie zwei reformierten Hofpredigern: Daniel Ernst Jablonski und Johann Arnold Noltenius42. Ihnen wurde der Auftrag zuteil, eine möglichst genaue, allerdings streng diskrete Prüfung der Schriften des inzwischen weit ­ über Preußen hinaus bekannten Philosophen Wolff vorzunehmen. Doch hierzu kam es wider Erwarten am Ende nicht, denn Francke und Lange waren nicht mehr bereit, das Votum der Kommission abzuwarten, sondern drängten darauf, ihrem Gegner möglichst bald den entscheidenden Schlag zu versetzen, indem sie „den von der Kommission zu erwartenden Schlichtungsvorschlag durch ein höchstinstanzliches Machtwort“43 unterliefen. Die Theologische Fakultät wandte sich nämlich jetzt – und zwar unter Umgehung des eigentlich zuständigen Kabinettsministers  – mit einer 37  Deshalb handelte es sich bei der Behauptung der Theologischen Fakultät, im Namen der gesamten Universität zu sprechen, tatsächlich um „eine glatte Unwahrheit“, so Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 408. 38  Hierüber jedoch die Mitteilungen bei Hartmann, Anleitung zur Historie (Anm.  32), 730 ff. 39  Text des Schreibens vom 31. Mai 1723 in: Gottsched, Historische Lobschrifft Herrn Christians, Freyherrn von Wolf (Anm. 2), Beylagen, 32. 40  Die Schrift erschien Cassel 1724, also bereits nach Wolffs Weggang von Preußen nach Hessen; siehe den bibliographischen Nachweis bei Gottsched, Historische Lobschrifft Herrn Christians, Freyherrn von Wolf (Anm. 2), Beylagen, 106 (Nr. 78). 41  Vgl. die ausführliche Zusammenfassung der Hauptgedanken von Wolffs Verteidigungsschrift bei Hartmann, Anleitung zur Historie (Anm. 32), 730–740. 42  Vgl. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. I (Anm. 9), 216; Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 411; Beutel, Causa Wolffiana (Anm.  2), 151 f. 43  Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 153.

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Eingabe unmittelbar an den König, wobei vermutlich die seit einigen Jahren bestehenden persönlichen Kontakte Franckes zu Friedrich ­Wilhelm I. hilfreich gewesen sein werden. Im „Memorial“ der Hallischen Theologen wurden die gegen Wolff erhobenen Vorwürfe nunmehr mit kaum zu überbietender Deutlichkeit formuliert: Der Philosoph „Hoff­ Rath Wolff“ trage an der Universität „in öffentlichen Schrifften und lectiones solche Lehren vor, welche der natürlichen und in Gottes Wort ge­ offenbahrten Religion sehr entgegen stehen, und bey der Studirenden Jugend bißher sehr großen Schaden gethan haben, […] zumal da un­ ­ vorsichtige Gemüther dadurch gar zur Atheisterey verleitet werden können“44. Anschließend sprachen die Theologen die dringende Bitte aus, es möge Wolff, der seinerzeit doch eigentlich nur als Dozent der Mathematik und Physik an die Universität Halle berufen worden sei, künftig jede philosophische Lehrtätigkeit von Amts wegen untersagt werden. Dieser Denkschrift folgte etwas später noch ein persönliches Schreiben Franckes an den König, in dem der Theologe die Eingabe seiner Fakultät noch einmal ausdrücklich vor allem damit begründete, dass er „die irrigen Lehren des Prof. Wolffen […] und den daraus bei der studirenden Jugend entstehenden Schaden und große Gefahr von Gottes Wort ab­ und zum Atheismo verleitet zu werden“45, mit größter Sorge betrachte. Gleichzeitig ging noch einmal eine – dieses Mal in noch schärferem Ton abgefasste – Beschwerdeschrift der Fakultät an den Kabinettsminister, in der gegen Wolff nun ganz explizit der Vorwurf des „allergefährlichste[n] Atheismus“46 erhoben wurde. Einer bestimmten  – allerdings nicht vollkommen sicher belegten  – Überlieferung zufolge hatte sich Francke bei der Überbringung der an den König gerichteten Denkschrift und seines dazugehörigen Schreibens an den Monarchen der Mithilfe zweier Generäle versichert, die als strenggläubige Pietisten bekannt waren und dem König besonders nahe standen: Dubislav von Natzmer und Carl Hildebrand von Loeben47. Und diesen beiden Herren wird ebenfalls zugeschrieben, sie hätten  – sei es nun bei dieser, sei es bei anderer Gelegenheit – dem Monarchen, der in der Tat „bis dahin seinen berühmten Philosophen vorbehaltlos protegiert hatte“48, 44  Zitiert ebd., 153, Anm. 218, nach dem Original aus dem Geheimen Staats­ archiv Preußischer Kulturbesitz. 45  Zitiert (nach dem ungedruckten Original) ebd., 154; vgl. auch Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 416. 46  Zitiert (nach dem ungedruckten Original) in: Beutel, Causa Wolffiana (Anm.  2), 154 f. 47  Hierzu die Hinweise bei Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm.  2), 415 ff., Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 155 f. 48  Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 155.



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die Auffassung vermittelt, „daß nach dem Wolffschen Determinismus auch desertierende Soldaten nur der Vorherbestimmung folgten und deshalb nicht straffällig seien“49. Eine derart ungeheuerliche, in der Sache jedenfalls vollkommen absurde Deutung konnte, wie der Historiker der Hallischen Universitätsgeschichte, Wilhelm Schrader, sicher zu Recht vermutete, in keinem Fall von einem Professor dieser Universität stammen, sondern mochte vermutlich „eher der derben Denkweise eines ­Soldaten aus jener Zeit entflossen sein“50. Die von einigen Autoren gelegentlich geäußerte Vermutung, der Berliner Akademiepräsident Jacob Paul von Gundling sei – vielleicht sogar angestiftet durch seinen an der ­Universität Halle lehrenden Bruder Nicolaus Hieronymus Gundling – der eigentliche Urheber dieser Denunziation Wolffs bei König Friedrich ­ ­Wilhelm I. gewesen51, entbehrt allerdings jeder Grundlage52. Bedenkt man indessen die äußerst hart, ja brutal ausfallende umgehende Reaktion des Soldatenkönigs, dann liegt die Vermutung recht ­nahe, dass es sich tatsächlich so abgespielt hat, wie von Schrader vermutet. Friedrich Wilhelm I. beantwortete am 8.  November 1723 das Schreiben Franckes mit der Mitteilung, er habe nunmehr „wegen der irrigen Lehren des Professors Wolff solche Ordre gestellet, daß jedermann daraus urtheilen wird, daß ich daran großes Mißfallen habe“53. Und an den Kabinettsminister von Printzen erging am gleichen Tag eine Kabinettsordre, in der mitgeteilt wurde, der König sei nicht länger bereit, Wolffs Lehren zu dulden, „welche der natürlichen und in Gottes Wort geoffenbarten Religion sehr entgegenstehen, und bey der studirenden Jugend sehr großen Schaden thun“. Aus diesem Grund werde nunmehr offiziell verfügt, dass der Philosoph „seiner Profession gäntzlich ersetzet seyn und Ihm ferner nicht mehr verstattet werden solle zu dociren“. Darüber hinaus sei dem Professor Wolff die offizielle Mitteilung zu machen, er habe „binnen 48  Stunden nach Empfang der Ordre die Stadt Halle und alle übrigen 49  Schrader,

Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. I (Anm. 9), 216.

50  Ebd. 51  So Cay von Brockdorff, Die deutsche Aufklärungsphilosophie (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen, 26), München 1926, 21. 52  Die wohl auf Zeller, Wolff’s Vertreibung aus Halle (Anm. 2), 142, zurückgehende Behauptung, Gundling habe Wolff beim König denunziert, wurde bereits widerlegt von Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. I (Anm. 9), 231, Anm. 32, und Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. I/1, Berlin 1900, 233, Anm. 1, der jedoch anmerkt: „Aber die boshafte Nutzanwendung der Wolff’schen Philosophie auf desertirende Soldaten ist doch wohl ein Gundling’scher Witz, der den Generalen [Natzmer und Loeben; H.-C. K.] suppeditirt worden ist“ (ebd.). 53  Hier zit. nach Gustav Kramer, August Hermann Francke  – Ein Lebensbild, Bd. II, Halle a.  S. 1882, 37.

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Königl. Länder bei Straffe des Stranges zu räumen“54. Wolff blieb nichts anderes übrig, als sofort das Weite zu suchen und aus dem Königreich Preußen nach Hessen zu entweichen, wo er umgehend einen bereits mehrere Monate zuvor an ihn ergangenen Ruf an die Universität Marburg annahm55. IV. Es war kaum verwunderlich, dass diese denkwürdige Affäre weit über Deutschland hinaus ein außerordentliches Aufsehen erregte, und es entbrannte zwischen den Verteidigern und den Gegnern Christian Wolffs sogleich eine überaus heftige publizistische Auseinandersetzung über die vom preußischen König auf so brutale und letztlich beschämende, das Ansehen des brandenburgisch-preußischen Staates beschädigende Weise entschiedene „Causa Wolffiana“56. An der Universität Halle freilich triumphierten nun erst einmal Francke und Lange mit ihren Anhängern, und sie vermochten jetzt auch ihre universitätspolitischen Anliegen sofort durchzusetzen: Wolffs Schüler Thümmig, der mit dem erzwungenen Abgang seines akademischen Lehrers auch dessen Protektion verloren hatte, musste sofort seine Professur räumen. Seine Nachfolge trat schon Ende 1723 Johann Joachim Lange an, der Sohn des Theologen, und den Lehrstuhl Wolffs übernahm dessen abtrünniger Schüler Strähler, der damit den Lohn für seine Treulosigkeit einstreichen konnte57.

54  Dieses wahrhafte Schlüsseldokument der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts wird hier zitiert nach dem Abdruck bei Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. II (Anm. 9), 459 (Anlage 19), nach dessen Aussage (ebenda, Bd. I, 231, Anm. 32) wortgetreu nach dem Original im Berliner Geheimen Staatsarchiv; hiermit vgl. die in der Formulierung etwas abweichenden älteren, von Gottsched, Historische Lobschrifft Herrn Christians, Freyherrn von Wolf (Anm. 2), Beylagen, 33 (Beylage g.), und Wuttke, Ueber Christian Wolff den Philosophen (Anm. 2), 28, Anm. 1, gedruckten Fassungen. 55  Das Berufungsschreiben im Namen des Landgrafen von Hessen, abgedruckt bei Gottsched, Historische Lobschrifft Herrn Christians, Freyherrn von Wolf (Anm. 2), Beylagen, 32 f. (Beylage f.), ist datiert auf den 14.  Juni 1723; zur Berufung Wolffs nach Marburg und dessen Tätigkeit dort siehe u. a. Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker (Anm. 2), 34 ff.; Drechsler, Christian Wolff (1679– 1754). A Biographical Essay (Anm. 2), 114 ff.; Barbara Bauer, Christian Wolff in Marburg, in: Bernd Heidenreich (Hrsg.), Aufklärung in Hessen  – Facetten ihrer Geschichte, Wiesbaden 1999, 107–138. 56  Zum Kampf um Wolff siehe neben der zeitgenössischen, sehr ausführlichen und umständlichen Darstellung von Hartmann, Anleitung zur Historie (Anm. 32), 621–1079, auch die Überblicke bei Wundt, Die deutsche Schulphilosophie (Anm. 8), 230–264; Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 419 ff.



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Wie es schien, hatte die pietistische Partei auf der ganzen Linie gesiegt, und Francke selbst deutete  – von ihm auch kaum anders zu erwarten  – diesen großen Erfolg als Ergebnis eines direkten göttlichen Eingreifens: „Wir […] erkennen“, heißt es in seinem Schreiben an den König vom 20.  November, eine Woche nach Wolffs Ausweisung, „des großen Gottes, der Eurer Königl. Maj. Herz dahin gelenket, gerechtes Gerichte, sonderlich über Wolffen“. Und im Übrigen möchten „diese Leute“ – damit waren Wolff und seine Anhänger gemeint – „die Jugend nur nützliche Dinge lehren, Gott aber und sein heiliges Wort mit ihrer Philosophie unangetastet lassen“58. Dass der nach Marburg übergesiedelte Philosoph sich umgehend entschieden gegen seine Ausweisung öffentlich zur Wehr setzte, verwundert ebensowenig wie die Tatsache, dass auch Francke, Lange und deren Anhänger weiterhin zur Feder griffen: Mehr als einhundert Flugschriften beleuchteten und interpretierten in den folgenden Jahren die „Causa Wolffiana“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln, auch Wolff beteiligte sich daran mit einem knappen Dutzend eigener Publikationen und kam zudem ebenfalls in der Rückschau seiner späteren eigenen „Lebensbeschreibung“ noch einmal auf den großen Konflikt zurück59. Und Francke ebenso wie Lange erneuerten noch einmal ihren zentralen Vorwurf, Wolffs Philosophie führe in ihren gedanklichen Konsequenzen zielstrebig zum Atheismus. Gerade Francke wurde bis zu seinem Tod im Juni 1727 nicht müde, sein eigenes Agieren in dieser Affäre als das Wirken eines den direkten Willen Gottes vollziehenden Werkzeugs im Kampf gegen jene Macht des Bösen60 aufzufassen. 57

Ein letztes Votum gegen Wolff legte der alte Francke noch einmal gut ein Jahr vor seinem Tod vor, als sich die Theologische Fakultät in Halle genötigt sah, die Vertreibung des berühmten Philosophen ein weiteres Mal zu rechtfertigen: Der Kampf „wider Wolffium“ und gegen „die gottlosen Lehren“ des ehemaligen Hallischen Kollegen sei, so Francke im März 1726, auch angesichts der von ihm wahrgenommenen „greuliche[n] Corruption der Gemüter an seinen [Wolffs; H.-C. K.] Discipulis“ mehr als gerechtfertigt gewesen. Er, Francke, selbst habe „auch in meinem Gemüte von den entsetzlichen Vorführungen, so in die hiesigen Anstalten mit Gewalt durch seine Collegia eingedrungen, solchen Jammer und Herze57  Vgl. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. I (Anm. 9), 219 ff.; Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 418 ff.; Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 161 ff., bes. 168 (Berufung Strählers und des jungen Lange). 58  Zitiert nach Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 419 (Francke an Friedrich Wilhelm I., 20. November 1723). 59  Abgedruckt in: Wuttke, Ueber Christian Wolff den Philosophen (Anm. 2), 109–201, hier 189 ff. 60  Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 419 ff.

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leid gehabt, daß ich nachhero, als wir über alles Vermuten davon erlöset worden, oft nicht ohne große Bewegung zum Lobe Gottes die Stelle angesehen, da ich auf Knien Gott um die Erlösung von dieser großen Macht der Finsternis, die in wirkliche professionem atheismi ausgeschlagen, angerufen hatte, und es zum Exempel lebenslang behalten werden, daß Gott Gebete erhöre, wo vor Menschen Augen keine Hilfe zu hoffen ist“61. Diese Formulierungen geben, wie Carl Hinrichs zu Recht bemerkte, ohne Frage „einen Einblick […] in die tiefen und echten religiösen Motive“ von Franckes Kampf gegen Wolff62, zeigen jedoch gleichfalls die Radikalität und Kompromissunfähigkeit, im Grunde wohl auch den Altersstarrsinn dieses Mannes, dem jedes Verständnis für die Philosophie an sich und damit auch für das Denken Wolffs und seiner Schüler abging. In dieser Hinsicht ganz anders stand es hingegen mit Joachim Lange, dem genaue Kenntnisse der Wolffschen Philosophie und der zentralen philosophischen Probleme und Kontroversen der Zeit, an denen er selbst eifrig teilnahm, nicht abzusprechen waren. Er sah sich – vielleicht noch vor seinem Freund und Fakultätskollegen Francke  – als der eigentliche Sieger und mag nach Wolffs Vertreibung aus Halle zeitweilig sogar geglaubt zu haben, mit dem Mann zugleich dessen Philosophie zu Fall gebracht zu haben63. Jedenfalls publizierte Lange schon 1724 eine 566 Druckseiten umfassende „Widerlegung“ der „falschen und schädlichen“ Philosophie Christian Wolffs – ein Buch, mit dem nach dem Willen seines Verfassers dieser Philosophie wohl der endgültige Todesstoß versetzt werden sollte64. In ermüdend systematischer Vorgehensweise nimmt Lange sich die zentralen Thesen Wolffs zur Existenz Gottes und zur Freiheit des Menschen Punkt für Punkt vor und versucht, den Denker immer wieder als verkappten Deterministen und vor allem als „Spinozisten“ zu entlarven. In einer seiner zentralen „Conclusiones“ hält Lange fest: „Das 61  Hier zit. nach Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 420 f.; früherer Abdruck von Franckes (offenbar durch Lange erbetener) schriftlicher Stellungnahme auch bei Kramer, August Hermann Francke, Bd. II (Anm. 53), 339 f. 62  Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 419. 63  So ist durch Hartmann, Anleitung zur Historie (Anm. 32), 892 f., überliefert, Lange habe „ein rechtes Triumph-Lied“ auf Wolffs Vertreibung angestimmt, „nemlich, er ruffet mit Frohlocken aus: Cecidit! cecidit Philosophia Wolffiana & ariete Regiæ Majestatis percussa corruit“; vgl. auch ebenda, 798: „Hr. Prof. Lange […] ist […] gantz ausser sich wie ein Schaden-Froh, über den erhaltenen Sieg, und über Regiæ severitatis arierem, und dancket Gott öffentlich […] davor“. 64  Joachim Lange, Bescheidene und ausführliche Entdeckung Der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemate Metaphysico Von Gott, der Welt, und dem Menschen; Und insonderheit von der sogenannten harmonia præ stabilita des commercii zwischen Seele und Leib […], Halle 1724 (Christian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente, 56), Hildesheim 1999.



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Systema Wolfianum [sic] redet dem atheismo, ausser denen dazu verleitenden hypothesibus, […] ganz förmlich und ausdrücklich das Wort“. Doch dessen Widerlegung durch die Theologie erweise klar die genuine „Schwäche“ dieses Systems und werde so zugleich „zu einem gerechten Gerichte Gottes über einen, der so gar auch mitten unter Evangelischen Christen die so grundböse Sache der Atheisten zu schmücken suchet, und sich dabey allewege auf seine vermeinte grosse Scharffsinnigkeit ver­ läßt“65. Der „Historische Vorbericht“, den Lange diesem Werk voranstellte66, ließ die große Hallische Kontroverse noch einmal aus seiner Sicht Revue passieren und ließ keinen Zweifel daran, dass der Verfasser seinen und Franckes vermeintlichen „Sieg“ über Wolff als unmittelbare Folge der „providentia dei“ deutete, damit also vor dem Hintergrund seines Glaubens „an das Geschichtshandeln Gottes das eigene Handeln als ein bloßes Vollzugsorgan der providentia dei“ auffasste67. Aber wenn Lange glaubte, Wolff mit der Hilfe Gottes nun erledigt zu haben, hatte er sich gründlich geirrt. V. August Hermann Franckes Tod am 8.  Juni 1727 und sein durch die Universität öffentlich veranstaltetes „feierliches Leichenbegräbniß“ am 17.  Juni68 markieren zugleich recht genau den Punkt, an dem sich das Blatt – wenn auch zuerst nur sehr langsam – zugunsten des vertriebenen Philosophen und der von diesem vertretenen Sache der Aufklärung zu wenden begann. Der sehr geschickt agierende Wolff hatte hieran entscheidenden Anteil, denn er war in den Veröffentlichungen seiner Marburger Zeit ab 1724, vor allem in seiner in den 1730er Jahren erscheinenden, wohl auch als Antwort auf Langes „Bescheidene und ausführliche Entdeckung“ konzipierten, zweibändigen „Theologia Naturalis“, intensiv bestrebt, die eigene christliche Glaubensüberzeugung und die grundsätzliche Vereinbarkeit von rationaler Philosophie und Theologie sehr viel deutlicher als in seinen früheren Schriften herauszustreichen. Der zweite Band  dieses Werks trug die entschiedene Distanzierung von allen vermeintlichen oder wirklichen atheistischen Tendenzen bereits klar formuliert im Untertitel: „Theologia Naturalis, […] qua existentia et attributa Dei ex notione entis perfectissimi et natura animæ demonstrantur, et 65  Die

Zitate ebd., 243. 3–34; dazu auch die wichtigen Bemerkungen bei Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 161–165. 67  Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 165. 68  Kramer, August Hermann Francke, Bd. II (Anm. 53), 480. 66  Ebd.,

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atheismi, deismi, fatalismi, naturalismi, Spinosismi aliorumque de Deo errorum fundamenta subvertuntur“69. Wolffs Ausprägung seiner neuesten Philosophia militans stritt also im gleichen Atemzug sowohl für Vernunft, Aufklärung und rationale Philosophie als auch gegen Atheismus, Deismus, Fatalismus, Naturalismus und Spinozismus, ganz im Sinne seiner Grundüberzeugung, dass sich jede „echte Offenbarungsreligion […] in vollkommener Harmonie zur Vernunft“70 befinde. Und das war nach allem, was man über den Philosophen weiß, keineswegs nur Taktik im fortgesetzten Kampf gegen seine akademischen Widersacher in Halle und anderswo, etwa in Königsberg71, sondern entsprach offenkundig der tiefsten Überzeugung des Denkers. Hinzu kam, dass Wolff jetzt gezielt den näheren Kontakt zu prominenten Vertretern eines gemäßigten Pietismus sowie ebenfalls des orthodoxen Luthertums inner- wie außerhalb Preußens suchte, darunter etwa zu dem Berliner Probst Johann Gustav Reinbeck, der schon 1723, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen in Halle, eine zwischen Francke und Wolff vermittelnde Position eingenommen hatte und den Wolff später „zu seinen besten Freunden“ zählen sollte72. Aber auch zu führenden Vertretern des orthodoxen Luthertums wie etwa zu dem in Gotha wirkenden sehr einflussreichen Kirchenrat Ernst Salomon Cyprian suchte und fand Wolff brieflichen Kontakt, dabei das Ziel verfolgend, auch diesen Korrespondenzpartner vom genuin christlichen Charakter der eigenen Philosophie

69  Christian Wolff, Theologia naturalis methodo scientifica pertractata, Teile I-II, Frankfurt a. M./Leipzig 1736–1737; hierzu auch die wichtigen Bemerkungen bei Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie II (Anm. 17), 83 ff., Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 427 ff.; Schneiders, Deus est philosophus absolutus summus (Anm. 17), 24 ff., Saine, The Problem of Being Modern (Anm. 2), 130 ff., und Casula, Die Theologia naturalis von Christian Wolff (Anm. 17), bes. 142 ff. u. passim. 70  So treffend Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie  II (Anm. 17), 85, vgl. auch 88. 71  Dazu vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 422 ff. 72  Albrecht, Wolff an den deutschsprachigen Universitäten (Anm. 28), 433; siehe auch Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 419 f. u. a.; Stefan Lorenz, Theologischer Wolffianismus. Das Beispiel Johann Gustav Reinbeck, in: Christian Wolff und die europäische Aufklärung, Teil  5 (Anm. 2), 103–121; Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (Anm. 82), 166 ff.; ebenfalls eingehend Andreas Straßberger, Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik (Beiträge zur historischen Theologie, 151), Tübingen 2010, 329 ff.; der Verfasser bezeichnet Reinbeck gar als einen „vom Pietismus zur Aufklärung ‚konvertierte[n]‘ Schüler August Hermann Franckes“ (ebd., 329).



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zu überzeugen73. Gerade Cyprian gegenüber äußerte sich der Philosoph mit einer für ihn in Glaubensfragen bisher ungewohnten Offenheit: „Ich bin gewiß“, schreibt Wolff am 5. November 1725 aus Marburg an Cyprian, „daß ich keine Prinzipien habe, als die von unseren besten Theologen ehedessen verteidigt worden, nur das [sic] ich es demonstrativisch auszuführen gesucht. Und ich bekomme noch stets von braven Leuten Briefe, die mich versichern, daß sie vergebens in anderen Büchern gesucht, was sie bei mir gefunden, nämlich wegen der eingestreuten Zweifel wider die natürliche und christliche Religion völlige Satisfaktion zur Beruhigung zu finden“. Und im Übrigen sei er „gewiß, daß man sich sehr versündiget, indem man dasjenige unterdrückt, was bei jetziger Zeit das sicherste Mittel ist, die Jugend wider die Profanität zu verwahren und ihr eine Hochachtung vor Religion und Tugend beizubringen […]. Gott ist mein Zeuge, daß ich nicht allein in dieser Absicht meine Philosophie geschrieben, auch die Wirkung bei mir und anderen verspürt, sondern daß ich mich auch in Halle dem stets widersetzt, wodurch der Jugend die Reli­ gion und Theologie verächtlich gemacht worden“74. In der Tat mussten „die theologischen Machthaber“ an der Universität Halle in den ersten Jahren nach Franckes Tod zur Kenntnis nehmen, „welche Propaganda sie wider Willen für die ihnen verhaßte Philosophie dadurch entfacht hatten, daß sie ihren Schöpfer zum Märtyrer machten“, denn dessen „Ruhm wuchs in den sich nun entspinnenden Kontroversen von Tag zu Tag“75. Aber auch in Berlin waren spätestens seit Beginn der 1730er Jahre die alten und neuen Freunde der Wolffischen Philosophie keineswegs untätig76; so schlossen sich dort die überzeugtesten Wolffianer zu einer geheimen Gesellschaft der „Wahrheitsfreunde“, der „Societas Aletophilorum“, zusammen und bildeten auf diese Weise ein schon bald sehr aktives intellektuelles Netzwerk mit besten Verbindungen zu einflussreichen Persönlichkeiten der hohen Politik77. Und als der inzwi-

73  Siehe Theodor Wotschke, Wolffs Briefe über seinen Streit mit den hallischen Pietisten, in: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 21 (1932), 51–74; hierzu auch Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 427 ff. 74  Wotschke, Wolffs Briefe über seinen Streit mit den hallischen Pietisten (Anm. 73), 59. 75  Schneider, Das geistige Leben von Halle (Anm. 14), 141. 76  Siehe hierzu u. a. den  – durch die neueren Forschungen von Johannes Bronisch (Anm. 82) jedoch partiell überholten – Überblick von Cornelia Buschmann, Wolffianismus in Berlin, in: Wolfgang Förster (Hrsg.), Aufklärung in Berlin, Berlin 1989, 73–101. 77  Grundlegend hierzu jetzt Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (Anm. 82), 123–170, und Straßberger, Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt (Anm. 72), 329–377.

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schen ebenfalls für die Sache Wolffs gewonnene Reinbeck als vom König hoch geschätzter Prediger sowie als neuer Beichtvater der Königin eine einflussreiche Stellung in der Berliner Hofgesellschaft einzunehmen begann78, schien sich endlich eine wirkliche Wende in der „Causa ­Wolf­fiana“ anzukündigen, an der auch Gotthilf August Francke, der offenbar wenig eindrucksvolle und mit seinem Vater weder an Tatkraft noch an geistigem Vermögen zu vergleichende Sohn und Nachfolger des hallischen Waisenhausgründers79, nichts ändern konnte. Sein Besuch im September 1733 in Wusterhausen geriet fast zu einem persönlichen Fiasko, da ihn die eisige Ablehnung, die er bei dieser Gelegenheit seitens der K ­ önigin und vor allem des Kronprinzen erfahren musste, stark verunsicherte und einschüchterte80. So kam es, dass die wolffianisch gesinnte Hofpartei, zu der neben einflussreichen Männern wie Grumbkow, Coc­ceji und Leopold von Anhalt-Dessau bald auch der Kronprinz gehörte, den König schließlich überreden konnte, Wolff nach Halle zurück zu berufen. Das geschah noch vor Ende 1733 – doch im Januar des folgenden Jahres lehnte Wolff ab81. Kronprinz Friedrich entwickelte sich für einige Zeit tatsächlich zu einem überzeugten Anhänger der Wolffischen Philosophie, die ihm allerdings in den zumeist lateinischen Fassungen der Schriften des Phi­ losophen nicht zugänglich war; er studierte sie in extra für ihn ange­ fertigten französischen Übersetzungen. Wichtigster Vermittler dieser Lehren wurde eine der merkwürdigsten Figuren jener Zeit: der hochgebildete, in Preußen vorgeblich als wohlhabender Privatier lebende sächsische Exdiplomat Ernst Christoph von Manteuffel, zugleich langjähriger Anhänger, Vertrauter und Korrespondenzpartner von Christian

78  Vgl. Straßberger, Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt (Anm. 72), 338 ff. 79  Vgl. Udo Sträter, Gotthilf August Francke, der Sohn und Erbe. Annäherung an einen Unbekannten, in: Udo Schnelle (Hrsg.),  Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York 1994, 211–232. 80  Hierzu vgl. A[ugust] Tholuck, Geschichte des Rationalismus, Abt. 1: Geschichte des Pietismus und des ersten Stadiums der Aufklärung, Berlin 1865, S.  64 ff.; G[ustav] Kramer (Hrsg.), Neue Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke’s, Halle a.  S. 1875, 161  ff.; Schneider, Das geistige Leben von Halle (Anm. 14), 142 f., ausführlicher ders., Gotthilf August Franckes zweiter Aufenthalt am Königshof in Wusterhausen, in: Thüringisch-sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 26 (1939), 113–124; Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm.  2), 432 f. 81  Vgl. Schneider, Das geistige Leben von Halle (Anm. 14), 144; Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 433 f.; Drechsler, Christian Wolff (1679–1754). A Biographical Essay (Anm. 2), 116; die Dokumente hierzu bei Gottsched, Historische Lobschrifft Herrn Christians, Freyherrn von Wolf (Anm. 2), Beylagen, 46–49.



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Wolff82. Nicht bekannt war hingegen Manteuffels geheime Existenz als zugleich in Diensten Wiens als auch Dresdens stehender, hervorragend vernetzter Doppelagent, den man offensichtlich – seine umfassende philosophische Bildung und seine perfekte Beherrschung des Französischen prädestinierten ihn hierzu  – vor allem auf Kronprinz Friedrich angesetzt hatte. Jedenfalls fanden Manteuffels ausführliche Nachrichten und Anekdoten vom Berliner Hof, die regelmäßig auf geheimen Wegen nach Dresden gelangten, bei Kurfürst und König August III. und dem sächsischen Staatsminister Heinrich Graf Brühl nachweislich höchstes Interesse und Manteuffel wurde hierfür bald auch fürstlich entlohnt83. Seit einer sehr schweren Erkrankung König Friedrich Wilhelms I. im Jahr 1734, die auf dessen ungesunde Lebensweise zurückzuführen war, musste damit gerechnet werden, dass der noch junge, 1712 geborene Kronprinz in nicht mehr allzu ferner Zeit den Thron besteigen werde. Die Differenzen und Konflikte des geistig und musisch hochbegabten jungen Friedrich mit seinem Vater waren allseits ebenso bekannt wie sein Ehrgeiz auf geistigem Gebiet, und genau in dieser Hinsicht sollte Manteuffel seinen Einfluss auf den künftigen Herrscher geltend machen. Das Ziel dieser Bemühungen bestand vor allem darin, „Friedrich möglichst frühzeitig in eine sowohl pro-sächsische als auch reichspatriotische Einflusssphäre einzubinden“, und dies machte es, wie treffend gesagt wurde, „vor allem erforderlich, die Entwicklung des politischen Denkens des vielversprechenden zukünftigen Regenten aus der Nähe zu verfolgen und möglichst frühzeitig zu beeinflussen“84. Natürlich ging es ebenfalls darum, den Konflikt zwischen Herrscher und Thronfolger weiterhin diskret zu schüren und über alle Ereignisse in diesem Kontext informiert zu sein. Insofern bot es sich geradezu an, Friedrich auf die Seite der Wolffianer zu bringen und sein bereits vorhandenes starkes Interesse an Voltaire soweit wie möglich zu dämpfen: „Sachsen und Österreich gegen Frankreich, […] Wolffianismus gegen Voltaire-Begeisterung“85 – auf diese knap82  Die herausragende Bedeutung Manteuffels im Netzwerk der Anhänger Wolffs und zugleich als politischer Doppelagent wurde erst kürzlich auf breitester Quellengrundlage anschaulich herausgearbeitet von Johannes Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext, 147), Berlin/New York 2010; ders., Der Kampf um Kronprinz Friedrich – Wolff gegen Voltaire, Berlin 2011. 83  Hierzu vor allem die Darstellungen von Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (Anm. 82), 72 ff., und ders., Der Kampf um Kronprinz Friedrich, 50 ff., bes. 53 f. 84  Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (Anm. 82), 80. 85  Ebd., 81; vgl. auch Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 434 ff.

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pe Formel ließen sich Manteuffels Bemühungen im Dienste der kaiserlichen Hofs in Wien und der sächsischen Regierung in Dresden im Kontext damaliger politischer Konstellationen bringen. Und nicht zuletzt ging es darum, in Friedrich einen künftigen Herrscher heranzubilden, dessen politische Handlungen – im Gegensatz zum sprunghaften und cholerischen, von wechselnden Stimmungen abhängigen Soldatenkönig – berechenbar sein würden; man erwartete also die Politik eines philosophisch informierten, moralisch-politisch aufgeklärten, sich geistig auf der Höhe der Zeit befindlichen Herrschers, der seine Leidenschaften durch Vernunft zügeln und sich an den Grundprinzipien des modernen Naturrechts orientieren, hingegen jede Fürstenwillkür im Sinne eines traditionellen, falsch verstandenen „Gottesgnadentums“ konsequent ablehnen werde86. Als sich in Brandenburg-Preußen um die Mitte der 1730er Jahre die Stimmung erneut zugunsten Wolffs zu wandeln begann und als endlich durch die Berliner Regierung auch das bis dahin noch in Preußen geltende Verbot der Schriften Wolffs aufgehoben worden war87, holte Joachim Lange, der sich mittlerweile als der eigentliche geistige und geistliche Erbe August Hermann Franckes in Halle verstand und sogar  – freilich vollkommen vergeblich – versucht hatte, selbst geistlich-politischen Einfluss auf den Kronprinzen zu nehmen88, zum Gegenschlag aus. Er intensivierte nicht nur erneut die von ihm seit längerem eifrig betriebene publizistische Kampagne gegen die Wolffische Philosophie89, sondern es ge86  Vgl.

Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (Anm. 82), 86 f. Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 434. 88  Joachim Lange hatte sein wenige Jahre zuvor erschienenes monumentales (mehr als 1200 Druckseiten umfassendes) Werk: Mosaisches Licht und Recht, Das ist Richtige und Erbauliche Erklärung Der Fünff Bücher Mosis / Darinnen, Nebst der Schöpfung beschrieben ist, wie GOTT die vor und nach der Sündfluth geoffenbarete seligmachende Religion, unter dem Jüdischen Volcke, Nebst dem Gesetze, in dem Evangelio vom Meßia, So wol Durch Verheissungen, als Vorbilder, nach der Levitischen Oeconomie, zur allgemeinen Kundschaft öffentlich dargestellet, und damit einen vesten Grund zu aller erfolgten schriftlichen und mündlichen Aufklärung, hauptsächlich der Evangelischen Oeconomie, geleget habe, Halle/ Leipzig 1733, publiziert, das dem preußischen Kronprinzen mit einer auf den 15.  März 1733 datierten pompösen Widmung zueignet war: „das fünffache Buch Mosis“ sei, heißt es hier, „vor andern von GOTT selbst den hohen Regenten zum würdigen Gebrauch […] angewiesen worden“; insofern hoffe der Verfasser auf eine geneigte Lektüre des Buches seitens desjenigen, dem es gewidmet sei (unpag.). 89  Dazu neben den ausführlichen Detailinformationen in der zeitgenössischen Darstellung von Hartmann, Anleitung zur Historie (Anm. 32), 830–979, ebenfalls: Wundt, Die deutsche Schulphilosophie (Anm. 8), 236–241; Günter Mühlpfordt, Das Stichjahr 1735 – Zur Differenzierung und Radikalisierung der Wolffschen Schule, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 87  Vgl.



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lang ihm sogar, eine längere Audienz beim König zu bekommen; während des April 1736 hielt sich Lange volle zwei Wochen in Potsdam auf, wo er an der königlichen Tafel teilnahm und in seinen Gesprächen mit Friedrich Wilhelm I. dem Monarchen nun auch persönlich nahekam, denn in der Tat machte, wie Carl Hinrichs es formulierte, „der kantige Streiter […] doch einen anderen Eindruck als der seufzende Gotthilf August Francke“90. Der Theologe schien zuerst beim König, dem er auch als Person und Mensch Eindruck machte, an Einfluss zu gewinnen; auf sehr geschickte Weise gelang es ihm, in den Tischgesprächen noch einmal die Aufmerksamkeit des Monarchen auf die vermeintlich „gottlosen“ und „staatsgefährdenden“ Ideen und Schriften Christian Wolffs zu lenken  – freilich nicht ohne jetzt schon auf den entschiedenen Widerspruch einiger der übrigen Anwesenden zu stoßen91. Aber auch eine sehr scharfe Warnung, die ihm die Königin auf diskretem Weg zukommen ließ92, veranlasste ihn nicht zu einer Rückkehr nach Halle. Als es bereits so aussah, als könnte der an der königlichen Tafel in Potsdam sehr geschickt agierende Lange den  – inzwischen wieder schwankend gewordenen – König erneut gegen Wolff und dessen Philosophie einnehmen, griff der offenbar bestens präparierte Grumbkow ein: Er attackierte Lange in Gegenwart des Königs mit dem allerdings präzise begründeten Vorwurf, Lange habe Wolff systematisch verleumdet und über dessen Philosophie bewusst die Unwahrheit berichtet93. Als Lange Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 30 (1981), 63–75, hier 68 ff.; Szyrwi´nska, Die Pietisten (Anm. 2), 395–401. – Ein in diesem Kontext keinesfalls unbedeutender Nebenkriegsschauplatz des Kampfes zwischen Wolffianern und pietistischen Theologen war der seit 1735/36 ausbrechende, überaus heftig geführte Streit um den sog. „Wertheimer Pentateuch“, also die im Geiste des Wolf­ fianischen Rationalismus angefertigte Übersetzung der fünf Bücher Mosis durch den jungen Theologen Johann Lorenz Schmidt, vgl. hierzu die ausführliche Darstellung von Ursula Goldenbaum, Der Skandal um die Wertheimer Bibel. Die philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolf­ fianern, in: Dies. (Hrsg.), Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796, Bd. I, Berlin 2004, 175–508, hier bes. 319 ff. 90  Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 436; vgl. zum Folgenden auch 436 ff., und Droysen, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (Anm. 2), 4 ff. 91  Vgl. Droysen, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (Anm. 2), 4 f. (nach einem Bericht Manteuffels an den Grafen Brühl vom 19. April 1736); siehe zu Manteuffels Geheimberichten aus dem Frühjahr 1736 auch die Hinweise bei Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (Anm. 82), 82 ff. 92  Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 436 f. 93  Dies ist überliefert in einem 1910 von Hans Droysen edierten Geheimbericht Manteuffels vom 2. Mai 1736, in: Droysen, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (Anm. 2), 25 f.

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sich anschließend „weitläufig“ zu rechtfertigen versuchte, antwortete ihm Grumbkow in Gegenwart der königlichen Tischgesellschaft mit den denkwürdigen (und deshalb hier ausführlich zitierten) Formulierungen: „Ich habe von Jugend auf gehöret, daß die Heiligkeit unserer christlichen Religion hauptsächlich darinnen bestünde, daß wir unsere Feinde nicht lästern noch verfolgen müßten. Nun aber hat Herr Professor Lange, der doch vor einen großen Doctorem Theologiae passiren will, beides gegen Wolffen nicht observiret, sondern hat einestheils den Wolff in gedruckten Schriften vor einen Quacksalber, Erzbetrüger, Atheisten gescholten und anderntheils persecutiret er den Wolff und seine Discipel auf äußerste, welcher persecutorische Geist sonst allezeit das Kennzeichen der falschen Kirchen gewesen. Was würde Herr Professor Lange von Wolff sagen, wenn Herr Lange in Halle wäre und er, Wolff, hier an des Königs Tafel, und Wolff profitirte von dieser Gelegenheit, um Ihro Majestät zu sagen: Herr Professor Lange ist ein scheinheiliger Pharisäer; er wollte gern den lutherischen Papst in des Königs in Preußen Landen spielen, er hat mich, Wolffen, darum vertreiben helfen, damit sein Sohn meine Professuram Philosophiae hat bekommen können; Herr Lange hat ein Urim und Thumim herausgegeben, welches nicht 6 Pf. werth, und bringt Ihro Majestät dahin, daß alle lutherische Kirchen es kaufen und ihme, Langen, damit 50 000 Rthlr. aus dem Gotteskasten schaffen müssen. Würde der Herr Professor Lange nicht sagen, daß Wolff ihn persecutirte?“94 Nachdem der auf so fulminante Weise attackierte und darüber hinaus mit seinen eigenen Waffen geschlagene Theologieprofessor „ganz still geworden und der König angefangen, die Augen über den Langischen Betrug in etwas zu öffnen“95, nutzte Grumbkow die Gunst des Augenblicks, um dem Monarchen zu empfehlen, von Lange umgehend ein Gutachten über Wolffs Philosophie einzufordern und dieses sodann dem Philosophen zu einer Stellungnahme zuzusenden; anschließend sollte eine Kommission gelehrter Männer die beiden Schriften noch einmal begutachten, um ein abschließendes Urteil zu fällen. Genauso geschah es: Langes augenscheinlich sehr rasch verfasstes Gutachten traf schon im Mai 1736 in Berlin ein96. Tatsächlich schien sich das Blatt zuerst noch einmal wenden 94  Zit. nach ebenda, 26. – Die Bemerkung zu „Urim und Thumim“ bezieht sich auf einen von Joachim Lange publizierten lateinischen Kommentar zu einigen Bibeltexten: Urim ac Thummim sive exegesis epistolarum Petri et Johannis cum appendice dissertationum anti-Poiretianium, Halle 1734. 95  Droysen, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (Anm. 2), 26. 96  Vgl. ebd., 7; das umgehend gedruckte Gutachten erschien als: Joachim Lange, Kurtzer Abriß derjenigen Lehre-Sätze, welche in der Wolffischen Philosophie der natürlichen und geoffenbahrten Religion nachtheilig sind, ja sie gar aufheben,



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zu wollen, denn diese Schrift machte auf den König offensichtlich einen sehr günstigen Eindruck97, doch Wolff schickte zu Langes schriftlichen Vorwürfen gegen ihn ebenfalls schon im folgenden Monat eine eingehende Stellungnahme, die „Ausführliche Beantwortung der unbegründeten Anschuldigungen des Herrn D. Lange, die er auf Ordre I. K. M. in Preußen entworfen“98. Wolffs Verteidigungsschrift machte offensichtlich so großen Eindruck, dass die auf Vorschlag Grumbkows einberufene, aus jeweils zwei Lutheranern (Reinbeck und dem Feldprobst Sarstedt) und zwei Reformierten (den Hofpredigern Jablonski und Noltenius) bestehende Kommission schon sehr rasch zu einem klaren Votum gelangte. Ihr auf den 27.  Juni 1736 datiertes Gutachten kam zu dem Urteil, dass die Kommissionsmitglieder aus der Philosophie Christian Wolffs „die gefährlichen Konsequenzen, die Lange ihr beimessen wolle, nicht hätten ziehen können“99, und Reinbeck empfahl sogar, das noch bestehende Verbot der Schriften Wolffs in Preußen umgehend aufzuheben. So geschah es, und für den Winter 1736 wurden sogar an der Universität Halle „Vorlesungen über die Wolffische Philosophie angekündigt“; der gedemütigte Lange wurde vom König ermahnt, er möge sich „meiner Verordnung wegen der Wolffischen Philosophie mit einer christlichen Gelassenheit“ unterwerfen; im Übrigen komme „aus dem ferneren Streit gar nichts gutes [sic] heraus, und würde in der Welt manch seltsame Meinung von selbst verschwinden, wenn sie nicht so heftig bestritten worden wäre“100. Doch Lange, dem man die Eigenschaften eines unermüdlichen Kämpfers für die eigene Sache durchaus nicht absprechen kann, war noch nicht bereit, aufzugeben: Er besorgte sich noch einmal eine Reihe weiterer theologischer Gutachten, von denen die Christlichkeit der Wolffischen und gerades Weges, obwohl bey vieler gesuchten Verdeckung, zur Atheisterey verleiten: Auf Ihro Königl. Majestät in Preussen mündlich allergnädigst ertheilten Ordre verfasset, Halle 1736; vgl. Hartmann, Anleitung zur Historie (Anm. 32), 968 ff. 97  Vgl. dazu Manteuffels Bericht nach Dresden vom 12. Mai 1736, zit. bei Droysen, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (Anm. 2), 7. 98  Ebd., 8; diese Schrift wurde 1737 in französischer Übersetzung in einem Sammelband mit neuen Texten zur Wolff-Lange-Kontroverse veröffentlicht (Recueil des Nouvelle pieces Philosophiques, concernant le different renouvellé entre Msrs Joachim Lange & Cretien Wolff, avec des avis au lecteur contenant l’histoire de ce different, Leipzig 1737); siehe den Hinweis bei Hartmann, Anleitung zur Historie (Anm. 32), 1001 ff. 99  Zit. nach Droysen, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (Anm. 2), 8. 100  Die Zitate: ebd., 9.

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Philosophie offenbar erneut in Frage gestellt wurde, doch der König reagierte jetzt abweisend und ermahnte am 22. September 1736 den hallischen Theologen noch einmal eindringlich zur Tugend christlicher Gelassenheit, da  – wie es in der für Friedrich Wilhelm typischen drastischen Ausdrucksweise hieß  – „von dehnen unnöthigen Philosophischen Subtileteten […] nichts als Wort-Gezäncke und Zerrüttungen bey den so leicht einreissenden Missbrauch entstehen“; im Übrigen sei es nur allzu klar, „dass durch contravertiren, die Irrthümer eher wachsen als gedämpfet werden, es auch nunmehro nicht möglich Zu seyn scheinet, weder durch refutiren, noch durch Verbothe die eingenommene Gemüther auf einen bessern Weg zu bringen“101. Diese und ähnliche schriftliche Äußerungen des Königs aus diesen Tagen, etwa ein auf den folgenden Tag datiertes Schreiben an den ebenfalls in Halle lehrenden pietistischen Theologen Gottlieb Anastasius Freylinghausen102, weisen darauf hin, dass Friedrich Wilhelm I. sich von den Verteidigern der Wolffischen Philosophie in der Sache zwar offenkundig nicht vollständig hatte überzeugen lassen, sondern dass er jetzt pragmatisch reagierte; immerhin schien er von einer wirklichen „Gefährlichkeit“ jener Philosophie, die er nicht mehr als genuin atheistisch ansah, kaum noch überzeugt zu sein. Die „dunkle“ Materie (von der er wohl auch nur ansatzweise etwas verstand) erschien ihm einfach zu kompliziert, um wirkliches Unheil anrichten zu können; die Theologie solle sich deshalb auf einen bloßen Streit um Begriffe gar nicht einlassen, sondern in Ruhe der Erfüllung ihrer geistlich und sozial wichtigen Aufgaben nachgehen. Im Jahr 1739 schließlich erging aus Preußen ein zweiter Ruf an den nun endgültig und auch öffentlich rehabilitierten Christian Wolff, dieses 101  Abdruck des Schreibens Friedrich Wilhelms I. an Joachim Lange bei Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. II (Anm. 9), 462 (Anlage 22); vgl. auch Droysen, Friedrich Wilhelm  I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (Anm. 2), 9 f., Anm. 3. 102  Abdruck bei Wilhelm Stolze, Aktenstücke zur evangelischen Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms I., in: Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte 1 (1904), 264–290, hier 270 f. (Nr. 4); es heißt dort u. a.: „Die wegen der Wolffischen Philosophie bisher gedauerte Streitigkeiten betreffend, so ist Meine Intention […] diese, dass, wenn selbe atheistisch ist und wider Gott und sein Wort gehet, solche in Meinen Landen nicht dociret werden soll. Wenn es aber wegen solcher nur auf Wortstreite und indifferente Sachen ankommet, so werde Ich gerne sehen, wenn der Professor Lange sich moderiret, nicht so vindicatif ist, noch seine Streitigkeiten à bout poussiret. Ich prätendire nicht, in dieser sehr dunkelen Sache ein Richter zu sein, wenn Mir aber doch fast jedermann saget, dass die Philosophie, so lange die Welt stehet, gewesen, und es mehrenteils nur auf Wörter ankommet, so wird es Mir zu gnädigem Gefallen gereichen, wenn gedachter p. Lange sich da­ runter moderat bezeigen und seine guten Talents auf erbauliche und nützliche ­Sachen anwenden wird“.



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Mal an die Universität von Frankfurt/Oder  – doch der Philosoph lehnte erneut ab. Friedrich Wilhelm I. soll, wenn man dem Zeugnis Manteuffels glauben darf, gesagt haben, er würde Wolff zwar am liebsten nach Halle zurückberufen, „aber da würden sich die Kerls gleich wieder bey die Köpffe kriegen und zu Halle kann ich ihm keine Besoldung schaffen. Frankfurth aber ist reich, da kann er kriegen, was er will“103. Der Philosoph, der sich nach Ausweis seines Briefwechsels mit Manteuffel sogar „schmerzlich“ nach Halle zurücksehnte  – auch deshalb, weil er als Lutheraner für seinen Sohn im reformierten Hessen keine berufliche Zukunft sah104 –, wartete weiter, wohl auch, um den Preis für seine ehrenvolle Rückberufung nach Preußen noch höher zu treiben. Ob tatsächlich, wie kürzlich gemutmaßt wurde, eine auf den Kronprinzen bezogene „durchdachte Strategie“ hinter diesem Aufschub stand, ist nicht sicher, aber immerhin denkbar: Dem Thronfolger sollte gleich zu Beginn seiner Regentschaft der Ruhm des jungen, wahrhaft aufgeklärten Monarchen zukommen, der als eine seiner ersten großen Taten die Rückkehr des größten Philosophen seiner Zeit ins Werk setzte105. Die bereits erwartete sehr ehrenvolle und zugleich mit einem Spitzengehalt versehene Rückberufung nach Halle, die ein Jahr später der ­soeben auf den Thron gelangte, sich damals noch selbst als Wolffianer begreifende junge König Friedrich  II. aussprach, nahm der Philosoph ­ ­indessen an: Am 10. September 1740 erhielt Wolff in Marburg das Berufungsschreiben des neuen Königs, und genau zwei Monate später, am 10. Dezember 1740, zog er, feierlich empfangen, erneut in Halle ein und erlebte den Triumph seines Lebens; einen Tag später erfolgte die offizielle Versöhnung mit Lange106. Viele Zeitgenossen empfanden dieses Ereig103  Nach dem Bericht Manteuffels an Wolff, 14. Juni 1739, abgedruckt bei Wuttke, Ueber Christian Wolff den Philosophen (Anm. 2), 45–49, hier 47; vgl. auch Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker (Anm. 2), 49. 104  Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker (Anm. 2), 49 f. 105  Diese These vertritt neuerdings vor allem Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (Anm. 82), 103 f.: „Der Effekt einer Rückkehr Wolffs durfte nicht zu früh verspielt werden, sondern sollte ein zusätzliches Element beim Thronwechsel abgeben und den Beginn einer ‚aufgeklärten Herrschaft‘ noch deutlicher markieren. Folglich musste es Friedrich II. vorbehalten bleiben, den einst vertriebenen Aufklärer endgültig nach Preußen zurückzuholen. Der Philosoph hatte sich mit seinen persönlichen Wünschen diesem ‚Gesamtkonzept‘ zu fügen. Bei der ‚Vertreibung der Finsternis durch Apoll‘ galt es für die Berliner, Wolff unmissverständlich auf der Seite des ‚lichtbringenden Gottes‘ und des neu anbrechenden Tages zu platzieren und seinen Wiederauftritt in Preußen mit dem Aufgang der Sonne des aufgeklärten ‚Philosophenkönigs‘ Friedrich anstatt mit dem verglühenden Stern des ‚Soldatenkönigs‘ Friedrich Wilhelm zu verknüpfen“. 106  Vgl. Droysen, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (Anm. 2), 19 ff.; Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker

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nis nicht nur als Sieg des nun in jeder Hinsicht öffentlich rehabilitierten und wie ein siegreicher Herrscher „aus einem gewonnenen Feldzug“107 zurückgekehrten Philosophen, sondern auch als Triumph des neuen Königs und der Aufklärung in Preußen. Kein geringerer als Voltaire widmete aus diesem Anlass seinem jungen königlichen Freund eine Hymne, die mit den Worten endete: „Socrate est sur le trône, el la Verité règne“108. VI. Wenn abschließend versucht werden soll, den Stellenwert dieser großen Kontroverse, dieser „Causa Wolffiana“, wie sie schon von den Zeitgenossen genannt wurde, näher zu beleuchten, dann gilt es, die verschiedenen Ebenen dieses Konflikts besonders sorgfältig voneinander zu unterscheiden. Dass es hierbei nicht nur um eine für die frühe Aufklärung sowie für die erste Phase der Hochaufklärung typische philosophischtheologische Kontroverse ging, sondern auch um inneruniversitäre Konkurrenzkämpfe sowie ebenfalls um genuin politische Rivalitäten, etwa in der Frage des privilegierten Zugangs zum Machthaber, eben zum Monarchen, und um die Möglichkeiten der Einflussnahme auf ihn109, dürfte hinreichend klar geworden sein. Und es dürfte ebenfalls feststehen, dass es sich bei dem schweren und folgenreichen öffentlichen Konflikt um Persönlichkeit und Philosophie Christian Wolffs nicht um einen bloßen Kampf der politisch-geistigen „Reaktion“ gegen den „Fortschritt“ (oder umgekehrt) handelte, sondern

(Anm.  2), 53 f., 61 ff.; Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 441; Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (Anm. 82), 111 ff. u. a.; Dirk Effertz, Menschenrechte und Staatstheorie. Wolffs zweiter Aufenthalt in Halle (1740–1754) (Perspektiven der Aufklärung, 5), Halles a.S. o. J. [2014], 7 ff. 107  Paul Raabe, Christian Wolff in Halle, in: Christian Wolff und die europäische Aufklärung, Teil 1 (Anm. 2), 55–70, hier 63. 108  [Voltaire], Œuvres complètes de Voltaire, hrsg. v. Louis Moland, Bd. X, Paris 1877, 312. 109  Die politik- und verfassungshistorische Bedeutung des „Zugangs zum Machthaber“ ist bekanntlich erstmals (zumeist allerdings mit Beispielen aus der neuesten Geschichte) thematisiert worden von Carl Schmitt, Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem (1947), in: Ders., Ver­ fassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 3. Aufl. Berlin 1985, 430–439, hier bes. 430: „Der Kampf um den Zugang zum absoluten Monarchen, um seine Beratung und Informierung, um den Immediat-Vortrag und dergleichen ist der eigentliche Inhalt der Verfassungsgeschichte des Absolutismus. An diesem Kampf haben sich nicht nur Minister und Kabinettsräte, hohe Würdenträger und Adjutanten, sondern auch Beichtväter, Kammerdiener und Mätressen beteiligt“.



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um eine aus sehr speziellen Grundbedingungen heraus zu verstehende Kontroverse zwischen unterschiedlichen, ja unvereinbaren theologischen, philosophischen und politischen Positionen. Und unübersehbar ist weiterhin, dass am Ende des hallischen Konflikts mit der Wiederkehr Wolffs das konfessionelle Zeitalter in Preußen auch darin endete, dass der bis dahin noch kaum angefochtene traditionelle Vorrang der Theologie vor der Philosophie in weiten und einflussreichen Teilen der gelehrten Welt fortan nicht mehr akzeptiert wurde. Von einigen Vertretern der neueren philosophiehistorischen Forschung wird Wolff inzwischen nicht mehr – wie dies gelegentlich in der Vergangenheit geschehen ist  – als kühner geistiger Bahnbrecher der Moderne aufgefasst, sondern eher als so etwas wie ein Modernisierer wider Willen. Günter Mühlpfordt hat die These vertreten, Wolff habe „um den Zündstoff, den seine Lehre barg“, gewusst und zugleich „die immanente Radikalität seines Systems, die er mit Rücksicht auf die Zensur und zur Sicherung der Verketzerung und Verfolgung nur zwischen den Zeilen durchschimmern ließ“, genau erkannt: Wolff „waren die radikalisierenden und revolutionierenden Schlußfolgerungen bewußt, die durch die obersten Werte Vernunft, Gerechtigkeit und Humanität nahegelegt wurden“. Und indem Wolff sich nach den bitteren Erfahrungen von 1723 gegen „Konsequenzenmacherei“ verwahrte, suchte er hierdurch „nicht allein, den Verfolgern gegenüber, die brisanten Elemente seines Empiriorationalismus zu entschärfen, sondern er warnte damit auch seine Schüler vor unbedachten radikalen Äußerungen, die ihnen zum Verhängnis werden konnten“110. Und Mühlpfordt hat sogar mit Blick auf die sich schon seit der 1730er Jahren stark ausdifferenzierende Wirkungsgeschichte des Philosophen analog zur späteren Hegelschule des 19. Jahrhunderts und deshalb auch mit einer anachronistischen Begriffsbildung von der Entstehung eines radikalen „Linkswolffianismus“ und eines gemäßigt konservativen „Rechtswolffianismus“ gesprochen111.

110  Mühlpfordt, Das Stichjahr 1735 (Anm. 90), 67; fast textidentisch auch in: Ders., Radikaler Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wolffschen Schule ab 1735, in: Schneiders (Hrsg.): Christian Wolff 1679–1754 (Anm. 17), 237– 253, hier 243. Zu Wolffs Warnungen vor der „Konsequenzenmacherei“, die zur „Ketzermacherei“ führen könne, siehe auch Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 141, sowie (mit weiteren Hinweisen) Hanns-Peter Neumann, Hermeneutik im Wolffianismus, in: Günter Frank/Stephan Meier-Oeser (Hrsg.), Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese – Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 11), Stuttgart/Bad Cannstatt 2011, 379–421, hier 382 f. 111  Vgl. Mühlpfordt, Radikaler Wolffianismus (Anm. 110), 251.

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Hierbei dürfte es sich indessen um eine Überzeichnung und um eine in den Schlussfolgerungen über das Ziel hinausschießende und deshalb verzerrende Interpretation der Wolffschen Philosophie handeln. Denn aus den überlieferten Äußerungen Wolffs geht nicht hervor, dass er die radikalen Schlussfolgerungen, die man mit einiger Gewaltsamkeit aus einigen seiner Thesen zu ziehen vermochte, billigte. Im Gegenteil: Gegen die allfällige „Konsequenzenmacherei“ mancher seiner Schüler oder derjenigen, die es zu sein vorgaben, setzte sich der Philosoph immer wieder entschieden zur Wehr. Gerade die Marburger und die späteren Hallenser Schriften Wolffs zeigen, dass er keineswegs einen prinzipiell antitheologisch orientierten Rationalismus und ebenfalls keine politisch radikalen Ideen vertrat, auch nicht etwa die These einer genuinen Trennung zwischen Philosophie und Glauben, sondern dass er sich lediglich gegen die traditionelle Unterordnung der Philosophie unter die Theologie entschieden zur Wehr setzte  – ohne die auch von ihm persönlich vertretenen christlichen Glaubensüberzeugungen auch nur im Geringsten in Frage stellen zu wollen112. Seitens der neueren Wolff-Interpreten hat etwa Günter Gawlick angemerkt, dass Wolff sich nicht nur als gläubiger Christ verstand, sondern dass er nach Ausweis seiner zahlreichen Verteidigungsschriften wirklich glaubte, „der christlichen Religion nach Kräften, d. h. mit den Mitteln eines Philosophen gedient zu haben“. Und trotzdem sei es bei näherem Hinsehen „nicht von der Hand zu weisen“, dass er am Ende „unabsichtlich der aufklärerischen Religionskritik Vorschub geleistet“ habe113. Andere Autoren wiederum, wie etwa Carl Hinrichs, betonen stark den genuin christlichen Charakter des Wolffschen Denkens und vertreten die Auffassung, das wichtigste Resultat der „Causa Wolffiana“ sei gerade darin 112  Auch Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (Anm. 82), 179, merkt auf der Grundlage umfassender Quellenkenntnis, vor allem des ausführlichen Briefwechsels Wolffs mit Manteuffel an, dass es sich bei der „Kritik am Wolffianismus“ vielmehr um eine „in der Öffentlichkeit der gesamteuropäischen Gelehrtenrepublik geführte Auseinandersetzung“ handelte, „in der die Gegner Wolffs diffus gestreut waren. In Deismus, Materialismus und Skeptizismus, den ‚Monstra‘ [so Wolff an Manteuffel, 6. 7. 1739] des sich radikalisierenden Zeitgeistes, sah der Philosoph gleichwohl die Hauptgefahren, die die ‚Wahrheit‘ bedrohten. Tatsächlich sollte sich an dieser Front das Schicksal des Wolffianismus ganz anders entscheiden als im Streit mit Pietisten und Orthodoxen“. 113  Gawlick, Christian Wolff und der Deismus (Anm. 17), 142, siehe auch ebd., 142–144; bereits Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung [zuerst 1932], 3. Aufl. Tübingen 1973, 234, merkt an, dass es im System Wolffs „nirgends zu einer schroffen Trennung zwischen dem Gehalt des Glaubens und dem des Wissens, zwischen Offenbarung und Vernunft“ kommt, im Gegenteil: „Die Rechte beider sollen vielmehr sorgfältig abgewogen und genau gegeneinander abgegrenzt werden“.



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zu sehen, „daß die deutsche Aufklärung keine irreligiösen und nichtchristlichen Züge trug, und daß in Halle aus der Verschmelzung von Pietismus und Wolffianismus eine neue wissenschaftliche Theologie […] erwuchs“114. Und weitere Historiker der Aufklärung von Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer bis zu Werner Schneiders, Rudolf Vierhaus oder Horst Möller haben ebenfalls die in stärkerem Maße christliche Prägung gerade der deutschen Aufklärung betont115. Ab der Zeit der endgültigen Rehabilitierung Wolffs und seiner Philosophie war zudem der zunehmende bedeutende Einfluss dieses Denkens auch auf die evangelische Theologie, in der nun „der Pietismus seine Rolle vorläufig ausgespielt hatte“116, nicht mehr zu übersehen. Die neueste Forschung zeichnet inzwischen jedoch ein ganz anders akzentuiertes Bild der Aufklärungsbewegung, indem sie viel stärker als früher die – neuerdings oft auch noch deutlich positiv bewerteten – radikalen Bewegungen seit der Frühaufklärung in den Vordergrund rückt, d. h. die im verborgenen wirkenden und sich nur verdeckt artikulierenden geistigen Strömungen, die partiell auch als „klandestine“ oder „kryptoradikale“ Aufklärung bezeichnet werden117. Deutsche und außerdeutsche Forscher wie Martin Mulsow, Winfried Schröder, Günter Mühlpfordt oder vor allem auch Jonathan Israel und Margaret Jacobs bemühen sich seit etwa knapp zwei Jahrzehnten um die Rehabilitierung früher kaum beachteter oder sogar fast unbekannter radikal autoritätsund religionskritischer, fast stets atheistischer Autoren, die derzeit nach und nach wissenschaftlich erforscht werden118. Wie immer man diese Forschungstendenz einschätzen mag: Fest steht jedenfalls schon jetzt, 114  Hinrichs,

Preußentum und Pietismus (Anm. 2), 441. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. III: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leibniz und sein Zeitalter  – Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung  – Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt, Stuttgart/Göttingen 1959, 74 ff., 142 ff. u. a.; Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (Anm. 113), 178–262 u. a.; Werner Schneiders, Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, Freiburg i. Br./München 1974, 36 ff., 106 ff. u. a.; Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986, 71 ff.; Rudolf Vierhaus, Staaten und Stände. Vom Westfälischen bis zum Hubertusburger Frieden 1648 bis 1763, Frankfurt a. M./Berlin 1990, 177 ff. 116  Karl Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle a. S. 1929, 22, vgl. auch 10, 22 ff. 117  Günter Mühlpfordt/Ulman Weiß (Hrsg.), Kryptoradikalität in der Frühneuzeit (Friedenstein-Forschungen, 5), Stuttgart 2009. 118  Einen Einblick in die Denk- und Arbeitsweise dieser Richtung vermittelt der Sammelband: Jonathan I. Israel/Martin Mulsow (Hrsg.), Radikalaufklärung Frankfurt a. M. 2014, dort auch ausführliche Hinweise auf weitere einschlägige Publikationen. 115  Vgl.

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dass durch sie ein neues, deutlich differenzierteres, breiter ausgefächertes, in mancher Hinsicht jedoch einseitiges, überzeichnetes Gesamtbild der deutschen wie der europäischen Aufklärungsbewegung entstanden ist, vor dessen Hintergrund auch die Kontroverse zwischen Wolff und den hallischen Pietisten um Francke und Lange neu bewertet werden muss. Entscheidend sind hier weniger die konkreten inhaltlichen Differenzen zwischen dem Wolffschen Denken und der pietistischen Theologie, dafür jedoch in stärkerem Maße die institutionellen Aspekte, die im Streit um Unterordnung, Vorrang oder Gleichwertigkeit der ersten und der vierten Fakultät und damit letztlich auch der beiden Disziplinen Theologie und Philosophie zum Ausdruck kommen. In einer kleinen  – angesichts des ungeheuren von Wolff hinterlassenen Textgebirges nur wenig beachteten – Schrift aus seiner Marburger Zeit, der 1729 auf lateinisch, 1737 auch auf Deutsch erschienenen Studie „In wie ferne die Philosophie keine Magd sey“119, verteidigt Wolff entschieden den Anspruch der Philosophie, eben nicht mehr die einstige ancilla theologiae zu sein, sondern eine eigenständige Grundwissenschaft, deren rationale Regeln des Denkens und der wissenschaftlichen Forschung auch für die Theologie, etwa für die Interpretation der Heiligen Schrift, jetzt und fortan maßgeblich seien. Gleichzeitig kritisierte der Philosoph hier (allerdings mit gewohnter Weitschweifigkeit) das „gemeine Vorurtheil“ einer „Eintheilung der Facultäten, in die höhern und die niedrigen“, das als eigentliche negative Folge jener früheren Unterordnung der „Weltweisheit“ unter die „Gottesgelahrtheit“ angesehen werden könne und am Ende zu einer Verkennung der wahren Aufgabe der Philosophie als Grund- und Orientierungswissenschaft führen müsse, die nicht zuletzt in der Beförderung „der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechtes“ bestehe, die allein von „den so genannten höhern Facultäten“ nicht geleistet werden könne. Denn die „Weltweisheit“ enthalte nicht nur „Gründe für die höhern Facultäten“, sondern gebe auch „solche an die Hand […], welche bey Verwaltung des gemeinen Wesens nüzlich und dienlich sind, doch aber von den höhern Facultäten nicht zu erwarten stehen“, worunter vor allem „die Schärfung (cultura) des Verstandes“ mittels „Vernunfftlehre“ und Anleitung zu logischem Denken  – von Wolff als „Fertigkeit der logicali119  Zuerst lateinisch in den „Marpurgischen Nebenstunden“ (1729, 425–478) publiziert; in erweiterter deutscher Fassung: Christian Wolff, In wie ferne die Philosophie keine Magd sey, in: Ders., Gesammlete kleine philosophische Schrifften, Welche meisten aus dem Lateinischen übersezet, Dritter Theil, darinnen die zur besonderen Vernunfftlehre gehörige Stüke enthalten, Halle 1737, 3–73.



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schen Regeln“, auch als „Grundwissenschaft“ bezeichnet  – angeführt werden müsse120. Wolff hat hiermit also entschieden den Anspruch der Philosophie auf eine Stellung als verbindliche Leitwissenschaft im Kanon der universitären Disziplinen angemeldet, und damit ebenfalls wenigstens die Gleichrangigkeit aller vier Fakultäten  – und implizit sogar den Vorrang der Philosophischen Fakultät vor den anderen drei traditionellen Fakultäten  – angemahnt. Es war von Anfang an klar, dass dieser Anspruch auf den heftigsten Widerstand der Theologen stoßen musste, die im frühen 18. Jahrhundert immer noch auf ihrem Anspruch auf „universitäre Richtlinienkompetenz“121 beharrten, die auch die untere, die vierte Fakultät umfasste. Der 1723 ausbrechende, jahrelang unentschieden hinund herwogende, 1740 schließlich zugunsten der Philosophie entschiedene Konflikt erhält gerade in dieser Perspektive seine zentrale Bedeutung: Die universitäre Wissenschaft begann sich im Rahmen eines schmerz­ lichen Prozesses vom Vorrang der Theologie und damit auch von der ­Dominanz religiöser Theoreme zu lösen, indem sie philosophischen Fragestellungen einen immer größeren Raum und schließlich den ersten Rang zugestand. Wolff hat in seinem überaus umfangreichen Werk, das fast alle Wissensgebiete seiner Epoche umfasste, als einer der ersten Denker dieser Zeit dargelegt, auf welche Weise die Prinzipien rationalen Denkens wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden konnten. In diesem Vorgang einer langsam fortschreitenden Säkularisierung der Wissenschaft und einer beginnenden Marginalisierung der einstmals unangefochten dominierenden Theologie liegt die herausragende Bedeutung der „Causa Wolffiana“122. Oder, um es etwas anders zu formulieren: Die Religion „wurde in der Welt des Wolffianismus zu einer gesellschaftlichen Kraft neben anderen. Gott stand nicht länger über, sondern tatsächlich in einer Reihe mit der Welt, der Seele des Menschen und allen Dingen über-

120  Alle Zitate ebenda, 4–9. Siehe auch ders., Von der Grundwissenschaft, in: ebd., 133–186.  – Zu Wolffs Lehre von der Gleichrangigkeit aller Fakultäten vgl. neuerdings auch die Bemerkungen bei Sonia Carboncini, Wolffrezeption in Europa, in: Theis/Eichele (Hrsg.), Handbuch Christian Wolff (Anm. 2), 467–495, hier 485. 121  Beutel, Causa Wolffiana (Anm. 2), 154, vgl. 130. 122  Insofern ist es unverständlich, warum Beutel in seiner wichtigen Untersuchung zur Vertreibung Wolffs aus Halle die These vertritt, es handele sich bei der „Causa Wolffiana“ lediglich um einen besonderen Fall, „bar jeder oder fast jeder Verallgemeinerungsfähigkeit für ihre Epoche“ (ebd., 125), und dies u. a. deshalb, weil Wolff angeblich „dem Streit auch niemals philosophische Substanz“ zugebilligt habe (ebd., 160). Das Gegenteil ist der Fall, was sich vor allem anhand von Wolffs Kampf für die Gleichberechtigung der Philosophischen Fakultät zeigen lässt!

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haupt. In dieser wolffianischen Welt war der Glaube der Vernunft nicht übergeordnet“123. Christian Wolff hat auf dem Höhepunkt der deutschen Frühaufklärung mit seiner Anmahnung einer Gleichberechtigung der Philosophischen Fakultät eine zentrale Forderung aufgeklärten Denkens erhoben, die seinerzeit zuerst noch unerfüllt, wenn auch keineswegs unbeachtet blieb, die jedoch erst Wolffs bedeutendster Nachfolger auf einem deutschen philosophischen Lehrstuhl, Immanuel Kant, im Jahr 1798 in seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten“ erneut aufnahm, sogar unter Rezeption des von Wolff kritisierten Topos einer „Magd“ der Theologie124. Kant ging mehr als ein halbes Jahrhundert später jedoch noch weiter als Wolff, wenn er den Vorrang der Philosophischen Fakultät vor den drei anderen damit rechtfertigte, die vierte habe die ersten drei Fakultäten „zu con­ trolliren und ihnen eben dadurch nützlich zu werden, weil auf Wahrheit (die wesentliche und erste Bedingung der Gelehrsamkeit überhaupt) alles ankommt; die Nützlichkeit aber, welche die oberen Facultäten zum Behuf der Regierung versprechen, nur ein Moment vom zweiten Range ist“125. Schon wenige Jahre später, nach der Wende zum 19. Jahrhundert, fand diese Forderung Kants im Rahmen der deutschen Universitätsgründungen im Zeichen des Neuhumanismus ihre Verwirklichung. In genau diesem Sinne führt tatsächlich eine Linie von Wolff über Kant zu Humboldt  – und eben hierin kann vielleicht der wichtigste, weil geistesgeschichtlich und realhistorisch folgenreichste Aspekt der „Causa Wolffiana“ gesehen werden.

123  Martus, Aufklärung (Anm. 2), 283; ähnlich auch Saine, The Problem of Being Modern (Anm. 2), 130, ebenfalls Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie II (Anm. 17), 89: „Man kann die Wende, welche Wolff herbeiführt, […] kurz so bezeichnen: Die dienende Stellung der Philosophie im Hause der Theologie hört auf, die Philosophie steigt zur Herrin und Gebieterin auf. Mindestens bestimmt sie die Ordnung im Hause des deutschen Geistes, das der Theologie mit als Heim dienen muß. Aber diese Verschiebung ist einfach durch das natürliche Schwergewicht der Dinge eingetreten, ohne daß Wolff die Stellung der damals ersten Fakultät, der theologischen, angetastet hätte. Indem die Philosophie ihren Dienst mit vollendeter Gründlichkeit und Leistungsfähigkeit tat, fiel ihr gemäß der allgemeinen Lage der europäischen Wissenschaft die Führung von selber zu“. 124  Vgl. Kant, Gesammelte Schriften (Anm. 7), Bd. VII, 28 (Der Streit der Facultäten, 1.); ebenda, Bd. VIII, 369 (Zum ewigen Frieden, 2. Zusatz). 125  Ebenda, Bd. VII, 28.



Spätkonfessionalismus und Frühaufklärung

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Nachtrag Das Druckmanuskript für diese Abhandlung wurde Anfang 2017 abgeschlossen. Seitdem ist nicht nur weitere Literatur zum Thema erschienen, sondern ebenfalls eine wichtige Quellenpublikation. Die Auseinandersetzung um Christian Wolff, seine Vertreibung aus Halle und die Vorgeschichte sowie die Geschichte seiner Rückkehr dorthin ist inzwischen in einer neuen Biographie Wolffs dargestellt worden von Hans-Joachim Kertscher, „Er brachte Licht und Ordnung in die Welt“. Christian Wolff – eine Biographie, hrsg. von der Christian-Wolff-Gesellschaft für Philosophie der Aufklärung, Halle (Saale) 2018, S. 105–207 (leider ohne präzise Nachweise und mit unvollständiger Bibliographie). – Ebenfalls ist inzwischen eine dreibändige wissenschaftliche Edition des umfangreichen Briefwechsels zwischen Christian Wolff und Ernst Christoph von Manteuffel 1738–1748 erschienen, in dessen erstem Band wichtige Quellen zu den Auseinandersetzungen um eine angemessene Deutung der Philosophie Wolffs in Preußen und zur unmittelbaren Vorgeschichte seiner Rückberufung an die Universität Halle enthalten sind: Historisch-kritische Edition in drei Bänden, hrsg. v. Jürgen Stolzenberg/Detlef Döring †/Katharina Middell/Hanns-Peter Neumann, Bd. I: 1738–1743, Hildesheim/ Zürich/New York 2019, S. 33–385.

Die brandenburgisch-preußischen Territorien in ihrer Entwicklung vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat (16. bis frühes 18. Jahrhundert) Themen und Thesen einer religionsgeschichtlichen Tagung Klaus Neitmann, Potsdam In der Überzeugung, daß dem Leser nicht befriedigend damit gedient ist, wenn er nach der Lektüre des letzten Beitrages ein wenig abrupt und unvermittelt aus dem Sammelband entlassen wird, hat der Herausgeber sich dazu entschlossen, an das Ende eine Zusammenfassung der einzelnen Aufsätze zu rücken. Sie soll die in ihnen behandelten Themen noch einmal in ihren wesentlichen Gehalten vorführen und zugleich aus ihren besonderen Einsichten eine systematische Summe ziehen, unter Weiterführung der im Vorwort erläuterten grundsätzlichen Überlegungen zur Materie. Dementsprechend ist dieses Schlußkapitel in der Weise aufgebaut, daß es die Inhalte der vorangegangenen Artikel jenseits einer thesenartigen Skizzierung bewußt recht ausführlich wiedergibt, um die Argumentationen der Autoren nachvollziehen zu können. Entsprechend der Gliederung des Buches behandelt Abschnitt I. den monokonfessionellen Landesstaat des 16. Jahrhunderts, Abschnitt II. den mehrkonfessionellen Landesstaat seit dem frühen 17. Jahrhundert in einer vereinfachten Gegenüberstellung, die die Orientierung erleichtert. Die Darlegungen lehnen sich eng an die Ausführungen und Formulierungen der Verfasser zwecks eines präzisen Referates an und versuchen dabei in einem einleitenden Absatz die allgemeinen Fragestellungen auf den Punkt zu bringen wie die engen Verbindungen und gegenseitigen Bezüge zwischen den Texten zu verdeutlichen. Abschnitt III. greift dann deren zentrale Erkenntnisse auf und fügt sie in einem systematisch geordneten Gedankengang aneinander, um so die Kerne des ausgewählten konfessionsgeschichtlichen Gegenstandes herauszustellen.

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I. In die grundsätzliche Problematik des Tagungsthemas „Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat“ führt Anton Schindling (unter Mitarbeit von Matthias Asche) in seinem Beitrag „Konfessionspolitik und Religionsfrieden – das Heilige Römische Reich, seine Territorien und Städte sowie die mittel- und ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten“ ein, indem er die durch die Ausbreitung der lutherischen Reformation eingetretene neue kirchen- und allgemeinpolitische Lage charakterisiert und die unterschiedlichen Reaktionen der weltlichen Obrigkeiten auf die Kirchenspaltung, der sie sich wegen der aus dem Mittelalter überkommenen innigen Verflechtung von Kirche und Welt nicht entziehen konnten, für den Zeitraum von 1517 bis 1648 herausarbeitet: Welche Lösungen entwickelten und verfolgten die Herrscher für sich selbst und ihre Untertanen, nachdem die eine Papstkirche auseinandergebrochen war und zwei christliche Religionsparteien mit unbedingtem Wahrheitsanspruch einander gegenübertraten? Schindling analysiert die friedensvertraglichen und sonstigen Grundsatzentscheidungen über die Behandlung bzw. Zulassung der neu entstandenen religiösen Bekenntnisse in der Spannbreite zwischen der (weitgehend bevorzugten) Monokonfessionalität und der (nur gelegentlich unter besonderen Umständen in unterschiedlichem Ausmaß praktizierten) Bi- bzw. Mehrkonfessionalität. Die Reformation führte zur Kirchenspaltung innerhalb der westlichen, unter der Jurisdiktion des Papstes stehenden Christenheit und führte ­eine ganz neue Lage herauf, die sich von der von mittelalterlichen Kirchenabspaltungen verursachten grundlegend unterschied: Die Verfolgung von Ketzern hatte andere Begründungszusammenhänge gehabt, und obwohl sich im 15. Jahrhundert in Böhmen als Folge der Hussitischen Revolution erstmals eine auf ein Bekenntnis (Laienkelch) gestützte religiöse Partei, die der Utraquisten, gebildet hatte, war sie innerhalb der universalen Kirche verblieben. Nach dem Auftreten Luthers 1517 und den Wormser Reichstagsbeschlüssen 1521 beanspruchten die weltlichen Obrigkeiten die Zuständigkeit in Glaubensfragen und die Ausübung des Reformationsrechtes als Teil ihrer Landeshoheit für sich und entwickelten sich zu den eigentlichen Akteuren in geistlichen Angelegenheiten. Ständische Bündnisse entstanden auf gemeinsamer Glaubensgrundlage und verknüpften reichische Ständepolitik und Bekenntnis miteinander, erhoben letzteres zu einem zentralen Thema der ersteren. Nicht eine kirchliche Synode, sondern der vom Kaiser und den Reichsständen besetzte Reichstag des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation verwandelte sich in das entscheidende Diskussionsforum über den rechten Glauben. Auf dem Augsburger Reichstag von 1530 wurde das maßgebli-



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che protestantische Bekenntnis, die Confessio Augustana (invariata), vorgetragen und blieb Bezugspunkt der Religionspolitik. Erstmals wurde die Glaubensfrage durch ein bündisches Übereinkommen der weltlichen Obrigkeiten in der Eidgenossenschaft geklärt. Der zweite Kappeler Landfrieden von 1531, der erste dauerhafte Religionsfrieden zwischen Katholiken und Protestanten, erlaubte jedem Ort, die Konfession des eigenen Territoriums zu bestimmen, und gewährte denjenigen, die mit der verpflichtenden obrigkeitlichen Glaubensentscheidung nicht einverstanden waren, das Recht zur Auswanderung mit Vermögensgarantie. Beide Bestimmungen nahmen die Grundlinien des politischen Kompromisses im Reich, des Augsburger Religionsfriedens von 1555, vorweg. Zwei Bekenntnisse, der „Alte Glaube“ der Papsttreuen und das „Unveränderte Augsburgische Bekenntnis“ der Lutheraner wurden erlaubt. Die freie Entscheidung über die verbindliche Wahl zwischen ihnen stand den weltlichen erblichen (Kur-)Fürsten, Grafen und Herren bzw. Reichsrittern für sich selbst und alle ihre Untertanen – mit dem Emigrationsrecht für Andersgläubige – zu, während laut dem Geistlichen Vorbehalt den geistlichen Fürsten nur die persönliche Entscheidungsfreiheit eingeräumt wurde, ihr Territorium jedoch bei der alten Kirche verbleiben sollte. Ferdinand I. sicherte allerdings den adligen und städtischen Landständen der geistlichen Territorien die Freiheit des Übertritts zum Protestantismus zu, wie auch in den Reichsstädten Bekenntnisfreiheit herrschen sollte. Tatsächlich traten die Reichsstadtmagistrate mehrheitlich für den Protestantismus ein, so daß die Freien Reichsstädte offiziell monokonfessionell lutherisch wurden. Der Augsburger Religionsfrieden, das Reichsrecht und die Reichstage vermochten bis zum Ausbruch des 30jährigen Krieges 1618 alle Konflikte wenigstens notdürftig auszubalancieren. Zwei Schwachpunkte des Friedensschlusses entwickelten sich zu Hauptproblemen der Reichspolitik zwischen 1555 und 1648: der Konfessionsstand der geistlichen Für­ stentümer und die Stellung der formal außerhalb des Reichsrechtes stehenden Reformierten. Schwierigkeiten entstanden für die protestantischen Bistums-Administratoren in geistlichen Fürstentümern, und die Idee einer gemeinprotestantischen, Lutheraner wie Calvinisten umfassenden Solidarität gegenüber dem Katholizismus vermochte sich unter den Lutheranern nicht durchzusetzen. Ansonsten wurde das Prinzip “cuius regio eius religio“ nicht überall im Ringen der Protestanten und Katholiken, abhängig von den jeweiligen politischen Kräfteverhältnisse, vorbehaltlos umgesetzt. In Reichsstädten, unter Reichsrittern und Ritterorden entwickelten sich lokal gemischtkonfessionelle Verhältnisse. Alle drei Konfessionen ließen die Herzöge von Jülich-Kleve-Berg gewähren, so daß ihre Nachfolger, die Kurfürsten von Brandenburg und die Pfalz-

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grafen von Neuburg, gemäß den Erbverträgen die mehrkonfessionelle Struktur nach 1609/14 bewahrten. In der Habsburgermonarchie, in den österreichischen Erblanden wie in Böhmen, rangen miteinander die katholische Landesherrschaft und die dem Protestantismus zuneigenden Landstände, unter denen der Herrenstand ein Religionsfestlegungsrecht ähnlich dem der Reichsstände für sich anstrebte. Zuerst nahm Maximi­ lian II. in Österreich eine Art evangelische Landeskirche mit eigenen Kirchenordnungen und Landesschulen hin, aber eine derartige Entwicklung scheiterte an der harten Gegenreformation Ferdinands II., durch die alle habsburgischen Territorien rekatholisiert wurden; die von den Glaubensflüchtlingen verursachten Bevölkerungsverluste nahm sie in Kauf. Der Westfälische Frieden von 1648 beendete mit seiner Rückkehr zu In­ stitutionen und Verfahren der Reichsverfassung ein einhundertjähriges Ringen um ein Nebeneinander der Konfessionen im (niemals in Frage gestellten) politischen System des Reiches. Der grundsätzlich fortgeltende Augsburger Religionsfrieden wurde im Einzelnen fortentwickelt: Die Reformierten wurden reichsrechtlich anerkannt, die Konflikte um die kirchlichen Rechte und Besitzstände mit der Orientierung an dem IstZustand des Normaljahres 1624 formaljuristisch unter Verzicht auf die Beantwortung der konfessionellen Wahrheitsfrage gelöst, und durch die vorgeschriebene „amicabilis compositio“ der beiden konfessionellen Beratungsgremien, des „corpus Catholicorum“ und des „corpus Evangelicorum“, wurde der paritätische Charakter der Reichsordnung betont. Den vorherrschenden monokonfessionellen Lösungen der Territorien traten in Ausnahmefällen bikonfessionelle (Schlesien) zur Seite. Während im Reich (und in der Eidgenossenschaft) der Religionsfrieden auf der Anerkennung zweier bzw. dreier konfessioneller Parteien beruhte, wurden anderswo weitergehende konfessionelle Freiheiten gewährt bzw. bildete sich ein konfessioneller Pluralismus heraus. In der Republik der Vereinigten Niederlande gehörten zwar die Obrigkeiten der sieben nordniederländischen Provinzen nach 1581 der öffentlichen reformierten Kirche an, duldeten jedoch eine Mehrzahl von Dissidenten einschließlich Katholiken und Täufer in der privaten Glaubenspraxis. In Polen-Litauen wurde 1570 eine gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit zwischen Lutheranern, Reformierten und Böhmischen Brüdern im Geiste ­einer protestantischen Ökumene gegen die vom katholischen König betriebene Gegenreformation beschlossen, und auf ihrer Grundlage aufbauend bestimmte die Konföderation von Warschau 1573 die völlige Religionsfreiheit der Protestanten, eine staatsrechtliche Absicherung wie in keinem zweiten europäischen Land – wenn auch die katholische Kirche sich später regenerierte, ohne zu einer gewaltsamen Gegenreformation zu schreiten. In Preußen und Kurland sicherten die polnischen Könige als



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Lehnsherren den Katholiken Minderheitsrechte. Am weitesten gedieh ein toleranter christlicher Staat im Fürstentum Siebenbürgen, bedingt auch durch die äußere Türkenbedrohung: Der Landtag von 1568 erkannte vier Bekenntnisse (Lutheraner, Calvinisten, Katholiken und Antitrinitarier) offiziell an, erlegte den Gottesdiensten keine Beschränkungen auf und verbot religiöse Polemiken. All diese Religionsfriedensschlüsse waren an ständische Strukturen gebunden und beruhten auf ständischen Politikmodellen. Zwar hielt die Staatstheorie grundsätzlich am Ideal der Monokonfessionalität fest, aber das vom Humanismus geformte juristische Denken wies den Weg, dass kirchliche und staatliche Normen pragmatisch entkoppelt und praktische, etwa wirtschaftliche und demographische Notwendigkeiten, anerkannt wurden. Daß die Religionsfreiheit und der Glaube ein Geschenk Gottes seien, wurde allerdings mit Berufung auf den Römerbrief des Paulus (Röm. 10, 17) ausdrücklich nur in Siebenbürgen formuliert.

* Mit dem anschließenden Aufsatz von Andreas Stegmann über „Die Formierung einer lutherischen Konfessionskultur im Kurfürstentum Brandenburg während der Regierungszeit Joachims II. (1535–1571)“ wird die Ebene gewechselt, von der des Reiches auf die eines bedeutenden Reichsterritoriums übergegangen: Stegmann beschreibt die aus der christlichen Verantwortung des Fürsten für das geistliche Heil seiner Untertanen abgeleiteten wesentlichen Maßnahmen des Hohenzollern und seiner Mitarbeiter, mit denen es ihnen unter breiter Unterstützung der Bevölkerung gelang, eine monokonfessionelle protestantische Landesherrschaft aufzubauen. Innerhalb einer Generation prägte er zusammen mit seiner neu geschaffenen Landeskirche konsequent eine lutherische Konfessionskultur aus, unter der Voraussetzung einer obrigkeitlich verkündeten und von den Gläubigen angenommenen einheitlichen kirchlichen Lehre. In der Mark Brandenburg wurde die lutherische Reformation zwischen 1537 und 1540 eingeführt, in den folgenden drei Jahrzehnten konsequent umgesetzt und in einer Konfessionskultur ausgeformt, die sich an drei charakteristischen Bereichen, dem Bekenntnis, der kirchlichen Organisation und dem kirchlichen Leben mit seinen Frömmigkeitsformen, ablesen läßt. Die Grundlage der Konfessionskirche schuf das Bekenntnis, ihr entscheidendes Identitätsmerkmal, das Verkündigung, Organisation und ­Leben umfassend regulierte und gänzlich durchdrang. Das maßgebliche Dokument, die Brandenburgische Kirchenordnung von 1540, die bis in die frühen 1570er Jahre durch weitere Ordnungen ergänzt wurde, orientierte sich an der Wittenberger Theologie und deren definitiver Formulie-

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rung im Augsburgischen Bekenntnis von 1530 und schuf den rechtlichen Rahmen. Das kirchliche Organisationsgefüge wurde grundlegend in konfessionsspezifischer Weise umgestaltet: Der Landesherr übernahm – unter Verweis auf die religiöse Verantwortung des Fürsten für seine Untertanen – mit dem landesherrlichen Kirchenregiment die Leitung der von ihm geschaffenen Kirche. Während die diözesanbischöflichen Strukturen schrittweise aufgelöst wurden, errichtete die Kirchenordnung auf der zentralen wie mittleren Ebene ein dem Kurfürsten verantwortliches Leitungssystem aus Generalsuperintendenten und Visitatoren, Konsistorium und Inspektoren. Die Visitationen legten die organisatorischen und wirtschaftlichen Grundlagen für ein evangelisches Kirchenwesen auf der Gemeindeebene: Die Kirchenfinanzen wurden neu geordnet, evangelische, zumeist verheiratete Geistliche wurden berufen, das kirchliche Leben wurde in den Grundzügen mit Gottesdiensten, geistlicher Begleitung, Unterweisung und Disziplinierung der Gemeinde, der Reform des Schulwesens, das auskömmlich finanziert, kompetentes Personal erhalten und nach reformatorischem Bildungsprogramm umgestaltet werden sollte, und der Reform der Armenfürsorge neu gestaltet. Die Landesuniversität in Frankfurt wurde eng an die Landeskirche angebunden und mit der an ihr gelehrten Bibelexegese, Dogmatik und Kontroverstheologie für die Bewahrung und Vermittlung des Bekenntnisses und für die Ausbildung kirchlicher Amtsträger in Dienst genommen. Der Kernvorgang der neuen Konfessionskultur war die Formierung von Glaubensvorstellungen und Lebensvollzügen mit konfessionsspezifischen kollektiven wie individuellen Frömmigkeitsformen. Das Gottesdienstverständnis wandelte sich grundlegend, da der Gemeinde das göttliche Heil durch Wort und Sakrament (Taufe und Abendmahl) zuzueignen war: Der im Mittelpunkt stehenden Verkündigung des Pfarrers antwortete die Gemeinde mit Gebet, Dank und Lob. Der sonntägliche Hauptgottesdienst mit der Abendmahlsfeier und ergänzende morgendliche und abendliche Sonntags- und Werktagsgottesdienste vermittelten das katechetische Grundwissen. Die anhand der Bibel das reformatorische Bekenntnis entfaltende Predigt bezog die zentrale Rechtfertigungslehre auf die Lebenswirklichkeit der Menschen und forderte einen der göttlichen Heilsgabe in Wort und Sa­ krament entsprechenden Lebenswandel. Aus drei Büchern lebte der lutherische Christ: der Bibel, dem Katechismus und dem Gesangbuch, dazu trat eine reiche Erbauungsliteratur, die die lutherische Frömmigkeit zu verinnerlichen und zu christlicher Weltverantwortung anzuleiten suchte. Die vom Kurfürsten propagierte lutherische Konfessionskultur wurde in einem längeren Prozess zur einzigen und allein als legitim wahrgenommenen Form des christlichen Glaubens, gemäß der allgemein verbreiteten Überzeugung, daß es in einem Land nur einen Glauben geben



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dürfe und infolgedessen die weltliche Obrigkeit für einheitliche Gottesverehrung zu sorgen habe. Allerdings musste sich dieses Luthertum erst gegen Widerstände durchsetzen, sowohl gegen überkommene kirchliche Strukturen und religiöse Überzeugungen als auch gegen alternative Formen christlichen Glaubens und Lehre. Auch wenn durch die lutherische Konfessionalisierung der zu allen Zeiten typische Hiatus zwischen religiösen Anforderungen und alltäglicher Lebenswirklichkeit nicht vollständig überbrückt werden konnte, waren doch weltliche und kirchliche Obrigkeiten nachdrücklich bemüht, mit Mitteln wie den Visitationen, den Reformen des Schulwesens, der Verstärkung von Predigt und Katechese, Sozialdisziplinierung und Kirchenzucht, auch mit Rücksichtnahme auf das Überkommene und unter Einbeziehung der Betroffenen auf die Menschen einzuwirken, das religiöse Leben in ihrem Sinne zu homogenisieren und die kirchliche Wirklichkeit nicht zu sehr hinter dem theologischen Anspruch zurückfallen zu lassen. Die beachtlichen Fortschritte erklären sich auch dadurch, daß widerständige Kräfte kaum auftraten. Die Papstkirche mit ihren Institutionen, Vorstellungen und Praktiken verschwand rasch, bedingt und befördert dadurch, daß die Bevölkerung sich großenteils von ihr abwandte. Konkurrierende reformatorische Strömungen gab es nicht. Hingegen führte innerlutherische Vielfalt, mithin die ansehnliche Bandbreite theologischer und frömmigkeitspraktischer Umakzentuierungen des gemeinsamen Bekenntnisses, zu Konflikten, etwa zwischen Gnesiolutheranern und dem Melanchthonianismus. Der Kurfürst verdeutlichte, welche Position er bevorzugte, ohne die vielfältigen Auslegungen des lutherischen Bekenntnisses zu unterdrücken, wenn auch die organisatorischen und zeremoniellen Vorgaben der Landeskirche verbindlich blieben. Die deviante, neben der offiziellen Religion praktizierte Volksfrömmigkeit mit ihren Vorstellungen von Zwischenwesen zwischen Gott und Teufel, Astrologie und Vorzeichendeutung hat nur wenige Spuren hinterlassen. Das Ergebnis: Das Kurfürstentum Brandenburg war auf Grund eines unter weniger Friktionen und Kompromissen als anderswo vollzogenen Formierungsvorganges das „Musterbeispiel ­einer nach einer längeren Inkubationsphase rasch umgesetzten und folgerichtig in eine lutherische Konfessionalisierung mündenden landesherrlichen Reformation“.

* Die allgemeinen, grundsätzlichen Betrachtungen, die Andreas Stegmann der lutherischen Konfessionskultur in der Mark Brandenburg unter Joachim II. gewidmet hat, konkretisiert und veranschaulicht Heinrich Kaak in seiner Studie über „Städtisches Kirchenregiment und Konfessionsfragen des 16. und 17. Jahrhunderts im Spiegel der Prenzlauer Chronik des Christoph Süring“, indem er nachzeichnet, wie ein lutherischer

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Pfarrer im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts Formen und Inhalte des reformatorischen Kirchenlebens in der uckermärkischen Hauptstadt darstellt und das von der lutherischen Glaubenslehre durchdrungene Alltagsdasein der Bewohnerschaft im engen Zusammenwirken von Kirche, Rat, der „christlichen Obrigkeit“, und Gemeinde beschreibt. Entsprechend dem zeitlichen Schwerpunkt der Darstellung wird vorrangig geschildert, wie sich bis zum 30jährigen Krieg auf der lokalen Ebene ein blühendes lutherisches Gemeindeleben in einer märkischen „Hauptstadt“ entfaltete und das lutherische Bekenntnis den Alltag der Bürgerschaft durchdrang und ihre Aktivitäten leitete. Andreas Stegmanns und Heinrich Kaaks einander ergänzende Analysen der Konfessionskultur führen zudem zu dem Beitrag Klaus Neitmanns hin, indem sie erklären, warum die reformierte Konversion des Kurfürsten 1613 auf den entschlossenen Widerstand der lutherischen Märker stieß. Christoph Süring (1615-1673), 1654/55 zum Pfarrer der Sabinengemeinde in Prenzlau berufen, verfaßte zwischen 1653 und 1670 eine die Zeit von 1105 bis 1670 umfassende Chronik seiner Heimatstadt Prenzlau, in der sowohl das städtische Leben in seiner Alltäglichkeit wie in seinen Höhepunkten als auch das Innenleben der Pfarrer und der Einfluß des kirchlichen Wirkens auf die Stadtbevölkerung geschildert werden. In der Lehre des „lauteren und reinen Wort Gottes“ sah Süring die Aufgabe des Predigers, und er teilte offenkundig die Auffassung des Prenzlauer Superintendenten Johannes Finck, der 1617 in einer von ihm selbst angeregten Feier zum 100jährigen Jubiläum der Reformation Luther mit ­Mose verglichen und ihm die „gnädige Rettung aus dem finstern Bapstum“ zugeschrieben hatte. Ähnlich bedachte Süring die Reformierten mit abfälligen Bemerkungen, wandte sich im allgemeinen „wider die falschen Lehrer, insonderheit die Reformierten,“ und im besonderen gegen einen nach 1667 nach Gramzow berufenen reformierten Prediger, der seinen Heidelberger Katechismus als „unwiderleglich“ betrachte. Prinzipielle konfessionelle Erörterungen lagen ihm hingegen fern. Dem vom reformatorischen Glauben geprägten Dasein in Prenzlau widmet Süring viel Platz in seiner Chronik. Die Reformation konnte 1543 in der Stadt erst nach Überwindung heftigen Widerstandes der „Papisten“ eingeführt werden, Johann Biggerow, damals zum Oberpfarrer zu St. Marien und Superintendenten berufen, reichte als erster Geistlicher das Heilige Abendmahl in beiderlei Gestalt; der Pfarrer zu St. Marien und der Rat wurden zur Aufsicht über die neue lateinische Schule der Stadt bestellt, die Kirchenvisitation richtete den Gottes- oder Gemeinen Kasten ein, in den alle kirchlichen Gelder fließen sollten. Die Benediktinerinnen zu St. Sabinen traten ihren umfangreichen Besitz größtenteils dem Landesherrn und das Patronat über vier städtische Kirchen,



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St.  Marien, St. Nikolai, St. Jakob und St. Sabinen, dem Rat ab, schließlich verzichteten die letzten Nonnen zur besseren Unterhaltung der Pfarrer auf ihren verbliebenen Landbesitz gegen die Zusicherung, bis zu ihrem Lebensende durch Geldzahlungen versorgt zu werden. Das Dominikanerkloster wurde in ein städtisches Hospital umgewandelt. Die Jahrzehnte zwischen 1543 und dem Einbruch des Dreißigjährigen Krieges in der Mark Brandenburg 1626 waren von einer regen Bauerhaltungs- und Neubautätigkeit an allen städtischen Kirchen, bevorzugt an der bedeutendsten, St. Marien, ausgefüllt, besonders in den 1580er Jahren, als die Stadt von Seuchen, Zauberei- und Hexenverfahren heimgesucht wurde, gewissermaßen als Zeichen des eigenen Willens zu Stärke und Handlungsfähigkeit. Erhaltungsmaßnahmen wurden über die laufenden Einnahmen aus den ansehnlichen 80 Kirchenhufen und namenlosen Spenden auf der Basis des Gemeinen Kastens bestritten, während die Gelder für größere Erneuerungsprojekte auch aus der Ratskasse kamen oder von privaten Spendern aufgebracht wurden. So wurde 1548 der Marienkirche eine neue Turmspitze aufgesetzt, 1567 ihr eine neue große Glocke gegossen und eine Orgel erbaut, 1580 der Laienchor gebaut, 1582 die Kapelle und die Kirchenuhr renoviert, 1596 die große und vier kleine Spitzen auf dem Glockenturm neu mit Kupfer, Blei und Blech eingedeckt wie mit Knopf und Wetterhahn versehen. Insgesamt zeichnet sich die Epoche bis zum 30jährigen Krieg durch ein gedeihliches Zusammenspiel von Rat, Kirche und privaten Förderern zur Erhaltung der Gotteshäuser und zur Erneuerung und Erweiterung ihres Inventares aus. Der Rat der Stadt war an der Entscheidung und Finanzierung der Maßnahmen erheblich beteiligt, und unter den Spendern leisteten gerade Bürgermeister, Bürgermeistersgattinnen, Ratsherren und Kämmerer beachtliche Beiträge. Nach dem 30jährigen Krieg fanden wegen der Verarmung der Stadt Erhaltungsarbeiten und einzelne Ausstattungen nur noch mit weit geringerem Wert statt. Grundsätzlich waren Rat und Geistlichkeit vereint in ihren Bemühungen um das geistliche Seelenheil der Bewohnerschaft, wie beispielhaft ihre gemeinsamen Beratungen von 1582 über die „Kirchenverbeßerung“ zeigen, mit dem Ziel religiöser Vertiefung, der Neuordnung der Gottesdienste, einem erhöhten Angebot an Katechismuslehrstunden und erweiterten Möglichkeiten zum Empfang des Abendmahls. Die Kirche beachtete und kontrollierte die Glaubensdisziplin der Gemeindeangehörigen. So stand neben der Betonung von Ehe und Familie als Ort christlichen Glaubens- und Liebesbeweises die Verfolgung außerehelicher Sexualität mit der öffentlichen Buße der Ehebrecher vor der ganzen Gemeinde. Getreu Luthers Ermahnung zur Förderung der Bildung, damit jedermann über das Bibelstudium zu Gott finden könne, erfreute sich das Prenzlau-

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er Schulwesen erheblicher Zuwendungen. 1573 wurde das Schulgebäude der 1543 gestifteten Lateinschule mit zwei Stuben am Kirchhof zu St. Marien fertiggestellt, 1586 eine dritte Stube unter großer Beteiligung der Bevölkerung und auf Grundlage reicher Spenden bezogen, geradezu ein Höhepunkt in den gemeinsamen Anstrengungen von Rat, Kirche und Gemeinde für ein Bildungsprojekt. 1655 bestanden eine Deutsche Rechenund Schreibschule, eine Mädchenschule und eine Partikular- oder Trivialschule. Zahlreiche Prenzlauer besuchten das Joachimsthalsche Gymnasium und benachbarte Universitäten, vorrangig die Frankfurter Viadrina. Der geistige Rang der Prenzlauer Geistlichkeit und Lehrerschaft offenbart sich in zahlreichen gedruckten Publikationen, die die Chronik auflistet. Der Prenzlauer Rat war als „christliche Obrigkeit“, wie er in der Stadtordnung von 1577 bezeichnet wird, dazu verpflichtet, die Kirche zu schützen, als Patron der Kirchengemeinden aber nicht vor der Gefahr gefeit, seinen Anspruch auf Oberhoheit geltend zu machen. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert wirkte der Rat zum Wohl der Kirchen an deren wesentlichen Bau- und Erneuerungsarbeiten mit, und die Kirche bestimmte das bürgerliche Wertesystem mit Mäßigung in äußerem Aufwand und Vergnügungen, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Fleiß und Strenge im Familienleben, vermochte dabei mit disziplinarischen Maßstäben oder der Zurückweisung vom Abendmahl sozialen Druck auszuüben. Wenn es allerdings nach 1648 zu Konflikten zwischen Rat und Kirche kam, suchte sich die Geistlichkeit zwar zu wehren, aber aus einer schwächeren, defensiven Position heraus, und der Rat nahm sich heraus, ohne Rücksprache mit der örtlichen Geistlichkeit in die Stellenbesetzung einzugreifen.

* Einen der von Andreas Stegmann nur gestreiften Vorgänge, nämlich die Durchsetzung der lutherischen Reformation gegenüber den überkommenen Institutionen der Papstkirche, vertieft Mathis Leibetseder in seinem Artikel „Zwischen dynastischer Aneignung und rituellem Prozess. Die Reformation des Bistums Lebus und der Fürstenwalder ‚Pfaffensturm‘ 1556“, indem er die vom Kurfürsten zuerst allmählich beförderte und dann in einem einzigen Akt gemeinsam mit der Bürgerschaft der Domstadt Fürstenwalde durchgesetzte reformatorische „Überwältigung“ der letzten katholischen Widerstände analysiert. Dynastische und kirchen­ politische Interessen verbanden sich hierbei unauflöslich miteinander, ­indem eine bischöflich-katholische „Unterlandesherrschaft“, die sich wegen des behaupteten katholischen Bekenntnisses ihrer aus Bischof und Domkapitel bestehenden Spitze und deren geistlichen und weltlichen Herrschaftsbefugnissen der vollständigen Einfügung in den neuen lutherischen Landesstaat der Hohenzollern entzogen hatte, im Zusammenwirken von Landesherr und protestantischer Bürgerschaft um ihre kirchliche



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und weltliche Selbständigkeit gebracht und der entscheidende Schritt zu ihrer Einordnung in das Kurfürstentum vollzogen w ­ urde. Am Anfang des 16. Jahrhunderts befanden sich die drei brandenbur­ gischen „Landesbistümer“ Brandenburg/Havel, Havelberg und Lebus in einem verfassungsrechtlichen Schwebezustand zwischen politischer ­ Eigen­ ständigkeit und Eingliederung in die kurfürstliche Landesherrschaft. Das von den Kurfürsten beanspruchte erbliche Nominationsrecht stieß wiederholt auf den Widerstand der drei Domkapitel, die von ihnen gewählte Kandidaten, die der Kurfürst zuvor nicht nominiert hatte, durchzusetzen wünschten. Andererseits arbeiteten Kurfürst und Bischöfe, auch der Bischof von Lebus, immer wieder politisch einvernehmlich zusammen. Nach der Einführung der Reformation in den Landen des Markgrafen Johann von Küstrin und des Kurfürsten Joachim II. wurden in den Pfarreien des Bistums Lebus evangelische Prediger eingesetzt, ausgenommen Orte wie die Städte Lebus, die Residenz des Bischofs, und Fürstenwalde, der Sitz des Domkapitels, in denen ihnen beiden das weltliche Regiment zustand. Aber auch in Fürstenwalde breitete sich Luthers Anhang dadurch aus, daß Ratsherren zum evangelischen Glauben übertraten, auf kurfürstliche Anordnung ein erster evangelischer Prediger eingesetzt und den Protestanten die Nutzung einer vor der Stadt gelegenen Kapelle eingeräumt wurde; allerdings suchten Bischof und Domkapitel der Reformation dadurch Einhalt zu gebieten, daß sie freiwerdende Ratsherrenstellen mit altgläubigen Kandidaten nachbesetzten und lutherische Viertelsmeister absetzten. Spätestens seit Mitte der 1540er Jahre war die Erosion des Domkapitels in vollem Gange, bis 1555 schmolz es auf acht Domherren zusammen, von denen nur noch vier ortsansässig waren. Joachim II. nutzte entschiedener als seine Vorgänger sein Nominationsrecht, um die Hochstifte seiner Dynastie anzueignen, und bediente sich dabei einer aus seiner männlichen Nachkommenschaft, Angehörigen kleiner dem Hause Brandenburg verbundener Dynastien und evangelischer Theologen aus dem Umkreis des Hofes stammenden Kandidatenschar. Als Bischof Georg von Blumenthal 1550 verstarb, nominierte er zwei seiner Söhne und den Bischof von Brandenburg, Herzog Joachim von Münsterberg-Oels. Das Stiftskapitel lehnte zunächst unter Verneinung des kurfürstlichen Nominationsrechtes alle drei ab, weil es sich ­einen katholischen, nicht-fürstlichen Nachfolger wünschte, lenkte dann aber ein, indem es einen jungen Markgrafen anzunehmen bereit war, sofern die in Fürstenwalde bereits eingesetzten protestantischen Prediger entfernt würden, was wiederum Joachim II. nicht akzeptierte. Beide Seiten einigten sich schließlich auf einen Kompromißkandidaten, den brandenburgischen Dompropst Johannes Horneburg. Als dieser fünf Jahre später verstarb, bestand der Kurfürst erneut auf dem Brandenburger

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­ ischof oder seinem (minderjährigen) Enkel Joachim Friedrich und suchB te mit einer Mischung von Angebot und Drohung das Domkapitel für seinen Vorschlag zu gewinnen: Einerseits versprach er ihm, daß die Stiftsgüter unter dem neuen Bischof nicht profaniert würden und das Kapitel nach dessen Tod wieder einen neuen Bischof wählen dürfe, andererseits kündigte er an, ggf. die Amtsleute und Stiftsuntertanen von der Gehorsamspflicht gegenüber dem Stift zu entbinden und die Fürstenwalder Domkirche für evangelische Gottesdienste zu öffnen. Das Kapitel wählte Joachim Friedrich zum neuen Bischof, mußte danach erfahren, daß der Kurfürst nicht den katholischen Archidiakon Wolfgang Redorffer, sondern den Vater Joachim Friedrichs, den Kurprinzen Johann Georg, zum Administrator bestellen lassen wollte; es hielt dagegen, indem es in seiner Wahlkapitulation für den neuen Bischof verlangte, der Dom solle weiterhin exklusiv den Altgläubigen vorbehalten bleiben und als Ratsherrren sollten wieder ausschließlich papsttreue Kandidaten eingesetzt werden. Der Konflikt zwischen Kurfürst und Domkapitel eskalierte in der Osterwoche 1556 in Fürstenwalde, nachdem das Domkapitel die landesherrlichen Vorschläge zur Neuordnung der Besitzrechte des Bistums an der niederlausitzischen Herrschaft Beeskow-Storkow unter Verwerfung von „Schismatikern und Häretikern“ – welche Worte dem Archidiakon Redorffer und dem Stiftssenior Finsterwald zugeschrieben wurden – zurückgewiesen hatte. Der Kurfürst, über diese „Schmähworte“ heftig erzürnt, befahl, wohl in Anlehnung an die Spielregeln des Ehrenhandels, dem protestantischen Bürgermeister Schönefeld, zusammen mit anderen Bürgern die Häuser der beiden Geistlichen zu stürmen, dort von ihren Vorräten zu essen und zu trinken – womit angedeutet war, daß ihr Besitz dem Gemeinwohl zugeführt werden solle – und sie festsetzen zu lassen. Der Befehl wurde nach dem Läuten der städtischen Sturmglocke und unter Einbeziehung weiterer Kreise der Bürgerschaft umgesetzt, die Unterkünfte der Domherren sowie weitere dem Stift zugehörige Häuser wurden besetzt, in einem von ihnen in einem geradezu rauschhaften Karneval das gemeinschaftsstiftende Mahl travestiert und gegen die Domherren gerichtet. Am Folgetage wurde im Dom der erste evangelische Gottesdienst vom protestantischen Stadtpfarrer gefeiert, er beschloß nach den nächtlichen Gewaltritualen die Etablierung der neuen Ordnung. Der Kurfürst ließ einen Tag später die beiden festgesetzten Domherren wieder frei gegen ihre Zusicherung, keine neuen Schmähungen gegen die Dynastie und die Augsburgischen Religionsverwandten vorzubringen, und gestand den Domkapitularen die alleinige Nutzung des Kirchenchores zu, während den Evangelischen die anderen Räumlichkeiten der Kirche zufielen – was der evangelische Stadtschreiber kritisch vermerkte, da er gehofft hatte, die Domherren würden niemals wieder in



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die jetzt entweihte und entheiligte Kirche zurückkehren; er empfand anscheinend mit Teilen der städtischen Bevölkerung die Umkehr der religiösen Verhältnisse als unvollkommen, da die Domherren nicht vollkommen entmachtet wurden. „Der Göritzer ‚Bildersturm‘ und der Fürstenwalder ‚Pfaffensturm‘ markierten gemeinsam die Neutralisierung der letzten papstkirchlichen Bastion im Herrschaftsperimeter der brandenburgischen Kurfürsten. Indem die Beseitigung dieser Machtbasis mit Gewaltanwendung gegen Bildwerke und Personen auch rituell vollzogen wurde, gelangte die Reformation in Brandenburg als Prozess zum Ende.“

* Die Problematik, die Mathis Leibetseder mit einem brandenburgischen Beispiel geschildert hat, verfolgt Bernhart Jähnig in seiner Untersuchung über „Die evangelisch-lutherischen Bistümer des Herzogtums Preußen (1522-1587)“ am (ost-)preußischen Exempel mit seinen andersartigen, ja gegensätzlichen Voraussetzungen: Hier standen nicht (zwei) katholische Bischöfe einem evangelischen Landesfürsten gegenüber und suchten ihr weltliches Stiftsgebiet zu behaupten, sondern sie gingen mit ihrem Übertritt zur Reformation ihrem Landesherrn voran und gaben die weltliche Herrschaft zugunsten ihrer geistlichen Aufgaben auf. Aber die so fortbestehenden protestantischen Bischofsämter gerieten in die landesherrlich-ständischen Auseinandersetzungen: Während sie von den Ständen gewünscht wurden, verwarfen sie die Herzöge zunehmend zugunsten der Stärkung ihres Summepiskopates innerhalb der Landeskirche und setzten sich schließlich mit ihrer Orientierung an der in den protestantischen Territorien üblichen Konsistorialverfassung durch. Nachdem nach der Teilung des Preußenlandes im Zweiten Thorner Frieden 1466 die Bistümer Samland und Pomesanien weiterhin der Schutzherrschaft des Deutschen Ordens unterstanden, waren deren letzten beiden Bischöfe zu Ordenszeiten, der samländische Bischof Georg von Polentz und der pomesanische Bischof Erhart von Queiß, 1519 bzw. 1523 auf Betreiben des Hochmeisters Albrecht von Brandenburg noch unter mittelalterlichen Bedingungen als Deutschordensbrüder von ihren Domkapiteln gewählt worden. Beide schlossen sich schon ab 1523 in ihren Predigten und Mandaten im Einvernehmen mit Albrecht der Reformation an und setzten sich zusammen mit drei Theologen, Johannes Brismann, Paul Speratus und Johannes Poliander, die der Hochmeister auf Luthers Empfehlung aus Wittenberg nach Königsberg geholt hatte, für deren Durchsetzung ein, während sich ihnen ihre Domkapitel verweigerten; diese hörten 1525/27 zu bestehen auf, nachdem die Versorgung der Domkapitulare gewährleistet worden war. Die beiden Bischöfe gaben, nachdem Albrecht die Deutschordensherrschaft 1525 nach dem Krakau-

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er Frieden mit dem polnischen König in ein von Polen lehnsabhängiges Herzogtum umgewandelt hatte, ihre weltlichen Herrschaften auf und traten deren Gebiete 1525 und 1527 dem Herzog ab, weil es, wie Polenz erklärte, dem Bischof obliege, das Wort Gottes zu predigen und zu verkünden, aber nicht, Land und Leute zu regieren. Darüber hinaus wandte sich Queiß von der Hierarchie der mittelalterlichen Kirche ab, indem er verfügte, die Bischöfe seien wie die gewöhnlichen Ortspfarrer nur Prediger von Gottes Wort nach der „reinen Lehre“ und sollten in der Kirche nur ordnende Funktionen wahrnehmen. Albrecht nahm die beiden Bischöfe wie die erwähnten Theologen unter seine Räte auf, handelte im wesentlichen im Einvernehmen mit ihnen, behielt sich freilich die Oberleitung der entstehenden Landeskirche im Herzogtum Preußen vor, sowohl in Fragen der „reinen Lehre“ wie in der Anstellung der Pfarrer. Während die Theologen in der Residenzstadt Königsberg wirkten, sorgten die beiden Bischöfe auf Synoden der Pfarrgeistlichkeit und mit den ersten Visitationen von 1526 und 1528 (im Samland) und nach 1529 in Pomesanien – unter dem neuen Bischof Paul Speratus, dem vorherigen Hofprediger Albrechts – dafür, daß auf dem Lande die reformatorische Neuordnung des Kirchenwesens eingeführt wurde. Die Visitationen achteten insbesondere auf die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Lebensführung der Pfarrer wie auf ihre Literaturausstattung; 1528 wurden auf landesherrliche Kosten Luthers Postillen als Hilfe für die Durchführung der Gottesdienste angeschafft. Der Führungsanspruch des Herzogs in der Landeskirche trieb ihn, als er mit den Ständen über Regelungen für seine Vertretung und Nachfolge verhandelte, dazu, ihnen vorzuschlagen, die beiden Bischofsämter sollten eingespart und ihm selbst ein einziges Bischofsamt übertragen werden; die unmittelbare Aufsicht mit dem Recht zur Visitation solle von Superintendenten wahrgenommen werden. Aber die 1542 verabschiedete „Regimentsnotel“ bestimmte, die beiden Bischöfe seien in ihren Ämtern zu schützen; offenkundig bevorzugten die Stände ein Kräftegleichgewicht zwischen dem Landesherrn und den Bischofsämtern. Erst als Polenz und Speratus 1550/51 kurz hintereinander verstarben, vermochte Albrecht die günstige Situation für sich auszunutzen, indem er gegen ständischen Widerstand und die Bestimmungen der Regimentsnotel zwei Konsistorien mit je einem Präsidenten an der Spitze einrichtete. Freilich hatte er Schwierigkeiten, dafür bereitwillige und geeignete Persönlichkeiten zu finden, und die ausgewählten erwiesen sich den gestellten Aufgaben nicht gewachsen. Als 1566 Albrecht von den Ständen mit Unterstützung des polnischen Lehnsherrn politisch entmachtet wurde, wurden folgerichtig in deren Sinne und nach deren Auswahl neue Bischöfe berufen, Georg von Venediger für Samland und Joachim Mörlin für Pomesanien.



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Sie trugen dazu bei, daß sich das Herzogtum in der Folgezeit kirchlich und theologisch streng nach Wittenberger Vorbild ausrichtete und 1580 das Konkordienbuch übernahm. Beide erarbeiteten 1568 eine neue Kirchenordnung und ergänzend eine Art Dienstanweisung für die Bischöfe, nach dem sie durch Hof- und Landräte, je acht Mitglieder des Adels und der Städte und eine ungenannte Zahl von Pfarrern gewählt werden, die kirchliche Aufsicht u. a. über die Universität und den Buchdruck und Buchhandel ausüben und über die rechtzeitige Wiederbesetzung frei gewordener Pfarrstellen wachen sollten. Nach dem Tode Mörlins 1571 und Venedigers 1575 wurden unter maßgeblicher Beteiligung der Stände ­Tilemann Heshusius und Johann Wigand zu ihren Nachfolgern bestellt; ersterer wurde allerdings nach synodaler Verurteilung seiner Christologie schon 1577 abgesetzt, so daß ein Jahr später Wigand beide Bistümer in Personalunion übernahm und sich durch rege Visitationstätigkeit um die Verbesserung der Zustände der Gemeinden und des Kirchenvolks bemühte. Nach seinem Tod 1587 erlosch das Bischofsamt, da der tatkräftige Vormund des regierungsunfähigen Herzogs Albrecht Friedrich, Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach, trotz Widerspruchs der Stände, die auf die Einhaltung gegebener Rechte pochten, die „papistische“ Einrichtung von Bischöfen, wie argumentiert wurde, durch zwei für die beiden bisherigen Bistümer Samland und Pomesanien zuständige Konsistorien ersetzte.

* Den Faden, den Andreas Stegmann mit seinem Fall, der Fürstenreformation in einem bedeutenden (Kur-)Fürstentum des Reiches, ausgelegt hat, wird von Michael Scholz in seinem Beitrag „Reformation ohne den Landesherrn? Die Durchsetzung der reformatorischen Lehre im Erzstift Magdeburg in der Mitte des 16. Jahrhunderts“ aufgegriffen, indem er die Urheber und Träger der Reformation in einem geistlichen Territorium herausstellt: Nicht die in Erzbischof und Domkapitel geteilte Landesherrschaft, sondern die lokalen städtischen, adligen und gemeindlichen Gewalten gaben hier den Ausschlag. Während in Brandenburg der Kurfürst, gestützt auf die zunehmende Ausbreitung der lutherischen Lehre unter den Ständen und Untertanen, mit raschen, konzentrierten Schritten eine lutherische Landeskirche im Zeichen des landesherrlichen Kirchenregimentes schuf, war im Erzstift Magdeburg der Erzbischof in seiner fragilen geistlichen wie weltlichen Stellung zu einem vergleichbaren Vorgehen einer Reformation „von oben“ außerstande, so daß die Reformation „von unten“ wuchs, von den sich über Jahrzehnte erstreckenden Initiativen der Lokalgewalten befördert wurde, bis sie schließlich in derselben Weise wie in Brandenburg mit einer vom Erzbischof veranlaßten Kirchenvisitation allgemein und verbindlich durchgesetzt wurde: Aus-

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schließlich lutherische Pfarrer wurden bestätigt oder berufen, die allgemeine, konkurrenzlose Geltung der lutherischen Lehre im gesamten Erzstift damit gesichert. Die Einführung der Reformation im Erzstift Magdeburg erfolgte unter den besonderen Bedingungen eines geistlichen Fürstentums: Der Landesherr war gleichsam qua Amt der alten Kirche verpflichtet, zumal ihm nach dem geistlichen Vorbehalt von 1555 sein Amtsverlust im Falle seines Übertritts zur evangelischen Lehre drohte; einerseits unterblieb so eine flächendeckende Einführung der Reformation, andererseits verhinderte die durch Fürstenwahl und Domkapitel eingeschränkte Macht des Erz­ bischofs eine weitgehende Unterdrückung der in Gemeinden und unter kleinen Herrschaftsträgern aufkommenden neuen kirchlichen Strömung. Die Erzbischöfe Albrecht und Johann Albrecht (bis 1550) verblieben beim alten Glauben, die Konfessionszugehörigkeit der beiden nachfolgenden jungen Erzbischöfe Friedrich und Sigismund wurde wegen der angestrebten päpstlichen Bestätigung in der Schwebe gelassen. Das Domkapitel wechselte in den 1560er Jahren die Konfession, sichtbar an der Berufung eines ersten evangelischen Domdekans 1560 und eines er­ sten evangelischen Dompredigers 1567. Erzbischof Sigismund leitete ab 1561 unter Übergehung reichsrechtlicher Bedenken die Aufrichtung ­eines reformatorischen Kirchenwesens im gesamten Erzstift ein, indem er nach der Visitation der Klöster im Herbst und Winter 1561/62 eine allgemeine Kirchenvisitation durchführen ließ; die aus vier Theologen, vier Adligen und zwei Hofbeamten bestehende Visitationskommission besuchte zwischen April 1562 und November 1564 alle Teile des Erzstiftes. Ihre Protokolle ermöglichen Aussagen über Zeitpunkte, Träger, Initiativen und Arten des Übergangs zur reformatorischen Lehre. Unter den Städten des Erzstiftes hatte sich das weitgehend autonome Magdeburg bereits 1524 der Reformation angeschlossen, als ohne Widerspruch des Rates durch Gemeindeausschüsse an allen Pfarrkirchen evangelische Pfarrer eingesetzt wurden; faktisch schied die Stadt damit aus dem Kirchenwesen des Erzstiftes aus (und wurde daher 1563/64 nicht visitiert). In der Residenzstadt Halle wurde nach dem Rückzug Erz­ bischof Albrechts 1541 auf Drängen eines Bürgerausschusses aus den vier Gemeinheiten, der die Einführung lutherischer Prediger forderte, unter Beteiligung des anfänglich zögernden Rates Justus Jonas zum Pfarrer berufen, 1543 wurde eine neue evangelische Kirchenordnung erlassen. In den kleineren Städten zeigten sich bereits in den 1520er Jahren erste reformatorische Anzeichen, endgültig wandten sie sich ihr offensichtlich nach Albrechts Abgang zu. Die Protokolle von 1562/64 zeigen an vielen Orten bereits die zweite Generation lutherischer Pfarrer, zumeist waren sie in den 1550er Jahren nach Ordination in Wittenberg oder



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Magdeburg von Rat und Gemeinde berufen worden, ein Indiz dafür, daß die reformatorische Bewegung ursprünglich aus der Bürgerschaft heraus entstanden war und sich die Räte erst zögerlich ihr angeschlossen hatten. In ländlichen Gebieten des Erzstiftes gab es ebenfalls bereits zu Al­ brechts Zeiten adlige Versuche, aus persönlicher Glaubensüberzeugung die Reformation in lokalen Herrschaften einzuführen. Die Masse der von adligen Patronen berufenen, in Wittenberg, Magdeburg, Stendal oder Berlin ordinierten evangelischen Pfarrer kam in den 1550er Jahren ins Amt, ihre Berufung markierte den endgültigen Übergang zur Reforma­ tion („Adelsreformationen“). In in adligem Besitz befindlichen Orten mit geistlichem Patronat wirkten Herrschaft und Gemeinde zusammen, in Dörfern, in denen die Herrschaft beim erzbischöflichen Amt lag, wurde meist die Gemeinde allein aktiv. In Amtsdörfern wurden auf Initiative der Gemeinde Geistliche mit abgeschlossener reformatorischer Ausbildung bestellt („Gemeindereformationen“). In Ämtern, die an Adlige verpfändet waren, behielten diese mit den von ihnen ausgehenden Berufungen Wittenberger oder Berliner Ordinierter das Heft in der Hand. Die Visitatoren von 1562/64 trafen sowohl auf jüngere, reformatorisch ausgebildete Pfarrer wie auf ältere, konfessionell indifferente wie auch zuweilen auf überzeugte Vertreter der alten Lehre: Als einer von ihnen das Angebot ausschlug, reformatorische Bücher zu lesen, forderten die Visitoren, ihm das Predigen zu verbieten. Die Reformation im Erzstift Magdeburg wurde somit über mehrere Jahrzehnte weitgehend ohne Beteiligung des geistlichen Landesherrn eingeführt. Zwar gelang es Erzbischof Sigismund, mit der landesweiten Visitation von 1562/64 das Heft wieder in die Hand zu nehmen und über seine Amtleute auf die Pfarrerberufungen einzuwirken, aber ein landesherrliches Kirchenregiment wurde nicht geschaffen: Aus der Visitation erwuchs nur ein Mandat zur Hebung der Kirchen- und Untertanendisziplin, keine einheitliche Kirchenordnung, und weder Superintendenturen auf dem Lande noch ein Konsistorium wurden gegründet, was die starke Stellung der lokalen Kräfte verhin­ derte. II. Mit dem Beitrag von Klaus Neitmann „‚ … bitten wir […], Eure Churfürstliche Gnaden wollen uns in Religionssachen unser gewißen frei […] laßen …‘ Die kurbrandenburgischen Stände und die Konversion des Hauses Hohenzollern zum reformierten Bekenntnis“ erreichen wir den für unser Generalthema entscheidenden Wendepunkt. War in den vorangegangenen Aufsätzen vorrangig behandelt worden, wie mit der Einführung der Reformation in den Reichsterritorien zugleich und vorbehaltlos

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von Landesherrn, Ständen und Untertanen in voller Übereinstimmung, ggf. gegen Widerstände verbliebener Anhänger und Träger der Alten Kirche, das einheitliche neue protestantische Bekenntnis (der Augsburgischen Konfession von 1530) verbindlich gemacht und mit der Entfaltung einer lutherischen Konfessionskultur vertieft wurde, so stellte sich unbeabsichtigt und überraschend der Übergang von der homogenen lutherischen Mark Brandenburg zu einem offiziell anerkannten bikonfessionellen Territorium, in dem Lutheraner und Reformierte gleichberechtigt Glaubens- und Gewissensfreiheit für sich beanspruchten und wahrnahmen, ein, als der Landesherr einerseits, Geistlichkeit, Stände und Untertanen andererseits sich in ihren Bekenntnissen voneinander trennten, anders ausgedrückt, als sich Ritterschaften und Städte auf Grund ihrer lutherischen Glaubensüberzeugungen der von ihrem Landesherrn ge­ wünschten „zweiten Reformation“ widersetzten und sich mit ihrer Bewahrung der lutherischen Lehre durchzusetzen vermochten. Die landesherrlich-ständischen Vereinbarungen zum Konfessionsstand der Mark Brandenburg sind am besten an den Aussagen der General- und Spezialprivilegien, die die Kurfürsten vornehmlich nach ihrem Regierungsantritt ihren Untertanen erteilten, ablesbar, weil sie die maßgeblichen rechtsverbindlichen Bestimmungen über die Regelung der Religionsangelegenheiten enthalten. Als Joachim II. 1539/40 die Mark Brandenburg dem Protestantismus zuführte, versicherte er sich des Einvernehmens mit den Ständen, ohne sich freilich damals und später über die Bestätigung überkommener ständischer Patronatsrechte und die Zusagen zur finanziellen Sicherung des neuen Kirchenwesens hinaus an deren Zustimmung zu binden. Als die Stände sich 1572 gegenüber seinem Sohn Johann Georg dazu bereiterklärten, die vom Vater hinterlassenen Schulden abzutragen, verpflichtete im Gegenzug der neue Kurfürst sich selbst und sein Land in seinem Generalprivileg von 1572 auf die alleinige Geltung der Augsburgischen Konfession von 1530 und der Lehre Martin Luthers. Landesherr und Stände stimmten in ihrem grundsätzlichen Ziel, dem in seinem religiösen Bekenntnis homogenen lutherischen Landesstaat, überein; das ständische Patronat mit dem Recht zur Berufung des Pfarrers in den eigenen Kirchen wurde bekräftigt, sofern die Kandidaten die theologische Prüfung durch den landesherrlichen Superintendenten bestanden hatten. Kurfürst Joachim Friedrich bestätigte und erweiterte 1602 die Rechte der Stände in Religionssachen, vereint mit ihnen in dem Bestreben, für die Einhaltung und Beachtung der reinen lutherischen Lehre unter Abwehr aller anderen Konfessionen zu wirken. Die Generalprivilegien von 1572 und 1602 setzten stillschweigend voraus, daß die Landstände die lutheri-



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sche Glaubenslehre als allein wahre Religion und als alleinige Richtschnur einer christlichen Lebensführung verinnerlicht hatten. Als sich vor Weihnachten 1613 die Konversion von Joachim Friedrichs Nachfolger Johann Sigismund zum reformierten Bekenntnis abzeichnete, forderten ihn die Stände dazu auf, jegliche calvinistische Predigt zu unterbinden, weil er an den in den ständischen Privilegien zugesicherten lutherischen Landesstaat gebunden sei. Der Kurfürst wies ihr Ansinnen zurück, in seine Gewissensfreiheit eingreifen und ihm seinen Glauben unter Berufung auf ständische Reverse vorschreiben zu wollen, gestand ihnen aber umgekehrt ebenfalls zu, seinerseits nicht die Unabhängigkeit ihres Gewissens in Frage stellen zu wollen. Beide Seiten beriefen sich in der Folge auf die der jeweiligen Gegenseite zugestandene Gewissens- und Religionsfreiheit, zogen aber aus demselben Ausgangspunkt unterschiedliche Schlußfolgerungen, vom Kurfürsten in der Weise, daß es ihm erlaubt sein sollte, von der Kanzel gemäß seiner geistlichen Überzeugung für die Verbreitung des reformierten Bekenntnisses werben zu lassen, während seine Widersacher verlangten, daß Land und Leute treu in ihrem lutherischen Bekenntnis verblieben und dazu das Personal an den Pfarrkirchen, an den kirchlichen Oberbehörden wie an den höheren und niederen Bildungsstätten ausschließlich den Reihen der Lutheraner entnommen ­ wurde. Ein erster Kompromiß zwischen den gegensätzlichen Positionen wurde im Dezember 1614 gefunden, als die neumärkischen Stände dem Kurfürsten eine mit den finanziellen Anforderungen der protestantischen  Union an ihr Mitglied Kurbrandenburg begründete Steuer von 100.000 Gulden zusagten und er ihnen zusicherte, sie wegen der Religion weder hassen noch verfolgen und erledigte, unter ritterschaftlichem oder städtischem Patronat stehende Pfarrstellen nicht mit Reformierten besetzen zu wollen. Die kurmärkischen Stände griffen im Januar 1615 wesentlich weiter aus, indem sie darauf bestanden, der Kurfürst dürfe selbst in seinen eigenen Patronatskirchen seinen Untertanen keine „verdächtigen“ (d.h. reformierten) Prediger aufdrängen. Mit den Bestimmungen des kurfürstlichen Reverses vom Februar 1615 setzten sie sich großenteils durch, weil der Plan des Kurfürsten zur weitgehenden Ausschaltung des (lutherischen) Konsistoriums durch einen (reformierten) Kirchenrat faktisch unterbunden wurde und er darauf verzichtete, in seinen eigenen Patronatskirchen gegen den Willen der Kirchengemeinde reformierte Pfarrer einzusetzen; gerade im Niederkirchenwesen war ihm damit das entscheidende Instrument, der reformierte Prediger, aus der Hand genommen, auf den seine Berater sich in ihrem Programm zur Durchsetzung des reformierten Bekenntnisses im Lande maßgeblich gestützt hatten. Daß Johann Sigismund zurückwich, rührte zunächst daher, daß er nicht unbezweifelbar das den Landesherrn im Augsburger Reli­gionsfrieden von 1555 zuge-

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standene ius reformandi für sich zu beanspruchen vermochte, weil sich seine Vorgänger in ihren Generalprivilegien zur Bewahrung des alleinigen lutherischen Bekenntnisstandes in der Mark Brandenburg gegenüber den Ständen verpflichtet hatten und er demzufolge nur mit ihrem Einverständnis jetzt diesen Bekenntnisstand hätte verändern dürfen. Vor allem war der Kurfürst wegen der anstehenden außenpolitischen Konflikte auf die finanzielle und militärische Unterstützung des Landes angewiesen, bedurfte er doch der Finanzhilfe für die militärische Sicherung Brandenburgs in den neuerworbenen niederrheinischen Territorien sowie des Aufbaues einer militärischen Landesverteidigung nach seinem Beitritt zur protestantischen Union. Die kurmärkischen Stände bewilligten ihm 135.000 Taler, während die vereinbarten Beratungen über eine Defensionsordnung im Sande verliefen. Die großen außenpolitischen Ziele der Hohenzollern im Westen des Reiches und ihre Teilhabe am Ringen um die Selbstbehauptung der protestantischen Territorien im Reich versetzten die märkischen Stände in die Lage, die Umwandlung ihres Landes in eine reformierte Herrschaft zu unterbinden. Die religionspolitische Debatte der Jahre 1613/15 kreiste um den Leitbegriff der Gewissensfreiheit: Weder ein Lutheraner noch ein Reformierter sollte dazu gezwungen werden, sein bisheriges Religionsbekenntnis entgegen seinem Willen aufzugeben, sondern er sollte frei und ungehindert seinen eigenen Glauben ausüben dürfen. Dabei hielten beide Parteien unbeirrt an ihrem unbedingten Wahrheitsanspruch fest, wie es Johann Sigismund 1619 für seinen Sohn Georg Wilhelm formulierte: Dieser ist dazu aufgerufen, für die Ausbreitung der nach seiner unumstößlichen Überzeugung einzig wahren reformierten Religion in seinen Landen zu wirken, aber er darf dabei keinen Zwang auf seine fromm und still lebenden Untertanen anderen Bekenntnisses ausüben. Ein lutherisch-­ reformiertes „Gleichgewicht“ war nicht von beiden Seiten entsprechend ihrer eigenen Einsicht angestrebt worden, sondern keine von ihnen hatte die andere zu bekehren und zu überwinden vermocht, so daß man sich auf einen neuen modus vivendi, auf ein geduldetes Nebeneinander beider Konfessionen mit gleichem Anspruch auf ihre private und öffentliche Ausübung verständigen mußte: Jedes Bekenntnis hatte hinzunehmen, daß neben ihm im selben Land ein anderer Glaube mit demselben Wahrheitsanspruch von anderen Landesangehörigen ungestört und ungestraft vertreten werden durfte. Die Koppelung des jus reformandi des Landesherrn und des jus emigrandi des Glaubensabweichlers im Religionsfrieden von 1555 war beseitigt, der Andersgläubige brauchte nicht mehr, um die (damals als unverzichtbar erscheinende) konfessionelle Homogenität des Territoriums zu gewährleisten, seine Heimat zu verlassen. Diese religiöse „Toleranz“ war nicht bewußt angestrebt worden, sondern war „ein-



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getreten“, weil die märkischen Stände aus der Kraft ihrer in einem Dreivierteljahrhundert befestigten Glaubenstradition heraus der kurfürstlichen Religionspolitik widerstanden und die von ihr verfolgte „zweite Reformation“ durch die nachhaltige Nutzung ihrer politischen Rechte und Möglichkeiten zu Fall gebracht hatten. Die unerwartet entstandene Lage forderte in der Folge beide Konfessionen dazu auf zu bedenken, wie sie die neue religiöse Koexistenz mit ihrem anderen Diskussionsstand gestalten wollten.

* Den unterschiedlichen, gegensätzlichen Umgang mit der Konfessionsfrage in der zeitlichen Epochenfolge ebenso wie zeitgleich in benachbarten Landesherrschaften beschreibt Haik Thomas Porada in seinem Aufsatz über „Bugenhagens Erbe in einem geteilten Land. Die Konfessionsfrage in Pommern in den ersten beiden Jahrhunderten nach Einführung der Reformation“ und skizziert dabei zwei gegensätzliche Modelle, einerseits den sowohl auf Betreiben der Landesherren als auch der Land­ stände auf die strikte Durchsetzung des lutherischen Bekenntnisstandes ausgerichteten monokonfessionellen Landesstaat, wie er im gesamten Herzogtum Pommern bis zum Aussterben des Herzogshauses 1637 und anschließend in Schwedisch-Vorpommern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ausgestaltet wurde, andererseits das bikonfessionelle Territorium im brandenburgisch gewordenen Hinterpommern, in dem die reformierten Kurfürsten die Entstehung und Gleichberechtigung deutsch- und französisch-reformierter Gemeinden beförderten. Die verschiedenen Träger der Mono- bzw. Bikonfessionalisierung und die Mittel und Methoden zur Durchsetzung ihrer konfessionspolitischen Ziele treten dabei deutlich hervor. Die Reformation fand im Herzogtum Pommern ihre frühesten Anhänger in den Städten, zu Beginn der 1530er Jahre duldeten die wichtigsten Städte nur noch evangelische Prediger in den Pfarr- und Klosterkirchen innerhalb ihrer Mauern. Die Herzöge Barnim IX. und Philipp I. entschlos­ sen sich auf dem Landtag von 1534 zur Einführung der neuen Lehre, und die unmittelbar danach gedruckte, von Johannes Bugenhagen entworfene Kirchenordnung bezeichnete den Übertritt des gesamten Landes zum lutherischen Bekenntnis. Die wichtigsten Konsistorien, die den jeweiligen Hoflagern bzw. Landesregierungen zugeordnet und den ober­ sten Landgerichten, den Hofgerichten, gleichgestellt waren, wurden zwischen 1556 und 1563 in Greifswald (für das Herzogtum Pommern-Wolgast bzw. Vorpommern), in Kolberg (für das Hochstift Cammin) und in Stettin (für das Herzogtum Pommern-Stettin bzw. Hinterpommern) gegründet, die durch ihre Tätigkeit die Ausgestaltung des Kirchenwesens

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maßgeblich bestimmten; nach dem Übergang des südlichen Vorpommern an Preußen 1720 umfaßte die Zuständigkeit des Stettiner Konsistoriums alle der preußischen Krone unterstehenden pommerschen Landesteile. An der Spitze standen Superintendenten bzw. (in Greifswald, Kolberg und Stettin) Generalsuperintendenten (Theologen), denen zwei weitere Theologen und zwei Juristen als Beisitzer bzw. Assessoren zur Seite traten. Der Generalsuperintendent von Pommern-Wolgast war zugleich Pfarrer an der Greifswalder Nikolaikirche und Inhaber der ersten theologischen Professur an der Universität, die anderen beiden theologischen Konsistorialassessoren waren zugleich Inhaber der anderen beiden theologischen Professuren an der Universität und jeweils der ersten Pfarrstelle an der Marien- und Jakobikirche. Die pommerschen Konsistorien legten ihrer Rechtsprechung bis zum Aussterben des Greifenhauses einen Bekenntnisstand zugrunde, dessen maßgebliche Schriften noch einmal 1636 im herzoglichen Auftrage zusammengestellt wurden; er umfaßte u. a. die unveränderte Augsburgische Konfession von 1530, das sog. Corpus doctrinae Pomeranicum von 1565, das u. a. neben der Augustana und der Apologie von 1540 den großen und kleinen Katechismus, die Schmalkaldischen Artikel und Melanchthons Loci communes enthielt, das Bekenntnis der Stettiner Synode von 1593 sowie das (anfänglich umstrittene) Konkordienbuch, die Pommersche Kirchenordnung von 1563 und Agenda von 1569. Die darin sichtbare streng lutherische Linie wurde vom Herzogshaus und den Landständen ohne Abweichungen beachtet. Nach der Teilung Pommerns 1648 wurde im schwedischen Anteil die streng lutherische Ausrichtung des vormaligen Gesamtterritoriums aufrechterhalten, deutlich erkennbar daran, daß hier die genannten Bekenntnisschriften bis 1815 gültig blieben. Die andauernde enge Verquickung mit der Greifswalder Universität, der Generalsuperintendentur, den Stadtpfarrkirchen und dem Hofgericht kennzeichnete die Tätigkeit des Konsistoriums. Die leitenden Theologen und Juristen des Landes waren sich zusammen mit den Landständen wie mit der schwedischen Regierung in Pommern und dem schwedischen Hof in Stockholm in ihrem obersten Ziel einig, den lutherischen Bekenntnisstand in SchwedischPommern unverändert zu bewahren; die Krone setzte darauf, an der Greifswalder Universität lutherische Theologen für ihre neu erworbenen Territorien im Reich und ihre übrigen Herrschaftsgebiete im Ostseeraum auszubilden. Das Greifswalder Konsistorium wurde geradezu ein Hort der lutherischen Orthodoxie und war beständig verwickelt in die großen theologischen Auseinandersetzungen der Zeiten, im späten 16. und im ganzen 17. Jahrhundert mit dem Calvinismus, im frühen 18 Jahrhundert mit dem Pietismus. Erst 1729 wurden Reformierte in Schwedisch-Pom-



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mern toleriert, sofern sie ihre Gottesdienste „in der Stille und für sich selbst verrichteten“. Den Katholiken wurden Gottesdienste seit 1761 gestattet, 1784 der Grundstein für die erste katholische Kirche in Stralsund gelegt. Anders verlief die Entwicklung im brandenburgischen Teil Pommerns. Reformierte Familien, vereinzelte Niederländer, größere Gruppen von Schotten, waren bereits im 16. Jahrhundert in fast alle größeren Städte Pommerns eingewandert, ohne Gemeinden bilden zu können. Die Übernahme der Regierungsgewalt in Hinterpommern durch den reformierten brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm wurde zwar einerseits wegen dessen unbestrittenen Erbrechtes begrüßt, andererseits gerade von Theologen befürchtet, die die Gefahren beschworen, wenn der reformierte Glaube in Pommern eindrang. Als Kolberg 1653 zum Regierungssitz erhoben wurde, kamen mit den Beamten der Regierung und des Hofgerichts zahlreiche Reformierte in die Stadt, und 1657 hielt dort der erste reformierte Prediger seine Antrittspredigt vor 50 Gemeindemitgliedern. Die heftigen Angriffe, die der seit 1653 am Kolberger Dom als Pastor primarius wirkende Johann Colberg mit seinen Schmähschriften und seinen Predigten gegen die Reformierten und besonders gegen Konvertiten richtete, bewogen den Kurfürsten dazu, ihn 1675 seines Amtes zu entheben und aus seinen Landen auszuweisen, woraufhin Colberg nach Schwedisch-Pommern auswich und eine theologische Professur in Greifswald erhielt. In der zweiten Hälfte des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden weitere (deutsch-)reformierte Gemeinden in ganz Hinterpommern wie in dem preußisch gewordenen südlichen Vorpommern auf Initiative landesherrlicher Beamte und Offiziere. Der Kurfürst selbst nutzte passende Gelegenheiten zur Einrichtung und Förderung reformierter Gemeinden. Wenn es für die beiden Konfessionen an ausreichenden Gotteshäusern fehlte, lag es nahe, die Kirche einer Konfession auch zeitweise und vorübergehend der anderen Konfession zur Verfügung zu stellen, wie 1719 die lutherische Stadtpfarrkirche in Körlin an einem Wochentag, an dem die Lutheraner sie nicht nutzten, den Reformierten überlassen werden sollte. Wenn nicht für die Reformierten auf landesherrliche Schloßkirchen wie in Stettin, Köslin oder Stolp zurückgegriffen werden konnte oder ehemalige Klosterkirchen zu Garnisonkirchen hergerichtet wurden, mußten sich die reformierten Prediger mit ihren lutherischen Amtskollegen über die Zeiten für ihre Gottesdienste verständigen. Aber das Modell der Simultankirche stieß wiederholt auf praktische Schwierigkeiten im Detail. Nach der Ankunft der Hugenotten bildeten sich schrittweise französisch-reformierte Gemeinden. Nach 1720 erlebte Stettin einen massiven Zuzug von Deutsch- und Französisch-Reformierten. Im Stargarder Konsistorium gab es schon vor 1720 einen re-

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formierten Assessor, ab 1747 wirkten im Stettiner Konsistorium neben dem lutherischen Generalsuperintendenten noch ein lutherischer und ein reformierter Assessor. Neue Prediger wurden anläßlich ihrer Berufung mit ihrem Eid dazu verpflichtet, im Sinne der landesherrlichen Kirchenpolitik sich in den konfessionellen Auseinandersetzungen zurückzuhalten; der Prediger an der Stolper Schloßkirche hatte 1733 vor seinem Amtsantritt ein Formular zu unterschreiben und zu besiegeln, mit dem er sich dazu verpflichtete, entsprechend der Confessio Sigismundi, dem 1614 publizierten reformierten Bekenntnis des Kurfürsten Johann Sigismund, zu predigen und die Jugend zu unterrichten, sich in seinem Lehramt hinsichtlich der unter den Evangelischen schwebenden Kontroversen gemäß den gegen die konfessionellen Schmähungen gerichteten kurfürstlichen Edikten des 17. Jahrhunderts zu verhalten und in seiner Tätigkeit dahin zu wirken, dass „zwischen den dissentierenden Evangelischen in den noch übrigen Streitigkeiten mutua tolerantia gestiftet und erhalten werde“.

* In eine andere brandenburgische Neuerwerbung des 17. Jahrhunderts, in die westfälisch-niederrheinischen Territorien Kleve und Mark, führt Michael Kaiser mit seinen Darlegungen zur „Konfessionalisierung als Instrument einer schwachen Landesherrschaft. Brandenburg und die Fürstentümer Jülich-Kleve-Berg und Mark im 17. Jahrhundert“. Stand in Pommern der geradezu erdrückenden lutherischen Mehrheit nur eine schmale, mit dem Kurfürsten in das Land gekommene reformierte Minderheit gegenüber, so fand er in den westfälisch-niederrheinischen Territorien eine für das Reich außergewöhnliche Koexistenz der drei Hauptkonfessionen vor. Die brandenburgische Konfessionsproblematik von 1613/15 trat den Kurfürsten im Westen noch merklich verstärkt entgegen, weil sie allen drei Bekenntnissen infolge ihrer gleichmäßigen Streuung über alle Länder trotz des bevorzugten eigenen Bekenntnisses mit Duldsamkeit begegnen mußten, sofern ihnen an der Wahrung des inneren Landesfriedens gelegen war. Die Verhältnisse bezeugen nachdrücklich, daß die passiv hingenommene oder aktiv akzeptierte Mehrkonfessionalität innerhalb eines Territoriums eine ganz andere allgemeine religiöse Lage mit einer ganz anderen Aufgabenstellung für alle beteiligten Parteien schuf. In seinen Ausführungen zur Bedeutung der Religion in einem Gemeinwesen aus den 1670er Jahren zeigte sich der kleve-märkische Rat Adolf Wüsthaus davon überzeugt, die Religion garantiere die Einigkeit in ­einem Staatswesen, ansonsten drohten Spaltung und Verachtung der Obrigkeit, und so begrüßte er es, wenn es nur eine Konfession in einem Lande gebe.



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Aber er war sich dessen bewußt, daß in Kleve und in Mark drei Konfessionen in unübersichtlicher Verteilung miteinander lebten und die Durchsetzung einer einheitlichen Konfession keinesfalls zu erreichen war, und schlußfolgerte daraus, ein kluger Regent solle die konfessionelle Pluralität hinnehmen, mit seiner Duldsamkeit setze er den inneren Frieden eben nicht aufs Spiel. Seine Darlegungen berührten sich eng mit einer kurfürstlichen Anweisung an die Geistlichen aller drei Konfessionen aus dem Jahr 1656, sie sollten sich in der Ausübung ihres Amtes aller verleumderischer Äußerungen enthalten, dadurch zur politischen Ruhe und Eintracht der Untertanen beitragen und durch ihre Verträglichkeit ihren Pfarrkindern ein gutes Beispiel christlicher Duldsamkeit geben. Zwar offenbarten andere landesherrliche Äußerungen eine strikt calvinistische Ausrichtung, aber der Calvinismus sollte nicht mit Zwangsmitteln unterstützt werden, und die Förderung von Reformierten in der Personalpolitik setzte voraus, daß sie fachlich geeignet und nicht zanksüchtig waren. Im Gegensatz zu anderen Reichsterritorien zielte die hohenzollernsche Religionspolitik nicht auf die strikte Konfessionalisierung ab, sondern bevorzugte den Calvinismus unter faktischem Verzicht auf dessen vollkommene Durchsetzung. Die Erbanwärter Brandenburg und Pfalz-Neuburg konnten 1609 überhaupt nur deshalb ihre Herrschaft antreten, weil sie den Ständen in ihren Reversen eine Garantieerklärung über all ihre bestehenden Rechte ausstellten und darin die bestehenden konfessionellen Verhältnisse anerkannten: Sie sicherten zu, die katholische wie andere christliche Religionen und deren Glaubensausübung überall im Territorien zuzulassen und niemanden in seinem Gewissen zu bedrängen, stellten mit dieser „Freistellung“ nicht nur die beiden durch den Augsburger Religionsfrieden sanktionierten Konfessionen, sondern unterschiedslos alle Glaubensrichtungen unter landesherrlichen Schutz und gaben damit die landesobrigkeitliche Regulierungsgewalt über die Konfession der Untertanenschaft praktisch preis. Die via media, die im 16. Jahrhundert dem obrigkeitlichen Handeln in Religionssachen der Vereinigten westfälisch-niederrheinischen Herzogtümer als Leitwort gedient und das religiöse Klima weitgehend geprägt hatte, war im 17. Jahrhundert geschwunden; es kam zu einer allgemeinen konfessionellen Verhärtung unter bzw. zwischen den drei sehr zersplitterten Konfessionen in einer Region, in der an nahezu keinem Ort nicht mindestens zwei Konfessionen vertreten waren. Mehr denn je waren die Gläubigen bereit, für ihre eigenen religiösen Überzeugung zu streiten. Wegen des vorhandenen erheblichen Konfliktpotentials in der Untertanenschaft konnten Alltagskonflikte, die mit Verbalinjurien begannen, sich rasch bis zu massiven Behinderungen in der Ausübung der jeweiligen Religion steigern. Leicht wurden den Amtsträgern des re-

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formierten Kurfürsten antikatholische und antilutherische Tendenzen unterstellt, wogegen sich die Landesregierung bereits 1614 wehrte: Sie sei nicht gesonnen, die eine oder andere im Lande vorhandene Religion und deren Glaubensausübung zu unterdrücken oder nicht zu dulden. ­Johann Sigismund forderte 1617 die lutherischen Prediger dazu auf, die reformierte Konfession nicht zu schmähen, sondern ihr mit Toleranz zu begegnen, mit ihr auch in geistlichen Dingen zu kooperieren, da man sich beiderseits für Augsburgische Konfessionsverwandte gehalten habe. Konfessionelle Konflikte entstanden ohnehin, sie von obrigkeitlicher Seite noch zu schüren, konnte unkontrollierbare Folgen haben. Von daher erklärt es sich, daß das Thema Religion und Konfession nur selten auf den Landtagen behandelt, jedenfalls dort nicht von der kurfürstlichen Regierung, sondern nahezu ausschließlich von den Landständen vorgetragen wurde, wegen der konfessionellen Splitterlage in erster Linie lokale konfessionelle Vorfälle, nicht generelle Angelegenheiten. Die kurfürstliche Seite hielt sich in innerterritorialen Kontroversen, so in ihrer Auseinandersetzung mit dem katholischen ständischen Oppositionsführer Dietrich Karl von Wilich zu Winnenthal, mit einer konfessionspolitischen Deutung bzw. konfessionell begründeten Anklage zurück, zumal Wilich erklärte, die Herrschaft dem Kurfürsten zu gönnen, sofern dieser gemäß den Reversen von 1609 seine katholische Religion toleriere. Die brandenburgische Konfessionspolitik in Kleve und Mark war nicht nur geprägt von dem Verhältnis zwischen den Konfessionen, von ihren jeweiligen Bevorzugungen und Benachteiligungen und dem gegenseitigen Mißtrauen, sondern auch von der Wahrung der eigenen territorialrechtlichen Kompetenzen bestimmt. Brandenburg und Pfalz-Neuburg gedachten nicht, ihre Ansprüche auf das gesamte Erbe aufzugeben, und untermauerten sie, indem sie sich um die religiösen Angelegenheiten in den Territorien des Konkurrenten kümmerten. Die Möglichkeit für konfes­ sionspolitische Maßnahmen hing dabei von militärischen und allgemein machtpolitischen Konjunkturen ab. So nutzte Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm in den 1620er Jahre die Anwesenheit spanischer Truppen in der Grafschaft Mark dazu, die Verwaltung mit seinen Parteigängern zu besetzen und reformierte Prediger zu vertreiben. Umgekehrt erwarteten die Protestanten in Kleve ein Engagement ihres Landesherrn für ihre Glaubensgenossen in Jülich und Berg; so billigte der Kurfürst 1668 eine Kollekte für den Wiederaufbau der reformierten Kirche im bergischen Ratingen. Die Konflikte der beiden Possedierenden drehten sich freilich nicht nur um konfessionspolitische Einzelaktionen vor Ort, sondern sie rangen auch um allgemeine vertragliche Festlegungen. Aus dem „Normaljahrskrieg“ 1651 erwuchs für beide Seiten die Erkenntnis, daß ausschließlich Verhandlungen zu einer tragfähigen Lösung würden führen können. Der



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Bielefelder Rezeß von 1672 schrieb unter Verabschiedung voriger Normaljahrskonzepte den gegenwärtigen konfessionellen status quo fest und erlaubte es zugleich dem Kurfürsten, endlich ein Summepiskopat für seine Landesherrschaft in Kleve und Mark zu errichten, indem er nun die Kirchenhoheit für Protestanten wie für Katholiken innehatte. Das Bild der konfessionellen Streitigkeiten bestimmte freilich nicht allein der Landesherr, denn die zahlreichen Konflikte auf Gemeinde- und regionaler Ebene zeugte von der „Konfessionalisierung von unten“: Lokale Aktivitäten brachten die territorialen Obrigkeiten immer wieder in reli­ gionspolitischen Zugzwang (oder eröffneten ihnen die Möglichkeit zur konfessionspolitischen Intervention). Der Stabilisierung der Landesherrschaft kam die unangefochtene Priorität auf der politischen Agenda zu, nicht einer schrankenlosen Konfessionalisierung, der der Weg längst durch Vereinbarungen und Verträge verschlossen war. Adolf Wüsthaus zog in seinem Memorandum über die konfessionellen Verhältnisse am Niederrhein ein Resümee aus seiner langjährigen Mitarbeit an den Reli­ gionsvergleichen, wenn er an der Idee eines konfessionellen Ausgleichs festhielt und die gewaltsame Revision der konfessionellen Verhältnisse ablehnte, da dadurch das Erbrecht an den Landen verloren ginge.

* Die beschriebene Lage der verschiedenen Konfessionen und die landesherrliche Konfessionspolitik in der Mark Brandenburg und in anderen brandenburgisch(-preußischen Territorien) konfrontiert Peter Baumgart zum Zwecke des Vergleichs und um der besseren zeitgenössischen Einordnung willen mit der „Habsburgischen Konfessionspolitik im bikonfessionellen Schlesien von ca. 1648 bis 1740“, in dem die im 16. Jahrhundert eingetretene Bikonfessionalität seit dem habsburgischen Sieg von 1620 über die protestantische ständische Opposition in Böhmen allen bestehenden Privilegien und internationalen Verträgen zum Trotz durch eine katholische Homogenisierung abgelöst werden sollte. Während sich die Hohenzollern in Brandenburg(-Preußen) seit 1613 auf den Boden des bi- oder gar trikonfessionellen Landesstaates gemäß dem jeweiligen territorialen konfessionellen Rechtsstatus stellten und in dessen Rahmen ihre eigene reformierte Konfession zu fördern wie auch die anderen Konfessionen als anerkannte Partner zu behandeln trachteten, suchten die Habsburger rigoros die vorgefundene Bikonfessionalität zurückzudrängen und zu beseitigen und hielten unverändert an ihrem Leitbild des monokonfessionellen Territoriums fest. Schlesien war seit der Reformationszeit ein konfessionell gespaltenes Land. Auch wenn die Alte Kirche in nachtridentinischer Zeit allmählich mit Unterstützung der weltlichen Herrschaft ihre Vormachtstellung zu-

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rückzugewinnen vermochte, behaupteten die Lutheraner sich, gedeckt durch die Anerkennung ihres Bekenntnisses im Augsburger Religionsfrieden von 1555, nachhaltig, während die Calvinisten nur in intellektuellen Kreisen und einem kleinen Teil des Adels Fuß faßten. Die kaiserlichen/königlichen Majestätsbriefe von 1609/11 gewährten den Anhängern der beiden großen Bekenntnisse, nicht jedoch den Reformierten und christlichen Randgruppen Religionsfreiheit. Die entscheidende religionspolitische Wendung erfolgte nach dem Sieg Kaiser Ferdinands II. 1620 über die ständisch-böhmische Revolution. Die unbedingte Förderung der katholischen Stände und Parteigänger Habsburgs, die ihre Untertanen rekatholisierten, die einseitige Ämtervergabe in den Landesbehörden, den Erbfürstentümern und den Städten zugunsten der Katholiken schwächten die Stellung der Lutheraner zunehmend, bis sie im Prager Sonderfrieden von 1635 nur noch in den von der Piastendynastie regierten Mediatfürstentümern (Liegnitz, Brieg, Wohlau, Oels) und in der Stadt Breslau das Privileg der freien Religionsausübung behielten; ansonsten waren sie auf die (auch immer wieder bestrittene) bloße Hausandacht beschränkt. In den Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück gelang es dem kaiserlichen Unterhändler Trautmannsdorf, die habsburgischen Erb- und Nebenländer von wesentlichen Bestimmungen des künftigen Reichsreligionsfriedens auszunehmen, indem dort der Kaiser entgegen der ansonsten für den Religionsstatus geltenden Regelung des Normaltages 1. Januar 1624 ein landesherrliches Reformationsrecht (ius reformandi) behielt. Alle Habsburger suchten dementsprechend in ihrer Religionspolitik den von ihnen postulierten Grundsatz der „Glaubenseinigkeit“ durchzusetzen, den geschlossenen Konfessionsstaat in Schlesien zu erreichen, im Dienste des eigenen wie des Seelenheils ihrer Landeskinder, wie sie meinten. Dabei bedienten sie sich unterschiedlicher Mittel und Methoden, die von vielfältiger Beeinflussung Andersgläubiger über Entfaltung großer kirchlicher Pracht bis hin zu massivem Druck und Zwang gegenüber „Ungläubigen“ und Apostaten reichten. Sie stießen allerdings auf eine Schranke insofern, als die Schweden 1648 in einer Sonderregelung erreicht hatten, daß den Anhängern der Augsburgischen Konfession die öffentliche Religionsausübung (exercitium publicum) wenigstens in den piastisch regierten Mediatfürstentümern „ex gratia Caesarea et regia“ eingeräumt wurde, während sie in den Immediatfürstentümern und Standesherrschaften auf das Privatexercitium beschränkt blieb. Der Landesherr konzedierte den Lutheranern den von ihnen selbst zu tragenden Bau dreier Gotteshäuser außerhalb der Städte Schweidnitz, Jauer und Glogau, der später so genannten „Friedenskirchen“. Zudem erhielten Schweden und die protestantischen Reichsstände ein vages Fürsprache-



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recht für ihre schlesischen Glaubensverwandten gegenüber dem Kaiser (unter Ausschluß jeglicher Gewaltsamkeit). Die Lücken und Ungenauigkeiten des Vertragstextes nutzten die Habsburger in der Folgezeit ohne offene Verletzung des Friedens dazu, die Gegenreformation in Schlesien sukzessive voranzutreiben. Die Beschränkung der Vergünstigungen auf die „Anhänger der Augsburgischen Konfession“ erlaubte den Ausschluß der Reformierten und der „sektiererischen“ Schwenckfelder und Täufer. Aber auch der religiöse Status der Lutheraner blieb unsicher, weil er von der kaiserlichen Gnade abhing und damit nicht den Rang eines Rechtsanspruches erlangt hatte; so waren sie vertraglich nicht darin gesichert, ihr kirchliches Leben gemäß ihrer Lehre selbständig zu regeln. Nach dem Abzug der schwedischen Truppen aus Schlesien ließ Kaiser Ferdinand III. 1653 mit Hilfe sog. Reduktionskommissionen insgesamt 656 lutherischen Kirchen in den Erbfürstentümern einziehen, nach 1660 gab es in ganz Oberschlesien keine einzige evangelische Kirche mehr. Die evangelischen Pfarrer wurden ausgewiesen, die evangelischen Schulen geschlossen, selbst evangelischer Privatunterricht stand unter Strafandrohung. Den bekennenden Protestanten blieb nur noch die Hausandacht (devotio domestica), abgesehen vom Gottesdienstbesuch in den Piastenherzogtümern oder in den Grenzdörfern des benachbarten Kursachsen oder Kurbrandenburg, in den dort von diesen errichteten „Zufluchtskirchen“. Als 1675 die reformierten Piastenherzöge ausgestorben waren, schaffte Leopold I. den reformierten Kult ab, besetzte die landesherrlichen und ständischen Ämter mit Katholiken, nutzte konsequent die eigenen Patronatsrechte über die Kammer- und Stiftsgüter, und bis 1706 verloren die Protestanten nochmals 109 Kirchen aus ihrem vormaligen Besitzstand von 241 Kirchen. Das absehbare Ende der schlesischen Bikonfessionalität trat nicht ein, weil sich der schwedische König Karl XII. im Nordischen Krieg nach der Besetzung Kursachsens nachdrücklich für die schlesischen Lutheraner verwandte, von Kaiser Josef I. ultimativ für den Abzug seiner Truppen aus Kursachsen und dem Reich die rasche Behebung der schlesischen Religionsgravamina verlangte. Joseph ratifizierte unter dem Druck der außenpolitischen Lage die Altranstädter Konvention von 1706: Alle seit 1648 kassierten Kirchen und Schulen in den 1675 eingezogenen piastischen Mediatfürstentümern sowie in Breslau und im Fürstentum OelsMünsterberg waren zurückzugeben, die früheren evangelischen Konsistorien in den Fürstentümern wiedereinzurichten, die Schulen bei den drei Friedenskirchen wieder zuzulassen. In den alten Erbfürstentümern wurden allerdings den Lutheranern lediglich die private Hausandacht und Hausunterricht zugestanden und „Gewissensfreiheit“ eingeräumt, ein Religionszwang sollte nicht länger ausgeübt werden. Die bürgerliche

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Gleichberechtigung wie der Zugang zu öffentlichen Ämtern wurden den Protestanten zugesichert. Die Konvention bildete fortan die Vertragsgrundlage für die Beziehungen zwischen den schlesischen Protestanten und ihrer habsburgischen Landesherrschaft, auch wenn sie nur sehr unvollständig umgesetzt wurde. Die Evangelischen erhielten ab 1709 ­ 125 Kirchen neben dazugehörigen Schulen zurück, sie durften auf eigene Kosten sechs „Gnadenkirchen“ außerhalb der Städte errichten, darunter fünf in Niederschlesien, allerdings nur gegen Darlehenszahlungen und Geldgeschenke an den Landesherrn. Aber nach einer vorübergehenden Phase der Lockerung des religionspolitischen Kurses zeigte sich, daß die Habsburger an ihrem Prinzip des geschlossenen katholischen Konfes­ sionsstaates entschieden festhielten. Die Lutheraner blieben Mitglieder ihrer katholischen Parochie, die lutherischen Konsistorien erhielten einen von Wien ernannten katholischen Präsidenten, insgesamt wurde ­ die lutherische Kirche in Schlesien in das katholisch-österreichische Staatssystem integriert, von ihm kontrolliert und reglementiert. Die habsburgische Politik der Monokonfessionalisierung um jeden Preis war infolge einer Nebenabmachung zweier Großmächte aufgegeben, aber das Ende des konfessionellen Zeitalters war damit nicht erreicht.

* Wenn Frank Göse sich „Zur Konfessionspolitik Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I. in den brandenburgisch-preußischen Landen und im Reich (1688-1740)“ äußert, rückt er die in ihren Herrschaftsgebieten bestehende Mehrkonfessionalität in den Mittelpunkt, behandelt er die Einstellungen der beiden Herrscher zu ihren lutherischen und reformierten Bekenntnissen und ihre Bemühungen um deren Annäherung und die Grenzen, die sich ihnen im konfessionellen Alltag ihrer Untertanen stellten, und führt uns damit in eine neue, von den voraufgegangenen Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts unterschiedene Phase der religiösen Koexistenz. Denn obwohl beide Herrscher ihr reformiertes Bekenntnis nicht verleugneten, waren sie bestrebt, die Gegensätze zwischen Lutheraner und Reformierten im Sinne gegenseitiger Toleranz abzumildern oder gar eine Union zwischen beiden anzustreben, in der Überzeugung, daß keine substantiellen Gegensätze mehr zwischen ihnen stünden. Freilich stießen ihre Ausgleichsbemühungen auf der lokalen und regionalen Ebene auf mancherlei Widerstände: Die konfessionellen Gegensätze hatten sich abgeschliffen, waren aber nicht erloschen. Für die beiden ersten preußischen Könige war die Mehrkonfessionalität im brandenburgisch-preußischen Gesamtstaat die zentrale Herausforderung. Auf der einen Seite waren sie bestrebt, den eigenen reformierten Glauben unverfälscht beizubehalten und nach Möglichkeit zu för-



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dern, auf der anderen Seite waren sie bemüht, das Zusammenleben der beiden protestantischen Konfessionen ohne Schmälerung ihrer landesherrlichen Autorität gerade in der Kirchenpolitik, die mit dem Argument der „Andersgläubigkeit“ leicht hätte in Frage gestellt werden können, zu gestalten. Denn die überwiegend orthodox eingestellten lutherischen Geistlichen taten sich schwer, sich von reformierten Landesherren und Amtsträgern in ihrer Glaubenspraxis hineinreden zu lassen, etwa hinnehmen zu müssen, daß sie sich seit 1683 mit dem Kleinen Katechismus Luthers als anerkannter Bekenntnisgrundlage zufriedengeben mußten, weil andere Schriften eine zu stark anticalvinistische Stoßrichtung aufwiesen. Friedrich III./I. war bemüht, das Verhältnis zwischen den Lutheranern und Reformierten zu harmonisieren. Friedrich Wilhelm I. äußerte wiederholt sein Unbehagen über die immer noch bestehenden Zwistigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten, kritisierte beide Seiten, auch reformierte Geistliche und Amtsträger, die einer s. E. zu unduldsamen Religionspolitik das Wort redeten, und empfand durchaus Sympathien für die Lutheraner: „Ich bin in der reformierten Religion geboren und erzogen, ich werde wohl auch darinnen leben und sterben, aber die Lutheraner liebe ich auch und gehe lieber in ihre als in unsere Kirche“. Die Durchsetzung der landesherrlichen Konfessionspolitik hing zunächst erheblich von den hohen Amtsträgern mit kirchenpolitischen Kompetenzen wie den Konsistorialpräsidenten und den Hofpredigern, besonders denjenigen in Berlin mit der größten Nähe zum Herrscherhaus, ab: Ihnen kam es darauf an, Wirkungen in der Weite des Landes zu erzielen. Dazu diente die Förderung pietistischer Aktivitäten, also derjenigen politisch-sozialen Reformbewegung, die die persönliche Frömmigkeit des einzelnen Gläubigen und die Erziehung zu einem im karitativen Bereich und im Bildungswesen tätigen Christentum in den Mittelpunkt rückte; von hier erhoffte man sich auch eine befriedende Wirkung auf die beiden protestantischen Konfessionen, die jedenfalls Philipp Jacob Spener dem Einfluß seiner Anhänger zuschrieb, wenn er meinte, daß „bei vielen die Bitterkeit der beyden protestierenden partheyen nachgelassen hat“. Zur Verbreitung pietistischer Ideen versuchte führende Pietisten, frei werdende Positionen mit ihren Anhänger oder Sympathisanten zu besetzen bzw. umgekehrt in ihren Augen ungeeignete Persönlichkeiten zu verhindern, und nutzten dafür ihre Kontakte zu den mit dem Pietismus sympathisierenden hohen Amtsträgern. Die staatliche Zensurpolitik reagierte empfindlich auf polemische Traktate, die Angriffe auf die Reformierten enthielten oder in die Nähe eines religiösen Indifferentismus gerieten, und bestrafte ggf. deren Verfasser, weil dadurch das (letztlich vergeblich verfolgte) religionspolitische Herzensanliegen beider Könige, die Bildung einer Union zwischen den beiden protestantischen Konfessio-

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nen, gefährdet zu werden drohte. Die immer wieder aufflackernden Konflikte zeigten indes, auf welch brüchigem Boden die Konsensbemühungen der Landesherrschaft standen. Auseinandersetzungen brachen leicht aus, wenn reformierte und lutherischen Gemeinden an einem Ort gezwungen waren, miteinander auszukommen, und dazu der kleinen Schar der Reformierten die Feier ihres Gottesdienstes in einer lutherischen Kirche zugestanden wurde. Daß vorhandene oder neu errichtete Gotteshäuser als Simultankirchen verwendet werden sollten, war zuweilen nicht ohne Zwangsmaßnahmen durchzusetzen. Neue Regelwerke sollten den geordneten Ablauf des Kirchenlebens in beiden Gemeinden, etwa den Zeitpunkt des Gottesdienstes, die Gestaltung der kirchlichen Feiertage und die Verwaltung des Gemeinen Kastens, garantieren, und man erhoffte sich eine „von unten“ allmählich wachsende Annäherung beider Konfessionen. Aber solche wohlgemeinten Absichten wurden häufig von den beteiligten Protagonisten vereitelt, wenn ihnen mehr daran gelegen war, die eigene Konfession aus materiellem Interesse wie zur Bewahrung ­ihrer unverfälschten Lehre gegen jede Ab- und Aufweichung zu verteidigen, oder sie Haltung und Maßnahmen der anderen Konfessionen mit Schmähungen verurteilten. Die gegenseitigen Vorhaltungen und Unterstel­ lungen flauten ab, aber auch die administrativen Bemühungen um Verbreitung der Toleranz stießen an ihre Grenzen. Es gehörte zu solchen Bestrebungen, daß Jubiläen, die die gemeinsamen Wurzeln der beiden ­ protestantischen Kirchen betonten, gemeinsam begangen wurden, daß nach den wiederholten „Kanzel-Edikten“ gegen das gegenseitige Schmähen der Geistlichen die strittigen Punkte und Unterschiede in den ­Predigten möglichst ausgespart werden sollten, daß an die Abwehr der Lutheraner und Reformierte gleichermaßen bedrängenden katholische Majorität in den Reichsinstitutionen oder an dem gemeinsam zu führenden Kampf gegen die Überbleibsel des Katholizismus in den eigenen Landeskirchen (wie etwa die Ausmerzung der altkirchlichen Feiertage) erinnert wurde. Überhaupt schliffen sich die Vorbehalte zwischen den Konfessions­gruppen ab. Unter Friedrich Wilhelm I. wurde versucht, größere Kirchendisziplin der Gläubigen, eine höhere Professionalität in der Amtsführung der Geistlichen und ein höheres Niveau der theologischen Ausbildung zu erreichen sowie die beobachteten Formen religiöser Devianz auszumerzen, und in diesem Zusammenhang nahm der König selbst zuweilen Einfluß auf die Wahrnehmung des Pfarramtes. Wenn die zentralen Kirchenbehörden das Kirchenleben in Stadt und Land für unbefriedigend hielten, setzten sie zu Recht an der Verbesserung der Amtsführung der Pfarrer an und ordneten dazu seit 1710 wieder regelmäßige Kirchenvisitationen an, aber manche Verordnung drang kaum in die Pfarrgemeinden vor. Wider-



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willen erweckten die altgläubigen Traditionsbestände im Alltag, so daß Renovierungen oder Neubauten von Kirchen dazu genutzt wurden, die mißbilligten Relikte wie das Absingen von lateinischen Liedern, Altarleuchtern, Kaseln, Meßgewändern und Chorröcken zu beseitigen. Doch vermuteten die Lutheraner in solchen Bestrebungen eine unzulässige Einmischung des reformierten Herrschers in die Angelegenheiten ihrer Religion und beriefen sich für die Beibehaltung der alten liturgischen Formen auf die Gewährung von Toleranz: Man wünsche „Gewissensfreiheit […] an statt Gewissenszwingen.“ Die Bemühungen der zentralen und lokalen Akteure zur Normdurchsetzung eines gottesfürchtigen Lebens und zur Herstellung einer konfessionellen Eindeutigkeit rieben sich an den Beharrungskräften der regionalen Lebenswelten. Wenn auch die Monarchen das Potential der pietistischen Bewegung zur konfessionellen Disziplinierung der Bevölkerung zu nutzen suchten, widerstrebte es ihnen, sich zum Sachwalter des moralischen Rigorismus einzelner Eiferer zu machen; Friedrich Wilhelm I. forderte die Pfarrer dazu auf, sich mit vorschnellen Verurteilungen vermeintlicher oder tatsächlicher Irrlehren und Verhaltensweisen anderer Geistlicher zurückzuhalten. Wie die inneren konfessionspolitischen Probleme in den brandenburgisch-preußischen Landen nach außen hin ins Reich hinein Wirkung entfalteten, so strahlten umgekehrt Vorgänge im Reich auf Preußen aus. So beklagte Friedrich III. gegenüber Kursachsen die fortgesetzte anticalvinistische Polemik der Universität Wittenberg gegen „ketzerische“ Obrigkeiten und befürwortete gleichzeitig die brüderliche Einigkeit der Evangelischen. Die preußischen Bemühungen um die Übernahme des Direktoriums des Corpus Evangelicorum scheiterten daran, daß die Reichsstände nach der katholischen Konversion des sächsischen Kurfürsten nicht bereit waren, es einem reformierten Herrscherhaus anzuvertrauen. Allerdings wurden die Anstrengungen um einen engen Schulterschluß zwischen Lutheranern und Reformierten gespeist von der gemeinsamen Furcht vor katholischer Dominanz und der Abwehr des katholischen Lagers, wie ein preußischer Gesandter 1707 gegenüber dem König bekundete, es sei „eine mutuelle Christliche tolerantz unter denen Evangelischen von beyderley Kirchen zu Ihrer gemeinsahmen Conservation das allernothwendigste“, denn es „könnte denen Römisch-Catholischen keine größere Freude nach gewünschter Spiel gemacht werden, als wan die Evangelische sich untereinander selbst verfolgeten.“

* Das konfessionelle Zeitalter in Brandenburg-Preußen ging seinem Ende entgegen, wie Hans-Christof Kraus in seiner Untersuchung über „Spätkonfessionalismus und Frühaufklärung – Christian Wolff zwischen

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August Hermann Francke und Friedrich II.“ darlegt, wenn der Führungsanspruch der bisherigen universitären Leitwissenschaft, der (protestantischen) Theologie, die mit ihren Anforderungen an den Glauben der Herrscher wie ihrer Untertanen die „Welt“ nach ihren christlichen bzw. konfessionellen Vorstellungen zu gestalten gesucht hatte, von der Philosophie grundsätzlich in Frage gestellt und die Vernunft, ohne antichristlich verstanden zu werden, nicht mehr dem Glauben untergeordnet wurde. Die konfessionellen Parteien und ihre Konflikte hörten nicht zu bestehen auf, aber ihre aus ihren Bekenntnissen abgeleiteten Anforderungen an die Formung des menschlichen Lebens sahen sich konkurrierenden Ansprüchen und Weltdeutungen der aufklärerischen Vernunft gegenüber, die sie in ihrer Wirkungsmächtigkeit, verglichen mit den beiden vorangegangenen Jahrhunderten, gegenüber anderen Kräften und Ideen zurücktreten ließen. Die große Kontroverse zwischen dem Philosophen Christian Wolff und seinen theologischen Widersachern an der Universität Halle, vorrangig August Hermann Francke und Joachim Lange, die „Causa Wolffiana“, ein für die Sache der Aufklärung zentraler Vorgang an der damals nach Lehrmethode und Lehrprogramm modernsten deutschen Universität, bedarf der Analyse der verschiedenen Konfliktebenen: Erstens wurde ein Kampf zwischen pietistischer, gefühlsbetonter, offenbarungsgläubiger Theologie und rational-abstrakt argumentierender Philosophie ausgetragen; zweitens rangen in einer akademischen Institution nicht nur zwei Disziplinen, sondern zwei Fakultäten um eine Neubestimmung ihres Verhältnisses; drittens ging es um den Einfluss auf Lehrstuhl- und Stellenbesetzungen, also um akademische Klientelwirtschaft; viertens handelte es sich um eine politische Auseinandersetzung um den grundsätzlichen Stellenwert von Religion und Glauben innerhalb der Gesellschaft wie pragmatisch um die Möglichkeit und das Ausmaß politischer Einflußnahme auf den strenggläubigen König Friedrich Wilhelm I. und den Kronprinzen Friedrich. Christian Wolff, 1706 an die Universität Halle berufen, war bestrebt, die zentralen Dogmen der christlichen Religion in sein rational-logisch argumentierendes philosophisches System zu integrieren, unter der ­Voraussetzung, daß das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele ­rational zu begründende, unbestreitbare Tatsachen darstellten und daß die Unantastbarkeit der Religion die Funktionsfähigkeit eines Gemeinwesens gewährleiste: Man könne Atheisten, die Gott leugneten und damit auch die politischen und sozialen Grundwerte der Religion in Frage stellten, „im gemeinen Wesen nicht dulden“. Anstoß erweckte Wolff an der von den Pietisten beherrschten Theologischen Fakultät 1721, als er in seiner akademischen „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ den



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„heidnischen“ Chinesen die Befähigung zur rationalen Erkenntnis allgemeingültiger Normen zusprach, also menschliche Sittlichkeit ohne Religion theoretisch wie praktisch für möglich hielt, und zudem für eine nach rationalen Prinzipien vorzunehmende Bibelexegese plädierte. Der Konflikt entzündete sich auch daran, daß die Theologen personell wie inhaltlich auf Stellenbesetzungen innerhalb der benachbarten Philosophischen Fakultät Einfluß auszuüben bemüht waren, Wolff wie Francke ihre eigenen Schüler Ludwig Thümmig bzw. Joachim Lange auf eine frei gewordene Philosophieprofessur unterzubringen gedachten. Als der zuständige Kabinettminister Marquardt Ludwig von Printzen e­ ine aus vier angesehenen Berliner Theologen, zwei Pietisten und zwei reformierten Hofpredigern, zusammengesetzte Kommission zur Untersuchung des Falles einsetzte, suchten Francke und Lange deren zu erwartenden Schlichtungsvorschlag durch ein höchstinstanzliches Machtwort zu unterlaufen, in­dem die Theologische Fakultät wie auch Francke persönlich sich unter Umgehung des Ministers unmittelbar an den König wandten: Wolffs Lehren stünden der natürlich und in Gottes Wort geoffenbarten Religion entgegen und verleiteten die studierende Jugend zur Abkehr von Gottes Wort und zur Hinführung zum Atheismus, daher solle Wolff wegen seines „­ allergefährlichsten Atheismus“ jede philosophische Lehrtätigkeit von Amts wegen untersagt werden. Vermutlich auf Grund einer Denunziation, die zwei pietistische Generäle dem König unterbreiteten, entschied Friedrich Wilhelm, unter wörtlicher Aufnahme der zen­tralen Argumentation der Hallenser Theologen, Wolffs Lehren nicht mehr zu dulden, und forderte ihn dazu auf, die Stadt Halle und die preußischen Lande innerhalb von 48 Stunden nach Empfang des königlichen Befehls bei Strafe des Stranges zu verlassen. Wolff wich nach Hessen aus, wo er einem an ihn bereits zuvor ergangenen Ruf an die Universität Marburg folgte. Francke selbst deutete seinen Erfolg als Ergebnis eines direkten göttlichen Eingreifens, war davon überzeugt, daß er selbst mit seinem Vorgehen als ein den direkten Willen Gottes vollziehendes Werkzeug im Kampf gegen jene Macht des Bösen, die mit ihrer Philosophie in ihren gedanklichen Konsequenzen zielstrebig zum Atheismus führe, gedient habe. In seiner Radikalität und Kompromißunfähigkeit ging ihm jegliches Verständnis für die Philosophie an sich und damit auch für das Denken Wolffs ab. Demgegenüber war Wolff in den 1730er Jahren bestrebt, in seinen Veröffentlichungen deutlicher als früher die grundsätzliche Vereinbarkeit von rationaler Philosophie und christlicher Theologie herauszustellen: Er stritt für Vernunft und aufklärerische Philosophie wie gegen Atheismus, Deismus und Naturalismus, im Sinne seiner Grundüberzeugung, daß sich jede echte Offenbarungsreligion in vollkommener Harmonie zur Vernunft befinde. Entsprechend dieser Überzeugung suchte er

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­ äheren Kontakt zu prominenten Vertretern des gemäßigten Pietismus n wie des orthodoxen Luthertums inner- wie außerhalb Preußens, und die Freunde seiner Philosophie in Berlin und am königlichen Hof vermochten den König 1733 dazu zu bewegen, Wolff nach Halle zurückzuberufen, doch dieser lehnte ab. Lange holte zum Gegenschlag aus, als er 1736 in Potsdam den König gegen die „gottlosen“ und „staatsgefährdenden“ Ideen und Schriften Wolffs einzunehmen suchte. Doch dessen führender Mitarbeiter Grumbkow attackierte ihn heftig: Er habe Wolff systematisch verleumdet, obwohl die christliche Religion verlange, über die Feinde nicht zu lästern; Lange verfolge Wolff und seine Schüler aufs äußerste, „welcher persecutorischer Geist sonst allezeit das Kennzeichen der falschen Kirchen gewesen“ sei. Auf Grumbkows Empfehlung forderte Friedrich Wilhelm I. von Lange ein Gutachten über Wolff, gab diesem Gelegenheit zur Stellungnahme und übertrug die Beurteilung einer aus zwei Lutheranern und zwei Reformierten zusammengesetzten Kommission, die es ablehnte, sich Langes Einschätzung anzuschließen. Dieser wurde vom König ermahnt, sich „meiner Verordnung wegen der Wolffischen Philosophie mit einer christlichen Gelassenheit [zu] unterwerfen“, da von „dehnen unnöthigen Philosophischen Subtileteten […] nichts als WortGezäncke und Zerrütungen bey den so leicht einreissenden Missbrauch entstehen“. Er glaubte nicht mehr an eine wirkliche „Gefährlichkeit“ von Wolffs Philosophie; die Theologie solle sich nicht auf einen Streit um Begriffe einlassen, sondern ihre geistlich und sozial wichtigen Aufgaben erfüllen. Nach seinem Regierungsantritt berief der junge Friedrich II. 1740 Wolff zurück nach Halle, was viele Zeitgenossen als Triumph des neuen Königs und der Aufklärung in Preußen begrüßten. Die causa Wolffiana war eine für die frühe Aufklärung typische philosophisch-theologische Kontroverse, verbunden mit inneruniversitären Konkurrenzkämpfen und mit politischen Rivalitäten. Mit dem Ende des hallischen Konfliktes endete das konfessionelle Zeitalter in Preußen insofern, als der bis dahin kaum angefochtene traditionelle Vorrang der Theologie vor der Philosophie in einflussreichen Teilen der gelehrten Welt nicht mehr akzeptiert wurde. Wolff setzte sich entschieden gegen die traditionelle Unterordnung der Philosophie unter die Theologie zur Wehr, ohne die auch von ihm persönlich vertretenen christlichen Glaubensüberzeugungen im Geringsten in Frage zu stellen. Im Streit um Unterordnung, Vorrang oder Gleichwertigkeit der ersten und der vierten Fakultät der Universität verteidigte Wolff den Anspruch der Philosophie, nicht mehr ancilla theologiae zu sein, sondern eine eigenständige Grundwissenschaft, deren rationale Regeln des Denkens und der wissenschaftlichen Forschung auch für die Theologie und ihre Interpretation der Heiligen Schrift maßgeblich seien. Wolff meldete damit den Anspruch der



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Philosophie auf eine Stellung als verbindliche Leitwissenschaft im Kanon der universitären Disziplinen an, implizit sogar den Vorrang der Philosophischen Fakultät vor den anderen drei traditionellen Fakultäten, gegen die Theologie, die noch auf ihrem Anspruch auf universitäre Richtlinienkompetenz beharrte. In der Wolffschen Welt war der Glaube der Vernunft nicht mehr übergeordnet. III. (1) Aus dem Siegeszug der lutherischen und anderer evangelischer Lehren und der Ausbreitung der Reformation innerhalb wie außerhalb des Reiches nach 1517 erwuchs eine völlig neue, unvermutete und ungeplante kirchen- und allgemeinpolitische Lage, wie sie das Mittelalter zuvor nicht gekannt hatte: Die Papstkirche stieß zwar die „Häretiker“ aus ihren Reihen aus, vermochte sie aber nicht mehr wie mittelalterliche Ketzer auf Dauer gänzlich zu unterdrücken oder wenigstens an den Rand der Gesellschaft oder in deren Untergrund zu drängen. Die Protestanten schufen auf der Grundlage eigener Theologien und Bekenntnisse mit eige­ nem geistlichen Leben und eigenen Organisationsformen eigene (Landes-)Kirchen, verblieben nicht mehr wie noch die böhmischen Utraquisten des 15. Jahrhunderts in der universalen Kirche. Die Kirchenspaltung innerhalb der lateinischen Christenheit war eingetreten. (2) Die katholische Kirche drang mit ihrer theologischen Bannung Luthers im Reich nicht allgemein durch, weil sich eine zunehmende Zahl fürstlicher und städtischer Reichsstände ihrem Urteil nicht mehr beugte und stattdessen sich selbst ihre für die Oberhäupter wie deren Untertanen verbindliche Entscheidung über die „reine Lehre“ bzw. das rechte Bekenntnis vorbehielt. Nicht mehr Kirchenversammlungen, sondern weltliche Gewalten bestimmten über den kirchlichen Weg ihrer Herrschaften, geleitet von der Überzeugung, daß sie als „christliche Obrigkeiten“ für das geistliche Wohl und Wehe der ihnen anvertrauten Gläubigen verantwortlich seien. Sie entschieden sich dafür, entweder in der katholischen Kirche zu verbleiben oder sich der Reformation anzuschließen und entsprechend deren Lehren eine evangelische Kirche inhaltlich und organisatorisch aufzubauen. Nahezu selbstverständlich gingen die Landesherren dabei davon aus, daß der von ihnen allein oder zusammen mit ihren Ständen getroffene Beschluß das gesamte Land und alle seine Glieder auf die eine oder die andere Konfession verpflichtete. Der bekannte Grundsatz des Augsburgischen Religionsfriedens von 1555, „cuius regio, eius religio“, bedeutete, daß eine allgemein gültige konfessionelle Regelung nicht mehr für das Reich, in dem sie, wie die vergeblichen Anstrengungen Kaiser Karls V. gezeigt hatten, nicht mehr durchgesetzt werden

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konnte, sondern in dessen einzelnen Territorium in Kraft trat, und zwar nach dem Leitbild der Monokonfessionalität. Das den Andersgläubigen zugestandene Emigrationsrecht gewährte ihnen zwar im Gegensatz zu mittelalterlichen Ketzern Rechtsansprüche, aber betonte doch nachdrücklich die „Glaubenseinheit“ oder „Eingläubigkeit“ des jeweiligen Territoriums, indem es dem konfessionellen Abweichler keine Lebens­ existenz in seiner Heimat mehr einräumte und zu deren Verlassen zwang, ihm also an seiner bisherigen Bleibe die Religionsfreiheit verwehrte. (3) Die Durchsetzung einer (lutherischen) Monokonfessionalität ist an den kirchlichen und geistlichen Veränderungen in der Mark Brandenburg zur Regierungszeit Joachims II. gut zu beobachten, wenn man die einzelnen miteinander verbundenen Vorgänge unter dem Leitbegriff der (lutherischen) Konfessionskultur analysiert. Unter ihm werden das theologische Bekenntnis, die kirchliche Organisation und das geistliche Leben der Gläubigen in der Kirche zusammengefaßt. Die Brandenburgische Kirchenordnung von 1540 behandelte alle drei Bereiche und beinhaltete für sie die maßgeblichen Vorgaben. Der Kurfürst trat, durchdrungen von seiner Aufgabe zur Wahrung des Seelenheils seiner Untertanen, an die Spitze eines landesherrlichen Kirchenregimentes mit dem ihm verantwortlichen Leistungssystem aus Konsistorium, Superintendenturen und Inspektionen als maßgeblichen Instanzen zur Bewahrung des an der Wittenberger Theologie orientierten Bekenntnisses und zur Umsetzung der aus der Rechtfertigungslehre abgeleiteten Maßgaben in den Lebensalltag der Menschen. Die Glaubensvorstellungen wurden innerhalb der in ihren wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen neu aufgebauten Gemeinden von einem universitär ausgebildeten geistlichen Personal in der Predigt entfaltet und dabei auf die Lebenswirklichkeit der Gemeindemitglieder bezogen. Deren Frömmigkeit speiste sich aus der Bibel, dem Katechismus, dem Gesangbuch und einer reichhaltigen Erbauungsliteratur. Die maßgeblichen Schritte zur Einführung der lutherischen Reformation erfolgten in rascher Folge in den frühen 1540er Jahren, aber ihre umfassende Umsetzung gerade auf der lokalen Ebene zog sich über einen langen Prozeß hin, in dem mancherlei Widerstände, die allerdings nicht in konzentrierter Kraft auftraten, zu überwinden waren: Die institutionelle Reste der Papstkirche mit ihren Angehörigen waren stufenweise und möglichst im Einvernehmen mit den Betroffenen zu beseitigen, die deviante, von der offiziellen Kirchenlehre abweichende Volksfrömmigkeit war zumindest einzudämmen, und die beständige Diskrepanz zwischen der verkündeten Lehre und dem alltäglichen menschlichen Verhalten war nicht restlos zu beseitigen. Den andauernden Bemühungen von Landesherr und Landeskirche lag die entscheidende Überzeugung zugrunde, daß es im Lande nur einen einzige, eben den von ihnen erkannten wah-



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ren Glauben gebe dürfe – über dessen genaue Auslegung unter den Geistlichen und mit dem Landesherrn innerhalb des zulässigen Bekenntnisrahmens durchaus gestritten wurde – und daß infolgedessen sich alle weltlichen und geistlichen Obrigkeiten auf der zentralen, regionalen und lokalen Ebene nachhaltig dafür einzusetzen hatten, diesem Glauben zur allgemeinen Anerkennung und Befolgung zu verhelfen. (4) Der Vergleich der brandenburgischen und der pommerschen Verhältnisse belegt nochmals, daß die dauerhafte Wirkung der Reformation zunächst sowohl vom Aufbau einer neuen Kirchenorganisation und der Fixierung ihrer Bekenntnisgrundlagen wie von der konfessionellen Übereinstimmung von Landesherr und Landständen abhing. Die in den verschiedenen pommerschen Teilherzogtümern gebildeten Konsistorien verbürgten mit der Orientierung ihrer Rechtsprechung an mehreren, schließlich in ihrer Summe für verbindlich erklärten Bekenntnisschriften, daß die Grundsätze der lutherischen Theologie allgemein verbreitet und beachtet wurden. Die enge personelle Verknüpfung von Greifswalder Konsistorium, Stadtpfarrkirchen, Universität und Hofgericht sowie das unbeirrte Festhalten der leitenden Theologen und Juristen an der lutherischen Orthodoxie sorgten dafür, daß die alleinige Geltung der lutherischen Lehre, gegen Reformierte und Pietisten auch publizistisch in mancherlei Kontroversen propagiert und verteidigt, bis weit ins 18. Jahrhundert ­hinein unangefochten blieb – sofern und solange die Landesherrschaft derselben konfessionellen Linie folgte, wie es nach der Landesteilung von 1648 in Schwedisch-Vorpommern der Fall war. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde hier zuerst den Reformierten der private Gottesdienst und noch viel später den Katholischen ein eigener Kirchenbau zugestanden. (5) Der Erfolg der angestrebten Monokonfessionalisierung in einem Territorium hing nicht nur von den kirchenpolitischen Entscheidungen und Maßnahmen der weltlichen und geistlichen Obrigkeiten auf der zentralen Ebene, sondern auch von der Überzeugungskraft und Durchsetzungsfähigkeit des lutherischen Bekenntnisses auf der lokalen Ebene in Stadt und Land ab, war letztlich daran zu messen, daß die Untertanen offensichtlich vom lutherischen Bekenntnis überzeugt und durchdrungen waren, daß sie aus freien Stücken in seinem Sinne tätig wurden und daß sie notfalls für dieses ihr Bekenntnis unerschrocken eintraten, sofern sie wieder davon abgebracht werden sollten. Die Verhältnisse in der uckermärkischen Hauptstadt Prenzlau offenbaren, daß sowohl Rat und Geistlichkeit als auch die Bürger- und Einwohnerschaft vereint waren in ihren Bestrebungen zur Vertiefung einer christlichen Lebensführung. Der Rat, seinem eigenem Selbstverständnis nach eine „christliche Obrigkeit“, beriet und beschloß mit der Pfarrerschaft Schritte zur Ausweitung des

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geistlichen Lehrangebotes und zur Vermehrung der Gottesdienste, beide Seiten bekundeten und verbreiteten das bürgerliche Wertesystem mit Mäßigung im Lebensaufwand, Sparsamkeit und Fleiß, und die Kirche achtete besonders auf die Wahrung und Einhaltung der geistlichen Disziplin der Gläubigen, beispielsweise der Vorschriften für Ehe und Familie, und ging gegen Verfehlungen wie außerehelichen Geschlechtsverkehr mit disziplinarischen Strafen vor. Umgekehrt taten sich die Gemeinde und einzelne ihrer Glieder dadurch hervor, daß sie mit ihren kleinen oder großen Spenden maßgeblich neben den Zuschüssen aus der Stadtkasse zur Intensivierung des Kirchenlebens beitrugen, indem sie die Instandsetzung und den Ausbau der Kirchen und ihrer Innenausstattung wie die Einrichtung von Schulräumlichkeiten (mit)finanzierten. Die Qualität des geistlichen und schulischen Personals der Stadt zeigt sich in seinen zahlreichen Druckschriften. Die lutherische Konfessionalisierung der Mark war gerade deshalb so erfolgreich, weil ihre Anliegen „von unten“, von der breiten Bevölkerung getragen und geteilt wurden, weil ihre Ziele angenommen und im Alltag befolgt wurden, die lutherische Konfessionskultur gerade in ihrem für ihre Wirkung maßgeblichen Teil, der Durchdringung der Alltagswelt mit der Glaubenslehre, breiten Anklang fand und „gelebt“ wurde. (6) Die Monokonfessionalität wurde 1555 nicht überall im Reich zur verbindlichen Norm erhoben und in der Folgezeit nicht überall vorbehaltlos als alleingültiger Maßstab beachtet und eingehalten. Den adligen und städtischen Ständen der geistlichen, also katholischen Landesherrschaften wurde ebenso wie den Reichsstädten Glaubensfreiheit zugestanden, unter Reichsstädten, Reichsrittern und Ritterorden entstanden lokale bi- oder trikonfessionelle Verhältnisse, und selbst in den habsburgischen Landen Österreich, Böhmen und Schlesien vermochten die evangelischen Landstände die Herrscher zeitweise zur Gewährung der Bekenntnisfreiheit und zur Zulassung von Ansätzen evangelischer Lan­ deskirchenbildungen zu bewegen. Aber die Dauerhaftigkeit solcher gemischtkonfessioneller Ordnungen wurde in Frage gestellt von den Anhängern der Monokonfessionalisierung: im kleinen in den Reichsstädten, in denen sich zumeist das Luthertum gegenüber den anderen Konfessionen das Übergewicht errang, im großen im Habsburgerreich, in dem nach 1620 die Rekatholisierung mit allem landesherrlichen Nachdruck durchgesetzt wurde. Die Habsburger behielten sich bezeichnenderweise 1648 entgegen der ansonsten im Reich geltenden Normaljahrsregelung in ihren eigenen Landesherrschaften ihr Reformationsrecht vor und suchten es, wie ihr Vorgehen in Schlesien zeigt, zum Zwecke der Auflösung des dortigen lutherischen Kirchen- und Glaubenslebens anzuwenden. Allein in einem größeren Landesfürstentum, nämlich im niederrheinisch-west-



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fälischen Territorienverbund Jülich-Kleve-Berg, blieb die von den Herzögen im 16. Jahrhundert gebilligte Koexistenz aller drei Hauptkonfessionen auf Dauer bewahrt, denn als Pfalz-Neuburg und Brandenburg ab 1609 auf dem Erbweg deren Nachfolge antraten, wurden sie durch die landständische Privilegierung auf die Einhaltung dieser konfessionellen Ordnung verpflichtet – ein gerade für die brandenburgisch-preußische Religionspolitik folgenreicher Umstand. (7) Die Gleichberechtigung der Konfessionen wurde 1555 nur in begrenztem Rahmen zugestanden. Zunächst verhinderte der sog. geistliche Vorbehalt, daß die geistlichen Landesherren für ihre gesamte Landesherrschaft eine freie verbindliche Entscheidung treffen durften; ihren persönlichen Übertritt zum Protestantismus hatten sie mit dem Verzicht auf ihre weltliche Herrschaft zu bezahlen, die damit dem Anspruch nach dauerhaft dem Katholizismus verblieb. Ob der von Ferdinand I. einseitig verkündete Vorbehalt durchschlagende Wirkung erzielte, hing von der allgemeinen Lage des jeweiligen (Erz-)Bistums ab. Er zwang jedenfalls die Amtsinhaber dazu, sich in der Religionsfrage zurückzuhalten, selbst wenn sie mit dem Protestantismus sympathisierten, zumal wenn sie auf eine päpstliche Bestätigung hofften und sie sich einem katholischen Domkapitel gegenübersahen. Bezeichnenderweise trieb Erzbischof Sigismund von Magdeburg die Reformation voran, indem er eine allgemeine Kirchenvisitation zu einem Zeitpunkt anordnete, zu dem sich Land und Städte seines Erzstiftes bzw. deren lokale, landesherrliche, adlige, städtische und gemeindliche Obrigkeiten bereits weitgehend der Reformation angeschlossen hatten, sichtbar in erster Linie daran, daß sie aus eigener Machtvollkommenheit einen lutherischen Pfarrer berufen hatten. Die Visitation vollendete die Reformation, indem sie andersgläubige, katholische Pfarrer nicht mehr duldete, weil nur der eine wahre (lutherische) Glaube gepredigt werden durfte. Aus diesen Voraussetzungen folgte, daß sich ein landesherrliches Kirchenregiment mit seinem wichtigsten Instru­ ment, dem Konsistorium, nicht zu etablieren vermochte, dazu war die Stellung der lokalen Gewalten gegenüber dem Erzbischof wegen ihrer zuvor beanspruchten und wahrgenommenen Selbständigkeit in geistlichen Angelegenheit zu stark. Ob der geistliche Vorbehalt zwingende Macht ausübte oder wirkungslos verpuffte, hing in Nord- und Mitteldeutschland von der weltlichen Stellung der Hochstifte ab, davon, ob sie bereits in vorreformatorischer Zeit in zunehmende Abhängigkeit von einer benachbarten fürstlichen Hegemonialmacht geraten waren und sich auf dem Weg zur Landsässigkeit begeben hatten. Kurfürst Joachim II. anerkannte ursprünglich die Bischofsämter und gab sich der Hoffnung hin, die Bischöfe von Brandenburg, Havel und Lebus würden sich seinem Übertritt zur Reformation

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anschließen, schuf dann aber rasch, als sich seine Erwartungen nicht erfüllten, das Konsistorium als oberste, bestimmende Kirchenbehörde. Er achtete noch die weltliche Herrschaft der katholischen Bischöfe, indem er darauf verzichtete, in ihren Gebieten mit Zwangsgewalt die lutherische Kirchenvisitation durchzuführen. Aber umso mehr drängte er darauf, die Bistümer sowohl unter konfessionellen wie unter landespolitischen, dynastischen Gesichtspunkten unter seine Verfügung zu bekommen, indem er auf der Grundlage seines (nicht unumstrittenen) Präsentationsrechtes auf die Bischofsstühle Männer seines Vertrauens, wenn nicht sogar Angehörige seiner eigenen Dynastie zu bringen trachtete, was ihm seit der Mitte der 1540er Jahre trotz des anhaltenden Widerstandes katholischer Domkapitulare zunehmend gelang. Den entscheidenden Schlag gegen das Bistum Lebus führte er 1556, indem er die schwelenden Auseinandersetzungen zwischen dem katholischen Domkapitel und der lutherischen Domstadt Fürstenwalde, deren (begrenzte) Glaubensausübung der Bischof zuvor unter dem Druck des Kurfürsten hatten hinnehmen müssen, dazu nutzte, auch die Domkirche für die Evangelischen zu öffnen und verbale Angriffe der katholischen Domkapitulare auf die Lutheraner zu unterbinden. Der Vorgang war für den Umgang des Kurfürsten mit den übriggebliebenen katholischen Institutionen insofern ungewöhnlich, als er hier im entscheidenden Augenblick mit der von ihn angestifteten kurzzeitigen Besetzung von Stiftshäusern seitens der Bürgerschaft zur Gewalt griff, während er ansonsten gegenüber den Bistümern und Klöstern auf die schleichende Aushöhlung des Katholizismus setzte, indem er etwa wie in Prenzlau die Versorgung der verbleibenden katholischen Nonnen gewährleistete, aber die Verjüngung ihres Konventes durch das Verbot von Neuaufnahmen unterband. Am Ende des gesamten Vorganges waren die überkommenen katholischen Körperschaften des Bistums Lebus aufgelöst und das Hochstift dem Kurfürstentum Brandenburg bzw. der kurfürstlichen Domäne einverleibt. Noch deutlicher als das Schicksal der brandenburgischen Bistümer offenbart das ähnliche der preußischen Bistümer, daß die Bistumsverfassung mit voranschreitender Zeit keinen rechten Platz mehr innerhalb der evangelischen Kirchenverfassung fand. Im Deutschordensland bzw. Herzogtum Preußen, das außerhalb des Reiches stand, hatten sich die beiden Bischöfe, die selbst als Ordenspriester auf Verlangen des Hochmeisters in ihr Amt gelangt waren und deren Stifte der Schutzherrschaft des Ordens unterstanden, die also ähnlich wie in Brandenburg unter dem bestimmenden Einfluß der Hegemonialmacht standen, schon 1523 auf Grund eigenen Entschlusses dem lutherischen Bekenntnis angeschlossen, wegen des von ihnen verkündeten Vorranges der Glaubenspredigt auf ihre weltliche Herrschaft zugunsten des Herzogs verzichtet und dementsprechend



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in der entstehenden lutherischen Landeskirche eine maßgebliche Rolle übernommen. Aber obwohl die Stände sich wiederholt für die dauerhafte Aufrechterhaltung des Bischofsamtes – als Gegengewicht gegen einen übermächtigen Landesherrn – einsetzten, wurde es endgültig in den späten 1580er Jahren als papistisches Überbleibsel aufgegeben, weil es den fürstlichen Vorrang innerhalb des landesherrlichen Kirchenregimentes allzu sehr zu beeinträchtigen drohte, und wurde gemäß dem „Normalmaß“ des lutherischen Territorialstaates durch das Konsistorium ersetzt. (8) Die Gleichberechtigung der Konfessionen wurde in noch nachhaltigerer Weise 1555 nur eingeschränkt gewährt, als sie nicht prinzipiell allen (christlichen) Konfessionen, sondern entsprechend der damaligen konfessionellen Lage nur für die beiden im Reich bestehenden Religionsparteien, für die Katholiken und die Anhänger des (unveränderten) Augsburgischen Bekenntnisses von 1530, also für die Lutheraner, vorgesehen war, nicht aber für die – damals im Reich erst geringfügig vertretenen – Reformierten. Deren konfessionsrechtlicher Status hing bis 1648 in der Schwebe, denn ihre Zuordnung zu den „Augsburgischen Konfessionsverwandten“ wurde zwar zu ihrem Schutz behauptet, war aber nicht allgemein und vorbehaltlos anerkannt, nicht einmal unter den lutherischen Reichsfürsten. So ließ sich das an sich dem Landesherrn zustehende Reformationsrecht einem reformierten Fürsten trefflich bestreiten. Erst der Westfälische Frieden gewährte auf maßgebliches Drängen Kurbrandenburgs den Reformierten die religiöse Gleichberechtigung bzw. Gleich­ stellung mit Katholiken und Lutheranern – ohne daß die Habsburger dadurch daran gehindert worden wären, weiterhin in Schlesien die Reformierten (wie sonstige protestantische Sekten) aus dem Kreise der Augsburgischen Konfessionsverwandten auszugrenzen. (9) Eine religiöse Minderheit in einem Land vermochte sich trotz der monokonfessionellen Neigungen oder Bestrebungen ihres Landesherrn besser zu behaupten oder zu behaupten suchen, wenn ihre konfessionelle Stellung durch eine auswärtige Schutzmacht rechtlich gestützt oder gar garantiert wurde. In der lutherischen Herzogtümern Preußen und Kurland wurden den Katholiken Minderheitenrechte eingeräumt, weil deren Lehnsherr, der katholische König von Polen, sie gegenüber seinen herzoglichen Lehnsmannen durchsetzte – ohne daß dadurch freilich die lutherische Prägung der Lande nennenswert verändert worden wäre. Das schlesische Beispiel zeigt ebenso die Möglichkeiten wie die Schattenseiten dieses Modells. Schweden hatte 1648 zwar erreichen können, daß der Kaiser in den schlesischen Mediatfürstentümern der Piasten den Lutheranern die öffentliche Glaubensausübung und in den (habsburgischen) Erbfürstentümern und Standesherrenschaft wenigstens die private Glaubensausübung zusicherte, allerdings beides allein „aus kaiserlicher Gna-

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de“. Die unzulängliche Rechtsgrundlage der Lutheraner ebenso wie das allzu vage Fürspracherecht, das der Westfälische Frieden Schweden und den protestantischen Reichsständen für ihre Glaubensverwandten in Schlesien zugebilligt hatte, konnten in der Folgezeit die gegenreformatorischen Bestrebungen der Habsburger zur Unterdrückung der Lutheraner nicht spürbar begrenzen oder ihnen gar Halt gebieten. Erst die Altranstädter Konvention von 1706, die der schwedische König Karl XII. wegen seines außenpolitischen und militärischen Übergewichtes von Kaiser Josef I. erzwang, schuf mit ihren Festlegungen eine gesichertere verfassungsrechtliche Grundlage für die schlesischen Lutheraner, stellte ihre eigenen konfessionelle Rechte mit ihrer Glaubensfreiheit und einer eigenen Landeskirche wieder. Aber die Habsburger unterliefen in der Folgezeit die Vertragsziele, indem sie mit Einzelmaßnahmen die freie Glaubensausübung behinderten, die lutherische Landeskirche ihrer faktischen Aufsicht unterstellten und in ihr katholisches Staatskirchensystem integrierten, fern von der Gleichberechtigung der Konfessionen. Zu einer vergleichbar kräftigen, allein aus den außerordentlichen Umständen des Nordischen Krieges erklärbaren Intervention waren weder der ferne schwedische König nach seiner Niederlage gegen Rußland noch die evangelischen Reichsstände imstande, ihr Interventionsrecht im konfessionellen Alltagskampf blieb eine stumpfe Waffe.

* (10) Um 1600 war im Reich der monokonfessionelle Landesstaat, sei es unter katholischem, lutherischem (oder auch reformiertem) Vorzeichen, der Normalfall, und Abweichungen verrieten indirekt dessen Übergewicht, indem die Religionsfreiheit nur gegen große Widerstände ohne dauerhafte Sicherheit für Andersgläubige und ggf. unter einschränkenden Bedingungen eingeräumt wurde. Der innerbrandenburgische Konfessionskampf der Jahre 1613/15 machte insofern Epoche, als mit seinem Ergebnis erstmals in einem großen Territorium des Reiches zwei (evangelische) Konfessionen gleichberechtigt nebeneinander traten, daß den Angehörigen des lutherischen wie des reformierten Bekenntnisses Gewissens- und Religionsfreiheit im privaten wie im öffentlichen Raum verbrieft wurde. Dieses Ergebnis war nicht absehbar gewesen, als Kurfürst Johann Sigismund auf Grund seiner persönlichen Bekehrung zum reformierten Bekenntnis übertrat, denn er ging von der Erwartung aus, daß seine Untertanen über kurz oder lang seinem Schritt folgen würden, und bereitete mit den Plänen seiner Mitarbeiter geeignete Maßnahmen zur Beförderung der gewünschten Konversionsbewegung vor. Aber er sah sich getäuscht, denn Landstände, Geistlichkeit und Bevölkerung verweigerten ihm geschlossen und mit größtem Nachdruck die Gefolgschaft. Die Entscheidung wurde zunächst dadurch bestimmt, daß der Kurfürst



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von vornherein bekundet hatte und dauerhaft daran festhielt, einen Glaubenswechsel nicht erzwingen zu wollen – und sich damit einer Konfessionspolitik verweigerte, wie sie wenige Jahre später die Habsburger in Böhmen (wie überhaupt in all ihren Landen) mit einer gewaltsamen Rekatholisierung praktizierten. Darüber hinaus wurde aber seine Hoffnung auf eine allmähliche, schleichende „zweite Reformation“ von der lutherischen Opposition dadurch untergraben, daß sie ihm deren maßgebliches personelles Instrument, den reformierten Prediger in dem Stadt- und Landgemeinden, aus der Hand schlug; gegen den Willen der Lutheraner war selbst in den landesherrlichen Patronatskirchen kein reformierter Prediger zu berufen. Die kurmärkischen Stände drangen, von der Wahrheit ihres ihnen seit mehreren Generationen überlieferten Bekenntnisses überzeugt, mit ihrer Abwehr der reformierten Bestrebungen durch, weil sich Johann Sigismunds Vorgänger in den ständischen Generalprivilegien ihnen gegenüber auf den lutherischen Landesstaat verpflichtet und damit ihr ius reformandi bereits aus der Hand gegeben hatten und weil zumal Johann Sigismund selbst für seine großen dynastischen und außenpolitischen Pläne im Westen des Reiches auf ihre finanzielle und militärische Unterstützung angewiesen war. (11) Wider Erwarten hatten sich im Kurfürstentum Brandenburg nach 1615 beide konfessionelle Parteien darauf einzustellen, daß sie lange Zeit oder gar dauerhaft im selben bikonfessionellen Territorium nebeneinander, wenn schon nicht miteinander zu leben hatten, auch wenn jede von ihnen weiterhin von der unbedingten, alleinigen Wahrheit ihres Bekenntnisses überzeugt war und innerlich darauf setzte, mit ihrer Überzeugungskraft die Andersgläubigen wieder zu ihm zurückzuführen und damit die Monokonfessionalität wiederherzustellen. Aber der Augsburger Religionsfriede wurde in seinem Kerngedanken, der territorialen Monokonfessionalität, förmlich aufgegeben, indem den anderen „Konfessionsverwandten“ nicht mehr die Auswanderung zugemutet wurde, sondern sie ungestört im Lande verbleiben durften. Die große Wende unseres Themas trat dadurch ein, daß unvermutet auf Grund einer besonderen innen- und außenpolitischen Lage der Mark Brandenburg die beiden evangelischen Hauptkonfessionen dazu aufgefordert waren, gemäß dem Grundsatz der Glaubens- und Religionsfreiheit in friedlicher Koexistenz ihr Dasein einzurichten. Dabei standen die hohenzollernschen Herrscher vor der Schwierigkeit, daß sie einerseits ihr neu gewonnenes Bekenntnis nicht – wie 1594 Heinrich IV. in Frankreich – um der politische Opportunität zu verleugnen bereit waren und daß sie dazu aufgefordert waren, die kleine reformierte Minderheit in der Mark merklich zu unterstützen und ihnen ihre Daseinsbedingungen zu erleichtern, wenn sie ihnen spürbar von der übergroßen lutherischen Mehrheit eingeengt wurden. Ande-

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rerseits hatten die Kurfürsten darauf zu achten, nicht allzu einseitig Partei für ihre eigenen Konfessionsverwandten zu ergreifen, wenn sie nicht die Lutheraner, mithin den größten Teil ihrer Untertanen, gegen sich aufbringen und deren Opposition gegen seine Beeinträchtigung ihrer „Religionsfreiheit“ stärken wollten. Der (konfessionelle) Friede in ihren Herrschaften war nicht einfach dadurch eingekehrt, daß der Landesherr Glaubens- und Bekenntnisfreiheit für Lutheraner und Reformierte verkündete, denn damit waren deren Rechte und Pflichten und die Arten und Formen ihres Zusammenlebens im einzelnen keineswegs abschließend geklärt. Religionsfreiheit bedeutete zudem keinesfalls schon Parität der Religionsparteien. Diese hatten auch für sich zu entscheiden, wie weit sie die Konflikte mit dem Andersgläubigen und dessen Wahrheitsanspruch treiben und welche Ziele sie dabei verfolgen wollten. Die brandenburgisch-preußische Konfessionsgeschichte des 17. Jahrhunderts ist davon geprägt, daß sich Lutheraner und Reformierte nahezu unaufhörlich in ihre kleineren und größeren Positionskämpfe verstrickten und sie mit ihren theologischen Polemiken befeuerten. Die Monarchen waren dabei von Johann Sigismund bis Friedrich Wilhelm I. vorrangig und durchgängig darum bemüht, die gegenseitigen konfessionellen Schmähungen einzuschränken oder gar zu unterdrücken, damit der alltägliche Reli­ gionsfriede nicht ständig in Gefahr geriet. (12) Die konfessionelle Entwicklung in den 1648/1720 brandenburgisch-preußisch gewordenen Teilen Pommerns bezeugt den Spagat des reformierten Landesherrn. Einerseits begünstigte er die Ausbreitung des reformierten Bekenntnisses in seinen neu gewonnenen Landen, indem insbesondere reformierte Beamte und Offiziere in die pommerschen Regierungssitze einzogen und hier erstmals reformierte Gemeinden bildeten, was ihren zugewanderten reformierten Vorgängern des 16. Jahrhunderts wegen ihrer Vereinzelung nicht gelungen war. Der Kurfürst nutzte auch die Möglichkeiten des Patronatsrechtes zur Berufung reformierter Prediger, er setzte Reformierte in die Kirchenbehörden ein und sorgte dafür, daß der kleinen Zahl von Reformierten ein eigenes öffentliches Kirchenleben etwa durch Bereitstellung von Simultankirchen überhaupt ermöglicht wurde, wenn auch in der Praxis beide Seiten mancherlei Alltagskonflikte miteinander austrugen. Auch wenn der Landesherr so bis zu einem gewissen Grade Partei war, gewährleistete er, daß die lutherische Mehrheit daran gehindert wurde, ihre bevorzugte Ausgangsposition zur Niederhaltung der Reformierten auszunutzen. Andererseits war der Landesherr darum bemüht, konfessionelle Streitigkeiten unter der Geistlichkeit möglichst einzuschränken und zu unterbinden, und zu diesem Zweck verpflichtete er etwa Pfarrer eidlich darauf, sich gemäß der landesherrlichen Kirchenpolitik der Schmähungen gegen die andere evan-



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gelische Konfession zu enthalten und nach dem Grundsatz gegenseitiger Toleranz das Amt zu führen. Noch deutlicher als Pommern belegt Kleve-Mark die Spannung, unter der die brandenburgische Konfessionspolitik des 17. Jahrhunderts stand, weil sie hier von Anfang an, seit der Erwerbung der Herrschaften 1609 und auf Grund der damals eingegangenen Verpflichtungen, die vorgefundene Koexistenz aller drei (!) großen christlichen Konfessionen hinzunehmen hatte und an ihr unter faktischem Verzicht auf ihr Reformationsrecht nicht zu rütteln vermochte, wenn sie nicht eine Religionspartei gegen sich aufbringen und damit ihre eigene Herrschaft gefährden wollte. Ohnehin stand die reformierte Landesherrschaft von vornherein unter Verdacht, zum Vorteil der Reformierten und zum Nachteil der anderen Bekenntnisse zu handeln, und sie war allein schon zwecks Abwehr solcher Vorwürfe gezwungen, die Angehörigen aller drei Glaubensrichtungen, voran deren Geistliche, zur Unterlassung von konfessionellen Verleumdungen und zur Duldsamkeit gegenüber den Andersgläubigen aufzurufen und in diesem Sinne aufzutreten. Zwar begünstigten die Hohenzollern selbst oder durch andere die reformierte Sache, wenn sich dazu in Einzelfällen passende Gelegenheiten ergaben, immer unter ausdrücklichem Verzicht auf Zwangsmittel, neigten aber nicht dazu, die Konfessionskonflikte zum großen Thema etwa auf den ständischen Landtagen zu erheben oder gegen ihre ständischen Opponenten mit dem Konfessionsargument vorzugehen. Einer ihrer erfahrensten Räte, Adolf Wüsthaus, hat die Problematik in den 1670er Jahren scharfsinnig analysiert, indem er einerseits die konfessionelle Homogenität der Lande zur Gewährleistung von deren Einigkeit und Anerkennung der Obrigkeit durchaus bevorzugt hätte, andererseits aber wegen der in ihnen bestehenden Gemengelage aller drei Konfessionen nachdrücklich dazu aufforderte, konfessionellen Pluralismus zu akzeptieren, keinesfalls zu Gewaltmaßnahmen gegen eine oder zwei andere Konfessionen zu schreiten und die abgeschlossenen konfessionspolitischen Vereinbarungen strikt einzuhalten, wenn man den Frieden im Lande bewahren wolle. Dasselbe Argument, das im 16. Jahrhundert die Einkonfessionalität gerechtfertigt hatte, diente im 17. Jahrhundert dazu, die Mehrkonfessionalität anzuerkennen, wenn sie denn einmal in einem Territorium Eingang gefunden hatte. Ihre Leugnung und Unterdrückung hätte unzweifelhaft inneren Aufruhr zur Folge gehabt und die Legitimität der fürstlichen Herrschaft in breiten Kreisen in Frage gestellt. Die unentscheidbare Wahrheitsfrage war damit zumindest aus Sicht der Landesherrschaft beiseitegeschoben, auch wenn der Wahrheitsanspruch unverändert von jeder Partei aufrechterhal­ ten wurde.

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(13) Wie gerade der Fall Kleve-Mark mit besonderer Deutlichkeit zeigt, kann das frühneuzeitliche Konfessionsproblem nicht angemessen behandelt und gedeutet werden, wenn nicht die Blicke der Forschung sowohl auf den Landesherrn wie auf seine Stände und seine Untertanen gerichtet und deren aus ihren eigenen Voraussetzungen erwachsenen konfessionellen Haltungen und Handlungen einbezogen werden. In Kleve-Mark wurde die monarchische Kirchen- und Konfessionspolitik des 17. Jahrhunderts maßgeblich davon bestimmt, daß unter den Untertanen der konfessionelle Eifer und die konfessionelle Verhärtung zugenommen hatten, daß sich infolgedessen unbedeutende konfessionelle Unstimmigkeiten und Zwistigkeiten leicht in schwergewichtige Konflikte verwandeln konnten. Die Landesherrschaft stand mindestens ebenso sehr unter dem Druck der konfessionellen Leidenschaften „von unten“, wie sie aufbrechende Differenzen zum Eingriff im Sinne der eigenen Absichten nutzen konnte. In erster Linie hatte sie darauf zu achten, daß unter keiner Religionspartei sich auf Grund negativer Erfahrungen der Eindruck durchsetzte, in ihrer Glaubensausübung behindert und unterdrückt zu werden. Die brandenburgische Landesherrschaft in Kleve-Mark war gerade deshalb bis zu einem gewissen Grad „schwach“, weil sie die vorhandenen konfessionellen Überzeugungen und Leidenschaften ihrer Untertanen nur sehr bedingt lenken und beeinflussen konnte und auf sie immer wieder nur im Sinne eines erträglichen friedlichen Ausgleichs zu reagieren vermochte. Der reformatorische Erfolg des 16. Jahrhunderts in der Mark Brandenburg erklärt sich erheblich daraus, daß Kurfürst, Stände und Bevölkerung in dem Ziel eines alle verbindenden lutherischen Glaubens und Glaubenslebens einig gewesen waren und daß daher die lutherische Konfessionalisierung bzw. Konfessionskultur in den städtischen und ländlichen Gemeinden überall offene Ohren und willige Hörer gefunden hatte. Die Schwierigkeiten des bikonfessionellen Staates des 17. und 18. Jahrhunderts erwuchsen vornehmlich daraus, daß Stände und Untertanen die Religionspolitik ihres andersgläubigen Fürsten mißtrauisch beäugten, auch wenn sie den eingeführten bikonfessionellen Status hinnahmen, und nicht ohne weiteres geneigt waren, die konfessionellen Leitlinien ihrer Herrscher vorbehaltlos zu befolgen, wie die Betrachtung des frühen 18. Jahrhunderts erneut bestätigt. (14) Die landesherrliche Konfessionspolitik in den Regierungszeiten der beiden ersten Könige ist, verglichen mit dem Handeln ihrer kurfürstlichen Vorgänger des 17. Jahrhunderts, in ihren Zielsetzungen wie in ihren Bedingungen von Wandel und Kontinuität geprägt. Die Herrscher traten trotz ihres bestimmt aufrechterhaltenen reformierten Bekenntnisses für eine Annäherung oder gar Harmonisierung der beiden evangelischen Konfessionen ein, weil sie davon überzeugt waren, daß die bestehenden



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Lehrdifferenzen im Hinblick auf die vorhandenen Gemeinsamkeiten keine größeren Konflikte mehr rechtfertigten, und sie verfolgten sogar mit ihren maßgeblichen theologischen Ratgebern die Idee einer lutherischreformierten Kirchenunion, wenn auch letztlich erfolglos. Aber auch unabhängig davon waren sie wie schon ihre Vorgänger darum bemüht, die gegenseitigen konfessionellen Polemiken und Auseinander­setzungen abzumildern und zumindest zu ihrem Ausgleich beizutragen, nötigenfalls mit administrativen Mitteln wie der Zensur, mit denen sie gegen lautstarke Kontrahenten vorgingen, unter Betonung der gemeinprotestantischen Überzeugung und Zurückstellung der Meinungsverschiedenheiten. Denn das wesentliche Problem ihrer Ausgleichsbemühungen bestand darin, daß auf der unteren, in den regionalen und lokalen Lebenswelten die konfessionellen Kämpfer nicht immer zu besänftigen und zu beruhigen waren, wenn sie aus materiellen wie aus ideellen Gründen, zur Sicherung ihrer Einkünfte ebenso wie zur Wahrung des „reinen, unverfälschten“ Glaubens gegen Andersgläubige wetterten und sich in kleinliche Positionskämpfe verbissen, statt wie gewünscht zu e­ iner „Annäherung von unten“ beizutragen. Der reformierte Herrscher mußte, wenn er als summus episcopus in die inneren Religionsangelegenheiten der Lutheraner wegen Dämpfung anticalvinistischer Äußerungen eingriff, damit rechnen, mit dem Vorwurf des Glaubenszwanges konfrontiert zu werden und selbst zur Duldsamkeit aufgerufen zu werden, die er ansonsten gleichmäßig beiden Konfessionsangehörigen empfahl. In der Personalpolitik wurden die Pietisten gefördert, weil man von ihnen wegen ihrer auf die praktische, karitative Betätigung des Glaubens ausgerichteten Einstellung Bemühungen um ein friedliches Nebeneinander der Konfessionen erwartete. Die Union der Konfessionskirchen mißlang den Königen, aber ihre grundsätzliche Haltung ebenso wie ihre andauernden Anstrengungen zur Minderung der alltäglichen Auseinandersetzungen bewirkten langfristig, daß sich die konfessionellen Kontroversen abschliffen. (15) In der Auseinandersetzung um den Hallenser Universitätsphilosophen Christian Wolf waren gegenüber den älteren lutherisch-reformierten Kontroversen die Fronten insofern verschoben, als hier die pietistischen Theologen an der Universität ihrem philosophischen Kollegen die Verleitung der studentischen Jugend zum Atheismus vorwarfen, nachdem dieser den heidnischen Chinesen die Fähigkeit zur rationalen Erkenntnis von Normen unabhängig von der christlichen Religion zugesprochen und die Bibelexegese nach rationalen Prinzipien verlangt hatte. Wegen der engen Beziehungen August Hermann Franckes und seiner Mitstreiter zu König Friedrich Wilhelm I. und dem königlichen Hof gelang es ihnen, mit solcher Argumentation den Monarchen zur Entlassung Wolfs zu bewegen. Ihr Erfolg wurde allerdings wieder in Frage gestellt, als Wolf deutlicher

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als zuvor die Vereinbarkeit von Religion und Vernunft herausstrich, die Vernunft in völliger Harmonie mit der echten Offenbarungsreligion sah. Als ihn Franckes Schüler Joachim Lange an der königlichen Tafel in Potsdam wegen seiner gottlosen und staatsgefährdenden Lehren angriff, wandten sich der König selbst wie auch seine zuständigen Mitarbeiter gegen Langes unangemessenen kirchlichen Verfolgungswahn, der der christlichen Religion widerspreche, und gegen die gelehrten Zänkereien, stattdessen empfahlen sie Gelassenheit und bekundeten damit ihre Abkehr vom erbitterten Konfessionskampf der Vergangenheit. Daß Wolff 1740 nach Halle zurückberufen wurde, bedeutete einen Sieg der Aufklärung, indem er innerhalb der Universität die Philosophie der Theologie nicht mehr als „ancilla theologiae“ unterstellt und die Vernunft nicht mehr dem Glauben untergeordnet war. (16) War schon der religionsrechtliche Status der Reformierten bis 1648 umstritten, so waren weitere protestantische Gruppierungen und „Sekten“ nahezu überall im Reich und im Europa von offizieller vertraglicher Anerkennung oder Gleichberechtigung ausgeschlossen, von Atheisten ganz zu schweigen, die selbst der Frühaufklärer Christian Wolff nicht in seinem staatlichen Gemeinwesen dulden wollte, da dessen Funktionsfähigkeit von den ethischen und sozialen Grundwerten der Religion abhinge. Es bedeutete schon ein großes Entgegenkommen der Obrigkeiten, wenn den Anhängern „sonstiger“ Bekenntnisse – wie in den vereinigten Niederlanden – die private Glaubensausübung gestattet wurde, wenn mithin ihre Glaubenswelt „im Geheimen“, innerhalb der eigenen vier Wände, hingenommen wurde, aber vor der Öffentlichkeit verborgen blieb. Die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Glaubensausübung bzw. die Zurückdrängung der ersteren zugunsten der letzteren begleiten die gesamte frühneuzeitliche Kirchengeschichte Schlesiens und bezeugen den vom monokonfessionellen Ziel ausgeübten Druck, wie auch das Angebot zu protestantischen Gottesdiensten in den Grenzkirchen der protestantischen Nachbarstaaten wenigstens nach außen hin den Anschein der Monokonfessionalität bewahren wollte. Aus diesem Rahmen fällt bemerkenswerterweise das Fürstentum Siebenbürgen heraus, indem es nicht nur den drei Hauptkonfessionen, sondern auch den Antitrinitariern die religiöse Gleichberechtigung zugestand, und wenn darüber hinaus der vorhandene religiöse Pluralismus ausdrücklich mit einem Bibelzitat begrüßt und gerechtfertigt – und nicht nur wie ansonsten üblich als leider hinzunehmendes Übel notgedrungen akzeptiert wurde. Die siebenbürgische Religionsfreiheit ist aus der außenpolitischen Lage des Fürstentums zu erklären, dem unter dem Druck des benachbarten übermächtigen Osmanischen Reiches daran gelegen sein mußte, das Land nicht durch religiöse Spaltungen im Innern zerbrechen zu lassen.