Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte [2. Auflage, Reprint 2021] 9783112597026, 9783112597019

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Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte [2. Auflage, Reprint 2021]
 9783112597026, 9783112597019

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DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN Veröffentlichungen

des I n s t i t u t s

für

deutsche Sprache

und

Literatur

28

HANS W E R N E R S E I F F E R T

UNTERSUCHUNGEN ZUR METHODE DER HERAUSGABE DEUTSCHER TEXTE

2. Auflage

AKADEMIE-VERLAG 1969



BERLIN

Erschienen Im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger StraBe 3 - 4 Copyright 1063 by Akademie-Verlag GmbH Lizensnummer: 202.100/155/89 Offsetdruck und buchbinderische Verarbeitung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer" Bad Langensalza Bestellnummer: 2054/62/28 • ES 1A/7E 46,-

INHALT

VORWORT

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EINLEITUNG

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I. PROBLEME D E R Ü B E R L I E F E R U N G A. Allgemeines B. Neuere Literatur (Handschriften) C. Neuere Literatur (Drucke) D. Neuere Literatur (Phono-Aufnahmen) E. Mittelalterliche Überlieferung II. TEXTVERÄNDERUNGEN . A. Allgemeines B. Arten der Varianten C. Schichtungen D. Fehlerquellen . E. Untersuchungen zur genealogischen Methode . . . . I I I . STEMMATI SCHE F R A G E N A. Stemmatische Typen B. Das Problem der Mehrspaltigkeit C. Andere Schemata IV. F R A G E N D E R T E X T K O N S T I T U T I O N A. Revision oder Rezension B. Interpunktion C. Zusammenfassung D. Anhang

11 13 14 17 27 28 37 39 42 45 51 56 71 73 75 86 93 95 106 107 109

V. PROBLEME E I N Z E L N E R METHODEN A. Die historisohe (genealogische) Methode B. Auswahlapparate C. Descriptiv-genetische Methode D. Das genetische Verfahren E. Autorenapparat, F. Die handschriftengetreue Wiedergabe (Diplomatik) G. Die genetische Textsynopsis Abschließende Bemerkungen (Empfehlungen)

117 119 121 135 141 157 163 168 208

ABKÜRZUNGEN I N D E N L I T E R A T U R A N G A B E N . . .

209

REGISTER

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VORWORT

Diese Untersuchung ist unter dem Titel „Studien zur Kritik und Edition deutscher Texte", auf Grund des Gutachtens der Herren Professor Dr. Leopold Magon, Professor Dr. Johannes Erben, Berlin, und Professor Dr. Kurt Schreinert, Göttingen, im Frühjahr 1961 von der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin als Habilitationsschrift angenommen worden. Sie ist vor der Drucklegung unwesentlich verändert und nur um einige Beigaben und Kollationen gekürzt worden, durch deren Wegfall das Verständnis nicht leidet. Den Herren Professoren Dr. Johannes Erben und Dr. Kurt Schreinert habe ich für Hinweise zu danken. Besonderen Dank aber schulde ich meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Leopold Magon, für die Förderung, die er der Arbeit angedeihen ließ. Dankbar fühle ich mich auch dem Direktor des Instituts für deutsche Sprache und Literatur, Herrn Professor Dr. Theodor Frings, verpflichtet, der die Arbeit in die Schriftenreihe des Instituts aufgenommen hat. Dem Goethe- und Schiller rchiv, dem Härkischen-Museum und dem HöldeilinArchiv bin ich für die Überlassung der Faksimile-Druckvorlage für Wieland, Fontane und Hölderlin verpflichtet. Aus den jeweils genannten Veröffentlichungen habe ich die für unsere Darstellung wesentlichen Apparatteile als Zitat gebracht. Ich möchte hoffen, daß die hier aufgezeigten Möglichkeiten der Gestaltung von Text und Apparat der deutschen Edition die Anregungen geben, die ich bezweckte. Insbesondere würde ich wünschen, daß sie zu einem peuen Verständnis der Lachmannschen historischen Methode führen und künftighin strenger zwischen autorisierten und fremden Texten unterscheiden lassen. Wir geben bewußt der urkundengetreueren Wiedergabe den Vorrang unter Verwendung aller Erfahrungen der bisherigen Methoden. Was sich in einem kleinen Kreis von Praktikern inzwischen bewährt hat, hoffe ich, kann auch für andere von Nutzen sein.

EINLEITUNG

Es ist die Absicht dieser Arbeit, Fragen nachzugehen, die bei der Kritik deutscher Texte erwogen werden können. Es kann nicht ihr Ziel sein, ein Regelbuch darzustellen.1 Sie will vielmehr methodisch anregen, so daß der Titel „Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte" nicht das „Abgeschlossene", sondern das „Fließende" in unserem Bemühen, hilfswissenschaftliche Grundlagen zu geben, andeutet. Insbesondere sollen, mehr als es bisher geschehen ist, Konsequenzen aus unterschiedlicher Überlieferung gezogen werden. Diese kann entweder als „autorisiert" oder als „fremd" ausgewiesen sein. Somit kann auch früher schon Angestrebtes erreicht werden: aus dem Schöpfungsprozeß, oder allgemeiner gesprochen, aus der Arbeitsweise der Autoren, Kriterien zu gewinnen. Hieraus dürften Ergebnisse nicht nur für ästhetisches Bemühen, sondern auch weitergehende Erkenntnisse über die Dialektik menschlichen Denkens und des geistigen Prozesses überhaupt abgeleitet werden können. Wenn sich die aufgezeigten Möglichkeiten neuerer Darstellung bewähren, könnte das die Berechtigung des Anliegens dieser Arbeit bestätigen. Insbesondere soll der literarischen Interpretation (im weitesten Sinne aufgefaßt) ein Mittel zur Verfügung gestellt werden, dessen sie dringend bedarf. Vor Überbewertungen soll allerdings gewarnt werden, sie lösen allzu leicht falsche Wertungen aus, wie es zuweilen geschehen ist, wenn man Edition gleich Interpretation setzte.2 Das wäre ebenso unrichtig, wie beide, als völlig verschiedenartigen Bereichen angehörig, voneinander zu trennen. Die Wechselwirkung zwischen beiden gilt es zu beachten. Eine Darstellung, die es versucht, ein Kunstwerk aus sich selbst heraus zu begreifen, ohne seiner Entstehving gerecht zu werden, ist leicht dem Irrtum ausgesetzt. Welche Folgen das zuweilen haben kann, wird zum Beispiel deutlich an Hölderlins Ode „Der Tod fürs Vaterland". Sinngebend ist nicht die Endfassung, die als allgemeines Opfer für das Vaterland gedeutet werden könnte, sondern sinnÜber Ziele und Aufgaben unterrichtet kurz: H. W. Seiffert. Edition. In: MerkerStammler 2 1958, S. 313—320. Dort weitere Literatur über die grundsätzlichen Lehrbücher wie z. B. Witkowski, die alle, im einzelnen ausgezeichnet, den heutigen Anforderungen nicht mehr genügen. 2 Z. B. Manfred Windfuhr in seinem Forschungsbericht: Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben. In: DVjSohr 31 (1957), S. 440.

1

8

Einleitung

gebend sind die Vorstufen, die sie als ein Revolutionslied, aus einer ganz bestimmten Lebenssituation erwachsen, ausweisen.1 Dennoch soll es bei diesem grundsätzlich gemeinten Hinweis verbleiben. Auf ein besonderes Kapitel „Interpretation und Textkritik" mußte aus Raumgründen verzichtet werden.2 Die Hinwendung zu editorischen Fragen nach 1945 ist aus der „Konkurrenz" von Edition und Interpretation zu erklären. Immer wieder ist es das Anliegen seitheriger Versuche, Altes zu bewältigen, neue Gestaltung anzuregen. Fritz Strich zeigt diese Tendenzen in einem grundlegenden Aufsatz auf.3 Manfred Windfuhr schließt sich ihm und meiner Skizze gleichermaßen an.4 Beide, Strich und Windfuhr, haben Wesentliches im Hinblick auf allgemeinere Probleme der Ausgaben besprochen. Sie sind insbesondere auf Gliederungsfragen (Gattungen, Chronologie usw.) eingegangen. Obgleich ihnen nicht überall zugestimmt werden kann (z. B. in Fragen des Ordnungsprinzips)5, soll hier von diesen äußeren Problemen der Edition abgesehen und der Akzent mehr auf den eigentlichen, textkritischen Bereich gelegt werden. Aus dieser Sicht hat in vortrefflicher Weise Jonas Frankel textkritische Essays geschrieben, auf die grundsätzlich verwiesen werden muß.6 Wenn ich in meinem Artikel „Edition" angedeutet habe, daß von den neuen Methoden der neueren deutschen Philologie auch Anregungen für das Gesamtgebiet zu erwarten seien, so hat sich das bestätigt. Allerdings darf man für das ältere Gebiet keine sensationellen Lösungen erwarten. Es kann sich immer nur um Anregungen handeln, die im Hinblick auf die besondere Lage mittelalterlicher Überlieferung gegeben werden. Diese Anregungen scheinen aber umso notwendiger, als gerade hier die Problematik des genealogischen Verfahrens zu Fehlschlüssen führt, während im neueren Bereich die sich aus der „Autorisation" ergebenden Fragen immer sicherere Antworten erwarten lassen. Daher waren für die Auswahl der zu behandelnden Literatur Gesichtspunkte entscheidend, die zu den von uns angesprochenen Fragenkreisen Neues beitragen konnten. Aus dem Fehlen des Nachweises einer Arbeit sollte deshalb nicht ohne 1 Stuttg. Ausg. I, S. 298f. Ein am 2. 2. 1960 an der Universität Bonn gehaltener Vortrag „Interpretation und Textkritik", der demnächst veröffentlicht wird, mag ersatzweise dafür eintreten. 3 Über die Herausgabe gesammelter Werke. In: Festschrift für Edouard Tiöche. Bern 1947. Ein Vergleich dieser Anschauung mit den Prinzipien und bisherigen Editionen von Grumachs Goethe-Ausgabe (vgl. S. 152ff.) zeigt einen ersten Einfluß der Strichschen Gedanken. 4 Vgl. S. 7 Anm. 2. 5 Für diese Fragen werden sich schwerlich generelle Begelungen finden lassen. Hier gilt mehr noch als bei Darstellungsfragen, daß nach der jeweiligen Situation entschieden werden muß. 6 Dichtung u. Wissenschaft. Heidelberg 1954.

2

Einleitung

9

weiteres auf ihre Nichtbeachtung geschlossen werden.1 Aus der Mehrzahl der Belege konnten die ausgeschieden werden, die für die Untersuchung keine Ergebnisse erwarten ließen. Das gilt insbesondere für die Auswahl der von uns behandelten Editionen. Hierbei war noch eine besondere Rücksichtnahme erforderlich, die sich aus dem Prinzip des Vergleichbaren ergab: wenn möglich, sollte ein bestimmter Text die verschiedenen Verfahrensweisen verdeutlichen. In besonders geeigneter Weise konnte dieses Prinzip bei den Vorstufen der vielumstrittenen „Friedensfeier" gewahrt werden. Dieser Streit um das Hölderlinsche Gedicht gibt zugleich Anlaß zu einer abschließenden, grundsätzlichen Bemerkung. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß ein jeder Versuch und eine jede Methode der Sache dienen will. Wo es aber um die Sache geht, scheidet die Person aus. Die Achtung vor der Leistung jedes einzelnen, ob sie nun weitergeführt haben mag oder auch nicht, ist selbstverständliche Voraussetzung dieser Arbeit. Der Verfasser fühlt sich jedem einzelnen verpflichtet, auch wenn dieser andere Auffassungen als er selbst vertritt. 1

So ist z . B . die für andere Zusammenhänge grundlegende Arbeit von G. Pasquali : Storia della tradizione e critica del testo (1934) hier nicht herangezogen worden.

I. PROBLEME DER ÜBERLIEFERUNG

A.

Allgemeines

Weithin scheint die Anschauung verbreitet, daß es ein müheloseres Unterfangen sei, einen Text neuerer Zeit kritisch herauszugeben, als einen Text der älteren Epoche. Diese Meinung kann heute nicht mehr unangefochten gelten. Es zeigt sich, daß eine beliebige reich überlieferte neuere deutsche Dichtung an den Editor in philologischer und interpretatorischer Hinsicht mindestens ebenso große Anforderungen stellt, wie ein bedeutendes Werk der mittelalterlichen Zeit. Unter dem Gesichtspunkt „welches ist der vom Autor gewünschte und als verbindlich erklärte Text" darf (trotz aller sich bietenden Probleme) behauptet werden, daß beispielsweise die Schwierigkeit, den Text Otfrieds herzustellen, methodisch gesehen nicht größer ist, als etwa aus einem vielfach überlieferten Goethe-Text den Autorwillen zweifelsfrei zu erkennen. Mit anderen Worten: der Grad der allgemeinen Schwierigkeit hängt vornehmlich davon ab, ob mit einer eindeutigen Zustimmung eines Autors zu seinem Text (Autorisation) gerechnet werden darf oder nicht. Während die mittelalterliche Zeit im allgemeinen dieser Autorisation entbehrt, bietet sie sich in der neueren in vielfältiger Form, aber auch als „PseudoAutorisation" an. Selbst eigenhändig vorliegende Niederschriften, wie das gut überlieferte Werk Hölderlins, entbehren oft der letztwilligen Autorisation. Aber auch die im gleichen Zeitraum viermal hergestellte und viermal autorisierte Gesamtausgabe der Werke Wielands bietet der Varianten genug, die mancherlei Fragen mit sich bringen, wie sie eine Reihe gut überlieferter mittelalterlicher Handschriften nicht kennt. Und endlich, um mit einem letzten Beispiel, das was gemeint ist, einleitend abzurunden: wenn etwa ein verworfener Bogen der Erstausgabe von Schillers „Die Räuber" noch Julius Petersen veranlaßt, diese Ausgabe für die eigentlich zweite Auflage zu halten 1 , so zeigt das, welche Unsicherheit auch bei Literarhistorikern -der neueren Abteilung noch in der Frage nach dem „Archetypus" bestehen kann. Überhaupt wird sich das spezielle Anliegen darauf richten müssen, diesem „Archetypus" möglichst nahe zu kommen. Es ist also nötig, zunächst zu erklären, was darunter zu verstehen ist. Bei dem auch heute noch allgemeinen Vorherrschen der genealogischen Methode (vgl. S. 119ff.) darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, daß diese nach einem bestimmten Verfahren durch eine Anzahl gegebener Textzeugen den Archetypus (a) für erschließbar hält. Dieser kann (im 1

Vgl. Herbert Stubenrauch in: Schiller-Nat.Ausg. Bd. 3, Weimar 1953, S. 346.

14

Probleme der Überlieferung

idealen Falle) mit dem Original ( 0 ) zusammenfallen. Wie eben das Beispiel Schiller zeigte, werden hier aber schon Divergenzen angedeutet, die der Klärung bedürfen. Es wird sich erweisen, ob die noch heute überwiegende Meinung aufrechterhalten werden darf, daß dieser Archetypus erschlossen werden kann; es wird sich auch erweisen, ob aus der Überlieferung neuerer Dichter Folgerungen abgeleitet werden können, die Aufschlüsse hinsichtlich des methodischen Verfahrens bei mittelalterlicher Überlieferung bringen. Zweckmäßigerweise wird sich daher die Untersuchung zunächst diesem neueren Problemkreis zuwenden.

B.

Neuere Literatur (Handschriften)

Innerhalb des Gesamtraumes der neueren Literatur darf mit allen möglichen Formen handschriftlicher Überlieferung gerechnet werden. Es sind daher folgende Gruppen zu unterscheiden: 1. Eigenhändige Niederschriften

(Autographen)

Vor allen Einzelfragen ist zu klären, ob ein Text als autorisiert bezeichnet werden kann. Denn paradoxerweise schließt das Autograph nicht ohne weiteres die Autorisation ein. Es gibt vielmehr die Fixierung einer bestimmten Textstufe wieder, die natürlich mit der letztwillig autorisierten identisch sein kann. Die Frage nach dem „Archetypus" bei abschriftlicher Überlieferung wird hier gewissermaßen „aufgefächert", so daß die autorisierte Fassung in jeder Phase ihres Werdens erkennbar ist. Das Problem der Entstehung ist daher bei autographer Überlieferung von zentraler Bedeutung. a) Vorarbeiten können vorliegen als a) Quellenexzerptionen (z. B. Jean Pauls umfangreiche Sammlungen in seinem Nachlaß), ß) historische Studien (z. B. Thomas Manns Vorarbeiten zum „Doktor Faustus" 1 oder die C. F. Meyers zu „Jürg Jenatsch" 2 ). b) Entwürfe enthalten die ersten — oftmals nur skizzenhaften — Ansätze zu einem Werk. Sie gehen zuweilen über eine bloße Disposition oder Inhaltsangabe noch nicht hinaus. Häufig wechselt im Entwurfs-Stadium die Absicht des Autors hinsichtlich der Gestaltungsweise, die bis zu einem Wechsel in der poetischen Gattung führt. So stehen szenarische neben prosaischen Versuchen, bis der Vgl. Die Entstehung des Doktor Faustus. I n : Thomas Mann. Zeit und Werk. Berlin: Aufbau-Verlag 1956, S. 178ff. 2 Vgl. Sämtliche Werke, Bd. 10, ed. Alfred Zäch, Bern 1958.

1

Neuere Literatur (Handschriften)

15

Autor die ihm angemessen erscheinende Form findet (vgl. beispielsweise: C. F. Meyer, „Jürg Jenatsch", oder Otto Ludwig, „Agnes Bernauer"1). Entwürfe werden niedergeschrieben in a) einer Einzelhandschrift, ß) einer Sammelhandschrift (Notizbuch, Handbuch, Kladde). c) Niederschriften

führen das Werk in einer ersten Teil- oder Gesamtfassung aus dem Stadium des Entwurfes heraus. In der Phase der Entstehung sind allerdings noch Variationen möglich, die Entwurfscharakter besitzen (vgl. S. 42). Auch hier kann noch von einer Gattung in die andere gewechselt werden, so daß solche Umarbeitungen (Umfassungen) die besondere Problematik, die der Dichter in der Bewältigung des Stoffes sah, verraten (vgl. S. 50).

d) Die Reinschrift (das Mundum)

erst ist autorisiert, d. h. sie kann als Fassung eines endgültig abgeschlossenen Arbeitsabschnittes oder als Druckvorlage gelten. In der Regel sind innerhalb der Reinschrift zwar noch Varianten möglich, aber nur bei seltenen Ausnahmen häufen sie sich so sehr, daß die Handschrift wieder den Charakter des Entwurfs erhält und als Reinschrift ausscheidet. Unter den Reinschriften sind besonders zu beachten: a) Die Autorabschrißen (die autor-eigenen Abschriften) Diese haben äußerlich den Charakter einer Reinschrift, sind aber nicht aus werkgeschichtlichem Anlaß entstanden. Es handelt sich um Abschriften, die der Autor von einem eigenen Werk fertigt, sogenannte „schöne Blätter", die aus Gefälligkeit oder aus sonstigem Grund niedergeschrieben wurden. Sie kommen besonders häufig bei Lyrik vor und sind von beinahe allen Klassikern bekannt. In neuerer Zeit sind sie zahlreich wegen des Wertes, den das Autograph genießt; vgl. etwa Autographen von R. M. Rilke oder Hermann Hesse). ß) Die

Quasimanuskripte2

Es handelt sich um „Mischexemplare", die den Charakter einer Reinschrift zum Zwecke der Druckvorlage haben; ihnen liegt ein bestimmter Druck zugrunde, zumeist der dem Autor greifbare. Der Autor trägt handschriftlich oder mit der Maschine (zuweilen auf Durchschußblättern) seine Überarbeitung ein, die häufig einer völligen Umarbeitung ganzer Teile des Werkes gleichkommt, so daß eine neue Textfassung entsteht.3 Diese Art Reinschrift darf nicht mit Korrekturexemplaren oder Teilen von ihnen (Fahnen, Bogen, Kartons) verwechselt werden. Vgl. S. 14 Anm. 2, und Otto Ludwig, Agnes-Bernauer-Dichtungen I, 1837—1847, ed. Waltraut Leuschner-Meschke. Berlin: Akademie-Verlag 1961. 2 Der Terminus stammt von Wieland, vgl. Bernhard Seuffert, Frolegomena zu einer Wieland-Ausgabe I, 1904, S. 24 (AbhPrAk). 3 Vgl. etwa das Manuskript von Wielands „Komischen Erzählungen", im Besitz der Königl. Bibliothek Kopenhagen. 1

16

Probleme der Überlieferung

Anmerkung: Wenn es sich bei dem zugrunde gelegten Druck um einen Doppeldruck oder Nachdruck (vgl. S. 108) handelt, so können verwickelte Textfragen entstehen, e) Das Typoskript nimmt innerhalb der Autorhandschriften eine besondere Stellung ein. Seine Autorisation ist besonders schwer nachweisbar, am ehesten durch ein Zeugnis oder durch a) handschriftliche Korrekturen des Autors oder ß) Überklebungen, die Umarbeitungen erkennen lassen (vgl. etwa Typoskripte Bertolt Brechts). Die Unterschrift des Autors bezeugt den textkritischen Wert eines Typoskripts nicht ohne weiteres, es kann sich auch hier um ein „schönes Blatt" handeln (vgl. d,a).

2. Nichteigenhändige

Niederschriften

(Apographen)1

Es ist zu unterscheiden zwischen autorisierten und autorfremden Handschriften. a) Autorisierte Handschriften entstehen unter der unmittelbaren Aufsicht des Autors entweder als a) Diktat oder ß) Abschrift. Wenn keine Zeugnisse vorhanden sind, die ihre Entstehung aufhellen, so können in einzelnen Fällen zuweilen zwei Kriterien klärend helfen: Diktate können durch typische Hörfehler, Abschriften durch typische Lesefehler erkannt werden. Von entscheidender Bedeutung sind natürlich Autoreingriffe oder Autorzusätze für die Anerkennung der Autorisation. Anmerkung: In diese Gruppe gehört ein großer Teil der Werkhandschriften der bedeutendsten Autoren. Goethe überließ die Abschrift seinen Schreibern oder diktierte und besserte hernach aus. Das gleiche gilt von Wieland u. a. In neuerer Zeit wurde in ähnlicher Weise verfahren. Die Gattin Fontanes stellte in der Regel die Reinschrift her, Meyer überließ dieses Geschäft seiner Schwester. Auch hier geben bei modernen Schriftstellern Typoskripte besondere Rätsel auf (vgl. le). b) Autorfremde Handschriften können (ohne Aufsicht des Autors) unter ähnlichen Bedingungen entstehen, aber sie haben keinerlei erkennbare Autorisation. 1

„Apograph" wird hier parallel zu „Autograph" für die gesamte Gruppe verwendet.

Neuere Literatur (Drucke)

17

Tatsächlich bestehen in der Frage nach der Autorisation dann Schwierigkeiten, wenn die nichteigenhändige Niederschrift so ausgezeichnet ist, daß der Autor auf Eingriffe irgendwelcher Art verzichtet hat. Das darf besonders dann angenommen werden, wenn es sich um einen Schreiber des Autors handelt oder wenn er zum näheren Umkreis des Autors gehört. Eine Autorisation darf aber nur dann anerkannt werden, wenn sie bezeugt ist. Als Sonderfalle dieser Gruppe können folgende Beispiele „maskierter Überlieferung" (obskure Niederschriften)

angesehen werden:

a) Der Autor sucht durch einen anderen Schreiber den Anschein zu erwecken, daß das Werk nicht von ihm stammt. Die Zahl der ungeklärten Fälle in der neueren Literatur ist noch immer groß. B e i s p i e l : Kurt Schreinert hat in der Gedenkschrift für F. J. Schneider (ed. Karl Bischoff, Weimar: Böhlau 1956, S. 20) überzeugend nachgewiesen, wie Balthasar Schnurr durch Schreiberhand, die „böse . . . Handtschrifft" und mit ihr einen neuen Autor Lazarus Sandrub erfand. ß) Autoren suchen durch gegenseitige Abschriften bei einer Gemeinschaftsarbeit den jeweiligen Urheber zu verbergen. B e i s p i e l : Goethe und Schiller : Xenien. In neuerer Zeit etwa die Zusammenarbeit von Arno Holz und Johannes Schlaf. y) Ein Autor schreibt ein Werk eines anderen Autors ab (ohne von diesem beauftragt zu sein und aus welchem Grund auch immer). Beispiel: M. Mommsen hat ein bisher Goethe zugeschriebenes Gedicht als eine solche Abschrift nachgewiesen.1 H. Hofmann hat in seinem „Wilhelm Hauff" (Frankfurt am Main 1905, S. 183) ein Exzerpt Hauffs aus Brentanos „Ponce de Leon" („Nach Sevilla") für ein Gedicht Hauffs angesehen. Anmerkung : Bei allen Handschriften ist die Heranziehung von Katalogen der AutographenHandlungen unerläßlich.

C. Neuere Literatur (Drucke) 1. Allgemeines Ob ein Druck als „autorisiert" angesehen werden kann, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, selbst dann nicht, wenn Jahr und Verlag der Ausgabe ihn scheinbar als editio princeps oder als sonst authentisch ausweisen. Beispiel: 1774 erschien in Leipzig in der Weygandschen Buchhandlung Goethes „Clavigo". Im gleichen Druckjahr wurden aber von dem gleichen Verlag drei weitere, scheinbar identische Drucke ausgegeben. Indessen sind sämtliche vier gänzlich voneinander verschieden. 1

Vgl. Jahrb. der Goethe-Gesellsch. 22 (1960), S. 290ff.: Ein unechtes Gedicht in den Goethe-Ausgaben.

2 Selffert, Deutsche Texte

18

Probleme der Überlieferung

Dieser Fall ist nicht vereinzelt; ein weiteres Beispiel mag zur Veranschaulichung des Problems dienen. Wieland veröffentlichte 1770 bei Weidmann in Leipzig seinen „Sokrates mainomenos". Auch hier liegen fünf äußerlich vollständig übereinstimmende „Erstdrucke" vor, die ebenso voneinander abweichen wie die genannten Goethe-Drucke untereinander. Welches ist nun wirklich der autorisierte Druck ? In beiden Beispielen haben wir es, wie es scheint, mit parallelen Fällen zu tun. Aber auch das ist nicht richtig. Bei Goethe löst der Erstdruck (Ea) zwei sogenannte Doppeldrucke (Eb,c)' aus, von denen wiederum einer gemeinsam mit dem Erstdruck ein Mischexemplar hervorruft.1 Im Falle Wieland hat der Erstdruck vier Doppeldrucke im Gefolge.2 Goethe: Ea E^^E° E2 Während bei dem Goethe-Text E 2 als Mischexemplar zwischen dem Originaldruck E a und dem Doppeldruck Eb nachgewiesen werden konnte, ergab im Falle Wieland die Textuntersuchung nur, daß es sich bei E x und Eb um Mischungen handeln müsse, wenn nicht ein bislang verborgenes Mittelglied Y angenommen werden sollte.3 Die Unsicherheit der Beurteilung ließ Seuffert hier zunächst drei Möglichkeiten ansetzen: 1.

Ea E^ N

E*

Ec

2.

/

Ea

3.

Ea Y

Ex

NEb I



Ex

Eb I

Ec

Gegenüber der Unsicherheit „abschriftlicher Uberlieferung" steht also nicht ohne weiteres die Sicherheit des autorisierten Textes. Die Autorisation ist, wie hier angedeutet werden sollte, äußerst vielschichtig. Juristisch gesehen — um das nur eben noch anzumerken—ist sie natürlich eindeutig. Der Verlagsvertrag wurde entweder für eine bestimmte Auflage abgeschlossen, oder er galt für einen bestimmten Zeitraum, innerhalb dessen der Verleger das zum Verlag erworbene Vgl. Waltraud Hagen. Die Gesamt- und Einzeldrucke von Goethes Werken. Akad. Ausg. Erg.Bd. 1, Berlin 1956, S. 74f. (dort als Di und D l a und D^ bezeichnet. 2 Bernhard Seuffert, Prolegomena VII (1927), S. 16ff. 3 Ich habe inzwischen einen fünften Doppeldruck ermitteln können, über den ich an anderer Stelle berichten werde. In unserem Zusammenhang ist nur soviel wichtig, daß er nicht mit Y identisch ist. 1

Neuere Literatur (Drucke)

19

Werk beliebig oft auflegen konnte. Daraus entstand die Freizügigkeit des Verlegers, die selbst einem autorisierten Druck „abschriftlichen Charakter" verleihen konnte. 1 Das trifft in hohem Maße für den Doppeldruck zu.

2.

Doppeldrucke

Das Problem ist schon vor der Jahrhundertwende erkannt worden. Wie es scheint, war Salomon Hirzel, der Leipziger Verleger, der erste, der die Sonderstellung dieser Drucke in seiner Goethe-Sammlung anzeigte 2 , während Gustav Dedering ihre Bedeutung für Fischarts NachtRab darstellte. 3 Auch MunckerPawel in ihrer Ausgabe der Klopstock-Oden wiesen auf die anstehenden Fragen hin/* Aber erst Gustav Milchsack versuchte, aus den verschiedenen Meinungen in einem grundlegenden Aufsatz 5 Klarheit zu gewinnen. Danach dürfte die Bezeichnung „Doppeldruck" im Hinblick auf das Verfahren der Inkunabelzeit, kleine Schriften (Flugblätter, Kaiende- u. ä.) von doppeltem oder vierfachem Satz abzuziehen, eingeführt worden sein. Dennoch lehnt Milchsack es ab, die Entstehung des Doppeldruckes, wie er sich vornehmlich vom 16.-18. Jahrhundert darstellt, 6 aus Bedingungen der Inkunabelzeit oder lediglich aus Korrekturabsichten zu erklären. Er verwirft auch, ihn mit Methoden spätmittelalterlicher HandschriftenFabriken gleichzusetzen. Für ihn steht es, nicht nur wegen des zeitgenössischen Setzerausdruckes „Männchen auf Männchen setzen", 7 fest, daß der Doppeldruck 1

2

3 4 5

6

7 2*

Uber die Beziehungen der Autoren zu ihren Verlegern liegen nur wenige f ü r die Textkritik wesentliche Arbeiten vor. Darüber vgl. die f ü r die Textgeschichte von Klopstocks Werken wichtige Arbeit von Ludwig Sickmann. Klopstock u n d seine Verleger Hemmerde und Bode. Börsenbl. f. d. D t . Buchhandel (Archiv f. Gesch. d. Buchwesens XXV), F r a n k f u r t a. Main, 17. J g . 29. 3. 1961 (Nr. 25a), S. 427-493. Neues Verzeichnis einer Goethe-Bibliothek 1761-1874, U874, 21884 (ed. Ludwig Hirzel), 31932 (R. Fink). Archiv f. Litteraturgesch. 6 (1877), S. 509ff. Hist.-krit. Ausgabe von F r a n z Muncker u. J a r o Pawel, S t u t t g a r t 1889. Doppeldrucke. Ein Beitrag zur Geschichte des Verlagsrechts. Centralbl. f. Bibl.wesen X I I I (1896), S. 538—567. M. h a t t e aus gleichem Anlaß über die ungeordneten Verlagsverhältnisse im 18. J a h r h u n d e r t in den „Erläuterungen und Beispielen" zu den Instruktionen f ü r die Wolfenbütteler Bibliothek geklagt und war von Robert Voigtländer deswegen angegriffen worden mit „Doppeldrucke und ihr U r s p r u n g " i n : Nachr. aus dem Buchh. u. den verwandten Geschäftszweigen. Leipzig 1896, Nr. 50, S. 428-430. F ü r die Ansicht Milchsacks, daß sich der Doppeldruck besonders aus dem Verhältnis zwischen Autor und Verleger erkläre, k a n n nicht unberücksichtigt bleiben, daß f ü r die Absicht, den Autor u m des eigenen Vorteils willen zu täuschen, beachtet werden muß, daß die Honorarfrage eine erhebliche Rolle spielt. Jedenfalls k a n n das f ü r die spätere Nachdruckszeit bewiesen werden. Vgl. S. 20 Anm. 4.

20

Probleme der Überlieferung

aus Mangel an urheberrechtlichen Bestimmungen entstanden ist. 1 Tatsächlich blüht der Doppeldruck in der Hauptsache in der sogenannten „Nachdruckzeit" (vgl. S. 22), so daß Verleger gelegentlich, wenn sie sich bei ihren heimlichen Auflagen ertappt fühlten, den Nachdruck für die Berechtigung ihres Vorgehens in Anspruch nahmen, sofern sie es nicht vorzogen, den harmlosen Ausdruck „Nachschuß"2 vorzuschützen. Nicht alle Autoren haben wie Weisse oder Bürger3 den Sachverhalt klar durchschaut, aber es hieße doch, die Autoren zu unterschätzen, wollte man glauben, daß sie von alledem nichts ahnten. Die Schwierigkeit liegt nur darin begründet, daß ein Doppeldruck sich rein äußerlich zunächst gar nicht vom Original unterscheidet. Nur beim genauen Vergleichen mit diesem kann man erkennen, daß er mit ihm nicht kongruent ist, weil entweder Lesarten zu verzeichnen sind oder Kopfleiste, Initiale, Vignette u. a. abweichen. Dabei sind besonders die Fehlerverbesserungen durch den Verleger zu beachten. Eines der wichtigsten Merkmale kann aus der Technik des Ausschließens4 gewonnen werden: danach sind die Spatien innerhalb einer Zeile — bei doppeltem Druck ein- und derselben Zeile — zwischen Buchstaben und Worten unterschiedlich, so daß eine Kongruenz nicht mehr herzustellen ist. Milchsack wies darauf hin, daß die Zahl der Doppeldrucke überaus hoch sei.5 Aber ihr Nachweis ist noch immer angesichts der textkritischen Bedeutung, die 1

Milchsack weist nach, daß selbst Heine vom Doppeldruck nicht verschont blieb. Er stellte für den Romanzero (Hamburg: Hoffmann u. Campe 1851) ein Exemplar fest. 2 Das Wort ist zweideutig. U m die Jahrhundertmitte bezeichnet es (ohne Neusatz) den einfachen Zuschuß über die festgesetzte Auflage hinaus. Gleichzeitig aber- ist darunter auch eine (neugesetzte) vom Verleger einseitig festgesetzte erhöhte Auflage zu verstehen. 3 Chn. Felix Weisse an Ramler 18. 5. 1787: „zu einer zwoten Auflage kömmt es nicht leicht, und geschähe es ja, so sind die Buchhändler solche etc., daß sie lieber heimlich nachschießen, als dem Verfasser davon etwas entdecken, weil sie fürchten, daß, wenn er ja das Werk wieder übergehen [bessern] wollte, sie ehrenthalber ihm etwas für seine Mühe anbieten müßten." Horrigs Archiv 82 (1889), S. 41 f. Hieraus können sich auch scheinbare Autorvarianten erklären: der Verleger läßt selbst bessern! — Bürger schreibt seinem Verleger Dieterich am 7. 4. 1791, nachdem dieser Doppeldrucke geleugnet h a t : wenn Dieterich sage, daß es ein Nachschuß auf schlechtem [lies: schlichtem] Papier zur Niederschlagung des Nachdrucks (vgl. S. 22 ff.) gewesen sei, so könne er durch die Druckfehler die Wahrheit dartun. Vgl. Strodtmann, Briefe von und an Bürger, Berlin 1874, IV, S. 114f., vgl. auch Milchsack, S. öööff. 4 Die Unregelmäßigkeit des Zeilenendes wurde dadurch ausgeglichen, daß man mit Hilfe von Bleiemsätzen Spatien verschiedener Größe sohuf, die es ermöglichten, daß der R a n d aller Zeilenenden gerade wurde. Beim Neusatz war nun meist aus Materialgründen für diesen Fall eine Kongruenz kaum möglich. Wenn aber das äußere Bild gewahrt werden sollte, mußte Männchen auf Männchen gesetzt werden, d. h. der vertikale oder diagonale Schnitt durch den Satzspiegel mußte alle Buchstaben an der gleichen Stelle wie beim Urtext finden. 5 Aus seinen Sammlungen hat er nur wenige Beispiele gegeben.

Neuere Literatur (Drucke)

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ihnen zukommt, völlig ungenügend.1 Erst William Kurrelmeyer hat, durch seine Wieland-Arbeiten veranlaßt, für Wieland und für andere Klassiker2 eine größere Anzahl nachgewiesen. Als Vorarbeit für die akademische Goethe-Ausgabe hat Waltraud Hagen alles für Goethe zu Ermittelnde zusammengefaßt und durch eigene Forschung ergänzt.3 Im allgemeinen wird man sich an die schon von Kurrelmeyer festgelegten Grundtypen von Doppeldrucken halten können: a) Preßkorrektur: Es ist im allgemeinen ein und derselbe Satz. Der spätere hat den korrekteren Text (möglicherweise mit Autorvarianten!). Nach Zahl der korrigierten Bogen gibt es verschiedene Gattungen von (Misch)-Exemplaren, z. B. Goethes Werke, 1808, Bd. 11 (Werther).« b) Bogen-Neusatz: Es ist genaue Untersuchung erforderlich, ob die neugesetzten einzelnen Bogen den korrekteren Text (autorisierten Text) bieten; nach Kurrelmeyer in der Mehrzahl der Fälle nicht. Beispiel: Kurrelmeyer benennt hier noch die Doppeldrucke des Kalenders auf das Jahr 1802. Bei Unger (Jungfrau von Orleans).5 c) Neusatz (verlagseigener identischer Nachdruck): Selten ist dieser Typus autorisiert, der erste Druck hat zumeist den besseren Text. Beispiel: die Mehrzahl aller Wieland-Doppeldrucke. Aber auch hier sind Ausnahmen nicht ausgeschlossen: der Druck der Clb-8°Ausgabe hat wahrscheinlich Autorvarianten. d) Neudruck unter Beibehaltung des alten Titelblattes: Durch die erforderlich gewordene neue Satzverteilung (vgl. Ausschließen!) ist die Seitenzählung geändert. Daher ist dieser Typus sofort zu erkennen. Beispiel: Doppeldruck des 2. Bandes von Klopstock. Messias, Halle 1756. e) Neudruck mit verändertem Datum: Er ist sonst wie der Originaldruck eingerichtet, nur hat er neues Datum. Da das Titelblatt leicht au sgewechselt werden kann, ist das ein unsicheres Kriterium. Beispiel: gleicher Satz des Doppeldruckes a 1 von Schiller. Jungfrau von Orleans 1802, wie in F mit Datum 1804.6 1 2

3

4 5 6

Eine Spezialbibliographie wäre für diese Kategorie ebenso erwünscht wie für Nachdrucke. Vgl. Die Doppeldrucke in ihrer Bedeutung für die Textgeschichte von Wielands Werken. AbhPrAk 7, Berlin 1913; über seine weitere Arbeit am Problem vgl. E. Albrecht, Bibliography of William Kurrelmeyer. In: Modern Language Notes LXVIII (1953), S. 291-299. Vgl. dort auch Taylor Starck, Goethean. Doppeldrucke, S. 309-311. Die Gesamt- und Einzeldrucke von Goethes Werken. Akad. Ausg. Erg.-Bd. 1, 1956; vgl. jetzt auch Goethe-Handbuch 2 1960, ed. A. Zastrau, Sp. 1993-2062: Ernst Grumach und Waltraud Hagen, Editionen. Vgl. Hagen, Akad. Ausg., Erg. - Bd. 1, S. 23. Vgl. jetzt Schiller-Nat. Ausg., Bd. 9. Hsg. von Benno von Wiese u. Lieselotte Blumenthal, Weimar 1948, S. 405 ff. Vgl. Anm. 5. Alle Beispiele sind von Kurrelmeyer übernommen. Zu bemerken ist, daß bei der Typologisierung, von Kurrelmeyer ausgehend, Verdeutlichung erstrebt wurde.

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Probleme der Überlieferung

Die von Kurrelmeyer festgelegten Unterschiede zeigen schon die mit dem Problem der Doppeldrucke verknüpften verwickelten Fragen an. Was daher auch immer die Beweggründe im einzelnen für ihre Existenz gewesen sein mögen, man wird sich hüten müssen, allzusehr nur den Typ c, wenn er gleich unter allen der wesentlichste ist, herauszustellen. Es geht auch nicht an, den Doppeldruck schlechthin als Nachschußauflage zu definieren. 1 Eher schon wird für diesen Typ die hier gebrauchte Bezeichnung „verlagseigener identischer Nachdruck" zutreffend sein. Will man den Fragenkreis ganz allgemein umreißen, so darf an folgende Definition erinnert werden: Ein Doppeldruck ist der eigene (berechtigte oder unberechtigte) Nachdruck eines Werkes bzw. von Bänden oder Teilen eines Werkes durch den vom Verfasser autorisierten Verlag. Für den Charakter des Doppeldruckes ist es entscheidend, daß der Doppeldruck nicht mehr vom Satz des Originaldruckes des betreffenden Werkes stammt, aber mit ihm sonst in allen wesentlichen Merkmalen (Titelblatt, Verlag, Erscheinungsort und -jähr usw.) übereinstimmt. 2 Die besondere textkritische Bedeutung des Doppeldruckes ist darin zu sehen, daß auch der Autor nicht immer dessen Fehler erkennt, daß er ihn vielmehr zur Textgrundlage für eine verbesserte Auflage erhebt und daß sich damit die nicht erkannten korrupten Stellen in die neue Edition oder die neuen Ausgaben fortschleppen. Die Zahl dieser Fehler ist Legion. 3. Nachdrucke Sie sind nicht immer sogleich zu erkennen, besonders wenn der Nachdrucker auch das Titelblatt des autorisierten Verlegers „raubt". So ist es beispielsweise noch völlig ungeklärt, ob von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers", Leipzig: Göschen 1787, ein abweichendes Exemplar mit gleichem Titelblatt (aber ohne Vignetten und Kupfer) und gleicher Seitenzahl, aber mit veränderter Bogennorm, ein verlagsfremder Nachdruck ist. 3 Diese „Textmaskierung" erklärt sich aus der 1

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3

Vgl. etwa Fr. Beißner, der sich noch eng an Milchsack anschließt: „Poesie des Stils". In: Wieland. Vier Biberacher Vorträge, Wiesbaden 1954, S. 8ff. Ders., Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat zu Werken neuerer Dichter. In: Orbis Litterarum, Suppl. 2 (1958), S. 8, Anm. Verlagseigene Angaben deuten zuweilen auf beträchtliche Zwischenzeiten hin, die sich von der Datierung, die auf dem Titelblatt angegeben ist, bis zur Herstellungszeit über Jahrzehnte erstrecken können, wie etwa spätere „verlagseigene identische Nachdrucke" von Goethes „Egmont" 1788, vgl. Göschen-Katalog (s. u. Anm. 3), S. 19, zeigen. W. Hagen, a. a. O., S. 92f., kann nach Deneke noch einen weiteren zufügen. Nach dem Göschen-Katalog ließen sich die beiden aber unschwer als Doppeldrucke nach Typus d verstehen. H. W. Seiffert, Edition. In: Merker-Stammler 21958, S. 313. Vgl. jetzt auch Sickmann, a. a. O., S. 428. Vgl. W. Hagen, a. a. O., S. 81 D 3 b , die den Druck (nach Seuffert und Deneke) als Nachdruck einreiht, während sich nach Verlags-Katalog der G. J. Göschenschen Verlagshandlung in Leipzig 1785—1901, bearb. von Heinr. Klenz, Leipzig 1902,

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besonderen Situation der Nachdruckzeit. Die Lage des Buchhandels, vornehmlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, läßt den Nachdruck in ähnlicher Weise typisch werden wie den Doppeldruck. Es waren hier wie dort unausgebildete Rechtsnormen, Konkurrenzkampf der Verleger, die das Aufkommen des Nachdruckes begünstigten. Die Zersplitterung des alten Reiches, die vielerlei Privilegien möglich machte, trug ein weiteres hinzu. Aber auch die noch verhältnismäßig kleinen Auflagen der rechtmäßigen Verleger, die das Begehren weiter Kreise nach Aufklärung allein nicht befriedigen konnten, ließen Handlungen modern anmutenden kapitalistischen Gepräges entstehen. Stand in Leipzig an erster Stelle der Weidmannsche Verlag unter Philipp Erasmus Reich, so war es in Österreich, mit kaiserlichen Privilegien versehen, der Hofbuchhändler Johann Thomas von Trattner. Er war den mitteldeutschen Verlegern ein gefährlicher Konkurrent, der schon 1755 einen Großbetrieb mit fünfzehn Pressen und einem Personalstand von über hundert Beschäftigten leitete. 1 Er war es auch, der das Nachdruckgeschäft in der Mitte des Jahrhunderts entscheidend beeinflußte. Die wesentliche Frage, um die es dabei ging, war die Monopolisierung des Buchhandels, wie sie etwa seitens der mitteldeutschen Verleger drohte. Die Nachdrucker wollten dem entgegenwirken und unterboten mit ihren Nachdrucken die Preise der autorisierten Verleger.2 Ihre Preise wirkten als Regulativ. Sie haben gerade — nolens volens — aus diesem Grunde entscheidend zur Verbreitung aufklärerischen Denkens beigetragen. Aus der übergroßen Zahl von Nachdruckern seien einige der wesentlichsten genannt, um eine andeutungsweise Vorstellung von den Verhältnissen zu vermitteln. Der von Trattner initiierten Sozietät, die einen großen Teil des alten Reichsbuchhandels umfaßte, schlössen sich, zum Teil vorübergehend, an: Joh. Benedikt Metzler, Stuttgart, Chn. Mevius Erben, Gotha, Joh. Heinrich Heidegger, Zürich, Stahel, Würzburg, Gg. Erdmann Hechtel, jun., Gotha, David Iversen, Altona, Aug. Leberecht, Stettin, Ulm, Bartholomäi, Ulm, Carl Felßecker, Nürnberg, Georg Gottl. Horn, Breslau, Chn. Heinr. Cuno, Jena, u. a. In Basel war schon in der Frühzeit (bis etwa 1741) Joh. Brandmüller berüchtigt. In Sachsen hatten sich die Holländer Arkstee und Merkus unbeliebt gemacht,

1

2

S. 20, die Frage ergibt, ob es sich nicht doch um einen (sehr viel später ausgegebenen) Doppeldruck vom Typus c handelt. Mir stand zur Nachprüfung leider kein Exemplar zur Verfügung. Vgl. Ursula Giese, Joh. Thomas Edler von Trattner. Archiv f. Gesch. des Buchwesens X X I I I (Beilage des Börsenblattes, 16. Jg. 101a), Frankfurt a. M. 1960. Vgl. zu den angeschnittenen Fragen das noch immer grundlegende Werk von Johann Goldfriedrich, Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Beginn der klassischen Literaturperiode bis zum Beginn der Fremdherrschaft (1740—1804). Dritter Band. Leipzig 1909.

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Probleme der Uberlieferung

obgleich es in Leipzig nicht als „böser Nachdruck" angesehen wurde, wenn man fremdsprachige Literatur, die nicht zur Messe kam, nachdruckte. Diese Gepflogenheit, die vielfach abgewandelt, bald als Grundsatz innerhalb jedes ,,Privilegbereiches'' angesehen wurde, machten sich weitere Nachdrucker zu eigen, von denen genannt seien: Joachim Pauli, Berlin („Privileg" für Geliert), Franz Varrentrapp, Frankfurt am Main, Franz Josef Eckebrecht, Heilbronn, Tobias Göbhardt, Bamberg. Die bedeutendsten „Naehdruckfabriken" waren: a) Chn. Gottlieb Schmieder, Karlsruhe (nach ihm wurden die Nachdrucker „Schmieder", ihre Produktionsstätte die „Schmiederei" und ihre Tätigkeit „schmiedern" genannt), b) Fleischhauer in Reutlingen stand ihm nicht nach, zeitweise fand er sich mit Schramm und Franke in Tübingen zu gemeinsamem Nachdruck zusammen, c) Joh. Baptist Wallishäuser in Wien. Wie umfangreich der Nachdruckverlag werden konnte1, mag wiederum an den Beispielen Wieland und Goethe verdeutlicht werden: a) Wielands Shakespeare-Übersetzung (1762ff.) wurde allein 1777 nachgedruckt 1. von Schmieder, 2. von Fleischhauer, 3. von weiteren, bisher nicht genannten: a) Bender in Worms, ß) Joh. Friedr. Abshoven und Erben, Rommerskirchen, y) Becke und Klein in Mannheim (Hsg. der Auslese schöner Geister). b) Von Goethes Schriften, die 1787—1790 autorisiert bei Georg Joachim Göschen in Leipzig erschienen, hatten die Nachdrucker auf Grund der Einzelausgaben Voraus-Gesamtdrucke veranstaltet, so daß Goethes Werke zuerst als Nachdrucke statt in Originalausgaben vorliegen.2 Unter den zehn verschiedenen Ausgaben, an denen alle bedeutenden Nachdrucker teilhatten (darunter die bisher ungenannte Heilmannsche Buchhandlung in Biel, und Beat Ludwig Waithard, Bern ¡Amsterdam:), befand sich auch der berüchtigte Berliner Nachdruck von Chn. Friedr. Himburg, der für den „Werther" so überaus verhängnisvolle Folgen haben sollte.3 Die verwirrenden Verhältnisse zeigt Göschens Drohung am Schlüsse des Subscriptions-Verzeichnisses der ersten Goethe-Gesamtausgabe (1787ff.) recht anGoedeke, Bd. I V , gibt eine reiche Zahl, wenn er auch bei weitem nicht den wirklichen Umfang aller in der genannten Zeit verbreiteten Drucke erreicht. 2 Vgl. Hagen, a. a. O. 3 Hierüber und überhaupt über die Goethesche Textkritik noch heute grundlegend: Michael Bernays. Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866. 1

Neuere Literatur (Drucke)

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schaulich, als er den Nachdruckern wohlüberlegte Maßregeln ankündigt. Es handelte sich um den Plan „eines eigenen Nachdrucks, den er, auf billigeres Papier gedruckt und bei gleichem Inhalt in vier Bänden zusammengefaßt, so wohlfeil auf den Markt werfen konnte, daß die Nachdrucker für die nächsten zehn Jahre die Finger von diesem Verlagsobjekt ließen". Erst 1801 erschien dann wieder ein Mannheimer Nachdruck, der so erfolgreich war, daß er noch im gleichen Jahr erneut aufgelegt wurde. 1 Noch komplizierter ist der „Musarion-Streit", den Wieland mit Reich ausfocht.2 1768 war bei Weidmanns Erben und Reich die erste Ausgabe herausgekommen, ohne besonderen Kontrakt war 1769 schon die zweite Auflage (nicht Ausgabe!), mit einem Brief Wielands an Weisse vermehrt, erschienen. Eine dritte, unveränderte Auflage wurde dann nach Bertuchs und Düntzers Mitteilung 1770 ausgegeben. 3 Wieland hatte im Sinne, eine neubearbeitete Ausgabe in seinen „Auserlesenen Gedichten" bei Mauke in Jena zu publizieren (sie erschienen 1784). Reich erhob Einspruch und behauptete, Wieland habe die Musarion nachgedruckt, so daß nunmehr er, Reich, berechtigt wäre, seinerseits die gesamten Gedichte nachzudrucken. 4 So aber sah die Textgeschichte der „Musarion" tatsächlich aus: 1. Ei (1768) 2. E2 (1769) — 5 Doppeldrucke (bei Weidmanns Erben und Reich!) 3. E 3 (1770) - N : Heilmannsche Buchhandlg., Biel (nach Goed. noch 8 weitere Nachdrucke) 4. B5 (1784)

5. 6. 7. 8. 9. 10.

B6 (1789) C1 1 C2 3 • (1795) C C4 E 4 (1799)

Das Werk dürfte also (zu Lebzeiten des Dichters!) wenigstens 27mal aufgelegt sein, was eine Gesamtauflage von wenigstens 27000 annehmen läßt. 5 Für die 1 Vgl. Eine „Nachricht" zur ersten Goethe-Gesamtausgabe. In: Katalog Gerd Rosen. Auktion XXXV, Teil III, S. XVff. 2 Bertuch an Reich, 14. 7. 1784, Hs.: Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. 3 Seuffert, Prolegomena V, S. 161, der die Ausgabe nicht kennt, darf nach dem Bertuchschen Briefe bestätigt werden: „Wenn die 3te Auflage, die Sie davon machten, noch nicht ganz verkauft ist. . ." 4 Das hatte er ohnehin bereits getan, wie schon Milchsack, a. a. O., nachweist. 5 Dabei sind natürlich die Übersetzungen und deren evtl. Nachdrucke (ermittelt: 26 zeitgenössische Übersetzungen) nicht inbegriffen. Für die Wirkungs- und Bil-

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Probleme der Überlieferung

Darstellung der Textgeschichte können alle Nach- und Doppeldrucke sowie sicher E 3- 4 eliminiert werden. E 3 war ein verlagseigener Nachdruck, E 4 desgleichen als Entgegnung auf die bei Göschen erschienenen C-Ausgaben. Es war also durchaus berechtigt, wenn Bertuch Wieland gegen die Nachdrucke des Verlages Weidmann in Schutz nahm. Aus diesen Vorgefechten, die in doppelter Richtung gingen: einmal gegen den eigenen, dann gegen den fremden Verlag, entwickelten sich allmählich feste vertragliche Bindungen zwischen Autor und Verleger, die endlich das Nachdruckgeschäft beendeten. In beiden Richtungen hat Wieland als einer der ersten bedeutend für rechtliche Fixierungen gewirkt. Seine Züchtigungen der Nachdrucker gehören zu den bedeutenden Leistungen der Satire im 18. Jahrhundert. 1 Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich die Feststellung, daß es wesentlich ist, a) die Frage zu beantworten, ob ein Druck autorisiert ist oder nicht; die Klärung der verlagsrechtlichen Seite genügt offenbar nicht. b) zu beachten, daß 1. ein verlagsfremder, 2. ein verlagseigener (vgl. Doppeldrucke), 3. ein verlagsfremder, aber autorisierter, Nachdruck vorliegen können. Wenn im allgemeinen Nachdrucke aus der Überlieferurig eliminiert werden können, so sind doch unter den genannten Bedingungen für die Kritik einzelne, und zwar aus folgenden Gründen wesentlich: a) Ähnlich wie die Doppeldrucke können sie Textvorlage für die Weiterbearbeitung der Dichtung sein. 2 Auch hier hieße es allerdings den Verfasser unterschätzen, wenn man ihm angesichts der dargelegten Bestrebungen unterstellen will, daß er den Nachdruck nicht vom echten Drucke hätte unterscheiden können. Das mag nur dann ausnahmsweise zutreffen, wenn der Nachdrucker so weit ging, daß er sogar die Verlagsangabe mit übernahm. 3 b) Im allgemeinen aber sind Nachdrucke des öfteren als „Quasi-Manuscript", wie es Wieland einmal benennt 4 und wie er es selbst benutzt hat 5 , als Druckvorlage zu einer verbesserten Auflage verwendet worden. Dieser Gebrauch läßt sich leicht erklären, wenn man bedenkt, daß Nachdrucke billiger und weniger schnell vergriffen waren. dungsgeschichte würde eine vergleichende Bibliographie der deutschen Klassik von großer Bedeutung sein. 1 Schreiben eines Nachdruckers an den Herausgeber des Teutschen Merkurs, Akad. Ausg., Bd. 22 (1954), S. 199-214. 2 Schon Karl Lachmann hat die textkritische Bedeutung der Nachdrucke erkannt, vgl. Kleinere Schriften I, Berlin 1876, S. 552. 3 Vgl. Anm. 3, S. 22. 4 Vgl. Seuffert, Prolegomena I, S. 24. 5 Im Falle der Komischen Erzählungen benutzte er als Druckvorlage einen Fleischhauerschen Nachdruck.

Neuere Literatur (Phono-Aufnahmen)

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c) Zum Problem der Fehlerverschleppung durch Nachdrucke ist zu bemerken, daß es Fehler, die für den Nachdruck besonders typisch sind, nicht gibt. 1 Wie noch zu zeigen ist (vgl. S. 51 ff.), gibt es überhaupt nur bestimmte Fehler, die allen Setzern eigentümlich sind. Man kann nur von gut setzenden oder schlecht setzenden Druckern sprechen. Es ist für die Nachdruckfirmen eben nicht typisch, daß sie besonders fehlerhaft oder besonders nachlässig arbeiten, auch wenn es ausnahmsweise vorkommt. d) Es dürfte sich empfehlen, den „verlagseigenen Nachdruck", wie wir schon angemerkt haben (vgl. S. 22), eher in die Nähe der Doppeldrucke, die wir als verlagseigene identische Nachdrucke bezeichneten, zu rücken und ihn textkritisch entsprechend zu bewerten. 2 e) Der Begriff des Nachdruckes sollte grundsätzlich mit der Bewertung der NichtAutorisation eines Verlages verbunden bleiben. 4. Titelauflagen

(Titelausgaben)

Ein anderer Typus verdient gleichfalls Beachtung. Es handelt sich um die Titelauflage, die gelegentlich auch als Titelausgabe bezeichnet wird. Sie könnte als das Gegenstück zum Doppeldruck bezeichnet werden; soll bei diesem der Eindruck erweckt werden, als ob es sich (unter den für ihn eigenen Bedingungen) z. B. um die editio princeps handele, so geht es bei der Titelausgabe um genau das Gegenteil: Restbestände einer unveränderten Ausgabe werden mit einem neuen Titelblatt versehen, um z. B. die zweite Auflage (Ausgabe) vorzutäuschen. Bei der Untersuchung der Überlieferung wird sich der Sachverhalt bald herausstellen und nach dem eindeutigen Befund können Textzeugen dieser Art eliminiert werden.

D. Neuere Literatur (Phono-Aufnahmen) Durch Vervollkommnung technischer Möglichkeiten hat der Autor die Möglichkeit, eigene Werke selbst zu sprechen und diesen Vortrag ebenso wie Handschriften und Drucke der Nachwelt zu überliefern durch a) Schallplatte oder durch b) Tonband-Aufnahme. Man wird bei allen diesen Aufnahmen grundsätzlich zu berücksichtigen haben, daß sie jeweils für einen bestimmten Vortrag „zugeschnitten" sind. Gleichwohl 1

2

Siegfried Scheibe glaubt in seiner Untersuchung „Zur Textgeschichte von Hermann und Dorothea", in: Beiträge zur Goetheforschung, hsg. von Ernst Grumach, Berlin 1959, S. 248, die in D l a gefundenen Druckfehler als „typische NachdruckFehler" bezeiphnen zu müssen. Verlage selbst bezeichnen diese Drucke gelegentlich in ihren Katalogen als unveränderte Neudrucke.

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Probleme der Überlieferung

können sie von großer Bedeutung sein, wenn mit ihrer Hilfe Überlieferungslücken oder wesentliche Varianten erkennbar werden. 1 Für die Forschung sind die sich hier ergebenden Möglichkeiten noch nicht ausgenutzt. Es wäre wünschenswert, daß durch diese neuartigen „Textzeugen" das von E. Sievers begründete „schallanalytische Verfahren" erneuert würde. 2

E. Mittelalterliche Überlieferung 1. Allgemeines Während die Werke der neueren Literatur in vielfacher Abstufung des Charakters der Autorisation tradiert sind, scheint, dem ersten Eindruck nach, die Frage der Überlieferung mittelalterlicher Handschriften sehr vereinfacht. Die Autorisation wird auch hier notwendig immer eine wichtige Rolle spielen müssen, nur ist sie meist verdeckt, die Überlieferung häufig maskiert, so daß die Frage nach der Entstehung in diesem Falle nicht ohne weiteres in modernem Sinne genetisch (vgl. S. 141 ff.) verstanden werden darf. Von der genealogischen Methode (vgl. S. 119ff.)ist der „abschriftlicher Tradition" eigene Sachverhalt so verstanden worden, daß die Originalfassung zu erschließen sei (Archetypus!). Die Vielzahl der Möglichkeiten bei der Überlieferung neuerer Literatur sollte vorsichtig machen, und die Frage sollte daher eher so gestellt werden: welche Beziehung hat — bei apographen Texten — der Autor zu dieser wahrscheinlich nichtautorisierten Überlieferung oder welche Autornähe kann sie beanspruchen? Zweckmäßigerweise wird man sich vergegenwärtigen, daß man, wie es in der Forschung der Gegenwart auch geschieht, verschiedene Ansatzpunkte der Tradition zu berücksichtigen hat. 2. Die

Erzählertradition

Unter den neueren Abhandlungen sind besonders die Arbeiten beachtenswert, die anhand moderner Phono-Aufzeichnungen zu neuen Erkenntnissen über mündliche und schriftliche Überlieferung von Heldendichtung gelangen.3 Welche 1

2

3

Es mag darauf hingewiesen werden, daß die Deutsehe Bücherei Leipzig erstmalig eine periodische Phono-Bibliographie unter dein Titel: „Das gesprochene Wort" veröffentlicht, die den Zugang auch zu diesen Zeugnissen ermöglicht. Vgl. Theodor Frings, Eduard Sievers. In: VerhSächsAk Bd. 85, H. 1, Leipzig 1933. Auf "die Darstellung der Methode ist hier verzichtet worden, weil es nötig erscheint, die Ergebnisse der modernen Phonetik und der ihr zur Verfügung stehenden technischen Mittel in die Darlegung einzubeziehen. Es kann aber nicht bezweifelt werden, daß neue Untersuchungen nützlich sein könnten. Maurice Bowra, Heroic Poetry. London 1952. Albin Lesky, Die Homerforschung in der Gegenwart. Wien 1952. Ders., Mündlichkeit und Schriftlichkeit im home-

Mittelalterliche Uberlieferung

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Bedeutung das haben kann, wird erkennbar, wenn man sich vor Augen hält, wie beispielsweise die Ansichten über die Überlieferung des Hildebrandliedes hin und her gehen. Wenn es heute auch feststeht, daß es sich bei der überlieferten Handschrift um eine Abschrift handelt, so ist es auch offensichtlich, daß mündliche Tradition allenthalben durchschimmert. Ein bestimmter Formel- und Anschauungskreis sowie ein bestimmter Motivgebrauch, der dem Volkssängertum eigen ist, lassen es als altes Skopflied der Frühzeit erkennen. Schon der Beginn: „Ik gihorta dat seggen" ist volkstümlich. Die angedeutete Problematik ist auch den sogenannten Spielmannsepen, den letzten Nachkommen 1 ausklingender mündlicher Überlieferung eigen, die freilich von dieser Tradition nur noch zehren, weil sie inzwischen selbst fest, d. h. literarisch geworden sind. . Wesentlich für unsere Darstellung ist es, daß sich aus den von uns benannten Untersuchungen gewisse Folgerungen ergeben, die allgemein anwendbar sind und daher auch bei solchen „fest" gewordenen Stücken Kriterien liefern können. a) Bei allen epischen Gattungen dieser Art ist der Text nicht erstarrt, sondern natürlicherweise variant; für seine Überlieferung lassen sich gewisse Grundgesetze aufstellen, die generell, d. h. bei allen Literaturen gleichermaßen gelten können, wie die Forschungen ergeben haben: 1. Der Vortrag dieser Lieder-„Dichtung" erfolgt frei, nach gewissen „Stichworten". 2. Diese „Stichworte" können bereits aus einem festgewordenen formelhaften Gut schöpfen. 3. Zur Grundposition dieses „formelhaften Gutes" können aber auch ganz bestimmte metrische Voraussetzungen oder allgemeiner bestimmte Vorstellungen über die Gestaltung des Verses gehören, der dann vom Sänger zu füllen ist. 4. Eine wörtliche Wiederholung mündlicher Überlieferung findet in den seltensten Fällen statt. b) Bei der Niederschrift, deren Gründe verschiedener Art sein können, wird nicht ein einheitliches Ganzes, sondern eine bestimmte Phase der mündlichen Überlieferung (vgl. Volkslied), deren Kern zumeist konstant ist, herausgehoben. 3. Die Tradition durch „freie

Nachschrift"

Man wird sich der Situation am ehesten bewußt, wenn man sich das Entstehen der „freien Nachschrift", d. h. der „Nacherzählung" vergegenwärtigt. Sie kann (methodisch gesehen) als eine gewisse Weiterführung des Prozesses zu einer getreuen Niederschrift hin gelten. Wenn man von einer Schreibergemeinschaft ausrischen Epos. In: Festschrift für Dietrich Kralik. Wien 1954 (zitiert auch bei Gerhard Eis, Von der verlorenen altdeutschen Dichtung. Erwägungen und Schätzungen. In: GRM, N.F. VI [1956], S. 175-189). 1 Als Travestie der alten Gattving darf der Bänkelgesang, der sich noch in unsere Zeit herüberrettete, angesehen werden.

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Probleme der Überlieferung

gehen will, so ist das Beispiel eines Vortrages und seiner freien Nachschrift durch eine Hörergemeinde besonders wesentlich, weil sich die so entstandene Nachschrift je nach Bildungsgrad und Individualität des einzelnen Nachschreibers besonders unterscheiden läßt.

4. Die Tradition

durch

Auftrag

Um sich die Situation zu verdeutlichen, die bei einer Auftragserteilung vorliegt muß man nur einen Schritt vom letztgenannten Vorgang zurückgehen. Zugrunde gelegt wird für ein Diktat oder eine getreue Nachschrift ein ganz bestimmter Text, der von einem Schreiber oder einer Schreibergemeinschaft getreu wiederzugeben ist. Am Beispiel eines Klassendiktats wird das Problem deutlich: Inwieweit weicht das durch den Lehrer gebotene Original von der Nachschrift seiner Schüler ab ? Ähnlich wie die „freie Nachschrift" differenzieren sich die einzelnen Niederschriften je nach Intelligenz der Schreiber, nur: die Willkür der Gestaltung weicht hier dem Diktat, dessen exakte Wiedergabe gestört wird durch die Fehlleistungen seiner Schreiber (vgl. S. 51 f.). Um nicht mißverstanden zu werden: das „Klassendiktat" steht als ein Beispiel! Natürlich steht auch im Mittelalter neben dem Diktat die Abschrift ebenso wie im neueren Bereich. Aber mit einem bedeutungsvollen Unterschied: eine Autorisation ist hier nur im Ausnahmefall gegeben. Sonst bleibt es der Forschung aufgegeben, aus der Tradition, wenn möglich, den autorisierten Text herauszuheben.

5. Voraussetzungen

der

Niederschrift

Wie es mit dieser Überlieferung im allgemeinen beschaffen ist, hat Gerhard Eis in dem S. 29 zitierten Aufsatz interessant, wenn auch zu Widerspruch reizend, theoretisch zu erklären versucht. Er schließt kritisch an Walter Muschg 1 an, der den Untergang von Kunstwerken nicht als Ausnahme, sondern als Regel betrachtet: „Auf ein Werk, das noch da ist, kommen tausend verlorene" [sie!]. Gegen diese verschwommene Vorstellung führt Eis den kriminologischen Begriff der Dunkelziffer ein, die sich aus der Proportion des Kontrollierbaren zum Unkontrollierbaren ergibt. Am Beispiel des „Missale Passaviense", an dem man die ungefähre Auflagenhöhe einigermaßen sicher feststellen kann (ca. 1800), ergibt sich aus der Zahl der noch erhaltenen Exemplare (12) die Proportion 150: 1. Da ein gleiches Verhältnis auch für Inkunabeln zutreffe, wenn man eine Auflagenhöhe von 300—450 Stück annehme und nach dem GesKatdWiegDr durchschnittlich 2—3 Exemplare erhalten sind, so könne man für gleichartige Verhältnisse die Dunkelziffer 150 ansetzen. Nach dieser Proportion vermutet Eis auf Grund der erhaltenen Manuskripte: 1

Walter Muschg, Tragische Literaturgeschichte, Bern 1948, S. 452.

Mittelalterliche Überlieferung

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für Wolframs Parzival 13000 Auflage für Nibelungen 5-6000 für Hartmann Armer Heinrich 600 „ etc. Es ist müßig, in ein Streitgespräch über die Richtigkeit der Zahlen einzutreten; sie haben etwas Faszinierendes, aber sie können gar nicht stimmen. Man braucht nicht von der Höhe der Auflagen moderner Dichtung auszugehen, man braucht sich nur die Schicht der für Dichtung interessierten Gebildeten des 12.—15. Jahrhunderts ungefähr vorzustellen, um vorsichtiger zu sein. Aber im Prinzip ist die These beachtenswert. Immerhin muß bedacht werden, daß wir für das 15. Jahrhundert aus der Schreiberwerkstatt des Diebold Lauber aus Hagenau 50 Handschriften überliefert haben und daß in zwei Verlagsverzeichnissen u. a. genannt sind: Parzival, Willehalm, Tristram, Wigalois. Der Band, der dieses Verlagsverzeichnis enthält 1 , ist vom Dezember 1447 datiert, das könnte also bedeuten, daß die angebotenen Handschriften in der ersten Hälfte, wenn nicht gar im ersten Drittel des Jahrhunderts geschrieben sind, d. h., daß seit dem Privileg des Kurfürsten Ruprecht I. für die Heidelberger Universität aus dem Jahre 1386 nur wenige Jahrzehnte vergangen waren. Was das für unseren Zusammenhang aussagt, mag aus dem Privileg selbst ersichtlich sein: Et quia in universitate Parisiensi, studii singuli servientes eiusdem singulis privilegiis gaudent, quibus magistri et scolares iUius privilegiati sunt: dicto studio nostro in Heidelberg iniciando ampliore favore concedimus per praesentes, ut universi servientes sui, videlicet bedelli, librarii, stationarii, pergamenarii, scriptores, illuminatores et alii famulantes eidem, omnes et singuli, eisdem privilegiis, franchisiis, immunitatibus et libertatibus gaudeant in ipso sine fraude, quibus magistri et scolares eiusdem per nos existunt pro nunc, vel etiam postea erunt privilegiati. 2 Zur Herstellung von Fachliteratur ist also das gesamte Buchgewerbe durch das kurfürstliche Privileg geschützt. Heidelberg kann dabei stellvertretend für die Gesamtentwicklung der Renaissancebewegung im abendländischen Raum gelten, wie schon der Hinweis auf Paris zeigt. Interessant ist die Bezeugung dieses Buchgewerbes, das sich seit dem 12. Jahrhundert zunehmend an den Universitäten als Stationariat herausbildet und damit nach jahrhundertelanger Verlegung des Buchhandwerkes in die klösterlichen Scriptorien wieder an antike Verhältnisse anknüpft, deren letzter Nachweis etwa durch eine Subscription aus R[avenna?] im Orosius der Laurenziana vertreten wird: Confectus codex in statione Viliaric antiquarii. 3 In dieser Zwischenzeit, in der die abendländische Kultur ihren christlichen Akzent erhielt, bildeten sich in den Scriptorien große Schreibergemeinschaften 1

Vgl. Friedrich Wilken, Geschichte der Bildung, Beraubung und Vernichtung der alten Heidelbergischen Büchersammlungen, Heidelberg 1817, S. 406. 2 Ebenda, S. 6ff. 3 Vgl. Bernhard Bischoff, Paläographie. In: Deutsche Philologie im Aufriß, Bd. I, ^Berlin 1957, Sp. 379ff.

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Probleme der Überlieferung

heraus, die nach dem Prinzip der Arbeitsteilung vorgingen. Nach gleichem Grundsatz arbeiteten auch wieder die großen „wissenschaftlichen Verlage" der Spätzeit. Für diese Gemeinschaften (die schon in der Antike bezeugt sind) 1 dürfen folgende Arbeitsmethoden angenommen werden: Das abzuschreibende Werk wird in Lagen (Normalfall: zwei Doppelblätter: peciae) aufgelöst. Dann schreiben a) nach Diktat alle Schreiber je nach Auflagenhöhe jede Lage gesondert, oder: b) jeder schreibt eine bestimmte Anzahl vön Pecien ab. 2 Bei allen diesen Gemeinschaftsarbeiten ist die Feststellung verschiedener Hände in einer Handschrift ein nicht immer leichtes Unterfangen. 3 .Die Trennung der Schreiber ist aber ein ebenso wichtiges Kriterium wie die Trennung der Zeugen voneinander. Neben diesen Schreibergemeinschaften hat es immer die Einzelabschrift gegeben, die entweder von geistlicher Hand als verdienstliches Werk 4 oder von Laienhand, sei es im Herrendienst oder sonst von Berufs wegen, verfaßt wurde. Für die Überlieferung ist es interessant, daß zahlreiche Abschreiber im Herrendienst ihren Namen und Auftraggeber und den Entstehungsort kennzeichnen. In welcher Weise difesen Schreibern die Vorlage geliefert wurde, wird niemals sicher zu ermitteln sein. 5 Die gesamte ältere Überlieferung trägt abschriftlichen Charakter; die wenigen eigenhändigen Niederschriften, die tradiert sind von Otfried, Ruodlieb-Anonymus, vielleicht Oswalds von Wolkenstein eigenhändige Korrekturen, Thomas a Kempis (wie ßuodlieb aus dem deutschen Bereich herausführend) können den Sachverhalt nur bestätigen. Aber es ist doch auffällig, daß keine Urschrift überliefert ist (auch die Handschrift V des Otfried darf schon eher eine „Reinschrift" genannt werden). Damit drängt sich von vornherein die Frage auf, ob das Fehlen der Autorhandschriffc im Material des Konzeptes seine Ursache haben kann. Wenn dieses Konzept, ähnlich wie wir es bei neueren Dichtern beobachten konnten, nach der Herstellung des Werkes der Nichtbeachtung oder gar der Vernichtung anheimfällt, so ist klar, weshalb das Original unauffindbar ist. Bedenkt man die relative Kostbarkeit des seit der Antike zur Verfügung 1

Vgl. etwa Cicero, Briefe an Atticus, vgl. Gött. gel. Nachr. 1892, S. 197 ff. Die verschiedene Verteilung kann hier nicht erörtert werden. Sie ergibt sich nicht nur aus der jeweiligen Organisation der Arbeit. „Sprünge" in der Abfolge der Schreiber sind allenthalben zu beobachten. Nicht immer ist die Kontinuität gewahrt. Ein erster Schreiber muß nicht die eine Hälfte, ein zweiter die andere geschrieben haben; es kann auch innerhalb des Bogens gewechselt werden. 3 Vgl. etwa Arthur Hübner, DTMA, Bd. X I X (1911): Die poetische Bearbeitung des Buches Hiob. Während Helm eine Hand annimmt, findet Hübner zwei, obgleich aus dem Duktus ein wesentlicher Unterschied nicht erkennbar ist. Uberschreibung von Buchstaben gibt jedoch in diesem Falle, auch für Hübner keine Möglichkeit zur Identifikation. 4 Nach Cassiodor: Institutiones divinarum et humanarum litterarum. 5 Erkenntnisse aus diesen Vermerken werden erst dann zu erwarten sein, wenn einmal ein Verzeichnis der Besitzer- und Schreibervermerke zu einem Generalkatalog deutscher Handschriften vorliegen wird.

2

Mittelalterliche Überlieferung

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stehenden Pergaments, so stellt sich die Frage nach dem Konzeptcharakter der gleichfalls „ererbten" Wachstafel von selbst, denn das Papier war in dieser Hin-

sicht für den deutschen Bereich erst Ende des 14. Jahrhunderts verwendbar. Am billigsten dürfte noch immer der Gebrauch der Wachstafel gewesen sein, der nicht nur durch die Bilder der Minnesinger, sondern auch sonst (für Schule und Verwaltung) bezeugt ist. 1 Einen für diese Zusammenhänge besonders bezeichnenden, bisher nicht beachteten Beleg liefert (bald nach 1011) der Verfasser des Lebens des Bonifatius: Willibaldus vitam . . . conscripsit . . . primitus in ceratis tabulis ad probationem domni Lulli.2 In diese Richtung, daß Wachstafeln Konzeptcharakter haben, vermag vielleicht auch ein Beleg3 aus dem Jahre 1256 zu verweisen: . . . antiqui4 sua facta in ceratis tabulis conscripserunt, quos nos moderni gestientes imitari nostra cedulis5 annotamus.6 Aus dem ersten Beleg ist ein weiteres wichtig: Die Vita Bonifatii wurde „primitus" zur Approbation durch die Obrigkeit vor der „Veröffentlichung" vorgelegt. Eine solche Approbation scheint auch Otfried mit seiner Zuschrift an den Erzbischof von Mainz erstrebt zu haben: Hunc igitur librum vestrae sagaci prudentiae probandum curavi transmittere.7 Neben dem Terminus „liber" verwendet Otfried noch „volumen", während er in der deutschsprachigen Widmung an den König „buah" schreibt: Themo dihton ih thiz buah.8 Allerdings ist aus diesem wechselnden Wortgebrauch für die Untersuchung nichts zu gewinnen.9 Hingegen 1

Vgl. Bischoff, a. a. O., u n d Leo Santifaller, Beiträge zur Geschichte der Beschreibstoffe im Mittelalter. I . Untersuchungen. I n : Mitteilungen des Instituts f ü r österreichische Geschichtsforschung, Graz-Köln 1953. Santifaller berücksichtigt vorwiegend die päpstliche Kanzlei, bringt f ü r den Gebrauch der Wachstafel als Konzept zwar keine Belege, ist aber in terminologischer Hinsicht sehr wichtig u n d außer Kirchner (vgl. S. 50, Anm. 3) f ü r Handschriften-Fragen hinzuzuziehen. 2 Vita Bonifatii I I , 13, S. 105,3, ed. Levison. MG Script, rer. Germ. 1905, S. 90-106. 3 F ü r die Erlaubnis, die Sammlungen des Mittellateinischen Wörterbuohes zu benutzen, bin ich Herrn Dr. phil. habil. Schneider Dank schuldig. 4 Die Herausgeber deuten wohl das Wort falsch, wenn sie die Kenntnis der „ A n t i k e " des Autors rühmen, während dieser es tatsächlich nur im Sinne von „die vergangenen Geschlechter" gemeint haben kann. 5 Es handelt sich u m eine Pergamenturkunde 12/26 cm groß. Cedula bedeutet also (im Gegensatz etwa zu Codex) das Einzelblatt, ganz im ursprünglichen griechischen Sinne (als das Abgetrennte). So wird es auch von Santifaller, a. a. O., S. 153, verstanden. Kluge, E t y m . W b . 17 1957, S. 883 [Stichwort: Zettel] bedarf daher einer Berichtigung, da er von der Bedeutung „Papierblättchen" ausgeht. 6 Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich, ed. J . Escher u. P . Schweizer, Zürich 1894/95, 3. Bd., Nr. 978. 7 Vgl. Otfried, ed. E r d m a n n 3 1957 (Ludw. Wolff), S. 7. 8 Ebenda, S. 3,87. 9 U m 900 (z. T. sohon früher) werden „liber" bzw. „volumen" mit „codex" synonym gebraucht. Von hier aus ist also für diese Zeit hinsichtlich des Materialgebrauchs nichts zu ermitteln. Vgl. auch Santifaller, a. a. O., S. 171ff. 3 Seifert, Deutsche Texte

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Probleme der Überlieferung

können wir der Zuschrift an den Erzbischof andere wesentliche Einzelheiten entnehmen : das Werk schritt nicht vom „Liber primus" bis zum 5. Buche kontinuierlich fort; vielmehr wurde der mittlere Teil zuletzt geschrieben: hoc enim novissime edidi (bzw. quamvis iam fessus).1 Lachmann hat es wahrscheinlich gemacht, daß dieser Entstehungsgeschichte auch die Dedikationen an die St. Gallener Fratres und den Bischof Salomon von Constanz entsprechen.2 Wenn also, was nach der heutigen Forschungslage vorausgesetzt werden darf, Otfried nicht nur die Redaktion von Handschrift V(indobonensis) selbst besorgte, sondern auch mitschrieb, so ist zu fragen, weshalb er, wenn es sich bei V wirklich um die „Urschrift" handelt, wie noch Ehrismann annimmt 3 , nicht den ersten oder den zuletzt verfaßten Teil schrieb, sondern nur einige wenige Verse vom Anfang und vom Ende des Werkes. Die Antwort ergibt sich schon aus der Notwendigkeit der Korrekturen: vor V wird es ein Konzept (die eigentliche „Urschrift") gegeben haben. Es darf, wenn auch nur hypothetisch, vermutet werden, daß wie bei der Vita Bonifatii auch hier Wachstafeln verwendet wurden. Dennoch wird man, da die Verhältnisse so im Dunkel der Vergangenheit liegen, nicht verallgemeinern können. Aber mit welchem anderen Material dürften wir sonst für die Frühzeit rechnen und, wenn es Pergament gewesen wäre, weshalb hat sich dann nicht ein einziges Konzept erhalten? Es muß nicht verschwiegen werden, daß der Gebrauch des Palimpsests von Bedeutung war, aber rein vom Material her wird es einfacher gewesen sein, die Wachstafel zu löschen als Pergament zu radieren. Erst als Papier ein billiger Beschreibstoff wurde, kommen auch Autorhandschriften vor. Wie dem auch sei: Eines zeigt mindestens Otfrieds Manuscript V: der „Reinschrift" ist das Konzept im allgemeinen vorausgegangen. Wenn dieser Reinschrift dann noch Mängel anhaften, die sich aus dem Konzept oder duroh die Abschrift ergeben, kann die Überarbeitung durch den Autor, wie im vorliegenden Falle, durchaus Autorvarianten ergeben. Daß dies beispielsweise auch für Veldeke zutreffen kann, als er sein ihm entwendetes „Manuscript" zurückerhielt, wird an anderer Stelle angedeutet (vgl. S. 44). Außer diesen Besserungen (vgl. Autorvarianten) ist aber an Otfried noch ein anderes zu beobachten: das Werk ist nicht aus einem Guß, Ansätzen gleich sind die verschiedenen Bücher, wie es scheint, zunächst als durchaus eigenständige Gebilde entstanden. 4 Erst als sich der ursprünglich fehlende mittlere Teil formte, konnte man von der „Harmonie" sprechen. » Vgl. Otfried, a. a. O., S. 266f.; 8f. Vgl. Karl Lachmann, Otfried. In: Kleinere Schriften, ed. Karl Müllenhoff, Berlin 1876, S. 449ff. 3 Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters I, München 1932, S. 179. 4 Vgl. hierzu Lachmann, a. a. O. 2

Mittelalterliche Überlieferung

35

Nehmen wir an, es wäre nur ein Teil des Werkes erhalten, so könnte doch wenigstens der Sinn des verlorengegangenen aus der Quelle, in diesem Falle der biblischen Erzählung erschlossen werden (vgl. für das methodische Vorgehen S. 88). Anstelle anderer Beispiele soll durch dieses nachdrücklich auf die besondere Funktion der Quelle für die mittelalterliche Tradition verwiesen werden. Der Anteil nachgestalteter oder freier Bearbeitung fremdsprachiger Literatur ist groß und stellt, wie etwa das wohl umfangreichste Erzählwerk, der Prosa-Lancelot, zeigt, an den Herausgeber bei der Beachtung dieser Eigenart besondere Anforderungen. Man muß daher bei mittelalterlicher Literatur im allgemeinen mit folgenden Möglichkeiten rechnen, die nicht ohne weiteres aus der Überlieferung deutlich werden können: 1. Von einem nichtüberlieferten Original (nach diesen Ausführungen wird darunter im allgemeinen das Konzept verstanden) können, ähnlich wie im neueren Bereich, verschiedene Ansätze (vgl. AutorVarianten) vorhanden gewesen sein, die Vorlage der Abschreiber wurden und daher nicht „verschiedene Redaktionen", sondern verschiedene Stufen des gleichen Werkes widerspiegeln. 2. In besonderem Maße gilt das für die Lyrik, soweit für diese nicht ähnliche Probleme wie beim Volkslied (etwa: das Zersingen!) zu beachten sind, die ihre Voraussetzung in mündlicher Überlieferung (vgl. S. 28f.) haben. 3. Die Eigenart mittelalterlicher Literatur ist dem Durchblick zum „Original" hinderlich: Interpolationen, Bearbeitungen schwellen das Werk ebenso auf, wie sie es der ursprünglichen Fassung entfremden. Immer muß aber auch bei solchen Fragen die in 1 angedeutete Möglichkeit, daß sich Autorvarianten in Abschriften vererben, bedacht werden (vgl. auch S. 80 ff;). 4. Zuweilen greift der mittelalterliche Verfasser oder Abschreiber zur Hilfe der Neuübersetzung. Das Problem mancher deutschen — nicht nur der altdeutschen — Dichtung wird damit angerührt: Eigenschöpfung oder Nachschöpfung? Innerhalb des fast unübersehbaren Handschriftenschatzes des' Artuskreises ergeben sich aus solchen „Nachprüfungen" durch Neuübersetzungen immer wieder Kontaminationen, die den deutschen Text, je nach dem herangezogenen „Original" immer weiter vom tatsächlichen Original entfernen. Auch hier darf methodisch auf die Gepflogenheiten moderner Übersetzer oder Herausgeber von Übersetzungen verwiesen werden, es mag dadurch manches Licht die Dunkelheit erhellen (vgl. S. 69).

II. TEXTVERÄNDERUNGEN

A. Allgemeines

Friedrich Beißner hat in seinem Aufsatz 1 auf den wichtigen Unterschied zwischen Entstehungsvarianten und Überlieferungsvarianten aufmerksam gemacht. Damit wird ein Fragenbreis angeschnitten, der in ganz besonderer Weise den Unterschied zwischen autorisierter und fremder Überlieferung erhellt. Man hat schon vor Beißner geglaubt 2 , von dieser Problemstellung aus das Trennende zwischen der Methode der klassischen Philologie und der neueren Philologie deutlich erfassen zu können. Solange man unter der klassisch-philologischen Methode im allgemeinen die genealogische versteht, muß gezeigt werden, daß dieses Trennende zwar sehr wesentlich, aber noch nicht entscheidend ist. Denn daß für den klassisch-philologischen Raum auch mit autoreigenen Textänderungen (z. B. Ersetzungen oder Interpolationen) gerechnet werden muß, ist wohlbekannt und jedem Novizen der Altertumswissenschaft mindestens seit Otto Immischs Einleitung 3 geläufig. Daß dennoch in den Apparaten dieser Disziplin ausschließlich Überlieferungsvarianten gesammelt wurden, die vorwiegend den gewonnenen Text zu rechtfertigen hatten, liegt nicht allein am völligen Mangel an Entstehungsvarianten, sondern an der Methode selbst. Wenn auch nur als einen Nebenzweck, so anerkennt Beißner doch grundsätzlich auch für das Gebiet der neueren Literatur die Funktion der Überlieferungsvarianten als Nachweis für die Textkonstitution. Mit vollem Rechte schränkt er allerdings die Zahl der in diesen Bereich gehörenden Lesarten ein: Textverderbnisse in den nicht autorisierten späteren Drucken rechnen nicht zu ihnen, denn sie ergeben für die neuere Philologie keine Textgeschichte. Entscheidendes Kriterium ist es, ob eine Variante auf die „autorisierte Textgeschichte" Einfluß gewonnen hat oder nicht. Postume Überlieferungsvarianten (oder, wie sie Beißner auch nennt, Varianten des altphilologischen Typus) scheiden demzufolge grundsätzlich aus. Damit ist gegenüber der klassischen Philologie die Zahl der zu berücksichtigenden Varianten zunächst eingeschränkt. Hingegen nehmen einen weit umfangreicheren Raum die vor Beißner wenig beachteten Entstehungsvarianten ein. Von dem Goethe-Wort ausgehend, daß man Natur- und Kunstwerke nicht kennenlerne, wenn sie fertig 1 Vgl. S. 22, Anm. 1 (1958). 2 Vgl. R. Backmann in Euphorion 25 (1924), S. 630. 3 Wie studiert man klassische Philologie? Stuttgart 21920.

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Textveränderungen

sind, daß man sie vielmehr im Entstehen aufhaschen müsse, um sie einigermaßen zu begreifen1, wird der Sinn deutlich, den Beißner diesem Typus verleiht. Mit diesem Festhalten in der Zeit ergibt sich aber gleichzeitig auch die Frage, ob die beiden Arten: Überlieferungs- und Entstehungsvarianten Genügendes für die Zahl der anstehenden Möglichkeiten aussagen. Es ist zunächst festzulegen, was Beißner unter „Entstehung" verstanden wissen will. Leider hat er den Begriff nicht definiert. Aus der Art der von ihm gebotenen Beispiele läßt sich aber unschwer schließen, daß er vornehmlich an die Vorgänge bei der Niederschrift handschriftlicher Zeugen denkt. Kein einziger der von ihm demonstrierten Fälle entstammt einem Druck. So drängt sich also die Frage auf: Können Entstehungsvarianten nur in Handschriften vorkommen? Ist also Entstehung derart zu begreifen, daß man bei der Auswahl der zur Verfügung stehenden Varianten mit Beißner sagen kann: „Die ursprüngliche [Lesart] ist doch gedichtet, sie ist einer schöpferischen Stimmung entsprungen. Die neue aber, die ein schematisch verfahrender Editor als die letzte und vom Dichter ja auch ausdrücklich eingesetzte in seinen Text aufnehmen würde, ist eben doch nur — eingesetzt, nicht schöpferisch konzipiert." 2 Entstehung also, als schöpferischer Akt verstanden, setzt sogleich gewichtige Akzente im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Textes durch den Dichter. Es werden damit Fragen aufgeworfen, die in einem anderen Zusammenhang zu erörtern sind (vgl. Textkonstitution, S. 93ff.). Beißner hat, wie auch das wesentlichste seiner Beispiele zeigt, die Entstehung Hölderlinscher Versgebilde im Sinne gehabt. Ob aber dann der eben zitierte Satz seine Berechtigung behält, wenn man schon in diesem (man ist geneigt zu sagen) Sonderfall fragen muß: Ist die Umgestaltung der Versgebilde, sind die Variantenknäuel, die eine Lesart 3 auslösen kann, noch schöpferische Stimmung ? Man wird das etwa für die Hölderlinschen Keimworte, wie Beißner früher einmal (wohl im Anschluß an Hellingrath, vgl. S. 122f.) diese Situation treffend genannt hat, akzeptieren können; fragwürdig wird es dann, wenn die Variantenberge über einem Worte oder darunter zunehmen. Zweifellos ist dieses Tasten nach der dem Kontext — vom subjektiven Empfinden des Dichters aus—gerechten Nuancierung einer Bedeutung nicht mehr dem Akte der Schöpfung, sondern bereits der zweiten Phase zuzuordnen, in der er behutsam wägt und feilt. In dieser Phase, die sich über manche ,,Zwischen"-Ausgabe bis zur Ausgabe letzter Hand erstrecken kann, ist er auch durchaus fremder Anregung oder gar Varianten von fremder Hand zugänglich. Können solche Eingriffe (die auch in der Phase der Entstehung möglich sind) damit abgetan werden, daß sie als nicht mehr schöpferisch weniger von Bedeutung seien und daher den Überlieferungsvarianten gleichgestellt werden sollten ? Einige Beispiele mögen das verdeutlichen: 1. C. F. Meyers Gedicht „Himmelsnähe" 4 läßt in dem Vers Hervor aus einem grünen Meer von Eis 1

Goethe an Zelter, am 4. 8. 1803 (mehrfach von Beißner in verschiedenen Arbeiten zitiert). 2 A. a. O., S. 8f. 3 4 Besser: eine Schreibung, ein Gedanke. Vgl. S. 182.

Allgemeines

2.

3.

4. 5.

41

einem ursprünglich (schöpferisch) zugrunde liegenden Adjektiv „blauen" eine ganze Skala von Nuancierungen sich verkriäulen: aus der Abfolge blauen — grünen — blauem — grünem — wogendgrünem — dunkelgrünem — dunkelblauem — wogend blauem —dunkelblauem — grünen wird schließlich das schon als erste Variante erwogene „grünen" akzeptiert. Bei aller Berücksichtigung der Meyer eigenen Arbeitsweise könnte ein ähnlich gelagerter Fall auch bei anderen, wie beispielsweise bei Hölderlin (vgl. Friedensfeier, v52ff.) nachgewiesen werden. Nach der ersten Niederschrift von Grillparzers „Ahnfrau" griff Schreyvogel in die Handschrift ein. Seine Änderungsvorschläge sind deutlich abzulesen und von Grillparzer auch in H2 befolgt worden, so daß zahlreiche Variante Textstellen zur Verfügung stehen.1 Charlotte von Schillers „Erzählungen" sind von ihrem Gatten mit Varianten übersät worden, diese ergaben dann den endgültigen Text, während die „schöpferisch" entstandenen Lesarten eben Lesarten für den Herausgeber wurden.2 Gewiß kann man bei diesem Beispiel einwenden, daß Schillers Anteil an der Arbeit seiner Gattin höher zu werten sei als ein sonstiger Eingriff anderer. Da es aber hier nur um das Problem „erste Textgestalt und Variante" geht, ist damit keine Wertung verbunden. Ein anderes Beispiel, das diesem dritten sehr verwandt ist, löste einen Sturm aus: Wielands Überarbeitung von Sophie La Boches Roman „Geschichte des Fräuleins von Sternheim". Endlich mag auch an Goethes Epen gedacht sein, zu deren Überarbeitung er sich Vorschläge anderer, vor allem von J . H. Voß jun., erbat, von dessen Varianten er eine ganze Anzahl (ähnlich also wie Beispiel 3) aus freier Entscheidung auswählte und zu seinem, von ihm sanktionierten Text erhob.3 Daß die Hinzuziehung anderer durch Goethe in der Herausgabe seiner Werke eine besondere Rolle spielt, mag an anderer Stelle noch gestreift werden. Von der Hellen hat daher treffenderweise für diese besonders gelagerten Fälle die Unterscheidung „aktive und passive Autorisation" gewählt (vgl. S. 96).

Keine der von uns hier angemerkten Variationen eines Textes kann eindeutig einer der beiden Variantengruppen Beißners eingereiht werden, am ehesten noch Meyers „Entstehungsvarianten", aber auch hier muß sogleich eingeschränkt werden, daß sie nicht eindeutig chronologisiert werden können. In den Fällen 2—5 lag das betreffende Werk ohnehin „fertig" vor, ehe eingegriffen wurde. 1 2 3

Vgl. Grillparzers Werke. Dritter Teil, ed. Stefan Hock (o. J.), vor dem Titel Faksimile vorgeheftet. Vgl. Schiller-Nat. Ausg., Bd. 16. Vgl. Siegfried Scheibe, „Zu Hermann und Dorothea". In: Beiträge zur Goetheforschung. Hrsg. von Ernst Grumach, Berlin 1959. — Es mag hier noch angefügt werden, daß moderne Dichter, wie Bertolt Brecht, in ähnlicher Weise das Urteil anderer verwerten.

42

Textveränderungen

Offenbar sind die Begriffe „Entstehung" und „Überlieferung" in Verbindung mit dem Begriff „Variante" nicht geeignet, den Sachverhalt genügend auszudrücken, schon deshalb nicht, weil Entstehungsvarianten auch überliefert sind. Es bietet sich also von selbst an, die Frage von einem anderen Ausgangspunkt her zu stellen: Handelt es sich um vom Autor gewollte oder um nicht gewollte Veränderungen seines Textes?

B. Arten der Varianten Es sind danach zu unterscheiden: 1.

Autorvarianten1

Hierunter fallen alle Abweichungen, die nachweisbar vom Autor selbst veranlaßt worden sind, gleichgültig ob sie a) in eine eigenhändige Niederschrift, b) in eine nicht-eigenhändige Niederschrift oder in einen Druck eingetragen worden sind. Zu a) Mit eigener Hand trägt der Autor in seine Niederschrift die Abweichungen ein. Das kann geschehen • «) in der Phase der Entstehung: B e i s p i e l : vgl. Entwurf von Hölderlin, n. S. 124, Wieland, n. S. 178, Fontane, n. S. 174, ß) zu einem beliebigen späteren Termin, der jedoch dem beabsichtigten Druck voraus liegt: B e i s p i e l : vgl. C. F. Meyer, a. a. 0 . Alle diese Abweichungen können entweder als Sofortvariante B e i s p i e l : Grillparzer, Die Ahnfrau, nach V. 627: (Graf) Jaromir hebt das Haupt und steht auf oder als Spätvariante B e i s p i e l : ebenda, V. 511f.: über: (Sie vermag nur vorzusehen / Abzuhelfen aber nicht) Denn sie kann's nur vorhersehen / Ab es wenden kann sie nicht! erfolgt sein. Vgl. hierüber: Schichtung. Zu b) Autoreigene Einträge in nicht-eigenhändige Niederschriften oder Drucke können dann problematisch sein, wenn die Autorvariante (Eigenvariante) ausgelöst wurde durch eine autorfremde Variante (Fremdvariante); (vgl. S. 43 unter 2 und 3). 1

Die hier verwendeten Begriffe wurden in diesem Sinne von mir erstmalig in meinem Vortrag in der Universität Bonn gebraucht, vgl. S. 8, Anm. 2.

43

Arten der Varianten

Über die Schwierigkeiten des Herausgebers, welche Schreibung in den Text gesetzt werden soll: a) die ursprüngliche, ß) die autorfremde, y) die Autorvariante, vgl. Textkonstitution. 2. Autorisierte

Varianten

Sie nehmen eine besondere Stellung ein. Es handelt sich hier um die Fälle, die bereits in den Beispielen S. 40f. gekennzeichnet sind. Sie treten voll für eine Autorvariante ein: Der Vorschlag eines anderen löst entweder die Variante aus (insofern Berührung mit 1. Zu b), oder eine autorfremde Variante wird anstelle des eigenen Textes angenommen (autorisiert). Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Varianten, die nicht nachweisbar zur ersten Gruppe gehören, dennoch als autorisiert gelten können, wenn sie nicht nachweisbar fehlerhaft in einem vom Autor gebilligten Textzeugen zu finden sind (vgl. V. d. Hellen, „aktive und passive Autorisation", S. 96). Wie überaus schwierig aber gerade in diesen Fällen die Entscheidung ist, zeigen vor allem auch die Varianten der Doppeldrucke. 3. Fremdvarianten

(autorfremde

VariantenJ

Sie können mannigfaltige Ursachen haben : a) ungewollte Textveränderungen: a) Schreib- oder Druckfehler aus mechanischem Anlaß, ß) Schreib- oder Druckfehler durch Fehlleistungen; b) gewollte Textveränderungen: a) im Auftrage des Autors werden entweder als Besserung akzeptiert und damit als „autorisierte Varianten" bewertet oder bleiben als Vorschlag unbeachtet (vgl. S. 41), ß) auf Veranlassung des Text-Herstellers (Schreiber oder Drucker), vgl. S. 57, oder seines Auftraggebers (Faktor), y) Bearbeitungen oder Überarbeitungen.

4. Variante und

Korrektur

Aus dem Dargelegten ergibt sich die Empfehlung, als „Variante" nur die Textänderung zu verstehen, bei der es sich um die Vorgänge der Textersetzung (Substitution), des Textzusatzes (Interpolation), um Textumstellungen und Tilgungen nicht korrupter Textstücke handelt. Entscheidend ist die Funktion der Variante: sie bildet den Text fort, gleichgültig, ob es sich um autoreigene oder fremde Weiterentwicklung des Textes handelt.

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Textveränderungen

Im Unterschied zur Variante sollte als Korrektur grundsätzlich die Richtigstellung eines durch Korruptelen verderbten Textes verstanden werden. Diese Richtigstellung kann bis in orthographische Fragen hineinführen. Offensichtlich ist es für die Textgeschichte wichtiger zu unterscheiden zwischen einer Varianten Stelle: Wonach sich Liebchen sehnet > Worauf die Mädchen lauern. (Goethe, Vier Gnaden, vgl. S. 153f.) und orthographischen Korrekturen, die für den Sinngehalt oder die Lautgestalt des Gedichtes ohne Belang sind: Ein Schwerdt, das tüchtiger beschützt Ein Schwert, . . . Ein Schwerdt . . . Ein Schwerd, . . . Ein Schwert, . . . (ebenda). Eine solche Unterscheidung hat für die Darbietung im Apparat grundlegende Bedeutung und ist schon von Lachmann verlangt worden (vgl. S. 120). Da alle diese Folgerungen aus Textveränderungen neuerer Literatur gewonnen wurden, ist zu fragen, ob methodische Anregungen daraus auch für die ältere zu erwarten sind. 5. Anwendung auf den älteren Bereich Zu 1: Autorvarianten. In der Phase der Entstehung sind sie für den Gesamt räum der altdeutschen Literatur unbekannt. Die Gründe dafür ergeben sich aus der besonderen Überlieferungslage (vgl. S. 33f.). Hingegen dürfen wir mit Autorvarianten zu jedem beliebigen späteren Termin rechnen. Allerdings sind sie nur schwer nachzuweisen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich hinter der Anonymität des Schreibers zuweilen der Autor selbst verbirgt. Sicher festzustellen ist mit seinen Varianten nur Otfried (vgl. S. 82ff.). Als Veldeke sein Manuskript, das ihm Graf Heinrich von Thüringen entwendet hatte, nach neun Jahren vom Pfalzgrafen Hermann zur Weiterbearbeitung zurückerhielt, mögen von diesem Manuskript bereits thüringische Abschriften genommen worden sein, die mit der späteren Überarbeitung kontrastierten, in der vielleicht hier und da Autorvarianten gesetzt wurden, die sich dann in andere Abschriften „vererbten". Auch so kann eine stemmatisch anscheinend gespaltene Überlieferung (vgl. S. 85) zu erklären sein. Zu 2: Autorisierte Varianten begegnen im altdeutschen Raum nicht. Die Autorisation ist hier schwerer nachzuweisen als auf neuerem Gebiet. Zu 3: Autorfremde Varianten sind die Regel. Alle aufgeführten möglichen Textänderungen kommen vor. Als besonders typisch dürfen die S. 43, b) ß und y ver-

Schichtungen

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zeichneten Varianten einer bestimmten Bearbeitung (Bearbeitungsvarianten) gelten. Diese Gruppe ist für die mittelalterliche Literatur von besonderer Bedeutung. In stemmatischer Hinsicht lassen sich aus ähnlich gelagerten Verhältnissen der neueren Literatur und der Theaterbearbeitungen (vgl. S. 86f.) Folgerungen ziehen, die auch für die altdeutsche Literatur von Belang sind. Von diesen Gestaltungstendenzen sagt G. Schieb mit Recht im Hinblick auf die Veldeke-Überlieferung: „man spürt dann doch etwas von dem Reichtum literarischen und sprachlichen Lebens; daß ein Denkmal zu verschiedener Zeit, an verschiedenen Orten, für verschiedenes Publikum lebte und wirkte, und daß die äußere Gestalt sich jedesmal anders geben konnte, so etwa wie ein Bühnenstück bei jeder Aufführung eine eigene Note erhält und doch im Kern das Gleiche bleibt." 1

C. Schichtungen Besondere, neueren Dichtern eigentümliche Probleme werfen Schichtungen in Handschriften auf. Die von uns beigegebenen Tafeln (vgl. nach S. 124, 174, 178, 182) zeigen, daß sich bei allen Dichtern fast gleichartige Grundfragen ergeben können. Nur die jeweilige Arbeitsweise, die durch die verschiedene Individualität, aber auch durch den Stoff bedingt sein kann, und gewisse psychische Gestimmtheiten differenzieren zuweilen das äußere, graphische Bild. Im allgemeinen darf man zunächst mit einer zügigen Niederschrift rechnen: der Grundschicht. 1. Orundschicht Schon für diese Schicht sind eine Reihe von Fragen zu lösen, die mit der innerhandschriftlichen Chronologie zusammenhängen. Es ist daher zu unterscheiden zwischen einer sofortigen Textänderung, die dadurch ersichtlich ist, daß die Änderung in der Grundschicht selbst erfolgt, und einer späteren Textänderung außerhalb dieser Grundschicht und außerhalb der Zeit der zügigen Niederschrift. Der Bedeutung ijach können diese Textveränderungen weiter differenziert werden als Sofortkorrektur oder Spätkorrektur, wenn es sich tatsächlich um bloße graphische (bzw. orthographische) Richtigstellungen handelt. Von größerer Bedeutung für die Textgeschichte sind die Sofortvarianten oder Spätvarianten, die eine Weiterentwicklung des Textes erkennen lassen. Während die Korrekturen sich im allgemeinen auf Eingriffe in ein Wort beschränken, können Varianten sich darüber hinaus auf eine syntaktische Einheit erstrecken. 1

Gabriele Schieb. Die handschriftliche Überlieferung der Eneide Henrics van Veldeken und das limburgische Original. I n : SBBlnAk, 1960, 3, S. 9.

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Textveränderungen

a) Sofortkorrekturen 1. Ein versehentlich verschriebenes Wort wird in der Zeile ersetzt: B e i s p i e l : f e g l i e h folglich = (foglich) folglich 2. Die Korrektur findet innerhalb des verschriebenen Wortes s t a t t : B e i s p i e l : f O fcgl i c h = fogglich > folglich 3. Versehentlich geschriebene Buchstaben werden getilgt: B e i s p i e l : T h o r = T(h)or oder: T h o r > Tor 4. Versehentlich ausgelassene Buchstaben werden eingesetzt: B e i s p i e l : T o r = T[h]or oder: T o r > Thor 5. Dittographien werden beseitigt: a) g r e i f t e n = greif greifen ß) e i n g e ^ / r f l a s s e n = einge(ge)lassen oder: eingegelassen > eingelassen y) als d a s das Tor = als {das) das Tor Anmerkung: Von allen fünf Beispielen ist als Sofortkorrektur völlig sicher nur das erste; alle anderen Fälle können auch erst beim nochmaligen Überlesen gebessert worden sein. Zuweilen ist der Sachverhalt ohne weiteres aus dem graphischen Bild erkennbar, nicht aber zweifelsfrei aus dem Duktus der Niederschrift. b) Sofortvarianten 1. Die Variation t r i t t im Anschluß an die erste getilgte Niederschrift in der gleichen Zeile ein. Auch hier läßt das graphische Bild Schlüsse zu, wenn z. B. das folgende Wort etwas weiter als gewöhnlich abrückt, so daß die Variante, obgleich über der Zeile stehend, doch auf diese gezogen ist. Die Beispiel:Dafi-Se*

Tür g i n g a u f . — (Das Tor) Die Tür ging auf.

2. Die Variation findet innerhalb des ursprünglich niedergeschriebenen Wortes statt. B e i s p i e l : D&B T t i r = Das Tor > Die Tür 3. Neben den ursprünglichen Text t r i t t eine Alternativlesung. Erst das Mundum, der Druck oder dip sonstige Überlieferung sind entscheidend für die positive Lesung. B e i s p i e l : Das Tor Die Tür ging auf. Anmerkung: Auch hier gilt, daß von den drei Beispielen als Sofortvariante völlig sicher nur der Fall 1 sein kann, alle anderen können auch erst beim nochmaligen Überlesen gebessert worden sein.

Schichtungen

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Gemeinsames: Es können natürlich gewisse Funktionsberührungen stattfinden. Man wird bei Grenzfallen, die beiden Bereichen angehören können, zweifeln, ob man es mit Korrektur oder Variation zu tun hat. B e i s p i e l : fodern > fordern oder: echt > acht oder: unsrer > unserer Es handelt sich hier um nebeneinander bestehende Formen mit bestimmten lautlichen Voraussetzungen. Welcher Gruppe sie zugehören, entscheidet der sonstige Gebrauch. Sind gewisse Normierungstendenzen sichtbar, so wird man unschwer erkennen, daß es beispielsweise nicht um lautliche, vielmehr um orthographische Einebnüngen geht. 2. Interlineare

Schichtungen

Spätkorrekturen oder Spätvarianten sind im allgemeinen daran erkennbar, daß sie entweder über die Zeile geschrieben als Überschichtung oder unterhalb der Zeile als UnterSchichtung stehen. a) Überschichtung Der Normalfall ist die Überschichtung. Sie wird gewöhnlich über dem getilgten Wort (der Wortgruppe) öder über dem als Alternative belassenen Wort (der Wortgruppe) vorgenommen. Die Varianten können sich so türmen (vgl. nach S. 124 und nach S. 182), daß das geringe interlineare Spatium nicht mehr ausreicht und b) Unterschichtung eintritt. Wird auch hier der Baum graphisch zu eng, so greift der Schreiber den außerlinearen Baum an. Anmerkung: Besonders in Diskussionen über diese Frage werden in neuerer Zeit häufig die Bezeichnungen: vertikale und horizontale Schichtung gebraucht. Vertikal entspräche danach der hier verwendeten Bezeichnung Über- bzw. Unterschichtung. Unter horizontaler Schichtung ist der hier als „kommunizierende Schichtung" (vgl. unter 3b) gekennzeichnete Sachverhalt zu verstehen. 3. Außerlineare

Schichtungen

Außerhalb des Zeilensystems links am Bande (1B) oberer Band (oB) rechts am Bande (rB) unterer Band (uB) kann die Weiterführung der (Entwurfs-)Fassungen verfolgt werden. Gelegentlich begegnen völlige Neubearbeitungen als Fassungen am Bande (FaB), die gleichzeitig die Funktion einer „Zwischenreinschrift" haben (vgl. C. F. Meyer, S. 182). a) VariantenbläUer Wenn auch der außerlineare Baum nicht mehr ausreicht, aus den bisherigen Schichtungen eine für das Mundum verwertbare neue Schicht zu gewinnen,

48

Textveränderungen

so wird auf besonderem Einlageblatt die Variation fortgeführt oder eine Zwischenreinschrift, die oft mit dem Text der endgültigen identisch sein kann, angefertigt. Als solche Variantenblätter sind auch Überklebungen anzusehen, wie sie handschriftlich immer wieder bezeugt sind (vgl. etwa Goethe, S. 133, Fontane, S. 175 (Z) und Brecht, S. 16). b) Kommunizierende Schichtung Zuweilen wird aus verschiedenen Schichtungen verschiedener Handschriften (die Teile des Werkes entwerfen) die endgültige Fassung in der Weise erarbeitet, daß eine durch alle Entwürfe laufende (zumeist die letzte) Schichtung erkennbar wird, die vor der Reinschrift die letzte Textfassung darstellt. Beispiel: Backmann (vgl. Fußnote) gibt in seiner Grillparzer-Ausgabe zum ersten Mal den Versuch einer Darstellung, die dieser Schichtenlage gerecht wird. Der Herausgeber der Schillerbriefe, Nationalausgabe Bd. 27, S. 365—373, glaubt in verschiedenen Briefentwürfen an Fichte eine letzte, durchgehende Fassung abheben zu können, die damit die Reinschrift ersetzen kann (vgl. hierzu auch S. 91). 4. Fragen der Chronologie Alle diese Unterscheidungen innerhalb einer Handschrift sind in ihrer genetischen Bewertung von der innerhandschriftlichen Chronologie1 abhängig. So sicher auf den ersten Blick auch die absolute Chronologie einer Variante zu einer beliebigen Schicht erkennbar scheint, der Schein trügt. Nicht immer ist mit Sicherheit feststellbar, wann Über-, Unter- oder außerlineare Schichtung eingetreten ist. Für diese chronologischen Zusammenhänge hat man geglaubt, gewisse Kriterien aus dem Duktus der Handschrift oder aus dem Schreibmaterial gewinnen zu können. Dazu ist festzustellen: a) Zum Duktus: nicht ohne weiteres läßt sich aus verändertem Duktus auf wesentliche Zeitunterschiede schließen. Psychische Umstimmungen können eintreten und den Wechsel hervorrufen. Wenn dennoch der Duktus in Anspruch genommen wird, so muß das für den Einzelfall sicher begründbar sein. b) Zum Schreibmaterial: so wesentlich es ist, aus verschiedenem Schreibmaterial Anhaltspunkte für Datierungen zu gewinnen, so darf man auch hier die Ge1

R. Backmann versteht in Euphorion 25 (1924), S. 638f. unter „Absoluter Chronologie . . . die zeitliche Abfolge aller Änderungen zu einer und derselben Stelle ohne Bücksicht auf umgebende Teile der Handschrift. Die relative Chronologie versucht mehrere absolute Chronologien zueinander in Beziehung zu setzen. Bei ihr lassen sich, je weiter die Umgebung ist, die in Betracht gezogen wird, verschiedene Grade erstreben. Der vollendetste erreichbare Grad ist der, bei dem überall die ganze Handschrift im Auge behalten wird. Bisweilen ist zu beobachten, daß mehrere Handschriften gleichzeitig geändert wurden. Danach gäbe es also sogar eine überhandschriftliche Chronologie, . . . die den gesamten Entstehungsverlauf einer Dichtimg umfaßte."

Schichtungen

49

gebenheiten nicht überanstrengen. Wesentlich ist, ob man erkennen kann, daß eine andersfarbige Schichtung sich deutlich abhebt. Bei der Beurteilung ist die Gepflogenheit des Autors, soweit diese zu ermitteln ist, als oberstes Kriterium heranzuziehen. Wenn ein Autor seine Überarbeitung grundsätzlich andersfarbig vornimmt, wie etwa Fontane mit Blaustift oder Goethe mit viererlei Schreibstoffen (vgl. S. 114), so ist das für durchgehende oder kommunizierende Schichtungen schon sehr wesentlich. Ein anderes ist es absr, wenn einzelne Varianten (Überschichtung) mit anderen kommuniziert werden sollen, die mit gleichem Material geschrieben sind, ohne daß eine durchgehende Schichtung erkennbar ist. In solchen Fällen ist denn doch zu fragen, ob die Wahl des Materials wirklich für die Chronologie genügend hergibt. Schon Norbert von Hellingrath (vgl. S. 121 ff.) hat aus diesen Gründen auf eine genaue Wiedergabe handschriftlicher Schichtungen bei Hölderlin verzichtet. In gleicher Weise verfahren auch die sonstigen Vertreter des Auswahlprinzips (vgl. S. 125 ff.). Wo Duktus und Material nicht eindeutig die Verbindung zwischen den verschiedenen Varianten zu einer Schicht zulassen, bleibt die übersichtliche, wenn möglich synoptische Reihung dieser Änderungen unter Angabe ihrer Position (vgl. S. 170 ff.)1 die einzige Möglichkeit zur Information. Besonders deutlich zeigt es sich, wie fragwürdig es sein kann, Schichten nach dem Material zu sondern, wenn man an überarbeitete Typoskripte denkt, in denen der Autor mit der Maschine bessert (vgl. etwa Brecht-Typoskripte). Allerdings können hier eher aus der Lokalisierung der Varianten Schlüsse gezogen werden als beim Manuskript, weil die Maschine die Ausnutzung des Baumes durch den Schreiber wesentlich einengt. 5. Schicht und Fassung Nicht nur bei Backmann, übarhaupt schwankt der Gebrauch der Bagriffe Schicht und Fassung. Auch in den Auseinandersetzungen um Hölderlins Friedensfeier (vgl. S. 145ff.) haben terminologische Fragen dieser Art eine Bolle gespielt, so daß Friedrich Beißner darauf hinwies, daß er als „Fassung" zuweilen auch nur einen Ansatz verstanden wissen will. In der Tat sind Schichtungen Ansätze zu etwas Endgültigem, eben zu einer Fassung. Als Fassung sollte daher im Gegensatz zur Schicht grundsätzlich der (zunächst als endgültig angesehene) Abschluß einer Gestaltung bezeichnet werden. Schicht hingegen trägt den Charakter des Vorläufigen, der Vorfassung. Eine solche Definition würde am ehesten zugleich dem herkömmlichen Gebrauch des Begriffes Fassung entsprechen. 1

t

Backmann, a. a. O., spricht für Grillparzer von „den durchlaufenden Händen" in ein und derselben Handschrift. Er geht dabei vom Begriff der Einzelvariante (vgl. absolute Chronologie) aus, die er in den Zusammenhang mit den sonstigen Änderungen des Kontextes bringt (vgl. relative Chronologie). An die Stelle des Begriffes „Schichtung" tritt bei ihm der Terminus ,,Fassung". Seiffert, Deutsche Texte

50

Textveränderungen

Eine besondere Stellung nehmen in diesem Zusammenhang Umarbeitungen ein. Ihrem Entwurfscharakter entsprechend wechseln sie zuweilen von einem Genre ins andere: aus Erzählform wird Dialog oder umgekehrt. Für Grillparzer, oder für Hebbel ergeben sich hieraus eine ganze Anzahl editorischer Probleme, um nur beide als Beispiel zu nennen. Das Muster aller Fälle aber ist Otto Ludwig, für den sein eigenes Wort gilt: Das Schöne wird nie fertig; immer könnt' es Noch schöner sein.1 So kann seine Gestaltungsweise, für die seine Arbeit an der „Agnes Bernauer" ein bezeichnendes Beispiel gibt 2 , anstelle weiterer Ausführungen stehen. 6. Zu Fragen mittelalterlicher

Handschriften

Die besonderen Fragen, die sich aus der mittelalterlichen Überlieferung ergeben, hat klar und umfassend Joachim Kirchner3 dargestellt. Ergänzend darf hier nur einiges Wenige angemerkt werden, das sich aus den bisherigen Erörterungen ergibt: 1. Sofortkorrekturen von Schreiberhand sind hier noch weniger wesentlich als im neueren Bereich. Spätkorrekturen hingegen verraten Überarbeitungen, die immer Beachtung verdienen. 2. Sofortvarianten (bei denen es sich nicht um bloße Verschreibungen handelt) sind grundsätzlich wichtig. Schon hier kann der Verdacht (besonders im Vergleich zur sonstigen Überlieferung) auf Umformung des Textes geweckt werden, der bei Spätvarianten offenbar ist. Bei diesen späten Überarbeitungen kann nicht ohne weiteres der Fall der Autor' ation ausgeschlossen werden (wie etwa das Beispiel des Wiener Otfried zeigt). Im allgemeinen aber handelt es sich um Überarbeitungen, die a) eine Bearbeitung (aus den verschiedensten Gründen) beabsichtigen, b) philologisch überarbeitet, auf nicht erhaltene Überlieferung zurückgehen, oder an Hand der Quelle bzw. sonstiger Auskunftsmittel, Richtigstellungen erstreben. Daraus ergibt sich, daß auch hier die Späterscheinungen wesentlich sind. Hingegen sollen, um Lachmanns Forderung zu erfüllen (vgl. S. 120), die „ludibria" der Schreiber grundsätzlich von den Lesarten (und überhaupt der Darstellung der genetischen Entwicklung des Textes) geschieden 1 2

3

Vgl. Erich Schmidt. Ein Skizzenbuch Otto Ludwigs. In: SBPrAk, VIII/1909. Agnes-Bernauer-Dichtungen, ed. Waltraut Leuschner-Meschke, Berlin 1961. — Ein besonders eindringliches Beispiel ist die aus Privatbesitz stammende Entwurfshandschrift von Hugo von Hofmannsthal, „Die Frau ohne Schatten", die in unserem Zusammenhang besonders interessant ist; vgl. Katalog X X X I V L'Art Ancien und Haus d. Bücher, Basel, März 1962, Nr. 96. Germanistische Handschriftenpraxis. München 1950.

Fehlerquellen

51

werden.1 Daß sie natürlich andere interessante Aufschlüsse geben können, steht außer Frage. Sie gehören dann aber in den dafür bestimmten Zusammenhang (z. B.: Bestimmung der Handschrift nach Ort und Zeit der Entstehung u. ä.).

D. Fehlerquellen 1. Allgemeines Bei allen Textänderungen muß sorgfaltig geprüft werden, ob es sich um Varianten (oder Korrekturen) in dem hier dargelegten Sinne oder um Korruptelen handelt, die gleichermaßen dem Autor, dem Schreiber oder dem Setzer unterlaufen können. In manchen Fällen werden sie auch durch mechanische Ursachen ausgelöst. Es ist daher für die Bewertung varianter Stellen nötig, über Fehlerquellen informiert zu sein. Während im allgemeinen vom Autor bei der Niederschrift nur Schreibfehler zu erwarten sind, kann der Schreiber weitere Fehler auslösen. Wenn er den autorisierten Text vorgesprochen bekommt (Diktat), können a) Sprechfehler oder b) Hörfehler den Text umformen. Liest er das Nachzuschreibende von einer Vorlage ab, so ist die Gefahr gegeben, daß er sich .verliest oder typische Abschreibefehler (wie Zeilensprung u.a.) verursacht. 2. Assoziative Ursachen Alle diese Fehlerursachen: Verschreiben, Versprechen, Verhören, Verlesen haben Fehlleistungen zur Voraussetzung, die entweder durch Mangel an Konzentration bedingt sind oder assoziativ hervorgerufen sind. Von den assoziativen Ursachen soll zunächst gesprochen werden. Verschreiben und Versprechen gehören dann enger zueinander, wenn der Schreiber oder der Sprecher der'Autor selbst ist. Sein Verschreiben oder Versprechen kann (während er noch gestaltet) beispielsweise eine Vorwegnahme oder eine bestimmte Assoziation zum Anlaß haben, die sich im weiteren Verlauf der Arbeit nicht mehr einstellt oder von neuen Assoziationen verdrängt wird (Problem des Varianten Textes!). Diese schöpferischen Assoziationen sind hier natürlich nicht gemeint: sie sind echte Autorvarianten, besonders dann, wenn sie nicht phonetische, sondern semantische Voraussetzungen haben. Es handelt sich um die Fälle, in denen der genuine Text durch den assoziativen ersetzt wird. Lichtenberg hat das Problem in einem Aphorismus klar aus1

Wie nötig der an sich selbstverständlich erscheinende Hinweis sein kann, lehrt der Einblick in Texte, die auch in neuerer Zeit diese Sonderungen nicht beachten.



52

Textveränderungen

gesprochen: „Er las immer Agamemnon anstatt .angenommen', so sehr hatte er den Homer gelesen." Freud 1 hat dieses Zitat geradezu als die Theorie des Verlesens bezeichnet. Es dürfte in gleichem Maße aber auch für Verschreiben, Versprechen und Verhören fremden Textes gelten.2 Klang-„Assoziationen" (phonetische Assoziationen) a) Vorklang: Der Mann, der] Den Mann, der (Der = Vorklang). Wieland, vgl. S. 61. b) Nachklang: Oft in der Morgenfrühe . . . trafen wir uns draußen vor der Haustür. Wenn Ehrenfried hinausging, um die Eisenwaren auf dem Beischlag auszustellen, war ich schon draußen und putzte an der Tür den großen Messingklopfer. > . . . war ich schon draußen vor der Haustür . . . Storm (Proleg. S. 38). c) Vermengungen (Kontaminationen): am liebsten ist er aus dem Torweg und dann geradezu den Fußsteig . .. hinabgerannt > . . . Fußweg . . . Storm (Proleg. S. 40). d) Interpolation: Für fremde Augen mochte es immerhin den Anschein haben, als ob Hans Kirch auch jetzt noch in gewohnter Weise . . . > . . . immerhin noch ... Storm (Proleg. S. 39). Anmerkung: c) und d) sind durch Nach- bzw. Vorklang entstanden. Während bei den bisherigen Gruppen eben diese Klangwirkung wesentlich war, die durch mangelnde Konzentration Fehler auslöste, kann aus gleicher Ursache aus dem alten ein neues Wort entstehen: e) Ersetzung (Substitution): . . . eine Fichte im Donner stürzt > . . . im Sommer s t ü r z t . . . Wieland, vgl. „Oberon" 3,290. Anmerkung: Diese Gruppe ist dann besonders von Bedeutung, wenn der Fehler, wie im Beispiel, nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Im Gegensatz zur erwähnten 1

2

Vgl. Sigmund Freud. Vorlesungen über die Fehlleistungen. In: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Berlin 1933, S. 34. Auoh im folgenden werden, an Freud anknüpfend, Termini eingeführt, die er von Meringer und Mayer übernommen hat, die 1895 sich mit der Theorie des Versprechens befaßt hatten. Die Kritik Freuds kann hier jedoch außer Betraoht bleiben, da es ihm um die psychoanalytische Seite der Untersuchungen geht. Es soll hier nur auf die Bedeutung dieser ,,Anklänge" für bestimmte Situationen der Volksliteratur verwiesen werden, etwa das Puppenspiel (das „Mißverstehen"). Die von Freud in Anspruch genommenen Beispiele aus der Dichtung, so die Questenberg-Szene in den Piccolomini I, 5, in der sich Octavio verspricht und damit seine Abneigung gegen Thekla verrät, gehören in Zusammenhänge, die außerhalb der „Klang"-Assoziation stehen. — Zu diesem Kapitel ist auoh Goethes Aufsatz aus dem Jahre 1820 „Hör-, Schreib- und Druckfehler" zu vergleichen.

Fehlerquellen

53

„schöpferischen Assoziation", die phonetische oder semantische Voraussetzungen hat, können, wie Freud psychoanalytisch glaubhaft gemacht hat, andere Ersetzungen treten, die aber zumeist leichter erkennbar sind, wie schon das Lichtenberg-Beispiel zeigt (Fehlassoziation). 3. Andere Ursachen der

Textänderung

a) Textsprünge Ein Wort oder eine Wortgruppe kann bei Anfangs- oder Endstellung so gewichtig werden, daß Zeilensprung oder Seitensprung eintritt, wenn die gleiche oder annähernd gleiche Phrase wiederholt wird: ungleich länger f r u c h t b a r . . . Wieland, vgl. „Der goldne Spiegel", 255,29. Diesem Vorgang ist die Zeilenvertauschung verwandt. b) Vertauschungen sind bei autorisierten Texten besonders schwer als Fehler zu identifizieren, wenn sie wie bewußte Umstellungen erscheinen: von so einer > von einer so, vgl. Wieland, ebenda 256.13. Eindeutig ist dagegen das schon von Freud zitierte Beispiel: die Milo von Venus. c) Interpolation 1. Richtigstellung von fehlerhaftem Text durch fremde Hand: während eine andre, durch die anziehende Kraft ihrer Augen, [und] durch ein gewisses wollüstiges Girren und hinsterbende Töne, [wodurch sie] üppige Bilder in der Fantasie ihrer Zuhörer rege zu machen [wußte], mit einem unendlich kleinem Talent der Abgott der Leute von Geschmack war. Wieland, vgl. ebenda, 183,40. Schon dieses Beispiel zeigt deutlich, wo die Grenze liegt, die gegen die Autorisation von Fremdvarianten gezogen ist: es ist sehr die Frage, ob außer „wußte" und einem (fehlenden) „die" nach „andre" mehr hätte interpoliert werden dürfen. 2. Zeigt sich schon im Beispiel 1, wie leicht ein richtigzustellender Text aufgedchwellt werden kann, so kann die Aufschwellung besonders bei den Texten charakteristisch werden, zu deren Zeit man den Begriff des „literarischen Eigentums" nicht im modernen Sinne kannte. Vornehmlich aus drei Gründen wurde interpoliert: a) aus sprachlichen Gründen, besonders bei freier Nacherzählung oder bei Übersetzungen (glossarischer Charakter), ß) aus Freude am Erzählen (Aufschwellung), y) aus weltanschaulichen, religiösen oder politischen Gründen. Hier wird aber der Text auch weiterhin erheblich geändert, und es wird aus gleichen Gründen auch autorisierter Text getilgt (Bearbeitungen). Beispiel: Lancelot, S. 153.32 bis 154.8 Er fraget bis duncket mich] Car ie ne gardai onques le gue par vous. Dame dist il encore me fist il plus. Q.

54 d)

Textveränderungen Auslassungen

Unter c) 2 y ist bereits auf Tilgungen (bewußte Auslassungen) von fremder Hand hingewiesen. Auslassungen können natürlich auch aus den anderen hier genannten Gründen (Klangwirkung, Zerstreutheit) erfolgen, sind dann aber in den meisten Fällen als Fehler erkennbar (vgl. auch unter E, S. 56f.).

e) Grammatische Fehler

Soweit es sich um Abweichung von festgefügten Regeln handelt (z. B. Kasuswechsel), sind Fehler am ehesten zu erkennen. Schwierigere Fragen werden schon durch den Tempuswechsel aufgeworfen. Besonders diffizil aber sind f ) Orthographie und

Interpunktion,

die sich am heftigsten allen Normierungsbestrebungen widersetzen und deren Abweichungen (Fehler) von der gesetzten Norm daher am größten sind. Gerade diese Abweichungen können aber weitreichende Folgen für das Verständnis des Textes haben. Es kann nicht stark genug betont werden, daß es zur Besserung dieser Stellen echter Nachweise bedarf. Köster hat das für Storm an einer besonders verderbten Stelle erreicht. In der Novelle „Im Schloß" fordert das Schloßfräulein den Hauslehrer im Befehlston auf: Wollen Sie die Güte haben! — alle Drucke setzen hier ein Fragezeichen, obgleich in Storms Handschrift ein Ausrufungszeichen steht. 1 Diese Aufforderung ist aber nun für das Benehmen des Hauslehrers von so großer Bedeutung, daß damit die ganze Stelle „uminterpretiert" wird. An anderer Stelle wird von dieser Fehlergruppe noch einmal zu sprechen sein; es scheint aber doch, daß die rhetorische Funktion der Interpunktion größere Beachtung verdient. In neuester Zeit kann durch Phono-Autorisation (vgl. S. 27f.) wenigstens teilweise auch hier der Autorwille erkannt werden. g)

Setzereigentümlichkeiten

Die besonderen Eigentümlichkeiten, die allem Gedruckten anhaften, sind schon Ende des 19. Jahrhunderts lebhaft besprochen worden. Aber erst Albert Köster hat die enge Berührung von Abschreiber- und Setzerpsychologie erkannt. 2 Er hat besonders die Fälle herausgehoben, in denen der gesetzte Text durchaus einen Sinn gibt und, wie gezeigt wurde, doch falsch ist. Wenn also, wie Köster schreibt: „die Augen und Gedanken hinter der augenblicklich behandelten Textstelle zurückgeblieben oder ihr vorausgeeilt sind, und nun die bereits erledigten oder die erst bevorstehenden Sätze den Wortlaut beeinflussen", so ist das natürlich gleichzusetzen mit den hier aufgezeigten „klanglichen Assoziationen". Typischer aber, und von ihm entsprechend hervorgehoben, sind die Fälle, in denen das Auge (ähnlich dem Zeilensprung) abirrt, so daß hier vom eigentlichen Versetzen gesprochen werden kann, z. B.: Jetzt aber waren wir beide wieder fast genesen und schon in den nächsten Tagen wollte ich die Heimreise [wieder] antreten. 1 2

Storm, ed. Köster II, S. 109f., und Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Th. Storms (vgl. S. 129, Anxn. 3), S. 41. Vgl. Prolegomena, a. a. O., siehe S. 129.

Fehlerquellen

55

Man könnte hier am ehesten von einer ,,optischen Assoziation" sprechen. Doppelungen (Hochzeiten) oder Auslassungen (Leichen) haben gleiche Voraussetzungen wie beim Schreiber-„Handwerk". Besonders wesentlich sind aber für diesen Bereich h) Mechanische Fehler Buchstaben vertauschung: a) Der Setzer ist unkonzentriert und vergreift sich: ein falscher Buchstabe wird gesetzt. ß) Ein ins falsche Fach zurückgefallener Buchstabe löst den Fehler aus. y) Der Buchstabe wird falsch in die Zeile gesetzt (Fliegenkopf). i) Korrekturfehler Sie gehören wie die Vertauschung von Buchstaben ebenfalls noch zu den Setzerfehlern. Die vom Autor erwünschte Weiterentwicklung des Textes erfolgt nicht, weil eine Autorkorrektur unbeachtet bleibt. Moderne Ausgaben: Kösters „Storm", Stefls „Stifter" und Frankels „Keller", um nur einige zu nennen, haben auf Grund von Zeugnissen bzw. Korrekturbogen und Kartons „Verwitterungsschäden" heilen können. Allerdings gilt es hier, sorgfältig zu wägen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Dichter eine schon durchgeführte Korrektur in der Revision wieder zurücknimmt. Ausnahmen, z. B.: Moderner Druckbetrieb Durch technische Voraussetzungen entfallen eine Anzahl von Fehlermöglichkeiten : 1. Hörfehler sind nicht mehr möglich. Diktate begegnen nur noch beim Blindtastensystem im modernen Zeitungsbetrieb und auch hier nur ausnahmsweise, wenn eine Auflage auf die Straße soll. Inwieweit das Diktaphon einen neuerlichen Umschwung bringt, bleibt abzuwarten. 2. Interpolationen, die aus einer bestimmten Haltung des Schreibers oder des Auftraggebers eingeschaltet wurden, sind dem modernen Auftragswesen (das gilt «inschränkend auch für die Handschriften-Fabriken des späten Mittelalters) fremd. Eine Sonderstellung nehmen hier wie dort solche Nachdrucke ein, die bewußt entstellen, kürzen oder erweitern, weil sie parodistischen Charakter haben. Angesichts der überaus großen • Fehlermöglichkeiten ist man versucht, nach Mitteln zu forschen, die das Auffinden von Fehlern erleichtern. Insbesondere hat man nach Berechnungsgrundlagen an Hand statistischer oder wahrscheinlichkeitstheoretischer Methoden gesucht. Es soll daher kurz geprüft werden, inwieweit exakte Ergebnisse durch die Anwendung mathematischer Methoden zu erwarten sind. Grundsätzlich ist Voraussetzung, daß man vom Einzelfehler ausgeht. 4. Fehlergesetz Zunächst ist (in der bei Programmierungsfragen üblichen Weise) die (theoretisch) mögliche Fehlerzahl eines Wortes zu bestimmen. Dabei muß berücksichtigt

56

Textveränderungen

werden, daß die Buchstaben in Zahlenwerte umzusetzen sind, deren Gesamtprodukt sogleich die Zahl der Möglichkeiten (Fakultät!) anzeigt. Für das Wort „Tor" ergibt sich also: T o r ( = 1. 2. 3) [6!] ort rto otr rot tro (231) (312) (213) (321) (132) Von diesen Kombinationen erscheinen sinngebend nur noch ort, rot und (als mögliche Abteilung) tro [-pen etc.]. Von vornherein bleiben Ersetzungen ausgeschlossen: a) auch wenn das Wort seinen Stellenwert (3) behält: Tor schließt Tür aus; b) erst recht, wenn das Wort seinen Stellenwert erweitert: Tor schließt Thor aus. Die Fakultät des Wortes Thor würde sich sogleich auf 24 erhöhen und neue Bedeutungen (z. B. Hort) einbeziehen. c) Dasselbe gilt natürlich noch vielmehr für den semantischen Austausch des Wortes: Tor schließt Pforte aus (vgl. auch a). Damit ist zunächst erwiesen, daß der „exakte" Anwendungsbereich äußerst klein ist, der zudem für spezielle Behandlungen (etwa Gaußsche Fehlergesetze usw.) ungeeignet ist, weil seine „mittleren Werte" zwar berechnet werden können, aber semantisch nicht aufgehen. Es muß davor gewarnt werden, die Möglichkeiten dieser Disziplin als Kriterium zu überanstrengen; zu welchen Irrtümern das führen kann, soll im Kapitel „Stemmatik" dargelegt werden. Wie wenig selbst eine Fehlerstatistik oder Wahrscheinlichkeits-Theorie zu nützen vermag, soll im folgenden Abschnitt durch Kollation erwiesen werden; denn es gilt zu prüfen, ob von der Kenntnis der hier ausgebreiteten Fehlermöglichkeiten nicht vom Einzelfehler aus wichtigere Kriterien für die Textkonstitution gewonnen werden können als von der genealogischen Methode her, die aus den Fehlergruppen der verschiedenen Textzeugen die Abstammung der einzelnen Zeugen erschließt. Es soll insbesondere aber auch ermittelt werden, ob dieses Vorgehen sich an einem autorisierten Text ebenso rechtfertigt wie an einem nichtautorisierten.

E. Untersuchungen zur genealogischen Methode Es empfiehlt sich, für unser Vorgehen einen Text zu kollationieren, der unter Augen des Autors mehrmals, möglichst zu ein und derselben Zeit, gedruckt wurde. Natürlicherweise muß dabei weitgehend ausgeschlossen sein, daß er selbst noch Ausgabe für Ausgabe änderte. Vielmehr wäre es wesentlich, gleichermaßen ein vom Autor korrigiertes und ein von ihm nicht korrigiertes Werk als Grundlage der Beurteilung zu haben. Es gibt in der gesamten Überlieferung der deutschen Lite-

Untersuchungen zur genealogischen Methode

57

ratur kein geeigneteres Baispiel als die Ausgabe letzter Hand von Wielands Sämtlichen Werken. Jedes einzelne Werk dieser Ausgabe wurde viermal zu fast gleicher Zeit gedruckt. Es erschienen: 1. eine billige 8 (C1) 2. eine bessere klein-8° (C2) 3. eine groß-8" (C3) 4. eine Vorzugs-Ausg. 4° (C4) Wenn man bedenkt, daß allein 1796 43 Bände der verschiedenen C-Ausgaben gedruckt wurden, so kann man mit Kurrelmeyer feststellen, daß es sich hier um eine „Massenproduktion" handelt. 1 Seuffert hat darauf hingewiesen2, daß die Erkenntnis, was dem Setzer und Korrektor an Textänderungen zugetraut werden könnte, aus den C-Bänden 21—25 gewonnen werden müsse, die Wieland selbst nicht habe korrigieren können. Im allgemeinen sei aber folgendes zu erwarten: 1. Die 8° stamme unmittelbar aus der Wielandschen Druckvorlage. 2. Setzer und Korrektoren hätten diese, oft aus verschiedenen Druckereien stammenden Vorlagen schon auszugleichen versucht. 3. Die Kommatisierung werde nach dem Setzergeschmack der Zeit vorgenommen. 4. Bei direkter Bede würden Anführungszeichen beigefügt usw. 5. Bei elisionsfahigen Silben walte der Zufall oder der Geschmack des Setzers. 6. Wieland selbst habe im allgemeinen die 8° korrigiert' (außer 20—25; 31 u. 32 nur in der kl-8°). 7. Nach den erhaltenen Nachrichten sei anzunehmen, daß Wielands Korrekturen im Korrekturexemplar nicht mehr berücksichtigt wurden, sondern erst für die drei besseren Ausgaben. Kurrelmeyer, von dem die meisten Textuntersuchungen der Ausgabe stammen, hat nach seiner genealogischen Methode folgende allgemeine Auffassung vertreten: Den vier Setzergruppen [diese Annahme ist gewagt] wurde je eine Vorlage, die aus den Aushängebogen von C1 bestand, gegeben. Diese diente dann (gegebenenfalls mit den Verbesserungen des Dichters oder des Faktors) als Druckvorlage für die drei anderen Ausgaben. Hieraus ergibt sich für Kurrelmeyer zwanglos der Grundsatz, daß Abweichungen (Sonderfehler) eines dieser Drucke einem der Setzer (C2~4) zur Last fallen. Eingriffe seitens des Dichters oder des Faktors seien zwar auch hier noch möglich, aber doch nur dann besonders wahrscheinlich, wenn sie im jeweils letzten ausgegebenen Druck vorgenommen werden. Doch auch die Übereinstimmung von zweien dieser Drucke brauche nicht durch den Dichter, sondern sie könne durch den Faktor veranlaßt worden sein. Da Kurrelmeyer nur nach den äußeren Kriterien der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung von Zeugen (und auch da nur auszugsweise) gruppiert, ist es erforderlich, neu zu kollationieren. Es sollen, Seufferts Anregung gemäß, zunächst Varianten der C-Ausgaben Band 22 und 23 (Oberon) ausgezogen werden, bei denen Seuffert die Beteiligung 1 2

Bericht des Hsg. zu Bd. 14 der Akad. Ausg., Berlin 1928, S. A. 11. Vgl. Prolegomena I, S. 15.

58

Textveränderungen

Kollation von Wieland. Oberon. Sämtliche Werke, Band 22 und Band 23 (O"*)! C2

C3

12 (4)

11 (3)

Ci 1.

Textersetzung

2 (2)

l a . Ersetzung älteren Wortgebrauchs

4

6(1)

-

4 (1)

2.

Textauslassungen

3.

Interpolationen

4.

Texthervorhebungen

5.

Textumstellungen

6.

Orthographie

6a. N a m e n s ä n d e r u n g e n 7.

1 .1

1

2

1 2

3(1)

-

2

1

1 (1)

Deklination

1(1) 22 (4) -

2 (2) 14 (4) 2

13 (3) -

4 (1)

6 (1)

8 (2)

9. K o m p a r a t i o n 10.

1

1

Lautliches a) Vokalwechsel u n d konsonant. r b) Elision des e c) s in Kompos. Fuge

8.

2

Komposita

1 3 (1)

-

3 (1)

11. K o n j u g a t i o n (Tempuswechsel)

3 (1)

1

1 (1)

12.

A n f ü h r u n g direkter Rede

3 (2)

2(1)

13.

Interpunktion

14.

Sonstiges

S u m m e der möglichen Textbesserungen

2 1(1)

40 (17)

43 (9)

27 (14)

1

5 (2)

-

1

-

-

87 29

100 24

68 25

12 3

Anmerkung: Die Ziffern in den K l a m m e r n geben die Zahl der möglichen Textbesserungen wieder. 1

N a c h Wieland, A k a d . Ausg., ed. W . Kurrelmeyer, 13. Bd. (Bericht), Berlin 1935.

Untersuchungen zur genealogischen Methode

59

Wielands ausschließt. Dann mögen sich die Bände 6 und 7 (Goldner Spiegel) anschließen, bei deren Korrekturgängen Wielands Beteiligung gesichert ist. Die Untersuchung bringt folgendes Ergebnis: Band 22/23 (Oberon) hat bei einem (grob geschätzten) Wortbestand von 45000—50000 Worten 267 Abweichungen aller Ausgaben, im höchsten Falle einer Ausgabe lediglich 100. Da hiervon noch 24 mögliche Textverbesserungen abzuziehen sind, gelangt man zu einem (maximal) äußerst niedrigen Fehlersatz von etwas mehr als einem 0/00. Textveränderungen sind am häufigsten: 1. bei Interpunktion, 2. bei Elision des e (Apostrophierung), 3. als Textersetzungen. Bei allen drei Gruppen überwiegt die Zahl der anzunehmenden Fehler die möglichen Besserungen um mehr als das Doppelte. Dieser Befund entspricht im allgemeinen auch dem sonstigen Sachverhalt. Nach Seufferts Auffassung, daß die Kommatisierung nach dem Setzergeschmack vermehrt worden sei, ergibt sich; daß die Gruppen, die Komma-Probleme behandeln, tatsächlich umfangreich sind. Allerdings kann man von Neigung zu Kommatisierung nicht sprechen, weil a) das Verhältnis zwischen Punkt und Komma folgendes ist: gegenüber 11 Kommata im Text 1 stehen 11 Punkte in C1"4, wovon in einzelnen C nur 7 als Fehler, hingegen 4 als Besserungen anzusehen sind (einmal hätte ein Ausrufungszeichen, ein andermal ein Semikolon konjiziert werden müssen). Gegenüber 6 Punkten im Text stehen 6 Kommata in C 1-4 , von denen eines als Besserung angesehen werden darf. Außerdem hat Wieland als Autorvariante selbst beglaubigt: ein C-Komma. Auf Grund der sonstigen Überlieferung können außerdem 2 Besserungen als besonders beglaubigt betrachtet werden, so daß die Zahl der unentschiedenen (oder fehlerhaften) Fälle nur 11 beträgt. b) von 6 im Texte fehlenden Kommata 2 zur Ergänzung bereitstehen und von 5 im Texte vorhandenen 2 als tilgbar angesehen werden können. c) das Verhältnis zwischen Ausrufungszeichen und Komma noch eindrucksvoller ist. 5 Ausrufungszeichen im Text stehen 2 Kommabesserungen gegenüber und einem Komma ein Ausrufungszeichen als Besserung. d) der Wechsel von Komma zu Fragezeichen in einem Falle völlig geklärt ist und im anderen das Komma offensichtlich falsch steht, während bei einem weiteren Wechsel anstelle des Fragezeichens ein Ausrufungszeichen gegen die ganze Überlieferung hätte konjiziert werden müssen. e) bei dem einmal vorkommenden Wechsel zwischen Semikolon und Komma der Komma-Vorschlag eindeutig besser ist. Aber auch bei den elisionsfa,higen Silben ergibt sich ein anderes Bild, als es Seuffert zeichnet: 1

Als „Text" ist in diesen Fällen, wenn nichts anderes vermerkt wird, immer der in der Akad. Ausg. gebotene zu verstehen.

60

Textveränderungen

bei 51maligem Wechsel sprechen 7 Lesungen für die im allgemeinen durchgeführte Regelung, die Elision zu kennzeichnen. Varianten dieser Regelung sind Nachlässigkeiten oder Druckfehlern zuzuschreiben, nicht aber, wie Seuffert meint, dem Zufall oder dem Geschmack des Setzers. Hingegen zeigt die Gruppe der Ersetzungen an, daß hier sehr viel stärker ein Sichversetzen erkennbar ist. Welche Bedeutung das für die Konstitution dieses Textes hat, wird noch gezeigt werden. Da auch in dieser letzten großen Gruppe die Bemühungen offenbar sind, einen als falsch erkannten Text zu belassen, ergeben sich weitreichende Fragen, die indessen erst nach Beurteilung der beiden anderen Bände besprochen werden sollen. Es muß noch untersucht werden, ob die Setzereigentümlichkeiten erkennbar sind und damit Kriterien für die Textgestaltung gewonnen werden können. 1. Druckfehler Hierunter sind im wesentlichen Buchstabenvertauschungen zu verstehen. Sie können überall vorkommen und zuweilen auch einen anderen als einen fehlerhaften Sachverhalt als Ursache annehmen lassen: a) Textersetzungen: wofern > sofern Der > Den (vgl. auch unter g) Hirngespenst > Hirngespinst Noch > Doch b) älterer Sprachzustand beim Wechsel von echt > acht denn > dann c) Orthographie: hier besonders im Wechsel von Groß- und Kleinschreibung, Dehnungs-h: schwante > schwahnte d) Namensform: Amanda > Amande e) Vokalwechsel (bzw. Umlaut): Mißmüthig > Mißmuthig f) Konsonant, r: theuern > theuren g) ganz besonders beim Artikel (vgl. a) und den Deklinationsendungen (in Verbindung mit Präpositionen): dem > den, ihm > ihn, im > in h) Komposita: hell gestirnten > hellgestirnten (vgl. a) Sogar > so gar, Hand voll > Handvoll u. ä. i) hinter scheinbarem Tempuswechsel (bzw. Moduswechsel) kann sich allerdings ein bloßer Fehler verbergen: hatten > hätten, stieg' > stieg

Untersuchungen zur genealogischen Methode

61

2. Leichen Voraussetzung für das Erkennen dieser Fehler ist es, daß sie Sinnentstellungen im Text verursachen. Das ist hier eindeutig nur einmal der Fall: Der Schlaf, . . . Der . . . viermahl [ihn] zu lähmen . . . pflegt, Zuweilen lassen auch metrische Gründe den Fehler erkennen: Und wie er Treu' und Pflicht ihm [heilig] schwören will, . . . Betroffen, sprachlos, steht der junge Ritter still, Allerdings muß in diesem Falle auf den überaus freien Gebrauch des Metrums hingewiesen werden, der den besonderen Reiz des Oberon ausmacht. Daher ist die Leiche „heilig" bei weitem nicht so sicher wie die Leiche „ihn". 3. Korrekturfehler Vom Setzer nicht berücksichtigte Korrekturen des Autors können hier nicht über C1 hinaus erwartet werden. Die Fälle, in denen C 1 allein (außerhalb der älteren Überlieferung) bessert, sind aber relativ gering. Von den 29 möglichen Besserungen stammt nur eine aus C1 allein, während aus C 1,2 7 und aus C1"3 8 mögliche Besseningen gegen die sonstige Überlieferung stehen. 4. Vorklang Diese Erscheinung ist nur zweimal feststellbar: Der Mann, der nie gebebt anstelle: Den Mann, der . . . (vgl. unter 5). 5. Nachklang Die Zahl dieser Fehlergruppe ist überaus groß, sie begegnet vorwiegend in der Gruppe der Textersetzung: Wir euch zu ergetzen, wofern ihr noch] . . . sofern . . . (vgl. auch la) Bald wieder sein zu sehn] . . . seyn Hiton . . . Der Thiere Fürst] . . . Thüre (Vor- und Nachklang); gelegentlich auch bei Elision und Interpunktion: Die Tänzer all', von Schlaff'] und Taumel schwer vielleicht auch: An meinem Zauberwerk gebrechen; Dein Aug' ist offenbar noch nicht von Wolken frey! (: frey;). 6. Interpolation Die einzige Interpolation ist wahrscheinlich ebenfalls als Nachklang zu erklären : und habe sie von einem Idschoglan. / Der aus dem strudelnden Schaum [sie] bis zur Terraß' . . .

Textveränderungen

62

Kollation von Wieland. Der goldne Spiegel. Sämtliche Werke, Band 6 und 7 (Ci' 4 ) 1

1.

Textersetzung

C1

C2

C3

C4

64 (26)

24 (18)

9 (2)

10 (4)

10

4

4

2.

Textauslassungen

22 (2)

8 (1) 31 (15)

1 (1)

-

3.

Interpolationen

22 (15)

7 (5)

2 (1)

-

4.

Texthervorhebungen

-

1

-

5.

Textumstellungen

6.

Orthographie

la. Ersetzung älteren Wortgebrauchs

6a. Fremdwort 7.

1 8 (3) 29 (1) 9

1 (1) 11 (4)

-

-

7 (2)

3 (1)

5 (2)

1

1

9 (2)

-

-

Lautliches: a) Konsonant, r (u. el) b) r-Ausfall (vgl. unter la) c) Elision des e d) Apokope des e e) s in Kompos.-Fuge

33 (11) 7 (1) 1

32 (11) 3 (2) 1

21 (9) 3 1

14 (6) 2 1

4

8.

Deklination

72 (20)

39 (20)

15.(7)

9 (7)

9.

Komparation

9 (2)

5 (2)

3 (1)

3(1)

10.

Präpositionen

3

-

-

-

11.

Konjugation (Tempuswechsel)

20 (4)

7 (3)

12.

Interpunktion Sonstiges

35 (1) 27 (1)

13 (7)

13.

Summe der möglichen Textbesserungen

376 87

10(4)

6 (3)

3

3

5

2

1 (1)

201 93

83 27

57 23

Anmerkung: Die Ziffern in den Klammern geben die Zahl der möglichen Textbesserungen wieder. 1

Nach Wieland, Akad. Ausg., ed. W. Kurrelmeyer, 11. Bd. (Bericht), Berlin 1932.

Untersuchungen zur genealogischen Methode

63

Band 6/7 (Der goldne Spiegel) hat bei ojnem (grob geschätzten) Wortbestand von 130000—140000 Worten 717 Abweichungen aller Ausgaben, im Falle der Ausgabe C2 lediglich 201; da hiervon noch 93 mögliche Textverbesserungen abzuziehen sind, gelangt man zu einem (maximal) äußerst niedrigen Fehlersatz von etwas mehr als V2%o- Die außerordentlich hohe Zahl der Abweichungen der Cl-Gruppe muß hier gesondert bewertet werden. Es handelt sich vornehmlich um die letzte Stufe vor der Autorvariation. Die Mehrzahl der Varianten sind in dieser Gruppe zweifelsfrei Autorvarianten. Die Zahl der dennoch möglichen Textbesserungen deutet in der Korrektur übersehene Besserungen an (vgl. Korrekturfehler). 1 Textveränderungen sind am häufigsten: 1. 2. 3. 4.

bei bei als als

Deklination Elision (Apostrophierung) Textersetzung Textauslassungen.

Bei fast allen vier Gruppen (außer 2) beträgt die Zahl der möglichen Autorvarianten mehr als die Hälfte, in der Gruppe Elision nahezu die Hälfte. Dieser Befund entspricht im allgemeinen auch dem sonstigen Sachverhalt. Da die Gruppen 2 und 3 mit dem Band 22/23 übereinstimmen, sei auch hier Seufferts Annahme von der Willkür bei Elision geprüft. Zunächst ist festzustellen, daß bei keiner der vorkommenden Abweichungen die Elision (oder Apokope) durch Apostrophierung gekennzeichnet ist. Es ist eine Angleichung an die übliche, nicht elidierte Norm deutlich, während abgesehen von anderen Voraussetzungen (fehlerhafte Beibehaltung des e und ältere Deklinationsform) der Rest Druckfehlern bzw. Nachlässigkeiten zugeschrieben werden muß. Die Gruppe der Ersetzungen nimmt auch hier eine besondere Stellung ein, doch die Zahl der möglichen Autorvarianten ist beträchtlich größer als die der offensichtlichen Versetzungen (vgl. Vor- bzw. Nachklang). Es muß zwischen folgenden Gruppen unterschieden werden: a) E-Gruppe (E = Ausgabe des Textes außerhalb der C-Ausgabe) Die mit E verbundene C-Ausgabe zeigt in der Regel die letzte Textstufe vor der Autorvariation. Gelegentlich wird eine (nicht mit E gehende) Lesung von C1, die korrigiert wird, nicht beachtet (vgl. Korrekturfehler). Die Sonderlesungen von C, die sich aus der Druckvorlage des Doppeldruckes E° erklären, müssen, soweit sie nicht als fehlerhaft ausgeschieden (vgl. Nachklang) werden können, als autorisiert (vgl. Autorvarianten) gelten. b) Cl-Gruppe Die hier vermerkten Abweichungen sind fast sämtlich übersehene Autorvarianten (vgl. Korrekturfehler). 1

Es muß hier angemerkt werden, daß der Bericht von Kurrelmeyer zu Verwirrung Anlaß gibt, da er für C1 häufig auch ohne Anlaß die Sigle C la verwendet, obgleich er deren Gebrauch nur bei Auftreten des Doppeldruckes C lb usw. vorgesehen hatte.

Textveränderungen

64 fe) C2-Gruppe

Die Mehrzahl der hier verzeichneten Varianten macht wahrscheinlich, daß die gleiche Voraussetzung wie bei Gruppe C 1 besteht. d) Die Gruppen C 3 und C4 lassen nur für zwei Abweichungen von C4 die Entscheidung offen, ob es sich um Autorvarianten handeln kann. Auch bei den Textauslassungen gelten ähnliche Unterscheidungen wie bei den Ersetzungen. ; EC 1 zeigt auch hier die letzte Textstufe vor der Autorkorrektur, C2 hingegen ist auch hier die beachtenswerteste Gruppe, da nicht alle Auslassungen dem Setzer zugeschrieben werden können, sondern als echte Tilgungen angesehen werden müssen. Bezieht man die erste Gruppe der Textveränderungen (Deklination) in die Prüfung der Ursachen dieser Veränderungen mit ein, so ergibt sich, daß dje Mehrzahl ihrer Varianten nicht Schwankungen im Kasus, sondern lediglich Setzernachlässigkeiten zugeschrieben werden muß.

1. Druckfehler Bemerkenswert ist, daß beim Fremdwort das Genitiv-s, das sonst Norm ist, fehlt und gleichermaßen das Dativ-e, das im allgemeinen Verwendung findet.1 Seltener sind die vielleicht als Setzernachlässigkeit zu erklärenden Verschiebungen von m zu n (Dativ: Akkusativ), von s zu r (Genuswechsel, großes: großer). Gelegentlich tritt auch Wechsel des Numerus ein. Ob hier bloßer Druckfehler die Ursache ist, mag bezweifelt werden (vgl. Nachklang). Sicher ist es die Hinzufügung des -n nicht, weil sich sein Fehlen aus der älteren Deklinationsform erklärt. Aber auch hier können natürlich Druckfehler allenthalben begegnen, die zuweilen einen anderen als fehlerhaften Sachverhalt als Ursache annehmen lassen. a) älterer Sprachzustand: weitläufig: weitläuftig b) Textersetzungen: Sennen > Sehnen c) Orthographie: Groß- und Kleinschreibung (vornehmlich Anrede) d) Namensform: Dehly > Dely e) Vokalwechsel (bzw. Umlaut): avante > avanti, hatte > hätte 1

Während der Drucklegung erschien: Thomas Mann. Briefe an Erich Neumann. In: Vollendung und Größe Thomas Manns. Hrsg. von Georg Wenzel. Halle 1962. Es ist besonders interessant zu sehen, welche Auffassung er zu den hier anstehenden Fragen wie Dativ-e und Genitiv-s, vom Standpunkt eines modernen Autors aus hat.

Untersuchungen zur genealogischen Methode

65

f) Konsonant, r (und el): euern > euren, edlen > edeln g) Deklination (vgL oben) h) Tempuswechsel: belieben > beliebten, wollen > wollten, verordnet > verordnete 2. Leichen Diese Felllerart ist relativ selten: so gut zu kennen als — meine eignen [Angelegenheiten] — bemächtigte sich der Zuneigung . . . und . . . [der Gunst] des Königs welche gestern [jenseits des Flusses], den Gärten meines Serails gegenüber (noch weitere eindeutige Beispiele) 3.

Korrekturfehler

Ihre Anzahl ist hier verhältnismäßig hoch. Sie kommen in fast allen Gruppen vor und sind folgendermaßen zu deuten: a) sie können aus einem Doppeldruck stammen (Ec oder C lb ); b) als ein Kriterium für ihre Bewertung kann die Isolierung von C1 oder C2 oder von beiden gegen die andere Überlieferung angesehen werden, wenn positive Lesungen unbeachtet blieben: verfolgte, [verfolgte und C1] keiner dem die [sonderbare C1] Laune u. ä. mit keinem Wort / > Worte/Erwähnung thun / > erwähnen/ Ihre / > Ew./ Majestät u. ä. der / > dieser/ Provinz schimärisch > schwärmerisch u. ä. Vortheile > Vorurtheile usw. 4. Vorklang Der Fehler ist nur einmal in der Gruppe Ersetzungen feststellbar: Hier verliert sich / > sie/ ihre Stimme (Vor- und, Nachklang) 5. Nachklang Er ist dagegen, vor allem in der Gruppe dar Ersetzungen, häufiger: alle widrige Zufalle . . . und die übrigen [alle] entgegen . . . eilen > gehen (Nachklang: entgegengehen ?) So war sein erster Gedanke, ob nicht alles . . . ein Werk der Zauberey sey. > war. das Volk.. . [Akkusativ].. . und den / > der/ Adel (Nachklang des vermeintlichen Nomin.) 6

Seiffert, Deutsche Texte

66

Textveränderungen

6. Zeilensprung Er ist bei den Textauslassungen zweimal zu verzeichnen. 7. Interpolationen Sie sind, soweit sie nicht durch Nachklang entstanden oder sonst als fehlerhaft erkannt sind, als Besserung in ähnlicherWeise wie die Ersetzungen zu betrachten. Zusammenfassender

Vergleich

Wichtigstes Ergebnis unserer Auswertung ist: die maximale Zahl der Fehler beträgt beim Oberon das doppelte wie beim Goldnen Spiegel. Die minimale Zahl steht im noch günstigeren Verhältnis für den Goldnen Spiegel und verhält sich fast wie 1 : 3 . Das bedeutet also, daß der vom Autor korrigierte Goldne Spiegel sorgfaltiger hergestellt ist als der Oberon, der Autorkorrekturen entbehren mußte. Die Tatsache, daß sich die möglichen Autorvarianten über alle Gruppen (wenn auch unterschiedlich an Zahl) erstrecken, gibt Veranlassung, noch einmal die Kurrelmeyerschen Gruppierungen zu bedenken. Aus dem Verhältnis der Varianten des Oberon legt er folgende Gruppen fest: 1. C1 gegen C 2 " 4 3. C1"3 gegen C 2 ' 4 5. C3 gegen O 2 " 4 2. C1-2 gegen C 3 ' 4 4. C2 gegen 0 3 - 4 6. C4 gegen Ci" 3 Für diese sind dann nach Kurrelmeyer folgende Regeln maßgebend: „Diese sechs Gruppen von Lesarten erklären sich ungezwungen durch die Annahme, daß jedem der späteren Drucke C 2 ' 3 ' 4 ein besonderes Exemplar der Aushängebogen von C1 als Druckvorlage gedient habe. In diese Vorlagen trug dann der Faktor die nachträglichen Verbesserungen ein: wo dies gelegentlich unterlassen wurde oder der betreffende Druck schon weiter vorgeschritten war, weist derselbe die alte Lesart von C1 auf. Auch hier gilt also der textkritische Grundsatz: wo zwei der späteren Drucke C 2 " 4 (oder alle drei) übereinstimmen, liegt eine gewollte Änderung des Faktors vor; wo einer dieser Drucke allein steht, liegt entweder ein Versehen oder eine eigenmächtige Änderung des betreffenden Setzers vor, wie in den meisten Fällen der Gruppen 4 und 5, oder eventuell auch eine vom Faktor gemachte Verbesserung, wie an einigen Stellen in Gruppe 6." Aus der Kollation und der auf den Einzelfall bezogenen Bewertung werden folgende Beispiele zur Nachprüfung dieses Grundsatzes herangezogen: 2. C1'2 gegen C3'4 1. C* gegen C 2 " 4 6.760: Schein.": Schein. 1.66: sofern : wofern (Nachklang) 3. C 1 ' 3 gegen C2*4 4. C2 gegen C1'3'4 5.552: kaum die Augen zu er12.541: jetzt: itzt heben : . . . aufzuheben (Nachklang: kaum-Augen-auf)

Untersuchungen zur genealogischen Methode

67

6. C4 gegen W * 12.171: Sultanschritt: Sultansschritt Aus jeder dieser Gruppen wurde nur ein Beispiel gewählt, auch wenn mehrere zur Verfügung standen. Es zeigt sich, daß in keinem einzigen Punkte der textkritische Grundsatz von Kurrelineyer allein entscheidend sein kann. Im Gegenteil, wendet man ihn an, gelangt man zu einem Text, der zu größten Bedenken Anlaß gibt (vgl. S. 96). Da für den Goldnen Spiegel ähnliche Ergebnisse vorliegen, nur hier mit der noch größeren Wahrscheinlichkeit von Autorvarianten, wird auf die Mitteilung aus dieser Kollation verzichtet, weil neue Gesichtspunkte nicht zu erwarten sind. 5. C3 gegen C1"2"4 4.186: fleucht: fleugt

Umhlick Ehe Folgerungen gezogen werden, sei zur weiteren Orientierung in dieser Frage ein Blick auf andere Verhältnisse geworfen. Dabei kann aber nicht genug betont werden, daß das Wieland-Beispiel (vier Drucke zu gleicher Zeit!) einzig ist. Die vier Drucke hingegen, die textgeschichtlich für Goethes Hermann und Dorothea wichtig sind (D1, D1», D l a 2 , A), sind nicht gleichzeitig und zwei von ihnen (a und a 2 ) auch nicht autorisiert gedruckt. Diese beiden Nachdrucke haben aber den Text von A beeinflußt. Die Fehlerlisten1 lassen dennoch deutlich werden, daß auch hier für die Entscheidung, ob eine Lesung genuin oder nicht genuin ist, die Mehrzahl der übereinstimmenden Zeugen nicht allein gültig sein kann. Hier steht dann z. B.: D 1 gegen alle anderen Drucke: zurück,-Töchtern,] Kommata fehlen verbirgest] verbirgst anderen] andern Brot] Brod

Gefahren.] Gefahren; Pfarrer] Pfarrherr stehet] steht u. ä.

In allen Abweichungen bietet D 1 den echten Text gegen die (verderbte) Überlieferung. Daher gilt der Grundsatz, daß-wichtiger als die Regel: „Mehrzahl der Zeugen gegen einen Zeugen" und sogenannte „bessere gegen die schlechtere Lesart", die Entscheidung ist, ob eine Lesart unter irgendeine der von uns benannten Fehlerkategorien eingeordnet werden kann. Wichtig ist die Erkenntnis aus den Wieland- und Goethe-Werken, daß mit einer Veränderung des Textes gerechnet werden muß, die nicht als fehlerhafte Entstellung, sondern als bewußte Weiterbildung oder Umformung bezeichnet werden darf. Hier wird ein überaus wichtiges Problem berührt: Wenn in einem so gut überlieferten autorisierten Text die Frage der Textersetzung nicht einwandfrei zu klären ist, wie kann man das für einen nichtautorisierten erwarten ? i Vgl. Siegfried Scheibe, a. a. O., S. 262-267. 5'

68

Textveränderungen

Besonders muß betont werden, daß dann bei jedem Text mit Autorvarianten gerechnet werden muß, wenn die Untersuchung eine Fehlermöglichkeit ausschließt und wenn ein unbefugter Eingriff in die Textgestaltung auch sonst nicht angenommen werden kann. Es handelt sich im Prinzip um das gleiche Problem, das in der ShakespeareForschung der neueren Zeit durch englische Textkritiker gesehen wurde1, wenn sie substantive Zeugen annehmen, indem sie aus Sonderlesungen eine Substanz des originalen Textes zu gewinnen glauben. Wenn also schon an den wenigen Beispielen erkennbar wurde, daß die genealogische Methode in eine Sackgasse führt, so muß man nach neuen Wegen suchen. Richtig ist, daß ein und derselbe Fehler durch die ganze Überlieferung hindurch verfolgt werden kann; richtig ist auch, daß bestimmte Fehler gruppiert werden können, so daß gewisse Zeugen, in bezug auf diese Fehler, in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Aber in jedem Falle exakte sogenannte „verwandtschaftliche Beziehungen" herzustellen ist unmöglich (vgl. Stemmatik). Wenn Maas schreibt, daß gegen „Kontamination" kein Kraut gewachsen sei 2 , so ist gerade diese Fehlergruppe so wesentlich, daß ihre Heilung von entscheidender Bedeutung für die Rekonstruktion des originalen Textes bei verdeckter Textgeschichte ist. Es sind dann eben nicht die „Leitfehler" (vgl. Stemmatik), die zum „Archetypus" zurückführen, sondern die demaskierte Kontamination tritt gegen die gesamte Überlieferung. Gabriele Schieb hat durch die Mitteilung aus ihrer Arbeit am Veldeke diesen Sachverhalt für den mittelalterlichen Bereich bestätigt. Vom sprachgeographischen Gesichtspunkt aus ersetzte sie die Frage nach der besseren oder schlechteren Lesart durch die Frage nach der größeren Nähe oder Ferne zum Altlimburgischen, der Sprache des autorisierten Textes. Wesentlich ist es, daß sie Fehlergruppen enthüllen konnte, die nicht als gemeinsame Leitfehler zu identifizieren waren, die vielmehr als sprachliche Charakteristika der Urfassung („Palimpsesten" gleich) „in Mißverständnissen, Fehlern und Umdeutungen der Handschriften vereinzelt noch durch die gesamte Überlieferung durchschlagen."3 Beispiele: Für Veldekes Limburgisch sind die h-Pronomina he(r) „er", here „ihr", heme „ihm" oder „ihn", het „es", hen „ihnen" charakteristisch. Während in Thüringen (vgl. S. 44) nur mit altem he(r) gerechnet werden kann, findet sich in der Überlieferung gelegentlich here (ihr) > Herre oder Heer, heme (ihm, ihn) > hine, hin. Besonders unsicher sind die Schreiber bei here (ihr), her (er) und here (hierher), weil nur die Aussprache das graphisch Identische trennte. Verschiedene Deutungsmöglichkeiten ließen auch die Form limb. dochte > dünkte und taugte schwanken. 1 J 3

Vgl. Textual Criticism. In: Oxford Classical Dictionary, 1949. Textkritik, Leipzig 3 1957, S. 31. Gabriele Schieb, a. a. O., S. 13.

Untersuchungen zur genealogischen Methode

69

Sehr viel häufiger als in diesem Falle, da die Urschrift zwar einer anderen Mundart, aber doch der gleichen Sprache angehört, schlagen solche rein assoziativen Fehler durch, sobald die Quelle fremdsprachig ist. Auch hier sind neben graphischen Berührungen (vgl. etwa : Hartmann, Erec 7440 : meister Umbriz < Chrétien 5349: uns brez tailliere) Kontaminationsformen oder wenigstens einer bestimmten Assoziation zuzuordnende Varianten feststellbar. Reinhold Kluges Lancelot-Ausgabe bietet dafür reiche Belege.1 Ob bei solcher Art „gemischter" (mehrsprachiger) Überlieferung überhaupt ein sicheres Abhängigkeitsverhältnis der Handschriften einer Sprache voneinander begründet werden kann, ist eine gerade für den Artus-Kreis wesentliche Frage, die der Untersuchung bedarf. Wenn schon für Otfried bezeugt ist, daß zur Herstellung einer neuen Abschrift eine „Kontrollhandschrift" beigezogen wurde (vgl. S. 82), wenn insbesondere von modernen Übersetzern bekannt ist, daß sie als Hilfe und Kontrolle eine vorhandene Übersetzung heranziehen, so dürfen wir umgekehrt annehmen, daß bei einer Abschrift aus dem eben genannten Bereich zuweilen die anderssprachige Handschrift zur Kontrolle verglichen wurde (vgl. S. 35). Kollationsmaschinen Die Dauer der Arbeiten an einer bestimmten Edition wird dann äußerst langwierig, wenn zahlreiche scheinbar identische Drucke zu vergleichen sind (vgl. S. 17f.). Hier vermag eine nach dem Kriege erprobte mechanische Einrichtung zuverlässiger und schneller zu arbeiten. Es handelt sich um eine in England und in den USA besonders bei der Kollation der First-Folio-Shakespeare-Ausgabe angewendete Methode. Das Verfahren ist denkbar einfach, es beruht auf der Verbindung epidiaskopischer und kinematographischer Technik. Durch Steuerungs- und Beleuchtungseffekte werden die beiden Objekte, die zunächst zu vergleichen sind, in gleicher Größe (durch verstellbare Optiken) auf die Leinwand geworfen, so daß jedes einzeln gezeigt werden kann, zugleich aber aus beiden durch rasche Alternation der wechselnden Bilder (Kine-Effekt) ein neues, durch Kongruenz, entsteht. Diese Kongruenz bewirkt aber, daß die nichtidentischen Textstellen im neuen Bild schwarz oder als Punkte (eigentlich als Foto-Palimpsest) erscheinen, so daß ihre Feststellung ohne genaue Vergleichung des Textes sofort möglich ist. Charlton Hinman hat über seine Erfahrungen mit dieser Maschine, insbesondere über die Zuverlässigkeit ihrer Arbeitsweise und auch über die Schnelligkeit der Kollation berichtet. 2 1

DTMA, Bd. XLII (1948), besonders der eben erschienene 2. Teil des Erzählwerks, DTMA, Bd. XLVII (1963). 2 Vgl. Times Literary Supplement vom 9. 3. 1946 und dann ausführlicher: Charlton Hinman. Mechanized Collation at the Houghton Library. In: Harvard Library Bulletin. S. 132-134.

70

Textveränderungen

Es scheint, daß dieses Verfahren durchaus weiter entwicklungsfähig ist, und zwar nicht nur für die Kollation. Sicher kann man auch den Korrekturvorgang durch die Anwendung dieser Methode wesentlich verkürzen. Zu fragen ist auch, ob das technische Problem nicht umgekehrt bewältigt werden kann, indem durch ein geeignetes Spiegelreflexverfahren die beiden Objekte zur Kongruenz gebracht werden und dieses neue Bild dann wiederum durch Vergrößerung über eine Mattscheibe läuft. Aber das soll in diesem Zusammenhang nur angedeutet werden. Aus den Augen verlieren darf man das Verfahren nicht mehr, da es sicherere Ergebnisse bringt als sich aus der Vergleichsmethode erwarten lassen. Die Nachrichten hingegen, die von Elektronenmaschinen bekannt sind, lassen für das Problem der Kollation gegenwärtig weniger erhoffen als für bestimmte bibliographische und grammatisch-syntaktische Sammelleistungen. Gelegentlich können diese Elektronenmaschinen bei besonders günstigen Voraussetzungen auch für textkritische Entscheidungen in Ansprucn genommen werden, soweit sie auf begründeten Wahrscheinlichkeitsoperationen beruhen. Das war beispielsweise bei den Schriftrollen vom Toten Meer der Fall. Voraussetzung ist aber immer eine kluge Programmierung. Leider ist die dafür erforderliche Methodik noch allenthalben in der Entwicklung. Wenn auch nicht bezweifelt werden kann, daß sich hier für die Zukunft entscheidende Möglichkeiten andeuten, so stellen sich für absehbare Zeit die Kosten solcher Maschinen so hoch, daß sie kaum rentabel sind, wenn sie die gegenwärtigen Kollationsverfahren ersetzen sollen. Insbesondere müssen sie fotoelektrische und elektronische Prinzipien vollautomatisch vereinigen. Das ist eine Voraussetzung, die bisher noch in den Anfangen steckt, die sich in den nächsten Jahrzehnten aber rasch entwickeln kann. Dennoch lassen gewisse Probleme der Programmierung, wie sie uns heute für solche Maschinen schon gestellt werden, auch interessante Fragen für unser Thema anklingen. Eine Auswertung läßt sich aber erst dann erwarten, wenn wenigstens das Problem der mechanischen Übersetzung von Sprachen auch stilistisch befriedigend gelöst ist; denn das erscheint als Grundvoraussetzung weiterer Entwicklungen. Inzwischen können durch elektronische Verfahren, die sich an den Schriftrollen anscheinend bewährt haben, nur Teilprobleme gelöst werden.

III. STEMMATISCHE FRAGEN

A. Stemmatische Typen

Der genealogischen Methode ist es eigen, daß sie die Abhängigkeitsverhältnisse der Handschriften, wie sie aus der Recensio deutlich werden, schematisch in einem Stammbaum darstellt oder, wie es Otto Immisch treffender ausdrückte1, in einer Rezensionsformel. Paul Maas hat in Fortführung der Methode versucht, ihre Möglichkeiten exakt zu begrenzen, indem er mit der Einführung des Begriffes des Leitfehlers zu stemmatischen Folgerungen gelangt.2 Er unterscheidet, je nachdem ob a) die Unabhängigkeit eines Zeugen (B) von einem anderen (A) durch einen Fehler von A gegen B erwiesen werden kann: Trennfehler, oder wenn b) die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen (B und C) gegenüber einem dritten (A) erwiesen werden kann durch einen den Zeugen B und C gemeinsamen Fehler: Bindefehler. Aus der Zahl der Zeugen und dem Verhältnis ihrer Abhängigkeit oder Unabhängigkeit leitet Maas seine stemmatischen Typen her. Er ermittelt beim Vorliegen von zwei Zeugen drei Typen: (II2) (verl. Archetyp.) /v (II la ) A (II lb ) B I I ' • A B A

1

Liegen drei Zeugen vor, so steigt die Zahl der stemmatisch möglichen Typen auf 22 an, bei vier vorhandenen Zeugen gar auf 250 und wächst bei jedem weiteren geometrisch progressiv (bei 5 etwa 4000!). Bei drei Zeugen können folgende Grundtypen zugrunde liegen: (III1*)

1 2

A / X B C

(III lb )

A I ß / \ B C

Wie studiert man klassische Philologie? Stuttgart 21920, S. 106. Leitfehler und stemmatische Typen. In: Byzantinische Zeitschrift 37, 289ff., dann in: Textkritik, Leipzig 31957, S. 27ff. Diesem Abriß sind auch die in Klammer gesetzten Ordnungszahlen entnommen.

74

Stemmatische Fragen

(III2®)

a

(IH 26 )

(III 20 )

a

(III 3 )

ßA sC

/ \

A

a

a

/N A B C

B

Prüfen wir Maas' „stemmatische Gesetze" nach, so bestechen sie durch ihre Logik und Exaktheit. Was sie für einen autorisierten Text hergeben, mag wiederum am 7. Band Wielands (Der Goldne Spiegel) erklärt werden. Er weist nach Kurrelmeyer folgende Gruppen auf: 1. 2. 3. 4.

C1 steht mit mindestens 320 Stellen allein1 gegen C 2 " 4 C2 steht an mindestens 150 Stellen allein gegen C 1 - 3 - 4 C1-3 stehen an etwa 32 Stellen gegen C 2 - 4 an 13 (belanglosen) Stellen ist C3 isoliert an 12 (belanglosen) Stellen ist C4 isoliert. Das ergäbe folgende stemmatische Darstellung:

C2

C3

C4

Theoretisch wäre demnach: 1 . = „Trennfehler" von C1 gegen C 2 " 4 (zugleich „Bindefehler"), um Ci auszuschalten. 2. — „Trennfehler" von C2 gegen C 1 - 3 - 4 (zugleich „Bindefehler"), um C2 auszuschalten. 1

Die Kollation an Hand von Kurrelmeyers Bericht (vgl. S. 62) kann diese Zahl (die allein für Band 7 gelten soll, Band 6 hat nochmal ca. ebensoviel) nicht bestätigen. Entweder liegt ein Versehen Kurrelmeyers vor, oder die von ihm gebotenen Varianten geben nur eine Auswahl. Allerdings wäre das Prinzip dieser Auswahl in keiner Weise durchsichtig.

Das Problem der Mehrspaltigkeit

75

3. = „Trennfehler" von C1-3 (zugleich „Bindefehler") gegen C 2 - 4 (zugleich „Bindefehler"), um