Understanding YouTube: Über die Faszination eines Mediums [1. Aufl.] 9783839423325

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Understanding YouTube: Über die Faszination eines Mediums [1. Aufl.]
 9783839423325

Table of contents :
Inhalt
1. EINLEITUNG
Der Autor und sein Problem mit den Videoclips
Untersuchungsgegenstand: Videoclips im Internet
»Ökonomie der Aufmerksamkeit« und »Technologien des Selbst«
Partizipation, Archiv, Verletzung des Urheberrechts
How I learned to stop worrying and love all videoclips
Untersuchungsziele – Das Rätsel der Faszination
Die mediale Konfiguration der Videoplattformen
Distributions- und Produktionsbedingungen
Zugänglichkeit und Auswahlakte: »Video-on-Demand«
Form der Organisation – Top-Down vs. Bottom-Up
Die Nutzer der Videoplattformen im Internet
Nutzertypisierung I: Amateure vs. Profis
Nutzertypisierung II: ›aktive‹ vs. ›passive‹ Nutzer
Entwicklung des Zirkulationsbegriffs
2. DIE ZIRKULATION DER VIDEOBILDER
Zirkulation als kultureller Prozess
Das Originalvideo: LEAVE BRITNEY ALONE!
Clone Wars: Das Projekt der perfekten Wiederholung
»Biokybernetik«: Von der mechanischen Reproduktion zum Klon
Videoklonen als deviante Medienpraxis
Kommunikationspathologien: Der Klon als imperfekte Kopie
»Rauheit« als Verweis auf Körperlichkeit und Materialität
Automatismen der Wiederholung
Intervention – Die »ikonoklastische Wiederholung«
Ein Recyclingvideo: Re: LEAVE BRITNEY ALONE!
L.H.O.O.Q. – Reproduktion und ikonoklastische Modifikation
Détournement, Spiel und Intervention
Das Recyclingvideo und die »Aufteilung des Sinnlichen«
Parasiten und Viren als Modell für das intervenierende Andere
Variation aus Mutation: Der Nutzer als Mutagen
Nachahmung als Wiederholung mit Differenz
Die Parodie als Form der Nachahmung
Die Soziologie der Nachahmung
Die Wiederholung als Wiederholung mit Differenz
Shanzhai-Subkultur
3. FAZIT
Vom Sog der Zirkulation in den Strudel der Automatismen
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Videoclips
Namensregister
ANHANG
Texte zur Shanzhai-Kultur
Wortschatzentwicklung am Beispiel des Begriffs »Shanzhai« SUN XIAOXUAN
>>Shanzai

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Roman Marek Understanding YouTube

Roman Marek

Understanding YouTube Über die Faszination eines Mediums

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Coverdesign von www.i-rother.com, Portraitfoto von www.erwinolaf.com Lektorat & Satz: Roman Marek Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2332-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Danksagung

Das vorliegende Buch entstand im Rahmen des interdisziplinären Graduiertenkollegs Automatismen der Universität Paderborn. Mein Dank geht vor allem an meinen Doktorvater und Erstbetreuer Prof. Dr. Hartmut Winkler (Medienwissenschaften) und meine Doktormutter Prof. Dr. Hannelore Bublitz (Soziologie), die in den jeweils entscheidenden Momenten die richtigen Worte gefunden haben. Prof. Dr. Inga Lemke (Medienästhetik & Kunst) danke ich für wertvolle inhaltliche Anregungen und ihre beispiellose Sozialkompetenz. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft gilt mein Dank für die im Rahmen des Graduiertenkollegs gewährte großzügige Finanzierung zahlreicher Konferenzreisen, des Forschungsaufenthaltes in der VR China und für den Druckkostenzuschuss zu dem vorliegenden Buch. Dieses Projekt wäre jedoch nie zustande gekommen ohne den Ansporn und unermüdlichen Zuspruch von Dr. Rosalinde Sartorti (Kultur- und Bildwissenschaften). Anna Bak-Gara (Berlin) bestärkte mich durch ihre stetige Anteilnahme und ihr Interesse an meiner Arbeit. Dass die Abbildungen in diesem Buch in Farbe zu sehen sind, verdanke ich der Unterstützung von Joicy Kothuur und Dr. Johannes Fritsche (Istanbul). Dr. Michael Lindner danke ich für die kontinuierliche Auseinandersetzung und die viele Zeit, die er mir gewidmet hat. Dr. Brigitte Obermayr (Slavistik und AVL) beeindruckte mich durch ihre Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Themen. Ich bin ihr noch heute dankbar für die Betreuung meiner Abschlussarbeit in Osteuropastudien. Es war Erwin Olaf (Amsterdam), der meine Aufmerksamkeit auf die Welt der Videoclips lenkte. Ihm und Shirley den Hartog danke ich sehr für die Denkanstöße, die sie mir gegeben haben. Frau Birsel Korkmaz vom Jobcenter Pankow danke ich für ihr außerordentliches Verständnis für die akademische Welt. Auch geht mein Dank an all die Freunde, die mir in dieser besonderen Zeit beigestanden haben. Insbesondere meine Mit-Kollegiatin Dr. Christina L. Steinmann hat es an Ermutigungen nie fehlen lassen. Marc Altenburg war von Anfang an in das Projekt involviert und stand mir vor allem mit seinen sprachlichen Fähigkeiten zur Seite. Dafür, dass auch das leibliche Wohl nicht vernachlässigt wurde, sorgten Uta Herbing mit vielen gemeinsamen Abendessen und Florian Schneider mit diversen Feinkost-Menus. Karen Tippkötter, eine treue Freundin seit den Tagen des gemeinsamen International-Business-Studiums, hat mir unmittelbar nach Abschluss der Schreibphase die Freude eines gemeinsamen Urlaubs in Frankreich gemacht. Weit zurück in die Vergangenheit blickend danke ich meiner Lehrerin Lilo Bögehold (Deutsch und SoWi) für ihr besonderes Engagement. In die Zukunft schauend wäre ich auch den Lesern dieses Buches dankbar für ihre Kritik: [email protected] Berlin, im Januar 2013

Roman Marek

Inhalt 1. EINLEITUNG Der Autor und sein Problem mit den Videoclips ___________________ 11

Untersuchungsgegenstand: Videoclips im Internet ___________________ 16 »Ökonomie der Aufmerksamkeit« und »Technologien des Selbst«_____ 19 Partizipation, Archiv, Verletzung des Urheberrechts ________________ 27 How I learned to stop worrying and love all videoclips ______________ 38 Untersuchungsziele – Das Rätsel der Faszination __________________ 40 Die mediale Konfiguration der Videoplattformen ____________________ 45 Distributions- und Produktionsbedingungen ______________________ 45 Zugänglichkeit und Auswahlakte: »Video-on-Demand« _____________ 45 Form der Organisation – Top-Down vs. Bottom-Up ________________ 46 Die Nutzer der Videoplattformen im Internet________________________ 47 Nutzertypisierung I: Amateure vs. Profis _________________________ 48 Nutzertypisierung II: ›aktive‹ vs. ›passive‹ Nutzer__________________ 61 Entwicklung des Zirkulationsbegriffs______________________________ 67

2. DIE ZIRKULATION DER VIDEOBILDER Zirkulation als kultureller Prozess _______________________________ 75

Das Originalvideo: LEAVE BRITNEY ALONE! von Chris Crocker_______ 78 Clone Wars: Das Projekt der perfekten Wiederholung ________________ 82 »Biokybernetik«: Von der mechanischen Reproduktion zum Klon _____ 86 Videoklonen als deviante Medienpraxis _________________________ 100 Kommunikationspathologien: Der Klon als imperfekte Kopie _______ 110 »Rauheit« als Verweis auf Körperlichkeit und Materialität __________ 124 Automatismen der Wiederholung ______________________________ 131

Intervention – Die »ikonoklastische Wiederholung« ________________ 140 Ein Recyclingvideo: Re: LEAVE BRITNEY ALONE! von Tizen______ 145 L.H.O.O.Q. – Reproduktion und ikonoklastische Modifikation ______ 154 Détournement, Spiel und Intervention __________________________ 169 Das Recyclingvideo und die »Aufteilung des Sinnlichen« __________ 199 Parasiten und Viren als Modell für das intervenierende Andere ______ 218 Variation aus Mutation: Der Nutzer als Mutagen _________________ 246 Nachahmung als Wiederholung mit Differenz _____________________ 257 Die Parodie als Form der Nachahmung _________________________ 260 Die Soziologie der Nachahmung ______________________________ 265 Die Wiederholung als Wiederholung mit Differenz _______________ 273 ”Õ°_ – Shanzhai-Subkultur ______________________________ 280

3. FAZIT Vom Sog der Zirkulation in den Strudel der Automatismen ________ 301 Abbildungsverzeichnis _______________________________________ 311 Literaturverzeichnis __________________________________________ 313 Verzeichnis der Videoclips ____________________________________ 351 Namensregister ______________________________________________ 353

ANHANG Texte zur Shanzhai-Kultur _____________________________________ 359 Wortschatzentwicklung am Beispiel des Begriffs »Shanzhai« SUN XIAOXUAN ¥µ¾ ______________________________________ 361 »Shanzhai« aus sozialwissenschaftlicher Perspektive BAO YUE-PING "Ћ ______________________________________ 375 Die zwei Shanzhai Neujahrsfestgalas des Lao Meng SUN XIN ¥¸ _____________________________________________ 387

1. Einleitung

Der Autor und sein Problem mit den Videoclips Anfang des 17. Jahrhunderts, als die Nachfrage nach Kunst und Gemälden in Europa an Dynamik gewann, entwickelte sich in Antwerpen ein besonderes Genre, nämlich das der Bilder von Kunstsammlungen, den Kunstkammern (kunstkamers).1 Eines der bekanntesten Kunstkammer-Bilder stammt von David Teniers dem Jüngeren (1610-1690), der ab 1651 als Hofmaler in Brüssel die etwa 1300 Werke umfassende Kunstsammlung des Erzherzogs Leopold Wilhelm, damals Statthalter der spanischen Niederlande, betreute. Teniers schuf 1660 den ersten illustrierten Katalog einer Gemäldesammlung überhaupt, das Theatrum Pictorium.2 Gewissermaßen als Vorgänger dieses Katalogs kann eine Serie von Bildern gelten, die den Erzherzog mit Entourage beim Betrachten seiner Sammlung zeigt.3 Diese Gemälde geben dabei nicht das genaue Arrangement der Bilder 4 wieder, vielmehr sollen sie einen Eindruck von der Sammlung insgesamt vermitteln, denn bei diesem Genre geht es vor allem um das visuelle Zelebrieren des eigenen Besitzes. Als Statussymbol5 durften die Kunstkammer-Bilder demnach durchaus etwas prunkvoller ausfallen: »Depicting a sumptuous array of luxury goods, natural curiosities, connoisseurs and nobles in elegant interiors, the paintings that make up this genre were purposefully seduc-

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Vgl.: Suchtelen, Ariane van; Beneden, Ben van (2009): Willem van Haecht. Kamers vol kunst in 17de-eeuws Antwerpen. Zwolle: Waanders Uitgevers. Katalog zur Ausstellung im Rubenshuis, Antwerpen, 28.11.2009-28.2.2010. Zu den frühesten Malern des Genres gehören Frans Francken der Jüngere (1581-1642) und Jan Brueghel der Ältere (15681625), einer der bekanntesten ist Willem van Haecht (1593-1637). Waterfield, Giles (2006): Teniers’s Theatrum Pictorium. Its Genesis and Its Influence, in: Claerbergen, Ernst Vegelin van (Hg): David Teniers and the Theatre of Painting. London: Paul Holberton Publishing, S. 40-57, hier S. 41. Vgl. dazu die Ausstellung David Teniers and the Theatre of Painting in der Courtauld Institute of Art Gallery, London, 19.10.2006-21.1.2007. ‹http://www.courtauld.ac.uk/gall ery/exhibitions/2006/teniers/index.shtml› [15. Mai 2010]. Das ein solches Arrangement aber nicht ausgeschlossen sein muss, zeigte der chinesische Künstler Yan Lei mit seinem Limited Art Project (2011-2011) auf der Documenta 13. Ullrich, Wolfgang (2008): Kunst als Statussymbol, in: Kunst Magazin Berlin, Nr. 0802 (2008), S. 4-9.

12 | U NDERSTANDING Y OU T UBE tive, designed to parade the consummate skill of the Southern Netherlands’ finest artists at a time when the market for works of art was growing and highly competitive.«6

Abb. 1: Teniers, Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Galerie in Brüssel (1651)7 Besonders eindrucksvoll ist das um 1651 entstandene Gemälde Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Galerie in Brüssel (Abb. 1). Neben dem Besitzer sowie dem Maler selbst durften hier natürlich auch die Schmuckstücke der Sammlung (u.a. Tizian, Giorgione, Veronese und Raphael) nicht fehlen. Nahtlos sind die Bilder an den Wänden aneinander gefügt, so als handele es sich um Kacheln, die die Wand bedecken sollen. Hinzu kommt noch, dass die Bilder sich teilweise gegenseitig verdecken. Einige, darunter die größten Schätze, stehen sogar auf dem Boden, wo sie

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Marr, Alexander (2010): The Flemish »Pictures of Collections« Genre: An Overview, in: Intellectual History Review, Volume 20, Issue 1, 2010. Special Issue: Picturing Collections in Early Modern Europe, S. 5-25, hier S. 5. DOI: 10.1080/17496971003638233. David Teniers der Jüngere, El archiduque Leopoldo Guillermo en su galería de pinturas en Bruselas (ca. 1651), Öl auf Leinwand, 104,8x130,4 cm. Museo Nacional del Prado, Madrid. ‹http://www.museodelprado.es/coleccion/galeria-on-line/galeria-on-line/obra/el-a rchiduque-leopoldo-guillermo-en-su-galeria-de-pinturas-en-bruselas/› [15. Mai 2010].

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an die Wand und aneinander gelehnt sind, und im Hintergrund lockt bereits eine leicht geöffnete Tür den Blick des Betrachters8, einen weiteren, ebenso prunkvoll ausgestatteten Raum zu erkunden. Trotz seiner überbordenden Fülle aber wirkt dieses Bild geradezu ruhig verglichen mit Johan Zoffanys La Tribuna degli Uffizi (1772-77). In diesem von der englischen Königin Charlotte in Auftrag gegebenen Gemälde (Abb. 2) sind nicht nur weitaus mehr Personen abgebildet, darüber hinaus ist auch noch der Boden übersät mit Kostbarkeiten und Teppichen. Das Potpourri von insgesamt rund 80 Kunstwerken (Raphael, Rubens, Tizian, Holbein, Guido Reni, Lorenzo di Credi, Corregio…) wird komplettiert durch mehrere im Raum verteilte Antiken. Auf den Wänden konkurriert die leuchtend rote Tapete mit goldumrahmten Gemälden um Aufmerksamkeit, mehrere Personengruppen, bunt gekleidete englische Adelige, scharen sich um verschiedene Kunstwerke, fassen diese an, sind in Debatten vertieft. 9 Kurz: Das Auge findet keine unausgefüllte Fläche mehr, um zu entspannen. Königin Charlotte, die die Arbeit im Voraus bezahlt hatte, war von dem Ergebnis enttäuscht, da so viele eher unwichtige Adelige abgebildet waren – jedoch nicht sie selbst und auch kein anderes Mitglied der königlichen Familie.10 Doch die zeitgenössische Kritik thematisierte noch einen anderen Aspekt der Darstellung dieser Bildergalerie: This »accurate picture has the same effect on the spectator which the gallery itself has on first entering it; the multitude of excellencies contained in it, dissipate our ideas, and it requires some time to arrange them before we can coolly examine the merit of any individual piece.«11

Was sich hier andeutet, ist das Gefühl der Informationsüberflutung: Zu viele Eindrücke strömen auf den Betrachter ein, und es stellt sich die Frage, ob die von Walter Benjamin thematisierte Sammlung des Betrachters vor dem Kunstwerk12 hier überhaupt möglich ist, scheint es doch, als würde es dieses Meta-Gemälde, diese Extremform des Bild-Im-Bild-Themas dem Betrachter extra schwer machen, sich darin zu versenken, in es einzugehen.

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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 9 Vgl.: Millar, Oliver (1966): Zoffany and his Tribuna. London: Routledge & K. Paul. 10 Vgl.: ‹http://www.royalcollection.org.uk/eGallery/object.asp?object=406983&row=0&de tail=about› [15. Mai 2010]. 11 Ebd. 12 Vgl.: Benjamin, Walter (1991; 1936): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I-2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 471-508, hier S. 504.

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Abb. 2: Zoffany, La Tribuna degli Uffizi (1772-1777), unten: Detail13

13 Johann Zoffany, The Tribuna of the Uffizi (1772-1777), Öl auf Leinwand, 123,5x155 cm. Royal Collection, London. ‹http://www.royalcollection.org.uk/eGallery/object.asp?object =406983&row=0&detail=about› [15. Mai 2010].

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An diesem Punkt erklärt sich auch, warum zu Beginn einer Untersuchung, die die Zirkulation der Videobilder im Internet behandelt, ein Gemälde aus der Mitte des 17. Jahrhunderts steht: Als der Autor dieser Arbeit zum ersten Mal mit YouTube in Berührung kam, war die Videoplattform noch ganz neu, und die erste Assoziation, die sich angesichts der Massen an Videobildern einstellte, war das Bild des Erzherzogs in seiner Kunstgalerie. Denn das Gefühl der Informationsüberflutung war gleich, der Unterschied war jedoch, dass auf YouTube keine Meisterwerke ausgestellt wurden und werden, sondern mehrheitlich ›banales Zeug‹. Diese Tatsache hat in der Öffentlichkeit größenteils zu einer ablehnenden Haltung gegenüber den Videoclips im Internet geführt, eine Haltung, die auch vom Autor der vorliegenden Arbeit geteilt wurde. Gleichwohl hat ihn der Wunsch, diesem Phänomen näher zu kommen und die Gründe für seine Popularität zu erhellen, nicht los gelassen und sein analytisches Interesse geweckt. Das Ergebnis ist die vorliegende Untersuchung.

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U NTERSUCHUNGSGEGENSTAND : V IDEOCLIPS

IM I NTERNET

Die Arbeit befasst sich mit den seit dem Aufkommen der Videoplattform YouTube im Jahre 2005 immer populärer werdenden, von Amateuren veröffentlichten Videoclips im Internet, die in der allgemeinen Wahrnehmung meist mit dieser Plattform verknüpft werden.14 Laut dem eigenen Gründungsmythos wurde YouTube ohne kommerzielle Interessen von einer Gruppe von Freunden 15 ins Leben gerufen, da Videodaten wegen ihrer Größe nicht per Email verschickt werden konnten. Völlig überraschend war, welche Resonanz dieses Portal in kürzester Zeit weltweit fand. Die Nutzerzahlen stiegen so rasant, dass sich Google bereits 2006, nur ein Jahr nach der Gründung, entschloss, YouTube für über eine Milliarde Euro zu übernehmen. 16 Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt operierte diese Videoplattform als »lawless repository«17, zumindest teilweise mit verbotenen und verpönten Inhalten am Rande der Legalität und jenseits des ›guten Geschmacks‹. Von Anfang an hat YouTube dabei die Öffentlichkeit polarisiert: Die Medien prangerten vor allem Verstöße gegen das Urheberrecht und Verletzungen der Moral durch Verbreitung von Pornographie (»Zubringer nach Sodom«18) und gesetzlich verbotenen Inhalten an, zudem wurde YouTube vor dem Hintergrund banaler Inhalte und narzisstischer Selbstdarstellung in Frage gestellt: die Videoportale als »Bühnen des Mobs und der Wichtig-

14 »Even though this technology was already there around 1997 with platforms such as RealVideo, it was only in 2006 that millions of users got familiar with the small video screens when YouTube reached a critical mass of short video clips.« Lovink, Geert (2008): The Art of Watching Databases. Introduction to the Video Vortex Reader, in: Lovink, Geert; Niederer, Sabine (Hg.): Video Vortex Reader: Responses to YouTube. Amsterdam: Institute of Network Cultures, S. 9-12, hier S. 9. 15 Zu den YouTube Gründern Chad Hurley, Steve Chen und Jawed Karim sind bereits Biografien erschienen, diese können jedoch nicht als wissenschaftlich im engeren Sinne gelten, vgl.: Duffield, Katy (2008): Chad Hurley, Steve Chen, Jawed Karim: YouTube Creators. Farmington Hills, MI: Gale Publishers. Rowell, Rebecca (2011): Youtube: The Company and Its Founders. Edina, MN: ABDO Publishing. 16 Da in der vorliegenden Untersuchung plattformübergreifende Phänomene im Vordergrund stehen, soll die Geschichte YouTubes hier nicht genauer verfolgt werden. Für eine ausführlichere Beschäftigung mit YouTube vgl.: Burgess, Jean; Green, Joshua (2009): YouTube. Online video and participatory culture. Digital Media and Society Series. Cambridge: Polity Press, S. 1-6. Snickars, Pelle; Vonderau, Patrick (2009): Introduction, in: Snickars, Pelle; Vonderau, Patrick (Hg.): The YouTube Reader. Stockholm: National Library of Sweden, S. 9-21. Für einen Fokus auf den wirtschaftlichen Aspekt in der Entwicklung YouTubes vgl.: Wasko, Janet; Erickson, Mary (2009): The Political Economy of YouTube, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 372-386. 17 Burgess; Green (2009): YouTube, S. 15. 18 Gangloff, Tilmann P. (2007): Pornographie im Internet. Das Anna-Problem, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.01.2007, Nr. 1, S. 6

E INLEITUNG

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tuer«19. Die Wirtschaftsteile der Zeitungen thematisierten YouTube vor allem als nächstes großes Schwergewicht der Medienbranche. Ansonsten fokussierte sich die Berichterstattung meist auf verschiedene ›sensationelle‹ oder dokumentarische Videoclips und deren Urheber. Insgesamt wurde YouTube als Erscheinung der Jugendkultur charakterisiert und das Phänomen damit marginalisiert. 20 Die öffentliche Abwertung und Ausgrenzung tat der Popularität YouTubes bei den Nutzern jedoch keinen Abbruch. Dementsprechend jagte anfangs eine Sensationsmeldung die nächste: immer höhere Nutzerzahlen, immer mehr veröffentlichtes Videomaterial, noch eine Milliarden-Klage wegen Verletzung des Urheberrechts etc. – so lange, bis die Zahlen für das menschliche Vorstellungsvermögen nur noch schwer fassbar waren und die Ignoranz ihr gnädiges Mäntelchen über die Informationsflut deckte. Nicht zu verschleiern war jedoch die formale und inhaltliche Banalität der Videoclips, die Andrew Keen, Internetpionier und wahrscheinlich scharfzüngigster Kritiker der Amateurbewegung im ›Web 2.0‹, in seinem Buch Cult of the Amateur wie folgt charakterisiert: »The site is an infinite gallery of amateur movies, showing poor fools dancing, singing, eating, washing, shopping, driving, cleaning, sleeping, or just staring into their computers.«21 Keens Polemik ist allerdings nicht weit von der Realität entfernt; auch der Medienwissenschaftler Geert Lovink z.B. äußert sich in seiner ungleich differenzierteren Studie eher resigniert über die Videoclips: »Instead of an explosion of the collective imaginary we witness digital disillusion […]. The low quality of YouTube’s most popular videos certainly indicates that this platform is not a hotbed of innovative aesthetics.«22 Während Henry Jenkins zunächst noch ein Loblied auf die »participatory culture« 23 als Errungenschaft der digitalen Medien angestimmt hatte, herrscht inzwischen Konsens darüber, dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – das Gewöhnliche und Bekannte auf den Videoportalen vorherrscht. Sogar populärwissenschaftliche Publikationen, die auf der InternetStar-Welle mitschwimmen wollen, stellen konsterniert fest: »On video-sharing sites, the most ordinary of situations can become an Internet sensation. Babies laugh-

19 Maresch, Rudolf: (2007): Die Bühnen des Mobs und der Wichtigtuer. Die digitale Revolution entlässt ihre Kinder ins Mitmach-Web. In: Telepolis 21.1.2007. ‹http://www.heise. de/tp/r4/artikel/24/24480/1.html› [15. Mai 2010]. 20 Für eine genauere Analyse der Medienberichterstattung vgl.: Burgess; Green (2009): YouTube, S. 15ff. 21 Keen, Andrew (2007): The Cult of the Amateur. How Today’s Internet is Killing Our Culture and Assaulting Our Economy. London: Nicholas Brealey, S. 5. 22 Lovink, Geert (2011): Engage in Destiny Design. Online Video Beyond Hypergrowth. Introduction to Video Vortex Reader II, in: Lovink, Geert; Somers Miles, Rachel (Hg.): Video Vortex Reader II. Moving Images Beyond YouTube. Amsterdam: Institute of Network Cultures, S. 9-13, hier S. 9. 23 Vgl.: Jenkins, Henry (2006): Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York: New York University Press.

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ing, kids lip-syncing, teens describing their heartaches, animals playing, and grown men dancing can all be found in the vaults of video-sharing sites.«24 Doch ungeachtet der dort versammelten Banalitäten lockten die Videoplattformen immer mehr Nutzer in ihre Labyrinthe und YouTube entwickelte sich zum Selbstläufer. Die mit der zunehmenden Popularität der Videoplattformen einhergehende öffentliche Kritik, Ratlosigkeit, aber auch Faszination resultierte in einer ebenso breiten wie vielfältigen Forschungsliteratur zu diesem Phänomen sowie zahlreichen populärwissenschaftlichen Publikationen. An erster Stelle sind hier Ratgeber zu nennen (etwa »YouTube for Dummies«), die sich sowohl an die Amateure25 als auch an Marketingexperten26 richten, was darauf hindeutet, dass auch Insidern die angeblich so einfach zu bedienenden Videoplattformen mitunter schwer durchschaubar erscheinen. Mehrheitlich aber zielen sie darauf ab, den Nutzern – über eine (vermeintliche) Selbstoptimierung – Wege zum Erfolg zu verkaufen. Damit aber geraten die Videoclips im Internet in ein Spannungsfeld zwischen Selbstdarstellung, vermeintlicher Authentizität27 und einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Nahezu alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen – nicht nur die Medienwissenschaften – sind nach wie vor bemüht, Erklärungsansätze für dieses neue Phänomen zu finden. Im Folgenden sollen die einzelnen mit den Videoportalen verbundenen Topoi, die der Forschung als Leitlinien dienen, aber auch die Diskussion unter den Nutzern der Portale selbst bestimmen, schrittweise vorgestellt werden.

24 Burns, Kelli S. (2009): Celeb 2.0. How social media foster our fascination with popular culture. Santa Barbara, CA: ABC-CLIO, S. 61. 25 Miller, Michael (2009): Sams Teach Yourself Youtube in 10 Minutes. Indianapolis, IN: Sams Publishing. Sahlin, Dou; Botello, Chris (2007): YouTube For Dummies. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons. Dedman, Jay; Paul, Joshua (2006): Videoblogging. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons. Hodson, Ryanne; Verdi, Michael; Weynard, Diana; Craig, Shirley (2006): Secrets of Videoblogging. Berkeley, CA: Peachpit Press. Kaminsky, Michael Sean (2010): Naked Lens: Video Blogging & Video Journaling to Reclaim the YOU in YouTube. New York, NY: Organik Media. Bourne, Jennie; Burstein, Dave (2009): Web video. Making it great, getting it noticed. Berkeley, CA: Peachpit Press. Cottrell Bryant, Stephaniel (2006): Videoblogging for Dummies. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons. 26 Jarboe, Greg (2009): YouTube and Video Marketing: An Hour a Day. Indianapolis, IN: Wiley Publishing. Schepp, Brad; Schepp, Debra (2009): How to Make Money with YouTube: Earn Cash, Market Yourself, Reach Your Customers, and Grow Your Business on the World’s Most Popular Video-Sharing Site. Dubuque, IA: McGraw-Hill. Miller, Michael (2011): YouTube for Business: Online Video Marketing for Any Business. Toronto: Pearson Education. Turner, Jamie (2011): How to Make Money Marketing Your Business on Youtube. Upper Saddle River, NJ: FT Press. Safko, Lon (2010): The Social Media Bible: Tactics, Tools, and Strategies for Business Success. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons. 27 Vgl.: Burgess; Green (2009): YouTube, S. 27ff. Burgess, Jean; Green, Joshua (2009): The Entrepreneurial Vlogger. Participatory Culture Beyond the Professional-Amateur Divide, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 89-107.

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»Ökonomie der Aufmerksamkeit« und »Technologien des Selbst« Professionell erstellte Videoclips lassen meist unschwer die Intention ihres Produzenten erkennen: Sie sollen informieren, überzeugen, unterhalten oder etwas verkaufen. Einen interessanten Spezialfall bilden Videoclips, die im Zuge viraler Marketingstrategien nicht als Werbung zu erkennen sein sollen. Als virales Marketing (viral advertising) bezeichnet man Vermarktungsstrategien, die auf bestehenden sozialen Netzwerken aufbauen, um Produkte bekannt zu machen. 28 Dabei sollen sich die versteckten Werbebotschaften durch Mundpropaganda, also gleichsam epidemisch von Mensch zu Mensch ausbreiten.29 Für den Bereich der Amateurprodukte jedoch lassen sich kaum generalisierende Aussagen über die Motivation einzelner Nutzer treffen. Schon die Kategorisierung von Videoclips, etwa anhand thematischer Schwerpunkte, ist angesichts der Vielfalt und Fluktuation des Angebots schwierig. Angesichts dieser Schwierigkeiten blieb sogar dem sonst eher um Verständnis bemühten evangelischen Magazin Chrismon nicht viel mehr übrig als resigniert zu fragen: »Warum müllen diese Menschen uns zu mit ihrem Leben, ihren Gefühlen, ihrer ach so großen Kreativität? Und das millionenfach.«30 Als Erklärungsversuch wird in der Forschung die Veröffentlichung privater Videoclips teilweise auf subjektzentrierte Praktiken der Selbstdarstellung zurückgeführt. So beginnt die Soziologin Birgit Richard einen Beitrag über digitale Jugendkultur gleich mit folgender Feststellung: »Wesentlicher Bestandteil der digitalen Jugendkultur ist die Selbstdarstellung über stille und bewegte Bilder im Internet.«31 Auch den Medien blieb nicht verborgen, dass im Internet »ungezählte Videos krass exhibitionistischer Natur«32 zu finden sind, so dass ein angeblich massenhafter Online-Exhibitionismus »längst zum Thema einer angewiderten Kulturkritik«33 ge-

28 Vgl. Langner, Sascha (2007): Viral Marketing: Wie Sie Mundpropaganda gezielt auslösen und Gewinn bringend nutzen. Wiesbaden: Gabler Verlag. Kirby, Justin; Marsden, Paul (2005): Connected Marketing. The Viral, Buzz and Word of Mouth Revolution. Oxford: Butterworth Heinemann. Rushkoff, Douglas (1994): Media Virus! Hidden Agendas in Popular Culture. New York: Balantine Books. 29 Vgl. dazu auch: Han, Ming (2008): YouTube and Its Mobile Distribution Consumer Media Venturing, in: Noam, Eli M.; Pupillo, Lorenzo Maria (Hg.): Peer-to-Peer Video. The Economics, Policy, and Culture of Today’s New Mass Medium. New York: Springer, S. 219-230. 30 Reimann, Axel (2008): Kann mal bitte einer gucken, in: Chrismon. Das evangelische Magazin, März 2008, S. 30-33, hier S. 31. 31 Richard, Birgit (2009): Das jugendliche Bild-Ego bei YouTube und flickr. True (Black Metal) und Real als Figuren mimetischer Selbstdarstellung, in: Hugger, Kai-Uwe (Hg.) Digitale Jugendkulturen. Bielefeld: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 55-73, hier S. 55. 32 Seibt, Gustav (2007): Weltalltag am PC. Die Privatsphäre: Ein Nachruf zu Lebzeiten, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 208, S. 11. 33 Ebd.

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worden ist. Dass so viele Individuen Privates als Objekt der Betrachtung in Szene setzen, veranlasst Medien und Forschung bereits zu einem Nachruf auf die Privatsphäre34 und der Vorhersage, dass die Grenze zwischen Persönlichem und Öffentlichem ganz freiwillig, d.h. ohne institutionelle Überwachung und Datensammlung fallen könnte. Die Videoclips werden dabei in der Tradition einer seit der Privatisierung des Fernsehens in den 1980er Jahren einsetzenden Selbstthematisierungs-, Bekenntnis- und Geständniskultur gesehen, die in Verbund mit einer allgemeinen Gegenwartstendenz zur Mediatisierung des Alltäglichen (Reality TV) gesetzt wird.35 Das verbindende Element ist die Aufmerksamkeit, oder genauer: die Ökonomie der Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit kann, so der Kunsthistoriker Jonathan Crary, nicht ausschließlich als eine Frage des Blicks, des Sehens und des Zuschauerobjekts behandelt werden, vielmehr handelt es sich mindestens ebenso um eine Konstellation aus Texten und Praktiken. Damit aber ist Aufmerksamkeit keine anthropologische Konstante, sondern sie hat historischen Charakter. Laut Crary gab es seit jeher neue Formen von Spektakel, Schaustellung, Bildprojektion, Attraktion und Registrierung, die die Vorstellungen von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit veränderten. Demnach könnte die Videokultur im Internet nach Fotografie und Fernsehen 36 als weitere Station im »Fieberwahn des Modernisierungsprozesses« aufgefasst werden. Crary stellt fest, dass das in jeder Epoche neu gewonnene Wissen vom Verhalten und der Beschaffenheit des Subjekts mit sozialen und ökonomischen Verschiebungen, mit neuen Darstellungspraktiken und einer umfassenden Reorganisation der audiovisuellen Kultur einherging. Dieses neue Wissen ermöglichte andererseits jedoch auch eine Lenkung der Subjekte: »Was die institutionelle Macht seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts interessiert, ist einfach ein Funktionieren der Wahrnehmung in dem Sinn, daß das Subjekt produktiv, lenkbar, kalkulierbar und darüber hinaus sozial integriert und anpassungsfähig wird.«37

Ein ebenso kritischer Blick trifft auch die Videoplattformen im Internet, die mit ihren scheinbar hedonistischen Selbstinszenierungen ein enormes Potential an Aufmerksamkeit an sich binden. Entsprechend heißt es 2009 in einem Call For Papers des Medienwissenschaftlers Ramón Reichert zur Amateurkultur im Web 2.0:

34 Ebd. 35 Vgl. Burkart, Günter (2006): Einleitung, in: Burkart, Günter (Hg.): Die Ausweitung der Bekenntniskultur – Neue Formen der Selbstthematisierung? Bielefeld: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 24f. 36 Crary, Jonathan (2002): Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 22. Im Original: Crary, Jonathan (2001): Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture. Cambridge, MA: MIT Press. 37 Ebd. S. 16.

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»Selbstverwirklichung wird immer weniger in alternativen Lebensformen bestehender Gegen- und Subkulturen, sondern vielmehr im Konsumhedonismus gesucht. Im heutigen globalen Konsumkapitalismus knüpft sich die Selbsterfüllung im Konsum an neue Techniken der Normalisierung: die Thematisierung des Selbst verortet sich verstärkt im Diskurs der Selbstvermarktung.«38

Reichert beruft sich besonders auf den Architekten und Philosophen Georg Franck, der in seinem Entwurf zur Ökonomie der Aufmerksamkeit »den Zusammenhang zwischen der getauschten Beachtung und der Wertschätzung […], den die Partner einander entgegenbringen beziehungsweise im Tausch der Beachtung aushandeln« 39 untersucht. Aufmerksamkeit ist zweifellos eine wertvolle Größe. Sowohl Crary als auch Franck stimmen darin überein, dass Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund einer Informationsüberflutung – deren »finale Entgrenzung«40 laut Franck durch das Internet realisiert sei – zu einer knappen Ressource geworden ist. Obwohl Aufmerksamkeit nicht direkt konvertibel ist, versteht Franck sie als Einkommen, weil sie »Zugang zu anderen Erlebnissphären verschafft.«41 So muss der Ertrag der Aufmerksamkeit nicht finanzieller Natur sein, vielmehr kann es sich um Selbstwertschätzung, Anerkennung oder Prominenz handeln. Unbestritten ist, dass ein wichtiger Erfolgsfaktor der Videoplattformen im Internet »die Möglichkeit [ist], das eigene Können in einer weltweiten Community zu zeigen, um so Anerkennung in derselben zu bekommen.«42 Gleich zu Beginn seiner Studie führt Franck aus, dass es, ausgehend von einem zunächst normalen Verlangen nach Zuwendung, schließlich zu einem »Kampf um Aufmerksamkeit«43 komme. Die Sorge um die »Attraktivität der eigenen Person«44 und um »ihre Anziehungskraft auf fremde Aufmerksamkeit«45 werden als »Zentrum des Lebensinhaltes«46 dargestellt: »Nicht der sorglose Genuß, nein, die Sorge, daß die anderen auch schauen, wird zum tragenden Lebensgefühl in der Wohlstandsgesellschaft.«47

38 Reichert, Ramón (2009): Call for Paper: Amateure im Web 2.0: Medien, Praktiken, Technologien. Eine transdisziplinäre Konferenz, 24./25. April 2009, Wien. 39 Franck, Georg (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit: Ein Entwurf. München: Carl Hanser Verlag, S. 74. 40 Ebd. S. 66. 41 Ebd. S. 13. 42 Mathys, Nora (2008): Amateure der visuellen Kunst, in: Rundbrief Fotografie. Analoge und digitale Bildmedien in Archiven und Sammlungen. Vol. 15 (2008), No. 4, S. 41-44, hier S. 41. 43 Franck (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit, S. 11. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd.

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Die Soziologin Hannelore Bublitz verweist in ihrem Buch Im Beichtstuhl der Medien darauf, dass leicht der Eindruck entstehen kann, dass das Individuum sich auf seiner Suche nach Aufmerksamkeit in die mediale Vervielfältigung flüchtet: »Dabei erweckt das moderne Individuum den Eindruck, als ob es sich nur noch im Medium der ›Massenrhetorik‹ und der Vervielfältigung seines Selbst in der Öffentlichkeit Ausdruck und Aufmerksamkeit verschaffen kann. Auch scheint es, als unterliege das Individuum einem ›Wiederholungszwang‹, der es, einem unkontrollierbaren Automatismus gleich, unbewusst antreibt, sich in immer neuen Facetten medial reflektierter Oberflächen zu spiegeln.«48

Bublitz kritisiert hier, dass es besonders in der medialen Berichterstattung zu einer inhärenten Pathologisierung dieser Phänomene kommt: »In der journalistischen Berichterstattung der Feuilletons überwiegt […] der Eindruck, dass ›ein neuer Exhibitionismus grassiert‹, dessen komplementäre Entsprechung, medial angereizt und intensiviert, ein medial zirkulierender und verbreiteter ›Voyeurismus‹ sei, Begriffe, die schon deshalb nicht unproblematisch sind, weil sie einen (ab)wertenden Unterton in sich tragen, der sowohl den Voyeurismus, die Lust am Sehen (aus der Distanz), als auch die der Selbstentblößung zugrunde liegende Lust am Gesehenwerden als pathologische, krankhafte Abweichung markiert.«49

Auch Francks Annahme einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, die die Individuen per Definition als unternehmerische Subjekte auf einem Markt der Aufmerksamkeit modelliert, lehnt Bublitz ab, denn diese greife »zu kurz«.50 Bublitz entwickelt ein anderes Verständnis des Subjekts, nämlich das eines Subjekts, das sich getrieben durch medientechnologische Umbrüche und sozioökonomische Zwänge »im Beichtstuhl der Medien« öffentlich präsentiert und transparent macht, um sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Normalität und Exzentrik performativ zu konstituieren und sich so, »angeschlossen an mediale Öffentlichkeiten, beständig seiner Existenz vergewissert.«51 Im Mittelpunkt steht demnach nicht die Suche oder Sucht nach Aufmerksamkeit, sondern das Bedürfnis nach Selbstkonstitution und Vergewisserung der eigenen Existenz:

48 Bublitz, Hannelore (2010): Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis. Bielefeld: transcript, S. 11. 49 Ebd. S. 15. Bublitz zitiert: Greiner, Ulrich (2000): Versuch über die Intimität. Vom Ballermann bis zu ›Big Brother‹, vom Internet bis zur Talkshow. Der neue Exhibitionismus grassiert, in: Die Zeit Nr. 18 vom 18. April 2000. ‹http://www.zeit.de/2000/18/200018.int imitaet_.xml› [15. Mai 2011]. 50 Ebd. S. 22. 51 Ebd. S. 11.

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»Im Beichtstuhl der Medien […] konstituiert sich ein – sich bekennendes, sich sprachlich und visuell präsentierendes – Subjekt, das sich in seiner öffentlichen Artikulation und Manifestation selbst auf die Spur kommt und sich im Spektrum von Konventionen, sozialen Codes und Normen erst bildet und formt. Seine öffentlich-mediale Selbstoffenbarung wird zum Akt, der ›mediale Beichtstuhl‹ zum Ort der Selbsterzeugung. […] Das Begehren, öffentlich gehört und gesehen zu werden, erfüllt den Zweck, sich der anderen und seiner selbst sprachlich und visuell immer wieder zu vergewissern.«52

Bublitz interpretiert hier mediale Praktiken als Technologien des Selbst, als »Analyse von Selbsteffekten und Dynamiken einer performativen Konstitution und Neucodierung des Subjekts.«53 Sie unterstreicht dabei den prozesshaften Charakter dieser permanenten Selbstkonstitution im Spiegel bzw. auf dem Silbertablett der Medien: Die »Ordnung des Zeigens [öffnet] die Augen für etwas, was vorher nicht sichtbar war: das Individuum, das sich unter dem Blick der Öffentlichkeit als Subjekt produziert. Dies sind die produktiven Effekte der panoptischen Macht: Sie erzeugt ein Subjekt, das sich in der Differenz zu anderen hervorbringt und dabei zeigt. Dieses Subjekt unterliegt einer ständigen Transformation und Umcodierung.«54

Dabei ist nicht ausgeschlossen – das verdeutlicht Bublitz anhand eines Beispiels auf YouTube –, dass sich das Subjekt gänzlich unbeabsichtigt55 durch »experimentellspielerische Einübung in ein […] ›unternehmerisches Selbst‹ [verwandelt], das sich ausprobiert und sich mithilfe medial-ästhetischer Praktiken global präsentiert.«56 Francks Ökonomie der Aufmerksamkeit greift zwar zu kurz, gänzlich ausschließen lässt sie sich andererseits aber nicht, denn auf der Suche nach sozialer Inklusion kann das Subjekt als »kreativ-unternehmerisches und ästhetisch-expressives Selbst«57 durchaus den Weg einer permanenten marktförmigen Anschlussfähigkeit wählen, bzw. auf diesen Weg geraten.58 Dennoch ist eine ausschließliche Fixierung auf den Aspekt der Aufmerksamkeitssuche problematisch. In Bezug auf die Videoplattformen im Internet zum Beispiel sollte man nicht unterschätzen, dass 1. die Veröffentlichung eines Videoclips

52 53 54 55

Ebd. S. 13. Hervorhebung im Original. Ebd. S. 21. Ebd. S. 23. Hervorhebungen im Original. Vgl. hierzu auch: Bublitz, Hannelore (2010): Täuschend natürlich. Zur Dynamik gesellschaftlicher Automatismen, ihrer Ereignishaftigkeit und strukturbildenden Kraft, in: Bublitz, Hannelore; Marek, Roman; Steinmann, Christina L.; Winkler, Hartmut (Hg.): Automatismen. Paderborn: Fink, S. 153-173. 56 Bublitz (2010): Im Beichtstuhl der Medien, S. 104. 57 Ebd. S. 32. 58 Vgl. hierzu auch: Peters, Kathrin; Seier, Andrea (2009): Home Dance. Mediacy and Aesthetics of the Self on YouTube, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 187-203.

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nicht automatisch zu Aufmerksamkeit führt, und dass 2. ebenso wenig garantiert ist, dass positive Formen der Aufmerksamkeit, d.h. Lob und Anerkennung, überwiegen. Ein Beispiel ist hier der Videoclip Hahaha59 des Nutzers BlackOleg.60 Dieser wurde bereits von über 191 Mio. Nutzern angesehen und ist durch seinen ehemaligen Titel Laughing Baby bereits hinreichend beschrieben. In dem Artikel Laughing Baby vs. the YouTube Commenters wird jedoch thematisiert, dass selbst ein derartig harmloser und inhaltsloser Clip Opfer sogenannter ›haters‹ wird: »Like many baby videos, ›Laughing Baby‹ was placed on YouTube to share with friends. But I’m always surprised that parents put these videos up, considering what fate awaits them: YouTube commenters. It’s like dipping a bunny into acid.« 61

Tatsächlich scheint es auf den Videoplattformen eine Vielzahl von Nutzern zu geben, die zusammen mit den ›Spammern‹ eine Form der Aufmerksamkeit zeigen, die sicherlich nicht im Interesse der Urheber der Videoclips liegt. Dieses Phänomen wird inzwischen als ein Ärgernis wahrgenommen, gegen das das einzige Mittel Ignoranz ist: »YouTube videographers demonstrate a high level of awareness of the haters in their midst and often encourage each other to ignore the haters.« Auch wenn das Ausmaß des hater-Phänomens umstritten ist62, kann man davon ausgehen, dass sich bei der Mehrheit der Videoclips – sofern sie überhaupt Beachtung finden – Ablehnung und Zuspruch die Waage halten. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Videoclips gar nicht den Nutzer zeigt, bzw. gar nicht von diesem produziert wurde. Die Internetspezialisten Gijs Kruitbosch und Frank Nack weisen in ihrer Studie Broadcast yourself on YouTube – really? darauf hin, dass es zwar viele selbst erzeugte Videos gibt, dass aber die meisten der populärsten Clips (ursprünglich) professionell erstelltes Material sind.63 Dessen ungeachtet ist nicht zu leugnen, dass ein Großteil des veröffentlichten Materials durchaus im Rahmen der von Bublitz thematisierten kontinuierlichen Selbstkonstitution und Selbsterfahrung zu interpretieren ist. So können die Erkenntnisse zweier Tagungen zu Medienamateuren64

59 ‹http://www.youtube.com/watch?v=5P6UU6m3cqk&e› [15. Mai 2010]. 60 ‹http://www.youtube.com/user/BlackOleg› [15. Mai 2010]. 61 Agger, Michael (2008): Laughing Baby vs. the YouTube Commenters. A battle of Internet good and Internet evil. ‹http://www.slate.com/id/2189281› [15. Mai 2010]. 62 Vgl.: Lange, Patricia (2008): (Mis)Conceptions about YouTube, in: Lovink; Niederer (Hg.): Video Vortex Reader, S. 87-100, hier S. 94ff. 63 Kruitbosch, Gijs; Nack, Frank (2008): Broadcast yourself on YouTube – really?, in: Proceedings of the 3rd ACM International Workshop on Human-Centered Computing, S. 710. 64 Photographes et cinéastes – amateurs d’images vom 29.-30. Mai 2008 an der Université François-Rabelais de Tours sowie Medienamateure. Wie verändern Laien unsere visuelle Kultur? im Museum für Gegenwartskunst in Siegen vom 5.-7. Juni 2008.

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»dahingehend zusammengefaßt werden, daß eine der zentralen Funktionen der Amateurbilder die Kreation von Identitäten ist […]: Die Suche nach der eigenen Identität über Bilder von sich selbst wird besonders evident in den auf YouTube oder pornblogs veröffentlichten Videos oder den in Alben und Schuhschachteln zusammengestellten privaten Fotos.«65

Dass hier YouTube in einem Atemzug mit Fotoalben genannt wird ist ein starker Hinweis darauf, dass medial inszenierte Selbstfindung weder neu, noch auf Videoclips angewiesen ist. Unstrittig ist, dass es im Internet eine Vielzahl partieller und pluraler Selbstentwürfe gibt, und dass viele Videoclips veröffentlicht werden, damit die Produzenten in einer Art »Selbstbespiegelung«66 über die Rückmeldungen anderer ihre Außenwirkung besser einschätzen können – Identitätsmanagement auf der Basis von Unterhaltung.67 Da dies jedoch bereits mit anderen Medien (z.B. Fotoalben) möglich war, vermögen diese Aspekte eben so wenig wie die inhaltliche Seite zu erklären, woher die ungeheure Faszination dieses Mediums stammt, was genau seine Neuartigkeit ausmacht. So meinen die Medienwissenschaftler Joan Burgess und Joshua Green, dass eine Analyse der Videoclips nicht in erster Linie von einem vermeintlichen Drang zur Selbstdarstellung ausgehen sollte: »Learning from the history, as well as from observations on YouTube, it is important not to fall into the trap of simply assuming that vernacular video is organized primarily around a desire to broadcast the self.«68 Auch im Internet wird der Topos Aufmerksamkeit rege diskutiert, jedoch unter einem anderen Gesichtspunkt. Die Aufregung um von professionellen Schauspielern erstellte, nur scheinbar amateurhafte Videos (etwa der Fall Lonelygirl1569) machte deutlich, dass die Videoclip-Community nach dem Ideal der Authentizität strebt. Authentisch bedeutet aber in der Interpretation der Community, dass man sich nicht auf Andere ausrichtet, d.h. deren Aufmerksamkeit sucht. Der Blick von Außen erkennt in den Videoplattformen des Internets den Imperativ ›Erzähle dich selbst!‹, die Community selbst aber scheint dieser Aufforderung den altbekannten

65 Mathys (2008): Amateure der visuellen Kunst, S. 44. 66 »Dominika Szope (Universität Siegen) untersucht anhand von Videos auf YouTube die von Jugendlichen verwendeten Technologien des Selbst. Als zentrale Funktion hob sie dabei jene der Selbstbespiegelung hervor: Die Jugendlichen stellten Videos von sich ins Internet, um über die Kommentare der anderen mehr über ihre Wirkung auf Dritte zu erfahren.« Ebd. S. 43. 67 Vgl.: Trepte, Sabine; Reinecke, Leonard (2010): Unterhaltung online – Motive, Erleben, Effekte, in: Schweiger, Wolfgang; Beck, Klaus (Hg.): Handbuch Online-Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 211-234. 68 Burgess; Green (2009): YouTube, S. 25/26. 69 Patalong, Frank (2008): YouTube. Nur falsch ist wirklich echt. ‹http://www.spiegel.de/ netzwelt/web/0,1518,436070-2,00.html› [15. Mai 2010].

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Imperativ wahrer Authentizität entgegen zu setzen: ›Sei Du selbst!‹ Der Unterschied ist, das ersteres ein Ausrichten am Gegenüber geradezu verlangt, während das zweite eben dieses untersagt. So wird das Streben nach Aufmerksamkeit, das für Franck eine Notwendigkeit, ja geradezu eine anthropologische Konstante zu sein scheint, für die Internet-Community zum Tabu. Jemand, der auf Popularität und Aufmerksamkeit kalkuliert, verliert offenbar zwangsläufig jeden Anspruch auf Authentizität und Beachtung. Aus diesem Grund wird bei bekannteren Videoclips schon fast standardmäßig die Frage nach ihrer ›Echtheit‹ gestellt, und entsprechend bemühen sich die Internet-Celebrities70, Zweifel an ihrer ›Authentizität‹ auszuräumen.71 Angesichts dieser Diskussion sollte man nicht vergessen, dass die größte Anzahl der im Internet veröffenltlichten Videoclips gerade nicht aus Videotagebucheinträgen (Vlogs72) besteht. In den meisten Videoclips ist der Urheber nicht einmal zu sehen. Die zahlreichen Debatten über Urheberrechtsverletzungen zeigen ja gerade, dass ein nicht unerheblicher Teil des Materials nicht vom rechtmäßigen Urheber veröffentlicht wird. Die unzähligen eigentlich urheberrechtlich geschützten Videoclips (etwa Mitschnitte aus Film und Fernsehen, Serien oder Musikclips) sagen jedoch nur bedingt etwas über denjenigen aus, der sie veröffentlichte. Wenn jemand einen Filmausschnitt mit Alain Delon auf eine Videoplattform stellt und diesen entsprechend verschlagwortet, dann wird er nicht davon ausgehen, dass die millionenfache Aufmerksamkeit, die ›sein‹ Videoclip vielleicht erhält, tatsächlich ihm gilt. Die Frage, warum jemand einen Videoclip im Internet veröffentlicht, ist damit nach wie vor nicht eindeutig zu beantworten. Die Schwierigkeit liegt darin, dass sich in der Masse der Videoclips für jeden erdenklichen Erklärungsansatz eine enorme Anzahl von Beispielen finden lässt. Die bisherigen Erklärungsansätze greifen dennoch etwas zu kurz, sofern man sie verallgemeinern möchte. Erstens passen sie nicht auf Videoclips, die in einem nur sehr vagen Zusammenhang mit demjenigen stehen, der sie veröffentlicht hat. Zweitens schätzt die YouTube-Community vor allem die Videoclips, die (vorgeblich) nicht auf Aufmerksamkeit aus sind. Das Streben nach Aufmerksamkeit wird – und es sei hier dahingestellt, ob dies welt-

70 Eine Internet-Celebrity ist eine Person, die im Internet eine größere Bekanntheit erreicht hat. Oft ist sie in der Internet-Community nur unter ihrem Nutzernamen bekannt, und in den meisten Fällen beruht ihre Berühmtheit auf nur einem einzigen Beitrag. Vgl.: ‹http://e n.wikipedia.org/wiki/List_of_YouTube_celebrities› [15. Mai 2010]. 71 Näser, Torsten (2008): Authentizität 2.0 – Kulturanthropologische Überlegungen zur Suche nach ›Echtheit‹ im Videoportal YouTube. In: kommunikation@gesellschaft, Jg. 9, Beitrag 2. ‹http://www.soz.uni-frankfurt.de/K.G/B2_2008_Naeser.pdf› [15. Mai 2010]. 72 Vlog, ist das Kurzwort für V(ideo-B)log bzw. V(ideo-Web)log. Gleich einem Blog handelt es sich dabei um eine Website, auf der mehr oder weniger regelmäßig neue Einträge (mehrheitlich oder ausschließlich in Form eines Videoclips) veröffentlicht werden.

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fremd oder eine Form des Selbstbetruges ist – tabuisiert. Drittens ist die Aufmerksamkeit ein zweischneidiges Schwert, sie führt eben nicht zwangsläufig zu Anerkennung und Reputation. Nicht vergessen werden sollte außerdem, dass ein Großteil der Videoclips gar keine oder nur sehr wenig Aufmerksamkeit erfährt – und dies angesichts eines potentiellen Millionenpublikums. Sicherlich wäre es naiv zu glauben, dass jemand, der einen Videoclip auf einer der Internetplattformen veröffentlicht, nicht auch möchte, das dieser angeschaut wird. Ebenso naiv jedoch wäre es, demjenigen sofort eine Art von Intention und Kalkül zuzuschreiben. Partizipation, Archiv, Verletzung des Urheberrechts Die Produktion von Amateuren besaß schon immer den Charme, dass sie die Monologizität der Massenmedien, und damit die Deutungshoheit der Spezialisten in Frage stellte. Allerdings beschränkte sie ihre Reichweite auf das Nischendasein, das die Hegemonialkultur ihnen zwangsweise zugewiesen hatte.73 Das Internet jedoch schien die Isolation des Einzelnen zu überwinden, was, so verkündete Enzensberger bereits 1970 in seinem Baukasten zu einer Theorie der Medien74, eine wichtige Voraussetzung sei, um Amateure in gesellschaftlich signifikante Produzenten zu verwandeln. Vordergründig erfüllten sich auch die von Brecht in seiner Radiotheorie75 entwickelten Konzepte: Jeder Empfänger wurde zum potentiellen Sender. Die von Enzensberger beschriebene »mobilisierende Kraft« elektronischer Medien hätte sich demnach nun frei entfalten können. In Bezug auf die weitreichenden Emanzipations- und Freiheitsversprechen des Internets ist indes seit dem Ende der 1990er Jahre Ernüchterung eingekehrt.76 Die mittlerweile erfolgte Abkehr von der kausalen

73 Vgl.: Gramsci, Antonio (1986; 1933-34): Methodische Konzepte zum Kulturbegriff, in: Dubiel, Helmut (Hg.): Populismus und Aufklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 51-73. 74 Enzensberger, Hans Magnus (1970): Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Kursbuch, Nr. 20., März 1970, S. 159-186. 75 Brecht, Bertold (1992; 1932): Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks, in: Bertolt Brecht. Werke, Schriften I (1914-1933). Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 21. Berlin: Aufbau Verlag, S. 552-557. 76 Vgl.: Lindner, Ralf (2007): Politischer Wandel durch digitale Netzwerkkommunikation? Strategische Anwendung neuer Kommunikationstechnologien durch kanadische Parteien und Interessengruppen. Bielefeld: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 17. Jones, Steve (2010): The New Media, the New Meanwhile, and the Same Old Stories, in: Hunsinger, Jeremy; Klastrup, Lisbeth; Allen, Matthew (Hg.): International Handbook of Internet Research. Berlin: Springer Verlag, S. XV-XX. Vgl. dazu auch: Lovink, Geert (2008): Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur. Bielefeld: transcript. Lovink, Geert (2012): Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur. Bielefeld: transcript.

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Verknüpfung technischer Innovation mit gesellschaftlicher Wirkung rückt das Akteurshandeln und die Strukturbedingungen verstärkt ins Blickfeld. So thematisiert z.B. Henry Jenkins’ Konzept der participatory culture die verstärkte Teilhabe dank digitaler Medien. Nach seinem Verständnis fördert die Kultur der Partizipation eine Form der Gemeinschaft, in der »fans and other consumers are invited to actively participate in the creation and circulation of new content.«77 Tatsächlich registriert die Forschung auch in Bezug auf die sozialen Netzwerke der Videoplattformen unterschiedliche Formen der Teilhabe und Partizipation78 (z.B. »Ludic Democracy«79) und der politischen Bildung 80, die Effekte der Videoplattformen auf politische Prozesse81, sowie die Möglichkeit der Teilhabe und Präsentation politischer Akteure auf den Plattformen selbst82. Der Einfluss YouTubes auf die US-Wahlen 2008 wird sogar schon in amerikanischen Schulbüchern thematisiert.83 Doch die neuen technologischen Möglichkeiten treffen auch auf Argwohn. Von Seiten des Militärs etwa wird vor dem Hintergrund allgemeiner Partizipation und Zugänglichkeit sogar das Drohszenario eines YouTube-Wars konstruiert: »Today, al-Qaeda and its affiliated groups have found ways to use online video-sharing sites such as YouTube, Liveleak, and Google Earth to provide precise targeting and mapping for operations, continue to explore aggressively the potential of such new applications as Twitter, and are discussing the possibilities for an ›invasion‹ of the social networking site Facebook. Today terrorism is a media event in a second sense. This is the age of the YouTube War.«84

77 Jenkins (2006): Convergence Culture, S. 290. 78 Vgl.: Lange, Patricia (2007): Publicly Private and Privately Public. Social Networking on YouTube, in: Journal of Computer-Mediated Communication, Vol. 13 Nr. 1, Oktober 2007, S. 361–380. DOI: 10.1111/j.1083-6101.2007.00400.x ‹http://onlinelibrary.wiley.co m/doi/10.1111/j.1083-6101.2007.00400.x/full› [15. Mai 2010]. 79 Penrod, Diane (2010): Writing and Rhetoric for a Ludic Democracy: YouTube, Fandom, and Participatory Pleasure, in: Urbanski, Heather (Hg.): Essays on New Media Rhetoric. Writing and the Digital Generation. Jefferson, NC: McFarland & Company, S. 141-151. 80 Christensen, Christian (2007): YouTube: The Evolution of Media?, in: Screen Education, Nr. 45, S. 36-40. 81 Aus der Fülle an Studien seien hier nur einige Untersuchungen exemplarisch genannt: Gueorguieva, Vassia (2007): Voters, MySpace, and YouTube: The Impact of Alternative Communication Channels on the 2006 Election Cycle and Beyond, in: Social Science Computer Review 26(3), 3. Dezember 2007, S. 288-300. DOI: 10.1177/08944393073056 36. Hediger, Vinzenz (2009): YouTube and the Aesthetics of Political Accountability, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 252-265. 82 Emmer, Martin; Bräuer, Marco (2010): Online-Kommunikation politischer Akteure, in: Schweiger; Beck (Hg.): Handbuch Online-Kommunikation, S. 311-338. 83 Bardes, Barbara A.; Shelley, Mack C.; Schmidt, Steffen W. (2010): American Government and Politics Today. Boston, MA: Wadsworth, Cengage Learning, S. 196. 84 Dauber, Cori Elizabeth (2009): YouTube War. Fighting in a world of cameras in every cell phone and photoshop on every computer. Carlisle, PA: US Army War College, Stra-

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Als besonders bedrohlich wird dabei empfunden, dass durch die Verbreitung technischer Möglichkeiten der Aufnahme und des Editierens angeblich sogenannten ›Terroristen und Aufständischen‹ in die Hände gespielt wird: »The average citizen, meanwhile, has become empowered to film what he or she sees, to edit those images, and then to upload them for the entire world to see. It is an entire group of new technologies, all of which have become relatively mature at relatively the same time, which have together made for this new information environment, and terrorists and insurgents are capitalizing on this environment successfully.«85

Während so die eine Seite darauf hofft und wartet, dass die Partizipation endlich aus den Kinderschuhen herauswächst, geht dies der anderen Seite schon viel zu weit. Und es gibt noch ein weiteres »participation dilemma«86, das der Film- und Fernsehwissenschaftler Eggo Müller wie folgt definiert: »On the one hand, critics embrace new possibilities of participation as a democratization of our media culture: untrained non-professionals can now gain access to the formerly exclusive world of professional media and start redefining the tacit norms and standards of the established media culture. On the other hand, this is identified as a problem, since the new, ›uneducated‹ participants neglect professional standards of craftsmanship, aesthetic quality or ethic norms.«87

So ist nicht zu leugnen, dass die Mehrheit der Videoclips im Internet den etablierten, gemeinhin auf audiovisuelles Material angewandten Maßstäben nicht genügt. Angesichts der anhaltenden Begeisterung, die dieses Medium aber dennoch auslöst, führt die Anwendung konventioneller Standards folglich in eine Sackgasse. Allem Anschein nach gelingt es anhand der bislang gesetzten Maßstäbe nicht, dem Moment der Begeisterung näher zu kommen. Gleichwohl ist der Enthusiasmus nicht von der Hand zu weisen, so dass ein Modell entwickelt werden muss, dem es gelingt, das Neuartige und damit das Begeisterung auslösende Element dieses Mediums zu identifizieren und theoretisch fassbar zu machen. Wie der einleitende Verweis auf Bilder aus der Gouden Eeuw bereits deutlich gemacht hat, kann es nicht darum gehen, das Medium als vollkommen neu zu charakterisieren. Ganz im Gegenteil sind zahlreiche medienwissenschaftliche Studien bemüht, die Parallelen und Unterschiede zwischen den Videoclips aus dem Internet und medialen Vorgän-

tegic Studies Institute (SSI), S. 4. ‹http://www.dtic.mil/cgi-bin/GetTRDoc?AD=ADA510 207&Location=U2&doc=GetTRDoc.pdf› [5. Juli 2011]. 85 Ebd. S. 5. 86 Müller, Eggo (2009): Where Quality Matters. Discourse on the Art of Making a YouTube Video, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 126-139, hier S. 127. 87 Ebd.

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gern88, wie etwa dem Fernsehen89, dem frühen Kino90 oder anderen Amateurmedien91 zu analysieren. Auch die vorliegende Untersuchung sieht sich in dieser Tradition, wobei sie im weiteren Verlauf noch eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten zu anderen Medien und kulturellen Ausdrucksformen aufzeigen möchte. Dessen ungeachtet bleibt die Frage, worin die Neuartigkeit der Videoplattformen im Internet denn besteht, in der bisherigen Forschungsliteratur weiterhin weitgehend offen. Auf der Suche nach Neuartigkeit charakterisiert eine Vielzahl an Untersuchungen die Videoplattformen des Internets als neue Form des Archivs92, ein Standpunkt, der überaus evident ist. Am interessantesten erscheint hier der Ansatz des Medienwissenschaftlers Richard Grusin, der in seinem Artikel YouTube at the End of New Media93 die Videoplattform als ein Archiv von Emotionen, ein Archiv von »affective moments of formation«94 modelliert. Sein Zugang zu diesem Medium mag typisch sein für viele Nutzer, die davon fasziniert sind, auf YouTube verloren geglaubte Momente der Kindheit wiedergefunden zu haben, weil sie z.B. den Ausschnitt eines alten Fernsehprogramms, Konzerts, Werbespots wiederentdeckt haben. In den Studien zeichnet sich jedoch meist ab, dass nicht so sehr das Archivieren an

88 Vgl.: Jenkins, Henry (2009): What Happened Before YouTube, in: Burgess; Green (Hg): YouTube, S. 109-125. 89 Uricchio, William (2009): The Future of a Medium Once Known as Television, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 24-39. Dijck, José van (2007): Television 2.0: YouTube and the Emergence of Homecasting, Vortrag auf der Konferenz Creativity, Ownership and Collaboration in the Digital Age, in Cambridge am Massachusetts Institute of Technology, 27.-29. April 2007, S. 13-14. ‹http://web.mit.edu/comm-forum/mit5/pa pers/vanDijck_Television2.0.article.MiT5.pdf› [15. Oktober 2009]. Dijck, José van (2011): Telewizia 2.0: YouTube i Narodziny Nadawania Domowego, in: Bielak, Tomasz; Filiciak, Mirosaw; Ptaszek, Grzegorz (Hg.) The Television’s Fall? Transformations of Medium. Warsaw: Scholar Publishing House, S. 313-340. 90 Heidenreich, Stefan (2011): Vision Possible. A Methodological Quest For Online Video, in: Lovink; Somers Miles (Hg.): Video Vortex Reader II, S. 13-24. 91 Dijck, Jose van (2005): Capturing the Family. Home Video in the Age of Digital Reproduction, in: Pisters, Patricia; Staat, Wim (Hg.) Shooting the Family. Cultural Values and Transnational Media. Amsterdam: Amsterdam University Press, S. 25-40. Strangelove (2010): Watching YouTube. 92 Auch hier kann nur eine Auswahl präsentiert werden: Burgess; Green (2009): YouTube, S. 87ff. Gehl, Robert (2009): YouTube as archive. Who will curate this digital Wunderkammer?, in: The International Journal of Cultural Studies, Vol. 12, Nr.1, S. 43-60. Broeren, Joost (2009): Digital Attractions. Reloading Early Cinema in Online Video Collections, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 154-165. Prelinger, Rick (2009): The Appearance of Archives, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 268-274. Snickars, Pelle (2009): The Archival Cloud, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 292-313. Schröter, Jens (2009): On The Logic of the Digital Archive, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 220-346. 93 Grusin, Richard (2009): YouTube at the End of New Media, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 60-67. 94 Ebd. S. 66.

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sich neuartig ist, sondern das Selbst-Auswählen-Können-Was-Und-Wie-EtwasArchiviert-Und-Abgerufen-Wird.95 Damit aber wird die Neuartigkeit am Archiv der Videoplattformen wiederum als eine Art der Partizipation charakterisiert. Mit diesem Aspekt sind aber auch die im öffentlichen Diskurs angemahnten Verstöße gegen das Urheberrecht verbunden. Während die technischen Möglichkeiten eine Demokratisierung audiovisueller Medien ermöglichen, bemühen sich Plattformen wie YouTube unter dem Druck der Rechteinhaber, Copyright verletzendes Material zu löschen.96 Interessanterweise geraten dabei nicht nur die Plattformen, sondern auch die Rechteinhaber selbst in einen Interessenkonflikt: »This copyright infringement issue has led to what I consider an amusing turn of events, in which the TV networks were ready to do battle with YouTube and in the end embraced it. NBC initially asked YouTube to remove some of its copyright-protected material. As the popularity of the site grew, it suddenly occurred to NBC that perhaps its exposure on YouTube was not such a bad thing after all. Within five months of its initial request to remove its material NBC entered into a strategic partnership with YouTube […].«97

Auch die anderen Medienkonzerne arrangierten sich mit YouTube. Dies deutet darauf hin, dass eine Abwägung vorgenommen wurde zwischen den Vorteilen größerer Bekanntheit und Verbreitung einerseits, und den aus dem Verlust von Kontrolle resultierenden Nachteilen andererseits. Wie es scheint, ist die Problematik um die Verletzung von Urheberrechten nach wie vor nicht gelöst98, denn einerseits deutet vieles darauf hin, dass die rigorose Verfolgung beanstandeten Materials, das zunächst einmal gefunden werden muss, sich auf längere Sicht eher gegen die Rechteinhaber selbst richtet – so sie denn überhaupt erfolgreich ist. Letztlich ist der Aspekt der Partizipation untrennbar mit der Verletzung des Copyrights verbunden. Wenn

95 Vgl. hierzu die Praxen der Verschlagwortung: Geisler, Gary; Burns, Sam (2007): Tagging video: conventions and strategies of the YouTube community, in: Proceedings of the 7th ACM/IEEE Joint Conference on Digital libraries. New York: ACM, S. 480-481. DOI: 10. 1145/1255175.1255279 ‹http://portal.acm.org/citation.cfm?id=1255279› [5. Mai 2010]. 96 Vgl.: Hilderbrand, Lucas (2007): YouTube: Where Cultural Memory and Copyright Converge, in: Film Quarterly, Vol. 61, Nr. 1, Herbst 2007, S. 48-57. DOI: 10.1525/fq.2007.61 .1.48 ‹http://www.jstor.org/stable/10.1525/fq.2007.61.1.48› [5. Juli 2011]. 97 Logan, Robert K. (2010) Understanding New Media. Extending Marshall McLuhan. New York: Peter Lang Publishing, S. 183. 98 Clay, Andrew (2011): Blocking, Tracking, and Monetizing. YouTube Copyright Control and the Downfall Parodies, in: Lovink; Somers Miles (Hg.): Video Vortex Reader II, S. 219-233. McDonald, Paul (2009): Digital Discords in the Online Media Economy: Advertising versus Content versus Copyright, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 387-405. Farchy, Joëlle (2009): Economics of Sharing Platforms. What’s Wrong With the Cultural Industries?, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 360-371.

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man den Beteiligten nicht von Vornherein einen generellen Hang zur Kriminalität unterstellen möchte, so bedeutet dies im Umkehrschluss, dass es offenbar ein gewisses grundlegendes Bedürfnis gibt, bereits bestehende Materialien zu verwenden, d.h. sie zu verbreiten und zu modifizieren. Da dies auf dem Gebiet audiovisueller Medien zuvor noch nie vorkam und nie in einem solchen Ausmaß zu Problemen und Rechtsverstößen geführt hat, könnte dieser Aspekt auf den neuartigen Charakter dieses medialen Phänomens hinweisen. Aus diesem Grund konzentriert sich die vorliegende Untersuchung auf die Videoclips, die in irgendeiner Weise bereits bestehendes Material verwenden. Natürlich ist es nicht neu, dass jemand z.B. aus dem Fernsehen etwas mit dem Videorekorder aufnimmt. Eine Bearbeitung dieses Materials ist in diesem Fall zwar weitaus schwieriger als bei digitalisierten Videodaten, sie fand aber im Rahmen der Videokunst durchaus statt. Streng genommen stellt bereits der Akt des Auswählens aus dem Flow des Mediums Fernsehen eine gewisse, wenn auch minimale Form der Bearbeitung dar. Das Video konnte eventuell in einem kleineren Rahmen verteilt oder vorgeführt werden, damit aber – und dies ist der entscheidende Punkt – hörte der Prozess auf. In der vorliegenden Analyse gilt es daher, die genauen Unterschiede zu der bereits bekannten Medienpraxis des Auswählens und Modifizierens herauszuarbeiten, denn darin liegt – das ist die grundlegende These der vorliegenden Arbeit – die Neuartigkeit dieses medialen Phänomens, und damit zumindest einer der Ursprünge seiner Faszination begründet. Im Unterschied zu Studien, die einzelne Aspekte behandeln (etwa technische Faktoren99, die Generationen übergreifende Kommunikation 100, Genderaspekte in

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Aufgrund der Vielzahl behandelter Aspekte sollen hier nur einige Studien exemplarisch aufgeführt werden: Gill, Phillipa; Shi, Liqi; Li, Zongpeng; Mahanti, Anirban; Eager, Derek L. (2008): Scalable On-Demand Media Streaming for Heterogeneous Clients, in: ACM Transactions on Multimedia Computing, Communications, and Applications, Vol. 5 Nr. 1, Oktober 2008, Article 8. DOI: 10.1145/1404880.1404888. Carey, John (2008): Peer-to-Peer Video File Sharing. What Can We Learn From Consumer Behavior?, in: Noam; Pupillo (Hg.): Peer-to-Peer Video, S. 129-149. Gill, Phillipa; Arlitt, Martin; Li, Zongpeng; Mahanti, Anirban (2007): YouTube Traffic Characterization: A View From the Edge, in: Proceedings of the 7th ACM SIGCOMM Conference on Internet Measurement, S. 15–28. DOI: 10.1145/1298306.1298310. Sessini, Phillipa; Leventer, Matei; Mahanti, Anirban (2007): Video to Go. The Effects of Mobility on Streaming Media in a CDMA2000 1xEV-DO Network, in: Proceedings ACM/SPIE Multimedia Computing and Networking (MMCN), San Jose, USA, Januar 2007. ‹http://www.cpsc.ucalgary.ca/~mahanti/papers/mmcn07.pdf› [5. Mai 2010]. Cheng, Xu; Dale, C.; Liu, Jiangchuan (2008): Statistics and Social Network of YouTube Videos, in: 16th International Workshop on Quality of Service, 2008, S. 229–238. DOI: 10.1109/IWQOS.2008.32. Harley, Dave; Fitzpatrick, Geraldine (2009): YouTube and intergenerational communication: the case of Geriatric1927, in: Universal Access in the Information Society, Vol. 8, Nr. 1, April 2009, S. 5-20. DOI: 10.1007/s10209-008-0127-y.

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der Rezeption der Vlogs101 , neue Formen von Kunst102 , die Thematisierung des Kriegs im Irak103 , der Umgang mit Trauer104 , virale Amateurvideos105, das Ausnützen der freiwillig geleisteten Arbeit auf den Videoplattformen106 , Videoclips sportlicher Aktivitäten107, der Einfluss der Tabak-Konzerne108, der Einfluss von Mitdem-Rauchen-Aufhören-Videoclips109 ), verfolgt die vorliegende Arbeit einen eher umfassenden Ansatz. Die Ebene der Medieninhalte kann niemals vollständig ausgeblendet werden110, jedoch soll es hier nicht um einzelne Beispiele oder Thematiken gehen, sondern um eine ganzheitliche Perspektive auf die Videoplattformen als 111 medial vermitteltes kulturelles System. Bereits eine Beschränkung auf nur ein einzelnes Videoportal, etwa YouTube, würde hier den Blick darauf verstellen, dass die Nutzer jederzeit das Portal wechseln können. In der schnelllebigen Welt des Internets bedeutet dies, dass die Betreiber der Plattformen zwar nominell die absolute Verfügungsgewalt über ihre Portale haben, in der Realität aber eben doch nicht alles

101 Molyneaux, Heather, O’Donnell, Susan, Gibson, Kerri, Singer, Janice (2008): Exploring the gender divide on YouTube: An analysis of the creation and reception of vlogs, in: American Communication Journal. Vol.10, Nr. 2, Sommer 2008. 102 Richard, Birgit (2008): Media Masters and Grassroot Art 2.0 on YouTube, in: Lovink; Niederer (Hg.): Video Vortex Reader, S. 141-152, hier S. 150. 103 Christensen, Christian (2009): ›Hey Man, Nice Shot‹. Setting the Iraq War to Music on YouTube, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 204-217. 104 Wahlberg, Malin (2009): YouTube Commemoration. Private Grief and Communal Consolation, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 218-235. 105 Burgess, Jean (2008): ›All your chocolate rain are belong to us?‹ Viral Video, YouTube and the dynamics of participatory culture, in: Lovink; Niederer (Hg.): Video Vortex Reader, S. 101-109. 106 Andrejevic, Mark (2009): Expliting YouTube. Contradictions of User-Generated Labor, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 406-423. 107 Stauff, Markus (2009): Sports on YouTube, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 236-251. 108 Freeman, Becky; Chapman, Simon (2007): Is »YouTube« telling or selling you something? Tobacco content on the YouTube video-sharing website, in: Tobacco Control, Vol. 16, Nr. 3, S. 207-210. DOI: 10.1136/tc.2007.020024. Elkin, Lucy; Thomson, George; Wilson, Nick (2010): Connecting world youth with tobacco brands: YouTube and the internet policy vacuum on Web 2.0, in: Tobacco Control, Vol. 19, Nr. 5, S. 361366. DOI: 10.1136/tc.2010.035 949. 109 Backinger, Cathy L.; Pilsner, Alison M.; Augustson, Erik M.; Frydl, Andrea; Phillips, Todd; Rowden, Jessica (2011): YouTube as a source of quitting smoking information, in: Tobacco Control, Vol. 20, Nr. 2, S. 119-122. DOI: 10.1136/tc.2009.035550. Paek, Hye-Jin; Kim, Kyongseok; Hove, Thomas (2010): Content analysis of antismoking videos on YouTube: message sensation value, message appeals, and their relationships with viewer responses, in: Health Education Research, Vol. 25, Nr. 6, S. 1085-1099. DOI: 10.1093/her/cyq063. 110 Vgl.: Winkler, Hartmut (2008): Basiswissen Medien. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 14. 111 Diesen Ansatz verfolgen auch Burgess und Green, vgl.: Burgess; Green (2009): YouTube, S. 7.

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machen können, was sie wollen – andernfalls wandern die Nutzer ab, und ihre Webseite versinkt in der Bedeutungslosigkeit.112 Ungeklärt blieb bisher noch die Frage nach der Neuartigkeit. Diesbezüglich könnte ein Blick in die Vergangenheit weiter helfen. Ein populärwissenschaftliches Buch aus dem Jahr 1974 skizzierte die mediale Welt der Zukunft wie folgt: »Die Fernsehwand von morgen wird ein Zauberspiegel sein. In Kombination mit einem Heimcomputer, der wiederum einem internationalen Verbundnetz angehört, läßt sich auf ihr (oder selbstverständlich auch auf den vielfältigen tragbaren Geräten) perfekter Weltkontakt herstellen. So erscheint die illustrierte Zeitung nicht mehr im Briefschlitz; sie wird – in jeder Minute hochaktuell – per Bildschirm abrufbar. Ähnlich kann man sich von Datenbanken oder Literaturcomputern bedienen lassen. Ebenso von Haus zu Haus schickt man sich auch die Post. [...] Über die Fernsehwand geht schließlich auch das schönste dieser elektronischen Mirakel, die Fernseh-Telefonie. Kann es ein überwältigenderes Erlebnis geben, als sich rund um die Welt Liebesgrüße in Lebensgröße zuflüstern zu können?«113

Während viele andere Prophezeiungen aus diesem Buch noch auf ihre Erfüllung warten, etwa die Atominseln oder Fabriken im All, sind diese Extrapolationen sich damals bereits abzeichnender Entwicklungen erstaunlich akkurat. Interessant wird es aber immer da, wo Unerwartetes passiert. Was aber hat die Vorhersage aus dem Jahr 1974 ausgelassen? Sie beschreibt zwar die heutige Medienlandschaft überraschend präzise, jedoch geht sie implizit von einer top-down Konzeption aus. Die Nutzer rufen die Zeitungen am Bildschirm ab, doch sie schreiben sie nicht selbst, und schon gar nicht bearbeiten sie das, was sie abgerufen haben. Das Neuartige bei den Videoplattformen wäre demnach das Auftreten zahlreicher Clips, die bereits bestehendes Material verwenden, es weiter verbreiten, vielleicht sogar bearbeiten. Dass dieser Aspekt den Zukunftsforschern aus dem Jahr 1974 verborgen geblieben ist, erstaunt umso mehr, wenn man bedenkt, dass er sich im Kern bereits in den eingangs besprochenen Bildern andeutet. Ein erneuter Blick auf Zoffanys Tribuna der Uffizien zeigt zwei interessante Details (Abb. 2, unten), die, obwohl im Vordergrund platziert, in der überbordenden Fülle der anderen Bildelemente leicht untergehen. Ganz in der rechten unteren Ecke ist eine Staffelei zu sehen mit einer Palette

112 Für eine vergleichende Perspektive unterschiedlicher Videoplattformen vgl.: Williamson, Matthew (2011): Degeneracy in Online Video Platforms, in: Lovink; Somers Miles (Hg.): Video Vortex Reader II, S. 211-218. Gornykh, Andrei (2009): From YouTube to Ru Tube, or How I Learned to Stop Worrying and Love All Tubes, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 441-455. 113 Schippke, Ulrich (1974): Zukunft. Das Bild der Welt von morgen. Gütersloh: Praesentverlag Heinz Peter, S. 107.

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sowie anderen Malereiutensilien, links davon sind ein Hammer, eine Zange und Nägel zu sehen, das Werkzeug zum Bespannen eines Rahmens: »Only two vignettes within the Tribuna tell of the labour of art: the easel, palette, knife, brushes and maul-stick at the right margin and the hammer, pliers and pile of nails in the centre. Zoffany evidently feels that all these grand tourists should learn how to stretch a canvas.«114

Vielleicht ist gemeint, dass die Betrachter der Kunstwerke dazu angespornt werden sollen, selbst Gemälde zu malen, oder sie sollen gar die bereits bestehenden Gemälde bemalen, schließlich fassen sie diese bereits an, man könnte mithin sagen: Sie legen bereits Hand an. Die Frage ist, ob eine derartige Bearbeitung nicht einer Zerstörung gleich käme. Wie es scheint, ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig, denn tatsächlich wird auch der Extremfall der Zerstörung von Kunstwerken oft genug thematisiert, zum Beispiel von dem flämischen Barockmaler Willem van Haecht (1593-1637) in seinem Gemälde Kunstkammer mit van Dycks »Die mystische Vermählung der heiligen Katharina« (um 1630, Abb. 3). Im Hintergrund dieses Gemäldes befindet sich ein bemerkenswertes Detail: Durch einen halb verhängten Durchgang öffnet sich der Blick in einen weiteren Raum, der ebenfalls mit Skulpturen und Gemälden angefüllt ist. Die Personen dort begegnen den Kunstwerken jedoch nicht mit Bewunderung, Diskussion und Überlegung; ganz im Gegenteil zerschmettern sie diese mit Äxten. An Stelle eines menschlichen Kopfes haben sie den eines Esels, es handelt sich um zwei ânes iconoclastes (Abb. 3, unten). Als bekannte Allegorie in der Flämischen Bilderwelt sind die ânes iconoclastes als Verweis auf den Bildersturm der protestantischen Gläubigen zu verstehen.115 Der Literaturwissenschaftler Carel Peeters weist darauf hin, dass die Eselsköpfigen die Ignorantia verkörpern, d.h. die Unwissenheit, demnach das Gegenteil der recta ratio.116 Das Gemälde insgesamt ist demnach nicht als dokumentarische Wiedergabe einer realen Kunstkammer zu verstehen, sondern als Allegorie.

114 Aus der Beschreibung des Bildes unter: ‹http://www.royalcollection.org.uk/eGallery/obj ect.asp?object=406983&row=0&detail=about› [15. Mai 2010]. 115 Zu Eseln als Symbol für Ignoranz, Unwissenheit und Zerstörung der Kunst sowie dem Auftauchen von Eseln in anderen Kunstkammer-Bildern vgl.: Weber, Gregor J. M. (1993): Poetenhafer, Flugesel und Künstlerparnass. Pegasus in den Niederlanden, in: Brink, Claudia; Hornbostel, Wilhelm (Hg.): Pegasus und die Künste. München: Deutscher Kunstverlag. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg vom 8. April bis 31. Mai 1993, S. 71-92, hier S. 87ff. 116 »De ezels die in het doorkijkje op de schilderijen kunstwerken vernielen zijn de exemplarische vertegenwoordigers van die slechtheid, de ›Ignorantia‹, de onwetendheid, de universele tegenstander van het redelijke inzicht, de ›recta ratio‹.« Peeters, Carel (2010): Waarin ezels de weelderige kunstkamers van het Mauritshuis binnendringen, in: Vrij Nederland. ‹http://www.vn.nl/Artikel-Literatuur/Waarin-ezels-de-weelderige-kunst kamers-van-het-Mauritshuis-binnendringen.htm› [15. Mai 2010]. Vgl. außerdem:

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Abb. 3: ›Ikonoklastische Esel‹ in Willem van Haechts Kunstkammerbild (1630)117

Briels, J. (1980): Amator Pictoriae Artis. De Antwerpse kunstverzamelaar Peter Stevens (1590-1668) en zijn Constkamer, in: Jaarboek van het Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen. Antwerpen: Ministère de l’éducation nationale et de la culture & Ministerie van de Vlaamse Gemeenschap, S. 137-148. 117 Willem van Haecht, Kunstkamer met Antonie van Dycks »Mystieke huwelijk van de heilige Catharina« (ca. 1630), Öl auf Holz, 73x104 cm. Privatsammlung. Quelle: ‹http://w ww.vn.nl/Artikel-Literatuur/Waarin-ezels-de-weelderige-kunstkamers-van-het-Mauritsh uis-binnendringen.htm› [15. Mai 2010].

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Ein Aspekt, der an diesem Gemälde befremdlich erscheinen könnte, ist das seltsam unberührte Nebeneinander der verschiedenen Personengruppen. Noch nicht einmal die direkt am Durchgang Stehenden nehmen Notiz von dem zerstörerischen und sicherlich mit viel Lärm verbundenen Geschehen direkt neben ihnen. Normalerweise wäre zu erwarten, dass in einer solchen Konstellation jemand eingreifen würde, um der Zerstörung Einhalt zu gebieten. Doch aufgrund der rätselhaften Teilnahmslosigkeit der Personen scheint es hier, als gehöre die Zerstörung irgendwie dazu. So entsteht insgesamt der Eindruck, als hätten Schöpfung, Betrachtung und Zerstörung ihren jeweils zugewiesenen Platz, als sei die Zerstörung selbstverständlicher Teil eines künstlerischen Schöpfungskreislaufs. Vermutlich wird nicht zu klären sein, warum der Maler als Urheber der allegorischen Komposition Betrachtung und Zerstörung so unbeteiligt oder gar friedlich nebeneinander im Raum stehen ließ. Vielleicht drückt sich an diesem Bild aus, dass Streit und Zerstörung ein unabänderlicher Teil unserer Welt sind, und dass es nun einmal direkt neben Schöpfung, Betrachtung und Bewahrung auch Destruktion gibt. Auf diese Weise eröffnet dieses um 1630 entstandene Gemälde ein Spannungsfeld zwischen Schöpfung, Betrachtung und Zerstörung, das die vorliegende Untersuchung im Hinblick auf die im Internet zirkulierenden Videoclips ergründen möchte.

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How I learned to stop worrying and love all videoclips Videoclips, die audiovisuelles Material recyceln, beziehen ihr »Rohmaterial« nicht nur aus Film und Fernsehen, sie modifizieren und verbreiten auch und eben so gut Material anderer Amateure. Dies ist umso erstaunlicher, als die Architektur der Videoplattformen dafür gar nicht ausgelegt ist. So gibt es zum Beispiel noch nicht einmal eine Funktion, die das Herunterladen und Abspeichern (zum anschließenden Bearbeiten) erlauben würde. Das Auftreten der Recyclingvideos kommt damit nicht nur für die Zukunftsforscher aus dem Jahr 1974 überraschend, auch die Betreiber der Videoplattformen selbst haben offensichtlich nicht mit einem Bedürfnis nach Recyceln gerechnet. Selbst Medienwissenschaftler wie Joan Burgess und Joshua Green stellen in ihrer umfassenden Studie über YouTube erstaunt fest: »One of the more striking features of YouTubers’ community-oriented activities is that they take place within an architecture that is not primarily designed for collaborative or collective participation. In comparison to other social networking sites built around user-created content, […] and despite the rhetorical address to the YouTube ›community‹ in the company’s official blog, the architecture of YouTube does not overtly invite community-building, collaboration, or purposeful group work. […] The ban on downloading and the absence of user-control over licensing creates serious barriers to collaborative production – there are no overt invitations to collaborate with other users, or to remix or quote each other’s videos.«118

Dies bedeutet, dass YouTube eigentlich nicht dafür gedacht ist, dass Videoclips anderer Nutzer herunter geladen und weiter bearbeitet werden. Schriftliche Kommentare und verlinkte Antwortvideos sind zugelassen, jedoch nicht die Modifikation des audiovisuellen Materials anderer Nutzer. Wie Eggo Müller bemerkt, ist das Recyclen von Videoclips daher auch eher die Ausnahme als die Regel: »[T]inkering with the ›snippets‹ of other contributors is actually not the first and foremost practice performed on YouTube. Though it is true that there are many examples where the content of users is reused and tinkered with, these still form the exception rather than the rule, which is that clips on YouTube […] are primarily meant to be watched. The interface offers no indication as to how often a clip has been reused, but instead how often it has been watched, and how it has been rated.«119

118 Burgess; Green (2009): YouTube, S. 63/64. 119 Müller, Eggo (2009): Formatted spaces of participation: Interactive television and the changing relationship between production and consumption, in: Boomen, Marianne van den; Lammes, Sybille; Lehmann, Ann-Sophie; Raessens, Joost; Schäfer, Mirko Tobias (Hg.) Digital Material: Tracing New Media in Everyday Life and Technology. Amsterdam: Amsterdam University Press, S. 49-63, hier S. 58/57.

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Doch obwohl Recyclingvideos selten sind, halten Burgess und Green sie für wichtig, denn gerade unter den populären Videoclips findet sich eine signifikante Anzahl geremixter, bzw. recycelter Videoclips: »YouTube provides no built-in, routinized methods of capturing video from other users and reusing it, or making one’s own content available for this purpose. Nevertheless, collaborative and remixed vlog entries were a very noticeable feature of the most popular content in our survey.«120

Die Praxis des Recyclens audiovisuellen Materials ließe sich mindestens bis in das Zeitalter des Videorecorders zurück verfolgen. Der entscheidende Schritt vollzieht sich aber, wenn man bedenkt, dass aufgrund der spezifischen medialen Konfiguration der Videoplattformen die Bearbeitung nicht mehr nach nur einem Schritt aufhört. Die enorm gesteigerten Quantitäten machen es nicht nur möglich, sondern sogar eher wahrscheinlich, dass ein bereits modifizierter Videoclip erneut bearbeitet und wiederum veröffentlicht wird. Entscheidend ist demnach, so der Produzent Gabriel Menotti, die Logik der Distribution: The »internet video as a format in and of itself, [is] typified not by a specific language or subject, but by its particular logic of distribution.«121 Diese Entwicklung blieb auch dem Bildwissenschaftler W.J.T. Mitchell nicht verborgen; er nahm sie sogar zum Anlass, die heutige Zeit als eine Ära des Bilderkrieges zu charakterisieren: There »is something new in the emergence of public imagery in the period from 2001 to 2008. This is partly a matter of quantity. The development of new media, especially the combination of digital imaging and the spread of the Internet has meant that the number of images has increased exponentially along with the speed of their circulation. But it is also a matter of quality. Images have always possessed a certain infectious, viral character, a vitality that makes them difficult to contain or quarantine. If images are like viruses or bacteria, this has been a period of breakout, a global plague of images. And like any infectious disease, it has bred a host of antibodies in the form of counterimages. Our time has witnessed, not simply more images, but a war of images in which the realworld stakes could not be higher.«122

Doch zusätzlich zu der medialen Konfiguration der Videoplattformen, d.h. bestimmten technischen Entwicklungen, hat sich ein verändertes Selbstbild der Nutzer entwickelt. Auch dieses gilt es hier genauer zu analysieren.

120 Vgl.: Burgess; Green (2009): YouTube, S. 65. 121 Menotti, Gabriel (2011): Objets Propagés. The Internet Video as an Audiovisual Format, in: Lovink; Somers Miles (Hg.): Video Vortex Reader II, S. 70-80, hier S. 70. Hervorhebung im Original. 122 Mitchell, W.J.T. (2011): Cloning Terror. The War of Images, 9/11 to the Present. Chicago: The University of Chicago Press, S. 2. Hervorhebungen im Original.

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Untersuchungsziele – Das Rätsel der Faszination Das Resümee der bislang vorliegenden Forschungsansätze und -ergebnisse hat deutlich gemacht, dass sich die Arbeiten mehrheitlich auf technische oder thematische Aspekte der Videoclips, auf das Verhalten der Nutzer und deren Intentionen oder auf eine mediengeschichtliche Einordnung konzentriert haben. All diese Arbeiten haben zweifellos äußerst wertvolle Einblicke in ein neues mediales Phänomen ermöglicht. Gleichwohl konnte die anfangs aufgeworfene Frage nach den Ursachen der anhaltenden Faszination der Videoplattformen, so scheint es, noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Auch von der vorliegenden Untersuchung kann nicht erwartet werden, dass sie zu einer abschließenden Analyse der im Internet zirkulierenden Videoclips gelangt. Doch wie bereits ausgeführt wurde, muss – so die Argumentationslinie der vorliegenden Arbeit – die mit bisherigen Ansätzen nicht vollständig zu erklärende Faszination dieses medialen Phänomens in dessen bislang nicht hinreichend erschlossenen Aspekten von Neuartigkeit begründet sein. Diese aber – so die These – manifestieren sich vor allem in den medialen Praxen des Auswählens, Modifizierens und (Wieder-)Veröffentlichens, die nie zuvor in einem derartigen Ausmaß zu beobachten waren. Diese Grundannahme, was allgemein das Besondere neuer Medien ausmacht, wurde besonders prominent von Medienwissenschaftlern wie Jay David Bolter und Richard Grusin123 oder Lev Manovich vertreten. So definiert Manovich neue Medien wie folgt: »New media […] is characterized by variability. (Other terms that are often used in relation to new media and that might serve as appropriate synonyms of variable are mutable and liquid.) Instead of identical copies a new media object typically gives rise to many different versions.«124

Auch für die Videokultur im Internet wird explizit auf die Bedeutung des Erzeugens von Variation hingewiesen, etwa von dem Medienwissenschaftler Anders Fagerjord, der auf YouTube eine neuartige Remix-Kultur identifiziert, die Bestehendes sampelt, um es neu zu kombinieren.125 Aus der hier vorgenommenen Konzentration auf das Phänomen der Recyclingvideos folgt zwangsläufig, dass nicht das Moment

123 Vgl. Bolter, Jay David; Grusin, Richard (1999): Remediation. Understanding new media. Cambridge, MA: MIT Press. 124 Manovich, Lev (2001): The Language of New Media. Cambridge, MA: MIT Press, S. 36. Hervorhebungen im Original. 125 Vgl.: Fagerjord, Anders (2010): After Convergence: YouTube and Remix Culture, in: Hunsinger; Klastrup; Allen (Hg.): International Handbook of Internet Research, S. 187200.

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der (materiellen) Beharrung und Trägheit126, die Herausbildung und Stabilisierung eines Mainstreams127, die Mechanismen der Kontinuierung128 , oder eine die Geschichtlichkeit negierende »Wiederkehr des Immergleichen« 129 im Vordergrund stehen, sondern im Gegenteil die Beweglichkeit und Volatilität medialer Prozesse. Dabei soll es keineswegs darum gehen, stabilisierende Faktoren zu negieren oder die Bedeutung der Beharrung zugunsten derer der Varianzbildung zu schmälern. Vielmehr steht die vorliegende Arbeit zwischen beiden Polen: Sie blickt auf eine interessante Randzone, denn sie möchte ergründen, weshalb die entstehende Varianz an medialen Produkten dann doch nicht ins Chaos abgleitet. Hier scheinen Prozesse eine Rolle zu spielen, die abseits der Intentionen Einzelner zu verschiedenen Mustern der Strukturbildung führen, die es beschreibbar zu machen und theoretisch zu fassen gilt. Die vorliegende Untersuchung geht dabei von der Hypothese aus, dass sich in der stark beschleunigten und quantitativ gesteigerten Zirkulation verselbstständigte Prozesse entwickeln, die sich den Intentionen einzelner Nutzer entziehen und gleichsam hinter deren Rücken das in der Zirkulation befindliche Material strukturell verändern.130 Hier gilt es eine Möglichkeit zu finden, nachzu-

126 Für Hartmut Winkler ist das Beharrungsvermögen unter »der Oberfläche einer hektischen Neuerung« »das zentrale Rätsel in der Funktionsweise des Medialen«. Winkler, Hartmut (2004): Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 112-113. Vgl. dazu auch: Winkler (2008): Basiswissen Medien, S. 198ff. 127 Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 128 Vgl.: Assmann, Jan (1988): Stein und Zeit. Das ›monumentale‹ Gedächtnis der altägyptischen Kultur, in: Assmann, Jan; Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 87-114. Assmann, Jan (1991): Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten. München: Fink. Für die Bildwissenschaften etablierte der Kunsthistoriker Aby Warburg das Konzept einer Kontinuität innerhalb der Kulturentwicklung durch die Rekonstruktion von Topoi. Vgl.: Warburg, Aby (1998; 1932): Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Hrsg. von Horst Bredekamp und Michael Diers. Berlin: Akademie Verlag. 129 So behaupten Horkheimer/Adorno etwa in der Dialektik der Aufklärung: »Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen ein System aus. Jede Sparte ist einstimmig in sich und alle zusammen.« Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max (1984; 1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 141. Vgl. dazu auch: Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Die These von der Wiederkehr des Immergleichen war bereits in der Antike bekannt, ist jedoch am prominentesten von Friedrich Nietzsche vertreten worden, vgl. dazu maßgeblich: Löwith, Karl (1978): Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Hamburg: Felix Meiner Verlag. 130 Die sich bereits hier andeutende Nähe zum Begriff der Automatismen ist dabei durchaus beabsichtigt. Zur Konzeption des Begriffs »Automatismen« vgl.: Bublitz, Hannelore; Marek, Roman; Steinmann, Christina L.; Winkler, Hartmut (2010): Einleitung, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 9-16.

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weisen, dass es sich tatsächlich um ungeplante Prozesse handelt, die in einem Umfeld vorgeblich umfassender Kontrolle unvorhersehbare Resultate generieren. Dabei wird von der Hypothese ausgegangen, dass es die unzähligen und nicht koordinierten Medienpraxen einzelner Akteure sind, die sich in ihrer Gesamtheit zu einem Prozess verdichten, der kreative mit destruktiven Komponenten vereint und dadurch den einzelnen Beteiligten trotz seiner aktiven Teilhabe in den Hintergrund treten lässt. Dabei ist zu klären, inwieweit der durch die Austauschprozesse eröffnete Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten der Intervention in das Material eine der Hauptursachen für die andauernde Begeisterung darstellt. Für sich genommen bezeugen die Modifikationen, dass von dem angebotenen Material eine gewisse Faszination ausgeht. Die vorliegende Untersuchung versucht aufzuzeigen, dass es aber die medialen Prozesse selbst sind, die diese Faszination wesentlich steigern. Diese Arbeit möchte demnach dem ›Rezept für Erfolg‹ näher kommen, wobei nicht – wie in der Vielzahl der vorliegenden Arbeiten zum Thema YouTube & Co. – auf intentionale, inhaltliche oder qualitative Aspekte des Materials zurück gegriffen wird, sondern auf dessen Grundfunktionen als Medium: Übertragen, Speichern und Prozessieren.131 Diese Grundfunktionen sind ohne Wiederholung, und damit ohne Zirkulation nicht denkbar. Hartmut Winkler stellt fest: »Medien und Zeichen haben es immer mit Wiederholung zu tun; symbolische Prozesse sind nie ganz neu, sondern immer auch Variation, Arbeit mit vorhandenen Beständen. Zeichen sind das Wiederholbare schlechthin. Was nicht wiederholbar ist, kann kein Zeichen sein.«132

Auf den Videoplattformen mit ihren unzähligen Wiederholungen und Variationen drückt sich demnach aus, dass zwar offensichtlich das in die Zirkulation geratene Material das Interesse der Nutzer weckt, aber ebenso das In-Die-ZirkulationGeraten-Sein des Materials, sprich: Das Erkennen der Möglichkeit zur Wieder- und Weitergabe, Teilhabe und Modifikation, was sich im In-Die-Zirkulation-GeratenSein, ja bereits in dem In-Die-Zirkulation-Geraten-Können ausdrückt. Einfacher gesagt: Selbst bearbeiten und verbreiten macht u. U. mehr Spaß als nur anschauen. Um dem vom Material aufgegebenen Rätsel der Faszination näher zu kommen, widmet sich die vorliegende Untersuchung den neuartigen Prozessen produktiver Bearbeitung. Ziel ist es, den Prozessen ›auf die Spur zu kommen‹, die die Zirkulation ausmachen und vielleicht sogar auslösen. Dazu versucht die vorliegende Arbeit, die Zusammenhänge zwischen der medialen Konfiguration der Videoplattformen und dem Nutzerverhalten zu untersuchen. Ausgehend von neuen Formen der Distri-

131 Vgl.: Kittler, Friedrich (1993): Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam Verlag, S. 8. 132 Winkler (2008): Basiswissen Medien, S. 225.

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bution, Organisation, Zugänglichkeit, Vernetzung und Partizipation soll so eine neue Perspektive auf die den unzähligen Austauschakten zugrunde liegenden Mechanismen erarbeitet werden. Da es sich aber um ein wissenschaftlich kaum erschlossenes Terrain handelt, muss zunächst ein Grundgerüst an Begriffen entwickelt werden, mit denen das neuartige aber vielleicht doch nicht so neue Phänomen in seiner Gesamtheit erfasst werden kann. Die vorliegende Untersuchung geht dabei von ihrem größten Schatz aus, nämlich dem Material selbst, d.h. den erstmals konservierten unzähligen Zwischenstufen eines in den Prozess der Zirkulation geratenen Artefakts. Doch wie bereits ausgeführt wurde, geht es hier nicht darum, dieses Phänomen in seiner Gesamtheit als völlig neuartig zu charakterisieren. Vielmehr ist es ein weiteres Ziel dieser Studie, die verschiedenen Formen der Intervention nicht nur exemplarisch für die Videoplattformen zu veranschaulichen, sondern sie in einer medialen Tradition zu verorten. So sollen bei einzelnen Facetten Anknüpfungspunkte aufgezeigt werden zu theoretisch bereits erschlossenen Gebieten. Wie der Philosoph Nicolaï Hartmann formuliert: »Alles Begreifen geht den Weg der Analogie. Es ist immer Begreifen ›durch‹ etwas, was man schon haben muß.«133 Das Interesse richtet sich dabei in erster Linie auf den Umgang mit Bildern, auf vergleichbare Formen ihrer Produktion und Reproduktion, die als Vorformen der Bildbearbeitung auf den Videoportalen angesehen werden können. Ein weiterer Vorteil dieses vom Material ausgehenden, historisch ausgerichteten Teils der Analyse bestand und besteht darin, dass die zu veranschaulichenden Prozesse in der Kunst- und Mediengeschichte schon Gegenstand umfassender theoretischer Erörterung waren und noch immer sind. Mit dem Rückgriff auf diese hierzu vorliegenden Untersuchungen verband sich das Ziel, Anhaltspunkte für einen neuen Erklärungsansatz für die auf den Videoplattformen ablaufenden Prozesse zu gewinnen, wobei vor allem die in diesen Zusammenhängen zur Beschreibung verwendete Terminologie auf ihre Anwendbarkeit für die im Internet ablaufenden Prozesse zu prüfen war. Das Spektrum reicht dabei von den Medien- und Kommunikationswissenschaften über Ästhetik und Bildwissenschaften bis hin zu Soziologie und Psychoanalyse. Hier sind Begriffe wie Zirkulation, Wiederholung, Automatismen und die Spur geprägt und thematisiert worden und mit Termini wie Viren, Parasiten, (Kommunikations)-Pathologien Anleihen aus dem Gebiet der Biologie gemacht worden. Gleichermaßen anregend und fruchtbringend für die vorliegende Untersuchung waren die in soziologischen und psychoanalytischen Abhandlungen diskutierten Termini wie Wiederholung, Ansteckung, Nachahmung und Verselbstständi-

133 Hartmann, Nicolaï (1962; 1933): Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. Berlin: Walter de Gruyter, S. 27.

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gung. Eine besonders prominente Stellung nehmen dabei die in den Kunstwissenschaften erörterten künstlerischen Praxen von Intervention und Modifikation ein. Aufgrund des hier gewählten Ansatzes, der gewissermaßen aus der Not heraus Anleihen aus verschiedenen Fachgebieten nehmen muss, ist zu erwarten, dass das Bild, das sich ergibt, nicht ohne Brüche sein wird. Tatsächlich entstehen zwischen den einzelnen Facetten Reibungsflächen, so dass Einzelnes wieder zurück genommen werden muss oder sich vielleicht in eine ganz andere Richtung weiterentwickelt. Doch auf dieser Grundlage eröffnet sich hier eine besondere Vielfalt von Ansätzen, die es jeweils auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen gilt. Insofern kann man dieses Buch– zumindest in Teilen – auch als eine Art Begriffsgeschichte lesen. Etwas anhand empirisch nachvollziehbarer Indikatoren begrifflich zu fassen ist nachweislich der erste Schritt auf dem Weg zu einer Operationalisierung von Vorstellungsinhalten, zu einer Durchdringung von Material, das bislang diffus im Dunkel lag. So soll versucht werden, das Phänomen der Zirkulation der Videobilder über seine verschiedenen einzelnen Facetten möglichst präzise und zugleich anschaulich zu beschreiben und in seiner Gesamtheit zu fassen – um für weitergehende Studien einen theoretischen Rahmen, ein Instrumentarium an Begriffen und Anknüpfungspunkten zu erarbeiten. Angesichts der Fülle und Vielseitigkeit der hier eingeführten theoretischen Anknüpfungspunkte muss aber auch darauf geachtet werden, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Stufe der Begriffsbildung und Diskussion von Definitionen hinaus kommt. So soll die in der vorliegenden Untersuchung zu erarbeitende Begrifflichkeit in erster Linie als Verständigungsmittel, als Kontaktstelle für weitere Auseinandersetzung dienen und es bleibt anderen, weiterführenden Studien vorbehalten, die dargelegten Anknüpfungspunkte im Einzelnen ausführlich innerhalb einer – sicherlich weitaus heterogeneren als hier dargelegten – Begriffsgeschichte zu verorten und kontrovers zu diskutieren. Nach einem einleitenden Überblick über die mediale Konfiguration der Videoplattformen geht es deshalb direkt in die ›messy online reality‹, die es zu erkunden und zu erobern gilt.

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Innerhalb der Videoplattformen, von denen YouTube nur die meistbenutzte ist, kommt es durch die Interaktion und Wechselwirkung neuer Ausprägungen von Distribution, Organisation, Zugänglichkeit und Vernetzung zu einer in diesem Umfang bisher unbekannten Zirkulation von Videobildern. Fest steht, dass die Menge an veröffentlichten Videoclips und ihre zum Teil millionenfachen Abrufe zu einem Umlauf geführt haben, der bereits innerhalb kürzester Zeit in seinen Quantitäten nicht mehr zu überblicken war. Doch die Frage ist, um was für eine Art von Zirkulation es sich eigentlich handelt und wie die Nutzer selbst als Teilnehmer dieses Zirkulationsprozesses einzuordnen sind. Distributions- und Produktionsbedingungen Die Distribution der Amateurprodukte hat mit der Entstehung der Videoplattformen auf quantitativer Ebene eine völlig neue Dimension erreicht. Zeitgleich wächst mit der zunehmenden Verbreitung von Digital- und Handykameras sowie Webcams auch die Zahl der Amateure selbst. Nie zuvor waren so viele Amateurfilme überall (wo es einen Internet-Anschluss gibt) abrufbar. Hinzu kommt, dass Portale wie YouTube über äußerst benutzerfreundliche Oberflächen verfügen, die einen problemlosen Zugriff auf die Angebote ermöglichen. Besonders das Veröffentlichen eines Videoclips ist höchst einfach gestaltet, weshalb eine strikte Trennung zwischen Produzenten und Rezipienten nicht mehr sinnvoll scheint. Bei den Videoplattformen im Internet ist jeder Empfänger auch ein potentieller Sender. Zugänglichkeit und Auswahlakte: »Video-on-Demand« Die Datenbanken der Videoplattformen repräsentieren ein umfangreiches Archiv aus dem Nutzer jederzeit einen Videoclip auswählen und ohne Zeitverzögerung anschauen können: ein kostenloses Video-on-Demand (VoD). Wie der Medienwissenschaftler Hartmut Winkler gezeigt hat, stellt diese Zugriffsform die bisher vorherrschende lineare Logik und Kontinuität bewegter Bilder, den Flow, grundsätzlich in Frage.134 Bei der Auswahl sind quantitative Aspekte meist die wichtigste Entschei-

134 Vgl.: Winkler, Hartmut (2004): Zugriff auf bewegte Bilder. Video on Demand, in: Hillgärtner, Harald; Küpper, Thomas (Hg.): Medien und Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner. Bielefeld: transcript. ‹homepages.uni-paderborn.de/winkler/vod.html› [15. Mai 2010].

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dungshilfe: Ein Videoclip, der bereits von vielen anderen Nutzern angeschaut oder bewertet wurde, wird mit einer wesentlich höheren Wahrscheinlichkeit erneut abgerufen. Jeder Klick bestätigt und verstärkt die Bedeutung und Wichtigkeit eines Videoclips und trägt so zum Aufbau einer Hierarchie bei (Ranking). Damit beteiligen sich selbst Nutzer, die nie Videos editiert haben, am Prozess der Systementstehung. Form der Organisation – Top-Down vs. Bottom-Up In Bezug auf die Organisation des Archivs stellt YouTube als klassischer Vertreter des ›Web 2.0‹ nur ein Gerüst zur Verfügung. Die Einspeisung der Videoclips erfolgt durch die Nutzer selbst (User Generated Content, Crowdsourcing). Die Zuordnung zu vorgegebenen thematischen Kategorien erfolgt ebenso in Eigenregie wie die Indexierung der Inhalte (Folksonomy). Da die Indexierung fehlerhaft sein kann (intendiert oder nicht intendiert), tauchen unter Umständen zum eingegebenen Suchbegriff inhaltlich völlig unpassende Videoclips auf.135 Trotzdem können diese Fehlergebnisse dann aber zum Anklicken verleiten und so scheint es, als generiere das Ordnungssystem Mechanismen ähnlich denen der assoziativen Verknüpfung. Nicht umsonst enthält der Begriff des »Surfens im Internet« auch eine assoziativhedonistische, nicht planvolle und strukturierte Bedeutungskomponente.136

135 Vgl.: Geisler; Burns (2007): Tagging video. 136 Polly, Jean Armour (1994): Birth of a Metaphor – The Nascence of Surfing the Internet. ‹http://www.netmom.com/about-net-mom/26-surfing-the-internet.html› [15. Mai 2010].

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IM I NTERNET

Statistische Daten etwa aus Deutschland zeigen, dass die Videoportale vorrangig von Jugendlichen und besonders von jungen Männern137 genutzt werden: »Wie erwartet, sind Männer und Jüngere, die 14- bis 29-jährigen, bei multimedialen Anwendungen deutlich aktiver. […] [D]ie Nutzung von Videos und Fernsehen über das Internet ist bei den Jüngeren mindestens doppelt so hoch wie beim Durchschnitt der Onliner: 48 Prozent der Teenager haben schon mal Bewegtbilder genutzt (von 24% aller Onliner) und 24 Prozent tun dies wöchentlich, das ist fast das Dreifache des Durchschnitts (9% aller Onliner).«138

Grundsätzlich sollte man außerdem nicht vergessen, dass die Mehrheit der Bevölkerung insgesamt die Videoportale nicht nutzt. Hinzu kommt noch, dass nicht jeder Internetnutzer audiovisuelle Inhalte konsumiert. Im Jahr 2008 z.B. besaß nur etwa die Hälfte aller Internetnutzer in Deutschland einen Breitbandanschluss und eine Flatrate, beides jedoch sind Voraussetzung für das Betrachten ausiovisueller Angebote. Doch selbst von diesen schaute nur eine Minderheit Videoclips im Internet an: »Rund ein Viertel (24%) aller Onliner nutzt gelegentlich Bewegtbilder im Internet, dies beinhaltet beispielsweise das Anschauen von Videodateien, live fernsehen über das Internet oder Vodcasts zu laden und auf mobilen Endgeräten […] anzusehen. Wöchentlich werden diese Angebote von fast jedem zehnten (9%) User verwendet.«139

Besonders zurückhaltend bei der Nutzung audiovisueller Angebote im Internet sind die ab 50-Jährigen, denn diese bevorzugen eher traditionelle Angebote: »Auf die Älteren wirken Videoportale eher abschreckend, weil sie die Inhalte überwiegend als […] irrelevant bewerten. Sie informieren sich lieber bei bekannten Marken und Medienanbietern und lassen sich von linearen Sendungsangeboten, die aus der Fernsehwelt bekannt sind, unterhalten. Zeitversetzte Videos und damit das Prinzip der Videoportale werden von den ab 50-Jährigen unterdurchschnittlich häufig genutzt. Während nur 9 Prozent dieser Altersgruppe zumindest selten Fernsehsendungen auf Videoportalen ansehen, sind es bei den Jüngeren bereits fast drei Viertel (14- bis 29-Jährige: 72%), die Fernsehen zeitversetzt auf Videoportalen nutzen […].«140

137 Das Verhältnis insgesamt stellt sich laut Biel und Gatica-Perez wie folgt dar: Männer = 73% und Frauen = 27%. Vgl.: Biel; Gatica-Perez (2011): Call Me Guru, S. 183. 138 Eimeren, Birgit van; Frees, Beate (2008): Bewegtbildnutzung im Internet, in: Media Perspektiven 7/2008, S. 408. 139 Ebd. 140 Ebd. S. 352.

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Bei diesen Zahlen gilt es zu bedenken, dass die Untersuchungen aus dem Jahr 2008 datieren. Inzwischen ist sicherlich etwas Bewegung in die Nutzergruppen gekommen, und zumindest in Deutschland haben sich Breitbandanschlüsse und FlatrateAngebote durchgesetzt. Grundsätzlich aber ist fraglich, ob sich an den beiden Tendenzen (der Nutzer der Videoportale ist eher jünger und meist männlich) viel ändern wird. Die mittlerweile eigentlich veralteten Statistiken sind allerdings aus einem bestimmten Grund hier von Interesse: Sie stammen aus einer Zeit, in der die Videoportale im Internet in eine entscheidende Phase eingetreten sind, nämlich die Phase ihres Durchbruchs, die Phase des größten ›Hypes‹. Auf der anderen Seite sollte nich vergessen werden, dass in vielen anderen Ländern auch heutzutage Breitbandanschlüsse und Flatrate-Angebote nicht zum Standard gehören und nur eine Minderheit überhaupt Zugang zum Internet hat. Nutzertypisierung I: Amateure vs. Profis Im Hinblick auf die Menschen, die die Videoplattformen nutzen, muss zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung getroffen werden, nämlich die zwischen professionellen Nutzern und Amateuren. Profis können Institutionen, aber auch Einzelpersonen sein. Entscheidend ist, dass professionelle Nutzer strategisch handeln, d.h. mit ihren Veröffentlichungen verfolgen sie – meist kommerzielle – Ziele. Zwischen Amateuren und Profis steht die kleine, aber wichtige Gruppe der ›InternetCelebrities‹. Diese haben im Internet eine so große Bekanntheit erlangt, dass schließlich auch in traditionellen Medien über sie berichtet wird. Viele der InternetCelebrities verlieren nach ihrem Erfolg ihren Amateurcharakter und veröffentlichen die nach bewährtem Rezept erstellten Folgevideos nur, um ihren Bekanntheitsgrad zu halten oder noch zu steigern. An dieser ambivalenten Zwischengruppe deutet sich bereits an, dass die Unterscheidung zwischen Amateuren und Profis nicht so einfach ist, wie es zunächst den Anschein hat. Ein gesonderter Blick auf das Verhältnis von Profis und Amateuren in den neuen Medien scheint daher angebracht. Seit jeher stand die Arbeit von Amateuren, ganz gleich auf welchem Gebiet, in Konkurrenz zu den von wenigen Spezialisten professionell erstellten Produkten. Letztere können bei ihrer Arbeit auf gesellschaftliche Ressourcen (Ausbildung, Finanzierung, Infrastruktur, Institutionen) zurückgreifen und eine dem technischen Entwicklungsstand entsprechende, Maßstäbe setzende Qualität erreichen. Amateurprodukte blieben zwangsläufig hinter diesen Standards zurück und wurden allgemein als ›laienhaft‹, ›dilettantisch‹ und langweilig angesehen. In dieses fest gefügte hierarchische Verhältnis ist nun Bewegung gekommen: Mittlerweile wird man auch außerhalb der Videoplattformen mit Clips aus dem Internet konfrontiert, denn Fernsehen und Printmedien haben diese bereits in ihre Berichterstattung und Programme integriert. In Bezug auf Amateurprodukte scheint sich folglich auf breiter Front ein

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Vorzeichenwechsel vollzogen zu haben, der nicht zu den banalen Inhalten der Videoclips zu passen scheint. Ausschlaggebend scheinen statt dessen neue Strukturen und Mechanismen zu sein, die im Verbund stehen mit einem grundlegenden Wandel in den Distributions- und Produktionsbedingungen einerseits, sowie mit neuen Formen der Zugänglichkeit, der Organisation und der Vernetzung andererseits. Klassische Definitionen vs. neue mediale Phänomene Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen die zahlreichen und nicht koordinierten Handlungen von Amateuren, die sich in ihrer Gesamtheit – so die These – zu einem neuartigen audiovisuellen Diskurs verdichten. Die Betonung liegt dabei auf dem Begriff des Amateurs. Professionell erstellte Produkte sollen hier ausgeklammert werden. Denn während hinter professionellen Produkten meist eine ökonomische und/oder politische Motivation steht, interessiert sich die vorliegende Arbeit gerade für die Produktion, die abseits bereits bekannter Beweggründe entsteht und die mit bisherigen Erklärungsmustern nicht ausreichend erfasst werden kann. Viele mediale Phänomene der letzten Zeit, etwa im öffentlichen Raum oder im Internet, sind auf Amateure zurückzuführen. Auch in den Medien und in der wissenschaftlichen Betrachtung wird ihnen eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Interessanterweise führen die bisher etablierten Betrachtungsweisen – sei es die Ökonomie der Aufmerksamkeit, seien es die Techniken des Selbst – die neuartigen Phänomene in die Sphäre des (Waren-)Tausches zurück, binden sie somit wieder ein in die ökonomischen Realitäten unserer Gesellschaft. Diese Wiedereingliederung hilft, einige Aspekte des jeweiligen Phänomens theoretisch zu fassen. Gleichzeitig treten jedoch zwei Probleme auf: Erstens können in einer derartigen und oftmals noch generalisierenden Rückbindung gerade die Besonderheiten nicht erfasst werden, die tatsächlich potenziell neu sind. Zweitens wird davon ausgegangen, dass die Amateure etwas produzieren, um etwas anderes dafür zu erhalten, sei es nun Aufmerksamkeit, Geld, Prestige, Selbstwert oder Anerkennung. Letztendlich handelt es sich bei einer Produktion mit dem Zweck, etwas anderes dafür zu erhalten, um eine ökonomisch motivierte Produktion. Dies wiederum bringt die Amateure in erstaunliche Nähe zu den Professionellen, die ebenfalls ökonomisch motiviert agieren. Besonders deutlich zeigen sich die entstehenden Schwierigkeiten an einem Zitat aus der von Ramón Reichert 2008 veröffentlichten Studie Amateure im Netz, die sich mit »Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0« befasst. In der Einleitung werden die Amateure zunächst als »multimedial versiert«141 charakterisiert und

141 Reichert (2008): Amateure im Netz, S. 9.

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dann über ihre Tätigkeiten beschrieben. An späterer Stelle findet sich schließlich der Versuch einer Definition des »Amateurs«: »Ein Amateur (franz. für ›Liebhaber‹) wird per definitionem als eine Person angesehen, die – im Gegensatz zum Profi – eine Tätigkeit aus ›Liebhaberei‹ ausübt, ohne einen Beruf daraus zu machen beziehungsweise Geld für seine Leistung zu erhalten. Obwohl er für seine Tätigkeit formal nicht ausgebildet ist, entwickle der ›Amateur aus Leidenschaft‹ nach dem gängigen Stereotyp bei seinen Tätigkeiten ›leidenschaftliches Engagement‹ und ›Netzwerkkompetenzen‹. In Organisationstheorien ist die Rede vom Amateursubjekt als historischer Avantgarde der Ich-AG […]. Auf der Suche nach neuem Imagedesign stilisieren unternehmerische Diskurse die kulturelle ›Arbeit‹ des Amateurs zur Leitfigur flexibilisierter Bedeutungsproduktion vor dem Hintergrund sich netzförmig organisierender Wissensaushandlungsprozesse.«142

Deutlich wird hier, wie verschiedene traditionelle und neue Aspekte des Amateurbegriffs zusammengeführt werden. Für die vorliegende Untersuchung wäre es aber wünschenswert, eine möglichst strenge und tragfähige Definition des »Amateurs« zu entwickeln um die Frage beantworten zu können, ob die strategisch, d.h. nach ökonomischer Zielsetzung handelnden Amateure doch eher der professionellen Sphäre zuzuordnen sind. Zudem müsste sie den Besonderheiten gerecht werden, die die neuartigen medialen Phänomene mit sich bringen, denn gerade diese Besonderheiten lassen eine bloße Übertragung traditioneller Konzepte des Amateurhaften auf die neuen Medien als unzureichend erscheinen. Im Folgenden soll daher noch einmal genauer auf die Schwierigkeiten des vorliegenden Zitates eingegangen werden. 1. Die Ausklammerung der ökonomischen Sphäre An erster Stelle wird hier der in klassischen Definitionen ausschlaggebende und vom etymologischen Wortsinn ausgehende Aspekt der »Tätigkeit aus ›Liebhaberei‹«, also der damit verknüpften Begeisterung und Freude betont143: »ohne einen Beruf daraus zu machen beziehungsweise Geld für seine Leistung zu erhalten«. Mit dieser Ausschließung der ökonomischen Sphäre kollidieren dann aber die Verweise auf die »Ich-AG« und nicht genauer spezifizierte »unternehmerische Diskurse«, die die »›Arbeit‹ des Amateurs« vereinnahmen sollen. Kritisch ist auch die Beschränkung auf das »Geld« zu sehen, wurden doch inzwischen etwa Aufmerksamkeit, Prestige, Selbstwert oder Anerkennung als Tauschäquivalente für die erstellten Pro-

142 Ebd., S. 215. 143 Dies gilt auch für den mit Bezug auf Wissenschaftsgeschichte und Literatur eher verwendeten Begriff des Dilettanten von italienisch dilettare = erfreuen (von lateinisch delectare = sich angenehm beschäftigen, ergötzen).

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dukte identifiziert. Wenig hilfreich ist die bei genauerem Hinsehen recht unklare Formulierung »ohne einen Beruf daraus zu machen«. Die meisten Arbeitgeber suchen gerade Angestellte, die sich mit Freude, Enthusiasmus und leidenschaftlichem Engagement ihrer Arbeit widmen; und die Arbeitnehmer wünschen sich, dass Selbstverwirklichung Teil ihres Berufs ist. Derartigen Wünschen widerspricht eine Formulierung wie »ohne einen Beruf daraus zu machen«, denn sie baut eine Dichotomie zwischen dem Arbeits- und Privatleben auf. In einer derartigen Gegenüberstellung wird das Arbeitsleben mit Zwang, Pflicht und Entfremdung assoziiert, mit dem Gegenteil also von ›Liebhaberei‹. Interessanterweise prognostizierte Marshall McLuhan im Jahr 1964, dass im »Zeitalter der Elektrizität« diese Entfremdung von der Arbeit wieder rückgängig gemacht würde: »Der primitive Jäger oder Fischer arbeitete nicht, genausowenig wie der Dichter, Maler oder Denker von heute arbeitet. Wo der ganze Mensch erfaßt wird, gibt es keine Arbeit. Die Arbeit beginnt mit der Arbeitsteilung und Spezialisierung von Funktionen und Aufgaben […]. Im Zeitalter des Elektronenrechners gehen wir von neuem vollkommen in unseren Rollen auf. Im Zeitalter der Elektrizität überläßt die ›Arbeit als Beschäftigung‹ der Hingabe und dem Engagement ihren Platz, wie in der Stammesgemeinschaft.«144

Zwar ist allem Anschein nach das »Zeitalter der Elektrizität« noch nicht angebrochen, doch McLuhans Prognose scheint nur auf den ersten Blick gewagt. Die Benutzung des Arbeitscomputers zum Abrufen privater Emails, der Anruf vom Kollegen auf das private Handy, oder die Anwendung beruflich erlernter Fähigkeiten im Privatleben145 : Dies alles zeigt, dass die herkömmliche Trennung von Arbeit und Freizeit durch die steigende Mobilität, Verbreitung und Funktionsvielfalt technischer Geräte unterminiert wird – eine Ausklammerung der ökonomischen Sphäre für die Definition des »Amateurs« ist jedoch sicherlich richtig und notwendig. 2. Das vermeintlich authentische Moment In der Formulierung »ohne einen Beruf daraus zu machen« spielt implizit noch eine weitere Frage eine Rolle: die Frage nach Authentizität. Da der Amateur von der artistic oder scientific community in der Regel nicht akzeptiert wird und er außerhalb des Berufsumfeldes auch nicht den Anforderungen der Wirtschaftswelt genügen muss, kann er sich ganz nach seinen persönlichen Wünschen richten. Dies macht ihn zugleich unabhängig von Regeln, Normen, Kollegen, Konventionen, Sehge-

144 McLuhan, Marshall (1968; 1964): Die magischen Kanäle. ›Understanding Media‹, Düsseldorf: Econ-Verlag, S. 150. 145 Siehe auch Punkt 4. Der Amateur und mangelnde Qualifikation.

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wohnheiten und den Grenzen des Erlaubten. Gerade diese subjektive Komponente führte schon mehrfach zu einer positiven Bewertung des Amateurs und ließ seine Produkte als genuin authentisch erscheinen. So wird zum Beispiel der Amateurfilm hauptsächlich als Mittel zur Entdeckung des Alltags bzw. des Authentischen gesehen, oder er soll dem Herstellen privater Erinnerungsbilder und der Selbstreflexion dienen.146 Der Anspruch auf Authentizität geht dabei auch von den Amateuren selbst aus. In der Anfangszeit der Fotografie kritisierten die Amateur-Fotografen an den Berufsfotografen die Anwendung der Retusche und die stereotyp erscheinenden professionellen Erzeugnisse. Die mit diesem Wunsch nach mehr Authentizität einhergehende Ablehnung industriell gefertigter (›seelenloser‹) Waren spiegelte sich auch in der Arts&Crafts-Bewegung wider.147 Allerdings gehörten die damaligen Amateure größtenteils der kulturellen Elite an, sie waren hoch gebildet und genossen zumeist eine sozial privilegierte Stellung finanzieller Unabhängigkeit. Auch waren Foto- und Filmapparate in der Anfangszeit wertvolle und damit prestigeträchtige Gegenstände. Erst Vereinfachungen der Handhabung und Verbilligungen148 , sowie das Engagement von Visionären wie Lichtwark149 führten zu einer Popularisierung, die heute ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat. Auch wenn dem Amateurprodukt eher ein ›authentischer‹ oder ›dokumentarischer‹ Charakter zugesprochen wird, handelt es sich um eine Diskussion, die Amateur und Profi gleichermaßen betrifft. Daher kann vermeintliche Authentizität nicht als Definitionsmerkmal von Amateurprodukten dienen – vor allem da Authentizität grundsätzlich schwer zu charakterisieren ist. Fest steht, dass ein Amateurprodukt genauso unauthentisch sein kann wie ein professionell erstelltes Produkt.

146 Kuball, Michael (1980): Familienkino – Geschichte des Amateurfilms in Deutschland, Bd. 1 1900-1930, Bd. 2 1931-1960, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TaschenbuchVerlag. 147 Die Arts&Crafts-Bewegung entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts und hatte ihre Blütezeit ca. zwischen 1870 und 1920, sie beeinflusste besonders den angloamerikanischen Raum. Vgl.: Triggs, Oscar Lovell (2009): The Arts & Crafts Movement. New York: Parkstone International. Cumming, Elizabeth; Kaplan, Wendy (1991): The Arts And Craft Movement. London: Thames and Hudson. 148 Hieber, Lutz (2007): Industrialisierung des Sehens, in: Hieber, Lutz; Schrage, Dominik (Hg.): Technische Reproduzierbarkeit. Zur Kultursoziologie massenmedialer Vervielfältigung. Bielefeld: transcript, S. 89-134. 149 Lichtwark, Alfred (1894): Wege und Ziele des Dilettantismus. München: Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft. ‹http://www.archive.org/details/wegeundzieledes00lichgo og› [15. Mai 2010].

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3. Das Amateurprodukt als defizitäres Produkt Ein Hinweis darauf, was mit der Formulierung »einen Beruf daraus zu machen« gemeint sein könnte, findet sich in der Formel »für seine Tätigkeit formal nicht ausgebildet«. Das Argument der fehlenden institutionalisierten Ausbildung gehört zweifelsfrei zur klassischen Definition des Amateurs, schließlich stand die Arbeit von Amateuren, ganz gleich auf welchem Gebiet, seit jeher in Konkurrenz zu den von Spezialisten professionell erstellten Produkten. Die Spezialsten konnten und können bei ihrer Arbeit umfassend auf gesellschaftliche Ressourcen (Ausbildung, Finanzierung, Infrastruktur, Institutionen, Gesetzgebung) zurück greifen und eine dem technischen Entwicklungsstand entsprechende, Maßstäbe setzende Qualität erreichen. Amateurprodukte blieben zwangsläufig hinter diesen Standards zurück. So wurden die Adjektive ›amateurhaft‹, ›laienhaft‹ oder ›dilettantisch‹ zu Synonymen für ›langweilig‹, ›unbedeutend‹ oder ›qualitativ minderwertig‹. Die soziologische Forschung konstatiert eine zunehmende Durchsetzung der Professionalisierung, die den Experten zum Leitbild der Moderne macht.150 Während Max Weber bemerkte, dass auch im Herrscher ein Dilettant steckt, und dass der Einfall des Dilettanten wissenschaftlich genauso wertvoll151 sein kann, wie der eines Professionellen, führt das professionelle Leistungsethos der modernen Gesellschaft dazu, dass das Dilettantische, der Müßiggang oder die zweckfreie Liebhaberei als vergeudete Zeit bewertet werden. Das wissenschaftliche Interesse an Amateurprodukten wiederum richtet sich mehrheitlich auf deren (potentiell) künstlerischen Charakter. Als Messlatte gilt dabei jedoch stets die professionelle Produktion. Die Kritik am Amateurfilm zum Beispiel bemängelt vor allem das versuchte Nachahmen professioneller Konventionen (›das Fernsehen als großes Vorbild‹), den Verlust der Naivität, und das Verpassen der von den Professionellen bereits vollzogenen Entwicklungen. So würden vor allem Klischees reproduziert, und eine aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben finde nicht statt.152 Diese Defizitwahrnehmung führte zu einer Geringschätzung von Amateurprodukten im Vergleich zu professionellen Pro-

150 Vgl.: Parsons, Talcott (1971): The System of Modern Societies. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Stock, Manfred (2005): Arbeiter, Unternehmer, Professioneller. Zur sozialen Konstruktion von Beschäftigung in der Moderne. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 151 Weber, Max (1988; 1919): Wissenschaft als Beruf, in: Winckelmann, Johannes (Hg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre von Max Weber, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), S. 582-613, Hier: S. 590. 152 Vgl.: Schrage, Dieter (1982): Wie ernsthaft sind die Filmamateure? Kritische Anmerkungen zur Amateurfilmerei in Österreich, in: Bockhorn, Olaf u.a. (Hg.): Kulturjahrbuch 1 (1982/83), Wiener Beiträge zur Kulturwissenschaft und Kulturpolitik, Wien. S. 300-306.

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dukten. Doch dieses dieses streng hierarchische Verhältnis wird zunehmend unterlaufen; so wird man mittlerweile beispielsweise auch außerhalb der OnlineVideoplattformen mit Clips aus dem Internet konfrontiert, denn Fernsehen und Printmedien haben diese bereits in ihre Programme und Berichterstattung integriert. Zudem werden vermehrt Amateurprodukte in Ausstellungen thematisiert. Die erhöhte Akzeptanz und das gesteigerte Interesse für die neuen medialen Phänomene geht dabei zunächst vom Publikum aus: Die von Amateuren erstellten Produkte erreichen und begeistern heutzutage unter Umständen ein Millionen-Publikum, während professionelle Produkte aus Industrie und Hochkultur auf Desinteresse oder sogar Ablehnung stoßen. In Bezug auf Amateurprodukte scheint sich also ein Vorzeichenwechsel zu vollziehen bzw. schon vollzogen zu haben. 4. Amateurhaftigkeit und mangelnde Qualifikation Derartige Vorzeichenwechsel sind jedoch nicht neu und vor allem darauf zurückzuführen, dass sich bei jedem neuen Medium in der Anfangsphase kaum ein Unterschied zwischen Amateuren und Professionellen ausmachen lässt. Auch in den Anfängen von Film und Fotografie konnte man von professionellen Amateuren sprechen. Tatsächlich galten in der Anfangszeit des Films die Amateure als Hoffnungsträger der Filmkunst, und besonders die Foto-Amateure trugen mit ihrer Kritik und technischen Innovation maßgeblich dazu bei, die Fototechnik zu verbessern und kreative bildnerische Sichtweisen zu erkunden: »Wesentliche Erfindungen, z.B. die Ablösung des Naßplattenverfahrens durch ein Trockenplattenverfahren bei der Entwicklung von Fotografien, [...] gingen auf Amateure zurück. [...] Nicht nur Lichtwark, sondern auch andere Zeitgenossen bescheinigen den Amateurfotografen Innovationsfreude und Kreativität [...]«.153 Die ihnen in diesem Zitat attestierte Originalität, Innovationsfreude, Kreativität und Intuition konnten sich viele Amateure vielleicht auch gerade deshalb bewahren, weil sie nicht durch ein institutionalisiertes Umfeld geprägt waren. McLuhan bemerkt hierzu am Beispiel des Physikers Michael Faraday (1791-1867), der als Amateur die Forschung auf dem Gebiet der Elektrotechnik vorantrieb und es damit zu Weltruhm gebracht hat: »Faraday had two qualities that more than made up for his lack of education: fantastic intuition and independence and originality of mind. Professionalism is environmental. Amateurism is anti-environmental. Professionalism merges the individual into patterns

153 Göttsch, Silke (1995): »Die schwere Kunst des Sehens«. Zur Diskussion über Amateurfotografie in Volkskunde und Heimatbewegung um 1900, in: Lipp, Carola (Hg.): Medien popularer Kultur. Erzählung, Bild und Objekt in der volkskundlichen Forschung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, S. 395-405, hier S. 396f.

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of total environment. Amateurism seeks the development of the total awareness of the individual and the critical awareness of the groundrules of society. The amateur can afford to lose. The professional tends to classify and specialize, to accept uncritically the groundrules of the environment. The groundrules provided by the mass responses of his colleagues serve as pervasive environment of which he is contentedly and unaware. The ›expert‹ is the man who stays put.«154

Die Entwicklung von Institutionen zur Ausbildung und Verwertung, d.h. die Spezialisierung und Professionalisierung bedarf immer einer gewissen Zeitspanne. In vielen Fällen brachte und bringt der technische Fortschritt für Amateure viel zu teure und komplizierte Apparate hervor. Dies führte zum Beispiel mit dem Aufkommen des Tonfilms zur Trennung in eine Technik für Amateure und eine Technik für Professionelle. Im Hinblick auf neue mediale Phänomene aber hat sich diese ›Trennung durch Technik‹ geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Die Geräte für Amateure werden handlicher und preiswerter; zugleich nähern sie sich in ihrer Qualität immer mehr professioneller Ausrüstung an. Was damit jedoch nicht Schritt hält, ist die Entwicklung entsprechender beruflicher Qualifikationen; für mit technischen Neuerungen zusammenhängende Berufe gibt es in der Anfangszeit häufig keine speziellen Ausbildungsgänge. Dennoch können z.B. Street-Art oder Videoclips im Internet nicht pauschal als amateurhaft gelten, denn es gibt durchaus Berufe, die entsprechende Fähigkeiten vermitteln. Im ersten Fall könnte jemand Grafiker oder Illustrator sein, ja vielleicht imitiert er in einer Werbeagentur sogar Technik und Stil bestimmter Street-Art. Im Falle der Videoclips könnte eine Person etwa als Schnittmeister (Cutter), Kameramann oder in einer Videothek arbeiten. Doch wenn beide sich in ihrer Freizeit der Street-Art oder YouTube widmen, sind ihre Produkte dann als professionell oder als amateurhaft zu charakterisieren? Hinzu kommt noch, dass Menschen ihren Status ändern können. Bereits bei Walter Benjamin verliert die Unterscheidung zwischen Amateur und »Fachmann« ihren »grundsätzlichen Charakter«.155 Wie aber soll man einen Wandel vom Amateur zum Professionellen (und umgekehrt) fassen, und von welchem Zeitpunkt an ist er vollzogen? Und wenn jemand seine nicht-berufliche Tätigkeit nur dazu ausübt, um sich für eine professionelle Karriere anzubieten (das Internet als Talentbörse), ist das dann noch als Amateurtätigkeit zu werten? So zeigt sich, dass Ausbildung und beruflicher Hintergrund nur schwer als Unterscheidungskriterium dienen können.

154 McLuhan, Marshall; Fiore, Quentin (1967): The Medium is the Message: An Inventory of Effects, Middlesex: Penguin, S. 93. 155 Benjamin (1991): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 493.

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5. Das Amateurprodukt als qualitativ minderwertiges Erzeugnis Diese Differenzierungsschwierigkeit wird besonders deutlich, wenn man die ästhetische oder inhaltliche Qualität der Produkte als weiteres Kriterium für die Unterscheidung zwischen Amateuren und Professionellen hinzuzieht. Heutzutage versuchen viele Profi-Produkte, die Qualität (das feeling) eines Amateur-Produkts nachzuahmen, um das Publikum mittels suggerierter Authentizität anzusprechen. Gleichzeitig erreichen Amateure oftmals mühelos die Standards der Profis156, übertreffen diese sogar und fordern die Professionellen heraus, etwa im Bereich der Informatik. In einigen Bereichen gibt es vielleicht gar kein vergleichbares professionelles Produkt, oder die medialen Äußerungen werden nicht als solche erkannt und, wie das Beispiel der Street-Art zeigt, als »Vandalismus« abgetan.157 Noch verwirrender wird es, wenn man bedenkt, dass Amateure sich zu einem großen Teil professionell erstellter Produkte bedienen und sie entweder ganz, in Ausschnitten oder bearbeitet erneut veröffentlichen. Die Debatte um Urheberrechtsverletzungen weist hier auf den Umfang des Problems hin. Bei Street-Art zum Beispiel dienen oft professionell erstellte Fotografien als Vorlage. So nutzt die Street-Art einerseits durchaus den Wiedererkennungswert (recognition value) der Bildikonen aus, andererseits erhöht sie aber in der Verfremdung auch die Bekanntheit und die Aktualität derselben. Sollen solche Produkte nun als amateurhaft oder als professionell charakterisiert werden? Auch auf diese Frage bietet die klassische Definition des Amateurs keine befriedigende Antwort. 6. Nichtanerkennung, Herabsetzung oder Wertschätzung Einen weiteren Aspekt nennt Ramón Reichert zwar nicht direkt, er deutet sich aber implizit in positiven Formulierungen wie »Leitfigur flexibilisierter Bedeutungsproduktion« oder »›Netzwerkkompetenzen‹« an. Der Amateur wird nur selten wertneutral charakterisiert. Vielmehr herrscht ihm gegenüber ein ambivalentes Verhältnis, das sich auch in den Bedeutungsverschiebungen in der historischen Verwendung des Begriffs zeigt.158 So stand der Amateur zunächst in der Tradition der universali-

156 Für diese Fälle wurde in der Marketing-Sprache das Modewort »ProAm« geschaffen, als Bezeichnung eines »professionellen Amateurs«. 157 Vgl. Lorenz, Maren (2009): Vandalismus als Alltagsphänomen. Hamburg: Hamburger Edition, HIS Verlag. 158 Vgl. hierzu den Artikel zum ›Amateur‹, in: Basler, Otto; Schulz, Hans; Strauss, Gerhard (1995): Deutsches Fremdwörterbuch, Band 1, Herausgegeben vom Institut für deutsche Sprache. Berlin: Walter de Gruyter, S. 419-422. Außerdem den Artikel zum ›Dilettant‹, in: Basler, Otto; Schulz, Hans; Strauss, Gerhard (1999): Deutsches Fremdwörterbuch,

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stisch interessierten Virtuosi159 der italienischen Renaissance. Bis in das 18. Jahrhundert genoss er hohe Reputation, da er den damals neu entstehenden Wissenschaften wachsendes Ansehen in der Öffentlichkeit verschaffte und dabei half, ihre Erkenntnisse zu verbreiten. Bereits Francis Bacon (1561-1626) beurteilte das spielerische, lehrreiche Vergnügen – etwa in der Kunstkammer – als Möglichkeit des Erkenntnisgewinns und der Wissensvermehrung äußerst positiv.160 Die zunehmende Professionalisierung von Kunst und Wissenschaft, die sich in der von Goethe und Schiller initiierten Dilettantismus-Debatte161 um 1800 widerspiegelt, führte zu einer bis heute gültigen pejorativen Bedeutung des Begriffs. So befürchtete Joseph von Eichendorff (1788-1857), dass der Buchdruck den Massen breiten Zugang zum Wissen ermöglichen und so einen unstatthaften Umgang damit fördern könnte, und zwar auf Seiten der Produzenten wie der Rezipienten. Studien zur wissenschaftshistorischen Bedeutung des Dilettantismus zeigen jedoch, dass Amateure bis ins 20. Jahrhundert hinein eine nicht unerhebliche Rolle spielten.162 Im Gegensatz zur eher pejorativen Verwendung des Begriffs bezeichnete sich die literarische Décadence im Fin-de-siècle selbst als dilettantisch. Die Figur des Dilet-

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Band 4, Herausgegeben vom Institut für deutsche Sprache. Berlin: Walter de Gruyter, S. 580-584. Interessanterweise hat sich die positive Bedeutung aus dem Lateinischen (virtus = Tugend) über das Italienische (virtuoso = fähig) im Deutschen erhalten, im Gegensatz zum Dilettanten oder Amateur. Vgl. Bredekamp, Horst (1993): Antikensehnsucht und Maschinenglaube. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin: Wagenbach Verlag. Die Ambivalenz des Begriffes bei Goethe wird auch in seinen vielfältigen Begriffsbestimmungen deutlich: »Merkwürdigerweise ist aber in Goethes Wortgebrauch von Dilettant und Dilettantismus, trotz oder gerade wegen der sehr starken persönlichen Anteilnahme, keine festumrissene oder gleichbleibend eindeutige Wertung festzustellen [...].«: Vaget, Hans Rudolf (1970): Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 131-158. Hier S. 145. Vgl. hierzu auch: Golz, Jochen (2007): Dilettantismus bei Goethe. Anmerkungen zur Geschichte des Begriffs, in: Blechschmidt, Stefan; Heinz, Andrea (Hg.): Dilettantismus um 1800, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 27-39. Vaget, Hans Rudolf (1971): Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik. München: Winkler. Vgl. Strauss, Elisabeth (1996): Dilettanten und Wissenschaft. Zur Geschichte und Aktualität eines wechselvollen Verhältnisses. Amsterdam: Editions Rodopi. Seidel, Robert (2002): Die ›exakten‹ Wissenschaften zwischen Dilettantismus und Professionalität. Studien zur Herausbildung eines modernen Wissenschaftsbetriebs im Europa des 18. Jahrhunderts. Heidelberg: Palatina. Hesse, Hans Albrecht (1998): Experte, Laie, Dilettant. Über Nutzen und Grenzen von Fachwissen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lazardig, Jan; Schramm, Helmar; Schwarte, Ludger(2003): Theatrum Scientiarum: Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Band 1: Schauplätze Des Wissens im 17. Jahrhundert. Berlin: Walter de Gruyter. Federhofer, Marie-Theres (2001): »Moi simple amateur« Johann Heinrich Merck und der naturwissenschaftliche Dilettantismus im 18. Jahrhundert, Hannover: Wehrhahn.

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tanten stand in Verbindung zu der des Dandys und erfuhr so eine Aufwertung.163 Auch die Avantgarde des 20. Jahrhunderts (Expressionismus, Dada-Bewegung) nutzte die Kategorie des Dilettanten, um sich gegen die gängigen Muster von Rezeption und Produktion abzugrenzen.164 Inzwischen – das belegen zahlreiche Publikationen und Ausstellungen – fand auch in der Fotografie eine »Hinwendung zum Amateurwesen und insbesondere zur Knipserfotografie« 165 statt: »Gewöhnlich wird der Amateur als unausgereifter Künstler definiert: als jemand, der zur Meisterschaft in seiner Profession nicht aufsteigen kann – oder will. Auf dem Felde der photographischen Praxis dagegen überflügelt der Amateur den Professionellen: er kommt dem Noema der Photographie am nächsten.«166

Die Debatte um die Bedeutung der Amateure für die Hochkultur erstreckt sich aber nicht nur auf das Gebiet der Fotografie. Im 20. Jahrhundert wurde sie in Anlehnung an die unterschiedlichen Positionen etwa von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno geführt: »Für Benjamin ist der Amateur das Herz der kulturellen Produktion, während Adorno die Popularisierung als Bedrohung und Verrohung der Kultur wahrnahm. Die heutige Forschung folgt mehrheitlich der Benjaminschen Einschätzung, so daß das Verhältnis zwischen Kunst und populärer Kultur intensiv diskutiert wird.«167

Mit dem Aufkommen des Internets und der damit verbundenen massenhaften Verbreitung von Amateurprodukten wurde diese Debatte neu entfacht. Die Positionen blieben dabei unverändert: Auf der einen Seite herrscht die Meinung vor, dass die millionenfache Zusammenarbeit zwischen Amateuren kulturelle und wissenschaftliche Wertschöpfung verspricht und zu einer generellen Demokratisierung

163 Vgl. Sørensen, Bengt Algot (1969): Der ›Dilettantismus‹ des Fin de siècle und der junge Heinrich Mann, in: Orbis Litterarum Vol. XXIV (1969), S. 251-270. SchulzBuschhaus, Ulrich (1984): Der Tod des ›Dilettanten‹ – Über Hofmannsthal und Paul Bourget, in: Rössner, Michael; Wagner, Birgit (Hg.): Aufstieg und Krise der Vernunft. Komparatistische Studien zur Literatur der Aufklärung und des Fin-de-siècle. Wien: Böhlau, S. 181-195. Barstad, Guri Ellen; Federhofer, Marie-Theres (2003): Dilettant, Dandy und Décadent, Hannover: Wehrhahn. 164 »dilettanten erhebt euch und laßt den perpen um die dikel hurrah pendeln […] wenn der künstler untergeht fängt die kunst zu schwimmen an […] wenn der mensch untergeht beginnt der dilettant […] der letzte mensch wurde heute nachmittag 3 Uhr 13 im mutterleib der gesellschaft abgetrieben […] das leben ist frei der dilettant kann beginnen« Ernst, Max (1920): Lukrative Geschichtsschreibung, aus: Die Schammade, in: Vowinckel, Andreas (1989): Surrealismus und Kunst. 1919 bis 1925. Hildesheim: Georg Olms Verlag, S. 521. 165 Mathys (2008): Amateure der visuellen Kunst, S. 42. 166 Barthes, Roland (1989; 1980): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 109. 167 Mathys (2008): Amateure der visuellen Kunst, S. 42.

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führt168, auf der anderen Seite wird der wachsende Erfolg und Einfluss der Amateure als Bedrohung gesehen. Auffällig ist, dass besonders Print-Journalisten (›Blogging, Journalism and Credibility‹, ›Citizen journalism vs. professional journalism‹)169 und Wissenschaftler (›Wikipedia vs. Britannica – Science Accuracy‹) den Amateuren im Internet kritisch gegenüber stehen. Besonders scharfe Kritiker übt der Internet-Pionier und Unternehmer Andrew Keen, der die von Amateuren veröffentlichten Produkte in ihrer Gesamtheit polemisch als »ignorance meets egoism meets bad taste meets mob rule on steroids«170 charakterisiert. In der von Amateuren geschaffenen Welt aus »Chaos und Lügen«, so Keen, könnten die Jugendlichen nicht mehr zwischen qualitativ guten und schlechten Inhalten differenzieren: »Die junge Generation, die mit dem Internet aufwächst, besitzt keine Medienkompetenz. Wir, die Älteren, sind es gewöhnt, Werbung und Inhalte zu unterscheiden. Im Videoportal YouTube beispielsweise können Werbetreibende ihre Botschaften verbreiten, ein Millionenpublikum saugt die Filme auf und reicht sie sogar weiter. Viele Zuschauer merken noch nicht einmal, dass sie Reklame gucken.«171

Doch abseits von Keens Polemik hat die Kritik an der Amateurproduktion durchaus ihre Berechtigung: »But one of Keen’s central arguments – that the internet, by its all-inclusive nature and easy access, opens the door to amateurism-as-authority while at the same time devaluing professional currency – deserves a full airing. Basically, I think he’s right to criticize what he calls the ›cut and paste‹ ethic that trivializes scholarship and professional ability, implying that anybody with a little pluck and the right technology can do just as well.«172

Fest steht, dass Amateurprodukte das herkömmliche Verständnis von Autorschaft und Urheberrecht, also von geistigem oder künstlerischem Eigentum, in Frage stellen. Dagegen darf bezweifelt werden, dass es wirklich die Amateure sind, die den Journalismus oder die Wissenschaft in eine (vermeintliche) Krise stürzen.

168 Vgl. hierzu z.B.: Tapscott, Donald; Williams, Anthony D. (2006): Wikinomics. How Mass Collaboration Changes Everything. New York: Penguin Group / Portfolio. 169 Mackinnon, Rebecca (2005): Blogging, Journalism and Credibility, in: The Nation, March 17, 2005. ‹http://www.thenation.com/doc/20050404/mackinnon› [15. Mai 2009]. Vgl. auch: Coturnix (2009): Defining the Journalism vs. Blogging Debate, with a Science Reporting angle. ‹http://scienceblogs.com/clock/2009/03/defining_the_ journali sm_vs_ blo.php› [15. Mai 2010]. 170 Keen (2007): The cult of the amateur, S. 1. 171 Waldenmaier, Noelani (2008): »Chaos und Lügen«. Interview mit Andrew Keen, in: Focus 45/2008, S. 184. 172 Long, Tony (2007): Internet Smackdown: The Amateur vs. the Professional. ‹http://ww w.wired.com/culture/lifestyle/commentary/theluddite/2007/06/luddite_062› [15. Mai 2009].

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Nachvollziehbar scheint, dass die ambivalente Rezeption des Amateurs in der Forschung als Symptom für ein verändertes Verhältnis der Gesellschaft zu Kunst und Wissenschaft gedeutet wird. Letztendlich aber ist diese schon Jahrhunderte andauernde Debatte nicht eindeutig zu entscheiden. Eine Definition müsste deshalb möglichst wertneutral sein und insbesondere qualitative Urteile zu vermeiden suchen. Zu diesem Schluss kam man auch auf zwei Tagungen173 , auf denen man sich mit Amateuren vor allem in den visuellen Medien beschäftigte. Eine Teilnehmerin führte zum Problem der Definition von Amateuren Folgendes aus: »Die Frage, wie die Bild-Akteure zu bezeichnen und damit zu charakterisieren sind, tauchte im Verlauf der beiden Tagungen immer wieder auf: Sollten sie als unwissende Laien, bastelnde Dilettanten, unachtsame Knipser, eifernde Amateure oder gar als geheime Meister beschrieben werden? Es galt dabei, die Amateure in ein Verhältnis zu den Professionellen zu setzen und zugleich die nicht-professionellen Akteure in ihren diversen visuellen Praxen zu erfassen. Die Abgrenzung von professionellen Medienakteuren als jenen, die mit ihrer Bildproduktion ihren Lebensunterhalt verdienen, von den Amateuren als denjenigen, die Filme, Fotografien und virtuelle Figuren in ihrer Freizeit kreieren, erwies sich zwar als im Ansatz tragfähig, aber für viele der vorgetragenen Beispiele dann doch als letztlich unbefriedigend, da zahlreiche Amateure hinsichtlich technischer, ästhetischer und innovativer Umsetzung, aber auch hinsichtlich des zeitlichen Aufwandes den Professionellen in nichts nachstehen.«174

So zeigt sich, dass eine Kategorisierung über den Produzenten – dies ist der klassische Weg – nur schwer zu leisten ist. Dies bedeutet aber zwangsläufig, dass das Produkt selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt und damit: der Einzelfall.

173 »Photographes et cinéastes – amateurs d’images«, vom 29.-30. Mai 2008 an der Université François-Rabelais de Tours sowie »Medienamateure. Wie verändern Laien unsere visuelle Kultur?« im Museum für Gegenwartskunst in Siegen vom 5.-7. Juni 2008. 174 Mathys (2008): Amateure der visuellen Kunst, S. 41.

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Nutzertypisierung II: ›aktive‹ vs. ›passive‹ Nutzer Die ›eigentlichen‹ Amateure wiederum lassen sich grob in zwei Nutzergruppen unterscheiden: Die aktiven Nutzer einerseits, und die passiven Nutzer, die das Internet vorrangig als Abrufmedium verstehen.175 Letztere begreifen die Videoplattformen als eine Art Videothek mit instant access; bei ihnen handelt es sich um die weitaus größere Gruppe. Schenkt man der Statistik Glauben, so sind es besonders Menschen ab 30, die in diese Gruppe fallen.176 Betrachtet man nur diese Nutzergruppe, so lassen sich eher keine neuartigen Momente der Videokultur ausmachen, schließlich handelt es sich letztendlich um die für traditionelle Massenmedien charakteristische One-To-Many-Distribution, außer dass es vielleicht mehr Sender gibt: Ein Fernsehsender sendet an Millionen Zuschauer, und hier ist es ein Videoclip, der vielleicht ebenfalls von Millionen Zuschauern angesehen wird, nur eben nicht zur selben Zeit. Das wirklich Neue erschließt sich erst, wenn man die Nutzer betrachtet, die sich aktiv einbringen – sei es durch das Einspielen von Inhalten (user-generated content), oder durch Partizipation in Form von Kommentaren und Bewertungen. Hier handelt es sich um eine kleine 177, aber entscheidende Gruppe zu der auch die bereits erwähnten Internet-Celebrities gehören (ihre Bekanntheit verleiht ihnen allerdings größeren Einfluss). Insgesamt aber ist der Anteil aktiver Nutzer niedrig: »Der Wille, sich aktiv mit einzubringen, ist unter den Onlinern bislang allerdings nur wenig ausgeprägt. Nur 13 Prozent der Internetnutzer zeigen sich sehr interessiert am aktiven Mitwirken. Deren Anteil ist damit unverändert niedrig. Nimmt man die Gruppe derer hinzu, die sich am Web-2.0-Prinzip etwas interessiert zeigen, erhöht sich das Potenzial um 22 Prozent […]. Somit hat zumindest jeder dritte Onliner etwas Interesse am Bereitstellen eigener Inhalte im Netz. Eine Ausnahme bilden junge Onliner. Gerade die Teenager verhalten sich besonders aktiv im Netz. Mehr als die Hälfte (57%) dieser Gruppe zählt zu dem Kreis der potenziellen Lieferanten von user-generated Content. Für zwei Drittel der Onliner aber ist das Produzieren von user-generated Content schlicht uninteressant. Es zeigt sich also, dass die Voraussetzungen zwar geschaffen

175 Hartmut Winkler weist darauf hin, dass die Verwendung der Begriffe »aktiv« und »passiv« grundsätzlich schwierig ist. Vgl.: Winkler (2008): Basiswissen Medien, S. 30. In dem hier verwendeten Sinn geht es jedoch nicht um Aktivität in Bezug auf den Körper, sondern im Sinne von einer nach Außen gerichteten Produktivität. 176 Vgl. Fisch, Martin; Gscheidle, Christoph (2008): Mitmachnetz Web 2.0: Rege Beteiligung nur in Communitys, in: Media Perspektiven 7/2008. 177 Im April 2007 verkündete Bill Tancer vom auf das Internet spezialisierten Marketinginstitut Hitwise, dass die Beteiligung im sogenannten »Mitmach-Netz« auch bei den größten Webseiten überraschend gering ist. So sollen bei YouTube nur 0,16% aller Nutzer überhaupt ein Video hochladen. Vgl.: Breslin, John G.; Passant, Alexandre; Decker, Stefan (2009): The Social Semantic Web. Berlin: Springer Verlag, S. 25.

62 | U NDERSTANDING Y OU T UBE sind, die Onliner aber dafür noch nicht bereit zu sein scheinen. Das Internet wird weiter zuvorderst als Abrufmedium begriffen und genutzt.« 178

Damit handelt es sich bei der Gruppe der aktiven Nutzer um eine deutliche Minderheit, allerdings kann man nur hier die Verschmelzung von Rezipienten und Produzenten beobachten. Bei den passiven Nutzern fließt das Empfangene weder zurück an den Sender, noch wird es weitergereicht. Das Neuartige scheint sich deshalb innerhalb der Gruppe der aktiven Nutzer zu manifestieren. Vernetzung und Community-building Die Nutzer selbst sehen sich als Teil einer »Community«.179 Auch wenn die Gruppe der aktiv partizipierenden Nutzer sich in der Regel persönlich nicht kennt und nur über ein Medium kommuniziert, so handelt es sich doch um eine Kommunikationsgemeinschaft. Es ist eine virtual community, in der eine in das Alltagsleben integrierte Technik den Kontakt über alle Grenzen hinweg vermittelt. Wie der Soziologe Manuel Castells in seiner Arbeit über die Internet-Galaxy feststellt, stehen derartige Communities allerdings keineswegs »außerhalb der Gesellschaft«, und sie dienen auch nicht einer Flucht aus der Realität.180 Diese Sichtweise hat sich allerdings – besonders im populären Diskurs – nicht durchsetzen können.181 Doch unabhängig von dem Verhältnis der Videoclip-Community zum »Rest der Gesellschaft«, sind die Bindungen innerhalb der Community eher schwach ausgeprägt. Da in einer derartigen virtual community tiefergehende persönliche Bindungen weitgehend fehlen, spricht der Soziologe Gerald Delanty hier von einer »thin community«:

178 Vgl.: Fisch; Gscheidle (2008): Mitmachnetz Web 2.0, S. 356. 179 Ebd. S. 364. »Innerhalb von Communitys funktioniert der Gedanke des ›Mitmachens‹. Profile werden angelegt, die favorisierte Gemeinschaft regelmäßig konsultiert, man partizipiert aktiv.« 180 Vgl: Castells, Manuel (2002): The Internet Galaxy: Reflections on the Internet, Business, and Society, Oxford: Oxford University Press, S. 116ff. 181 Als ein Beispiel sei hier das 2008 erschienene Buch über das Okkulte der Ethnologin Sabine Doering-Manteuffel genannt. Sie sieht das Internet als Aufbewahrungsort und Tummelplatz all dessen, was in der Gesellschaft verpönt, unerwünscht oder verboten ist und bezeichnet es in seiner Gesamtheit als ›okkulte Parallelwelt‹: »Heute geht es nicht mehr um den Schutz vor dem Zugriff des Staates, sondern um das Spiel mit den Identitäten. Beziehungen zwischen Personen werden als Beziehungen zwischen virtuellen Charakteren abgebildet. Die Cyberworld ist in diesem Sinne eine okkulte Parallelwelt. Sie ist in ihrer Ganzheit okkult.« Doering-Manteuffel, Sabine (2008), Das Okkulte: Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web. München: Siedler, S. 289.

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»The virtual community is more akin to the postmodern community beyond unity and where a new kind of individualism has emerged around ephemeral realities and demassified social relations. […] As thin communities, they are not based on strong ties and are often communities of strangers. The Internet brings together strangers in a sociality often based on anonymity and where a ›new intimacy‹ is found in which politics and subjectivity are intertwined. […] Virtual community is one of the best examples we have of communication communities, since the exclusive aim of the virtual community is the sharing of information in a communicative context outside of which it does not always exist.«182

Interessant ist nun, dass sich trotz aller Unpersönlichkeit eine Art der Partizipation entwickelt. Bei dieser gilt es im Folgenden zu zeigen, dass sich die Beteiligung nicht in Kommentaren und Beurteilungen erschöpft, sondern dass sich darüber hinaus ein ganz eigener, neuartiger audiovisueller Diskurs entwickelt. Outlaw-Image und das ›Gefühl der Community‹ Die in solchen Netzwerken beobachtete »Dehnung« sozialer Beziehungen über weite Entfernungen183 führt zu einer gefühlten globalen räumlichen Nähe (proximity), zum Erleben einer Kompression von Zeit und Raum 184, letztlich gar zu einem Zustand raum-zeitlicher Konvergenz. In Kombination mit einem noch aus Anfangszeiten stammenden Image einer subkulturellen und nicht profitinteressierten Organisation verstärkt sich bei den Nutzern die Vorstellung einer ›großen Community‹. Anonymität, Virtualität und das Fehlen persönlicher Beziehungen bedeuten jedoch nicht, dass das ›Community-Gefühl‹ verschwindet, sobald der Computer ausgeschaltet wird. Die öffentliche Diskriminierung der Videokultur im Internet wird von den Nutzern ins Positive gekehrt, so dass die Ausgrenzung das ›CommunityGefühl‹ noch verstärkt. Zensur und Bevormundung werden innerhalb der Community kritischer gesehen als sogenannte »schädliche Inhalte«.185 Jeder Nutzer hat theoretisch die Möglichkeit, das Angebot zu durchforsten und verbotene Inhalte als

182 Delanty, Gerard (2003): Community. Abingdon Oxon: Taylor & Francis Ltd, S. 171. 183 Giddens, Anthony (1990): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 85 ff. 184 Nach David Harvey können Zeit und Raum nicht unabhängig von sozialem Handeln begriffen werden, er spricht von einer Verdichtung des Raumes als Raum-ZeitKompression. Vgl. Harvey, David (1990): The Condition of Postmodernity: An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford: Blackwell Publishers S. 260 ff. 185 Die Kommentare und entsprechenden Videoclips z.B. auf YouTube sind naturgemäß leider sehr flüchtiger Natur. Vgl. deshalb beispielhaft die Diskussion: Gamestar Forum (2008): YouTube zensiert? WTF? ‹http://www.gamestar.de/community/gspinboard/sho wthread.php?t=304089› [15. Mai 2010].

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›inappropriate‹ zu markieren. Erst dann nämlich sieht z.B. YouTube sich veranlasst, das Video zu begutachten und eventuell zu löschen.186 Interessanterweise funktionierte diese Form der ›Selbstreinigung‹ jedoch nicht. Allem Anschein nach herrscht innerhalb der Community eher eine Laissez-FaireMentalität, und mit dem Image eines ›Outlaws‹ scheint es sich sehr gut leben zu lassen. Denn trotz massiver Kritik an ›Schmutz und Schund‹ blieben eben diese Inhalte im Angebot, ja sie wurden, nachdem sie vielleicht einmal tatsächlich gelöscht worden waren, dutzendfach wieder neu hochgeladen.187 Die Nutzer, die die eigentlich gelöschten Inhalte wieder neu ins Netz stellten, waren dabei nicht unbedingt Befürworter dieser Inhalte. In ihren Kommentaren machten sie deutlich, dass Zensur und Bevormundung sie noch mehr stören als die betreffenden Inhalte und forderten andere dazu auf, den entsprechenden Videoclip erneut hoch zuladen, damit er im Angebot bleibt. Obwohl also für die Nutzer die Grundstruktur der Videoplattformen im Internet vorgegeben ist – schließlich haben sie keinen Einfluss auf technische Einzelheiten oder Gestaltung der Internetseite – unterlaufen sie im unberechenbaren Prozess des Crowdsourcing vorgegebene Regeln. Die vorgegebenen Ressourcen werden genutzt, ohne sich diesen zu unterwerfen, auf eine gewisse Weise machen sich die Nutzer die Videoplattformen also zu Eigen. Wie John Fiske bemerkt, scheint dies auch mit einem besonderen Vergnügen verbunden zu sein: »Everyday life is constituted by the practices of popular culture, and is characterized by the creativity of the weak in using the resources provided by a disempowering system while refusing finally to submit to that power. The culture of everyday life is best described through metaphors of struggle or antagonism: […] hegemony met by resistance, ideology countered or evaded; top-down power opposed by bottom-up power, social discipline faced with disorder. These antagonisms, these clashes of social interests […] are motivated primarily by pleasure: the pleasure of producing one’s own meanings of

186 Mittlerweile muss YouTube – auf Druck der großen Medienkonzerne – zunehmend selbst aktiv werden und immer ausgefeiltere technische Methoden entwickeln. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Fingerabdrücke, d.h. Videosequenzen die zu Vergleichszwecken gespeichert werden. Vgl. hierzu: YouTube. Fingerabdruck für Filmchen, in: Stern.de vom 31. Juli 2007. ‹http://www.stern.de/digital/online/youtube-finger abdruck-fuer-filmchen-594196.html› [15. Mai 2010]. 187 Hier ließe sich einwenden, dass YouTube inzwischen nahezu frei ist von pornographischen Inhalten. Es stellt sich aber die Frage, ob dies den Bemühungen der Videoplattform selbst zu verdanken ist, oder ob die an Pornographie interessierten Nutzer nicht aus eigenem Antrieb abgewandert sind. In der Zwischenzeit hatten sich nämlich zahlreiche Webseiten etabliert, die von der Struktur her identisch mit YouTube und ebenfalls kostenlos sind, die sich allerdings auf Pornografie spezialisiert hatten, so dass sich ebensolche Inhalte dort noch schneller und müheloser finden und verbreiten lassen.

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social experience and the pleasure of avoiding the social discipline of the powerbloc.«188

So bildet sich durch soziale Gebrauchsweisen eine Form der Zusammenarbeit, die Ramón Reichert als »widerspenstiges Netz«189 bezeichnet. Mit dem Soziologen de Certeau könnte man das Lebensgefühl der community als »art of being in between«190 bezeichnen, als einen zwischen Produktion und Konsum gelebten Teil populärer Kultur und Alltagspraxis. De Certeau interessiert die Art und Weise des Gebrauchs und vermutet bei den Konsumenten eine Taktik. Diese Taktik »muß wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. Sie wildert darin und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. Sie ist die List selber.«191

Entscheidend für das sich durch die kreative Nutzung von Freiheitsspielräumen, Kontrolllöchern und günstigen Gelegenheiten aufspannende »Netz einer Antidisziplin«192 ist laut de Certeau die Logik von Unordnung und Differenz. Bezeichnenderweise ist es gerade die Unübersichtlichkeit und Unkontrollierbarkeit im »scheinbar chaotischen Bilderwirbel des Netzes«193, die in Verbindung mit den Videoplattformen im Internet von Medien und Forschung immer wieder thematisiert wird. Eine Charakterisierung der Videoplattformen als »Netz einer Antidisziplin« (de Certeau) würde jedoch implizieren, dass die Akteure dort nur schwerlich authentisch sein könnten – schließlich entwickelt sich Anti-Disziplin in Reaktion auf die Disziplin selbst. Die (negative) Ausrichtung an Äußerem wiederspricht jedoch dem Ideal der Authentizität. Viel eher könnten ›Freiräume‹ als Ventil für den Unmut Einzelner interpretiert werden. Ein dort weitgehend folgenlos kanalisierter Groll würde letztendlich zur Stabilisierung des Systems beitragen – die vermeintlich souveräne Selbstermächtigung des Subjektes gegenüber den Kräften sozialer Kontrolle entpuppt sich letztlich als Selbstbetrug. Selbst wenn die Videoplattformen zunächst autark zu sein scheinen, so sind sie doch in ein gesamtgesellschaftliches Umfeld eingebettet. Längst ist die Welt des »Kommerz 2.0«194 in die Videoplattformen des

188 Fiske, John (1991): Understanding Popular Culture. New York: Routledge, S. 49. 189 Reichert, Ramón (2008): Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. Bielefeld: transcript, S. 45. 190 De Certeau, Michel (2003; 1980): The Practice of Everyday Life. Berkeley: University of California Press, S. 32. 191 De Certeau, Michel (1988; 1980): Die Kunst des Handelns. Berlin: Merve, S. 89. 192 Ebd. S. 16. 193 Kortmann, Christian (2007): 1000 Tage YouTube. Schwamm in der Bilderflut, ‹http:// www.sueddeutsche.de/kultur/434/304410/text/› [15. Mai 2010]. 194 Glück, Nils (2008): Kommerz 2.0: Bloggen im Auftrag der Wirtschaft. ‹http://www.nils ole.net/redaktion/kommerz-20-bloggen-im-auftrag-der-wirtschaft/› [15. Mai 2010].

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Internets eingedrungen (cultural appropriation)195, so dass nicht wenige der dort agierenden Akteure im Sinne des ›herrschenden Systems‹ handeln. Laut den Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello macht sich »die Überzeugung breit, dass der Wert eines Menschen in hohem Maße variabel sei und man sich jeden Tag aufs Neue bewähren«196 müsse. Im projektbasierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts sei das Selbstverwirklichungspotential entscheidend für den Wert jedes Einzelnen.197 Das von der »Künstlerkritik« (critique artiste) geforderte autonome Handeln, sowie Selbstverantwortung und Kreativität werden vereinnahmt – womit die ›Autonomie‹ zum schönen Schein wird. Die Vereinnahmung zeigt sich am deutlichsten in der »Entwicklung von Videoseiten zu Talentbörsen«198. Bei den Nutzern aber hält das Gefühl an, einer ›großen und emanzipierten Community‹ anzugehören. Hier gilt es zu untersuchen, inwieweit die Zirkulation dafür ursächlich ist.

195 Ein Hinweis darauf wären der steigende Anteil von Werbung, die Nutzung des Mediums durch (virale) Werbekampagnen oder das Abwerben von Nutzern auf kommerziell betriebene Internetseiten. Vgl. Lindner, Roland (2006): Die Werbung entdeckt Youtube als neuen Markt, in: F.A.Z., 24.08.2006, Nr. 196 / S. 16. ‹http://www.faz.net/s/Rub475 F682E3FC24868A8A5276D4FB916D7/Doc~E1C1BE314C29448538054D3818A9905 C0~ATpl~Ecommon~Scontent.html› Oetting, Martin (2007): Deutlich mehr KommerzContent als Privatfilme bei YouTube? ‹http://www.connectedmarketing.de/cm/2007/10/ deutlich-mehr-k.html› [15. Mai 2010]. 196 Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 367. 197 Vgl. Ebd. S. 462. 198 Feldmer, Simon (2007): Youtube und Myvideo. Leben in der Box, in: SZ vom 24. 12. 2007. ‹http://www.sueddeutsche.de/computer/611/428366/text/› [15. Mai 2010].

E INLEITUNG

E NTWICKLUNG

DES

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Z IRKULATIONSBEGRIFFS

Lateinisch »circulare« heißt »sich im Kreis bewegen«, und was zirkuliert, kommt diesem ursprünglichen Wortsinn an seinen Ausgangspunkt zurück. In der Moderne hat der Begriff der Zirkulation seinen Ausgangspunkt in der Entdeckung des Blutkreislaufes im 17. Jahrhundert durch Harvey.199 In anderer Verwendung fand der Begriff Zirkulation kurze Zeit später Eingang in die damaligen polit-ökonomischen Diskurse.200 Auch im Bereich der Nationalökonomie hat die Metapher der Zirkulation immer mit einem Rücklauf des Zirkulierenden rechnen können, schließlich galt die Ware-Geld-Reziprozität als garantiert. Doch gehört die sich unbestreitbar im Internet vollziehende Zirkulation tatsächlich in den ökonomischen Bereich? Für die Person, die einen Videoclip veröffentlicht, hat dieser eine gewisse Bedeutung und einen bestimmten Wert. Immerhin wurden in Produktion und Veröffentlichung Zeit, Gedanken und Mühe investiert. Im Internet jedoch kann das Video dann ohne Preis abgerufen werden. Zwar deuten die quantitative Dimension der Nutzerzahlen und die Anonymität der beteiligten Parteien in Richtung Ökonomie, doch es fehlt das Moment der Knappheit: Ein virtuelles Gut ist nicht endlich. So wird auch keine Gegenleistung erbracht, man nimmt, ohne zu geben. Findet damit folglich kein Tausch statt? Sicher ist, dass eine Videoplattform kein Marktplatz im klassischen Sinn ist. Andererseits sind – und das zeigt sich immer mehr – zumindest die großen Videoplattformen kein rechts- oder ökonomiefreier Raum. Wenn jedoch weder das Konzept des Marktes noch das Konzept des Warentausches greift, um was für eine Form zwischenmenschlichen Austauschs handelt es sich dann? Da im Internet niemand für einen Videoclip etwas zahlen muss, handelt es sich rein technisch gesehen um eine Gabe. Der Charakter der Gabe wird jedoch dadurch getrübt, dass der Videoclip eventuell nicht vom rechtmäßigen Urheber bereitgestellt wird, und dass dank der Anonymität des Internets weder Gebende noch Nehmende

199 Vgl. Koschorke, Albrecht (1999): Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink. Borgards, Roand (2002): Blutkreislauf und Nervenbahnen. Zum physiologischen Zusammenhang von Zirkulation und Kommunikation im 18. Jahrhundert, in: Schmidt, Harald; Sandl, Marcus (Hg.): Gedächtnis und Zirkulation. Der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, S. 25-39. 200 Vgl. Büsch, Johann Georg (1800; 1780): Abhandlung von dem Geldumlauf auf die Staatswirtschaft und Handlung. Hamburg: Carl Ernst Bohn. Mattelart, Armand (1996): The Invention of Communication. Minneapolis: University of Minnesota Press, S. 2653. Sandl, Marcus (2002): Zirkulationsbegriff, kameralwissenschaftliche Wissensordnung und das disziplinengeschichtliche Gedächtnis der ökonomischen Wissenschaften, in: Schmidt; Sandl (Hg.): Gedächtnis und Zirkulation, S. 39-63. Vogl, Joseph (1997): Ökonomie und Zirkulation um 1800, in: Weimarer Beiträge 43, 1 1997, S. 69-78.

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zu identifizieren sind. Und da es dank des virtuellen Charakters der Gabe außerdem nie zu einer Knappheit kommen kann, scheint es für den Nutzer nur konsequent, dass er im Rahmen einer »Geschenkökonomie«201 für den Videoclip nichts bezahlen muss – schließlich nimmt er, zumindest dem Anschein nach, niemandem etwas weg. So drängt sich die Frage auf, ob bei den Videoplattformen im Internet tatsächlich ein »ewiges Give and Take«202 herrscht, so hat Marcel Mauss das Prinzip von Gabe und Gegengabe charakterisiert. Derjenige, der einen Videoclip abruft, hätte theoretisch die Möglichkeit zur Gegengabe, schließlich gibt es einen Rückkanal. Er könnte nach einer Bankverbindung fragen und einen angemessenen Betrag überweisen. Die Absurdität dieses Vorschlags zeigt, wie wenig so ein Verhalten erwartet werden kann und wie wenig es erwartet wird. In den meisten Fällen wird sich die ›Videoclipgabe‹ eben nicht an einen bekannten und überschaubaren Personenkreis richten. Deshalb kann jemand, der einen Videoclip veröffentlicht, noch nicht einmal erwarten, dass dieser überhaupt angeschaut, also angenommen wird. Und tatsächlich gehen die meisten Clips in der Masse unter. Letztendlich lassen sich die Beweggründe einer Person, die einen Videoclip im Internet veröffentlicht, nicht genau überprüfen. Das Streben nach Authentizität und das Beteuern der Selbstlosigkeit deuten jedoch in die Richtung, dass eigentlich keine Gegengabe erwartet wurde beziehungsweise erwartet werden durfte. Fest steht auch, dass es schwer fällt, von einer virtuellen community überhaupt etwas erwarten zu wollen. Damit jedoch greift auch das von Mauss erarbeitete Modell von Gabe und Gegengabe nicht, da es keine Gegenseitigkeit gibt und schon gar keine »Pflicht des Nehmens«203 . Damit wären zwei Charakteristika der »reinen Gabe« Derridas erfüllt. Erstens muss sich der Gebende seiner Gabe nicht bewusst sein, Derrida hält dies für paradox und unmöglich: »Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabenempfänger noch dem Geber. Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist.«204 Streng genommen ist sich jedoch im Falle der Videoplattformen der Gebende seiner Gabe nicht bewusst, denn er stellt zwar eine »Gabe« bereit, gibt sie aber nicht. Wann der Zeitpunkt der Annahme kommt, kann der Gebende weder wissen noch bestimmen. Er kann noch nicht einmal davon ausgehen, dass jemand sie überhaupt annimmt. Wer sie schließlich nimmt, ist ihm ebenfalls unbekannt. Auf der anderen Seite schützen die Nicht-

201 Vgl. Vogel, Maximilian (1998): Geschenkökonomie im Internet. ‹http://www.wosamma .com/mag/› [15. Mai 2010]. 202 Mauss, Marcel (1990; 1923): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 81. 203 »Die Pflicht des Nehmens ist nicht weniger zwingend. Man hat nicht das recht, eine Gabe oder einen Potlasch abzulehnen.« Ebd. S. 98. 204 Derrida, Jacques (1993): Falschgeld. Zeit geben I. München: Fink, S. 25.

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Anwesenheit des Gebenden und die Anonymität den Nehmenden davor, in einen Kreislauf der Verschuldung einzutreten. Weder muss er Dank zeigen, ja er muss noch nicht einmal dankbar sein; und schon gar nicht muss er eine angemessene Gegengabe leisten. So wird die Gabe nicht durch eine Gegengabe entwertet, und der Beschenkte kann sich von jeder Verpflichtung frei fühlen. In diesen merkwürdigen Vorgängen könnte man Paul Ricoeurs Prozess der wechselseitigen Anerkennung verwirklicht sehen (interessanterweise sieht Ricoer in diesem Prozess die Alternative zum Kampf). Auf den Videoplattformen findet eine »befriedete Erfahrung wechselseitiger Anerkennung«205 statt. Es sind dies Prozesse, die »auf symbolischen Vermittlungen beruhen und sowohl der Rechtssphäre als auch derjenigen des Warentauschs entzogen sind«206. Zumindest in der Anfangszeit gab es eine Phase, in der es tatsächlich so schien, als seien die Videoplattformen der Rechtssphäre und Warenwelt entzogen. Zudem dauern die Rechtsstreitigkeiten und die Überlegungen zu Verwertungsmöglichkeiten bis heute an. Doch selbst wenn größere Videoplattformen wie YouTube in die Sphäre des Rechts und der Kommerzialisierung rückgeführt werden können, wird es immer irgendwo neue und unbeachtete Alternativen geben. In diesen Räumen wird es dann auch weiterhin die Form von Austausch und Anerkennung geben, die man mit Josias Ludwig Gosch als den Umlauf der Ideen bezeichnen könnte. Josias Ludwig Goschs »Umlauf der Ideen« Bemerkenswerterweise wurde der Begriff »Zirkulation« bereits Ende 1789 auch auf die Welt der Medien bezogen. In diesem Jahr veröffentlichte Josias Ludwig Gosch ein Buch mit dem schönen Titel Ideenumlauf. Darin beschreibt er den Nutzen einer freien Zirkulation der Ideen für die Gesellschaft insgesamt. Die Medienwissenschaftler Georg Stanitzek und Hartmut Winkler schreiben in ihrer Einleitung zu Goschs Ideenumlauf, dass hier die Zirkulation noch etwas mehr vom ursprünglichen Bild des Blutkreislaufes abstrahiert werden muss. Die Reziprozität gilt im Bereich der Ideen und Medien entweder nur sehr indirekt oder gar nicht: »Kommunizieren wir mit Homer oder Aristoteles, erhalten diese ja keineswegs im Wortsinn zurück, was sie uns überantwortet haben. Wohl aber existieren ihre Leistungen nur in ihrer Rezeption, der Anwendung, anreichernden Weiterverwendungen fort. Intellektuelle Einsätze müssen »abbaubar« […] sein. […] [E]s wird nicht unbedingt per-

205 Ricoeur, Paul (2006): Wege der Anerkennung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 274. 206 Ebd.

70 | U NDERSTANDING Y OU T UBE fektes, aber möglichst abbaubares, wenigstens in Teilen produktiv weiterverwendbares, auf weiterdenkende und -schreibende Ergänzung hin angelegtes Wissen geboten.«207

Im Falle der Zirkulation der Ideen geht es also nicht um eine bloße Weitergabe oder gar um ein Zurückfließen, sondern es geht um produktive Weiterverwendung. Für Gosch ist die Buchdruckerkunst eine der Stützen der Ideenzirkulation in der Gesellschaft. Tatsächlich aber unterliegen Bücher einer One-To-Many-Distribution, d.h. der allseits bekannten Verteilungs- und Rezeptionsform klassischer Massenmedien. Wenn aber nur von einer Quelle an viele Abnehmer verteilt wird, wo ist dann die Zirkulation? Eine Antwort auf diese Frage erhält man, wenn man das letzte Kapitel liest, das Gosch dem Umlauf der Ideen vermöge der geselschaftlichen Unterhaltungen widmet. Darin heißt es: »In einigen der kultivirtesten Städte Teutschlands, in denen ich das Glück hatte, […] viele Zeit in einem Kraise der aufgeklärtesten und edelsten Menschen zu leben, da war mir das Lesen der neuesten vorzüglich interessanten Schriften beinahe überflüssig. Verschiedenemale, da ich hier eine von solchen Schriften etwa fünf oder sechs Monat, nach dem sie herausgekommen, in die Hände nahm, traf ich, wie ich mich erinnere, fast auf jeder Seite auf Nachrichten, die mir schon sehr bekannt waren; ich dachte über die Quelle nach, aus denen ich sie wohl erhalten haben möchte, und ich fand sie nicht selten in geselschaftlichen Unterhaltungen.«208

Aus dieser persönlichen Erfahrung könnte man schlussfolgern, dass die Inhalte der Bücher erst nach einer medialen Transformation in Zirkulation geraten konnten. Aus einem Medium, dessen Produktion und Distribution nicht jedem unmittelbar zugänglich war, mussten die Inhalte in ein anderes Medium überführt werden, und zwar in eines, das jedem produktiv zugänglich ist: Die mündliche Sprache. Zwar können Bücher tausendfach verbreitet und verteilt werden, doch die Zirkulation der in ihnen enthaltenen Ideen findet in der gesellschaftlichen Unterhaltung statt. Erst in der Gesellschaft finden Austausch und Weitergabe einzelner Teile der Bücher statt. Goschs Kerngedanke ist nun, dass sich erst in der Zirkulation Ideen entwickeln, und zwar durch Akkumulation: »Nur vermöge der verbundenen Anstrengung mehrerer Geister […] werden die grossen Wahrheiten zu Stande gebracht, welche den Stolz der Menschheit ausmachen; durch viele Werkstätte menschlicher Geister müssen die Stoffe zu ihnen hindurchwandern, ehe sie die höchste Volkommenheit erreichen. […] [S]o müssen zu der Hervorbringung

207 Stanitzek, Georg; Winkler, Hartmut (2006): Eine Medientheorie der Aufklärung. Vorwort, in: Gosch, Josias Ludwig: Fragmente über den Ideenumlauf. Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 7-34, hier S. 14-15. 208 Gosch, Josias Ludwig (2006; 1789): Fragmente über den Ideenumlauf. Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 169-170.

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der Meisterstücke unserer idealischen Bildungen nothwendig viele menschliche Geister ihre Wirksamkeit verbinden. Einer bringt die Grundstoffe zusammen. Ein anderer wählt aus diesen das Brauchbarste aus. Wieder ein anderer verfertigt daraus Materialien, die dem vollendeten Werke schon näher kommen. Noch ein anderer setzt diese Materialien endlich zu einem vollständigen Werke zusammen.«209

Stanitzek und Winkler weisen darauf hin, dass Goschs Überlegungen vom Wirtschaftsleben ausgehen: Der kulturelle Prozess einer sukzessiven Akkumulation der Ideen wird analog zur Akkumulation des Kapitals modelliert.210 Wie im zweiten Teil des Zitats deutlich wird, handelt es sich in der Vorstellung Goschs jedoch nicht um eine bloße Anhäufung, vielmehr beschreibt er Prozesse der Auswahl, Anreicherung, Neukombination und Modifikation des im Umlauf befindlichen Ideenmaterials. So ist diese Art des Austausches etwas ganz anderes als der Gabentausch mit seinen ungeschriebenen Regeln.211 Denn bei der Zirkulation geht es nicht unbedingt um Reziprozität, und schon gar nicht um die bloße Weitergabe, sondern die Zirkulation wirkt sich auch auf das zirkulierende Material selbst aus. Dieser Zusammenhang soll in der vorliegenden Untersuchung ausführlich untersucht werden.

209 Ebd. S. 83f. 210 Stanitzek; Winkler (2006): Eine Medientheorie der Aufklärung, S. 19. 211 Vgl.: Ecker, Gisela (2010): Ungeschriebene Regeln. Automatismen und Tabu, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 257-269.

2. Die Zirkulation der Videobilder

Zirkulation als kultureller Prozess Wie eingangs skizziert wurde, steht im Zentrum der vorliegenden Untersuchung die Zirkulation der Videobilder. Goschs Modellierung des Ideenumlaufs aus dem Jahr 1789 zeigt, dass sich die Zirkulation nicht in einer bloßen Weitergabe, in einem großen Hin- und Her erschöpft, sondern dass es zu Prozessen der Anreicherung, Neukombination, Auswahl und Modifikation des im Umlauf befindlichen Materials kommt. Die Zirkulation rückt damit weg von einer verkehrstechnisch geprägten Vorstellung mehr oder weniger reziproker Austauschprozesse und hin zu einem Verständnis der Zirkulation als kultureller Prozess. Mit einem derartigen Verständnis sind eine Vielzahl hochinteressanter Problemstellungen verknüpft. Eine große Frage betrifft das Problem der Beharrungskraft: Welche Dinge verändern sich, und welche bleiben gleich, oder verändern sie sich zunächst und bleiben dann in ihrer Entwicklung stehen? Wird etwas aus einem bestimmten Grund unverändert weiter gegeben, oder besitzen einige Dinge eine bestimmte Trägheit, die sie vor Veränderung schützt? Schützt eine kumulative Anhäufung vor Veränderung, oder fordert eine große Ansammlung an Gleichem Varianz und Modifikation gerade heraus? Auch könnte man sich fragen, welche Dinge erst gar nicht in die Zirkulation hinein geraten. Aus welchem Grund bleibt manches liegen, und anderes wird begeistert weiter getragen? Des weiteren stellt sich die Frage, ob es denn der kulturelle Prozess der Zirkulation ist, der das Zirkulierende beeinflusst, oder liegt es in der Hand der Beteiligten, was mit dem in die Zirkulation geratenem passiert? Das bedeutet: Inwiefern neigt der kulturelle Prozess der Zirkulation zu einer Verselbstständigung? Alleine diese Fragen sind bereits so komplex, dass sie keinesfalls allesamt in einer einzelnen Untersuchung beantwortet werden können. Das Problematische an derartigen Fragestellungen ist, dass die Zirkulation per Definition schon ein äußerst volatiles und ephemeres Phänomen darstellt. Wie soll man, zum Beispiel im Falle von Goschs Umlauf der Ideen mittels gesellschaftlicher Unterhaltung, das stets in Fluktuation begriffene Zirkulierende fest halten und seine Entwicklung nachvollziehen können? Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Videoclips im Internet als Glücksfall, denn 1. bleibt (fast) alles im Umlauf begriffene gespeichert, und 2. handelt es sich um ein bottom-up Phänomen, d.h. obwohl es sich nicht um ein natürliches Medium wie Sprache handelt und es gewisse technische (und rechtliche)

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Einschränkungen gibt, beteiligen sich doch genügend Menschen, um von einer Zirkulation der Videobilder sprechen zu können. Und tatsächlich zeigt sich, dass sich die Zirkulation der Videobilder in hoch komplexen und äußerst facettenreichen Prozessen produktiver Bearbeitung von Videoclips im Internet niederschlägt. Dies bedeutet: Die Auseinandersetzung mit dem Videomaterial erschöpft sich nicht in traditionellen Mitteln der Kommunikation, etwa Kommentaren und Videoantworten, sondern sie erfasst die Videoclips selbst. Materialauswahl Aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit der Prozesse, die nicht nur das Videomaterial selbst, sondern auch dessen Wahrnehmung verändern, soll versucht werden, diese an beispielhaft ausgewählten Videoclips zu veranschaulichen. Dieser Auswahl lag die intensive Beobachtung der Videoplattformen über den Zeitraum von drei Jahren zugrunde. Die bloße Fülle an Möglichkeiten der Bearbeitung ist dabei an sich schon beeindruckend genug. Doch das vorliegende Buch möchte diese Fülle nicht nur exemplarisch illustrieren, es will insbesondere zeigen, dass sich bereits ausgehend von nur einem einzigen Beispiel ein regelrechtes Feuerwerk an Variationen entwickeln kann. Anstatt also aus dem reichhaltigen Fundus der Videoplattformen für jeden zu erörternden Prozess ein neues, jeweils passendes Beispiel vorzustellen, soll hier an nur einem Videoclip die ganze Bandbreite der Möglichkeiten und Prozesse aufgezeigt, beschrieben und veranschaulicht werden. Dabei ist es gelungen, einen Videoclip zu finden, der nicht nur besonders facettenreich modifiziert wurde und wird, sondern der zugleich den besonderen für die Analyse gestellten Anforderungen genügt. Man kann davon ausgehen, dass ein populärer Videoclip öfter betrachtet, beachtet und dann vielleicht auch bearbeitet wird. Zwar lässt sich hieraus keine Regel ableiten, aber je mehr Menschen einen Videoclip sehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass er zumindest bei einigen Betrachtern besonders intensiv auf Gefühl und Phantasie wirkt und vielleicht ein Bedürfnis nach kreativer Auseinandersetzung weckt. Ein kurzer Videoclip ist überschaubar und vom Datenvolumen auch für Amateure mit einfacher technischer Ausrüstung handhabbar. Ideal wäre zudem eine privat erstellte Aufnahme ohne Material aus Film und Fernsehen, damit für potentiell an einer Bearbeitung interessierte Betrachter das Drohpotential großer Medienunternehmen entfällt: Jemand, der das Material weiterverwenden möchte, dürfte keine Angst vor einer Klage wegen Urheberrechtsverletzung haben müssen. Das Copyright als wesentliches Hemmnis privater Initiative und Kreativität muss also zumindest dem Anschein nach weg fallen, damit die Wahrscheinlichkeit, dass der Videoclip durch Weiterverwendung in Zirkulation gerät, steigt.

D IE Z IRKULATION DER V IDEOBILDER

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Abb. 4: Chris Crocker, LEAVE BRITNEY ALONE! (2007)1 Für eine bessere Nachvollziehbarkeit einzelner Bearbeitungsschritte war für die vorliegende Untersuchung außerdem darauf zu achten, dass es sich um eine möglichst statische Aufnahme ohne weitere Eingriffe wie Schnitte oder sonstige Bearbeitungen durch den Urheber handelt. In einem solchen Fall treten die Modifikationen der nachfolgenden Produzenten umso deutlicher zutage, und sie sind sofort und eindeutig als nachträglich hinzugefügt zu erkennen. Die Wahl fiel dabei auf den Videoclip LEAVE BRITNEY ALONE! von Chris Crocker (Abb. 4), der alle hier aufgeführten Kriterien (hohe Popularität, relative Kürze, kein Drohpotential wegen Verletzungen des Copyrights, unbearbeitete und statische Amateuraufnahme) erfüllt. Er soll im Folgenden in einzelnen Schritten vorgestellt und analysiert werden.

1

Screenshot aus LEAVE BRITNEY ALONE! von Chris Crocker ‹http://www.youtube.com/w atch?v=kHmvkRoEowc› [5. Mai 2011].

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D AS O RIGINALVIDEO : LEAVE BRITNEY ALONE!

VON

C HRIS C ROCKER

Leave Britney Alone! (Abb. 4) gehört zu den bekanntesten Videoclips im Internet; er hat alleine auf YouTube eine Zuschauerzahl von fast 45 Millionen und mehr als 664.000 (meist abschätzige2) Kommentare erreicht. Sein Produzent, Chris Crocker, hatte sich schon seit Juni 2006 auf MySpace und seit Februar 2007 auf YouTube in mehreren Videoclips zu verschiedenen Themen geäußert. Mit diesen bereits vor LEAVE BRITNEY ALONE! veröffentlichten Videoclips gehörte Crockers YouTubeKanal bereits zu den beliebtesten.3 Außerhalb des Internets war der damals 19 Jahre alte Amerikaner jedoch weitgehend unbekannt. Dies änderte sich schlagartig mit der Veröffentlichung von LEAVE BRITNEY ALONE! am 10. September 2007. Der nur 2 Minuten und 12 Sekunden lange Videoclip machte Crocker nicht nur endgültig zur Internet-Celebrity, er sorgte außerdem dafür, dass sich nach kürzester Zeit auch die traditionellen Massenmedien mit dem Phänomen Chris Crocker beschäftigten. Sein Videoclip wurde weltweit in Talkshows, Nachrichten und satirischen Berichten thematisiert. Aufmerksamkeit erreichte der Videoclip auch dadurch, dass Chris Crocker sich mit einem damals aktuellen Thema, nämlich dem Umgang von Medien und Fans mit der Sängerin Britney Spears auseinandersetzte. Sein vor einer Art weißem Vorhang gehaltener, äußerst emotionaler, geradezu larmoyanter Monolog kumuliert in dem Satz »All you people care about is readers and making money off of her. She’s a human! Leave Britney alone!«. Die bereits rudimentär entwickelte Anhängerschaft (»Followers«) Crockers, seine Larmoyanz sowie die damalige Aktualität seines Videoclips mögen – neben den technischen Möglichkeiten der Erstellung und Distribution von Videoclips als Grundvoraussetzungen – zu dessen spektakulärer Verbreitung beigetragen haben. Ein hinreichendes ›Rezept für Erfolg‹ stellen diese Aspekte jedoch nicht dar. Vermutlich wird sich die Frage, warum oder wie dieser Videoclip so populär geworden ist, nie abschließend klären lassen. Fest steht jedoch, dass mit der Veröffentlichung von Crockers LEAVE BRITNEY ALONE! auf den Videoplattformen des Internets eine noch immer anhaltende Auseinandersetzung mit diesem Videoclip einsetzte. Diese Auseinandersetzung, und das ist das entscheidende Moment, erschöpft sich nicht in unzähligen Kommentaren und Videoantworten, d.h. traditionellen Mitteln der Kommunikation, sondern sie erfasste auch Crockers Videoclip selbst.

2 3

Zusätzlich haben 203.899 Nutzer angegeben, dass ihnen der Videoclip nicht gefällt, im Gegensatz zu 133.915 Nutzern, denen er gefällt. ‹http://en.wikipedia.org/wiki/Chris_Crocker_%28Internet_celebrity%29› [15. Mai 2011].

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Abb. 5: Chris Crocker auf verschiedenen Videoplattformen (2011)4

4

Suchergebnisse auf zwei Videoplattformen. Oben: Screenshot der Webseite Megavideo ‹http://www.megavideo.com/?c=videos&browse=1&cat=0&time=4&limit=2&s=leave+b

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Was also ist mit Crockers Videoclip passiert, nachdem er in die Zirkulation geraten war? Zunächst verbreitete er sich ohne Crockers Zutun oder Autorisierung nicht nur auf die traditionellen Massenmedien, sondern auch und vor allem über unzählige weitere Internetplattformen, d.h. er wurde von YouTube oder MySpace, Crockers ursprünglichen Veröffentlichungsorten, heruntergeladen und auf anderen Videoplattformen hochgeladen. Doch diese nicht autorisierte, dem Ausbruch einer Epidemie nicht unähnliche Verbreitung des Videoclips repräsentiert nur einen Teil der Zirkulation des Videomaterials. Der Screenshot der Videoplattform MegaVideo.com (Abb. 5, oben) zeigt das Ergebnis einer plattforminternen Suche nach den Stichworten »leave britney alone« (oben rechts von der Mitte in der Maske eingegeben). Zu beachten ist, dass dieses Beispiel natürlich nur einen kleinen Ausschnitt der von MegaVideo.com gelieferten 143 Ergebnisse zeigt, und erst recht im Hinblick auf die Gesamtheit der Videoplattformen im Internet. Was jedoch bereits dieser kleine Ausschnitt zeigt, sind drei generelle Tendenzen: • Unter den Suchergebnissen werden mehrheitlich Videoclips aufgeführt, die zwar

unterschiedliche Namen haben, jedoch die gleiche Länge und dieselben bzw. recht ähnliche (automatisch erstellte) Vorschaubilder aufweisen (Abb. 5, unten). Das bedeutet, dass dieselbe Videodatei alleine auf dieser einen Videoplattform schon mehrfach in Kopien vorliegt, es handelt sich also um so etwas wie Klone. • Bei einigen Videoclips wurde Bildmaterial von Crockers Originalvideo modifi-

ziert. Dies gilt zum Beispiel für den Videoclip ganz oben rechts (Abb. 5, oben): Hier ist bereits im Vorschaubild zu erkennen, dass Crockers Gesicht verzerrt wurde. Der Videoclip ganz unten links hingegen weist am unteren Bildrand eine an eine Laufschrift erinnernde Einblendung auf. Wieder andere Ergebnisse der MegaVideo-Suche weisen zumindest auf der visuellen Ebene keine Ähnlichkeit mit Crockers Videoclip auf; hier wäre etwa zu vermuten, dass die Tonspur beibehalten und mit neuen Bildern kombiniert wurde. Insgesamt könnte man alle diese Beispiele als klassische Recyclingvideos bezeichnen, d.h. als Videoclips bei denen bereits bestehendes Material modifiziert wurde. • Einige der Ergebnisse weisen deutliche visuelle (und vermutlich darüber hinaus

auch inhaltlich/sprachliche) Ähnlichkeiten zum ursprünglichen Videoclip auf, jedoch ohne direkt Bildmaterial von diesem zu verwenden. In diese Kategorie gehört zum Beispiel der Videoclip ganz rechts aus der zweiten Reihe von oben

ritney+alone›, unten: Ausschnitt eines Screenshots der Webseite MyVideo, ‹http://www.m yvideo.de/Videos_A-Z?searchWord=%22leave+britney+alone%22› [5. Mai 2011].

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(Abb. 5, oben). Diese Videoclips könnte man mit dem Begriff der Parodie, oder neutraler: der Nachahmung gut beschreiben.

Alle drei Kategorien – Klone, Recyclingvideos und Nachahmungen – beziehen sich auf den ursprünglichen Videoclip, doch vom (virtuellen) Material her repräsentieren sie drei Schritte der Loslösung von diesem: Klone bestehen vollständig aus dem Material des ursprünglichen Videoclips, Recyclingvideos verwenden und modifizieren Teile des Original-Materials, und Nachahmungen bzw. Parodien verwenden nur noch Teile der Inszenierung, des Inhalts, oder der Ideen des ursprünglichen Videoclips. Da alle sich aber letztendlich auf ein Original beziehen, interpretiert die vorliegende Arbeit Klone und Nachahmungen als Extremfälle, bzw. Grenzfälle des Recyclingvideos. Diese drei Formen der Weiterverwendung, d.h. Klone, Recyclingvideos und Nachahmungen, sollen im Folgenden in ihren speziellen Eigenschaften untersucht und definiert werden.

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C LONE W ARS : D AS P ROJEKT DER

PERFEKTEN

W IEDERHOLUNG

Sucht man auf einer Videoplattform im Internet nach einem bestimmten Videoclip, so bekommt man in den meisten Fällen eine Liste erstaunlich ähnlicher Ergebnisse präsentiert (Abb. 5, unten). Bereits dieser Ausschnitt aus der Trefferliste einer Suchanfrage bei dem Videoportal MyVideo.de verdeutlicht, dass die nahezu kostenund mühelose Speicherung und Vervielfältigung digitalisierter Videodaten sowie die ebenso kosten- und mühelose Möglichkeit ihrer multiplen Veröffentlichung dazu geführt hat, dass die Videoplattformen im Internet überschwemmt werden von einer Fülle an Duplikaten bzw. Kopien. Ihr Titel ist zusammengesetzt aus den immer gleichen Bausteinen, mal in einem, mal in vier Ausrufezeichen endend. Die Länge der Videoclips ist identisch, und auch die automatisch erstellten Vorschaubilder scheinen sich aus einem begrenzten Reservoir zu speisen. Die Namen der veröffentlichenden Nutzer, die Bewertungen des Videoclips, die Anzahl an Kommentaren sowie die Zuschauerzahlen unterscheiden sich hingegen erheblich. Einem potentiellen Betrachter dürfte die Wahl angesichts dieser Fülle nicht leicht fallen. Noch schwerer allerdings gestaltet sich in der Masse der Kopien die Suche nach dem Original. Die meisten Nutzer werden sich jedoch gar nicht erst auf diese Suche begeben, denn hat diese sich nicht schon erübrigt, wenn die Kopie mit seinem Original (und Millionen von anderen Kopien) identisch ist? Allerdings ist zunächst einmal fraglich, ob es sich tatsächlich um perfekt identische Wiederholungen handelt. Doch ist eine Unterscheidung zwischen augenscheinlich perfekten Kopien und solchen mit minimalen Veränderungen, etwa einer kleinen Einblendung (Abb. 5, unten, Mitte der oberen Reihe) überhaupt erforderlich? Kann man denn überhaupt von einer »Kopie« sprechen, wenn nicht nur das Äußere nachgeahmt wird, sondern gewissermaßen der innere Aufbau, repräsentiert in den digital codierten Bilddaten? Zudem stellt sich die Frage nach dem Sinn und Zweck dieser Schwemme an in Grunde genommen überflüssigen Wiederholungen, ob perfekt oder nicht. Schließlich ist es ja gerade ein Merkmal des Internets, dass etwas mehrfach, gleichzeitig und ständig abrufbar ist. Bei ständiger Verfügbarkeit des Originals wird die Kopie jedoch zum Auslaufmodell. Nicht ohne Grund verweist Hartmut Winkler in seiner Erläuterung des Begriffs »materielle Beharrung« auf die Mönche des Mittelalters, die nicht nur der Verbreitung, sondern auch der Datensicherung wegen Handschrif5 ten vervielfältigten. An späterer Stelle verweist Winkler erneut auf »gelangweilte

5

Winkler (2008): Basiswissen Medien, S. 198.

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Mönche«6, die beim Reproduzieren des Bibeltextes »Kopierverlust« erzeugen. Es wäre der Frage nachzugehen, ob es auch auf den Videoplattformen des Internets zu Kopierverlust kommt. Zwar werden die Daten des Internets gemäß dessen interner Architektur immer schon mehrfach dupliziert an unterschiedlichen Orten hinterlegt, jedoch ist dies für den Nutzer nicht sichtbar und fordert keine Entsprechung in der äußeren, d.h. für den Nutzer zugänglichen Struktur. Um die hier skizzierten Fragestellungen aus einer neuen Perspektive erörtern und beantworten zu können, ist es erforderlich, drei Hauptaspekte der sogenannten perfekten Wiederholung zu problematisieren: 1. Das Phänomen der unzähligen Duplikate ist nicht nur komplexer als es den Anschein hat, es ist darüber hinaus noch paradox, denn im Internet braucht es eigentlich keine Kopien. Für ein besseres Erschließen der Problematik und den damit zusammenhängenden Entwicklungen in Bezug auf die Wahrnehmung scheint ein Begriff geeignet, der von W.J.T. Mitchell aktuell in die Debatte um den pictorial turn, die neuen Medien und insbesondere die elektronischen Bilder eingebracht wurde, es ist der Begriff des »Klons«. Mitchell identifiziert einen »Clone War« (eine Begrifflichkeit, die natürlich auf George Lucas’ Star Wars Filme zurückzuführen ist)7, der hier im Hinblick auf die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Videoplattformen im Internet hinterfragt werden soll. 2. Besonders vor dem Hintergrund neuer technischer Entwicklungen scheint die Idee der perfekten Kopie eine ungebrochene Verführungskraft auszustrahlen. So wurde bereits Anfang der 1980er Jahre der ursprünglich rein wissenschaftliche Begriff »Klon« im allgemeinen Sprachgebrauch (fälschlicherweise) zum Synonym für eine innerlich wie äußerlich identische, geradezu sklavische Kopie.8 Auch mit der Digitalisierung als Weiterentwicklung der »Beschwichtigungsformel«9 Hi-Fi – der nur »high fidelity« – schien die Realisation der perfekten Wiederholung in greifbare Nähe gerückt. Auf den Videoplattformen im Internet treffen Digitalisierung und Klone zusammen. Umso wichtiger ist es daher, darauf zu verweisen, dass die Videoklone entgegen der Intuition eben keine perfekten Kopien sind – was sie allerdings aufgrund der Begrifflichkeit auch gar nicht sein müssen. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass sich hinter dem Rücken der Beteiligten Prozesse entwickeln, die mit dem Begriff des »Automatismus« gut zu fassen sind.

6 7 8 9

Ebd. S. 228. Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 1. Vgl.: Howe, Nicholas (1983): Further Thoughts on Clone, in: American Speech, Vol. 58, No. 1 (Spring, 1983), S. 61-68, hier S. 61. Kittler, Friedrich (1995): Aufschreibesysteme 1800-1900. München: Fink, S. 59.

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3. Weiterhin gilt zu untersuchen, ob der Automatismus ausschließlich auf technische Unvollkommenheiten zurückzuführen ist. Bei einer hypothetischen technisch perfekten, d.h. identischen Kopie, die weder auf der Ebene der Wahrnehmung, noch auf der Ebene der Erkenntnis als solche vom Original zu unterscheiden ist, gilt es zu untersuchen, ob auf der Ebene der ästhetischen Wahrnehmung die Empfindung verändert ist, d.h. ob Veränderung und Wiederholung untrennbar miteinander verbunden sind. Im Folgenden soll jedoch zunächst die Verwendung biologischer Metaphern generell problematisiert werden.

Über den Umgang mit biologischen Metaphern Wie bereits erwähnt, werden über verschiedene Zugänge (Serres, Baudrillard, Derrida) Begriffe, die – zumindest im populären Verständnis – eher dem Bereich der Biologie zugeordnet werden (Parasiten, Viren), in kommunikationstheoretische Zusammenhänge gestellt. Zum Teil schleichen sich bestimmte Formulierungen auch ohne explizite Erörterung in den Textfluss ein. An einer Stelle ihrer Kleinen Metaphysik der Medialität etwa spricht Sybille Krämer von der »Mutation und Metamorphose des Übertragenen«10. Wie dieses Beispiel zeigt, haben sich biologische bzw. biologistische Formulierungen nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch festgesetzt. Im vorherrschenden Diskurs wird die durchaus problematische Übertragung biologischer bzw. organischer Metaphern auf kulturelle Phänomene11 äußerst kritisch gesehen und beinahe reflexartig

10 Krämer, Sybille (2008): Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 217. 11 Als Beispiel hierfür wäre die vom Evoultionstheoretiker Richard Dawkins als Modell für kulturelle Evolution entwickelte Mem-Theorie (Memetik) zu nennen. Diese versucht, eine Art logische Fortsetzung von Dawkins Theorie der egoistischen Gene auf dem Gebiet menschlicher Kulturentwicklung zu sein. Dawkins betrachtet Lebewesen als Überlebensmaschinen ihrer Gene: Die Fortpflanzung erfolgt in erster Linie im Dienst der »egoistischen Gene«, nicht im Interesse der Individuen selbst. In der Übertragung dieses Modells auf die menschliche Kultur konstruiert Dawkins das »Mem« als Analogon zum Gen und als Grundelement menschlicher Kultur. Beispiele für Meme wären Theorien, Techniken, Moden, Wörter, Wendungen, Melodien etc. – und auch Videoclips. Meme verbreiten sich nicht durch Vererbung, sondern durch Nachahmung – dabei konkurrieren sie mit anderen Memen um die Ressource Aufmerksamkeit. Eine Weiterentwicklung erfolgt durch Abwandlung und Neukombination. Dawkins Theorie zufolge sind Meme die eigentlichen Akteure; sie streben danach, sich zu verbreiten. Die Menschen als vermeintliche Autoren hingegen sind nur ihr Vehikel: »Wenn jemand ein fruchtbares Mem in meinen Geist einpflanzt, so setzt er mir im wahrsten Sinne des Wortes einen Parasiten ins Gehirn und

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mit den sogenannten sozialdarwinistischen Thesen assoziiert. Diese Gefahr besteht hier nicht. Vielmehr möchte sich die vorliegende Untersuchung diesen aus dem Bereich der Theorie angebotenen Zugängen nicht verschließen, sondern diese bewusst thematisieren und auf ihre Anwendbarkeit überprüfen – selbst wenn bestimmte biologisch geprägte Zugänge, etwa das Modell des Parasitären, im Anschluss zugunsten anderer Begriffe wieder zurück genommen werden müssen. Dabei soll eine vorschnelle Übertragung von Begriffen auf die Videoclips im Internet durch eine vorangehende kritische, begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung mit den verwendeten Metaphern verhindert werden. Es wird auch zu zeigen sein, dass einige Begriff keineswegs ausschließlich auf die Biologie zurückgehen. Darüber hinaus gilt es aber zu vermeiden, dass eine bloße Popularisierung naturwissenschaftlicher Modelle erfolgt. Keinesfalls sollen die Differenzen von Kultur und Natur negiert, oder die Naturwissenschaften zu einer Art Leitwissenschaft stilisiert werden.12 Ein kritisches Nebeneinander der Naturwissenschaften – die selbst auch Modelle und Begriffe aus anderen Disziplinen übernommen haben13 – und der geisteswissenschaftlichen Diskurse eröffnet jedoch eine interdisziplinäre Perspektive, die in dem hier vorliegenden Fall eine neue Sichtweise auf das Phänomen der Videoclips im Internet ermöglichen soll. So ging zum Beispiel das für die biowissenschaftliche

macht es auf genau die gleiche Weise zu einem Vehikel für die Verbreitung des Mems, wie ein Virus dies mit dem genetischen Mechanismus einer Wirtszelle tut […].« Dawkins, Richard (2007; 1976): Das egoistische Gen. München: Spektrum Akademischer Verlag, S. 321. Problematisch an der Memetik ist einerseits das unterstellte Reproduktionsinteresse der Meme, andererseits impliziert der Gedanke einer lamarckistischen Rückwirkung erworbener Fähigkeiten auf das Mem eine gerichtete Höherentwicklung, was wiederum dem grundsätzlichen Zufallscharakter der die evolvierenden Systeme verändernden Prozesse widerspricht. Vgl.: Heschl, Adolf (1998): Das intelligente Genom: Über die Entstehung des menschlichen Geistes durch Mutation und Selektion. Berlin: Springer Verlag, S. 159. Problematisch scheint zudem Dawkins rein physikalischer Informationsbegriff: Das Mem als statischer Träger von Informationen jeglicher Art benutzt den Organismus als Vehikel. Jedoch sind es gerade diese Organismen, die den Dingen aus einem diskursiven Kontext heraus Informationen zuschreiben. Wie es Hartmut Winkler in einem anderen Zusammenhang formuliert hat: »Signifikate leiten sich nicht von Referenten, sondern aus Diskurs-Ereignissen ab; Diskurse (Signifikantenspiele) generieren Signifikate – als Ordnungsschemata, als Modelle, als Denk- Werkzeuge, als Schemata in jenem Gedächtnis, das überwiegend eben Schemata und nicht Repräsentationen (konkreter Entitäten, einzelner Ereignisse) enthält.« Winkler, Hartmut (1993): Diskurs und System 3. Über Lorenz, Galton und Freuds Begriff der Verdichtung. ‹http://homepages.unipaderborn.de/winkler/disksys3.html› [20. März 2011]. 12 Zur Problematik der diversen Naturbegriffe und Bewegungen der Denaturalisierung, Entmaterialisierung und Renaturalisierung im erkenntniskritischen Diskurs und in der Wissenschaftsforschung vgl.: Weber, Jutta (2003): Umkämpfte Bedeutungen: Natur– konzepte im Zeitalter der Technoscience. Frankfurt a. M.: Campus Verlag. 13 Vgl.: Toepfer, Georg (2011): Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. 1. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler, S. xvi.

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Theoriebildung entscheidende14 Verständnis des genetischen Codes als »Schrift« von den Naturwissenschaften aus. Hans Blumenberg beschreibt im letzten Kapitel seines Buches über die Lesbarkeit der Welt (»Der Genetische Code und seine Leser«), wie der Physiker Erwin Schrödinger erstmals im Februar 1943 den Gedanken aussprach, die Erbsubstanz der lebenden Zelle lasse sich als verschlüsselte Schrift begreifen.15 Die DNA-Schrift-Metapher schien Blumenberg nicht nur »theoretisch tragfähig«, er sah darin sogar eine »präzise Entsprechung«.16 Die vorliegende Untersuchung stellt nun die spannende Frage, ob sich angesichts dieser »präzisen Entsprechung« nicht umgekehrt molekulargenetisch relevante Begriffe wie der der »Mutation« auf kulturelle Informationsspeicher übertragen lassen. Die Gefahr derartiger Übertragungen biologischer Begriffe liegt darin, dass diese Begriffe dazu verführen, die beschriebenen Verhältnisse zu bloßen Metaphern werden zu lassen. Damit aber erhalten die untersuchten Phänomene den Nimbus eines autopoietisch geschlossenen Systems, das keine weitere Betrachtung erfordert. W.J.T. Mitchell diskutiert in seinem Buch What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images ausführlich die Frage, inwiefern Bilder (und damit sind auch Videobilder gemeint) als ›lebendig‹ gelten können. Er kommt zu folgendem Schluss: »So there is no use dismissing the notion of the living image as a mere metaphor or an archaism. It is better seen as an incorrigible, unavoidable metaphor that deserves analysis.«17 Diesem Rat folgt auch das vorliegende Buch, um eine weitere, durchaus wichtige Facette des Phänomens modifizierter Videobilder der theoretischen Auseinandersetzung zu eröffnen. Denn beispielsweise gerade der Aspekt des ›EinfachSo-Ablaufens‹ evolutionärer Prozesse könnte einen vielversprechenden neuen Gedanken in die Diskussion dieses medialen Phänomens einbringen.

»Biokybernetik«: Von der mechanischen Reproduktion zum Klon Das Auftreten unzähliger Duplikate eines Originals auf den Videoplattformen des Internets lässt an den von Walter Benjamin in die ästhetische und medientheoretische Debatte eingebrachten Begriff der »technischen Reproduktion« denken. Ben-

14 Vgl.: Brandt, Christina (2005): Genetic Code, Text, and Scripture: Metaphors and Narration in German Molecular Biology, in: Science in Context 18(4) 2005, S. 629-648. 15 Schrödinger, Erwin (1944): What is Life? The Physical Aspect of the Living Cell. Based on Lectures delivered under the auspices of the Institute at Trinity College, Dublin, in February 1943. Cambridge: Cambridge University Press. 16 Blumenberg, Hans (1993; 1986): Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 381. 17 Mitchell, W.J.T. (2005): What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images. Chicago: The University of Chicago Press, S. 54.

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jamin geht dabei gleich zu Anfang seines Kunstwerk-Aufsatzes auf die grundsätzliche Reproduzierbarkeit menschlicher Produkte ein: »Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden«18, doch sei die sich mit wachsender Intensität in der Geschichte durchsetzende technische Reproduktion im Vergleich zur manuellen Reproduktion (Nachbildung19) etwas seinem Wesen nach Neues.20 In Bezug auf die Videoplattformen des Internets stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob es sich bei der Herstellung digitaler Kopien um eine bloße Steigerungsform mechanischer Reproduktion handelt, oder ob sich eine ganz eigene Art der Reproduktion mit spezifischen, neuartigen Charakteristika herausgebildet hat. Benjamin spricht von der »Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe«21, und der »Zertrümmerung der Aura«22, die mit dem Siegeszug der technischen Reproduzierbarkeit einhergehen, was insbesondere auf die neuartige »Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit«23 der technischen Reproduktion zurückzuführen sei. Doch nicht die von Benjamin dargelegten destruktiven Seiten der technischen Reproduktion, wie etwa der Verlust der Einmaligkeit des Kunstwerkes, sind hier von Interesse, sondern das von ihm beobachtete grundsätzliche menschliche Bedürfnis, sich Dinge näher heran zu holen, sich diese mit Hilfe der Vervielfältigung fassbar zu machen und einzuverleiben: »Die Dinge sich räumlich und menschlich ›näherzubringen‹ ist ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist.«24 Womit, laut Benjamin, der »Privilegiencharakter«25 der betreffenden Techniken verloren geht, und »die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff [ist], ihren grundsätzlichen Charakter zu verlie-

18 Benjamin (1991): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 474. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. S. 478. 22 Ebd. S. 479. 23 Ebd. 24 Ebd. Tatsächlich gehen die Wurzeln dieses grundsätzlichen menschlichen Bedürfnisses weit zurück. Das hier von Benjamin beschriebene Phänomen wird bereits bei Neandertalern beobachtet, die neuesten Erkenntnissen zufolge kulturelle Praktiken des modernen Menschen nachahmten (»cultural diffusion«). Vgl.: Hublin, Jean-Jacques; Talamo, Sahra; Julien, Michèle; David, Francine; Connet, Nelly; Bodu, Pierre; Vandermeersch, Bernard; Richards, Michael P. (2012): Radiocarbon dates from the Grotte du Renne and SaintCésaire support a Neandertal origin for the Châtelperronian, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. Published online before print October 29, 2012, doi: 10.1073/pnas.1212924109. 25 Benjamin (1991): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 493, Fußnote 21.

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ren.«26 In Bezug auf die Wahrnehmung stellt Benjamin fest: »Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein […]. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich.«27 Die Versenkung in der zerstreuten Masse bewirkt – so Benjamin – eine Befreiung28, Loslösung und Aktualisierung des Reproduzierten: »Die Reproduktionstechnik […] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.«29

Nimmt man beides zusammen, die in ihrer Aufmerksamkeit zerstreute Masse und die sich innerhalb dieser Masse vollziehende Vervielfältigung und Aktualisierung, kristallisiert sich eine Vorstellung von Zirkulation heraus, die der Hypothese der vorliegenden Arbeit äußerst nahe kommt; nämlich die Vorstellung von der Zirkulation als zerstörerischem Sog, der sich des Reproduzierten bemächtigt, es in sich hineinzieht. Die zerstreute Aufmerksamkeit der Masse besitzt nämlich selbst eine zerstreuende Wirkung: Das Reproduzierte wird nur zerstückelt wahrgenommen und kann daher zwangsläufig nur bruchstückhaft weitergegeben werden. Wie Hartmut Winkler feststellt, handelt es sich bei der technischen Reproduktion letztlich um eine »Variante der Wiederholung«.30 Man könnte diese Aussage jedoch etwas pointierter formuliert erweitern: Bei der technischen Reproduktion handelt es sich um nur eine Variante der Wiederholung. Mit dieser Aussage aber geht die Frage einher, ob es sich dabei um jene Variante der Wiederholung handelt, die uns auf den Videoplattformen des Internets begegnet. Unter dem Stichwort Technische Reproduktion schreibt Winkler: »Technische Reproduktion zielt auf die Herstellung möglichst vieler möglichst identischer Exemplare; und damit auf die Herstellung von Redundanz. Ein großes und weit verstreutes Publikum wird auf dem Terrain eines einzelnen symbolischen Produktes versammelt. Damit arbeitet technische Reproduktion weniger an der Überwindung der Zeit als an der Überwindung des Raumes, der flächigen Verbreitung/Erreichbarkeit.

26 Ebd. S. 493. Der Aspekt der Aneignung und Partizipation sowie das neue Verhältnis von Amateur und Profi wurden im einleitenden Kapitel bereits thematisiert. 27 Ebd. S. 504. 28 Darunter könnte man auch die von Benjamin beschriebene Emanzipation des Kunstwerkes von seiner Kopplung an das Ritual fassen: Die »technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual.« Ebd. S. 481. 29 Ebd. S. 477. 30 Winkler (2008): Basiswissen Medien, S. 226.

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(Sie ist damit ein sehr besonderer Typus von Wiederholung.) Daneben erlaubt technische Reproduktion auch die Wiederaufnahme, die Weiterverarbeitung und damit eine Wiederholung längs der Achse der Zeit. Technische Reproduktion übernimmt das industrielle Prinzip der Serienproduktion; sie nutzt den Einsatz avancierter Techniken zur Herstellung verbilligter Exemplare (Rationalisierung, ökonomisches Moment).«31

Auch in Bezug auf die Videoclips im Internet spielen ökonomische Aspekte eine Rolle, entscheidend sind dort jedoch nicht die von Winkler angesprochenen Economies of scale, sondern gerade das Unterlaufen ökonomischer Zwänge durch das nahezu kosten- und mühelose Kopieren und Abrufen digitaler Daten. Das gleiche gilt für die von Winkler mehrfach thematisierte »one-to-many-Logik«32 technischer Reproduktion. Zwar lässt sich auch auf den Videoplattformen des Internets ein Exemplar an Millionen verteilen, doch gerade das Phänomen der kopierten Videoclips zeigt, dass dieses Prinzip im Internet nicht nur verwirklicht, sondern gleichzeitig ausgehebelt wird. An die Stelle zentraler Sendeanstalten tritt hier eine Pluralität, die zumindest von den technischen Möglichkeiten her jedem die gleiche Chance auf massenhafte Verbreitung seiner medialen Produkte bietet. Wie sich in dem Zitat bereits angedeutet hat, ist für Winkler jedoch der Aspekt der Redundanz entscheidend, denn: »Medien sind gesellschaftliche Maschinen zur Herstellung von Redundanz.«33 Redundanz aber bedeutet, dass etwas in gleicher Ausführung »entweder räumlich oder zeitlich mehrfach vorhanden ist.«34 Wie Hartmut Winkler feststellt, ist vor dem Hintergrund der Herstellung von Redundanz bei der technischen Reproduktion (trotz obligatorischer Kopierverluste35 und der von Winkler angesprochenen Schaffung von Möglichkeiten der Weiterverarbeitung36) der Aspekt der Gleichheit entscheidend: »Benjamin bereits hat festgestellt, dass die Kunst ganz auf das Original setzt, dass dieses in den technischen Medien aber keine Rolle mehr spielt. Konnte man im Fall manueller Reproduktion Original und Kopie noch unterscheiden, lebt die technische Reproduktion von der Gleichheit und Austauschbarkeit der Exemplare.«37

Zweifellos wird auf den Videoplattformen des Internets in nicht unerheblichem Maß Redundanz erzeugt. Nichtsdestotrotz ist der Aspekt der Gleichheit bei den kopierten Videoclips nicht unbedingt der entscheidende. Denn während bei der technischen Reproduktion »die Herstellung möglichst vieler möglichst identischer Exem-

31 32 33 34 35 36 37

Ebd. Hervorhebung im Original. Ebd. S. 182. Ebd. S. 220. Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. S. 228. Ebd. S. 226. Ebd. S. 229.

90 | U NDERSTANDING Y OU T UBE

plare«38 angestrebt wird, könnte sich im Fall der Videoplattformen eine Art der Reproduktion herauskristallisieren, bei der die Herstellung möglichst vieler möglichst verschiedener Exemplare im Vordergrund steht, so dass sich das folgende Kapitel die Frage stellt, ob die Faszination dieses neuen Mediums eher auf die ungeheure Varianz, Flexibilität und Editierbarkeit des Materials zurückzuführen ist, als auf die (nur theoretisch denkbare) perfekte Wiederholung des Immergleichen. Vielleicht könnte man nach Abschluss der Analysen als Replik auf Hartmut Winklers definitorischen Satz »Medien sind gesellschaftliche Maschinen zur Herstellung von Redundanz«39 mit gleicher Berechtigung antithetisch formulieren: Medien sind gesellschaftliche Maschinen zur Herstellung von Varianz. Wie sich bisher gezeigt hat, stößt der Begriff der technischen Reproduktion auf dem Gebiet der Videoclips im Internet in zweierlei Hinsicht an seine Grenzen: Erstens, und diesen Aspekt behandelt das vorliegende Kapitel, finden sich auf den Videoplattformen unzählige mit dem Original scheinbar identische Kopien. Die Exaktheit dieser Kopien geht weit über das bei technischen Reproduktionen übliche Maß hinaus, denn diese formen sich, so wird sich noch zeigen, nicht nach dem äußeren Abbild, sondern nach dem inneren Aufbau, der inneren Struktur des Originals. Zweitens entwickelt sich nicht nur eine Vervielfältigung geradezu unheimlich exakter Kopien, sondern darüber hinaus und gleichzeitig eine erstaunliche Vielfalt an Varianz.40 Der Kunsthistoriker W.J.T. Mitchell weist hier darauf hin, dass den Begriffen »Reproduktion« und »Reproduzierbarkeit« in der heutigen Zeit eine völlig neue Bedeutung zukommt: »Reproduction and reproducibility mean something quite different now when the central issues of technology are no longer ›mass production‹ of commodities or ›mass production‹ of identical images, but the reproductive processes of the biological sciences and the production of infinitely malleable, digitally animated images.«41

In Anlehnung an Benjamin entwickelt Mitchell daher in seinem Aufsatz The Work of Art in the Age of Biocybernetic Reproduction den Begriff der »biokybernetischen Reproduzierbarkeit«: »If mechanical reproducibility (photography, cinema, and associated industrial processes like the assembly line) dominated the era of modernism, biocybernetic reproducibility (high-speed computing, video, digital imaging, virtual reality, the Internet, and the

38 39 40 41

Ebd. Hervorhebung im Original. Ebd. S. 220. Hervorhebung im Original. Diesen Aspekt behandeln die beiden folgenden Kapitel der vorliegenden Arbeit. Mitchell, W.J.T. (2005; 2000): The Work of Art in the Age of Biocybernetic Reproduction, in: Ders.: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images. Chicago: University of Chicago Press, S. 309-336, hier S. 318. Hervorhebung im Original.

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industrialization of genetic engineering) dominates the age that we have called postmodern.«42

Mitchell bezieht sich hier auf Benjamins Charakterisierung der Moderne als einer Zeit, die bestimmt wird durch industrielle Massenproduktion in Kombination mit der technischen Reproduzierbarkeit der Bilder. Diese fundamentalen technischen Determinanten ersetzt Mitchell für die Postmoderne durch die Turingmaschine und die Entschlüsselung des genetischen Codes.43 Folglich definiert Mitchell die »Biokybernetik« im engeren Sinn als Verknüpfung von Computertechnologie und Biologie, im weiteren Sinn jedoch als »the new technical media and structures of political economy that are transforming the conditions of all living organisms on this planet.«44 Anders als es die Begrifflichkeit impliziert, umfasst die Biokybernetik jedoch auch und vor allem Reproduktionsvorgänge außerhalb der kontrollierten Umgebung wissenschaftlicher Labore: Biocybernetics »is not just the scene of the pristine lab populated with white coated technicians and electronically controlled media, but the world of the messy, chaotic computer station, destructive viruses, and carpal tunnel syndrome.«45 Die Biokybernetik durchdringt demnach alle Bereiche des menschlichen Lebens, seien diese nun wirtschaftlicher, ästhetischer oder politischer Art.46 Entscheidend ist jedoch, dass der Terminus Biokybernetik in sich zwei nicht nur unterschiedliche, sondern grundverschiedene Komponenten vereint: »The Cyber is the judge and differentiator, the one who rules by writing the code. Bios, on the other hand, tends toward the analogical register, or the ›message without a code‹, as Roland Barthes put it in speaking of photography. It is the domain of perception, sensation, fantasy, memory, similitude, pictures – in short, what Jacques Lacan calls the Imaginary.«47

Damit aber lassen sich mit dem Begriff der Biokybernetik nicht mehr kontrollierbare Prozesse der Verselbstständigung fassen: »Walter Benjamin concluded his meditation on mechanical reproduction with the specter of mass destruction. The dangerous aesthetic pleasure of our time is not mass de-

42 43 44 45 46

Ebd. Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 20. Mitchell (2005): The Work of Art in the Age of Biocybernetic Reproduction, S. 312. Ebd. Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 161. In seiner Begrifflichkeit bezieht sich Mitchell daher auch auf Michel Foucault und seine Untersuchungen aus den 1980er Jahren zur Geburt der Biopolitik. Ebd. S. 19/20. 47 Mitchell (2005): The Work of Art in the Age of Biocybernetic Reproduction, S. 315. Hervorhebung im Original. Mitchell bezieht sich auf: Barthes, Roland (1977; 1961): The Photographic Message, in: Ders.: Image/Music/Text. New York: Hill & Wang, S. 15-31, hier S. 19.

92 | U NDERSTANDING Y OU T UBE struction but the mass creation of new, ever more vital and virulent images and lifeforms – terms that apply figuratively, as we have seen, to everything from computer viruses to terrorist ›sleeper cells‹. The epithet for our times, then, is not the modernist saying, ›things fall apart‹, but an even more ominous slogan: ›things come alive‹.« 48

Wenn die Dinge aber in der biokybernetischen Reproduktion lebendig werden, dann scheinen die Begriffe Duplikat, Reproduktion oder Kopie nur wenig geeignet, dieses neue Verständnis adäquat abzubilden. So entwickelte sich – laut Mitchell – mit dem Aufkommen der Biokybernetik eine andere Figur, nämlich die des »Klons«: »In the late twentieth century the metaphor of cloning […] displaced the modernist notion of ›mechanical reproduction‹. […] The clone is the iconic symbol of biocybernetics, just as the mechanical robot or automaton was the figurehead of modernity.«49

Tatsächlich hat der Begriff »Klon« eine sich geradezu erstaunlich verselbstständigende Entwicklung erlebt.50 Wie die Wissenschaftshistorikerin Christina Brandt feststellt, muss der »Klon« aus heutiger Sicht als »hybride Konstellation« historisch unterschiedlich gelagerter Bedeutungsebenen verstanden werden, in der die ursprüngliche biowissenschaftliche Definition und wesentlich ältere religiöse, naturphilosophische Denkfiguren und kulturhistorische Narrative zueinander in Spannung geraten sind.51 Ursprünglich aber ging der Begriff »Klon« im Jahr 1903 aus einer langjährigen Suche nach einem geeigneten wissenschaftlichen Begriff für ein fest umrissenes biologisches Phänomen hervor: »For over two years he [=Webber, R.M.] has been searching for, and asking friends to suggest, a suitable term to apply to those plants that are propagated vegetatively by buds, grafts, cuttings, suckers, runners, slips, bulbs, tubers, etc. The plants grown from such vegetative parts are not individuals in the ordinary sense, but are simply transplanted parts of the same individual. […] Recently Mr. O. F. Cook, of the Department of Agriculture, has called the writer’s attention to the Greek word clon () meaning a

48 Ebd. S. 335. Hier liegt auch der Grund, warum Mitchell sich explizit auf Foucaults Biopolitik bezieht: »More generally, cloning as a figure for the technological production of life epitomizes the epoch of what Michel Foucault called ›biopolitics‹, the transformation of modern states into engines of ›biopower‹ and the ›governing of life‹, or ›making life‹ (faire vivre) in contrast to traditional polities in which the sovereign’s primary power was expressed through the control of death.« Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 161/162. 49 Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 14/15. 50 Zur Begriffsgeschichte des »Klons« und insbesondere der Bedeutung der Bilder vgl.: Marek, Roman (2012): Der »Klon« und seine Bilder – Über Faszination und Ästhetik in der Begriffsgeschichte, in: Forum Internationale Begriffsgeschichte E-Journal 2/2012. 51 Vgl.: Brandt, Christina (2008): Codes & Clones: Begriffs-Konjunkturen in den Biowissenschaften, 1950–1980, in: Zeitgeschichte 6, 35. Jg., November/Dezember 2008, S. 354–371; Brandt, Christina (2010): Zeitschichten des Klons. Anmerkungen zu einer Begriffsgeschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010) 2, S. 123–146.

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twig, spray, or slip, such as is broken off for propagation which could be used in the connection desired. […] Clon, plural clons (pronounced with long o), is a short word, easily pronounced, spelled phonetically and with a derivation which at least suggests its meaning. The writer would urge it as a suitable term to adopt into general use.«52

Der Wunsch nach allgemeiner Benutzung (general use) des Begriffs war jedoch nicht eindeutig genug formuliert, denn er erfüllte sich ganz anders als es Herbert J. Webber im Jahr 1903 vorschwebte. Wie der Sprachwissenschaftler Nicholas Howe feststellt, ging der Begriff »Klon« bereits 1983 als Synonym für eine äußerlich identische Kopie vom wissenschaftlichen53 in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Wie Howe bemerkt, ist dieses Verständnis des Begriffs »Klon« nicht nur falsch, sondern es hält sich darüber hinaus noch besonders hartnäckig: »From its coinage as clon (in 1903) until 1970 or perhaps a bit earlier, the word remained the lexical property of scientists. But since then, the word has become known to the public through a clearly identifiable sequence: first, the precise, scientific term entered the common vocabulary; and second, a range of nonscientific meanings developed. As we shall see, this two-stage process explains the persistent, if inaccurate, belief that a clone is a visually identical copy of the genetic original.«54

Im allgemeinen Sprachgebrauch erhielt der Begriff des Klons folglich im zeitlichen Verlauf eine eher pejorative Bedeutung im Sinne einer sklavischen, unkreativen oder nicht innovativen Imitation.55 Laut Howe drücken sich in dieser falschen Überzeugung aber auch die Ablehnung autoritärer, manipulativer und profitgerichteter Machtstrukturen sowie einer blinden Technikbegeisterung aus.56 Doch trotz des falschen Verständnisses des Begriffs »Klon« im allgemeinen Sprachgebrauch, haben sich selbst darin Komponenten seiner ursprünglichen, wissenschaftlichen Bedeutung gehalten. Wie Howe bemerkt, drückt sich auch im allgemeinen Sprachgebrauch des Begriffs »Klon« so etwas wie eine tiefere, genetische Verbundenheit zwischen Original und Klon aus:

52 Webber, Herbert J. (1903): New Horticultural and Agricultural Terms, in: Science Vol. XVIII, No. 459, 16. Oktober 1903, S. 501-503, hier S. 502-503. Hervorhebungen im Original. Webber schreibt über sich selbst in der dritten Person. 53 Vgl.: Pollard, Charles Louis (1905): On the Spelling of »Clon«, in: Science Vol. XXII, No. 551, 21. Juli 1905, S. 87-88. 54 Howe (1983): Further Thoughts on Clone, S. 61. Hervorhebungen im Original. 55 Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 23. 56 Howe (1983): Further Thoughts on Clone, S. 66/67. Vgl. dazu auch: Nelkin, Dorothy; Lindee, M. Susan (2001): Cloning in the Popular Imagination, in: Klotzko, Arlene Judith (Hg.): The Cloning Sourcebook. New York: Oxford University Press, S. 83-93.

94 | U NDERSTANDING Y OU T UBE »If few speakers understood the precise scientific term, many more realized that clone might be used to indicate a ›genetic‹ relationship between an original and its derivatives or copies. Nor was it necessary that the original be a living organism; it need simply function as a model or source. Automobiles or styles of music could be described as clones with the same ease as could ballplayers or politicians.«57

Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass sich der Begriff von seiner ursprünglichen Begrenzung auf lebende Organismen spätestens 1983 getrennt hat. In diesem Zusammenhang ist von besonderer Wichtigkeit, dass mit dem Begriff »Klon« die Vorstellung einer essentiell tieferen Beziehung zwischen Original und Kopie verbunden ist. Für W.J.T. Mitchell ist es diese Bedeutungskomponente, die den Begriff des »Klons« als spezifische Art der Bildherstellung ins Zentrum der ikonologischen Debatte58 rückt: »If an image is an icon, a sign that refers by likeness or similitude, a clone is a ›superimage‹ that is a perfect duplicate, not only of the surface appearance of what it copies, but its deeper essence, the very code that gives it its singular, specific identity. Cloning might be called ›deep copying‹, since it goes beneath the visual or phenomenal surface to copy the inner structure and workings of an entity, especially the mechanisms that control its own reproduction. Cloning has become an image of image-making itself, a metapicture of the most advanced form of image production technology in our time.«59

Deutlich wird, dass laut Mitchell beim Klonen nicht mehr von der Oberfläche ausgehend reproduziert wird, sondern vom Inneren her, von der Essenz der Dinge, von ihrem eigenen Aufbauplan her. Reproduziert wird beim »deep copying« also nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere, die Struktur, und damit der Mechanismus der eigenen Reproduktion. Zusammengefasst könnte man sagen: Wenn auf einem Bildschirm ein Foto erscheint, so gibt es drei Möglichkeiten der Reproduktion dieses Fotos. Erstens kann man es abmalen (manuelle Reproduktion), zweitens kann man es mit einer Kamera abfotografieren (technische Reproduktion), oder man kann drittens eine Datei kopieren, deren Daten von einem Programm dann interpretiert und in ein Bild umgesetzt werden (Mitchells biokybernetische Reproduktion). Was aber ist genau unter der inneren Struktur einer Bilddatei zu verstehen? In Bezug auf diesen Punkt weist Mitchell dem digitalen Bild einen radikal neuen Charakter60 zu, denn dieses verfüge über eine Art doppelter Buchführung: In digitalen Bilddaten ist nicht nur die analoge, ikonische Repräsentation gespeichert,

57 58 59 60

Ebd. S. 62. Hervorhebungen im Original. Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 14/15. Ebd. S. 29. Ebd. S. 134.

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sondern darüber hinaus noch Metadaten die – so Mitchell – den »new automatism of photography«61 ausmachen: »Like the biocybernetic process of cloning, digital images constitute a ›double-entry bookkeeping‹ technology that simultaneously copies the analog appearance (as with traditional photographs) along with the invisible digital codes for generating that appearance. We might think of this as the ›DNA of the image‹, and it is what allows the indefinite cloning of exact copies, and the traces of their process of production.«62

Zum einen enthalten die Bilddaten demnach die selben Informationen wie zuvor bereits das analoge Negativ, zusätzlich umfassen sie aber noch Informationen nicht nur über den Zeitpunkt (sowie neuerdings dank GPS den Ort) ihrer Erstellung, sondern vor allem über ihre eigene Interpretation (z.B. die Art der Kompression, oder die Einteilung der verschiedenen Datensegmente). Erst diese zusätzlichen Informationen63 – Mitchells DNA des Bildes – erlauben es letztlich, sie zu klonen. Die unheimliche Vervielfältigung: »Clone Wars« In seinem im Jahr 2011 erschienenen Buch Cloning Terror. The War of Images, 9/11 to the Present beschreibt W.J.T. Mitchell anhand eines Beispiels, was für Prozesse durch die neuen Formen biokybernetischer Reproduktion ausgelöst werden. Laut Mitchell metastasieren die Bilder unkontrolliert in ein neues Medium, und dieses neue Medium ist das global im Internet zirkulierende digitale Foto: »Now the latest avatar of this image64 has metastasized in a new medium, the digital photographs and its global circulation on the Internet. Containment and control of its meaning is no longer conceivable. The new law of images in the age of biocybernetic reproduction is one that fuses mass uniformity and rapid evolutionary variation, the simultaneous appearance of typological ›prefigurations‹ and ›postfigurations‹ as uncanny doubles and evil twins […].«65

61 Ebd. 62 Ebd. S. 124. 63 Das International Telegraph and Telephone Consultative Committee hält zum Beispiel unter dem Titel Terminal Equipment and Protocols for Telematic Services. Information Technology. Digital Compression and Coding of Continuous-Tone Still Images. Requirements and Guidelines (Recommendation T.81) eine Liste der Marker code assignments für das fast überall für Bilder verwendete JPEG-Format (Joint Photographic Experts Group) bereit. ‹http://www.digicamsoft.com/itu/itu-t81-36.html› [15. August 2010]. 64 Mitchell untersucht in seinem Buch eines der Fotos aus dem sogenannten Abu-GhuraibFolterskandal. 65 Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 159.

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Die Situation des Clone War ist demnach gekennzeichnet durch massenhafte, nicht mehr kontrollierbare Verbreitung, sowie eine Veränderung und Entwicklung des ursprünglichen Originals bei gleichzeitigem Vorhandensein dieses Originals mit allen seinen Varianten. Dies aber ist keine neue Entwicklung: »The temporality of the Clone Wars is of a much longer durée. It is an updating, a reliteralizing of a metapicture that has always haunted the human faculties of imagination and practices of representation. Making a living image of a living thing is the utopian goal of mimesis. It is a godlike act, and the clone signifies biotechnology’s temptation to ›play God‹.«66

Die Idee des Klons berührt folglich eine theologische, technische und ästhetische Problematik, die lange vor der tatsächlichen Umsetzung des Klonen die Menschheit beschäftigte. Wie Mitchell beobachtet, nahm der Begriff des Klons, nachdem es technische Realität wurde, als »Metabild«67 eine Vielzahl von Bedeutungen an, die alle das Problem der Reproduktion, Imitation und des Kopierens adressierten: »Once established as a technical and material actuality, however, cloning has been remetaphorized as a figure of speech for all kinds of processes of copying, imitation, and reproduction – as, in other words, an ›image of image-making‹, or what I have elsewhere called a ›metapicture‹. […] The clone and cloning have become cultural icons that go far beyond their literal references to biological processes. But it is the new reality and literalness of cloning technology that underwrites the proliferation of its metaphoric uses.«68

Von daher ist es nachvollziehbar, dass der Klon bestimmte Urängste anspricht, die mit dem Kopieren und Produzieren von Bildern zusammenhängen: »›Cloning terror‹, in this sense, means […] the terror of cloning itself, a syndrome I call ›clonophobia‹ that grows out of ancient anxieties about copying, imitation, artificial life, and image-making. Like terrorism, therefore, cloning shuttled back and forth between imaginary and real, metaphoric and literal manifestations. Cloning in this way became the master metaphor or ›metapicture‹ of image-making itself, especially in the realm of new media and biomedia.«69

Wie sich zeigen wird, sind Ängste vor der perfekten Kopie jedoch unbegründet, denn: »Until now we have always fallen short of the perfect copy. There has always been a flaw in the simulacrum. It is always a mere copy, belated, secondary, defi-

66 Ebd. S. 163. Hervorhebung im Original. 67 Vgl.: Mitchell, W.J.T. (1994): Metapictures, in: Ders.: Picture Theory. Chicago: The University of Chicago Press, S. 35-83. 68 Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 229. 69 Ebd. S. XIV. Hervorhebung im Original.

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cient.«70 Der Klon verkörpert demnach das Versprechen der idealen Wiederholung mehr als er es erfüllt: »And it is important to remember that the clone, although it may be a ›deep copy‹ of both the analog surface and the underlying code, is never a perfect copy since the environment in which the organism gestates and lives is never identical, and can never (in a temporal sense) be identical. That is why clones are not as exact in their resemblance as identical twins.«71

Selbst als nicht exakte Reproduktionen aber besitzen Kopie und Klon eine essentielle Wichtigkeit in Bezug auf Kultur und Erkenntnisgewinn. Im nun folgenden Abschnitt soll es daher um die Rehabilitierung dieser beiden Begriffe gehen. Kopien und Klone als Erkenntnisträger Das Gegenstück zu der von Mitchell adressierten »clonophobia«72 ist die besondere Wertschätzung des Originals. Der Kunstwissenschaftler und Kunsthistoriker Max Jakob Friedländer stellte diesbezüglich fest, dass Originalität untrennbar mit Direktheit und Spontanität verknüpft sei.73 In seinem im Jahr 1941 veröffentlichten Aufsatz Artistic Quality. Original and Copy umschreibt Friedländer das interesselose Wohlgefallen als gelungene Situation ästhetischer Erfahrung wie folgt: »When an impression fills us with pleasurable satisfaction – with ›disinterested pleasure‹ as the aestheticians say – it springs from a pure, individual and hence uniform vision and also from a successful realisation of this vision, thanks to which the emotional values are communicated to us without any considerable loss. We hear an individually coloured voice which says something that we know, but says it in such a fashion that we think we hear it for the first time.«74

Friedländer betont demnach die Bedeutung einer reinen, individuellen und einzigartigen Vorstellung, die nach erfolgreicher künstlerischer Verwirklichung befähigt ist, Empfindungen unmittelbar zu übertragen. Wenn diese ästhetische Übermittlung gelingt, entsteht beim Rezipienten das Gefühl einer Verbundenheit, denn etwas wird in ihm angesprochen, das er schon kennt, das er aber so noch nicht gehört hat; es kommt ihm demnach vor, als höre er etwas bereits Vertrautes zum ersten Mal. Was

70 71 72 73

Ebd. S. 164. Ebd. S. 194, Fußnote 7. Ebd. S. XIV. Vgl.: Friedländer, Max J. (1941): Artistic Quality. Original and Copy, in: The Burlington Magazine for Connoisseurs, Vol. 78, No. 458 (May, 1941), S. 143-145+147-148+151, hier S. 144. 74 Ebd. S. 143.

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Friedländer hier beschreibt, scheint paradox: Etwas Bekanntes soll einerseits erkannt werden und andererseits – gleichzeitig – als neu und individuell empfunden werden: Das bekannte Unbekannte bzw. das Vertraute in neuem Gewand. In Bezug auf die Videoklone stellt sich die Frage, was ihre Position innerhalb dieser von Friedländer formulierten ästhetischen Konstellation ist. Der Klon stellt keine Kopie im herkömmlichen Sinn dar, und keinesfalls ist er gleichzusetzen mit den Kopien bekannter Gemälde, auf die Friedländer sich in seinem Aufsatz bezieht. Andererseits ist der Klon aber auch nicht das Original. Die Frage ist demnach, ob der Klon, da er gewissermaßen weder das eine, noch das andere ist, sich eventuell als Entität fassen lässt, die Spezifika sowohl der Kopie, als auch des Originals in sich vereint. Als derartiges, gleichzeitig erkanntes, bekanntes und doch anderes, bzw. neues Zwitterwesen aber realisiert der Klon, gewissermaßen in sich und von sich aus, die perfekte ästhetische Replik auf das Problem, das das von Friedländer skizzierte Paradoxon aufwirft. Doch Friedländer deckt in seinem Artikel noch ein weiteres, entscheidendes Problem auf; denn seine Ausführungen ziehen die Frage nach sich, ob es so etwas wie originäre Produktion, bzw. die Produktion eines Originals überhaupt gibt: »In a way, of course, there exists no such thing as strictly original production. Strictly speaking it is a question of difference of degrees. Even a great and independent painter has not only seen nature, but also works of art, paintings by other masters and his own. He depends upon a tradition of art. To some extent, every painter is an imitator and copyist, if only in this, that he paints his picture from his own nature studies, drawings, sketches. In the professional routine no one can escape recollection of the work of others and of his own earlier work. The artist in fact is not only father and mother to his production, but also the accoucheur.«75

Demzufolge muss der Künstler seinen Produktionen nicht nur Vater und Mutter sein, sondern auch noch deren Geburtshelfer; fast scheint es, als biete eine derartige Aggregation keinen Platz mehr für die Musen und ihren inspiratorischen Funken originärer Schöpfung. Mit Friedländer könnte man demnach argumentieren, dass sich selbst der Schöpfer eines Originals nicht vollkommen freimachen kann von zumindest einem Quentchen an Nachahmung. Zwischen dem Kopisten und dem Schöpfer des zugehörigen Originals herrscht folglich nur ein gradueller Unterschied, eine Auffassung, die anhand der Theorien des französischen Soziologen Gabriel Tarde und seiner Soziologie der Nachahmung weiter verfolgt werden wird. Auch Walter Benjamin verweist in seinen Überlegungen zu Schrift und Sprache darauf, dass die Nachahmung eine grundlegende menschliche Fähigkeit ist:

75 Ebd. S. 144.

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»Die Natur erzeugt Ähnlichkeiten; man braucht nur an die Mimikry zu denken. Die allerhöchste Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten aber hat der Mensch. Ja, vielleicht gibt es keine seiner höheren Funktionen, die nicht entscheidend durch mimetisches Vermögen bestimmt ist.«76

Doch selbst wenn sich die Idee des hundertprozentigen Originals als theoretisches Konstrukt erweisen sollte, bleibt die Verschiedenheit zwischen Original und Kopie in Form eines graduellen Unterschieds bestehen. Mit der Verschiedenheit bleibt der Kopie jedoch, und dies gilt, wie sich gezeigt hatte, gleichermaßen für den Begriff des »Klons«, auch das Stigma der sklavischen, unkreativen, nicht inspirierten Nachahmung erhalten: Sie bleibt – wie man gemeinhin formulieren würde – ein ›billiger Abklatsch‹. Diese Stigmatisierung ist nicht zuletzt auf eine gewisse, meist auch noch selbst induzierte Maschinenhaftigkeit, d.h. Entmenschlichung des Kopisten zurückzuführen. Und tatsächlich beschreibt Friedländer das Kopieren als einen Prozess, der den eigentlich zu selbstständiger Schöpfung befähigten Kopisten zu einer Maschine werden lässt: »Whoever copies, need not be incapable of independent creation. It is even conceivable that the artist in question may be more highly gifted than he who produced the archetype. The decisive point is, however, that the servitude and duty of the copyist’s task stamp his performance with the character of subordination and lack of freedom; that his mental attitude, whoever he be, is essentially different from that of the creative artist. As soon as he copies, the painter renounces his own method of vision. The creative master stakes the whole of his intellectual and spiritual forces, the copyist only memory, eye and hand. Whoever feels the difference between growing, and making, is not going to be easily deceived. An original resembles an organism; a copy, a machine.«77

Der hier beschriebene Vorgang der Transformation des Kopisten zu einer nur noch aus Augen, Gedächtnis und Händen bestehenden Maschine, d.h. einem Roboter, bringt Bewegung in die starre Grenze zwischen manueller und technischer Reproduktion. Allen Arten der Reproduktion, ob manuell, mechanisch oder biokybernetisch scheint ein – graduell sicherlich unterschiedlich ausgeprägter – Aspekt des Maschinellen gemein zu sein. Es ist allerdings die Frage, ob die vorliegende Untersuchung nicht zeigen kann, dass bei der von Mitchell als ›biokybernetisch‹ bezeichnete Art der Reproduktion die sich verselbstständigenden, Variation schaffenden Aspekte die maschinenhaften Anteile in den Hintergrund drängen.

76 Benjamin, Walter (1999; 1933): Lehre vom Ähnlichen, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II-1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 204-210, hier S. 204. 77 Friedländer (1941): Artistic Quality, S. 144.

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In den nun folgenden Abschnitten soll dem zwitterhaften Wesen des Videoklons weiter nachgegangen werden. Das Paradox des vertrauten Unbekannten wird im Hinblick auf die Diskussion von Ähnlichkeiten und der vermeintlich im Klon verkörperten perfekten Kopie weiter problematisiert werden. Auch die Diskussion um das Verhältnis von maschinenhaften zu sich verselbstständigenden, ungeplanten, nicht intendierten, Varianz schaffenden Anteilen im Wesen des Klons soll fortgeführt werden, um schließlich in die Richtung eines Prozesses zu führen, der als Automatismus definiert werden kann.

Videoklonen als deviante Medienpraxis Wie bereits festgestellt wurde, widerspricht das Duplizieren von Inhalten eigentlich der medialen Präfiguration des Internets, nämlich dass alles für jeden (mit Zugang zum Internet) jederzeit und gleichzeitig abrufbar ist – und dies, und hier liegt ein Grundmotiv der Werbung eines jeden Internetproviders, im Idealfall innerhalb des Bruchteils einer Sekunde. Es mag noch nachvollziehbar sein, dass ein Videoclip sich auf verschiedene Videoportale verbreitet, schließlich bedienen diese meistens bestimmte Regionen. Auf RuTube.ru – selbst schon ein YouTube-Klon – gibt es etwa den Clip Chris Crocker LEAVE BRITNEY ALONE!78 des Nutzers Nefedos79, hochgeladen am 19. September 2007, nur neun Tage nachdem Crocker sein Original veröffentlichte. Nefedos verweist in seiner Beschreibung nicht auf das Original, doch diese Aufgabe übernahm ein Nutzer namens 80, der in einem Kommentar vom 18. August 2009 auf Crockers Kanal auf YouTube verweist.81 Doch selbst auf RuTube gibt es noch weitere Videoklone, etwa Chris Crocker – LEAVE BRITNEY ALONE!82 des Nutzers Demian_Star83, veröffentlicht am 19. Mai 2008. Weniger verständlich ist jedoch die Tatsache, dass auch auf YouTube selbst, also dem originären Veröffentlichungsort eine Vielzahl von Videoklonen auftaucht, zum Beispiel Britney Spears Fan Cries84 des Nutzers Sephy085. Dieser Videoclip,

78 ‹http://rutube.ru/tracks/187886.html?v=5659dad0a93ea5cfd1b6b8d110b18e64› [5. Mai 2011]. 79 ‹http://nefedos.rutube.ru/› [5. Mai 2011]. 80 ‹http://zhpkk.rutube.ru/users/2641826/› [5. Mai 2011]. 81 ‹http://rutube.ru/tracks/187886.html?v=5659dad0a93ea5cfd1b6b8d110b18e64› [5. Mai 2011]. Der Kommentar lautet: »    http://www.youtube.com/user/istc hriscrocker« 82 ‹http://rutube.ru/tracks/700778.html?v=5251f507b0b9004296d24d818a256894› [5. Mai 2011]. 83 ‹http://demian-star.rutube.ru/› [5. Mai 2011]. 84 ‹http://www.youtube.com/watch?v=cDDEhLw1PVI› [5. Mai 2011]. 85 ‹http://www.youtube.com/user/Sephy0› [5. Mai 2011].

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der einzige dieses Nutzers, wurde am 12. September 2007 veröffentlicht, nur zwei Tage nach Crockers Originalvideo. Wie der Screenshot (Abb. 6) zeigt, handelt es sich aber trotz des geringen zeitlichen Abstandes nicht um einen ›hunderprozentigen‹ Videoklon von Crockers Originalvideo. Die Einblendung in der rechten unteren Ecke verweist auf die Webseite shooshtime.com, eine Videoplattform – das Logo lässt es bereits vermuten – die sich eher auf pornographische Inhalte spezialisiert hat. Und tatsächlich findet sich dort unter dem Titel Internets Biggest Fag Cries Over Britney86 das ›Original‹ von Sephy0s Videoklon, hochgeladen ebenfalls am 12. September 2007. Bemerkenswert ist dabei, dass die Version auf shooshtime.com von 21.243 Nutzern gesehen wurde, dessen VideoKlon auf YouTube hingegen immerhin von über 2 Millionen (Stand: November 2012).

Abb. 6: Sephy0, Britney Spears Fan Cries (2007)87 Wie konnte es dazu kommen, dass Crockers Videoclip über eine Pornoseite wieder zurück zu YouTube gekommen ist? Glücklicherweise hat der Nutzer Sephy0 seine Veröffentlichung ausführlich kommentiert. In die Beschreibung des Videoclips schrieb er zunächst: »No, this is not me. I couldn’t find this video anywhere on YouTube so I decided to post it myself for others to enjoy. So...ENJOY!«88 Allem

86 ‹http://www.shooshtime.com/videos/17226_internets-biggest-fag-cries-over-britney/#axz z1OjegYOfS› [5. November 2012]. 87 ‹http://www.youtube.com/watch?v=cDDEhLw1PVI› [5. November 2012]. 88 Ebd.

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Anschein nach erhielt er aber viele Nachfragen, weshalb er denn diesen Videoclip veröffentlich habe, wenn er es gar nicht selbst sei. Daher fühlte sich Sephy0, vermutlich wenig später (die genaue zeitliche Abfolge der Änderungen seines Textes lässt sich nicht mehr rekonstruieren), dazu genötigt, seinen Kommentar des Videoclips um folgende Erklärung zu ergänzen: »edit: To answer many of your comments...No, I could not find the original at the time of my posting this. When I posted this, there were no others out there (believe me, I searched and searched). Since then, the original video has been all over the internet and tv, therefore it’s been reposted all over YouTube. Since posting this, I have found the original which was posted only ONE day before I posted this. Yes, it's hard to believe things can gain fame that quickly, but they do, lol.« 89

Scheinbar fand Sephy0 Crockers Videoclip tatsächlich erst auf der Pornoseite. Zudem ist nicht unwahrscheinlich, dass er das Original auf YouTube trotz intensiver Suche nicht finden konnte. Immerhin hat der Titel des Videoclips auf der Pornoseite – Internets Biggest Fag Cries Over Britney – weder den Namen Crockers noch die Bezeichnung des Originalvideos genannt, und einen Link darauf gab es ebenfalls nicht. An dem Kommentar wird aber noch Folgendes offensichtlich: Es waren andere Nutzer, die Sephy0 auf seine fehlende Urheberschaft und das Original auf YouTube hinwiesen. Der Kommentar zeigt aber auch, dass sich Sephy0 dessen bewusst war, dass sich vor seinen Augen ein Prozess der Verbreitung und Wiederholung verselbstständigt hatte. Sein eigenes Handeln rechtfertigt er mit seiner angeblichen Vorreiterrolle, denn das Original sei schließlich nur einen Tag vor seinem Videoklon veröffentlicht worden, inzwischen gäbe es ja noch viele andere Kopien, seiner aber zähle zu den ersten. Doch die Geschichte von Sephy0 ist noch nicht zu Ende, denn der Strom von Kommentaren riss offensichtlich auch nach seiner Ergänzung nicht ab. Daher erweiterte er am 19. September, also eine Woche nach der Veröffentlichung seines Videoklons erneut die Beschreibung des Videoclips: »((UPDATE: SEPTEMBER 19 2009 – I AM NOT CHRIS CROCKER YOU IDIOTS. STOP SENDING ME HATE MESSAGES ADDRESSED TO HIM. NOW ENJOY THE VID AND LEARN TO READ.))«90 Scheinbar hatten nur die wenigsten Nutzer seine Beschreibung gelesen und ihn deshalb für den Protagonisten des Videos gehalten. Dies bedeutet wiederum, dass viele Nutzer nicht weiter nachgefragt haben, von wem das Video eigentlich war, andererseits scheint es aber auch genügend Nutzer gegeben zu haben, die an dem Original interessiert waren. Die Praxis des Duplizierens von Inhalten lässt sich letzten Endes nicht nur nicht aus medialen Notwendigkeiten erklären, sie geht auch noch gegen die Interessen der

89 Ebd. Hervorhebung im Original. 90 Ebd.

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Anbieter dieser Inhalte. Der Urheber der verbreiteten Inhalte möchte sicherlich nicht, dass seine Produkte ohne seine Kontrolle das Internet überschwemmen, noch dazu in den meisten Fällen wohl ohne einen Verweis auf das Original. Doch auch die Videoplattformen selbst haben eigentlich kein Interesse daran, dass, erstens, Speicherplatz mit überflüssigen Duplikaten belegt wird, und dass, zweitens, Verkehr von ihren Seiten weg gelenkt wird, denn Verkehr bedeutet Aufmerksamkeit, und die Anzahl der Seitenklicks gehört zu den ersten Kennziffern, die potentielle Werbekunden interessieren. Dass eine Person einen Videoclip bei sich zu Hause auf dem Computer speichert und diesen beliebig oft anschauen kann, ohne die Seite selbst zu besuchen, mag noch zu verschmerzen sein. Dass aber ein höchst erfolgreicher Videoclip auf anderen Seiten auftaucht und Verkehr zu diesen abwandert, kann u. U. ein harter Schlag für den Betreiber eines Portals sein. Die verführerische Exaktheit der Zahlen Hinzu kommt, dass man vor lauter Videoklonen mit ähnlichen Namen und Verschlagwortungen das Original nicht mehr finden kann: Die Suchergebnisse werden unübersichtlich, Statistiken und Rankings verlieren an Aussagekraft. Die verführerische Exaktheit der Zahlen, die vorgeblich perfekte Abbildung von Zuschauerinteressen machte und macht noch immer einen Großteil des Charmes der Videoplattformen aus. Wo die Fernsehkanäle mit Schätzungen, Umfragen und Hochrechnungen ihre Einschaltquoten erst mühevoll generieren müssen, können YouTube & Co. potentielle Werbekunden mit betörend genauen Zahlen und Statistiken umgarnen. Das Auftreten der Videoklone aber führt die vorgebliche Exaktheit der Zahlen ad absurdum: Der Verkehr zerstreut sich, seine Richtung ist dank unzähliger Klone auf zahllosen Plattformen nicht mehr zu verfolgen. So ist die Aussage, dass Crockers Video von 44.901.657 Menschen betrachtet wurde, nur die halbe Wahrheit. Schließlich müssten zu dieser Zahl eigentlich noch die Zuschauerzahlen der Klone addiert werden. Doch selbst wenn dies möglich wäre, so würde auch diese Zahl nicht wiedergeben, wie viele Menschen den Videoclip aufmerksam und/oder bis zum Ende betrachtet haben. Zudem werden die IP-Adressen der Nutzer nur einmalig gezählt (unique user / unique visitor). Wenn jemand sich demnach zuhause zehn mal ein Video anschaut, wird das nur einmal gezählt. Aber wenn die selbe Person den gleichen Videoclip noch einmal auf der Arbeit anschaut, dann wird dies gezählt. Im Büro haben vielleicht noch drei Kollegen um den Bildschirm gestanden und zugeschaut, trotzdem wird es dann aber nur als ein »Klick« gezählt. Aus allen diesen Gründen sollen hier Zahlen nur als grobe Richtwerte dienen. Deutlich wurde auch, warum die Betreiber der Plattformen kein Interesse daran haben, den Nutzern eine Möglichkeit zu bieten, die Videos zu speichern. Technisch gesehen wäre dies kein Problem, doch die Portale versuchen mit allerlei technischen

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Raffinessen, ein Herunterladen der Dateien zu verhindern – nicht zuletzt, um Fragen des Copyrights einfacher abhandeln zu können. Mit Hilfe sogenannter Plug-ins bzw. Add-ons, also Programmerweiterungen, die separat herunter geladen und installiert werden müssen, lassen sich die geläufigsten Internetbrowser dahingehend erweitern, gestreamte Videodaten doch zu speichern. Auf der Webseite von DownloadHelper, einem der bekanntesten dieser Programmerweiterungen, heißt es: »Using DownloadHelper, you can easily save videos from most of the popular video sites. […] Note that DownloadHelper does not break any real protection implemented on the sites. It gives easier access to available content that will be downloaded by your browser anyway. With some exceptions, downloaded videos must be kept on your disk for personal use and are not to be shown on other websites.«91

Aus diesem Zitat geht bereits hervor, dass sich derartige Add-ons in einer rechtlichen Grauzone bewegen und unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck stehen. Auf der anderen Seite wird aber ebenso deutlich, dass nicht nur die Urheber selbst, sondern auch die Videoplattformbetreiber die Kontrolle über ihr Material verlieren. Viele Videoclips mit nicht-regelkonformen Inhalten fordern in ihrer Beschreibung dazu auf, den Clip weiter zu verbreiten, um sich gegen Zensur zu wehren. Doch auch die Videoplattformen versuchen aufzurüsten. Nach der Übernahme von YouTube durch Google entwickelte Google zusammen mit Unternehmen der Medienbranche wie Time Warner und Disney ein System namens »video fingerprinting« um des Problems Herr zu werden.92 Am 15. Oktober 2007 stellte Google das neue System vor, das die Videodaten nicht kennzeichnet sondern analysiert, um einzigartige, abstrahierte Relationen zwischen den einzelnen Videobildern zu finden: »YouTube is going to be using a system that examines frame-by-frame relationships and general pattern inside to determine a digital fingerprint from a piece of video. It can then compare and contrast that against other pieces of video on the site to see if they’re breaking the law. […] As well as being automated from Google’s end of things, the advantage of this sort of matching (rather than say, digital watermarking) is that (a) it can be used to isolate infringing material even when it’s been disguised – so just because you add a couple of minutes to the first part of a video, you won’t fool the bots. And (b) it can’t really be stripped out – because it is spotting the relationships between the data, rather than using data itself.«93

Dabei wurde deutlich, dass es sich um einen sehr ausgefeilten Mechanismus handelt, der Material unter Copyright selbst dann erkennt, wenn es vom Fernseher ab-

91 ‹http://www.downloadhelper.net/› [5. Mai 2011]. 92 YouTube Sets Tests of Video Blocking, in: New York Times, 12. Juni 2007. ‹http:// www.nytimes.com/2007/06/12/technology/12google.html?ref=business› [5. Mai 2011]. 93 ‹http://www.guardian.co.uk/technology/blog/2007/jun/18/howwillyoutub› [5. Mai 2011].

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gefilmt oder durch das Hinzufügen von Schrift modifiziert wurde.94 Mittlerweile hat sich jedoch gezeigt, dass das Content ID System weniger zum Löschen von Copyright verletzenden Inhalten als zur Generierung von Werbeeinnahmen genutzt wird: »Google reports that about a third of all the videos that carry advertising are user uploads of copyrighted material. This amounts to over 600 million views per year and constitutes about 5% of total YouTube volume. It also contributes to YouTube’s 50% increase over last year of videos with associated display ads – growth that Google is counting on as its next wave of major revenue, as opposed to the text ads that make up the vast majority of its current revenue. […] Yet the more applicable message from YouTube’s results with fingerprinting-triggered contextual advertising is that rights technologies are ultimately about enabling choices of business models. Content owners and service providers can use them to make money in ways that either satisfy or annoy users, or in ways that make sense for their content or don’t.«95

Das Zitat verrät darüber hinaus, dass es sich lediglich bei 5% der auf YouTube veröffentlichten Videodaten96 um Copyright verletzendes Material handelt – das inzwischen in Absprache mit den Rechteinhabern mit Werbung versehen wurde. Man sollte hier nicht vergessen, dass Videoclips, die nicht die Rechte großer Medienkonzerne verletzen, von diesen Maßnahmen nicht betroffen sind. Chris Crockers Videoclip zum Beispiel ist nicht geschützt; sonst hätte er nicht als Beispiel für die vorliegende Arbeit dienen können. Auf der anderen Seite verdankt Chris Crocker einen nicht unerheblichen Teil seiner Bekanntheit sicherlich auch den unzähligen Klonen und Variationen seines Videoclips, so dass letztendlich schwer zu sagen ist, ob die verschiedenen Wiederholungen Crocker geschadet oder doch eher genützt haben. Zudem betreffen die beschriebenen Maßnahmen nur YouTube selbst, denn es können jederzeit neue Webseiten ohne derartige Content-ID-Systeme entstehen, auf die die Nutzer ausweichen können, und auch Webseiten wie WikiLeaks speichern Videoclips, die auf anderen Webseiten längst gelöscht wurden. Videoklone aber sind von den Programmierern und Betreibern der Plattformen nicht vorgesehen. Ihr Auftreten ist von dieser Seite her nicht intendiert, und schon gar nicht gewollt. Das Verhalten der Nutzer ist demnach deviant, es weicht von den

94 Mah, Paul (2007): YouTube’s video fingerprinting receives mixed reactions, 16. Oktober 2007. ‹http://www.techrepublic.com/blog/tech-news/youtubes-video-fingerprinting-receiv es-mixed-reactions/1389› [5. Mai 2011]. 95 Rosenblatt, Bill (2010): Video Fingerprinting Gains Momentum for Contextual Advertising. ‹http://copyrightandtechnology.com/2010/09/03/video-fingerprinting-gains-moment um-for-contextual-advertising/› [5. Mai 2011]. 96 Die Zahlen entstammen einem Artikel der New York Times: Cain Miller, Claire (2010): YouTube Ads Turn Videos Into Revenue, in: New York Times vom 3. September 2010, S B1 der New Yorker Ausgabe. ‹http://www.nytimes.com/2010/09/03/technology/03yout ube.html?_r=1&ref=technology› [5. Mai 2011].

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ursprünglichen Intentionen der Betreiber ab: »Even the most usable and apparently simple technologies may offer creative possibilities that extend far beyond their most obvious, invited uses – possibilities most frequently realized (or even pioneered) by users, often to the surprise of the technology’s designers.«97 In dieser devianten Komponente erinnert es an Praxen, die mit der Verbreitung der Fotokopierer aufkamen.98 Der Copy-Art-Künstler Klaus Urbons beschreibt diese wie folgt: »Mit dem Einzug der modernen Fotokopierautomaten in die Büros der sechziger und siebziger Jahre trat eine neue Form bildnerischer Folklore in Erscheinung. So wurden bei der heimlichen privaten Nutzung des Bürokopierers nicht nur die obligatorischen Kochrezepte, Familienfotos oder Geldscheine kopiert, sondern auch Hände, Köpfe und selbst Genitalien auf die Glasscheibe gepreßt und abgelichtet. Das war eine willkommene Abwechslung vom alltäglichen Bürotrott, verbunden mit der prickelnden Furcht vor einer Entdeckung durch Vorgesetzte. Niemand dachte dabei an Kunst: Das alles war zunächst nicht mehr als ein kurioser Spaß, ein heimlicher Triumph über die Zwänge der Automatisierung, der von den Herstellern und Besitzern der Geräte natürlich nicht gewollt war, sich aber auch durch suggestive Forderungen (›Nur bei geschlossener Abdeckung kopieren!‹) nicht unterdrücken ließ.«99

Die von den Herstellern und Besitzern der Geräte nicht gewollten Praxen der Nutzer wurden bereits im Film verewigt (Abb. 7); und es scheint, als fänden sie auf den Videoplattformen des Internets eine digitale Wiederbelebung.

97 Burgess; Green (2009): YouTube, S. 64. 98 Vgl.: Wilken, Rowan (2007): The Practice and ›Pathologies‹ of Photocopying, in: antiTHESIS Vol. 17, March 2007, S. 126-143. 99 Urbons, Klaus (1991): Copy Art. Kunst und Design mit dem Fotokopierer. Köln: DuMont Buchverlag, S. 96.

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Abb. 7: Zwei Screenshots aus Scrooged (Die Geister, die ich rief…, 1988)100

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Die kaum ein Rollenklischee auslassende Szene aus der Komödie Scrooged (1988, Regisseur: Richard Donner) spielt auf der Weihnachtsfeier eines US-Fernsehsenders im Jahr 1968. Um die ausgelassene Stimmung zu illustrieren, wird gezeigt, wie eine Sekretärin auf einem Fotokopierer sitzt und ihre Unterwäsche kopiert. Mit dem Ergebnis ist sie äußerst zufrieden: »Oh, ist ja toll geworden! Frohe Weihnachten! Und verteilt die mal, aber seid vorsichtig, zerreißt sie nicht!«.

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Klonen als Verkleinerungstechnik – Aneignung durch Transkription Wie bereits erwähnt, hatte Benjamin das grundsätzliche Bedürfnis beschrieben, sich Dinge räumlich und menschlich näher zu bringen. Dieses Bedürfnis nach Fassbarmachung und Aneignung realisiert sich, so Benjamin, durch Techniken der Reproduktion. Benjamin verfolgt diese Überlegung auch in seiner Kleinen Geschichte der Fotografie, wo er feststellt, dass sich »die Auffassung von großen Werken«101 mit der Entwicklung reproduktiver Techniken grundsätzlich verändert hat: »Man kann sie nicht mehr als Hervorbringungen Einzelner ansehen; sie sind kollektive Gebilde geworden, so mächtig, daß, sie zu assimilieren, geradezu an die Bedingung geknüpft ist, sie zu verkleinern. Im Endeffekt sind die mechanischen Reproduktionsmethoden eine Verkleinerungstechnik und verhelfen dem Menschen zu jenem Grad von Herrschaft über die Werke, ohne welchen sie gar nicht mehr zur Verwendung kommen.«102

Deutlich wird hier, dass es sich bei den vielgescholtenen Reproduktionen in Wahrheit um Techniken der Aneignung und Emanzipation handelt. Während die Meisterwerke keine andere Reaktion zuließen als in Ehrfurcht vor ihnen zu erstarren, erlaubt der unerschöpfliche Strom von Reproduktionen eine produktive Auseinandersetzung. Der Experte für Copy-Art Roland Henß-Dewald spricht sich vor diesem Hintergrund für die Rehabilitierung der Kopie aus: »Der kulturellen Anerkennung der Kopie als Erkenntnisträger […] stehen immer noch altbekannte Vorurteile im Weg. Zum Beispiel der Originalitätswahn: Nur was echt ist, und das bedeutet einmalig, verdient anscheinend Aufmerksamkeit. Der Rest sind halt Kopien, der Aufguß vom Aufguß, ihnen kann keine göttliche Inspiration mehr anhaften. Alle, die so denken, muß ich fragen, ob sie ihre Picassos, Monets, Warhols oder welche Werke auch immer jemals im Original gesehen haben. Ich behaupte, daß sie in der Regel nur Reproduktionen, also Kopien, kennen. Wie wichtig ist eigentlich im gesellschaftlichen Wahrnehmungskontext die Frage nach dem Original? Was bewirkt bei den Menschen mehr, die Mona Lisa im Louvre oder ihre millionenfach verbreiteten Postkartenabbilder? […] Leicht wird an diesem Punkt vergessen, daß wir wesentliche Teile unseres gesicherten Wissens allein alten Kopien verdanken.«103

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Benjamin, Walter (1999; 1933): Kleine Geschichte der Fotografie, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II-1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 368-385, hier S. 382. Ebd. Henß-Dewald, Roland (1991): Vorwort, in: Urbons, Klaus (Hg.): Copy Art. Kunst und Design mit dem Fotokopierer. Köln: DuMont Buchverlag. S 7-11, hier S. 10.

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Besonders unverständlich ist für Henß-Dewald, dass bei der Bewertung von Kopien ein deutlicher Unterschied gemacht wird zwischen einerseits Texten und andererseits allen anderen, insbesondere aber den visuellen Medien: Die Aussagekraft von Postkarten etc. »bewerte ich wesentlich höher als beispielsweise die deutsche Fassung der lateinischen Übersetzung von Homers ›Ilias‹, die irgendwann einmal nach der soundsovielten mündlichen Überlieferung angefertigt wurde. Trotzdem ist jeder ohne groß nachzudenken bereit, die ihm vorliegende Ausgabe des Textes als authentisch und kulturell wertvoll zu akzeptieren. In beiden Fällen haben wir es mit Kopien zu tun, aber es wird immer noch mit zweierlei Maß gemessen.«104

Tatsächlich ist die unterschiedliche Bewertung reproduzierter Texte und Bilder nur schwer nachzuvollziehen. Entscheidend ist, dass es bei der Reproduktion, und darin sind sich alle Medien gleich, letzten Endes nicht nur um Aneignung und Emanzipation, sondern auch um Fragen der Zugänglichkeit und Aktualisierung geht. Mit den Medienwissenschaftlern Ludwig Jäger, Matthias Jarke, Ralf Klamma und Marc Spaniol könnte man diesen Sachverhalt auch im Rahmen der Transkriptivitätstheorie interpretieren. Diese verallgemeinert den Transkriptionsbegriff auf »beliebige intramediale oder intermediale Transkriptionen«105 und stellt einen »Bezug zur kulturellen Semantik«106 her. Die Transkriptivitätstheorie stellt Tausch und Zirkulation in den Mittelpunkt und begreift den Vorgang des Umschreibens (die Transkription) als Lesbarmachung: »Eine Transkription wird zu dem Zweck durchgeführt, unlesbare oder aufgrund von Veränderungen des Kontextes unlesbar gewordenes kulturelles Wissen für einen bestimmten Adressatenkreis wieder lesbar zu machen.«107 Es gibt also ein Archiv, ein kulturelles Gedächtnis, ein Reservoir an Präskripten, daraus wird etwas herausgenommen, transkribiert, und das Ergebnis wandert anschließend wieder in das Archiv hinein. Auf diese Weise vermittelt die Transkription über das Archiv zwischen Vergangenheit und Zukunft – ein Vorgang, der auch bei den Videoklonen im Internet zu erkennen ist. Die Videoclips, die gelöscht wurden und damit nicht mehr lesbar waren, tauchen als Videoklone wieder auf, und über seine Klone verbreitet sich ein Videoclip auf Bereiche, z.B. Pornoseiten, die zuvor nicht erreichbar waren. In diesen Vorgängen werden die Videoklone stets auch rekontextualisiert, sie treten in eine neue Umgebung, erhalten andere Beschreibungen, Erklärungen und

104 Ebd. S. 11. 105 Jäger, Ludwig; Jarke, Matthias, Klamma, Rolf; Spaniol, Marc (2010): Transkriptivität. Operative Medientheorien als Grundlage von Informationssystemen für die Kulturwissenschaften, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 299-313, hier S. 301. Hervorhebung im Original. 106 Ebd. Hervorhebung im Original. 107 Ebd.

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Kommentare, doch bereits die Videoklone selbst sind mit dem Original niemals identisch. Hier betont die Transkriptivitätstheorie, dass die Inhalte verändert, übersetzt, readressiert werden: »Transkriptionen sind insofern immer Readressierungen, die eine Skriptur von ihrer alten semantischen Rahmung, d.h. von ihren ›ursprünglichen‹ Zirkulations- und Lokalisierungsbedingungen trennen, um sie semantisch und ästhetisch zu reinszenieren.«108

Hier zeigt sich auch die von Benjamin theoretisierte Befreiung und Aktualisierung des Reproduzierten. Auch die Transkriptivitätstheorie besagt, dass die Lösung vom bisherigen Bedeutungszusammenhang eine neue Rezeption ermöglicht: »Transkriptionen tilgen gleichsam die präskripturalen Umgebungen der Skripturen, die sie herausgreifen, und versehen sie mit neuen Rahmungen und neuen Adressen und damit mit neuen lokalen Bedingungen ihrer semantischen und ästhetischen Rezipierbarkeit.«109 Interessant ist, dass die Herausgeber des Sammelbandes in ihrer einleitenden Fußnote zu Jäger und Jarkes Beitrag betonen, dass es sich um einen Mikromechanismus handelt, der, wenn er hoch gerechnet wird, Strukturen generiert, die jedoch von den Beteiligten nicht intendiert sind: »Diese Strukturen […] sind von keinem der Beteiligten intendiert; sie ergeben sich aus der Summe der verteilten Praxen aller, die an der Zirkulation und an der Transkription beteiligt sind.«110

Kommunikationspathologien: Der Klon als imperfekte Kopie Bereits im Jahr 1983 stellte der Sprachwissenschaftler Nicholas Howe fest, dass der Begriff des Klons in der allgemeinen Wahrnehmung fälschlicherweise – aber hartnäckig – mit einer zumindest auf der visuellen Ebene identischen Kopie assoziiert wird.111 Paradoxerweise konstatierte Howe aber ebenso, dass die Bezeichnung »Klon« im allgemeinen Sprachgebrauch nicht nur die pejorative Bedeutung einer zwar perfekten, aber sklavischen Kopie beinhaltet, sondern gleichzeitig auch für einen Verlust an Qualität steht. Trotz einer vollkommenen Übereinstimmung soll der Klon demnach qualitativ schlechter sein: »The implication that a decline in quality accompanies cloning […] is quite frequent.112 Hier sei erneut an Mitchells Feststellung erinnert, dass es die perfekte Kopie nicht gibt.113 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es mit den zahlreichen Videoklonen aussieht – schließlich

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Ebd. S. 304. Hervorhebung im Original. Ebd. Hervorhebung im Original. Ebd. S. 299. Fußnote Nr. 1, Anmerkung der Herausgeber. Howe (1983): Further Thoughts on Clone, S. 61. Ebd. S. 64. Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 164.

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sind diese keine Lebewesen, sondern kopierte Daten. Folgt man der ersten Intuition, würde man sagen, dass es sich dabei um identische, perfekt duplizierte weil digitale Daten handeln muss. Unter dem Stichwort Kopierverlust stellt Hartmut Winkler aber fest, dass Reproduktion immer mit Kopierverlusten verbunden ist, selbst bei digitalen Kopien: »Im Digitalen kann man Kopierverluste durch Prüfalgorithmen gezielt minimieren.«114 Die Wortwahl ist hier entscheidend; Kopierverluste lassen sich minimieren, aber nicht eliminieren. Tatsächlich scheint es, als handele es sich bei Kopierverlusten um einen ganz alltäglichen Vorgang, der keineswegs an technische Reproduktionsvorgänge gebunden ist. Sybille Krämer stellt Kommunikationspathologien fest, die sie unter Rückgriff auf Michel Serres als ein wesentliches und nicht zu beseitigendes Moment jeglicher Kommunikation definiert: »Stets wird die konventionalisierte Form deformiert durch die individuellen Bedingungen ihrer Hervorbringung. Kommunikationspathologien aller Art modifizieren die Mittel der Informationen. In der Schrift können dies falsch gesetzte Striche oder orthographische Fehler sein, im Sprechen Dialekte oder ein Stammeln, im Film ein Flimmern und mangelnde Synchronisation etc. In all diesen Modifikationen ist das Notwendige vom Zufälligen, ist das Konventionelle von dem Einmaligen gezeichnet. Anders ausgedrückt: Die kommunikative Form tritt auf nur im Verein mit einem Rauschen, welches für Serres ein nicht eliminierbares ›wesentliches Moment der Kommunikation‹115 darstellt.«116

Bei genauerer Betrachtung lassen sich auch bei Videoklonen Kopierverluste und Kommunikationspathologien beobachten. Crockers Videoclip bietet sich zur Beobachtung von Qualitätsverlusten jedoch nicht an, da er bereits im Original eine äußerst schlechte Qualität aufwies. Wenn aber bereits das Ausgangsbild unscharf ist, dann lässt sich eine weitere Verschlechterung der Qualität kaum mehr nachweisen. Die beste Ausgangsqualität aber besitzt professionelles Bildmaterial. Daher soll hier ein Recyclingvideo als Beispiel dienen, in dem Material der Zeichentrickserie SpongeBob SquarePants (SpongeBob Schwammkopf) mit dem Ton aus Crockers Video kombiniert wurde: Leave Britney Alone Spongebob117 des Nutzers webdesigner90210 (Abb. 8, oben). Dieser Clip wurde am 15. Dezember 2007 veröffentlicht, also etwa drei Monate nach Crockers Video.

114 Winkler (2008): Basiswissen Medien, S. 228. 115 Serres, Michel (1991; 1968): Der Platonische Dialog und die intersubjektive Genese der Abstraktion, in: Serres, Michel: Hermes I – Kommunikation. Berlin: Merve, S. 47-56, hier S. 49. Hervorhebung im Original. Zitiert in: Krämer (2008): Medium, Bote, Übertragung, S. 71. 116 Krämer (2008): Medium, Bote, Übertragung, S. 71. 117 Ebd.

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Abb. 8: Zwei Videoklone des SpongeBob-Recyclingvideos (2007)118 Leave Britney Alone Spongebob kombiniert die Tonspur aus Crockers Original über die volle Länge mit Bildern aus der Zeichentrickserie. Es wird nicht deutlich, ob die Bilder dabei aus nur einer Folge stammen, oder ob sie aus unterschiedlichen Folgen zusammengestellt wurden. Sicher ist, dass viel Aufwand betrieben wurde, um zum Tonfall und zum Gesagten passendes Bildmaterial zu finden und aneinander zu

118 Oben: Leave Britney Alone Spongebob-Video des Nutzers webdesigner90210 ‹http://ww w.youtube.com/watch?v=ONcsXbRqV8U›, unten: Spongebob: »Leave Britney alone!« Spongebob des Nutzers shaggyman ‹http://www.metatube.com/en/videos/5654/Spong ebob-Leave-Britney-alone-Spongebob/› [14. April 2011].

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montieren, so dass der Videoclip im Ergebnis äußerst effektvoll ist. Tatsächlich ist die Kombination der Bilder mit der Tonspur derart gelungen, dass ein Betrachter der Illusion erliegen könnte, dass es sich um einen Ausschnitt einer echten SpongeBob-Folge handelt. Leider aber kann man über diesen Produzenten nur sagen, dass es sich mit Sicherheit nicht um webdesigner90210 handelt. Bei dem hier besprochenen Videoclip handelt es sich nämlich selbst schon um einen Klon. Das Original und sein Schöpfer wurden vermutlich gelöscht und sind nicht mehr auszumachen. Dass es sich bei webdesigner90210 höchstwahrscheinlich nicht um den Schöpfer des SpongeBob-Recyclingvideos handelt, zeigt ein anderer Videoklon: Spongebob: »Leave Britney alone!« Spongebob119 (Abb. 8, unten) des Nutzers shaggyman. Dieser Videoclip wurde am 17. November 2007 vom Nutzer shaggyman auf einer anderen Videoplattform, MetaTube.com, hochgeladen, also etwa zwei Monate nach Erscheinen von Crockers Originalvideo. Beim Vergleich der beiden Videoklone fällt auf, dass der ältere in seinen Bildproportionen stark verzerrt ist. Der zuvor besprochene jüngere Videoklon, sowie die Mehrheit der anderen, noch jüngeren Videoklone weisen diese Anamorphose nicht auf. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass der Produzent des jüngeren Videoclips sich die Mühe gemacht hat, die Verzerrung des älteren Videos herauszurechnen. Viel wahrscheinlicher ist hingegen, dass beide Videoklone einen gemeinsamen, nicht verzerrten Vorgänger haben. Um den Produzenten des originalen Recyclingvideos wird es sich folglich bei beiden nicht handeln. Bei den Recherchen zur vorliegenden Arbeit ist es allerdings nicht gelungen, einen noch älteren Videoklon des SpongeBob-Recyclingvideos zu finden als shaggymans verzerrte Version vom 17. November 2007 (Abb. 8, unten). Da die Mehrheit der SpongeBob-Videoklone korrekte Bildproportionen aufweist, stellt sich aber die Frage, warum dieses Video überhaupt derart gestreckt/gestaucht ist. Allem Anschein nach gestaltet sich das Problem der Kopierverluste im Fall der Videoklone etwas komplexer, denn es beschränkt sich nicht auf den Akt der Reproduktion. So gibt es zwei Übertragungswege (Speichern und wieder Hochladen) mit potentiellen Störungen, Unterbrechungen, Verlusten etc., sowie automatisierte Bearbeitungsroutinen der Videoplattformen, auf die der Nutzer keinen Einfluss hat. Unter Umständen werden die Videodaten in ein anderes Format (mit anderen Bildproportionen) konvertiert, oder die Videoplattform verändert die Metadaten der Datei, etwa um das Datum der Erstellung zu verändern oder um ein digitales Wasserzeichen zuzufügen. Doch allein schon das automatisierte Konvertieren in ein anderes Videoformat kann dank unterschiedlich aggressiver oder verlustbehafteter Komprimierungen zu sogenannten compression artifacts führen. So kommt es beim

119 ‹http://www.metatube.com/en/videos/5654/Spongebob-Leave-Britney-aloneSpongebob/› [14. April 2011].

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Videoklon z.B. zur Blockbildung, oder die Konturen und Farben können verschwimmen. Unter Umständen kann durch die automatisierten Prozesse eine Ästhetik erzeugt werden, die zwar bewusst von Künstlern120 eingesetzt wird (glitch art), die aber nicht im Interesse der Nutzer und Betreiber der Videoplattformen selbst ist. Ein extremes Beispiel in diesem Zusammenhang stellt der Videoklon Spongebob: leave britney alone121 (Abb. 9, oben) des Nutzers machokyle dar. Dieser am 4. September 2008 veröffentliche Videoklon des SpongeBob-Recyclingvideos weist nicht nur eine drastisch verschlechterte Bildqualität auf, er hat darüber hinaus auch keinen Ton mehr. Entsprechend enttäuscht fallen die drei Kommentare aus, die dieser Videoclip erhalten hat: Der Nutzer raybrundle kommentiert trocken: »No sound you shouldn’t have uploaded it«, ein Nutzer namens hamsterattack227 fordert auf: »put sound«, und der erste Kommentar überhaupt, getätigt von dem Nutzer madwebkinzgirl, lautet: »coppyer«.122 Somit entlarvt der älteste und erste Kommentar den Nutzer machokyle bereits als Plagiator. Der Clip ist aber trotzdem bemerkenswert, handelt es sich doch bei ihm nicht um einen Videoklon im eigentlichen Sinne. Nicht nur dass der Ton fehlt, hinzu kommt noch, dass das Bild verwackelt und unscharf ist, die Farben sind verfremdet, und am Rand fehlen Bildbereiche, so dass der Videoclip insgesamt wie heran gezoomt, wie ein Blow-Up wirkt. Als letztes Indiz erscheint kurz vor Ende des Clips eine angeschnittene und kaum zu erkennende Kommentarsprechblase, die normalerweise nicht – wie hier – im Bild fixiert ist, sondern von YouTube über das Bild gelegt wird. Dies alles deutet auf eine Praxis hin, die sich auf den Videoplattformen öfter beobachten lässt: Die Nutzer haben ihre Videos vom Bildschirm oder vom Fernseher abgefilmt um sie anschließend hoch zu laden. Wie bereits erwähnt bieten die Videoplattformen grundsätzlich keine Möglichkeit, die Clips zu speichern. Eine Speicherung der Videos ist erst nach der Installation von Plug-ins bzw. Add-ons möglich. Scheinbar verfügen aber viele Nutzer nicht über dieses Wissen, oder das Installieren dieser Erweiterungen stellt eine zu große Herausforderung dar. Da die Reproduktion des Videoclips aber durch Abfilmen erfolgte, handelt es sich – folgt man der Definition Mitchells – um eine technische Reproduktion im Sinne Benjamins, und nicht um eine biokybernetische Reproduktion. Deutlich wird an diesem Beispiel auch, dass die Qualitätsverluste bei technischer Reproduktion ungleich höher sind als bei einem genuinen Videoklon.

120 Zum Beispiel von dem deutschen Fotograf Thomas Ruff. Auch im Bereich der Videokunst wird eine entsprechende Technik eingesetzt, das sogenannte datamoshing. Datamoshing (»Pixel Bleed«) wird vor allem von Künstlern wie Sven König, Takeshi Murata, Paul B. Davis und dem Künstlerkollektiv Paper Rad angewandt, aber auch in popkulturellen Erzeugnissen wie (offiziellen) Musikvideos. Vgl.: ‹http://rhizome.org/editori al/2009/feb/25/pixel-bleed/› [5. Mai 2011]. 121 ‹http://www.youtube.com/watch?v=dQ2n5yGLCjw› [14. April 2011]. 122 Ebd.

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Abb. 9: Qualitätsverluste bei verschiedenen SpongeBob-Videoklonen123

123 Oben: Spongebob: leave britney alone des Nutzers machokyle ‹http://www.youtube.co m/watch?v=dQ2n5yGLCjw›, Unten: Vergleich der Bildqualität fünf verschiedener SpongeBob-Videoklone. Quellen der Screenshot-Ausschnitte (von links nach rechts): ‹http://www.metacafe.com/watch/1393160/spongebob_leave_britney_alone/›, ‹http://w ww.youtube.com/watch?v=-GycnB-k6qc›, ‹http://www.youtube.com/watch?v=AIAxgF by7vA›, ‹http://www.youtube.com/watch?v=ChAEA9VTNCM›, ‹http://www.youtube.c om/watch?v=5BJPHBUcnfw› [1. Juni 2011].

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Bei den bisherigen Beispielen handelte es sich um recht deutliche, in nur einem Schritt erfolgte Kopierverluste. Tatsächlich gibt es aber auch graduell verlaufende, generative, prozesshafte Veränderungen der Videoclips. Dies wird deutlich, wenn man Generationen betrachtet. Hartmut Winkler schreibt zu diesem Stichpunkt: »Macht man Kopien von Kopien, entstehen Generationen. Hier können sich die Kopierverluste dramatisch steigern; jeder Fehler, der einmal in der Kette ist, bleibt erhalten; wie bei der ›stillen Post‹ haben Fehler die fehlerhafte Eigenschaft, sich zu summieren. Kopierverluste sind ernst, weil sie eine Korruption der symbolischen Prozesse bedeuten. Wie die materielle Beharrung durch den materiellen Verfall, wird die Wiederholung durch den Kopierverlust untergraben.«124

Auch im Fall des SpongeBob-Recyclingvideos lässt sich eine derartige »Korruption symbolischer Prozesse« beobachten (Abb. 9, unten). Der Vergleich der Bildqualität fünf verschiedener SpongeBob-Videoklone zeigt eine deutliche Verschlechterung der Qualität von links nach rechts. Wenn man einmal von den Anamorphosen absieht, die an den dem Bild hinzu gefügten schwarzen Balken deutlich werden, so zeigt sich an den Konturen und Linien SpongeBobs eine zunehmende Unschärfe. Besonders deutlich wird diese, wenn man den Hintergrund im oberen Bilddrittel betrachtet. Am Anfang ist hier noch eine Struktur zu erkennen, diese ist bei den letzten Videoklonen ganz rechts zu einer verschwommenen, diffusen Fläche geworden. Wenn man Mitchells Bild der digitalen Bilddaten als »DNA of the image«125 noch einmal aufgreifen möchte, dann könnte man sagen, dass die zahlreichen Reproduktionen die verschiedenen Stufen eines digitalen Alterungsprozesses wiedergeben. Dieser wäre bei der Reproduktion digitaler Daten eigentlich nicht zu erwarten, erinnert er doch an Effekte, die der Copy-Art-Künstler Klaus Urbons als xerografische Copystrukturen eines Fotokopierers bezeichnet: »Die xerografischen Copystrukturen sind nicht, wie etwa das fotografische Korn, von vornherein festgelegt, sondern dynamisch. Durch den generativen Kopierprozess werden sie fortlaufend erzeugt und transformiert. Ihre Entstehung verdanken sie einer visuellen Rückkoppelung im Kopierautomaten: Jeder Kopierer verstärkt sich in diesem Prozeß sozusagen selbst, und aus diesem Grund produzieren verschiedene Gerätetypen und Kopiervorlagen auch sehr unterschiedliche Copystrukturen von identischen Vorlagen.«126

124 Winkler (2008): Basiswissen Medien, S. 228. 125 Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 124. 126 Urbons (1991): Copy Art, S. 187.

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Abb. 10: Timm Ulrichs Interpretation von Benjamins Kunstwerkaufsatz (1967)127 Urbons beschreibt weiterhin, dass die auftretenden Kopierverluste, die bei den frühen Geräten natürlich wesentlich stärker waren, sowie unorthodoxe Nutzungsmöglichkeiten rasch das Interesse von Künstlern128 weckten: »Durch eher zufällige Begegnungen mit diesen unorthodoxen Spielarten der Fotokopie wurden auch etliche Künstler auf das hier schlummernde Potential aufmerksam und bezogen die Fotokopie in ihre Arbeit ein. Einige von ihnen widmeten dem neuen Medium ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Zudem bot sich der Kopierer, für die rasche Multiplikation von Texten und Bildern bestens geeignet, für die in den siebziger Jahren aktuelle Concept Art als Werkzeug an: So wurden die künstlerischen Konzepte durch die Über-

127 Timm Ulrichs: ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ – Interpretation: Timm Ulrichs. Die Photokopie der Photokopie der Photokopie der Photokopie (1967), Buchobjekt, 29,7 x 21 cm, ‹http://www.wentrupgallery.com/artist/timm _ulrichs/work/tumm_4› [1. Juni 2011]. 128 Die Copy Art erreichte ihren ersten Höhepunkt Anfang der 1970er in den USA und Kanada, allerdings setzten sich bereits seit den 1960er Jahren Künstler mit Kopiergeräten auseinander. So hatte der italienische Künstler und international bekannte Designer Bruno Munari mit seinen Xerografie Originali bereits 1964 mit seinen systematischen Untersuchungen des künstlerischen Potentials der Fotokopie begonnen. Neben Sonia Landy Sheridan als ›grande dame‹ der Copy Art wären unter anderem Ray Johnson, Barbara Smith, Tyler James Hoare, Charles Arnold Jr., Wallace Borman, Michael Bidner, Esta Nesbitt, Tom Norton, Paul Armand Gette, Amal Abdenour, Nicole Metayer, Gil Wolmann, Joseph Beuys und Timm Ulrichs zu nennen.

118 | U NDERSTANDING Y OU T UBE setzung mittels Fotokopie noch weiter auf das Wesentliche reduziert. Das ärmliche, grauverschleierte Aussehen der frühen Zinkkopien korrespondierte mit der gewollten bildnerischen Askese der Concept Art und der Arte povera.«129

Besonders interessant im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist eine Arbeit des Konzeptkünstlers Timm Ulrichs aus dem Jahr 1967: »Die Photokopie der Photokopie der Photokopie...«. Bei dieser Arbeit kopierte Ulrichs eine Seite aus einem Lexikon mit der Definition des Begriffs »Photokopie«, diese Kopie wurde anschließend zur Vorlage für die nächste Kopie etc.130 Laut Urbons führte Ulrichs mit dieser Copy Generation »die Entropie von Text- und Bildinformation durch die endlose Wiederholung des Kopiervorgangs vor Augen«.131 Bei einem Remake seines Kopierkunst-Klassikers verwendetet Ulrichs – durchaus passend – das Buchcover von Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit als Vorlage (Abb. 10).132 Kopierverluste: Ein sich fortlaufend verschleiernder Automatismus Es soll hier jedoch nicht wie etwa bei dem Künstler De Gracia darum gehen zu beurteilen, ob die Kopie tatsächlich »schöner ist als das Original«133; entscheidend ist, dass sich in der Auflösung der motivischen Gebundenheit der Vorlage, in ihrem Zerfallen in Punkte, Linien und Grauschleier ein Prozess ausdrückt, der weder von den Nutzern, noch von den Geräteherstellern oder -besitzern intendiert ist. Dieser Aspekt wird von der Medienwissenschaftlerin Christina L. Steinmann in ihrem Beitrag zum Sammelband Automatismen thematisiert. Wie Ulrichs verfolgte Steinmann die Entwicklung einer Copy Generation, allerdings diente ihr das Buch Déjà Vu von Hillel Schwartz als Vorlage (Abb. 11). Doch trotz zwischenzeitlich technisch verbesserter Kopiergeräte verlaufen die medienästhetischen Experimente ähnlich:

129 Urbons (1991): Copy Art, S. 96/98. 130 Vgl.: Schnurr, Ansgar (2008): Über das Werk von Timm Ulrichs und den künstlerischen Witz als Erkenntnisform. Analyse eines pointierten Vermittlungs- und Erfahrungsmodells im Kontext ästhetischer Bildung. Studien zur Kunstdidaktik. Bd. 8. Dortmund: Dortmunder Schriften zur Kunst., S. 87. 131 Ebd. S. 110. 132 Schwartz, Hillel (1998): The Culture of the Copy. Striking Likenesses, Unreasonable Facsimiles. New York: Zone Books, S. 239. 133 Vgl.: De Gracia, Silvio (2010): Copy Art y Electrografía. Cuando la copia es más bella que el original, in: Malabia. ‹http://www.dataexpertise.com.ar/malabia/sitio/nota.php?n umero=49&mes=0&ano=2010&nroAno=7&imagen=tapa.jpg&idNota=350› [14. 10. 2011].

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Das »Ergebnis zeigt, dass von Kopie zu Kopie das Bild immer schwächer wird, bis es schließlich, unkenntlich zerstreut, völlig verschwindet. Die Ausgangsinformation, hier der Text des Titels, ist nach über 300 Kopierseiten nicht mehr entzifferbar, nicht einmal mehr zu erahnen. Nach der 440sten Kopie ist das Blatt weiß. Das Motiv ist wegkopiert, die Übertragung hat es gelöscht.«134

Zwar ist die Reproduktionstechnik im Fall der Videoklone ungleich exakter als die technische Reproduktion eines Bürokopierers, doch nach einer entsprechend erhöhten Anzahl von Generationen ist auch im Fall digitaler Daten denkbar, dass eine Information »wegkopiert« wird. Steinmann verallgemeinert dementsprechend ihre Beobachtung auf Wiederholungs- und Übertragungsprozesse im Allgemeinen: »Ein Wiederholungsprozess, die Reproduktion einer Information, hat diese zum Verschwinden von der sichtbaren Oberfläche gebracht. […] Übertragungsprozesse schlagen sich auf jeden Fall in den zirkulierenden Objekten nieder, sie prägen und formen diese. Das weiße Blatt ist Resultat eines Prozesses, dessen Ursprung sich fortlaufend mehr verschleiert.«135

Die Frage ist aber, wie man diesen fortlaufenden Prozess des »Wegkopierens« benennen könnte. Steinmann schlägt dafür den Begriff des »Automatismus« vor: »Eine Erhaltung von Normen oder unbewusstem Wissen durch ständige transgenerationale Wiederaufführung ist keineswegs immer gesichert. Automatismen können, völlig unvermutet, auch etwas Neues hervorbringen und sie können ebenso Altes löschen. Ein gutes Beispiel hierfür sind mediale Übertragungs- und Speicherprozesse. Ein Automatismus von Verlust und Neugenerierung scheint das symbolische Universum zu durchziehen – und eine sichere Verwahrung zu bedrohen. Zeichen verdichten sich, bilden sich aus oder um, verändern sich durch die Fortdauer ihrer Nutzung.«136

Ein Automatismus von Verlust und Neugenerierung durchzieht demnach, so Steinmann, das symbolische Universum, die Frage ist aber, was genau unter einem Automatismus zu verstehen ist und ob sich dieser Begriff auch auf die Welt der Videoclips im Internet anwenden lässt, eine Welt, die zweifellos dem symbolischen Universum zuzurechnen ist.

134 Steinmann, Christina L. (2010): These 11: Automatismen wirken bedrohlich – und faszinierend, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 120-125, hier S. 122. 135 Ebd. S. 122/124. 136 Ebd. S. 122.

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Abb. 11: Zehn Stationen aus der Kopierreihe eines Buchdeckels (2011)137

137 Ebd. S. 123.

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In ihrem Sammelband Automatismen weisen die Herausgeber gleich zu Anfang ihrer Einleitung darauf hin, dass man Abläufe als Automatismen bezeichnet, wenn diese »sich einer bewussten Kontrolle weitgehend entziehen.« 138 Die Herausgeber schreiben weiter: »Automatismen bringen – quasi im Rücken der Beteiligten – neue Strukturen hervor; dies macht sie interessant als ein Entwicklungsmodell, das in Spannung zur bewussten Gestaltung und zu geplanten Prozessen steht. Automatismen scheinen insbesondere in verteilten Systemen wirksam zu sein; Automatismen sind technische, bzw. quasitechnische Abläufe, gleichzeitig stehen sie in Spannung zum Konzept des Automaten.«139

Diese Eigenschaften sind im Fall der Videoklone erfüllt, handelt es sich doch deutlich um einen nicht intendierten und nicht geplanten Prozess, der hinter dem Rücken der Beteiligten Strukturen wegkopiert – und gleichzeitig andere hervorbringt. Dabei handelt es sich um einen bottom-up Prozess, denn es sind die Beteiligten selbst, die mit ihren für sie nur opaken Nutzungsprozessen mit unintendierten Folgen140 für überraschende und ungeplante Ergebnisse sorgen. Dass es sich bei den Videoplattformen um ein verteiltes System 141 handelt, wird daran deutlich, dass unzählige einander unbekannte Akteure unabhängig voneinander und ohne zentrale Lenkung handeln, wobei ein koordiniertes Verhalten, das sich spontan bildet und größtenteils temporär bleibt, nicht ausgeschlossen ist. Das Beispiel des Videoklonens als deviante Medienpraxis hat außerdem gezeigt, dass auch die Kontrolle der einzelnen Videoplattformen, auf deren Gestaltung die Nutzer in der Regel keinen Einfluss haben, begrenzt ist und leicht ausgehebelt werden kann. Entscheidend bei Automatismen ist Folgendes: »Sie verdanken sich nicht dem Willen eines planvoll handelnden Subjekts, der sich in ihnen manifestiert, sondern sind Bestandteil eines wirkmächtigen Arrangements von Dingen, Zeichen und Subjekten.«142 Ich selbst weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass man von einem Automatismus nur dann sprechen kann, wenn keine äußeren Zwänge vorherrschen, die auf das Geschehen determinierend wirken, ein Automatismus braucht mögliche Alternativen:

138 Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (2010): Einleitung, S. 9. 139 Ebd. Hervorhebung im Original. 140 Vgl. Winkler, Hartmut (2010): These 8: Es gibt eine spezifische Opazität des Handelns, und Handlungen haben unintendierte Folgen. Beides ist relevant für ein Verständnis der Automatismen, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 110113. 141 Vgl.: Bengel, Günther; Baun, Christian; Kunze, Marcel; Stucky, Karl-Uwe (2008): Masterkurs Parallele und Verteilte Systeme. Grundlagen und Programmierung von Multicoreprozessoren, Multiprozessoren, Cluster und Grid. Wiesbaden: Vieweg+Teubner. 142 Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (2010): Einleitung, S. 10.

122 | U NDERSTANDING Y OU T UBE Automatismen sind abzugrenzen »von Anpassungen; liegen äußere Gründe oder Sachzwänge vor, würde man von einer Anpassung und nicht von einem Automatismus sprechen. Mit anderen Worten: Ein Automatismus kann so sein, hätte aber auch ganz anders sein können.«143

Entscheidendes Merkmal eines Automatismus ist, dass es kein planvoll handelndes Subjekt gibt, doch in einigen Fällen können Sachzwänge und ein wirkmächtiges Arrangement von Dingen die Rolle eines determinierenden Dritten einnehmen. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein bereits angeführtes Zitat des Copy-ArtKünstlers Klaus Urbons. Dieser charakterisierte die generativen Copystrukturen zwar als dynamisch und fortlaufend erzeugt, gleichzeitig aber – und hier liegt das Problem – wies er darauf hin, dass verschiedene Gerätetypen von identischen Vorlagen sehr unterschiedliche Copystrukturen produzieren.144 Letzteres deutet darauf hin, dass bestimmte Merkmale der Copystrukturen durch den Gerätetyp determiniert sind, so dass sie sich im Wiederholungsfall wahrscheinlich ähnlich wieder abzeichnen werden. Festgelegt ist auch die Richtung der Entwicklung dieser Copystrukturen: Die Qualität verschlechtert sich im Verlauf des Kopierens immer, das Verschwinden der Informationen wird so aber absehbar und – in gewissem Maße – planbar. Diese Überlegungen bezogen sich jedoch auf das Kopiergerät, und nicht auf die Qualitätsverluste der Videoklone. Denn obwohl die Abbildungen (Abb. 9, unten für die Videoklone und Abb. 10 bzw. Abb. 11 für die Copystrukturen) sich sehr ähnlich sind, gibt es doch einen fundamentalen Unterschied: Bei den Copystrukturen der Kopiergeräte stimmte die zeitliche Abfolge mit den Qualitätsverlusten überein, bei den Videoklonen war dies aber nicht der Fall. Die Abbildung zeigt fünf Ausschnitte aus Screenshots von verschiedenen Videoklonen, sie wurden – um die Gemeinsamkeiten mit den Copystrukturen zu betonen – nach ihrer Qualität und nicht nach dem Datum ihrer Veröffentlichung sortiert: Der erste Videoclip mit der besten Qualität, ganz links, stammt vom 16. Juni 2008145 , der rechts neben ihm vom 28. August 2008146, der Videoclip in der Mitte ist vom 9. April 2008147, der rechts von ihm vom 13. Januar 2009148, und der Videoclip ganz rechts vom 14. November 2009149. Zwar stimmt auch hier der Verlust an Qualität grob mit dem zeitlichen Verlauf überein, doch das Beispiel in der Mitte zeigt, dass zumindest mit Überra-

143 Marek, Roman (2010): These 6: Von Automatismen kann man nur dann sprechen, wenn keine äußeren Zwänge vorliegen, Automatismen brauchen Alternativen, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 102-107, hier S. 105. 144 Urbons (1991): Copy Art, S. 187. 145 ‹http://www.metacafe.com/watch/1393160/spongebob_leave_britney_alone/› 146 ‹http://www.youtube.com/watch?v=-GycnB-k6qc› 147 ‹http://www.youtube.com/watch?v=AIAxgFby7vA› 148 ‹http://www.youtube.com/watch?v=ChAEA9VTNCM› 149 ‹http://www.youtube.com/watch?v=5BJPHBUcnfw› [Alle Videoclips: 1. 6. 2011]

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schungen zu rechnen ist: Zu einem späteren Zeitpunkt können plötzlich Videoklone mit sehr guter Qualität auftauchen, und die ältesten Videoklone müssen nicht unbedingt die mit der besten Bildqualität sein. Damit aber ist die Existenz einer lineraren Verkettung grundsätzlich in Frage gestellt, so dass man eher von sich verzweigenden, parallel verlaufenden Strukturmustern sprechen müsste. Dieser Aspekt der Unvorhersagbarkeit, des Überraschenden muss als Hinweis auf einen Automatismus gelesen werden, denn es gibt eben nicht nur – wie bei den Kopiergeräten – den zu erwartenden Fall, dass die Qualität jüngerer Versionen (d.h. der Kopien der Kopie) schlechter ist als die älterer Versionen (d.h. des Original bzw. der Vorgänger). Vielmehr kann es durchaus vorkommen, dass ältere Versionen eine schlechtere Qualität aufweisen als jüngere. In dem vorliegenden Beispiel bietet nicht etwa der älteste (bekannte) Videoclip vom 17. November 2007 (Abb. 8, unten) die beste Qualität, sondern einer, der erst am 16. Juni 2008 veröffentlicht wurde (Abb. 9, unten, ganz links). Dies deutet darauf hin, dass einerseits Qualitätsverschlechterungen mitunter drastisch ausfallen und plötzlich auftreten können, und dass andererseits nicht immer auf den chronologisch am nächsten liegenden Vorgänger zurück gegriffen wird, sondern vielleicht auf eine noch ältere Version besserer Qualität. Mit anderen Worten: Man hält sich nicht unbedingt an die zeitliche Abfolge, sondern greift mitunter wieder auf das Original oder einen älteren Vorgänger zurück. Hier zeigt sich eine Regellosigkeit, die bei Christina L. Steinmann nicht gegeben war. An dem von Steinmann angeführten Beispiel, bei dem vom selben Gerät immer die neueste Kopie von der zuvor gemachten Kopie hergestellt wurde, lässt sich einwenden, dass der Verlust der Information immer noch von der technischen Apparatur determiniert sein könnte. Bei den Videoklonen hingegen zeigt sich, dass der zeitliche Verlauf nicht unbedingt an den Verlust von Qualität gekoppelt ist – woraus sich ein Automatismus ableiten lässt. Damit lässt sich das Auftreten der Videoklone als Automatismus charakterisieren, denn die aufgetretenen Strukturmuster hätten so, aber auch ganz anders sein können, sie lassen sich nicht aus den einzelnen Komponenten erklären, und sie entwickeln sich im Rücken und in den meisten Fällen sogar gegen den Willen der Beteiligten. Dem hier deutlich werdenden und bereits von Hartmut Winkler thematisierten »engen Bezug zur Wiederholung«150 soll noch weiter nachgegangen werden, den scheinbar ist die Wiederholung, hier repräsentiert durch die Videoklone, das verbindende Element von Zirkulation und Automatismen.

150 Winkler, Hartmut (2010): These 13: Automatismen haben einen engen Bezug zur Wiederholung, zur Gewohnheit und zur Schemabildung, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 234-236, hier S. 234.

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»Rauheit« als Verweis auf Körperlichkeit und Materialität Die sich im Videomaterial einschreibenden qualitativen Verluste könnten – übrigens ebenso wie durch Fehler und Störungen entstandene Artefakte und durch mangelnde Professionalität der Produzenten erzeugte technische Mängel in der Produktion – einem Phänomen zugeordnet werden, dass Roland Barthes im Hinblick auf Musik, Stimme und Gesang entwickelt hat: das Phänomen der »Rauheit«. In seinem 1972 geschriebenen, musikwissenschaftlich ausgerichteten Aufsatz Die Rauheit der Stimme (Le grain de la voix) betont Barthes die Bedeutung des Körpers für die Musik. Die vom Interpreten eingebrachte Körperlichkeit der Musik, so Barthes, spielt eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Klang- und Existenzform der nur in Form eines abstrakten Notentextes niedergelegten Musik: »Man höre einen russischen Baß [...]: Etwas ist da, unüberhörbar und eigensinnig (man hört nur es), was jenseits (oder diesseits) der Bedeutung der Wörter liegt, ihrer Form (der Litanei), der Koloratur und selbst des Vortragsstils: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, der in ein und derselben Bewegung aus der Tiefe der Hohlräume, Muskeln, Schleimhäute und Knorpel und aus der Tiefe der slawischen Sprache an das Ohr dringt, als spannte sich über das innere Fleisch des Vortragenden und über die von ihm gesungene Musik ein und dieselbe Haut. Diese Stimme ist nicht persönlich: Sie drückt nichts vom Sänger, von seiner Seele aus, sie ist nicht originell […] und ist dennoch gleichzeitig individuell: Sie läßt einen Körper hören, der zwar keine amtliche Existenz, keine ›Persönlichkeit‹ hat, aber dennoch ein abgesonderter Leib ist; und vor allem befördert diese Stimme über das Intelligible und das Expressive hinaus direkt das Symbolische: Das ist, als werfe man uns ein Paket vor die Füße […]. Die ›Rauheit‹ wäre demnach folgendes: die Materialität des Körpers, der seine Muttersprache spricht: vielleicht der Buchstabe; beinahe mit Sicherheit die Signifikanz.«151

Mit dieser »Rauheit« sind zwei Aspekte verbunden, die in Bezug auf die ebenfalls eine Ästhetik des Nicht-Perfekten und Rauhen aufweisenden Videoclips im Internet von großer Bedeutung sind: Erstens der Verweis auf Körperlichkeit, und zweitens die Faszination und Anziehung, die von der nicht mehr glatten Oberfläche ausgehen. Auch Theodor Adorno beschreibt diese Faszination in Bezug auf die literarische Sprache, weist aber zugleich darauf hin, dass der Gegensatz zwischen glatt und rauh nicht umstandslos verabsolutierbar ist, sondern in Bezug zu den Inhalten be-

151 Barthes, Roland (1990; 1972): Die Rauheit der Stimme, in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 269278, hier S. 271. Hervorhebungen im Original.

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wertet werden sollte: »Kurz, das Urteil über Kategorien wie glatt und rauh ist von ihrer Stellung zum dichterischen Gehalt selber nicht zu trennen.«152 Tatsächlich entspricht es dem ersten Reflex, die Rauheit als Fehlerhaftigkeit oder Beschädigung zu interpretieren. Barthes entwickelt hier jedoch eine Gegenposition indem er beschreibt, wie für ihn die Stimme in ihrer Belegtheit und Rauheit als Kombination aus Körper und Sprache zum Objekt des Begehrens wird: »Es gibt keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder des Abscheus: Es gibt keine neutrale Stimme und falls mitunter diese Neutralität, dieses Weiß der Stimme auftritt, so ist dies für uns ein grosses Entsetzen, als entdeckten wir mit Schrecken eine erstarrte Welt, in der das Begehren tot wäre «153

Die erotische Kraft entwickelt sich folglich aus der Fähigkeit der Stimme, das Bild eines Körpers zu transportieren: »Die ›Rauheit‹ ist der Körper in der singenden Stimme, in der schreibenden Hand, im ausführenden Körperteil.«154 In einem Interview aus dem Jahr 1973 weist Barthes darauf hin, dass die sich über die Stimme entwickelnde Beziehung zwischen Rezipienten und Interpreten eine höchst individuelle, nicht objektivierbare ist: »Die Körnung einer Stimme ist nicht unsagbar (nichts ist unsagbar), aber ich glaube, man kann sie nicht wissenschaftlich definieren, denn sie beinhaltet eine gewisse erotische Beziehung zwischen der Stimme und demjenigen, der sie hört. Man kann also die Körnung einer Stimme beschreiben, jedoch nur durch Metaphern.«155

Eine interessante Verknüpfung von Stimme und Körperlichkeit gibt es in dem Roman 1984 von George Orwell. Der Protagonist des Romans, Winston, fühlt sich von einer Stimme, die aus dem Hof durch das Fenster zu ihm dringt, angezogen: »Draußen vor dem Fenster sang jemand. Winston lugte unter dem Schutz des Musselinvorhangs hinaus. Die Junisonne stand noch hoch am Himmel, und drunten auf dem besonnten Hof stapfte ein Monstrum von Frau, wuchtig wie eine romanische Säule, mit stämmigen roten Unterarmen und einer um ihre Taille gebundenen Sackleinwandschürze, zwischen einem Waschfaß und einer Wäscheleine hin und her […]. So oft ihr Mund

152 Adorno, Theodor W. (1986): Bei Gelegenheit von Wilhelm Lehmanns ›Bemerkungen zur Kunst des Gedichts‹, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Band 11. Noten zur Literatur IV. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 9906-9911., hier S. 9908. 153 Barthes, Roland (1990; 1982): Die Musik, die Stimme, die Sprache, in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 279-286, hier S. 280. 154 Barthes (1990): Die Rauheit der Stimme, S. 277. 155 Barthes, Roland (2002): Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 204.

126 | U NDERSTANDING Y OU T UBE nicht durch Wäscheklammern verschlossen war, sang sie mit mächtiger, tiefer Altstimme: ›Es war nur ein tiefer Traum, Ging wie ein Apriltag vorbei-ei, Aber sein Blick war leerer Schaum, Brach mir das Herz entzwei-ei!‹ Das Lied wurde während der letzten Wochen von ganz London geträllert. Es war einer von zahlreichen ähnlichen Schlagern, die für die Proles von einer Unterabteilung der Fachgruppe Musik herausgegeben wurden. Der Wortlaut dieser Lieder wurde ohne jedes menschliche Zutun von einem sogenannten ›Versificator‹ zusammengestellt. Aber die Frau sang so melodiös, daß aus dem fürchterlichen Blödsinn beinahe ein hübsches Liedchen wurde.«156

Der von einer Maschine komponierte Schlager wird in den Ohren Winstons dank der Interpretation der Frau aus dem Hof zu einem ›beinahe hübschen Liedchen‹. Bei einem späteren Besuch des kleinen Zimmers wird die Aufmerksamkeit Winstons und seiner Geliebten Julia erneut auf die singende Frau vom Hof gelenkt: »Die unermüdliche Stimme sang weiter: ›Man sagt, die Zeit heile alles, Es heißt, man kann alles vergessen, Aber vom Schmerz meines Falles, Von dem bleib’ ich ewig besessen!‹ […] Ohne zu erlahmen, ging die Frau unten hin und her, verkorkte und entkorkte ihren Mund mit Wäscheklammern, sang und schwieg wieder und hängte mehr und mehr und immer noch mehr Windeln auf. […] Julia war neben ihn getreten; zusammen blickten sie in einer Art Bezauberung hinunter auf die stämmige Gestalt. Wie er die Frau in ihrer charakteristischen Haltung betrachtete, ihre dicken Arme zur Wäscheleine emporgehoben, während ihre mächtigen, an eine Stute erinnernden Hinterbacken sich wölbten, kam es ihm zum erstenmal zum Bewußtsein, daß sie schön war. Es war ihm nie vorher in den Sinn gekommen, der Körper einer fünfzigjährigen Frau, der durch Geburten zu monströsen Ausmaßen gedunsen und dann durch Arbeit vergröbert und verhärtet war, bis seine grobe Haut der Schale einer überreifen Rübe ähnelte, könnte schön sein. Aber dem war so und, dachte er, warum auch nicht? Der feste, umrißlose Körper, der wie ein Granitblock war, und die rauhe rote Haut verhielten sich zu einem Mädchenleib genau-

156 Orwell, George (1964; 1948): 1984. Ein utopischer Roman. Zürich: Diana Verlag, S. 62/63.

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so wie die Hagebutte zur Heckenrose. Warum sollte man die Frucht geringer schätzen als die Blume? ›Sie ist schön‹, murmelte er. ›Sie mißt leicht einen Meter um die Hüften herum‹, meinte Julia. ›Das ist ihre Art von Schönheit‹, sagte Winston.«157

Der Gesang der Frau aus dem Hof, sicherlich auch eher rauh im Vergleich zu den maschinellen Erzeugnissen, führt dazu, dass sich zwischen Winston und ihr eine Art erotische Beziehung entwickelt. Die Frage ist nun, wie es sich in Bezug auf die durchaus ebenso als rauh zu bezeichnenden Videoclips verhält, denn schließlich hat sie zwar auch ein Mensch hervorgebracht, jedoch nur über die Vermittlung einer Maschine. Kann sich in solch einem Fall überhaupt ein Verweis auf die Körperlichkeit des Produzenten entwickeln? Zwar ist schwer vorstellbar, dass auch bei den Videoclips im Internet ein Fall wie aus dem Orwellschen Roman 1984 eintreten kann. Dennoch sollte der Gedanke, Rauheit auch bei digitalen Medien als Verweis auf Körperlichkeit zu interpretieren, nicht gleich verworfen werden. Wenn man den maschinell erzeugten Schlager mit den Videoclips vergleicht, dann zeigen sich einige Parallelen. Zunächst lässt sich der maschinell erzeugte Schlager aus 1984 in drei Entitäten aufspalten, denn es gibt erstens den abstrakten Notentext, zweitens die musikalische Interpretation durch eine Maschine, und drittens die Interpretation der Waschfrau vom Hof. Winston, der beide musikalischen Interpretationen kennt, empfindet den Gesang der Waschfrau als individuell gefärbt, während er die perfekte, glatte offizielle Version des Schlagers ablehnt. Auch im Hinblick auf die Videoclips gibt es diese drei Entitäten: erstens die digitalen Daten, zweitens die Interpretation des Originals, und drittens die zahlreichen durch Kopierverluste und Bearbeitungen individuell gefärbten Interpretationen, d.h. die Videoklone und Recyclingvideos. Was die Stimme und die Videoclips gemein haben, ist ihre Virtualität, beide besitzen zwar eine gewisse Materialität, aber die Luft als Medium ist für einen Menschen ebenso wenig fassbar wie sich auf einer aufgeschraubten Festplatte der darauf gespeicherte Videoclip erkennen lässt. Das Interessante an dem Begriff der »Rauheit« ist nun, dass Barthes damit indirekt auch der Stimme selbst eine gewisse Körperlichkeit, d.h. Materialität zuschreibt. Mit anderen Worten: Die Stimme verweist nicht nur auf eine Körperlichkeit, sie bekommt selbst auch eine zugeschrieben. Die Musikwissenschaftlerin Sabine Bayerl weist darauf hin, dass der Begriff »Rauheit« die taktile Eigenschaft einer Oberfläche beschreibt, »welche sich erst aus der Differenz zum Glatten definie-

157 Ebd. S. 98/99.

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ren läßt.«158 Das von Barthes verwendete französische »le grain« bezeichnet nicht nur ein »Korn« (daher ist auch die Übersetzung »Körnung« an Stelle von »Rauheit« gebräuchlich), sondern auch eine (Leder-)Narbe, da »le grain« demnach auch die Verletzung einer Oberfläche bezeichnet, kann damit »also durchaus die Narbe, das Individuelle und Biografische, einer Stimme gemeint sein.«159 Der Begriff der »Rauheit« verweist damit – anders als der Begriff »Veränderlichkeit« – auf den Aspekt der Materialität bei den nicht fassbaren, virtuellen Medien selbst. Außer auf ihre eigene Materialität deutet die Rauheit digitaler Daten in gewisser Weise auch auf eine Körperlichkeit ihrer Produzenten hin. Denn wie Barthes bemerkt, wäre unter dem Einfluss massenmedialer Produktionen eigentlich ein Trend zur möglichst reinen, genauen und beliebig reproduzierbaren Glattheit zu erwarten: So »muß man hier in Erinnerung rufen, daß es heute unter dem Druck der Massenschallplatte eine Verflachung der Technik zu geben scheint; diese Verflachung ist paradox: alle Spielweisen werden in der Perfektion verflacht«.160 Tatsächlich aber geht im Fall der Videoclips im Internet der Trend in die genau entgegengesetzte Richtung, nämlich zu Varianz und Rauheit. Dies wiederum deutet in die Richtung, dass es sich bei den Videoclips im Internet mehrheitlich nicht um auf ein Massenpublikum ausgerichtete Produkte handelt, die der Ökonomie der Aufmerksamkeit unterworfen sind, obwohl »Rauheit« natürlich Irritation auslöst161 und Irritation bzw. Verwunderung (admiration) wiederum Aufmerksamkeit (attention) erzeugt.162 Der hier aufgetauchte Begriff der Glattheit, sowie die von Barthes thematisierte Verflachung in der Perfektion eines Massenproduktes deuten jedoch noch in eine ganz andere Richtung, nämlich auf den Begriff der »Warenform«, der von dem Soziologen Dieter Prokop auf Medien ausgeweitet wurde. In seiner 1974 veröffentlichten Studie Massenkultur und Spontaneität beschreibt Prokop, wie selbst in einer pluralistischen Medienwelt die herrschende gesellschaftliche Ordnung stabilisiert und bestätigt wird. Dazu setzt er – ausgehend von Talcott Parsons und Alfred SohnRethel – beim Tausch kultureller Inhalte die »Unterhaltung« als Äquivalent des Geldes bei den ökonomischen Tauschbeziehungen.

158 Bayerl, Sabine (2002): Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 196. Fußnote 15. 159 Ebd. 160 Barthes, Roland (1979): Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied. Berlin: Merve, S. 36. 161 Vgl.: Huber, Hans Dieter (2001): Bildstörung, in: Weibel, Peter (Hg.): Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz S. 125-137, hier S. 131. 162 Vgl.: Descartes, René (1996; 1649) Von den Leidenschaften der Seele. Hrsg. und übers. von Klaus Hammacher Hamburg: Meiner Verlag. § 70, S. 109.

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»Die Produzentenseite gibt dem Konsumenten ›pluralistische‹ kulturelle Inhalte, während die Konsumenten den Produzenten allgemeine ›Rezeptivität‹ geben. […] Parsons sagt nicht, worin die Tauschabstraktion sich im Tausch zwischen Pluralismus und Rezeptivität manifestiert und ob sie sich in einem bestimmten ›generalisierten Medium‹ gesondert repräsentiert findet. Das Geld, nach dem sich die Produzentenseite ebenso wie die Publikumsseite richtet, ohne jeweils die andere zu konsultieren, scheint jedoch Unterhaltung zu sein.«163

Im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch eher die ästhetische Definition der medialen Warenform interessant, nicht die Rolle, die die Massenmedien laut Prokop in der Gesellschaft spielen. Die Warenform der Medien führt Prokop grundsätzlich wie bereits Wolfgang Fritz Haug164 auf das Ausrichten auf die »Massenmärkte«165 und eine »Kalkulation auf den Attraktivitätswert«166 , also ein strategisches Handeln auf Seiten der Produzenten zurück: »Die ästhetischen Mittel, die Produktivkräfte der Spontaneität, […] sind auf spezifische, vom Standpunkt der Absatzförderung berechenbare Wirkungen hin durchkalkuliert.«167 Hinzu kommt noch, dass die »creators«, die »Schöpfer« sich nicht nicht nur auf »pressure groups«168 ausrichten, sie achten ebenso »auf die Meinung von Kollegen, Übergeordneten, Kritikern, etc.«169, ihr Produkt wird so schließlich zu einer »›Synthese‹ der ›Kreatoren‹ in einem pluralistischen Entscheidungsprozeß«170 . Dies führt dazu, diesen Punkt hatte auch Haug in seiner Kritik der Warenästhetik angesprochen, dass formale Momente (Farbe, Bewegung, Rhythmus, buntes Dekor, Virtuosität...) einerseits und technische Vielfalt und Perfektion andererseits betont werden. Die vermeintlich pluralistische Medienwelt wird so zur bloßen Oberfläche, denn in Wahrheit handelt es sich – so Prokop – um eine bloße »Mischung aus formal-abstrakter Vielfalt, formaler Betriebsamkeit, abstrakter Sinnlichkeit, technischer Perfektion und ständigem formalen Neuarrangement«171. Die Kalkulation auf allgemeine, abstrakte und regressive, relativ stabile »Bewußtseinsmomente«172 einiger Publikumskategorien führte notwendigerweise zur Vernachlässigung der »besonderen Gebrauchsansprüche, Inter-

163 Prokop, Dieter (1974): Massenkultur und Spontaneität. Zur veränderten Warenform der Massenkommunikation im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 73. Hervorhebungen im Original. 164 Haug, Wolfgang Fritz (1971): Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 165 Prokop (1974): Massenkultur und Spontaneität, S. 7. 166 Ebd. S. 68. 167 Ebd. S. 64. 168 Ebd. S. 13. 169 Ebd. S. 15. 170 Ebd. 171 Ebd. S. 13. 172 Ebd. S. 18.

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essen und Erkenntnisse« (= des Gebrauchswerts) des Einzelnen.173 Interessanterweise konstatiert Prokop, dass trotz dieser Vernachlässigung des Einzelnen und seiner konkreten Wünsche Gemeinschaftsbildung stattfindet. Ganz im Gegenteil handelte es sich um die »Übermittlung abstrakter, institutionalisierter ›Botschaften‹ an ein solipsistisch in Subgruppen jeweils isoliertes und in traditionalistischen Bindungen systemnotwendig befangenes ›Publikum‹«.174 Somit kann aus einer Publikumskategorie keine »community« werden, denn die Ware verbindet nicht. In der Welt der Videoclips jedoch entwickelt sich durchaus ein Gefühl der community, vielleicht gerade weil bei der Produktion der Videoclips weder auf technische Perfektion, noch auf die Bedürfnisse vermeintlicher Publikumssegmente geachtet wird. Die Produzenten der Recyclingvideos richten sich vor allem nach ihren eigenen Bedürfnissen, und die Urheber der Videoklone scheinen keinen Wert auf eine technisch perfekte Reproduktion zu legen (bzw. legen zu können), so dass sich im Gesamtbild eine an Chaos grenzende, zufällige Vielfalt an teils bewusst hinzugefügter, teils nicht intendierter Bearbeitung des Materials ergibt. Als gemeinsamer Trend lässt sich nur feststellen, dass es nicht um das Erreichen der technisch perfekten glatten Oberfläche geht, sondern dass sich, sei es nun schleichend oder abrupt, Rauheit entwickelt. Doch während die glatte Oberfläche der Warenform auf die anonyme Institution einer »›Synthese‹ der ›Kreatoren‹«175 verweist, deutet die Rauheit, und sei es auf eine noch so rudimentäre Weise, in Richtung eines Individuums und seiner Körperlichkeit, vielleicht ist hierin der Grund zu sehen, dass sich, so Vito Campanelli, »a taste for imperfection« 176 entwickelt hat, der sich auf alle Bereiche der visuellen Kultur ausbreitet. Kurz gesagt: Rauheit impliziert, dass der Produzent ein Mensch ist wie der Betrachter selbst, und eben keine Maschine, Firma oder Institution.

173 174 175 176

Ebd. S. 7. Ebd. S. 8. Ebd. S. 15. Campanelli, Vito (2011): The DivX Experience, in: Lovink; Somers Miles (Hg.): Video Vortex Reader II, S. 51-60, hier S. 58.

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Automatismen der Wiederholung Bisher hat sich gezeigt, dass die Idee der perfekten Wiederholung auch im Fall der Videoklone das bleibt, was sie ist: eine in der Realität nicht zu erfüllende Vorstellung. Statt einer sklavischen Imitation wurden zwei Entwicklungen identifiziert, die ein gewisses Maß an Verselbstständigung und damit, etwas positiver formuliert, Vitalität aufweisen. Zum einen schaffen die sich einschleichenden Kommunikationspathologien Spielraum für das Entstehen von Automatismen, gleichzeitig weisen sie hin auf das Vorhandensein eines Urhebers, manifestiert sich in ihnen doch so etwas wie eine Spur vergangener Bearbeitung.177 Zudem lassen sich die zwangsläufig auftretenden Kopierfehler als Form der Rauheit interpretieren, was wiederum auf eine eigene Materialität der zirkulierenden Videobilder hindeutet. Zumindest denkbar wäre vor diesem Hintergrund, dass sich die Videoclips bei aller Virtualität digitalisierter Daten einen Rest an Körperlichkeit bewahrt haben. Entscheidend für diese Überlegungen war die Erkenntnis, dass es die perfekte Kopie nicht gibt, denn das zirkulierende Material wird zwangsläufig, d.h. selbst ohne das Zutun der Nutzer verändert. Dies bedeutet aber, dass Videoklon und Recyclingvideo mehr gemein haben als zunächst gedacht: Der Videoklon stellt nur einen Spezialfall des Recyclingvideos dar, denn beide bestehen aus verändertem Material eines Originals. Damit aber lassen sich hier gewonnene Erkenntnisse auf bewusst verändertes Videomaterial, d.h. auf die Recyclingvideos übertragen. Hier soll jedoch zunächst eine aufgrund der diagnostizierten Kommunikationspathologien in den Hintergrund getretene Fragestellung aufgegriffen werden. Mit dem Begriff »Klon« wird eine Eigenschaft assoziiert (»die perfekte Kopie«), die ihm in Wirklichkeit widerspricht – daher wurde bisher vor allem dessen Nicht-Perfektion thematisiert. Damit aber blieb eine Frage unbeantwortet: Was wäre, wenn der Videoklon tatsächlich eine perfekte Kopie wäre? In einem solchen Fall verschiebt sich nämlich der Fokus: Weg vom Videoklon selbst, und hin zu dem Aspekt der Wiederholung. Da die Wiederholung als grundlegendes Element der Zirkulation von essentieller Wichtigkeit ist, soll im Folgenden hypothetisch analysiert werden, welche Prozesse im Fall einer tatsächlich identischen Wiederholung auftreten könnten.

177 Vgl. hierzu Kapitel Die Modifikation als Spur in der vorliegenden Arbeit.

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Drei Ebenen der Wahrnehmung von Gleichheit Der Philosoph Walter Bass legt in seinem Artikel Perfect Copies178 aus dem Jahr 1987 dar, dass grundsätzlich drei Ebenen der Gleichheit zu unterscheiden sind: 1. die Ebene der Wahrnehmung, die die sichtbaren Unterschiede betrifft (perceptual sameness), 2. die Ebene des Wissens um Unterschiedlichkeit (cognitive sameness), und 3. die Ebene des ästhetischen Empfindens, d.h. der individuellen ästhetischen Antwort (aesthetic sameness). Bisher wurde in Bezug auf die Videoklone besonders die Rauhheit/Kopierfehler betreffende erste Ebene beleuchtet, um den Blick für die feinen Unterschiede bzw. Verluste bei der Bearbeitung und Übertragung der Daten zu schärfen. Als Beispiel dienten zwei Screenshots (Abb. 5), die die Ergebnisse von Suchanfragen bei zwei Videoplattformen zeigten. Auffällig war, dass viele verdächtig ähnliche Ergebnisse aufgelistet werden, d.h. Videos, die ein fast identisches Vorschaubild, die gleiche Länge und ähnliche Bezeichnungen aufweisen: Der Auftritt der Videoklone. Der Nutzer, der die Suchanfrage gestartet hatte, erkennt unweigerlich, dass es zahlreiche scheinbar identische Versionen eines Videoclips gibt; hierin begründet sich auf der kognitiven Ebene das Wissen um Unterschiedlichkeit, denn es kann nur ein Original geben. Selbst wenn ein Nutzer die mehr oder weniger feinen qualitativen Unterschiede der Videoklone nicht erkennt, so wird sich beim Betrachten der Ergebnislisten unweigerlich das Gefühl einstellen, dass es sich unmöglich bei allen Videoclips um das Original handeln kann.179 Wie Bass ausführt, kann diese neue Information zu einer Veränderung der Einstellung gegenüber den Clips führen und eine genauere Suche nach qualitativen Unterschieden auslösen: »If cognitive difference does not directly and immediately affect perception, it may yet inaugurate a process causing confusion on this point. Learning that one of the paintings before him is a Rembrandt may heighten the viewer’s interest, may give him an incentive to discover perceptual difference between original and copy. The differential information then has a hortatory effect: ›Look more closely!‹ If the viewer does look more closely, there is indeed an increased probability that he will discover perceptual difference.«180

Der Verweis auf die Ebene der Wahrnehmung führt jedoch hier nicht weiter. Das Erkennen von Unterschieden ist von vielen Faktoren abhängig, so erblickt etwa das geschulte, scharfe Auge Differenzen, die dem naiven Blick verborgen bleiben.181

178 Bass, Walter (1987): Perfect Copies, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 46, No. 2 (Winter, 1987), S. 293-297. 179 Ebd. S. 297. 180 Ebd. S. 295. Hervorhebung im Original. 181 Ebd. S. 294.

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Bass weist deshalb darauf hin, dass ein Wissen um Unterschiede nicht gezwungenermaßen auch zu einem Erkennen der Unterschiede auf der Ebene der Wahrnehmung führt. Davon abgesehen mag es für die meisten Nutzer im Internet ohnehin irrelevant sein, ob sie eine Kopie oder das Original eines Videoclips betrachten: »Proceeding now to the second stage, the viewer unable to distinguish perceptually between the two paintings learns that this one is a genuine Rembrandt, the other only a copy from another hand. Will his perceptions be altered? Better said, will there be perceptual difference as a direct and immediate consequence of cognitive difference? Because he is ignorant of the history of art or for some other reason, the viewer may be altogether indifferent to the new information distinguishing between the paintings. This painting is by Smith, that by Jones. Who cares? Under these circumstances, there is no reason at all to believe that perceptions will be altered because of the cognitive difference. And if the viewer does have some idea of Rembrandt’s status, if he is much excited by the new information, what then? The apples of one painting continue to be apples in the other, and so on for more subtle perceptual discriminations. If the paintings were swiftly and confusingly shifted around (as in the shell game), the viewer would be in no position to identify the Rembrandt again except by guessing.«182

Im Fall der Videoklone ist davon auszugehen, dass nur die wenigsten Betrachter daran Anstoß nehmen werden, dass sie nicht das Original, sondern eine Kopie betrachten – es sei denn, die Kopie ist fehlerhaft. Doch es gibt noch einen anderen Fall: Unter Umständen mag es eine Plattform geben, auf der sich nur ein Videoklon eines Clips befindet, so dass bei einer Suche nur ein Treffer angezeigt wird. Dem Betrachter wird demnach auf der kognitiven Ebene gar nicht bewusst, dass es sich nicht um das Original handelt – folglich wird er weder nach weiteren Versionen suchen, noch wird er mit dem Wissen um die Existenz mehrerer Ausgaben konfrontiert. Doch selbst in einer derartigen Konstellation kann es zur Wiederholung kommen, nämlich wenn der Nutzer denselben Videoclip mehrmals anschaut. Doch ohne wahrnehmbare Unterschiede und ohne das Wissen um potentielle Differenzen sind die Ebenen der Wahrnehmung und der Erkenntnis irrelevant geworden. Umso mehr stellt sich daher die Frage, was auf der Ebene des ästhetischen Empfindens passiert – schien doch das Auftreten von Automatismen an den Verlust von Qualität gekoppelt zu sein. Die Qualitätsverluste repräsentieren einen Unterschied – und damit einen Freiraum für Entwicklung. Ein solcher Freiraum gibt einem Prozess erst die Chance, eine andere, unkontrollierte, ungeplante Richtung einzuschlagen, so dass sich ein Automatismus entwickeln kann. Wo aber soll bei der Wiederholung von identischem Material Platz sein für Unterschiede, für einen Freiraum?

182 Ebd. S. 295.

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Die Spaltung der Wiederholung Für diese Fragestellung bietet sich ein Aufsatz des Philosophen und LacanSpezialisten Mladen Dolar an. In Automatismen der Wiederholung183 untersucht Dolar, inwiefern Wiederholung grundsätzlich mit Automatismen verknüpft ist. Unter Bezugnahme auf Lacan, der den Begriff der »Wiederholung« als einen der vier Grundbegriffe der Psychoanalyse behandelt 184, schreibt Dolar: »Wiederholung [hat] eine ›automatische‹ Seite – etwas, das blind getrieben ist von einem ›mehr vom Selben‹, das unaufhaltsam zum selben Ort zurückkehrt. Und dann gibt es noch eine scheinbar gegensätzliche Seite der Wiederholung, diese hängt zusammen mit Zufall, Glück, dem Unvorhersehbaren, und dem Eintreffen von etwas, auf das man nicht abgezielt hat. In dem einen Teil geht es um das, was man erwartet hat, in dem anderen um das, womit man niemals gerechnet hätte.«185

Bei einem Videoclip realisiert sich der erwartete Teil der Wiederholung, das »mehr vom Selben«, im erneuten Abspielen derselben Datei. Doch während dieser Teil der Wiederholung leicht zuzuordnen und zu verstehen ist, bleibt rätselhaft, was es mit dem unerwarteten, überraschenden, unvorhersehbaren Teil der Wiederholung auf sich hat. Dolar verweist hier auf den Spalt zwischen den Wiederholungen als Ursache für das, womit man niemals gerechnet hätte: »In dem Augenblick, in dem Wiederholung einsetzt, kommt es zu einer Verdopplung; die Wiederholung verdoppelt sich gewissermaßen selbst, sie teilt sich. […] Was sich wiederholt ist der Bruch oder die Trennung, ein Spalt, der sich bei der Wiederholung auftut […]. Wiederholung erleben bedeutet immer auch das Erfahren einer abermaligen Spaltung in der Wiederholung, ein Nichtübereinstimmen mit dem ursprünglichen Selbst, einer ständigen Metamorphose hin zu etwas Anderem. Selbst die alltäglichste Erfahrung von Wiederholung lässt häufig ihren enigmatischen Charakter erkennen, ihre irritierenden und beunruhigenden verborgenen Eigenschaften, denn in der Wiederholung findet man niemals ganz dasselbe wieder, es gibt immer einen Spalt zwischen dem (Wieder-)Hergestellten.«186

183 Dolar, Mladen (2010): Automatismen der Wiederholung. Aristoteles, Kierkegaard und Lacan, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 130-152. 184 Lacan, Jacques (1996): Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Übersetzt von Norbert Haas. Weinheim, Berlin: Quadriga Verlag. Lacan selbst bezieht sich in seinen Ausführungen zum Begriff der »Wiederholung« in der vierten Sitzung seines Seminar XI (am 5. Februar 1964) auf Aristoteles, interpretiert dessen Konzeption von Tyche und Automaton jedoch äußerst frei. Vgl.: Dolar (2010): Automatismen der Wiederholung, S. 132. 185 Dolar (2010): Automatismen der Wiederholung, S. 132. 186 Ebd. S. 131/132.

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Folgt man Dolar in seinen Ausführungen, so bedeutet dies, dass jede Wiederholung zunächst die Erfahrung der Trennung, des Spaltes zwischen beiden Wiederholungen mit sich bringt. Dies gilt ebenso für die identische Wiederholung desselben Videoclips. Selbst bei einer direkt anschließenden Wiederholung des exakt übereinstimmenden Datenmaterials wäre der Videoclip in der Wahrnehmung des Betrachters niemals derselbe. Mit Dolar könnte man demnach argumentieren, dass sich der Videoclip mit jeder Wiederholung weiterentwickelt, und zwar weiter weg von seinem ursprünglichen Selbst. Entscheidend ist nämlich, dass es auch bei einer direkt anschließenden Wiederholung kein lückenloses Wiederholen gibt. Die Lücke aber ist der Ort, an dem das Unvorhergesehene seinen Ursprung hat: »In der winzigen Lücke zwischen dem einen Auftreten und dem nächsten wird ein Stück des Realen produziert. Denn in jeder Wiederholung taucht etwas auf, und sei es noch so minimal, das der Symbolisierung entkommt, nämlich das zufällige und unvorhergesehene Objekt, […] das eine bloße Wiederholung des exakt Gleichen verhindert, so dass das sich Wiederholende zwar gleich, nicht aber das Selbe ist – obwohl wir keinen Unterschied sehen würden zum Vorherigen, etwa durch irgendwelche bestimmten Merkmale oder Unterscheidungen. Es gibt ein unvorhergesehenes Stückchen des Realen, das in der Lücke ›wohnt‹, das durch eben diese Lücke geschaffen wird […].«187

Das Reale188 selbst weist einige Gemeinsamkeiten mit Automatismen auf: Es ist nicht kontrollierbar, nicht fassbar, verstörend und rätselhaft. Und ein kleines Stückchen eben dieses Realen tritt in der Wiederholung auf, »als Überschuss, als Beigabe aus dem Nichts, aus der Spaltung der Wiederholung, aus dem bloßen Dazwischen, der Lücke, die niemals nur eine Lücke ist.«189 Für Automatismen ist jedoch entscheidend, dass es sich dank der vervielfachenden Wirkung der Wiederholung nicht um eine einmalige Abweichung handelt, sondern um einen in der Kumulation struk-

187 Ebd. S. 145. 188 Das Reale ist bei Lacan nicht gleichzusetzen mit der Realität, vielmehr repräsentiert es wie das Imaginäre und das Symbolische einen Bereich des Psychischen. 189 Dolar (2010): Automatismen der Wiederholung, S. 145. Es ist äußerst schwierig, dieses zufällige, aber aus nichts bestehende Stückchen des Realen, dem Objekt der Lücke, die niemals nur eine Lücke ist, zu definieren. Dolar verweist hier auf Lacan, der dieses Nicht-Nichts mit Demokrits altgriechischer Wortschöpfung »Den« bezeichnet: » (Den), ein seltsames Gebilde, das der Alternative zwischen Seiendem und Nichtseiendem entkommt: Weder ist es, noch ist es nicht, es gibt dem Negativen eine Existenz, dem Nichts eine Beschaffenheit, ohne jedoch etwas zu sein, dass man identifizieren oder begreifen könnte. […] Vereinfacht kann man sagen, dass das Den genau das ist, worum es bei der Wiederholung geht: Dieses Objekt, das wiederholt wird, ohne dass es eine bestimmbare Konsequenz oder Identität hätte, […] dem man aber keinen eigenen ontologischen Status gewähren kann, ein einer Bruchstelle entstammendes Gebilde, ohne eindeutige Art des Seins, aber eben auch nicht Nichts.« Ebd. S. 137/138.

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turgenerierenden Prozess. Dolar entwickelt diesen Gedanken am Beispiel der auch von Bergson190 erörterten Wirkung von Wiederholungen in Komödien: »Es scheint, als würde das Wiederholte mit jeder Wiederholung lustiger werden, als wenn ihm in seiner absoluten Gleichförmigkeit ein unsichtbarer Zusatz hinzugefügt werden würde, Wiederholung als ein kumulativer Effekt, als sammele die Abwesenheit von Bedeutung neue Bedeutung an. Etwas wiederholt sich grundlos und allen Widrigkeiten zum Trotz, keine neuen Informationen werden hinzugefügt, und doch resultiert die Wiederholung in Neuartigkeit und Überraschung.«191

Wiederholung mündet aber nicht zwangsläufig in Komik. So gibt es eine Rede Horst Herolds, 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamtes, die von verschiedenen Musikern künstlerisch bearbeitet wurde. Herolds Ansprache richtete sich vor allem an die RAF und die Bewegung 2. Juni. Die Gruppe Abwärts benutzte diese Rede als Grundlage für ihr aus dem Jahr 1980 stammendes Lied Schlußwort Von Horst Herold (BKA) Endlosrille. Das Lied sampelt einen Ausschnitt aus Herolds Ansprache, in verrauschter Qualität und ohne Untermalung durch Instrumente: »Es gab zahlreiche Elemente der Hektik und des Gehetztseins in der Flucht. Ja, man muss fragen der Flucht vor wem? Der Flucht doch vor dem gesteigerten Fahndungsdruck und der systematischen Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit der Polizei. Und man kann diesen Leuten nur raten, diesen unsinnigen Kampf doch aufzugeben und nicht den Weg zu gehen, der sie in einen solch schrecklichen Tod führt. Aufzugeben, denn, das kann man wohl sagen: Wir kriegen sie alle!«

Ohne das Wissen um den dazugehörigen Kontext wirkten diese Sätze vielleicht wie die eher unbeholfene Ansprache eines patriarchalisch-wohlmeinenden Kommissars aus einem TV-Krimi. Als Abschlusstrack des Albums Amok Koma erhalten sie jedoch eine völlig neue Note, denn der letzte Satz »Wir kriegen sie alle!« wird in einer Endlosschleife, einem Loop wiederholt. Jede Wiederholung aber lenkt die Aufmerksamkeit erneut auf diesen einen Satz, bis er schließlich eine unerträglich bedrohliche und beklemmende Dimension entfaltet. Die sich in der Wiederholung entwickelnde Neuartigkeit beschränkt sich demnach keineswegs auf das Komische.

190 Bergson, Henri (1921; 1900): Das Lachen. Deutsch von Julius Frankenberger und Walter Fränzel. Jena: Eugen Diederichs. 191 Dolar (2010): Automatismen der Wiederholung, S. 145.

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Wiederholung als generativer Prozess Lacan stützt sich – wie Dolar referiert – bei seiner Betrachtung dieser Neuartigkeit auf Søren Kierkegaard und sein Buch Die Wiederholung (Gentagelse, 1843). Für Kierkegaard gleicht die Wiederholung dem Erinnern prinzipiell, jedoch wirken beide in unterschiedliche Richtungen: »Wiederholen und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert.«192 Die Erinnerung schaut zurück, die Wiederholung hingegen voraus. Dies widerspricht dem allgemeinen Verständnis der Wiederholung, wird diese doch gemeinhin als ein Vorgang definiert, der etwas reproduziert, was es vorher bereits gab. Hier erscheint die Wiederholung aber nicht als »Mechanismus der Vergangenheit, der uns bestimmt, sondern sie eröffnet uns die Zukunft«193 . Dolar betont, dass so die Wiederholung von jeglicher Art sklavischer Reproduktion in der Vergangenheit festgelegter Geschehnisse befreit wird, sie wird von einem rein reproduktiven zu einem generativen Prozess: »So hängt die Wiederholung vom Werden ab: Sie reproduziert nicht einfach die Vergangenheit, sie verleiht der Vergangenheit Werden. Das, was gewesen ist, wird nur jetzt, es ist rückwirkend verändert, die Auswirkung der Vergangenheit entscheidet sich erst bei gegenwärtiger Wiederholung.«194

Kierkegaard beschreibt in diesem Zusammenhang das Scheitern einer von ihm inszenierten Wiederholung.195 In einer recht heiteren Passage aus Die Wiederholung schildert Kierkegaard, wie er in eine bereits zuvor besuchte Stadt zurückkehrt: Berlin. Dort, einem bekannten Ort voller glücklicher Erinnerungen, versucht Kierkegaard, an den gleichen Plätzen dieselben Erfahrungen erneut zu machen. Doch die Wiederholung scheitert ungerührt: »[I]ch hatte entdeckt, daß die Wiederholung gar nicht vorhanden war, und dessen hatte ich mich vergewissert, indem ich dies auf alle nur mögliche Weise wiederholt bekam.«196 Kierkegaard resümiert ernüchtert: »Das einzige, das sich wiederholte, war die Unmöglichkeit einer Wiederholung.«197 Kierkegaards Versuch deckt sich zweifellos mit der Erfahrung aller, die nach einer langen Zeit an einen vertrauten Ort zurück kehren. Der Ablauf der Zeit beeinflusste nicht nur das Wetter, sondern auch die Stimmung Kierkegaards. Was aber haben

192 Kierkegaard, Sören (1843): Die Wiederholung, in: Ders. (1967): Gesammelte Werke. 5. und 6. Abteilung. Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag, S. 1- 97, hier S. 3. 193 Dolar (2010): Automatismen der Wiederholung, S. 147. 194 Ebd. S. 148. 195 Vgl.: Ebd. S. 150. 196 Kierkegaard (1843): Die Wiederholung, S. 45. 197 Ebd. S. 44.

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diese offensichtlichen Unterschiede mit der exakten Wiederholung identischer Videodaten gemeinsam? Tatsächlich ist Kierkegaards Vorstellung gar nicht so befremdlich, er hat nur die immer bestehende Lücke zwischen zwei Wiederholungen ausgedehnt, und damit ihr eigentliches Wesen umso deutlicher hervorgehoben. Weshalb eigentlich scheint es sonderbar, sich wie Kierkegaard zu fragen: »Ich bin doch am gleichen Platz, warum habe ich nicht wieder die gleiche Erfahrung?« Diese Frage stellt niemand, aber nur weil die Erfahrung bereits gelehrt hat, dass sie unsinnig ist und sich deshalb verbietet. Ein kleines Kind hingegen mag noch die Vorstellung haben, dass es immer gleich schön ist, wenn es zum Beispiel in den Sommerferien zur Großmutter fährt – eben genau so schön wie im letzten Jahr. Es ist also nicht entscheidend, ob man nach fünf Sekunden oder nach fünf Jahren die gleiche Erfahrung machen möchte, die Empfindung wird in beiden Fällen nicht dieselbe sein, der Grund dafür aber schon: die kaum spürbare bzw. offensichtliche Lücke zwischen beiden Wiederholungen. Trotzdem aber scheint Wiederholung grundsätzlich möglich zu sein. Dolar fasst Kierkegaards Erkenntnis wie folgt zusammen: »Man könnte es nicht präziser fassen: Die Unmöglichkeit der Wiederholung wiederholt sich selbst. So ist das, was wiederholt wird, nicht mit sich selbst identisch. Dies aber bedeutet nicht, dass es keine Wiederholung gibt, denn selbst in der beharrlichen Erfahrung einer Unmöglichkeit der Wiederholung gibt es einen Teil, der beharrt, auch wenn dieser nicht fassbar ist. Das Scheitern der Wiederholung zu wiederholen bleibt immer noch Wiederholung. Dies ist der schmale Grat, den die Wiederholung überqueren muss: von der gescheiterten Wiederholung zur geglückten Wiederholung sozusagen.«198

Entgegen der ersten Intuition erscheint die Wiederholung als komplexes und widersprüchliches Gebilde, sie ist das Ergebnis eines ständigen Kampfes zwischen ihren identisch reproduzierenden und Neues schaffenden Anteilen, und nur wenn erstere sich durchsetzen, glückt die Wiederholung, andernfalls wird die Ähnlichkeit mit Vergangenem zerstört, und der Betrachter kann keine Verbindung mehr erahnen. Gerade das Beispiel der vermeintlich exakten Wiederholung bei den Videoklonen zeigt, dass die Wiederholung ein Prozess ist, der sich irgendwo zwischen den beiden Polen geglückte und nicht geglückte Wiederholung ansiedelt, wobei das Projekt der absolut perfekten Wiederholung sowohl aus technischer wie auch aus ästhetisch-kognitiver Sicht zum Scheitern verurteilt ist. Dies ist auch der Grund, warum Dolar die Wiederholung als zutiefst widersprüchliches Phänomen charakterisiert: »Also steht die Wiederholung im Mittelpunkt eines Paradoxons. Sie verbindet Notwendigkeit mit Zufall [...]. Sie verbindet aber auch die Vergangenheit mit der Zukunft und die Gleichheit mit der Differenz. Die Wiederholung betrifft den Kern unseres Seins, sie

198 Dolar (2010): Automatismen der Wiederholung, S. 151.

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versklavt uns und bringt uns gleichzeitig die kleine Bruchstelle, die die Freiheit des Individuums erst ermöglicht.«199

Die kleine Bruchstelle ermöglicht aber nicht nur die Freiheit des Individuums, sondern auch das Entstehen von nicht gesteuerten, unvorhersehbaren Prozessen. Selbst im scheinbar perfekten Videoklon kann sich kein Zwang zur identischen Reproduktion determinierend auswirken, folglich können sich sogar hier Automatismen entwickeln, die beim Betrachter zum Beispiel Komik oder Entsetzen bewirken. Im folgenden Abschnitt stellt sich die Frage nach Automatismen erneut, jedoch vor dem Hintergrund eines ganz anderen Problems: Recyclingvideos sind per Definition keine identische Reproduktion, denn sie sind durch Eingriffe in bereits vorhandenes Material entstanden. Die Frage ist daher, ob hier die Intentionen der Nutzer determinierend sind, oder ob sich auch hier Automatismen entwickeln können.

199 Ebd.

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I NTERVENTION – D IE » IKONOKLASTISCHE W IEDERHOLUNG « Das Projekt der perfekten Wiederholung muss, wie sich heraus gestellt hat, Utopie bleiben. Selbst wenn sich dasselbe Material identisch wiederholen ließe, wäre die Wahrnehmung des Rezipienten jedes Mal eine andere. Damit ist Wiederholung ohne Veränderung nicht denkbar; und die ›Wiederholung mit Veränderung‹ wird zum Regelfall. Um eine ›Wiederholung mit Veränderung‹ handelt es sich auch bei den modifizierten Videoclips, die zwischen »Zerstörung« und »Verfremdung« oszillieren. Um die ästhetischen Formen der ›Veränderung‹ theoretisch einordnen zu können, bietet sich der Begriff der »Intervention« an, denn dieser fasst eine neue und transnationale Bewegung an den Grenzen von Kunst200 , Politik und Ökonomie: Interventionen scheinen »im Kontext einer globalen Gegenbewegung zum fortschreitenden Neoliberalismus sowie zum etablierten Kunstbetrieb theoretisch zu fassen zu sein. Ursprünglich ein militärischer und auf das Vermitteln und Eingreifen in krisenhaften Situationen bezogener Begriff, versammelt die bewusst im Plural gewählte Fomurlierung [...] Interventionen vergleichbare, zugleich heterogene und ausdifferenzierte Formen künstlerischen und/oder aktivistischen Handelns. Diese können auch in Räume und Institutionen der Kunst hineingetragen werden, haben ihren Ort jedoch zunehmend im Alltag, auf der Straße, in der öffentlichen Sphäre, im physischen Raum der Städte und in spezifisch ausdifferenzierten medialen Räumen, insbesondere auch im Internet/Web. «201

In Hinblick auf die Recyclingvideos gilt es im Folgenden danach zu fragen, ob die Videoclips aus dem Internet tatsächlich ein kritisches Potential enthalten. Fest steht hingegen, dass die hier zur Diskussion stehenden Recyclingvideos per Definition bereits vorhandenes Videomaterial bearbeitet haben, unter anderem in Form einer vermeintlichen Verbesserung, einer Kritik oder eines simplen Kommentars. Es ist zu fragen, wie sich bei dieser Art der Intervention destruktive und kreative Komponenten zueinander verhalten. Die unterschiedlichen Varianten der Recyclingvideos sind somit im Spannungsfeld zwischen »Zerstörung« und »Modifikation« anzusie-

200 Vgl.: Sholette, Gregory (2004): Interventionism and the historical uncanny. Or: can there be revolutionary art without the revolution?, in: Thompson, Nato; Sholette, Gregory (Hg.): The Interventionists. Users’ Manual for the Creative Disruption of Everyday Life. Cambridge, MA: MIT Press. Katalog zur Ausstellung The Interventionists: Art in the Social Sphere im MASS MoCA vom Mai 2004 bis März 2005, S. 133-141. 201 Hartmann, Doreen; Lemke, Inga; Nitsche, Jessica (2012): Einleitung: INTERVENTIONEN. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie, in: Dies. (Hg.): Interventionen. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie. Paderborn: Fink, S. 9-24, hier: S. 9. Hervorhebung im Original.

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deln. Die am Material vorgenommenen Veränderungen können dabei durchaus als »Verfremdung« bezeichnet werden. An Stelle dieses Begriffes soll hier jedoch der etwas weniger bekannte Begriff des détournement verwendet werden, da er sich stärker auf alltägliche Praxen der Bildbearbeitung bezieht.

Abb. 12: Modifizierte Portraits Hosni Mubaraks in Kairo (2011)202 Viele Formen der Videobearbeitung zeigen deutlich ikonoklastische Züge: Etwas bereits Bestehendes wird modifiziert und damit, wenn nicht ausgelöscht, so doch zumindest teilweise zerstört. Bereits in der Antike wurden Mosaike, Stelen und Fresken zertrümmert; Statuen wurden Nasen, Gliedmaße oder Köpfe abgeschlagen. Meist wurden Augen, Münder oder das ganze Gesicht ausgekratzt, um die Antlitze verhasster Herrscher oder eine als ketzerisch deklarierte Bildlichkeit auszulö-

202 Quelle: AP Photo / Ahmed Ali. Ursprüngliche Bildunterschrift: »Mideast Egypt Protest. Protestors hold defaced portraits of Egyptian President Hosni Mubarak in Cairo, Sunday Jan. 30, 2011. The Arab world’s most populous nation appeared to be swiftly moving closer to a point at which it either dissolves into widespread chaos or the military expands its presence and control of the streets. Banners read: ›Get out Satan‹ and ›Get out Pirate‹.« ‹http://newshopper.sulekha.com/mideast-egypt-protest_photo_1688380.htm› [1. Oktober 2012].

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schen.203 Aktuelle Beispiele (Abb. 12) zeigen, dass ikonoklastische Praxen wie das Entstellen von Herrscherportraits noch heute gebräuchliches Ausdrucksmittel sind. Bei diesen historischen und zeitgenössischen Varianten des Ikonoklasmus steht die destruktive Komponente im Vordergrund – deshalb erschließt sich der Zusammenhang mit den auf den Videoplattformen stattfindenenden Prozessen zumindest nicht unmittelbar. Tatsächlich geht es hier auch nicht um Ikonoklasmus im klassischen Sinn, sondern um ein modernes Verständnis des Begriffes, das Ikonoklasmus als alltägliche Praxis definiert, die unabhängig ist von religiösen Überzeugungen oder einer grundsätzlichen Ablehnung bildlicher Darstellung.204 Grundsätzlich geht Ikonoklasmus, ob im klassischen oder modernen Verständnis, über eine bloße Zerstörung von Bildern hinaus, denn trotz der evidenten destruktiven Komponente gibt es auch schöpferische Aspekte. W.J.T. Mitchell erläutert dies am Beispiel der Fernsehbilder vom Sturz einer Statue Saddam Husseins.205 Laut Mitchell sind ikonoklastische Akte als kreative Zerstörung (»creative destruction«) zu verstehen, denn aus dem ursprünglichen Bild entstehe ein sekundäres, abgeleitetes Bild, »a secondary image of defacement or annihilation«206. Diesem sekundären Bild schreibt Mitchell eine ebenso große Wirkung zu wie dem Akt der Zerstörung selbst, denn es bleibe als konstante Mahnung und Erinnerung in den Köpfen gespeichert.207 Wie stark diese Erinnerung ist, zeigt der Amsterdamer Künstler Gert Jan Kocken: Im Jahr 1999 begann Kocken an Orte verheerender Katastrophen zu reisen, um Bilder für seine Serie Disaster Areas208 zu fotografieren. Da die Aufnahmen erst lange nach den Zerstörungen entstanden, ist auf den detailreichen und großformatigen Abzügen oft nicht mehr zu sehen als eine Landschaft. Folglich wirken diese Bilder zunächst friedlich bis belanglos, doch, selbst ohne den Kontext zu kennen, beschleicht den Betrachter ein ungutes Gefühl, da Details und Ortsnamen (»Enschede«) Wiedererkennungswert besitzen und Erinnerungen an Bilder aus den Nachrichten wecken, an Bilder der Zerstörung. Ob nun ein Kunstwerk zerstört wird oder ein Stadtviertel, offensichtlich sind diese sekundären Bilder

203 Zur Bedeutung von Bildern in Kriegen und krisenhaften Ereignissen vgl.: Paul, Gerhard (2004): Bilder des Krieges, Krieg der Bilder: die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn: Schöningh. 204 Latour, Bruno (2002): What is Iconoclash? Or is There a World Beyond the Image Wars?, in: Latour, Bruno; Weibel, Peter (Hg.): Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art. Cambridge, MA: The MIT Press, S. 14-38, hier S. 30. 205 Die BBC-Reportage vom 9. April 2003 über den Sturz der Statue Saddam Husseins in Bagdad ist online abrufbar: ‹http://news.bbc.co.uk/onthisday/hi/dates/stories/april/9/ne wsid_3502000/3502633.stm› [15. Januar 2011]. 206 Mitchell (2005): What Do Pictures Want? S. 18. 207 Ebd. 208 ‹http://www.gertjankocken.nl/?ser=10› [15. Januar 2011].

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der Zerstörung besonders stark und einprägsam: Offensichtlich genügt es bereits, den Namen des Ortes zu erwähnen um ein Gedächtnisbild wachzurufen. Die Schaffung dieser »sekundären Bilder der Zerstörung« gilt demnach – so Mitchell – als kreativer Akt. Ikonoklasmus kann demnach nicht als Endpunkt einer Entwicklung begriffen werden, sondern als Ausgangspunkt für Wiederholung und Zirkulation. Dies gilt besonders dann, wenn wie im Fall der Recyclingvideos das Original weder verstümmelt noch ausgelöscht, sondern nur dessen Reproduktion modifiziert wird. Damit treten bei den Recyclingvideos die kreativen Anteile viel offensichtlicher zu Tage; sie sind daher nicht Ergebnis einer verstümmelnden oder zerstörenden Wiederholung, sondern das Produkt einer »ikonoklastischen Wiederholung«. Wie der im Folgenden exemplarisch behandelte Videoclip zeigt, tritt die »ikonoklastische Wiederholung« manchmal auf eine geradezu alltägliche, humorvoll-harmlose Art in Erscheinung. Bei diesem Clip handelt es sich jedoch nur um eine Variante aus der unüberschaubaren Vielfalt an Möglichkeiten der Bearbeitung. Es soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass es hier nicht vorrangig um die Analyse von Phänotypen der Bildbearbeitung geht, sondern um die Prozesse, die zu diesen Modifikationen führen bzw. von ihnen ausgelöst werden. Um diese ikonoklastischen Prozesse, ihre Ursachen und Wirkungen begrifflich fassen zu können, liegt es nahe, parallele Entwicklungen im Bereich der Kunst zu verfolgen. Die Herausforderung besteht darin, in der Kunstgeschichte Beispiele zu finden bei denen – wie im Fall der Recyclingvideos – ein bereits reproduziertes Bild modifiziert wird. Die Bezugnahme auf die Arbeiten bekannter Künstler soll jedoch nicht dazu dienen, den Videoclips einen künstlerischen Charakter zuzusprechen. Deshalb wird es auch nicht um die Frage gehen, ob und wann es sich bei einer Arbeit um »Kunst« handelt. Vielmehr soll die Auffassung vertreten werden, dass die ikonoklastische Zerstörung nicht als ›Vandalismus‹ abgetan werden kann, sondern dass sie als Teil von Zirkulation und Wiederholung interpretiert werden muss. Um allerdings zu ergründen, wie sich Zerstörung, Wiederholung und Zirkulation zueinander verhalten, wird auf die Arbeit zweier Künstler – Marcel Duchamp und Asger Jorn – Bezug genommen. Beide haben maßgeblich zur Theoriebildung auf dem Gebiet von Modifikation, Austausch und Wahrnehmung von Bildern beigetragen, weshalb sie sich für die Analyse der zirkulierenden und ikonoklastisch bearbeiteten Videobilder anbieten. Im Folgenden sollen anhand einer detaillierten Analyse beispielhaft ausgewählter Arbeiten dieser beiden Künstler die spezifischen Aspekte modifizierter Videoclips deutlich gemacht werden. 1.

Der erste Teil widmet sich den Recyclingvideos selbst und untersucht die Auswirkungen ikonoklastischer Modifikation. Es soll erstens geklärt werden, was es bedeutet, wenn an Stelle des Originals eine Reproduktion modifiziert wird. Zweitens soll der Frage nachgegangen werden, was passiert, wenn es verschiedene Versionen der modifizierten Reproduktion gibt; und drittens,

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wie sich die modifizierten Reproduktionen auf die Wahrnehmung des Originals auswirken. Diese Fragen sind im Hinblick auf die Recyclingvideos hoch aktuell, Marcel Duchamps modifiziertes Portrait der Mona Lisa mit dem Titel L.H.O.O.Q. aus dem Jahr 1919 soll dabei helfen, sie zu beantworten. 2.

Der zweite Teil stellt die Produzenten der Recyclingvideos in den Mittelpunkt. Bei der Übertragung künstlerischer Praxen auf Videoclips erscheint zunächst das grundverschiedene Ausgangsmaterial problematisch: Duchamp modifizierte ein als Meisterwerk anerkanntes Gemälde, das bereits in Postkartenform reproduziert und verbreitet wurde. Auf den Videoplattformen wird hingegen Alltägliches bearbeitet, und die Produzenten der Recyclingvideos können in ihrer Gesamtheit wohl kaum als Künstler gelten. Asger Jorn und die Situationistische Internationale (SI), besonders aber die Diskussion des Konzepts des détournement im Hinblick auf die Aspekte »Aufhebung der Kunst« und »Veränderung des Alltags«, versprechen einen Ausweg aus diesem Dilemma. Die Übertragung theoretischer Konzepte der SI auf die Welt der Videoplattformen verortet letztere jedoch in einem nicht nur ästhetischen, sondern auch politischen Kontext. Mit Hilfe von Jacques Rancières Verständnis der »Aufteilung des Sinnlichen« sollen deshalb die alltäglichen Praxen der Nutzer auch auf ihren politischen Gehalt hin überprüft werden.

3.

Die Frage nach der Bedeutung und dem politischen Gehalt einer ästhetischen Praxis lenkt die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf die Verursacher dieser Praxis selbst. Dies birgt allerdings die Gefahr, dass die Rolle der Produzenten der Recyclingvideos zu stark betont, oder gar überbewertet wird. In einem dritten Abschnitt soll die Rolle der Produzenten daher im Hinblick auf die auf der Makroebene ablaufenden Prozesse hinterfragt werden. Da die zuvor betrachteten künstlerischen Praxen Duchamps und Jorns in der Kunsttheorie auch unter dem Schlagwort »parasitäre Strategien« thematisiert werden, lässt sich hier eine Verbindung zu Michel Serres’ »Theorie des Parasitären« und Jean Baudrillards »Virustheorie« ziehen. Beide Kommunikationstheorien werden mit Sybille Krämers Konzept der »Spur« und dem Begriff der »Mutation« verknüpft und erweitert, um darauf hinzuweisen, dass der einzelne Nutzer aus der Perspektive der Makrostruktur zurücktritt zugunsten eines wirkmächtigen, sich verselbstständigenden, gleichsam destruktiven wie kreativen Prozesses, der als »Automatismus« zu fassen ist. Dieser Prozess entwickelt dabei nicht nur evolutionsartige Züge, er verkörpert eine neue Ausprägung kollektiver Kreativität auf dem Gebiet audiovisueller Medien.

Am Anfang allerdings steht ein Videoclip, der die in diesem Kapitel angeführten Theorien und künstlerischen Beispiele über einen Zeitraum von nahezu einem Jahrhundert verknüpfen soll. Das Bindeglied ist: ein auf das Portrait gekritzelter Bart.

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Ein Recyclingvideo: Re: LEAVE BRITNEY ALONE! von Tizen Am 11. September 2007, nur einen Tag nachdem Crocker seinen Videoclip veröffentlich hatte, erstellte ein Nutzer namens Tizen auf YouTube eine Videoantwort (Abb. 14, oben). Gemäß der im englischsprachigen Raum etablierten Konvention aus Korrespondenz (»Re:« für »in re«, lat.: Betreffend) und Email-Verkehr (»Re:« als Abkürzung für »Reply«) nannte Tizen sein Video Re: LEAVE BRITNEY ALONE! Dieses Video gehört zu den ersten Videoantworten überhaupt; mehr als 2,4 Millionen Nutzer haben es bisher angeklickt. Die meisten Videoantworten gehen über eine Art gesprochenen Kommentar nicht hinaus, Re: LEAVE BRITNEY ALONE! jedoch ist ein Recyclingvideo par excellence: es besteht fast ausschließlich aus bearbeitetem und neu zusammen gesetztem Material des Originalvideos. Die Tonspur des Originals wurde gesampelt und neu montiert, so dass Crocker etwa den Satz »What you don’t realize is that Britney is making crap!« zu sagen scheint. Ein anderes wichtiges Element der Tonspur des Antwortvideos sind einzelne Wörter (z.B. »more«) und Satzfetzen (z.B. »all you people want«), die mehrmals hintereinander wiederholt und dabei schrittweise verschnellt und gepitcht wurden. Dieser Soundcollage aus manipulierten Versatzstücken des Originaltons wird mit elektronischen Percussion-Instrumenten ein immer dominanter werdender Rhythmus unterlegt, so dass das etwa eine Minute und 33 Sekunden lange Antwortvideo gegen Ende bereits den Charakter eines Liedes besitzt. Die Bildspur des Antwortvideos orientiert sich nur teilweise an der Tonspur, nämlich dann, wenn die den Ton-Samples zugehörigen Bild-Samples des Originalvideos gezeigt und – teils recht holprig – mitgesamplet werden. Stellenweise aber wird nur ein Standbild gezeigt, so dass sich statische mit dynamischen Elementen in der Bildspur abwechseln. Der Videoclip beginnt mit einer dieser statischen Sequenzen: Zu einem Standbild des Originalvideos hört man, wie Chris Crocker scheinbar Sätze sagt, die seine ursprünglich getätigten Äußerungen in ihr Gegenteil verkehren, etwa »Her song is crap for a reason...«. Man könnte sagen, dass das Standbild hier eine beruhigende Wirkung entfaltet, zumindest erfordert es nicht so viel Aufmerksamkeit wie ein bewegtes Bild, so dass sich der Betrachter ganz auf die auditive Ebene konzentrieren (und damit eventuell auf das Gesagte einlassen) kann. Eine ähnliche Konstellation mag der Betrachter des Videoclips von Nachrichtensendungen her kennen, bei denen die Informationsvermittlung über die direkte Adressierung durch den Nachrichtensprecher (oder einen Korrespondenten) er-

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folgt.209 Falls der Kontakt zum Korrespondenten nur über eine Telefonleitung erfolgen kann (ein ›televisioneller GAU‹), wird aus Mangel an Bildmaterial gemäß der Konvention210 meist ein Archivbild des Korrespondenten eingeblendet (Abb. 13), so als wolle man bekräftigen, dass es diese Person tatsächlich gibt und dass sie gerade wirklich spricht. Während der Korrespondent berichtet, wird nach kurzer Zeit oft Archivmaterial eingespielt (oder der Moderator im Studio wird gezeigt), worauf später erneut das Bild des Korrespondenten gezeigt wird.

Abb. 13: Screenshot einer Nachrichtensendung vom 17. Januar 1991 211

Zwar fehlen Re: LEAVE BRITNEY ALONE! von Tizen wichtige Elemente der in Nachrichtensendungen verwendeten composite graphic – etwa das Einblenden von topographischen Karten und dem Namen des Korrespondenten –, das rhythmische Kompositionsmuster wird im hier besprochenen Antwortvideo jedoch wiederholt: Auf das Standbild des sprechenden Chris Crocker folgt eine kurze dynamische Sequenz, und darauf, bei der 18. Sekunde des Videos, wieder ein Standbild. Das zweite Auftauchen des Standbildes hat jedoch keine beruhigende Wirkung sondern löst

209 Vgl.: Doane, Mary-Ann (2006): Information, Krise, Katastrophe, in: Fahle, Oliver; Engell, Lorenz (Hg.): Philosophie des Fernsehens. München: Wilhelm Fink, S. 102-120, hier S. 105. 210 Vgl. Yorke, Ivor; Alexander, Ray (2000): Television News. Oxford: Focal Press, S. 69. Die erste Auflage des Buches erschien 1978 unter dem Titel The Techniques of Television News. 211 Quelle: ‹http://www.youtube.com/watch?v=-NWS2Q79QTQ› [15. Januar 2011]. Im Januar 1991 berichtete Bernard Shaw zusammen mit Peter Arnett und John Holliman live über die Bombardierung Bagdads, vgl. den Eintrag zu Bernard Shaw in: Murray, Michael D. (1999): Encyclopedia of Television News. Phoenix: Oryx Press, S. 233.

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eine Irritation aus – zumindest bei den Betrachtern, die sich unbewusst auf die aus den Nachrichten bekannte Konvention der Darstellung eingelassen haben. Der Grund ist, dass das zweite, auf der Tonebene mit einem finalen »more« korrespondierende Standbild manipuliert wurde, es zeigt Crocker mit einem Spitz- und Oberlippenbart, sowie starken und von der Mitte aus schräg nach Oben in die entgegengesetzten Ecken weisenden Augenbrauen (Abb. 14, oben).

Abb. 14: Zwei Beispiele für ›aufgemalte‹ Bärte (oben: 2007, unten: 2008)212 Die Irritation resultiert daraus, dass die Manipulation nicht der Konvention entspricht. Tatsächlich ging es Tizen gerade nicht darum, dass das Material authentisch wirkt. Verglichen mit den auch Laien zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der

212 Quelle oben: Re: LEAVE BRITNEY ALONE! von Tizen ‹http://www.youtube.com/watc h?v=uEE3akeFeQU›, Quelle unten: MORE MORE CRAP (Chris Crocker Remix) von kitkat424 ‹http://www.youtube.com/watch?v=lfa7RZR_V4k› [15. Januar 2011].

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Bildmanipulation scheint die Ausführung grob und ungenau, wie mit dickem, schwarzen Stift aufgetragen. So sind beispielsweise unter den digital aufgemalten Augenbrauen noch die echten zu erkennen. Vielleicht sollte die Modifikation Chris Crocker einen diabolischen ›Touch‹ verleihen oder seine androgyne Ausstrahlung durch eindeutig männlich konnotierte Attribute ihrer Ambiguität berauben. Das Aufmalen von Bärten als ikonoklastische Tradition

Die hier beschriebene Modifikation scheint nicht zuletzt aufgrund ihrer groben Ausführung recht unspektakulär zu sein. Tatsächlich aber zeigt ein anderes Beispiel, MORE MORE CRAP (Chris Crocker Remix) des Nutzers kitkat424 (Abb. 14, unten)213 überraschende Ähnlichkeiten in der Art (grob, wie mit schwarzem Stift ausgeführt) und dem Ziel der Modifikation (Augenbrauen und Gesichtsbehaarung). Man könnte vermuten, dass hier ein Nutzer die Idee des anderen übernommen hat, doch es gibt noch weitere Beispiele dieser Praxis in anderen Medien. Im Herbst 2003 modifizierten in Paris Gruppierungen wie die Casseurs de Pub oder Résistance à l’agression publicitaire Werbeplakate auf eine sehr ähnliche Art und Weise, um gegen die Beanspruchung des öffentlichen Raumes durch die Werbeindustrie zu protestieren. Diese scheinbar harmlosen Bart-Kritzeleien werden jedoch nicht nur als Protestaktionen von politischen Aktivisten verwendet, sondern sie haben sogar schon Eingang gefunden in das Repertoire der Werbeindustrie. So werden bereits Anzeigen erstellt, in denen die Fotomodelle von Seiten des Auftraggebers mit Schnurr- und Spitzbart versehen werden, um Aufmerksamkeit zu erregen.214 Hier hat sich die Reklame also genau jener Praxis bedient, die Lehmuskallio als »kulturellen Widerstand« gegen (unter anderem) eben diese Werbeindustrie wertet. Das Aufmalen von Bärten beschränkt sich demnach keineswegs auf das Internet, vielmehr handelt es sich um eine Art ikonoklastischer Tradition, die als eine Form ritualisierter Zerstörung angesehen werden kann. Oberflächlich betrachtet gehört das Bärte-Aufmalen in die Kategorie des Vandalismus: Sicher hat jeder schon

213 ‹http://www.youtube.com/watch?v=lfa7RZR_V4k› [15. Januar 2011]. 214 Ein weiteres Beispiel wäre die von Asko Lehmuskallio thematisierte Anzeige der Modelagentur storm. Über dem Slogan »Models so beautiful, you’ll hate them for it« ist das Foto eines Manneqins zu sehen, dass von professioneller Seite mit einer Zahnlücke sowie dem hier bereits mehrfach beschriebenen Spitz- und Oberlippenbart versehen wurde. Abgedruckt in: Berger, Warren (2001): Advertising Today. London: Phaidon, S. 52. Ironischerweise ist das Aufkleben von Bärten bei Frauen bereits zum Modetrend geworden: Stegemann, Jana (2012): Fashionspießer: »Mustache-Trend«. Was für ein Wucher, in: Süddeutsche.de vom 30. Oktober 2012. ‹http://www.sueddeutsche.de/stil/fa shionspiesser-mustache-trend-was-fuer-ein-wucher-1.1503226› [5. November 2012].

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einmal ein Gesicht bekritzelt – sei es aus einem gewissen Unmut heraus oder aus Langeweile. Derartiges Verhalten passt auch gut zu einem Rocker: So soll – laut der Webseite Forgotten Journal – Slash, der Gitarrist der Band Guns’n’Roses ein bei einem Radiosender hängendes Portrait der Sängerin Debbie Harry auf diese Art und Weise ›verschönert‹ haben (Abb. 15).215 Zudem spielt bei dieser Praxis ein gewisser spielerischer Umgang mit dem Bild und seinen möglichen Bedeutungen eine Rolle, nicht zufällig erinnert es auch an das Gekritzel eines Kindes.

Abb. 15: Blondies have more fun: Modifiziertes Portrait von Debbie Harry216

215 ‹http://forgottenjournal.com/index.php/2008/01/08/blondies-have-more-fun/578/› Mai 2011]. 216 Ebd.

[15.

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Daffy Doodles – Eine ikonoklastische Praxis und ihre Interpretation

Abb. 16: Acht Screenshots aus Daffy Doodles (1946)

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Die große Verbreitung und Relevanz dieser Eingriffe in öffentlich zugängliche Bilder zeigt sich auch darin, dass diese 1946 zum Thema eines Zeichentrickfilms der Serie Looney Tunes gemacht wurden. In dem Film mit dem Titel Daffy Doodles (auf deutsch: Daffy kritzelt) wird der schwarze Enterich Daffy Duck vom Polizisten Porky Pig verfolgt, weil er Werbeplakate (und unachtsame Passanten) mit Bärten beschmiert (Abb. 16).217 Wie die Abbildung zeigt, bekritzelt Daffy Werbefiguren, die zur damaligen Zeit tatsächlich verwendet wurden, etwa Elsie the Cow von Borden Dairy Products und einen Campbell Soup Twin (Abb. 16, links oben) – aber auch real existierende Kunstwerke wie die Venus von Milo (Abb. 16, zweite Reihe, links). Zu Anfang des Films entwirft der Erzähler aus dem Off das dramatische Bild eines Monsters, das ohne Warnung zuschlägt und eine ganze Stadt terrorisiert: »In a large, eastern city, a demon is on the loose. The people are terrified, the police baffled. With diabolical cleverness, the monster strikes without warning... and draws mustaches on all the ads. No one knows who this fiend is. It could be you. It could be me.«218

Nach dieser Einleitung ist der Zuschauer überrascht, dass kein Dämon, sondern der recht sympathisch wirkende Enterich Daffy Duck mit dem Satz »But it happens to be me!« ins Bild hüpft. Daffy beginnt sogleich, sein Tun zu relativieren: »We’ve all got a mission in life; we get into different ruts. Some are the cogs on the wheels; others are just plain nuts. […] Science is some folks’ calling; others pilot a ship. My mission in life, stated simply, is: a mustache on every lip!«219

Daffys Rechtfertigung wird an der Stelle der Auslassung durch eine Sequenz unterbrochen, in der er völlig aus dem Zusammenhang heraus anfängt zu singen und zu springen. Dieser Aussetzer verleiht Daffy zwar eine gewisse Verrücktheit, dennoch bleibt er ein sympathischer Charakter, dem anzusehen ist, dass ihm das Bemalen von Plakaten eine geradezu kindliche Freude bereitet (Abb. 16, dritte Reihe). Daffys ›Aussetzer‹ verdient jedoch eine eingehendere Betrachtung, denn tatsächlich lässt sich das scheinbar bedeutungslose und verrückte »I’m just wild about Harry, and Harry’s wild about me« – die einzige von Daffy während des Aussetzers gesungene Textzeile – als Verweis auf bestimmte politische Einstellungen lesen220 , was auch Daffys weitere Handlungen in einen politischen Kontext rücken könnte.

217 Regisseur: Robert McKimson, vgl: ‹http://www.imdb.com/title/tt0038444/› [15. Januar 2011]. Der sieben Minuten lange Film ist im Internet abrufbar unter: ‹http://www.daily motion.com/video/x4jwfg_merrie-melodies-daffy-doodles-1946_shortfilms› [5. Januar 2011]. 218 ‹http://www.imdb.com/title/tt0038444/quotes› [15. Januar 2011]. 219 Ebd. 220 Daffys Textzeile stammt aus dem sehr populären und von vielen Interpreten gesungenem Lied I’m Just Wild About Harry. Dieses Lied wurde 1921 von Eubie Blake kom-

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Im weiteren Verlauf des Zeichentrickfilms erlaubt sich Daffy noch einige Späße mit dem ihm dicht auf den Fersen bleibenden Polizisten Porky Pig (Abb. 16, unten links), wird aber schließlich von diesem verhaftet. In dem darauf folgenden Gerichtsprozess fleht Daffy den Richter an, ihn frei zu lassen. Eines der Hauptargumente seines Plädoyers ist, dass der Richter eines Tages ja in eine ähnliche Lage geraten könnte: »You might be a fiend yourself some day. What do you say, Your Excellency?«221 Indirekt bezeichnet Daffy sich selbst also als »fiend« und schließt sich damit der anfänglichen Charakterisierung des Erzählers an (»No one knows who this fiend is.«). Interessant ist, dass das englische »fiend« mehrere Bedeutungsebenen222 besitzt: • Zunächst bezeichnet »fiend« einen bösen Geist, Dämon, Teufel oder eine vor-

bzw. grundsätzlich bösartige Person, einen Unhold. Diese Bedeutungsebene könnte eine Person beschreiben, die mutwillig Böses tut, zum Beispiel aus Zerstörungswut Eigentum beschädigt. Nach dieser Lesart wäre das Beschmieren von Werbeplakaten als Vandalismus zu werten, d.h. als krimineller Akt. • Eine weitere Bedeutungsebene von »fiend« umfasst Personen, die stören und für

Aufregung und Ärgernis sorgen; das zugehörige Beispiel des Wörterbuches ist der Satz »Those children are little fiends.«223 Auch im Deutschen würde man in einem solchen Zusammenhang von ›kleinen Teufeln‹ sprechen. Mit dem Verweis auf Kinder tritt hier das spielerische Element in der Vordergrund. Das Bekritzeln von Plakaten würde also als kindischer Spaß oder harmloser Streich durchgehen. • Schließlich wird »fiend« auch mit einer Art Besessenheit in Verbindung gebracht.

Sei es eine Art Sucht, ein übersteigertes Interesse an etwas oder eine besondere Begabung. Bei dieser Bedeutungsebene spielen also psychische Motive eine große Rolle: Eine Person scheint besessen, weil unbewusste Affekte oder vehement vertretene Interessen in den Vordergrund geraten. Diese Bedeutungsebene würde

poniert (Text von Noble Sissle) und stammt aus dem Broadway-Musical Shuffle Along. Shuffle Along erlangte besondere Bekanntheit, weil es das erste finanziell erfolgreiche Musical war, das komplett von Afro-Amerikanern geschrieben, produziert und aufgeführt wurde. Der Song I’m Just Wild About Harry brach mit dem bis zu dieser Zeit geltendem Tabu der musikalischen oder bildnerischen Darstellung von Liebesbeziehungen unter Afro-Amerikanern. Im Jahr 1948 benutzte Harry S. Truman dieses Lied für seine Kampagne zur Präsidentschaftswahl. Vgl.: Cox, Clinton; Haskins, Jim; Tate, Eleanora E.; Wilkinson, Brenda (2002): Black Stars of the Harlem Renaissance. New York: John Wiley & Sons, S. 31. 221 ‹http://www.imdb.com/title/tt0038444/quotes› [15. Januar 2011]. 222 Random House Dictionary (2011): fiend. ‹http://dictionary.reference.com/browse/fiend› [15. Januar 2011]. 223 Ebd.

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bei Daffys Handeln also entweder von einem spontanen Impuls ausgehen, von einem unbeherrschbaren Zwang – oder aber von einer Art Mission, hinter der bestimmte (eventuell sogar politische) Motive stecken. Dass außerdem eine besondere Begabung genannt wird, ist in diesem Zusammenhang interessant. Zwar wird in dem Trickfilm (zumindest explizit) die Frage nach der Kunst ausgeklammert, doch diese Bedeutungsebene wirft mindestens die Frage auf, ob es sich bei Daffys Aktivität um künstlerisches Schaffen handeln könnte.

In Bezug auf die ikonoklastischen Praxen spiegelt die Mehrdeutigkeit von »fiend« die Vielfalt an Interpretationsmöglichkeiten wider, während gleichzeitig eine moralische Wertung vermieden wird. Auch der Richter will sich nicht festlegen und überlässt das Urteil der Jury. Diese spricht Daffy darauf einstimmig frei, was wohl dem Umstand zu verdanken ist, dass alle Jury-Mitglieder Zeichentrick-Klone von Jerry Colonna sind (Abb. 16, unten rechts), einem amerikanischem Entertainer, der auf visueller Ebene vor allem durch seinen Schnauzbart beeindruckte. So tröstlich der gute Ausgang von Daffy Doodles für den Titelhelden ist, das ganze Spektrum an Fragen, die der Zeichentrickfilm aufgezeigt und in dem Begriff »fiend« so trefflich konzentriert hat, bleibt indes erhalten. Aus diesem Grund wird in den folgenden beiden Abschnitten auf zwei Kunstwerke zurück gegriffen, die ebenfalls in dieser ikonoklastischen Tradition stehen. Hierbei gilt es zu beachten, dass es nicht allein um Bärte geht: Das (virtuelle) Bekritzeln von Gesichtern stellt nur ein Beispiel dar für sämtliche Modifikationen, die an den Videoclips vorgenommen werden. Das nun folgende Unterkapitel widmet sich Marcel Duchamps bärtiger Mona Lisa, wobei hier vor allem die Auswirkungen der ikonoklastischen Modifikation untersucht werden: Was bedeutet es, wenn an Stelle des Originals eine Reproduktion modifiziert wird? Was passiert, wenn es dazu noch verschiedene Versionen der modifizierten Reproduktion gibt? Wie wirken sich die modifizierten Reproduktionen auf die Wahrnehmung des Originals aus?

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L.H.O.O.Q. – Reproduktion und ikonoklastische Modifikation

Abb. 17: Duchamps bärtige Mona Lisas (links: 1919, rechts: 1964)224 Das vermutlich bekannteste in der zuvor beschriebenen ikonoklastischen Bildtradition stehende Werk ist Marcel Duchamps L.H.O.O.Q. (Abb. 17) aus dem Jahr 1919. Duchamp fügte hier einer Reproduktion der Mona Lisa von Leonardo da Vinci (ca. 1503-1506) Gesichtsbehaarung hinzu – eine Modifikation, die sich mit verblüffender Ähnlichkeit in den heutigen Video-Beispielen wieder findet. Dabei ist irrelevant, ob die Produzenten der Recyclingvideos Duchamps Werk und dessen strittigen Kunstcharakter225 kannten oder nicht. L.H.O.O.Q. wird in der Literatur dahingehend interpretiert, dass der Bart »den doppeldeutigen Geschlechtscharakter der

224 Links: Marcel Duchamp, L.H.O.O.Q. (1919, Detail), Stift auf einer Reproduktion von Leonardo da Vincis Mona Lisa, 19,7x12,4 cm, The Mary Sisler Collection, New York. Rechts: Marcel Duchamp, L.H.O.O.Q. (1964, Detail), Nr. 21 aus einer Edition von 35 (Arturo Schwartz Edition), Stift auf einer Reproduktion von Leonardo da Vincis Mona Lisa, 30,2x22,9 cm, Privatsammlung ‹http://www.christies.com/LotFinder/lot_details. aspx?intObjectID=5371967› [5. Mai 2012]. 225 Hierbei ist zu beachten, dass schon bei L.H.O.O.Q. selbst der Kunstcharakter strittig ist. Vgl.: Carroll, Noël (1986): Art and Interaction, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 45, No. 1 (Autumn, 1986), S. 57-68, hier S. 58.

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Dargestellten«226 hervorhebe und auf »Spekulationen um Leonardos Homosexualität«227 hinweise. Das Hinterfragen von sexuellen Präferenzen und Geschlechtsidentitäten228 spielt zwar auch bei Crocker eine Rolle. Viel entscheidender für ein genaueres Verständnis der bei Zirkulation und Wiederholung ablaufenden Prozesse – dem Anliegen dieses Buches –, ist jedoch ein anderer Aspekt von Duchamps Werk. Die bereits im Titel229 deutlich werdende Respektlosigkeit gegenüber der Mona Lisa passt zwar in das dadaistische Konzept der Anti-Kunst. Doch Duchamp ging es nicht darum, gegen das Konzept der Kunst zu rebellieren oder diese zu zerstören.230 Vielmehr hatten sich für ihn die Möglichkeiten traditioneller Malerei erschöpft, er wollte »neue, bislang nie gestellte Fragen an die Kunst richten«231 und Grenzbereiche ausloten. Er selbst beschreibt L.H.O.O.Q. wie folgt: »This Mona Lisa with a moustache and a goatee is a combination readymade and iconoclastic Dadaism. The original, I mean the original readymade is a cheap chromo 8x5 on which I inscribed at the bottom four letters which pronounced like initials in French, made a very risque joke on the Gioconda.«232

226 Zweite, Armin (1987): Modifikationen und Defigurationen, in: Zweite, Armin (Hg.): Asger Jorn 1914-1973. Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen, Skulpturen. München: Städtische Galerie im Lenbachhaus, S. 67-74, hier S. 71. Vgl. auch das Kapitel »2. Das Spiel mit den Zeichen der Geschlechtszugehörigkeit« in: Arnke, Jörg (2008): Kommunikationswissenschaftliche Aspekte des Werkes Marcel Duchamps. Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung. Band 23. Aachen: Shaker Verlag, S. 25-45. 227 Elger, Dietmar; Grosenick, Uta (2009): Dadaismus, Köln: Taschen, S. 82. 228 Laut Daniels findet die zum Mann gewordenen Mona Lisa ihre komplementäre Ergänzung in Duchamps Travestie als Rrose Sélavy ab 1921. Vgl.: Daniels, Dieter (1992): Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte der Moderne. Köln: DuMont, S. 186f. 229 Wird der Titel L.H.O.O.Q. auf französisch buchstabiert bzw. phonetisch gelesen, so ergibt sich mit etwas Phantasie der recht deutlich sexuell konnotierte Satz »Elle a chaud au cul«. Vgl.: Cabanne, Pierre (1972): Gespräche mit Marcel Duchamp. Köln: Verlag Galerie Der Spiegel, S. 93. 230 Das Konzept der Zerstörung der Kunst ist viel eher in den Werken von Kurt Schwitters, George Grosz, John Heartield, und Johannes Theodor Baargeld verwirklicht, auch diese verwendeten in ihren Collagen bekannte Meisterwerke der Kunst. 231 Elger; Grosenick (2009): Dadaismus, S. 82. 232 Marcel Duchamp zitiert in: d’Harnoncourt, Anne; McShine, Kynaston (1973); Marcel Duchamp. New York: The Museum of Modern Art, S. 289. Das Zitat stammt aus Duchamps Vortrag Apropos of Myself am City Art Museum of St. Louis vom 24. November 1964. Bei vielen Autoren wird das »four« als Fehler markiert, da der Titel L.H.O.O.Q. offensichtlich fünf Buchstaben enthält. Allerdings kommt das »O.« doppelt vor, es sind also nur vier verschiedene Buchstaben und die Aussage Duchamps lässt sich auch in diesem Sinn verstehen. Vielleicht ist aber auch ein four-letter word (d.h. ein Kraft- oder Vulgärausdruck) gemeint.

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In aller Deutlichkeit benennt Duchamp den ikonoklastischen Charakter seines Werkes, dabei gilt normalerweise die Zerstörung eines Originals als ikonoklastischer Akt.233 Zwar behandelt Dario Gamboni in seinem maßgeblichen Werk zum Ikonoklasmus auch L.H.O.O.Q.,234 dennoch aber bleibt bei diesem Werk und den vorliegenden Videobeispielen der Unterschied bestehen, dass nur eine Reproduktion modifiziert wurde, während das Original unangetastet blieb. Welches Verhältnis aber entwickelt sich zwischen der Modifikation und dem »Meisterwerk«, dem, um mit Benjamin zu sprechen, mit Aura behafteten Original? Es gilt also zwei Fragen zu klären: 1) Kann man in einem derartig gelagerten Fall tatsächlich von einem ikonoklastischen Akt sprechen?, und 2) Wie wirkt sich die Zerstörung einer Reproduktion auf das unangetastete Original aus? Diese Fragen sind nicht in einigen wenigen Sätzen zu beantworten. Die nun folgenden Abschnitte sollen sie entsprechend ihrer Komplexität behandeln und zu einer Klärung beitragen. Gehet hin und mehret euch: Reproduktionen und Modifikationen Das bereits angeführte Zitat, in dem Duchamp L.H.O.O.Q. beschreibt, enthält eine höchst bemerkenswerte Wortschöpfung: »original readymade«. Duchamp beginnt von einem Original zu sprechen, doch dann wird ihm vermutlich bewusst, dass das Original nur die Mona Lisa im Louvre sein kann. Er verbessert sich schließlich und erfindet die Kategorie des »original readymade« um den Zustand der Reproduktion vor seiner Modifikation zu beschreiben. Diese originale Reproduktion charakterisiert Duchamp dann als »cheap chromo«. Auffällig viele Autoren scheinen sich auf diese Formulierung zu berufen wenn sie betonen, dass es sich um eine billige Reproduktion handelt. Denn außer Formulierungen wie »cheap ›readymade‹ color reproduction«235 oder »cheap postcard reproduction«236 sind grundsätzlich auch genauere und im Ton sachlichere Beschreibungen denkbar: »an inexpensive reproduc-

233 Vgl.: Gamboni, Dario (1997): The Destruction of Art: Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution. London: Reaktion Books, S. 17ff. Zu modernen Formen des Ikonoklasmus siehe auch: Birnbaum, Daniel (1997): The Art of Destruction, in: Frieze, Nr. 35 (June-August 1997), S. 37-38. Online abzurufen unter ‹http://www.frieze.com/is sue/article/the_art_of_destruction/› [15. Januar 2011]. 234 Vgl.: Gamboni (1997): The Destruction of Art, S. 261ff. bzw. Gamboni, Dario (1998): Zerstörte Kunst. Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert. Köln: DuMont, S. 269ff. 235 Vgl. Howard, Seymour (1996): On Iconology, Intention, Imagos, and Myths of Meaning, in: Artibus et Historiae, Vol. 17, No. 34 (1996), S. 83-94, hier S. 88. 236 LaFarge, Antoinette (1996): The Bearded Lady and the Shaven Man: Mona Lisa, Meet »Mona/Leo«, in: Leonardo, Vol. 29, No. 5, Fourth Annual New York Digital Salon (1996), S. 379-383, hier S. 381.

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tion of Leonardo da Vinci’s Mona Lisa, which he purchased from a card shop on the rue de Rivoli in Paris.«237 Wie also ist das Adjektiv ›billig‹ zu verstehen? Drückt es vor allem eine qualitative Eigenschaft aus (z.B. preiswert, günstig, schlecht gemacht, ungenau, nicht auf dem neuesten technischen Stand), oder deutet es eine generelle Geringschätzung des Reproduzierens an?

Abb. 18: Arthur Sapeck, La Joconde fumant la pipe (1883)238 Zunächst sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Mona Lisa selbst ihren Status als weltweit bekannte Ikone der Malerei – ironischerweise – den unzähligen Reproduktionen und Weiterverwendungen verdankt.239 Zurecht charakterisiert Roland Henß-

237 Naumann, Francis M. (1999): Marcel Duchamp: The Art of Making Art in the Age of Mechanical Reproduction. Ghent: Ludion Press, S. 80. Hervorhebung im Original. 238 Quelle: Cadet, Coquelin (1887): Le Rire, Paris: Paul Ollendorff, S. 5. Im Begleittext heißt es dazu: »Voici un tableau de maître représentant une femme d’une beauté éclatante. Supposez, un instant, que, par hasard, le maître ait laissé dans la bouche de cette femme idéale, une pipe culottée. – Vous riez.« S. 4-5. Interessanterweise wird hier impliziert, die Modifikation sei ›zufällig‹ (par hasard) entstanden, gerade so, als hätte der Maître ›aus Versehen‹ eine Pfeife gemalt. Dieser Gedanke wird in den hier folgenden Kapiteln noch weiter ausgeführt werden. 239 Vgl.: Sassoon, Donald (2001): »Mona Lisa«: The Best-Known Girl in the Whole Wide World, in: History Workshop Journal, No. 51 (Spring, 2001), S. 1-18. Die Idee mannig-

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Dewald in seinem Vorwort zu Copy Art die Kopie als Erkenntnisträger. Seine Beobachtung, dass die meisten Menschen Kunst vor allem als Reproduktion kennen oder sie zumindest durch eine solche kennen gelernt haben schließt er mit der Frage ab: »Was bewirkt bei den Menschen mehr, die Mona Lisa im Louvre oder ihre millionenfach verbreiteten Postkartenabbilder?«240 Außerdem sollte erwähnt werden, dass Duchamp mit Sicherheit nicht die erste künstlerische Modifikation der Mona Lisa vorgenommen hat. Eines der bekannteren Werke ist zum Beispiel La Joconde fumant la pipe (Abb. 18), die Eugène Bataille bereits 1883 schuf und 1887 unter seinem Pseudonym Arthur Sapeck in Le Rire veröffentlichte. Dieses Werk ist der kurzlebigen, 1882 von Jules Lévy gegründeten Bewegung Les Arts Incohérents zuzuordnen, die neben bewusst irrationalen Arbeiten auch solche mit ikonoklastischem Charakter schuf und daher als Vorläufer des dadaistischen Spottes und insbesondere von Marcel Duchamps Œuvre gelten kann.241 Interessant ist zudem, dass Duchamp mehrere Versionen von L.H.O.O.Q. schuf (z.B. Abb. 17, rechts), bzw. sogar hat schaffen lassen.242 Nachdem Duchamp 1919 die erste Version auf einer farbigen Postkarte geschaffen hatte, gab es bereits im März 1920 eine weitere Version. Diese zierte das Cover der zwölften Ausgabe der von seinem Freund Francis Picabia herausgegebenen dadaistischen Zeitschrift 391. Tatsächlich aber stammte diese Version gar nicht von Duchamp selbst: »Duchamp, who created L.H.O.O.Q. at the end of 1919 while living with Picabia in Paris, had left for New York at the beginning of 1920, just as the first Parisian Dada season began, taking L.H.O.O.Q. with him. Appropriating Duchamp’s work, Picabia replicated the piece for his magazine – art can be defaced by anyone, the graffito respects no authorship, the assisted readymade would be collective – although Picabia elided his agency here, announcing unequivocally above the image: ›TABLEAU DADA by MARCEL DUCHAMP‹.«243

Obwohl sich diese Version in mehreren Punkten von Duchamps L.H.O.O.Q. unterscheidet – Titel und Ziegenbart fehlen während der Oberlippenbart deutlicher ausgeprägt und mit phallisch nach Oben weisenden Enden versehen ist244 – erhob Duchamp keine Einwände gegen sie.245 Picabias ›Original‹ verschwand für einige Zeit

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facher Reproduktion ist besonders anschaulich bei Andy Warhols Mona Lisa (1963, Courtesy Blum Helman Gallery, New York) verbildlicht. Henß-Dewald (1991): Vorwort, S. 10. Vgl.: Gamboni, Dario (2002): Potential Images: Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art. London: Reaktion Books, S. 158-159. Naumann (1999): Marcel Duchamp, S. 21. Baker, George (2001): The Artwork Caught by the Tail, in: October, Vol. 97 (Summer, 2001), S. 51-90, hier S. 60. Hervorhebungen im Original. Vgl. Ebd. S. 62. Naumann (1999): Marcel Duchamp, S. 21.

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bis es Hans Arp Anfang der 1940er Jahre in einem Buchladen fand und Duchamp präsentierte. Dieser nutzte die Gelegenheit um das Werk zu komplettieren: Zu Picabias Schnauzbart malte er den Kinnbart, signierte das Werk (April 1942) und schrieb in die untere rechte Ecke »moustache par Picabia / barbiche par Marcel Duchamp.«246 Prozesshaftigkeit und Kollaboration sind augenscheinlich entscheidende Elemente im Œuvre Duchamps. Tatsächlich wollte Duchamp Veränderung, denn in der gleichförmigen Wiederholung sah er den Feind der Kunst.247 Doch es gibt noch weitere Versionen, etwa die, die Duchamp selbst im Februar 1930 für eine von Louis Aragon organisierte Ausstellung in der Galerie Goemans in Paris schuf. Statt erneut eine Postkarte zu verwenden, kaufte Duchamp eine großformatige FarbReproduktion der Mona Lisa und modifizierte sie auf gleiche Art und Weise. Auf der Ausstellung kam es dann zu einem erstaunlichen Zusammentreffen: »Curiously, in the exhibition, both versions of this work were shown, as if, for the first time, Duchamp wanted to seize the opportunity to openly question the value of an original versus a replica (particularly interesting in this case, when, even before the differences are considered, it must be acknowledged that both the original and the replica are reproductions to begin with).«248

Hier ziegt sich, dass es Duchamp nicht darum ging, die Reproduktion an sich zu diskreditieren, sie als wertlos darzustellen. Vielmehr erhält das Reproduzieren hier eine Beiläufigkeit, eine Natürlichkeit; so als wolle Duchamp sagen: Es gibt eine kleine Version meines Werkes, na klar, warum sollte es nicht auch eine größere geben? Auf der anderen Seite versah Duchamp eine Version von L.H.O.O.Q. vom April 1942 mit dem Hinweis »pour copie non conforme«.249 Daraus lässt sich schließen, dass es Duchamp nicht um den Ausdruck von Beliebigkeit ging, selbst wenn er um das Jahr 1955 mehrere Versionen (Multiples250 ) von L.H.O.O.Q. auf Küchenhandtüchern251 schuf. Doch wenn Leonardo da Vincis Mona Lisa als Küchenhandtuch endet, warum sollte dies nicht auch für L.H.O.O.Q. (L’Envers de la Peinture) möglich sein? Verwirrend ist, dass es Duchamp zwar einerseits nicht um

246 Webseite von Francis Naumann: ‹http://www.francisnaumann.com/DUCHAMP/text2. html› [15. Januar 2011]. 247 Vgl.: Naumann, Francis M. (1996): Marcel Duchamp: A Reconciliation of Opposites, in: Kuenzli, Rudolf E.; Naumann, Francis M. (Hg.): Marcel Duchamp. Artist of the Century. Cambridge: MIT Press, S. 20-40, hier S. 20. 248 Naumann (1999): Marcel Duchamp, S. 109. 249 Ebd. S. 22. Die Formulierung »pour copie conforme« wird in Frankreich z.B. von Notaren verwendet um Kopien zu beglaubigen. Auch Duchamp benutzte diese Formulierung um Repliken für Ausstellungen zu autorisieren. 250 Vgl. hierzu den Abschnitt »Das Ready-made als Multiple«, in: Daniels (1992): Duchamp und die anderen, S. 227-232. 251 Naumann (1999): Marcel Duchamp, S. 183.

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Beliebigkeit ging, andererseits aber auch nicht um Genauigkeit. Im Jahr 1960 besuchte Duchamp Max Ernst und Dorothea Tanning in ihrem neuen Haus in Huismes. Bei dieser Gelegenheit schuf Duchamp eine weitere Version von L.H.O.O.Q.: »One day, to match a moment’s levity, I showed Marcel Duchamp our Mona Lisa, a handpainted copy, actual size, that had been a mock ›prize‹ for Max at a party in Marie Laure’s Hyères retreat. The Mona Lisa. Here she was, a sinewy, all-wrong creature, powerfully painted on a wooden panel, her crooked leer a categorical repudiation not only of Leonardo da Vinci but of all artists. ›All she needs is a mustache,‹ I said, to prolong the fun. Duchamp: ›Well, give me two small brushes and a little white and raw umber.‹ That afternoon our Mona Lisa became a treasure after all, for he painted every hair of mustache and goatee, just as he had on his famous original. Another golden moment.«252

Marcel Duchamp war sich demnach nicht zu schade, eine stümperhaft gemalte Flohmarkt-Reproduktion der Mona Lisa zu veredeln. Entscheidend waren demnach nicht Qualität oder Größe der als Rohmaterial verwendeten Reproduktion, sondern die Idee, die hinter der Modifikation steckt und der Akt der Durchführung. Auch bei den verschiedenen Varianten von L.H.O.O.Q. geht es nicht um Genauigkeit in der Ausführung, sondern darum, dass die ursprüngliche Idee erhalten bleibt. Vergleicht man diese Sichtweise mit dem Phänomen der Recyclingvideos, so lässt sich nachvollziehen, warum viele Menschen bei ihren Bearbeitungen von Videoclips scheinbar die erst beste Version nutzen, die ihnen unter die Finger kommt. Nach der qualitativ besten, ursprünglichen Version eines Videoclips zu suchen bringt einen gewissen Aufwand mit sich. Scheinbar aber geht es nicht darum, diesen Aufwand zu scheuen, sondern die Idee, der spontane Gedanke stehen im Vordergrund, und dann wird eben die Version eines Videoclips bearbeitet, die man gerade hat. Daher gibt es auch nicht ein Original mit verschiedenen Versionen, sondern es bilden sich aufeinander aufbauende, verkettete Versionen von Videoclips. Iconoclash – Das Original vs. seine modifizierten Reproduktionen Im Fall der verschiedenen Recyclingvideos wie auch bei den zahlreichen Versionen von Duchamps L.H.O.O.Q. ergibt sich ein Szenario, in dem es neben einem Original nicht nur eine ikonoklastisch modifizierte Reproduktion gibt, sondern gleich mehrere. Die so entstandene Konkurrenzsituation könnte man als »Bilderkrieg« be-

252 Tanning, Dorothea (2004): Between Lives. An Artist and Her World. Evanston: Northwestern University Press, S. 231. Hervorhebungen im Original.

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zeichnen.253 Da es eben nicht zum vollständigen Auslöschen des Originals oder zu einer eindeutigen Zerstörung gekommen ist, entsteht beim Betrachter Verwirrung darüber, ob es sich um einen schöpferischen oder zerstörerischen Akt handelt. Diesen Moment des Zögerns bezeichnet Bruno Latour als Iconoclash: Um Iconoclash »handelt es sich, wenn wir es nicht wissen, wenn wir zögern, von einer Aktion verstört sind, von der sich ohne weitergehende Untersuchung nicht genau sagen lässt, ob sie destruktiv oder konstruktiv ist.«254

Tatsächlich geht es aber nicht um die immer schon gegebene Uneindeutigkeit und Interpretationsvielfalt von Bildern. Iconoclash bedeutet, dass die verschiedenen Bilder aufeinander prallen, was beim Betrachter eine gewisse Verwirrung oder Verunsicherung auslösen kann. Hier findet sich eine weitere Erklärung für die Irritation, die das unverhoffte Auftreten des modifizierten Standbildes von Chris Crocker auslöste, denn wie schon bei Mitchell ist auch bei Latour die Feststellung entscheidend, dass die Zerstörung neue, gar stärkere Bilder hervorbringt: »Furthermore, why is it that all those destroyers of images, those ›theoclasts‹, those iconoclasts, those ›ideoclasts‹ have also generated such a fabulous population of new images, fresh icons, rejuvenated mediators: greater flows of media, more powerful ideas, stronger idols? As if defacing some object would inevitably generate new faces, as if defacement and ›refacement‹ were necessarily coeval.«255

Bei L.H.O.O.Q. und den Recyclingvideos ist die Modifikation, die Zerstörung zwar deutlich sichtbar, allerdings nicht vollständig, weil sie das Original, von dem sie sich bereits abgelöst haben und auf das sie lediglich noch verwiesen, nicht auslöschen. Original und Modifikation existieren nebeneinander weiter, so dass man sagen kann, dass der Eingriff hier nicht nur etwas zerstört, sondern zugleich etwas Neues geschaffen hat. Bei L.H.O.O.Q. und den Recyclingvideos gibt es jedoch noch einen weiteren Aspekt: Selbst in der ikonoklastisch modifizierten Reproduktion bleibt das Original grundsätzlich sichtbar, denn die Modifikation gibt sich durch ihre grobe Ausführung als solche zu erkennen und lässt das Original in ausreichendem Maße durchscheinen: »Duchamp created a rudimentary sort of mask that reads instantly as male but does not even pretend to conceal the woman behind the mask.«256 Die Modifikation legt sich gewissermaßen wie eine Maske oder Folie über das Bild. Fast hat man den Eindruck, man könne sie jederzeit wieder abheben und auf das nächste Bild legen: sie hat sich damit abgelöst. Als wollte Duchamp

253 Vgl. Latour, Bruno (2002): Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Berlin: Merve. 254 Ebd. S. 8. Hervorhebung im Original. 255 Latour (2002): What is Iconoclash? S. 14. 256 LaFarge (1996): The Bearded Lady and the Shaven Man, S. 379.

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diesen Eindruck unterstützen, schuf er im Mai 1941 ein weiteres Werk, das als Variation von L.H.O.O.Q. gelten kann. Für das Titelblatt von George Hugnets Gedicht Marcel Duchamp (1939) malte er Moustache and Beard of L.H.O.O.Q.: Auf einem weißen Blatt Papier ist nur die schwarze Gesichtsbehaarung von L.H.O.O.Q. zu sehen.257 So ist zumindest im Fall der hier besprochenen Beispiele bei aller durch den Iconoclash ausgelösten Verwirrung gesichert, dass sogar eine Person, die das Original nicht gesehen hat, erkennt, was zum Original gehört und was hinzugefügt wurde. Dies gilt jedoch ebenso für eine verstümmelte Statue, oder für ein Denkmal, das zwar nicht mehr existiert, von dem es aber noch ein Bild des Umsturzes gibt. Der Betrachter erkennt ein Nachbild258, d.h. er erahnt die Herkunft und den ursprünglichen Zustand vor der Modifikation. Dies bedeutet, dass das Original trotz Veränderung erkennbar oder zumindest zu erahnen bleibt. Aus diesem Grund scheint es also kein signifikanter Unterschied zu sein, ob das Original, oder nur eine Reproduktion modifiziert wurde, während das Original weiter bestehen bleibt. Veränderung der Wahrnehmung durch In-Die-Zirkulation-Geraten Was für eine Wirkung hatten im Fall von L.H.O.O.Q. die verschiedenen Modifikationen auf die Wahrnehmung des Originals? Wer Duchamps L.H.O.O.Q. gesehen hat und dann in den Louvre geht, der wird die Mona Lisa dort mit anderen Augen, vielleicht mit gewissen Hintergedanken und einem leichten Schmunzeln sehen, das Erstarren in Ehrfurcht vor einer Ikone der Malerei wird jedoch unwiederbringlich verloren gegangen sein. Wie konnte es dazu kommen? Zur Klärung dieser Frage kann ein anderes Werk Duchamps beitragen, das ebenfalls als weitere Version von L.H.O.O.Q. gelten kann. Am 14. Januar 1965 eröffnete in der Cordier & Ekstrom Gallery in New York die Ausstellung NOT SEEN and / or LESS SEEN of / by MARCEL DUCHAMP / RROSE SELAVY 1904-1964. Einen Tag vor der offiziellen Vernissage gab es eine Preview für geladene Gäste, für die Duchamp die Einladung gestaltete. Jede dieser Einladungen war mit einer Spielkarte beklebt, die eine Reproduktion der Mona Lisa zeigte (Abb. 19). Unter diese Reproduktion schrieb Duchamp rasée / L.H.O.O.Q., also die rasierte Version seines Werkes aus dem Jahr 1919.259

257 Naumann (1999): Marcel Duchamp, S. 144. Über die Verwirrung, die dieses Werk in Bezug auf seine Autorschaft auslöst vgl.: Judovitz, Dalia (1998): Unpacking Duchamp. Art In Transit. Berkeley: University of California Press, S. 143ff. 258 Vgl.: Ahrens, Gerhard (1979): Bruchstücke der Tradition, in: Ahrens, Gerhard; Sello, Katrin (Hg.): Nachbilder. Vom Nutzen und Nachteil des Zitierens für die Kunst. Hannover: Kunstverein Hannover, S. 35-40. 259 Naumann (1999): Marcel Duchamp, S. 257.

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Leonardos Mona Lisa und rasée / L.H.O.O.Q. (L.H.O.O.Q. Shaved) sehen zwar identisch aus, aber sie sind es nicht. Wie Timothy Binkley in seinem Aufsatz Contra Aesthetics aus dem Jahr 1977 feststellt, könnte man daher sagen, dass es sich um zwei verschiedene Kunstwerke handelt, die in einem Objekt materialisiert sind: »L.H.O.O.Q. Shaved could, for the sake of argument, be construed as residing in the same physical object as the Mona Lisa itself. Then there is one extensionally specified object, but two intensionally specified artworks. […] The point is that artworks are identified intensionally, not extensionally. The reason L.H.O.O.Q. Shaved and the Mona Lisa are different artworks is not that they are different objects, but rather that they are different ideas.«260

Abb. 19: Marcel Duchamp, rasée / L.H.O.O.Q. (L.H.O.O.Q. Shaved, 1965)261 Entscheidend ist also hier nicht die äußere Erscheinung, sondern die Idee, die hinter einem Werk steckt. Duchamp ist es gelungen, ein bereits bekanntes ästhetisches Objekt mit einer neuen Idee zu verknüpfen. Binkley weist darauf hin, dass für diesen Prozess Duchamps Titelgebung bei rasée / L.H.O.O.Q. von besonderer Bedeutung ist. Die hinzugefügten Buchstaben lenken die Wahrnehmung in eine bestimmte

260 Binkley, Timothy (1977): Contra Aesthetics, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 35, No. 3 (Spring, 1977), S. 265-277, hier S. 275. 261 Quelle: ‹http://www.toutfait.com/issues/volume2/issue_5/music/hart/hart.html› [15. Mai 2012].

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Richtung, weisen damit aber gleichzeitig darauf hin, dass es nicht um das Aussehen eines Objekts geht, sondern um dessen Wahrnehmung und kulturelle Konnotation: »The flaw in aesthetics is this: how something looks is partly a function of what we bring to it, and art is too culturally dependent to survive in the mere look of things. The importance of Duchamp’s titles is that they call attention to the cultural environment which can either sustain or suffocate the aesthetic demeanor of an object. Duchamp’s titles do not name objects; they put handles on things. They call attention to the artistic framework within which works of art are indexed by their titles and by other means. The culture infects the work.«262

Die Wirkung von rasée / L.H.O.O.Q. erschöpft sich allerdings nicht in der Feststellung, dass ein Kunstwerk in ein kulturelles Gerüst eingebaut und innerhalb dieses Gerüstes interpretiert wird. Binkley weist darauf hin, dass Duchamp mit diesem Werk die Mona Lisa ihrer Ästhetik beraubt und sie ein zweites Mal gedemütigt hat: »As the risque joke is compounded by L.H.O.O.Q. Shaved, the Mona Lisa is humiliated. Though restored to its original appearance, it is not restored to its original state. Duchamp added only the moustache and goatee, but when he removed them the sacred aura of aesthetic qualities vanished as well – it had been a conventional artistic covering which adhered to the moustache and goatee when they were removed, like paint stuck to tape. The original image is intact but literalized; its function in Duchamp’s piece is just to denote the Mona Lisa. L.H.O.O.Q. looked naughty, graffiti on a masterpiece. It relies upon our seeing both the aesthetic aura and its impudent violation. But as its successor reinstates the appearance, the masterpiece is ironically ridiculed a second time with the disappearance of the dignity which made L.H.O.O.Q. a transgression. The first piece makes fun of the Gioconda, the second piece destroys it in the process of ›restoring‹ it.«263

Bei L.H.O.O.Q. war die Mona Lisa hinter ihrer Modifikation sichtbar, sie schien verletzt, hatte ihre Würde aber nicht verloren. Duchamps erste Version lebte gerade von dem unerhörten Widerspruch der Schmiererei zum Meisterwerk. Mit dem Bart sind nun aber auch Würde und Aura verschwunden. Wie konnte das geschehen? Entscheidend ist laut Binkley, dass durch rasée / L.H.O.O.Q. die zeitliche Abfolge umgedreht wird. Die Mona Lisa erscheint nun als eine Version von L.H.O.O.Q., eben als L.H.O.O.Q. ohne Bart: »L.H.O.O.Q. Shaved re-indexes Leonardo’s artwork as a derivative of L.H.O.O.Q., reversing the temporal seqence while literalizing the image, i.e., discharging its aesthetic delights. Seen as ›L.H.O.O.Q. shaved‹, the image is sapped of its artistic/aesthetic

262 Ebd. S. 272/273. 263 Ebd. S. 272. Hervorhebungen im Original.

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strength – it seems almost vulgar as it tours the world defiled. This is because it is placed in a context where its aesthetic properties have no meaning and its artistic ›person‹ is reduced to just another piece of painted canvas.«264

Duchamps rasée / L.H.O.O.Q. hat einen Prozess sichtbar gemacht, der bereits durch L.H.O.O.Q. in Gang gesetzt wurde: Duchamps Modifikation der Mona Lisa hat ein ›unantastbares Meisterwerk‹ zu einer Art ›Arbeitsfläche‹ transformiert. Damit aber geriet die Mona Lisa wieder in Zirkulation, denn Duchamp ermöglichte innovative Sichtweisen auf ein althergebrachtes Meisterwerk und damit einhergehend eine neue Ver- und Behandlung dieses Werks. Aus diesem Grund wird der durch Duchamp ausgelöste oder sichtbar gemachte Prozess nicht unbedingt negativ bewertet. Bereits 1970 stellte Wolf Rainer Wendt bei seiner Betrachtung des Ready-Mades fest, dass L.H.O.O.Q. ein neues ästhetisches Verhalten ermöglicht und einleitet: »Der Schnurrbart der Gioconda entwertet ein ästhetisches Objekt, das einem neuen ästhetischen Verhalten durch seine penetrante Vorbildlichkeit im Wege steht. Duchamps Verhalten gehört zum ästhetischen, weil es ein anderes ermöglichen soll und es einleitet. Jene Entwertung schafft die Tradition vom Halse – und erlaubt wieder einen eigenständigen und fruchtbaren Umgang mit ihr.«265

Wendt fährt fort und verweist auf Thomas Zacharias, der 1968 in einem Vortrag266 den Schnurrbart der Mona Lisa mit dem Bart vergleicht, den man damals im Schulalter der Cicero-Büste im Lateinbuch anzumalen pflegte: »Gioconda und Cicero, derart behandelt, erscheinen wieder ganz umgänglich; das Bild wird, da es den Betachter nicht mehr vergewaltigt, wieder ästhetisch praktikabel: ›Wer war der größere Künstler, der Schöpfer der Mona Lisa oder der ihres Bartes? Duchamps provozierender Eingriff zerstört das Denkmal und rettet das Geheimnis: ein künstlerischer Akt, ganz im Geiste Leonardos.‹«267

Auch die aktuellere Forschung bewertet Duchamps Eingriff ähnlich, Antoinette LaFarge sieht in Duchamps Modifikation sogar eine Rettung der Mona Lisa, eine Art Erweckung von den Toten: »Not the least of Duchamp’s achievements with L.H.O.O.Q. was to bring the Mona Lisa back from the dead. By attacking its iconic status, he removed it from historical time

264 Ebd. Hervorhebungen im Original. 265 Wendt, Wolf Rainer (1970): Ready-Made. Das Problem und der philosophische Begriff des ästhetischen Verhaltens, dargestellt an Marcel Duchamp. Meisenheim am Glan: Verlag Anton Hain, S. 19. 266 Zacharias, Thomas (1968): Die Organisation von Wahrnehmungsprozessen als Grundlage der Formfindung. Vortrag, gehalten auf dem 3. internationalen Kongress Design im Handwerk, München 1968, Teilweise abgedruckt in: Bauwelt 59/34 vom 19. August 1968, S. 1051. 267 Wendt (1970): Ready-Made, S. 19.

166 | U NDERSTANDING Y OU T UBE and brought it into the present, the only place where art can be experienced. L.H.O.O.Q. was actually an act of rescue (even if only temporarily) rather than an act of desecration. […] What L.H.O.O.Q. did do, on the other hand, was to nominate the petrified painting as a center of activity: a subject of debate, parody, paradox, criticism, thought, and reinvention. L.H.O.O.Q. simultaneously documents Duchamp’s thought processes and implicitly invites further interventions.«268

Hier wird besonders deutlich, dass ein ikonoklastischer Akt, d.h. »Zerstörung« nicht mit »Auslöschung« gleichgesetzt werden muss. Auch der Kunstwissenschaftler Tobin Siebers beschreibt, wie Akte der Zerstörung dafür sorgen, dass ein Kunstwerk wieder in Zirkulation gerät. Für Siebers können ikonoklastische Akte zu Verjüngung und Erneuerung eines Kunstwerks führen: »What is the impact of damage on classic works of art from the past? It is true that we strive to preserve and repair them, but perhaps the accidents of history have the effect of renewing rather than destroying art works. Vandalized works seem strangely modern. […] Nevertheless, the problem is not that the resulting image no longer belongs in the history of art. Rather, the riddle of the vandalized work is that it now seems to have moved to a more recent stage in aesthetic history, giving a modernist rather than baroque impression […]. The art vandal puts the art object to use again, replicating the moment of its inception when it was being composed of raw material and before it became fixed in time and space as an aesthetic object.«269

Siebers beschreibt hier den Akt der Zerstörung als Wiederholung des ursprünglichen Schöpfungsaktes, des Zeitpunktes also, an dem aus Rohmaterial ein ästhetisches Objekt wurde. Das Kunstwerk wird durch Zerstörung wieder in Gebrauch, wieder in Zirkulation gebracht. Eine Vorstellung, die der Künstler Felix Gmelin in seiner Ausstellung Art Vandals 270 (Riksutställningar, 1996-1998) besonders pointiert verwirklichte.271 Gmelin hat in dieser schwedischen Wanderausstellung ausschließlich Werke, die bereits Opfer von Zerstörung geworden sind, erneut zerstört bzw. neu interpretiert. Der Kurator Daniel Birnbaum beschreibt Gmelins Hauptthema deshalb durchaus treffend als »repetitions and radicality being repeated.«272 Konsequenterweise wurden auch Duchamps L.H.O.O.Q. und andere seiner Werke selbst Ausgangspunkt und Rohmaterial für weitere Modifikationen (Abb.

268 LaFarge (1996): The Bearded Lady and the Shaven Man, S. 380. 269 Siebers, Tobin (2006): Disability Aesthetics, in: Journal for Cultural and Religious Theory vol. 7 no. 2 (Spring/Summer 2006), S. 63-73, hier S. 66-67. 270 ‹http://www.temporaryart.org/artvandals/background.html› [15. Januar 2011]. 271 Vgl.: Gamboni, Dario (2002): Image To Destroy, Indestructible Image, in: Latour; Weibel (Hg.): Iconoclash, S. 88-38, hier S. 135. 272 Birnbaum, Daniel; Jones, Ronald (2005): Discussion, in: Gmelin, Felix (Hg.): The Aging Revolution. Exhibition catalogue. Frankfurt a. M.: Portikus, S. 58-65, hier S. 60.

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20). Der vermeintliche Akt der Zerstörung muss also nicht als Endpunkt einer Entwicklung begriffen werden, sondern er steht im Zusammenhang mit Wiederholung und Zirkulation – besonders, wenn es sich wie in den hier beschriebenen Beispielen nicht um das Auslöschen oder die Verstümmelung eines Originals handelt, sondern um das Modifizieren einer Reproduktion; wie etwa im Fall eines Iconoclashs. Bei den Videoclips besitzt das Original natürlich nicht den Status eines unantastbaren, Respekt einflößenden Meisterwerks. Daher wird die durch die Modifikation ausgelöste Irritation und Aufmerksamkeit bei den Recyclingvideos weit geringer ausfallen als bei der von Duchamp veränderten Mona Lisa. Auf der anderen Seite bot im Fall der Mona Lisa der Status des Meisterwerks einen gewissen Schutz vor fremden Eingriffen, der den Videoclips fehlt. Doch in jedem Fall sind es – so Marcel Duchamp – die Betrachter, die die Bilder machen: »Ce sont les REGARDEURS qui font les tableaux.«273 Die Modifikation, ob am Original oder an einer seiner Reproduktionen, führt zu einer Veränderung der Wahrnehmung eben dieses Originals und dessen, was es repräsentiert. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass die immer schon bestehende Flexibilität der Interpretation betont oder wiederhergestellt wird, denn auch ohne das Zerstören des Originals selbst ist die Vorstellung einer gewissen Unantastbarkeit dieses Werkes obsolet geworden. Es scheint, als führe diese Art der modifizierenden Zerstörung die bereits von Saussure beschriebene Arbitrarität der Zeichen274 dem Betrachter erneut vor Augen.

273 Duchamp, Marcel; Sanouillet, Michel; Peterson, Elmer (1994): Duchamp du signe. Écrits. Paris: Flammarion, S. 247. Hervorhebung durch Großbuchstaben im Original. Vgl. hierzu auch Duchamps im April 1957 gehaltene Ansprache auf der Tagung der American Federation of Arts in Houston (Texas): Duchamp, Marcel (1972): Der schöpferische Prozeß, in: Lebel, Robert (Hg.): Duchamp. Von der Erscheinung zur Konzeption. Köln: Verlag M. DuMont Schauberg, S. 165-167. 274 »Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig […].« Saussure, Ferdinand de (2001; 1916): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: Walter de Gruyter, S. 79. Saussures »Erster Grundsatz« bezieht sich zwar auf sprachliche Zeichen, lässt sich aber verallgemeinern, wenn man das Verstehen eines sprachlichen Zeichens als Beispiel für das Interpretieren eines jeglichen Zeichens setzt.

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Abb. 20: Seymour Howard, MAMA-DADA: Water and Gas at All Stages (1989)275

275 Howard, Seymour (1994): Hidden Naos: Duchamp Labyrinths, in: Artibus et Historiae, Vol. 15, No. 29 (1994), S. 153-180, hier S. 170.

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Détournement, Spiel und Intervention Im Anschluss an diese Überlegungen zu den Auswirkungen modifizierter Reproduktionen auf die Wahrnehmung des Originals soll das Augenmerk nun den Verursachern der Modifikation gelten. Dass Bilder übermalt werden, ist kein grundsätzlich neues Phänomen. Zum einen gibt es ökonomische Gründe: Bilder werden aus Materialknappheit übermalt oder um sich Arbeit zu sparen (etwa das Bespannen des Rahmens und die Grundierung der Leinwand). Auch Gefühle kommen als Motive in Frage, besonders bei Brüchen zwischen Werkphasen, Krisen, oder wenn eine Arbeit in der subjektiven Wahrnehmung des Künstlers minderwertig zu sein scheint. Andererseits werden Bilder aber auch übermalt um sie zu verstecken, um sie vor dem Zugriff geistlicher oder weltlicher Autoritäten zu schützen. Manchmal fordert auch der Auftraggeber eine Übermalung, etwa weil Familienmitglieder in Ungnade gefallen sind und die Erinnerung an sie auf einem Portrait ausgelöscht werden soll. Auf das Phänomen aufgemalter Bärte treffen diese Gründe jedoch nicht zu. Auch Vandalismus oder eine (vermutete) Abneigung gegen das Abgebildete bieten keinen hinreichenden Interpretationsansatz. Zwar mögen diese Aspekte eine Rolle spielen, der aus ihnen realisierbare Erkenntnisgewinn erschöpft sich jedoch in Oberflächlichkeiten. Vielleicht eröffnet die Bezugnahme auf einen weiteren Künstler – den Maler und Keramiker Asger Jorn – neue Blickwinkel auf das Phänomen modifizierter Videobilder. Der Kunsthistoriker T.J. Clark charakterisiert Jorn als den bedeutendsten Maler der 1950er Jahre.276 Dennoch ist er nicht so bekannt wie etwa Marcel Duchamp, weshalb in seinem Fall eine einleitende Zusammenfassung seines Schaffens angebracht scheint. Der hier folgende Überblick soll anschließend eine bessere Einordnung einzelner Werke ermöglichen. Exkurs: Asger Jorn und die Situationistische Internationale Der 1914 in Dänemark geborene Maler, Keramiker und Kunstphilosoph Asger Jorn277 zog 1936 nach Paris zum Studium in Fernand Légers Académie Contemporaine. Nachdem Deutschland Dänemark besetzt hatte, kehrte Jorn in seine nun weitgehend von internationalen künstlerischen Strömungen abgeschnittene Heimat zurück und trat 1942 der dänischen Künstlergruppe Høst bei.278 In dem kulturellen

276 Clark, T.J. (2001): Farewell to an Idea. Episodes from a History of Modernism. New Haven: Yale University Press, S. 389. 277 Geboren 1914 in Vejrum, gestorben 1973 in Aarhus, eigentlich Asger Oluf Jørgensen. 278 Die anderen Mitglieder waren Ernest Mancoba, Carl-Henning Pedersen, Erik Ortvad, Ejler Bille, Knud Nielsen, Tage Mellerup, Aage Vogel-Jørgensen, Erik Thommesen,

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Mikrokosmos Dänemarks entwickelten sich zu dieser Zeit eigenständige künstlerische Konzeptionen, die Jorns Œuvre prägen sollten. Dazu gehört vor allem Jorns Interesse am Lebendigen und an der Natur, das sich mit Konzeptionen primitiver Kunst verband: »For Jorn, in the theories of 1946-1949, there was no higher praise than the designation ›natural art‹ or ›living art‹«279. Von diesen Bezeichnungen leiten sich vor allem zwei Aspekte ab: Erstens die künstlerische Bezugnahme auf biologische Formen und Strukturen, und zweitens die Auffassung, dass künstlerisches Schaffen ein kollektiv schöpferischer, lebendiger, gleichsam ein Eigenleben entwickelnder Prozess ist. Wie sich bereits angedeutet hat, spielt im Zusammenhang der hier untersuchten Thematik vor allem der zweite Aspekt, das Eigenleben schöpferischer Prozesse, eine Rolle. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lebte die internationale Kooperation rasch wieder auf: Im Jahr 1948 war Jorn Gründungsmitglied der Gruppe CoBrA280 und 1956 einer der Initiatoren der Internationalen Bewegung für ein bildnerisches Bauhaus (Mouvement International pour un Bauhaus Imaginiste). Jorn entwickelt hier ab Mitte der 1950er Jahre einen freien, expressiven Malstil; der »ungestüme Umgang mit der Linie weicht ausdrucksstarken Farbmassen, aus denen schattenhafte Dämonen den Betrachter bedrohen.«281 Am 28. Juli 1957 schließlich vereinte sich die Internationale Bewegung für ein bildnerisches Bauhaus (vertreten durch Pinot-Gallizio, Jorn, Walter Olmo, Piero Simondo, Elena Verrone) in Cosio d’Arroscia mit der Lettristischen Internationale282 (Michèle Bernstein und Guy Debord) sowie der London Psychogeographical Association (Ralph Rumney) zur Situationistischen Internationale (SI).283 Für Theoriebildung und Organisation der Bewegung waren Jorn, Constant, Gallizio, Bernstein und Debord ausschlaggebend.284 Obwohl sie in Italien gegründet wurde, befand sich das Aktionszentrum der SI in Paris. Dort verschmolzen surrealistische und expressionistische Kunstelemente und Gedanken mit einer Revolutionstheorie, die

279 280 281 282 283

284

Karel Appel, Tony Appel, Christian Dotremont, Sonja Erlov, Else Alfelt, Corneille, Constant Nieuwenhuys, Henry Heerup. Birtwistle, Graham (1986): Living Art. Asger Jorn’s comprehensive theory of art between Helhesten and Cobra (1946-1949). Utrecht: Reflex, S. 5-6. Die anderen Gründungsmitglieder waren Karel Appel, Constant Nieuwenhuys, Corneille, Christian Dotremont, und Joseph Noiret. Van Dooren, E. M. H. (2009): Asger Jorn, in: Balogh, Daniela; Köp, Silvia (Hg.): Alechinsky Appel Jorn. Post-Cobra. Wien: Edition Sammlung Essl, S. 94-97, hier S. 95. Vgl.: Home, Steward (1988): The Assault on Culture – Utopian currents from Lettrisme to Class War. London: Aporia Press & Unpopular Books, S. 17ff. Ebd. S. 30. Wark McKenzies hingegen spricht von drei Frauen und sechs Männern als Gründungsmitgliedern, jedoch wird nicht deutlich wer die dritte Frau sein soll. Vgl.: Wark, McKenzie (2008): 50 Years of Recuperation of the Situationist International. New York: Princeton Architectural Press and The Trustees of Columbia University in the City of New York, S. 6. Ebd. S. 34.

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sich auf Marx, den Anarchismus und den Räte-Kommunismus der 1920er Jahre bezog. Die Vorstellung der SI von einer Kulturrevolution hatte jedoch wenig mit dem ›offiziellen Kommunismus‹ gemein. Ihr Augenmerk galt der experimentellen Suche nach neuen Lebensformen einschließlich ihrer materiellen und geistigen Bedingungen – eben den konstruierten Situationen, die der Bewegung ihren Namen gaben.285 Ihre größte gesellschaftliche Wirkung entfaltete die SI während der ersten Dekade ihres Bestehens, besonders während der Studentenproteste im Mai 1968, sie existierte jedoch formell bis 1972 und gilt als letzte Bewegung der Avantgarde. Debord und Jorn standen bereits seit Ende 1954 in Kontakt.286 Wie Anselm Jappe in seiner Biografie feststellt, beschränkte sich Jorns und Debords Zusammenarbeit nicht auf die gemeinsamen Buchprojekte Fin de Copenhague (1957) und Mémoires (1958), sondern sie wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Bewegung.287 Im Verlauf der kommenden Jahre wurde jedoch ein Künstler nach dem anderen aus geradezu nichtigen, dafür aber umso skandalträchtigeren Gründen der Bewegung verwiesen288 , bis auf der V. Konferenz der SI in Göteborg Ende August 1961 schließlich jegliche Art künstlerischer Betätigung als »anti-situationistisch« gebrandmarkt wurde.289 Jorn hatte die SI bereits vier Monate zuvor verlassen, im Gegensatz zu den anderen Künstlern jedoch in Freundschaft: Jorn »resigned in April 1961 owing to ›various personal circumstances‹, but probably in part because he felt that the formative period, during which he could exert some influence, was coming to an end. His interest in the movement had been literary and intellectual rather than political, as can be seen from his contributions to IS magazine.«290

Jorn genoss zu dieser Zeit bereits eine solide künstlerische Reputation in Europa,291 so konnte er auch nach seinem Ausscheiden zahlreiche Aktionen, Publikationen sowie Splittergruppen der SI durch die Schenkung von Bildern finanzieren.292

285 Diesem komplexen Sachverhalt ist im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch ein eigener Abschnitt gewidmet. 286 Brief von Guy Debord an Asger Jorn vom 16. November 1954 ‹http://www.notbored. org/debord-16November1954.html› [14. Februar 2011]. 287 Jappe, Anselm (1999; 1993): Guy Debord. Berkeley: University of California Press, S. 65. 288 Vgl.: Orlich, Max Jakob (2011): Situationistische Internationale. Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetisch-politischen Avantgarde (1957-1972). Bielefeld: transcript. 289 The Fifth SI Conference in Göteborg, in: Internationale Situationniste #7 (April 1962). ‹http://www.cddc.vt.edu/sionline/si/goteborg.html› [14. Februar 2011]. 290 Atkins, Guy (1977): Asger Jorn. The crucial years 1954-1964. A study of Asger Jorn’s artistic development from 1954 to 1964 and a catalogue of his oil paintings from that period. London: Lund Humphries, S. 55. 291 Jappe (1999): Guy Debord, S. 65. 292 Wark (2008): 50 Years of Recuperation of the Situationist International, S. 15.

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Die Arbeiten Jorns, die hier in einen Zusammenhang mit den Videoplattformen des Internets gestellt werden, sind der Zeit seiner Zugehörigkeit zur SI (1957 bis 1961) zuzuordnen, eben jener »formative period«, die Guy Atkins – persönlicher Freund Jorns und Herausgeber seiner Werkübersicht – als »tentative, and relatively tolerant«293 charakterisiert. Aufgrund der Einbindung Jorns in die Bewegung zu dieser Zeit sollen hier nicht nur Jorns Arbeiten betrachtet werden, sondern auch die mit ihnen zusammenhängenden theoretischen Überlegungen der SI. Dabei ist festzuhalten, dass die Wahl auf diese Periode gefallen ist, weil die Parallelen zwischen Jorns Arbeiten aus eben dieser Zeit und den Recyclingvideos regelrecht ins Auge springen. Insgesamt soll das politisch/apolitische Element der SI keineswegs ausge294 klammert oder verharmlost werden , vielmehr führen die Verweise auf die theoretische Arbeit der SI direkt zu diesem potentiell politischen Element. Wie sich zeigen wird, ist für die vorliegende Arbeit gerade das von Interesse, was die SI an Neuem zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Kunst und Politik beigetragen hat, weshalb hier noch einmal auf die Anfangszeit der SI eingegangen werden soll. Modifikation als détournement Asger Jorn und die anderen Künstler, die in den Jahren 1957 bis 1961 die Mehrheit der Mitglieder der SI ausmachten, verstanden ihre künstlerische Arbeit als Spiel; wobei sie das Spiel zu einer freien, kreativen Tätigkeit erhoben.295 Insbesondere die experimentelle Recherche von Constant, Pinot-Gallizio und Jorn entfernte und entfremdete sich in ihren Realisierungsformen immer weiter von traditioneller künstlerischer Aktivität.296 In zwei Ausstellungen – Modifications297 (Mai 1959) und Nouvelles Défigurations298 (Juni 1962)299 – zeigte Jorn in der Galerie Rive Gauche in

293 Atkins (1977): Asger Jorn, S. 55. 294 Vgl.: Jappe (1999): Guy Debord, S. 161. 295 Zu den spielerischen Taktiken der SI vgl.: Andreotti, Libero (2000): Play-Tactics of the »Internationale Situationniste«, in: October, Vol. 91 (Winter, 2000), S. 36-58. 296 Vgl. Perniola, Mario (2011; 2005): Die Situationisten. Prophetie der »Gesellschaft des Spektakels«. Wien: Verlag Turia + Kant, S. 8. 297 Folgende Arbeiten wurden 1959 in Modifications gezeigt: Jardin public, Le lac des canards, Arbre arbitraire, La Place de l’Église, Dans le mille, Conte du Nord, Le Hollandais Volant, Détournement de paysage, Traumspiel, Dovre Gubben, Le bon berger, Nocturne III, Chanson d’été, La fuite en Égypte, La vie d’une nature morte, Le pêcheur de nuages, Paris by night, Extrême orientation, Promenade dans un parc, Le canard inquiétant (Abb. 25, oben), La petite suisse, The little grey home in the West, sowie eine Arbeit ohne Titel. 298 Bei der Ausstellung Nouvelles Défigurations (Neue Entstellungen) wurden im Jahr 1962 folgende Bilder gezeigt: Poussin, Souries rue froide, Hercule submergé, Lapin, Cocotte en sucre, En attendant Godot, Les mégatonomanes se regganent, Choux, La dolce vita

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Paris humorvoll provozierende und irritierende Bilder, die sich nicht nur von seinem bisherigen Œuvre fundamental unterschieden, sondern die generell einen unerhörten Skandal darstellten.300 Jorn hatte in Trödelladen und auf Flohmärkten sentimental-konventionelle Bilder unbekannter Salon-Künstler zumeist des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts gekauft und diese durch partielle und äußerst grob ausgeführte Übermalungen in leuchtenden Farben modifiziert. Jorn selbst bezeichnet seine Arbeiten als Peinture Détournée (Zweckentfremdete Malerei) – so lautet auch der Titel seines Vorworts im Katalog seiner Ausstellung Modifications (1959). Detournément wird mit »Zweckentfremdung«, »Entwendung« oder »Plagiat« übersetzt, doch diese Begriffe bilden weder den komplexen Charakter des détournement ab, noch können sie die zahlreichen Assoziationen des Verbs détourner im Französischen wiedergeben. Im Folgenden soll daher das französische détournement verwendet werden, jedoch nicht ohne zuvor seine vielfältigen Konnotationen aufzuzeigen. Die französische Standardenzyklopädie Larousse301 listet für détourner folgende Bedeutungsebenen auf: Zunächst wird es im Zusammenhang mit Verkehrsfluss (Flüge, Flüsse) und Transport als »umleiten« oder »ableiten« übersetzt. In Verbindung mit Flugzeugen und anderen Verkehrsmitteln kann es aber auch »entführen« bedeuten. Darüber hinaus kann détourner mit »ablenken« (den Verdacht von sich ablenken, die Aufmerksamkeit ablenken, jemanden von seinen Pflichten ablenken) und »abwenden« (den Blick abwenden) übersetzt werden. Wird es in Bezug auf literarische Texte, Werbeslogans, Filme und Ähnliches verwendet,

II, Le barbare et la berbère, Les bersaerk sont parmis nous, Héros au dos, Une tête comme ça, Deux pingouins (Diptychon), Faustrold, Les pommes d’Adam, Le cocuisinier, L’avant-garde se rend pas, L’amour s’avance sur la balance, Il faut porter a fortune de bonheur, Ainsi on s’ensor, Grand baiser au Cardinal d’Amérique, Heltedyret (The hero beast), Fraternité avant tout, Le pêcheur, sowie ein Bild ohne Titel. Der Titel der Ausstellung könnte sich einerseits auf die vorangegangenen Ausstellung Modifications beziehen, andererseits jedoch auch auf das 1959 vom Maler und Kunstkritiker Hans Platschek geschriebene Buch Neue Figurationen: Aus der Werkstatt der heutigen Malerei, erschienen im Piper Verlag, München. Hans Platschek war Mitglied der deutschen Sektion der SI, die Bezeichnung Neue Figuration wurde jedoch zu einem Sammelbegriff für alle Kunstrichtungen, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden und die Abkehr von der abstrakten Malerei propagierten. 299 Die zweite Ausstellung fand 1962 statt, also nach Jorns Austritt aus der SI. Die großen stilistischen Ähnlichkeiten sprechen jedenfalls dafür, die zweite Ausstellung als Fortführung der ersten zu verstehen. 300 Vgl.: Zweite (1987): Modifikationen und Defigurationen, S. 67. Gleichwohl gab es Vorläufer (etwa Louis Soutter, der bereits in den 1930er Jahren kunsthistorische Abbildungen überzeichnete, oder Mirós Überarbeitung eines Männlichen Bildnisses in einem Rahmen des späten 19. Jahrhunderts aus dem Jahr 1950) und Parallelerscheinungen (z.B. Enrico Baj, der 1959 Modifikationen von Landschaftsbildern schuf). 301 Vgl.: ‹http://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/d%C3%A9tourner/24841› [14. Mai 2011].

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so bedeutet es »verbiegen« oder »verdrehen« des Sinns, so wie man im Deutschen sagt ›jemandem das Wort im Munde umdrehen‹: »Donner à quelque chose (texte littéraire, slogan publicitaire, film, etc.) un autre sens que son sens original par divers procédés des masquage ou de surcharge.«302 Dieses Verleihen einer der ursprünglichen Intention entgegengesetzten Bedeutung geschieht durch verschiedene Verfahren des Weglassens oder Hinzufügens. Schließlich bedeutet détourner noch so viel wie »abbringen«, wobei besonders die Redensart détourner quelqu’un du droit chemin (jemanden vom rechten Weg abbringen) interessant ist. In Bezug auf Geschäftliches wiederum gibt es noch die Bedeutungsebene der missbräuchlichen Verwendung: »korrumpieren« oder »veruntreuen«. Das Verb détourner wird aber auch in Bezug auf aktuelle mediale Phänomene verwendet. Dies zeigt sich z.B. in dem Video leave britney alone sarkozy remix303 des Users agagruk. Nur eine Woche nach Crockers Leave Britney Alone!, am 17. September 2007, produzierte agagruk daraus ein Recyclingvideo. Darin ersetzte er die ursprüngliche Tonspur durch einen parodistischen Monolog der in larmoyantem Tonfall die schlechte Behandlung des französischen Staatspräsidenten Sarkozy beklagt. Die Beschreibung des Videos charakterisiert diesen als »la version détournée de ›leave britney alone‹ avec un ultra fan de Sarkozy.«304 Die übertragene Bedeutung des Verbs (»Verdrehen des Sinns«) ist jedoch keine Erfindung der Moderne. Bereits im Dictionnaire de l’Académie Françoise aus dem Jahr 1765 heißt es: »On dit figurément, Détourner le sens d’un passage, d’une loi, d’un mot, pour dire, Lui donner une signification, en faire une application différente de celle qu’il doit avoir.«305 Bereits 1765 spricht man also nicht mehr nur von Personen, die abgelenkt werden und vom rechten Weg abkommen oder abgebracht werden, sondern ebenso von ›Kulturgütern‹ (Absätze, Gesetze, Worte), deren Sinn so verändert wird, dass es nicht mehr der ist, den sie eigentlich haben sollten. Als Erfinder des détournements nennt Anselm Jappe Isidore Isou, den Gründer des Lettrisme, von dem sich dann unter Führung Guy Debords die Lettristische Internationale abspaltete.306 Auch Guy Debord reklamiert das détournement nicht als Erfindung der Lettristischen Internationale, er weist aber in dem zusammen mit Gil J. Wolman verfassten und für die Theoriebildung der SI essentiellen Artikel A User’s Guide to Détournement307 darauf hin, dass diese sich (wie später die SI) be-

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Ebd. ‹http://www.wideo.fr/video/iLyROoaft0Xd.html› [14. Februar 2011]. Ebd. Académie Française (1765): Le Dictionnaire de l’Académie Françoise, Nouvelle Édition. Tome Premier. A-K. Paris: Compagnie des Libraires Associés, S. 367. 306 Jappe (1999): Guy Debord, S. 48. 307 Dieser Artikel der Lettristischen Internationale ist auch für die SI von zentraler theoretischer Bedeutung. Er erschien im französischen Original unter dem Titel Mode

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sonders um eine theoretische Systematisierung dieses weit verbreiteten Phänomens bemüht.308 Vereinfacht gesagt bedeutet détournement das Modifizieren bestehender Elemente, um ihnen in einem neuen Zusammenhang einen anderen, bestenfalls ästhetisch innovativen revolutionären Sinn zu verleihen, sie gleichsam zu aktualisieren und neuem Gebrauch zugänglich zu machen. Hinter dieser Praxis der Wiederverwertung steht auch der Gedanke, dass alles bereits vorhanden sei, es nur anders angeordnet werden müsse; McKenzie Wark fasst détournement daher auch als Form des »sampling«.309 Debord und Wolman führen aus, dass es bei der Verwendung bereits bestehender ästhetischer Elemente keine Tabus gibt: »Anything can be used. It goes without saying that one is not limited to correcting a work or to integrating diverse fragments of out-of-date works into a new one; one can also alter the meaning of those fragments in any appropriate way, leaving the imbeciles to their slavish preservation of ›citations.‹«310

Ein essentieller Bestandteil des détournement sind folglich nicht gekennzeichnete und neu kontextualisierte Zitate ohne Respekt vor bürgerlichen Kulturerzeugnissen und deren Copyright. Mario Perniola weist daher auf einen wichtigen Unterschied zwischen Zitat und détournement hin: »Während im Zitat eine in der Vergangenheit formulierte, theoretische Wahrheit den Anspruch erhebt, über die Gegenwart zu urteilen, ist es im détournement die Gegenwart, die sich als einziger Richter über die vergangene Behauptung stellt.«311 Die Gegenwart beansprucht demnach die Deutungshoheit und nimmt sich die Freiheit, bisherige Bedeutungszusammenhänge auf den Kopf zu stellen. Diese Verwendung und Umdeutung vorgefundener ästhetischer Elemente folgt vier in A User’s Guide to Détournement formulierten Regeln. Die erste und wichtigste Regel besagt, dass das unpassendste Element am meisten zum Gesamteindruck beiträgt: »It is the most distant detourned element which contributes most sharply to the overall impression, and not the elements that directly determine the nature of this impression.«312 Der zweiten Regel zufolge gilt es, auf Einfachheit zu achten, denn entscheidend sei das bewusste oder erahnte Erkennen ursprünglicher Bedeutungszusammenhänge. Dafür aber muss die Herkunft der Elemente nachvollziehbar bleiben: »The distortions introduced in the detourned

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d’emploi du détournement in der Zeitschrift Les Lèvres Nues Nr. 8 vom Mai 1956. Auf dem Titelblatt der Zeitschrift werden allerdings als Autoren nicht Debord und Wolman, sondern »Aragon et André Breton« aufgeführt. Dies könnte als deutlicher Hinweis auf das genealogische Selbstverständnis der SI gelesen werden. ‹http://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/usersguide.html› [14. Februar 2011]. Wark (2008): 50 Years of Recuperation of the Situationist International, S. 9. ‹http://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/usersguide.html› [14. Februar 2011]. Perniola (2011): Die Situationisten, S. 84. ‹http://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/usersguide.html› [14. Februar 2011].

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elements must be as simplified as possible, since the main impact of a détournement is directly related to the conscious or semiconscious recollection of the original contexts of the elements.«313 Während die zweite Regel bereits die Bedeutung unbewusster Ahnungen andeutet, warnt die dritte Regel geradezu vor Rationalität: »Détournement is less effective the more it approaches a rational reply.«314 Das détournement soll also den größten Effekt haben, wenn es nicht an den Verstand, sondern an das Gefühl, das Spiel und das Unbewusste appelliert. Die vierte und letzte Regel besagt, dass die einfache Umkehrung zwar das direkteste aber auch schwächste Stilmittel des détournement ist: »Détournement by simple reversal is always the most direct and the least effective.«315 Jorn ist folglich nicht der Erfinder des détournement, aber seine modifizierten Bilder gelten als mustergültige Umsetzung dieses Konzeptes.316 Auch Guy Atkins interpretiert diese Bilder als künstlerischen Ableger situationistischer Theorien: »In 1959 he was absorbed by the ›play‹ theories of the Situationists and their plans for social revolution. His overpainted canvases are the nearest thing to some kind of artistic spin-off, kept at a subdued and good-humoured level, from the Situationist ideology.«317

Zwar attestiert Atkins Jorns Modifikationen ein weniger radikales Niveau als anderen Aktionen der SI, dennoch aber waren diese damals ein enormer Affront – über die Ausstellung Nouvelles Défigurations schreibt Jorn sogar selbst, sie sei »practically a disaster«.318 Bis heute stoßen sie bei Sammlern auf wenig Interesse, laut Atkins werden sie weder verstanden noch sonderlich geschätzt.319 Seit 1977 ist jedoch Bewegung in die herkömmlichen Rezeptionsmuster gekommen, und einige von Jorns Modifikationen wurde Ende 2008 im Museum Moderner Kunst (MUMOK) in Wien im Rahmen der Ausstellung Bad Painting – good art gezeigt.320 Ein genauerer Blick auf eines dieser Bilder soll veranschaulichen, was unter détournement zu verstehen ist.

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Ebd. Ebd. Ebd. Anderson, Simon (1998): Situationist Aesthetics, in: Kelly, Michael (Hg.): Encyclopedia of Aesthetics. Volume 4. Oxford: Oxford University Press, S. 291-294, hier S. 292. Atkins (1977): Asger Jorn, S. 67. Asger Jorn in einem Brief an Guy Debord vom 11. August 1962, zitiert in der Fußnote 2 von einem Brief von Guy Debord an Asger Jorn vom 23. August 1962. ‹http://www. notbored.org/debord-23August1962.html› [15. Januar 2011]. Atkins (1977): Asger Jorn, S. 70. ‹http://www.mumok.at/program/archive/exhibitions/exhibitions-2008/bad-painting-goo d-art/?L=1› [15. Januar 2011].

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L’avant-garde se rend pas als Beispiel für détournement

Abb. 21: Asger Jorn, L’avant-garde se rend pas (1962)321 Auf einem der 2008 im MUMOK ausgestellten Bilder, L’avant-garde se rend pas (Abb. 21), erkennt man schnell das verbindende Element der hier erörterten Beispiele: den aufgemalten Bart. In Jorns Modifikation aus dem Jahr 1962 ziert dieser allerdings keine Renaissance-Schönheit, sondern das Bild eines kleinen Mädchens: »The painting shows a young girl at her confirmation, augmented by Jorn with a small black mustache. The young girl looks ridiculous in herself with her hair broadly parted

321 Asger Jorn, L’avant-garde se rend pas (1962), Öl auf Leinwand (ein älteres Bild), 73x60 cm, Sammlung Micky und Pierre Alechinsky, Bougival (Frankreich).

178 | U NDERSTANDING Y OU T UBE at the middle and her dwarfish stature, and is no less laughable with a mustache – a broadly popular gimmick that never fails.«322

Sicher ist, dass es sich bei dem ursprünglichen Bild nicht um ein kanonisiertes Meisterwerk handelt, sondern um die Arbeit eines anonymen Salonmalers der ohne sein Wissen zu Jorns Arbeitskollegen wurde. Fraglich ist hingegen, welchen Eindruck das Bild vor Jorns Modifikationen machte, ob es tatsächlich so lächerlich wirkte. Unklar bleibt zum Beispiel, wie die (vermutlich festliche) Kommunionsfrisur des Mädchens tatsächlich aussah, denn Jorn hat nicht nur den Bart hinzugefügt, er übermalte auch den Hintergrund des Bildes. Um eine glattere Kontur zu bekommen, hat Jorn möglicherweise Teile der Haare übermalt, weshalb die Frisur möglicherweise unangemessen streng und damit vielleicht lächerlich wirkt. Der anonyme Maler hatte sicher nicht die Intention, das Mädchen bloßzustellen. Er malte es in einem festlichen weißen Kleid ohne auffälligen Schmuck, ihr einziges Accessoire ist das Springseil, das sie in den Händen hält. Die Haltung des Mädchens ist aufrecht, und ihr Blick ist unmittelbar auf den Betrachter gerichtet, so als wolle sie zum Ausdruck bringen, dass sie nichts zu verbergen hat. Insgesamt scheint sie kindliche Unschuld zum Ausdruck zu bringen. Die kindliche Unschuld im Kommunionskleid – das bürgerliche Ideal einer konservativen Elite. Vielleicht hat dieser Eindruck Jorn dazu veranlasst, das Bild zu modifizieren. L’avant-garde se rend pas: Möglichkeiten der Interpretation Wie aber sind Jorns Modifikationen zu verstehen? Sicher ist zunächst, dass der hinzugefügte Bart mehr ist als ein ›popular gimmick‹, denn Jorn wird die symbolische Bedeutung des bärtigen Gesichtes in Volkskunst und Gegenkultur gekannt haben. Die Kunsthistorikerin Karen Kurczynski sieht darin sogar eines von Jorns Lieblingsmotiven der mittelalterlichen und populären Kunst. 323 Kuczynski weist außerdem auf einen Artikel aus dem Jahr 1950 hin, also aus der Zeit seiner Mitgliedschaft bei CoBrA, in dem Jorn den Bart als Kennzeichen des nordischen Gottes Freyr charakterisiert.324 Diese Assoziationen sind jedoch nicht ausschlaggebend, in

322 Vgl.: Gether, Christian; Hovdenakk Per; Høholt, Stine (2002): Asger Jorn. Ausstellungskatalog zur Ausstellung Asger Jorn im Arken Museum of Modern Art, Ishøj, Dänemark, 14.9.2002-19.1.2003, S. 42. 323 Vgl.: Kurczynski, Karen (2007): Ironic Gestures: Asger Jorn, Informel, and Abstract Expressionism, in: Marter, Joan M. (Hg.): Abstract Expressionism: The International Context, Piscataway: Rutgers University Press, S. 108-124, hier Fußnote Nr. 49 auf S. 250. 324 Jorn, Asger (1950): Le Frey (Frö): De la fête populaire au mythe universel, in: Cobra 7 (Herbst 1950), S. 14-15.

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der Forschung wird der hinzugefügte Bart nicht zuletzt aufgrund der visuellen Ähnlichkeit unisono als Verweis auf Marcel Duchamps Modifikation der Mona Lisa interpretiert.325 Weitere Verweise auf die Avantgarde ergeben sich aus dem Hintergrund des Bildes. Dieser wurde von Jorn schwarz übermalt, wobei leichte horizontale und vertikale Streifen eine Mauer andeuten. Diese dunkle, an eine Tafel erinnernde Mauer ist besprenkelt mit bunten Farbspritzern und bemalt mit zwei groben, wie von Kinderhand gekritzelten Figuren. Claire Gilman assoziiert die Sprenkel mit Jackson Pollocks action painting, während sie in den Figuren oder Monstern einen Verweis auf Jean Dubuffet sieht.326 Zwischen das Mädchen und die Figuren drängt sich schließlich noch in gebrochenem Französisch der grob mit weißem Pinselstrich gemalte titelgebende Schriftzug »L’avan[t-]garde se rend pas«: Die Avantgarde ergibt sich nicht. Diese Aussage könnte man zunächst wortwörtlich verstehen. Dies aber brächte mit sich, dass Jorns Bild als bloße Wiederholung der Geste Duchamps zu werten wäre. Gegen eine derartige Deutung spricht aber, dass ein entscheidendes Detail nicht passt: Jorn modifizierte nicht das Meisterwerk eines bekannten Malers, sondern ein Bild vom Flohmarkt. Handelt es sich um eine »pathetic mutilation of an already valueless kitsch painting,«327 wird also etwas Wertloses noch zusätzlich erniedrigt? In diesem Fall liest sich Jorns Geste als ironischer Kommentar auf die ursprüngliche Intention Duchamps. Troels Andersen etwa interpretiert das Bild deshalb als generelle Verspottung der Avantgarde, seiner Ansicht nach richtet sich der Satz sogar direkt an die Bewunderer Duchamps.328 Die Auffassung, es würde sich um eine Kritik an der Avantgarde handeln, lässt sich jedoch schwerlich auf die modifizierten Videoclips im Internet übertragen. Und obwohl der Verweis auf Duchamp unstrittig ist, sollte das Augenmerk nicht zu sehr dem Bart selber gelten. Vielmehr erfüllt er in diesem Zusammenhang die Funktion eines Bindegliedes, verknüpft er doch die verschiedenen Beispiele über einen Zeitraum von nahezu einem Jahrhundert. Gleichzeitig handelt es sich aber auch nur um ein Beispiel, um eine Variante aus der nicht zu überblickenden Vielfalt an Möglichkeiten der Modifikation. Es geht hier nicht um die genaue Ausprägung, um den Phänotyp der Modifikation an sich. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen vielmehr die Prozesse, die einerseits zu der Modifikation geführt haben und die ande-

325 So heißt es zum Beispiel bei Claire Gilman: »The found painting of a young girl inscribed with mustache and beard immediately recalls Duchamp’s L.H.O.O.Q. […].« Gilman, Claire (1997): Asger Jorn’s Avant-Garde Archives, in: October, Vol. 79, Guy Debord and the Internationale Situationniste (Winter, 1997), S. 32-48, hier S. 34. 326 Ebd. S. 35 und S. 46. 327 Ebd. S. 34. 328 ‹http://www.museumjorn.dk/en/article_presentation.asp?AjrDcmntId=255› [15. Januar 2011]. Andersen, Troels (1985): Asger Jorn, in: Asger Jorn, Silkeborg Kunstmuseum S. 25-31.

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rerseits von dieser ausgelöst wurden. Für die Übertragung auf die Welt der Videoplattformen ist demnach nicht der aufgemalte Bart entscheidend, vielmehr geht es um andere Aspekte: Bei Duchamps L.H.O.O.Q. waren es die Auswirkungen des gleichzeitigen Vorhandensein des Originals und verschiedener modifizierter Versionen. Duchamp hat damit ein Beispiel für einen Iconoclash geliefert, das sich als besonders gut geeignet für die Analyse der in Recyclingvideos vorgenommenen Modifikationen erwiesen hat. Bei Jorns L’avant-garde se rend pas eröffnet sich eine andere Parallele zu den Videoclips im Internet: Nicht ein Meisterwerk wird modifiziert, sondern etwas Alltägliches, etwas geradezu Wertloses. Man könnte sich also fragen: Warum hat Jorn etwas Alltägliches und Wertloses zerstört, und eben kein Meisterwerk wie Duchamp? Diese Frage ist jedoch unglücklich formuliert, weil sie bereits Wertungen vornimmt. Sie impliziert nämlich, dass Jorn dem Gemälde vom Flohmarkt tatsächlich keinen Wert zumaß, und dass es sich bei seiner Modifikation effektiv um eine Zerstörung handelte. Wesentlich ist hier die Bedeutung, die das ursprüngliche Bild für Jorn hatte. Es fragt sich, ob es sich für ihn wirklich um ›ein wertloses Kitsch-Bild‹ handelte, das zerstört werden musste. Détournement als Aktualisierung Anfangs hatte auch Jorn – und zwar bereits 1949, also noch während seiner Zeit bei CoBrA – Reproduktionen bekannter Künstler wie Monet, Raffael oder Braque modifiziert.329 Der Gedanke der Modifikation war demnach für Jorn grundsätzlich nicht neu, und wie Duchamp richtete er sich ursprünglich auf Reproduktionen von Meisterwerken der Kunstgeschichte. Jorns Intentionen offenbart ein Brief, den er zu dieser Zeit an seinen langjährigen Freund und Mitstreiter Constant schickte. Darin berichtet Jorn von seinen Ideen zur Gründung einer »section d’amélioration des anciennes toiles.«330 Bei dieser Abteilung zur Verbesserung alter Gemälde stand anders als etwa bei der surrealistischen Satire nicht die Kritik im Vordergrund, sondern die Werke sollten durch die Bearbeitung ihre Aktualität (actualité) behalten und vor dem Vergessen gerettet werden.331 Hier findet sich ein schon behandeltes Thema wieder: Die Interpretation von Zerstörung als Aktualisierung.

329 Vgl.: Gether; Hovdenakk; Høholt (2002): Asger Jorn, S. 48. 330 Jeune, François (2009): Peinture sur peinture, in: artabsolument, Nr. 27, Januar 2009, S. 30-41, hier S. 30. 331 Jorn, Asger, Brief an Constant, 1949-1950, Constant Archives, Rijksbureau voor Kunsthitorische Documentatie (RKD), Den Haag, Niederlande. Zitiert in: Kurczynski (2007): Ironic Gestures. Fußnote Nr. 55 auf S. 250.

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Abb. 22: Felix Gmelin, The Avant-garde Will Never Change Its Spots (1996)332 So ist es auch kein Zufall, dass der bereits erwähnte Künstler Felix Gmelin L’avantgarde se rend pas, eines von Jorns modifizierten Flohmarkt-Bildern, erneut bearbeitet und in seiner Ausstellung Art Vandals gezeigt hat: The Avant-garde Will Never Change Its Spots (Abb. 22). Auf der Webseite der Ausstellung schreibt Gmelin, dass er Jorns Bild gerade deshalb gewählt hat, weil nach Jorns eigener Ansicht, die Bilder der alten Meister eine Auffrischung nötig hätten, und übermalt werden müssten, um ihre Aktualität zu bewahren, sie vor dem Vergessen zu retten. 333 An der Reproduktion von Jorns Arbeit veränderte Gmelin im Wesentlichen nur den Hintergrund. Jorns Modifikation ist zwar kaum noch zu erkennen, trotzdem nimmt Gmelin im Titel seines Bildes darauf Bezug. An die Stelle von Jorns hinzugefügtem

332 Felix Gmelin, The Avant-garde Will Never Change Its Spots (1996), Öl auf Polyester, 61x74 cm, Privatsammlung ‹http://www.temporaryart.org/artvandals/07.html› [5. Mai 2012]. 333 ‹http://www.temporaryart.org/artvandals/07.html› [15. Januar 2011]. Die Webseite zitiert dabei aus dem gleichen Brief Jorns. Als Quelle wird angegeben: Andersen, Troels (1994): Asger Jorn. En biografi. Kopenhagen: Borgen Forlag. Die Biographie wurde auch ins Deutsche übersetzt: Andersen, Troels (2001): Asger Jorn. Eine Biographie 1914-1973. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König.

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Hintergrund sind bei Gmelin dynamische graue Formen getreten, die an menschliche Silhouetten erinnern, worauf hier aber nicht näher eingegangen werden soll. Entscheidend ist, dass Jorns Modifikation erneut modifiziert wurde – wobei L’avant-garde se rend pas natürlich nicht mehr den Status eines Bildes vom Flohmarkt hatte, sondern den der Arbeit eines etablierten Künstlers.

Abb. 23: Christian Vind, L’avant-garde s’est survécu à elle-mêmes (2007)334 Auch der Künstler Christian Vind335 (geb. 1969 in Kopenhagen) bezieht sich in seiner Arbeit L’avant-garde s’est survécu à elle-mêmes (Die Avantgarde hat sich selbst überlebt, Abb. 23) aus dem Jahr 2007 auf Jorns L’avant-garde se rend pas. Vinds Referenz auf Jorn ist zwar subtiler als Gmelins, doch im Hintergrund sieht man links eine der bei Jorn auf die ›Mauer‹ gekritzelten Figuren, zudem sind die Titel sehr ähnlich, inklusive Grammatikfehler. L’avant-garde s’est survécu à ellemêmes weist darüber hinaus auch Parallelen zu Duchamps L.H.O.O.Q. auf – etwa das aufgemalte Bärtchen oder den auf das Passepartout geschriebenen Bildtitel.336

334 Foto: Lars Bay. ‹http://kunstonline.dk/profil/christian_vind.php4› [15. Februar 2011]. 335 ‹http://www.tomchristoffersen.dk/artists/christian_vind/christian_vind4.html› [15. Februar 2011]. 336 Darauf weist auch Karen Friis Hansen in ihrem Portrait über Christian Vind hin: »Fotografiet af en gammel kone med tegnet overskæg og titlen ›L’avant-garde s’est survécu á

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So hat sich in Gmelins und Vinds Arbeiten Jorns eigener Anspruch verwirklicht: Die Modifikation wird selbst modifiziert. Dieser zweite Schritt (nach der Modifikation des Originals) ist entscheidend, weil er die Möglichkeit jeglicher weiterer Bearbeitung aufzeigt. Denn erst, wenn das Bearbeitete nicht als etwas Endgültiges stehen bleibt, sondern weiter bearbeitet wird, kann Zirkulation in Gang kommen.

Abb. 24: Yvonne Grootenboer und Emile Miedema im ICK Amsterdam (2011)337 Eine weitere Form der Aktualisierung von Jorns L’avant-garde se rend pas fand 2011 während einer Kunstaktion im Amsterdamer International Choreographic Arts Centre statt. Für ihre Installation und Live-Performance The Avant-Garde Never Gives Up (Abb. 24) im Rahmen der Gruppenausstellung Genius without Talent luden die beiden Künstlerinnen Andrea Boi und Julia Willms zwei Maler (Yvonne Grootenboer und Emile Miedema – bereits Jorns Werk hatte zwei Autoren) und einen Kunsthistoriker (Jan van Adrichem) ein.338 Während der Kunsthistoriker Jorns Gemälde in Worten beschrieb, fertigte die beiden Maler unabhängig voneinander anhand dieser Beschreibung jeweils eine Kopie des Bildes an. Angesichts der bereits in dieser Arbeit diskutierten Formen der Reproduktion (technische und

elle-memes‹ refererer blandt andet til Marcel Duchamps modificerede Mona Lisa fra 1919.« ‹http://kunstonline.dk/profil/christian_vind. php4› [15. Februar 2011]. 337 Foto: Julia Willms. Quelle: ‹http://www.andreabozic.com/node/83› [15. Mai 2012]. 338 Vgl. hierzu die Beschreibung des Projekts auf der Webseite des International Choreographic Arts Centre in Amsterdam: ‹http://www.ickamsterdam.com/a-915/the-avantgarde-never-gives-up-boi263-willms/› [15. September 2012].

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»biokybernetische«) stellt dies wohl die vermutlich schwierigste Form der Reproduktion dar, denn diese ist zusätzlich dadurch erschwert, dass die beiden Maler das Original nicht kannten und noch nicht einmal sehen konnten (Abb. 24). Ein erneuter Blick auf Asger Jorn zeigt, dass er ebenso wie Duchamp, Gmelin oder Vind während seiner Zeit bei CoBrA Reproduktionen von Meisterwerken bearbeitete. In allen diesen Fällen bleibt ein Grundproblem bei der Übertragung auf die Welt der Videoplattformen bestehen: Es wird keine Kunst modifiziert, sondern (größtenteils) alltägliches Zeug. Die Videoclip-Modifikationen richten sich nicht gegen einzelne Kunstwerke, Künstler, künstlerische Strömungen, oder die Institution Kunst als solche. Was die Arbeit von Jorn in diesem Zusammenhang so interessant macht, ist der Umstand, dass er nur einige Jahre später keine Meisterwerke mehr modifizierte, sondern Flohmarkt-Bilder, die in Bezug auf ihren künstlerischen Wert dem durchschnittlichen Videoclip wohl durchaus vergleichbar sind. Was aber wollte Jorn hier ausdrücken? Sollten etwa auch diese Bilder vor dem Vergessen gerettet werden? Oder ging es in diesem Fall dann doch um eine Entwertung? Banalität und Konvention als Grundlage von Kreativität Angesichts der mit groben Pinselstrichen geradezu misshandelten Bilder scheint außer Frage zu stehen, dass hier entwertende und zerstörerische Aspekte vorrangig sind. Als Form der kritischen Sabotage würde das détournement an die CollageTechniken der Dadaisten und Surrealisten anschließen. Hinzu kommt, dass es auch in den Texten der SI genügend Stellen gibt, die den Aspekt der Zerstörung betonen. So zitiert der 1959 veröffentlichte Artikel Detournement as negation and prelude339 aus Jorns Peinture Détournée aus dem gleichen Jahr: »An uns liegt es, zu entwerten oder entwertet zu werden, je nach unserer Fähigkeit, in unsere eigene Zukunft zu investieren. Es bleiben uns, in Europa, nur zwei Möglichkeiten: geopfert zu werden oder zu opfern.«340 Angesichts derart martialischer Worte verweist Detournement as negation and prelude darauf, dass Zerstörung und Negierung den ersten Eindruck prägen, den das détournement hinterlässt: »Detournement thus at first reveals itself to be the negation of the value of the previous organization of expression.«341

339 Der Artikel erschien ohne Nennung eines Autors als Le détournement comme négation et comme prélude in der Zeitschrift Internationale Situationniste Nr. 3 vom Dezember 1959. 340 Jorn, Asger (1987; 1959): Zweckentfremdete Malerei. Vorwort im Katalog zur Ausstellung »Modifications« in der Galerie Rive Gauche, Paris 1959, in: Ders.: Heringe in Acryl. Heftige Gedanken zu Kunst und Gesellschaft. Hamburg: Nautilus / Nemo Press, S. 45-50, hier S. 48. 341 ‹http://www.notbored.org/detournement.html› [14. Februar 2011].

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Diese Parallelen werfen die Frage auf, worin sich die Strategien der SI dann eigentlich von den Zielen anderer Bewegungen unterscheiden. Sadie Plant etwa ordnet die SI zwar explizit der Postmoderne zu, interpretiert ihre Strategien aber als Subversion, Rebellion und Negation342 – und als Fortführung bereits entwickelter Strategien, wenn auch auf erweitertem Gebiet: »These methods were essentially reworkings of those employed by the dadaists and surrealists, extended by the situationists to every area of social and discursive life.«343 Die Ausdehnung auf einen neuen Bereich könnte in dem Fall von Jorns Modifikationen so zu verstehen sein, dass die künstlerischen Strategien der Dadaisten nicht mehr allein auf die Sphäre der Kunst, sondern auch auf das Alltägliche angewendet werden. Eine derartige Interpretation würde allerdings für den Untersuchungsgegenstand nur einen geringen Erkenntniszuwachs bedeuten, entspräche sie doch genau der von Anselm Jappe kritisierten verharmlosenden und normalisierenden Einordnung der SI.344 Sind die Strategien der SI also wirklich eine bloße, wenn auch umfassendere Fortsetzung von Avantgarde-Methoden aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg? Guy Debord bezieht hier eindeutig Position und klassifiziert die SI in seinen Schriften als klar vom Dadaismus abgesetzte Bewegung. In dem Artikel The Situationists and the New Forms of Action in Politics and Art345 schreibt er 1963: »The revolutionary role of modern art, which culminated with dadaism, has been to destroy all the conventions of art, language and behavior. Since what is destroyed in art and philosophy is nevertheless obviously not yet concretely eliminated from the newspapers and the churches, and since the advances in the arm of critique have not yet been followed by an armed critique, dadaism itself has become a recognized school of art and its forms have recently been turned into a reactionary diversion by neodadaists who make careers out of repeating the style invented before 1920, exploiting each pumped-up detail and using it to develop an acceptable ›style‹ for decorating the present world.«346

Zunächst muss relativierend eingefügt werden, dass es gleichsam zum Pflichtprogramm jeder avantgardistischen Bewegung gehört, sich vom bisher da Gewesenen zu distanzieren und etwas radikal Neues anzukündigen. Auch die SI bildet hier kei-

342 Plant, Sadie (1992): The Most Radical Gesture. The Situationist International in a Postmodern Age. London: Routledge, S. XI. 343 Ebd. S. 87. 344 Jappe (1999): Guy Debord, S. 161. 345 Im Original: Debord, Guy (1963): Les Situationnistes et les nouvelles formes d’action dans la politique ou l’art, in: Destruktion af RSG: En Kollective manifestation af Situationistik International, Odense, Denmark: Galerie EXI, S. 15-18. 346 Debord, Guy (1963): The Situationists and the New Forms of Action in Art and Politics. ‹http://www.cddc.vt.edu/sionline/si/newforms.html› [10. Mai 2012].

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ne Ausnahme. Gleich zu Beginn ihres Gründungsmanifestes Rapport zur Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der Internationalen Situationistischen Tendenz klärt Guy Debord den Leser über den Anspruch der SI auf: »Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß.«347 Auf der anderen Seite aber zeigt Debords abschätziger Kommentar über vermeintlich neodadaistische Karrieristen, dass der Bezug auf künstlerische Strategien des Dadaismus bei Asger Jorn keine bloße, ausgehöhlte Wiederholung oder Fortführung sein kann. Dies gilt umso mehr, als es sich bei Debords Bewertung dadaistischer Strategien nicht um eine spätere Entwicklung oder Umwertung aus der Rückschau handelt. Schon 1956, also zur Zeit der Lettristischen Internationale, bezieht sich Debord in dem zusammen mit Gil J. Wolman verfassten Artikel A User’s Guide to Détournement sogar explizit auf Duchamps L.H.O.O.Q.: »It is, of course, necessary to go beyond any idea of scandal. Since opposition to the bourgeois notion of art and artistic genius has become pretty much old hat, [Duchamp’s] drawing a mustache on the Mona Lisa is no more interesting than the original version of that painting. We must now push this process to the point of negating the negation.«348

Zwar bedienen sich die spielerisch-experimentellen Realisierungsformen der SI bei ihrer Entwicklung neuer Strategien des gesamten bekannten Arsenals künstlerischer Mittel, dies geschieht jedoch nicht »um die Negation der bürgerlichen Vorstellung von Genie und Kunst voranzutreiben, diese sei ohnehin passé.«349 Aus dem Verständnis der SI heraus ist Duchamps schnurrbärtige Mona Lisa von gleichem Interesse wie Da Vincis Original, und Respekt hat weder das eine noch das andere Gemälde verdient. Wie Eiko Grimberg feststellt, ist dies jedoch nicht auf Fragen der Sympathie oder des Geschmacks zurückzuführen, sondern auf die schlichte Tatsache, dass Duchamps Verfremdung bereits ein historischer Akt geworden ist, der sein Objekt der Kritik (das »Meisterwerk«) verloren hat.350 Somit dürfte feststehen, dass es Jorn trotz gegenteiligem Anschein nicht darum ging, in dadaistischer Manier die Wertlosigkeit oder Entwertung der Bilder vom Flohmarkt auszudrücken. Damit bleibt noch der Aspekt der Aktualisierung. Tatsächlich schreibt Jorn gleich

347 Debord, Guy (1980; 1957): Rapport zur Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der Internationalen Situationistischen Tendenz und andere Schriften. Edition Nautilus Flugschrift No. 23. Hamburg: Verlag Lutz Schulenberg, S. 5. Vgl. hierzu auch: Jappe, Anselm (2012): Die Situationisten und die Aufhebung der Kunst: Was bleibt davon heute?, in: Hartmann, Doreen; Lemke, Inga; Nitsche, Jessica (Hg.): Interventionen. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie. Paderborn: Fink, S. 43-52, hier: S. 52. 348 ‹http://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/usersguide.html› [14. Februar 2011]. 349 Grimberg (2006): Verwirklichen und Wegschaffen, S. 185. 350 Ebd.

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auf der ersten Seite seines Peinture Détournée betitelten Vorworts: »Warum das Alte zurückweisen, / wenn man es mit einigen Pinselstrichen / modernisieren kann? / Das wirft Aktualität / auf eure alte Kultur.«351 Weshalb aber wollte Jorn banale Bilder aktualisieren? Schließlich gab und gibt es doch genügend Meisterwerke der Kunstgeschichte, die er hätte aktualisieren können. Im zweiten Teil von Peinture Détournée – der laut Jorn für »Kenner bestimmt«352 ist und eine »beschränkte Aufmerksamkeit«353 voraussetzt – schreibt er in Bezug auf die Frage der Wertigkeit: »Die Zweckentfremdung ist ein auf die Fähigkeit der Entwertung zurückführendes Spiel. Nur wer fähig ist zu entwerten, kann neue Werte schaffen. und nur dort, wo es etwas zu entwerten gibt, das heißt wo es einen bereits bestehenden Wert gibt, kann man eine Entwertung vornehmen.«354

Wie bereits erwähnt dient das détournement nicht der Entwertung oder Zerstörung per se, sondern es soll neue Werte schaffen. Für diese Neuschaffung von Werten ist laut Jorn allerdings die Entwertung vorheriger Werte zwingend notwendig. In diesem Sinn ist auch Jorns Aussage zu verstehen, dass »die Lieblingsnahrung der Malerei die Malerei ist.«355 Worin aber soll die Wertigkeit der Bilder vom Flohmarkt bestehen? Zwar klassifiziert Jorn diese Bilder als »schlechte Malerei«356 – gleichzeitig spricht er aber davon, dass er diese mehr liebe als die gute, und dass er sich seit zwanzig Jahren mit der Idee und aufwendigen Aufgabe befasst habe, dieser »schlechten Malerei« eine Würdigung zu bereiten.357 Seine Ausstellung charakterisiert Jorn als unerlässliches »Monument zu Ehren der schlechten Malerei.«358 Zugleich verschweigt er nicht, dass zur Errichtung dieses Monuments besagte schlechte Malerei geopfert wird.359 Ein Opfer muss jedoch einen bestimmten Wert besitzen. In Bezug auf diesen Wert verweist Jorn in Peinture Détournée auf seinen bereits 1941 verfassten Aufsatz Intime Banalitäten – veröffentlicht in seiner im selben Jahr gegründeten Zeitschrift Helhesten (Höllenpferde). Darin brachte er seine »Vorliebe für die konventionell-kitschige Kunst«360 zum Ausdruck:

351 352 353 354 355 356 357 358

Jorn (1987): Zweckentfremdete Malerei, S. 45. Ebd. Ebd. Ebd. S. 48. Ebd. S. 48/49. Ebd. Ebd. Ebd. S. 49. Die hier getroffenen Aussagen können durchaus auf beide Ausstellungen, Modifications und Nouvelles Défigurations, bezogen werden. Vgl. Zweite (1987): Modifikationen und Defigurationen, S. 69. 359 Ebd. S. 49. 360 Ebd. S. 48/49.

188 | U NDERSTANDING Y OU T UBE »Ein großartiges Kunstwerk ist eine perfekte Banalität. […] Was man das Natürliche nennt, ist die befreite Banalität, das Gemeine oder unmittelbar Einsichtige, ohne daß man versucht hätte, ihm Zeichen der Seltenheit einzuprägen. Es ist wichtig zu betonen, daß die Grundlage der Kunst im ewig Gemeinen bleibt, im Einfachen und Billigen, das sich in Wirklichkeit als das uns Teuerste und Unverzichtbarste erweist. Nirgendwoanders als in Paris findet man so viel schlechten Geschmack, und das ist genau der Grund dafür, daß Paris ein Ort ist, an dem die künstlerische Inspiration noch lebt.«361

Deutlich wird also schon in diesem Aufsatz aus dem Jahr 1941, dass Jorn in der Banalität eine Art Nährboden sieht, eine Grundlage der Kunst, eine Basis für Inspiration und künstlerisches Schaffen. Jemand, der das Banale und Kitschige ablehnt, hat für Jorn den Bezug zu den Fundamenten der Kunst verloren: »Es kennzeichnet denjenigen, der die Beziehungen zu den Fundamenten der Kunst verloren hat, daß ihm in gleicher Weise der Sinn für das Banale verloren gegangen ist. Dies sei nicht bezogen auf die Fähigkeit, die Banalität zu sehen, eine Fähigkeit, die sich gegenläufig zu einer kränklichen Manier entwickelt. Ich meine die Fähigkeit, den künstlerischen Wert der Banalität zu begreifen, ihre herausragende Bedeutung für die Kunst.«362

In nicht ironisch gemeinten Worten schildert Jorn, dass die banale und kitschige Kunst für ihn die Wurzel der zeitgenössischen Kunst ist: »Wer gegen die Produktion der schönen, grellen, sorgfältig ausgeführten Bilder zu kämpfen versucht, ist der Gegner der besten zeitgenössischen Kunst. Diese Seen in den Wäldern und diese röhrenden Hirsche, die in Tausenden von Wohnzimmern in Goldverzierung auf gemusterten Tapeten hängen, gehören zu den tiefsinnigsten Eingebungen der Kunst. Es ist immer ein wenig ermüdend zu sehen, wie die Menschen daran gehen, den Ast, auf dem sie sitzen, abzusägen.«363

So wird deutlich, dass Jorn das Banale, Schlechte und Konventionelle, die kitschigen Bilder vom Flohmarkt schätzt, denn sie sind für ihn Wurzel und Motor künstlerischen Schaffens. Aus eben diesem Grund schreibt Jorn in dem 1958 in L’Internationale Situationniste erschienenen Aufsatz Form und Struktur (Pour la Forme): »Eine Epoche ohne Häßlichkeit wäre eine Epoche ohne Fortschritt.«364 Jorns Modifikationen realisieren diese Überlegungen äußerst pointiert, denn die Modifikation – das détournement – sollte eben nicht ausdrücken, dass die ursprüng-

361 Jorn, Asger (1987; 1941): Intime Banalitäten, in: Ders.: Heringe in Acryl, S. 13-20, hier S. 13/14. 362 Ebd. S. 13. 363 Ebd. S. 15. 364 Jorn, Asger (1987; 1958): Form und Struktur. Sensationelle Schlussfolgerungen, in: Ders.: Heringe in Acryl, S. 51-54, hier S. 51.

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lichen Bilder wertlos sind oder dass sie zerstört werden müssen. Vielmehr dienen die Flohmarkt-Bilder kreativer Schöpfung nicht nur als ideelle Basis, sondern sogar im wortwörtlichen Sinn als Grundlage, als Leinwand. Transformationsprozesse: die Zerstörung und ihre Grenzen Wie sich gezeigt hat, verfolgt das détournement eine andere Strategie als die dadaistische Collage: nicht Entwertung oder Lächerlichmachung stehen im Vordergrund, sondern im Gegenteil die Neuzuweisung von Wertigkeit. Dennoch richtet sich der Blick beim Betrachten von Jorns Arbeiten aus den beiden Ausstellungen Modifications und Nouvelles Défigurations zuallererst unweigerlich auf das interventionistische Moment, so dass der Aspekt der »Zerstörung« in den Vordergrund tritt. Doch nicht nur die Modifikation selbst, auch ihre Grenzen treten deutlich zu Tage. Claire Gilman bezeichnet Jorns Modifikationen sogar als »nonalterations« und konstatiert ein Scheitern der dekonstruktivistischen Strategien: »Instead of ›vandalizing‹ or ›breaking open‹ the picture plane, Jorn’s nonalterations testify to the impenetrability of the mute canvas and the failure of immanent deconstructive strategies.«365 Man muss Gilmans Urteil nicht teilen, die in ihrem Aufsatz das Ziel verfolgt, Jorns Werke als zufällig zusammengestelltes Archiv zu charakterisieren. Doch auch Guy Atkins betont, dass Jorn Konflikte auf menschlicher Ebene vermeidet: »The resulting transformation is […] usually kept on a quite innocuous and even idyllic plane. That is due to the fact that whenever the rural scene contains people, Jorn makes a point of isolating these innocent folk from the invading forces. In this way he avoids any conflict at the human level. The environment becomes disturbed, but the human beings remain unaware of it.«366

Falls Menschen abgebildet werden, bleiben diese meist unberührt. L’avant-garde se rend pas ist diesbezüglich zwar eine Ausnahme, doch der aufgemalte Bart ist noch harmlos im Vergleich zu den monströsen Figuren, mit denen Jorn andere Bilder modifiziert hat. So kann als weiteres Beispiel für détournement ein Bild dienen, bei dem sich die vorgenommene Intervention schwerlich in das ursprüngliche Bild einpasst, und zwar Le canard inquiétant (Abb. 25, oben), das 1959 auf der Ausstellung Modifications gezeigt wurde. In seiner Diskussion dieses Bildes betont Armin Zweite, das nichts zusammenpasst: »Die Darstellungsebenen klaffen weit auseinander. Eine neue bildnerische Einheit ist nicht angestrebt. Die ikonoklastische Gebärde Jorns stellt absichtsvollen Dilettantismus,

365 Gilman (1997): Asger Jorn’s Avant-Garde Archives, S. 35/37. 366 Atkins (1977): Asger Jorn, S. 65-67.

190 | U NDERSTANDING Y OU T UBE darüber hinaus Ungeschmack und technisches Unvermögen zur Schau. Das Ergebnis ist nichts anderes als das rabiate Aufeinanderprallen des Disparaten, das Einbrechen des Grotesken in das scheinbar Harmonische und Gesicherte. […] Nichts stimmt zusammen: das Glatte steht gegen das Rauhe, der Tiefenraum gegen die Fläche, das Kleinteilige gegen das Grobe, das Friedliche gegen das Gewaltsame, das Vertraute gegen das Ungeheuerliche.«367

Doch trotz des offensichtlichen destruktiven Charakters schreibt Zweite weiter: »Das alte Gemälde wird nicht völlig zerstört. Die neue Figuration setzt sich lediglich in einer vorderen Bildschicht durch. Was sich gegenseitig ausschließt, ja widerspricht, wird zwar in eine Wahrnehmungsebene gezwungen, bleibt jedoch unvermittelbar nebeneinander stehen.«368

Zweite geht davon aus, dass dieser Mangel an malerischer Synthese von Jorn deutlich empfunden wurde, dass dieser also gewollt war. Was demnach alle Bilder der Ausstellungen Modifications und Nouvelles Défigurations vereint ist, dass sich Jorns Modifikationen auf bestimmte Teilbereiche beschränken und an der Oberfläche verharren. Zweite erkennt darin einen zweifellos »barbarischen Akt«,369 distanziert diesen aber vom ikonoklastischen Anspruch der Futuristen, die in ihren Manifesten vor dem Ersten Weltkrieg wiederholt die Vernichtung der Museen und ihrer Meisterwerke gefordert hatten: »Jorn ging es nicht um Zerstörung kultureller Güter. Seine aggressiven Hinzufügungen bleiben vielmehr ambivalent: Verständlich als Kritik von ausgelaugten Derivaten der Salonkunst, untergraben sie weniger die sich dort manifestierenden Stilideale als daß sie diese durch den schneidenden Kontrast mit Jorns expressivem Duktus akzentuieren, ja überhaupt erst zur Kenntlichkeit entstellen. Worauf es dem Maler bei seinen Manipulationen primär ankommt, ist nicht der Dialog des Alten mit dem Neuen, sondern der Widerspruch. Es geht ihm um das Zerbrechen und die Bewahrung veralteter Codes, nicht um deren Verschleierung, Überlagerung oder völlige Auslöschung.«370

367 368 369 370

Zweite (1987): Modifikationen und Defigurationen, S. 67. Ebd. S. 68. Ebd. S. 67. Ebd.

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Abb. 25: Le canard inquiétant (1959) und Recyclingvideo (2007)371

371 Oben: Asger Jorn, Le canard inquiétant (Den foruroligende ælling, 1959), Öl auf Leinwand, 53x64,5 cm, Museum Jorn, Silkeborg (Dänemark). ‹http://www.museumjorn.d k/da/visning_af_vaerk.asp?AjrDcmntId=49›, unten: Screenshot aus Stepmania: Leave Britney Alone!!! ‹http://www.youtube.com/watch?v=yuPPuTmvs_w› [15. Mai 2012]

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Normalerweise sagt man: »bis zur Unkenntlichkeit entstellt«, Zweite formuliert jedoch paradox, nämlich dass etwas »zur Kenntlichkeit entstellt« wird. Die Modifikation löscht das Alte nicht aus, aber es kommt auch nicht zum Austausch. Guy Atkins beschreibt, wie Altes und Neues auf zwei Ebenen in Spannung zueinander – aber Seite an Seite – existieren, ein dauerhafter Zustand der Balz auf den Jorn hinaus wollte: »Jorn’s own interest lay precisely in this complete courtship between old and new.«372 Auch die SI sah in dieser Koexistenz von alter und neuer Bedeutung die Stärke des détournement. In Detournement as negation and prelude heißt es: »There is a specific strength to detournement, which obviously derives from the enrichment of the greatest part of the terms by the coexistence in them of their old and immediate meanings – their double depth.«373 Das Recyclingvideo als détournement? Wie aber steht es um die in den Videoclips vorgenommenen Eingriffe? Auch auf den Videoplattformen finden sich zahlreiche Beispiele, bei denen zwei (oder mehrere) Dinge scheinbar sinnlos und unzusammenhängend miteinander kombiniert wurden. Bei dem Videoclip Stepmania: Leave Britney Alone!!!374 (Abb. 25, unten) des Nutzers xTsusurvivorgamusHx etwa, ist über eine modifizierte Version von Chris Crockers Videoclip die aus dem Rhythmus-Video-Spiel StepMania bekannte Oberfläche gelegt worden. Ein anderes Beispiel wären die zahlreichen Mash-Up-Videos, die – so könnte man meinen – wahllos Videoausschnitte miteinander kombinieren, als wollten sie ein best-of von dem präsentieren, was gerade ›in‹ ist.375 Das détournement erregt demnach Aufsehen durch das Neue (d.h. die Modifikation) und betont gleichzeitig das Alte, allerdings nicht ohne auf dessen vermeintliche oder tatsächliche Unzulänglichkeiten zu verweisen. Ein weiteres Paradox ist die von Zweite erwähnte Gleichzeitigkeit von Zerbrechen und Bewahren. Dieses Gegensatzpaar wird im Folgenden genauer zu untersuchen sein, wenn es darum geht, worin die Zielsetzung der SI im Hinblick auf die Kunst als Institution lag – allerdings unter einer etwas abgewandelten Begrifflichkeit, nämlich als das, was Grimberg »Verwirklichen und Wegschaffen«376 genannt hat. Entscheidend ist jedoch,

372 373 374 375

Atkins (1977): Asger Jorn, S. 70. ‹http://www.notbored.org/detournement.html› [14. Februar 2011]. ‹http://www.youtube.com/watch?v=yuPPuTmvs_w› [14. Februar 2011]. Ein Beispiel wäre der Videoclip LEAVE BRITNEY ALONE! (edited version) des Nutzers btbking: ‹http://www.youtube.com/watch?v=YzxIg5p_HBs› [14. Februar 2011]. 376 Grimberg, Eiko (2006): Verwirklichen und Wegschaffen. Was die SI mit der Kunst wollte, in: Grigat, Stephan; Grenzfurther, Johannes; Friesinger, Günther (Hg.): Spekta-

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dass die Grenzen der Modifikation – laut Zweite – anzeigen, dass es Jorn weniger um Zerstörung als um Transformationsprozesse ging: Das Alte soll aktualisiert werden, und das Banale wird zur Grundlage kreativer Schöpfung. Schon bei den ikonoklastischen Praktiken tauchte der Gedanke auf, dass Zerstörung auch als Aktualisierung verstanden werden kann, besonders wenn es – wie bei Duchamps modifizierten Reproduktionen – keine vollständige Auslöschung gibt. Doch sogar wenn das Original selbst modifiziert wird, sorgt die Aktualisierung dafür, dass etwas in Zirkulation gerät bzw. in dieser verbleibt. Das, was nicht mehr verändert werden kann, bleibt liegen und fällt aus dem Umlauf heraus. Jedoch ist davon auszugehen, das der Maler des von Jorn modifizierten Bildes nicht gewollt hat, dass sein Bild auf diese Art und Weise oder überhaupt modifiziert wird. Jorn wiederum hatte keinen Einfluss darauf, dass sein Bild noch einmal von Gmelin modifiziert wurde. Im Laufe der Zeit hat sich so eine verkettete Struktur ergeben, die sich mit der Arbeit Vinds entweder noch einmal verlängert oder aber aufgespalten hat. Man weiß nicht, ob Vind sich von Gmelins Arbeit hat inspirieren lassen, oder von Jorns, oder gar von Duchamp. Eben so unklar ist, von wem sich der Maler des Flohmarkt-Bildes hat inspirieren lassen, schließlich wird er nicht der erste gewesen sein, der ein Mädchen im Kommunionskleid gemalt hat. Ganz ähnliche Transformationsprozesse und Strukturen zeigen sich bei den Recyclingvideos im Internet. Auch dort kann man von Vorgängern sprechen, von einem kulturellen Gedächtnis, das ständig aktualisiert und verändert wird, und von einer großen Anzahl an Videoclips, die darauf warten, gesehen und aktualisiert zu werden. Jorn hat in Bezug auf das Bild eines unbekannten Malers erreicht, dass es nicht der Vergessenheit anheim gefallen ist. Durch seine Bearbeitung hat es aber nicht nur Eingang ins kulturelle Gedächtnis gefunden, die verkettete/verzweigte Struktur modifizierter Versionen zeigt, dass es nicht nur in Zirkulation geraten, sondern in dieser verblieben ist. Jorn bezieht sich jedoch nicht (nur) auf Meisterwerke, sein besonderer Beitrag besteht gerade darin, dass er den Blick auf das Banale und Alltägliche lenkt, die nach seiner Auffassung die künstlerische Inspiration befeuern. Durch seine Interventionen aktualisiert Jorn die Bilder nicht nur, er lässt ihnen auch eine neue Wertschätzung zukommen. Banal ist auch die Mehrheit der im Internet zirkulierenden Videobilder: Die Clips behandeln meist alltägliche Themen, sie bieten oberflächliche Unterhaltung und folgen in ihrer Umsetzung konventionellen Mustern. Mit Jorn könnte man aber argumentieren, dass gerade das Alltägliche und Konventionelle kreative Reaktionen herausfordert. Demnach bietet Crockers Video ein ideales Ob-

kel – Kunst – Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale, S. 181196.

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jekt für eine produktive Auseinandersetzung – und tatsächlich scheint sich diese ja in den zahllosen und divergenten Recyclingvideos zu manifestieren. Doch diese Übertragung von Erkenntnissen auf die Videoclips im Internet ist nicht unproblematisch. Der Modifikation von Meisterwerken der Kunst als bewusster, das System Kunst in Frage stellender Akt, steht im Internet die Bearbeitung zumeist alltäglicher Videoclips gegenüber. Die in beiden Fällen vorhandene destruktive Komponente kann, wie sich gezeigt hat, als Mechanismus der Aktualisierung, als In-Zirkulation-Geraten interpretiert werden. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen können die Recyclingvideos insgesamt wohl kaum den Status der Kunst für sich beanspruchen. Allerdings könnte man behaupten, dass sich mit dem détournement ein neuer Blick auf das Verhältnis von Rezipient und Produzent eröffnet. Entscheidend hierbei ist, wie Jorn und die SI die alltägliche kreative Betätigung von Amateuren bewertet haben. Wie also positioniert Jorn sein eigenes künstlerisches Schaffen im Verhältnis zu der Kreativität von Nicht-Künstlern? Aufhebung der Kunst – détournement als alltägliche Praxis Um Jorns Konzeptionen auf die nicht-künstlerischen Recyclingvideos übertragbar zu machen, soll nun versucht werden, die Überlegungen der SI zur Rolle der Kunst für die Videoplattformen im Internet nutzbar zu machen. So schreiben Debord und Wolman in dem auch von der SI selbst immer wieder zitierten Artikel A User’s Guide to Détournement aus der Zeitschrift Les Lèvres Nues: »Any reasonably aware person of our time is aware of the obvious fact that art can no longer be justified as a superior activity, or even as a compensatory activity to which one could honorably devote oneself. The reason for this deterioration is clearly the emergence of productive forces that necessitate other production relations and a new practice of life.«377

Debord und Wolman konstatieren hier neue Produktivkräfte (heute könnte z.B. die Videobearbeitung gemeint sein), die zu anderen Produktionsverhältnissen und einer neuen Lebenspraxis führen, die eine autonome Stellung der Kunst nicht mehr rechtfertigen. Armin Zweite formuliert, dass es sowohl Jorn wie auch der SI darum gehe, »das Verhältnis von Produzenten und Rezipienten auf eine neue Basis zu stellen, [um so] die Kunst aus der gesellschaftlichen Isolation zu befreien.«378 Jorn verkörpert bereits das neue Produzent-Rezipient-Verhältnis, das auch für die Welt der Videoclips charakteristisch ist: Er ist Rezipient und Zerstörer der Flohmarkt-Bilder,

377 ‹http://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/usersguide.html› [14. Februar 2011]. 378 Zweite (1987): Modifikationen und Defigurationen, S. 70.

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Produzent einer Modifikation auf der Grundlage eines bereits vorhandenen Bildes, und gleichzeitig machte er die ursprünglichen Maler wider deren Intention, Willen und Wissen zu Mitarbeitern an einem gemeinsamen Projekt. Damit sind Jorns Arbeiten zugleich Kritik wie Hommage. Wie Karen Kurczynski feststellt, geht dies über die bloße Aktualisierung von Vergangenem hinaus, weil Amateur und Profi auf eine Stufe gestellt werden: »The goal of the Modifications was ultimately not parody, but rather a more complex statement about the contemporaneity of both amateur and modern painting, even an argument of their very equivalence.«379 Vor diesem Hintergrund erscheint Jorn als »Pionier« eines neu entstandenen ProfiAmateur-Verhältnisses, das sich auch auf den Videoplattformen zeigt. Neben dem neuen Verhältnis zwischen Rezipient und Produzent sowie Profi und Amateur ist aber auch die Aufhebung der gesellschaftlichen Isolation der Kunst entscheidend. Die SI interpretiert eine autonome Stellung der Kunst nicht als wünschenswerten Zustand, sondern als Sphärentrennung zwischen alltäglichem Leben und Kunst: »Die Veränderung des Alltagslebens, die Überwindung der Sphärentrennung ist für die Situationistische Internationale Vorbedingung und Folge des Absterbens der autonomen Stellung der Kunst.«380 Wie Grimberg in seinem Aufsatz Verwirklichen und Wegschaffen feststellt, ist es das Ziel der SI, die autonome Stellung der Kunst abzuschaffen, um so die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben. Kunst und Alltagsleben sollten in einer Einheit aufgehen, damit aber würde automatisch auch die Kunst als solche aufhören zu existieren. Grimberg führt aus, dass es hier nicht um stilistisch-ästhetische Fragen geht, sondern um das grundsätzliche Verständnis von Kunst und ihrer Rolle in der Gesellschaft: »Wie die SI negiert die Avantgarde nicht den Stil vorausgegangener Strömungen, sondern die Institution Kunst als eine von der Lebenspraxis geschiedene Ebene. Institution meint hier den Produktions- und Distributionsapparat, einschließlich der geläufigen Formen der Rezeption. Damit erledigt sie wesentliche Bestimmungen des Autonomiestatus.«381

In diesem Punkt unterscheidet sich die SI also nicht von früheren Strömungen der Avantgarde. Doch die Unterschiede werden deutlicher, wenn man die Vorstellung der SI mit den Grundgedanken des Dadaismus und des Surrealismus vergleicht. Guy Debord vollzieht diesen Vergleich in Die Gesellschaft des Spektakels: »Der Dadaismus wollte die Kunst wegschaffen, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie wegzuschaffen. Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt, dass die Wegschaffung und die

379 Kurczynski (2007): Ironic Gestures, S. 117. 380 Grimberg (2006): Verwirklichen und Wegschaffen, S. 191. Hervorhebung im Original. 381 Ebd. S. 193/194.

196 | U NDERSTANDING Y OU T UBE Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Aufhebung der Kunst sind.«382

Die SI kombiniert also die Zielsetzungen der Dadaisten und Surrealisten und bezeichnet dies nicht als Zerstörung, sondern als Aufhebung der Kunst – definiert als die Gleichzeitigkeit des Abschaffens und des Verwirklichens auf einer höheren Ebene, d.h. als eine Aufhebung oder Synthese im Hegelschen Sinn.383 Die Aufhebung der Kunst vollzieht sich folglich in zwei Schritten. Der erste wurde bereits von den Dadaisten vollzogen, führte jedoch in seiner Radikalität auch zur Zerstörung der dadaistischen Bewegung: »Die historische Rolle des Dadaismus war es, dem herkömmlichen Verständnis der Kultur den tödlichen Stoss versetzt zu haben. Die vollkommen negative Selbstdefinition trug allerdings zur raschen Auflösung der dadaistischen Bewegung bei.«384 Die Verwirklichung bezog sich hingegen auf Ideen der Surrealisten. Wie Mario Perniola ausführt, bezog sich die SI zwar auf surrealistische Theorien, wertete diese aber völlig um: »Die geläufigen Termini, um zwischen realem Leben als Ort der Langeweile und der Bedeutungslosigkeit und imaginärem Leben als Ort des Staunens und der Bedeutung zu unterscheiden, wurden von den Surrealisten akzeptiert, sogar eigens von ihnen gemacht und müssen jetzt komplett umgedreht werden: Es ist die Realität selbst, die wunderbar werden kann.«385

Die Kunst gehört im Verständnis der SI also nicht in eine imaginäre Sphäre, sondern in das alltägliche Leben, wobei ihre Ankunft dort ihre Aufhebung bedeutete. Überhaupt ging es der SI nicht um die künstlerischen Äußerungen eines Individuums. Zwar gab es unter ihren Mitgliedern Künstler, doch diese begriffen sich als soziale Wesen, die sich – kontinuierlich von ihrem Umfeld geformt – vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund im Kollektiv entwickelten. Was die SI aber letztendlich fördern und wecken wollte, war die alltägliche Kreativität der Menschen. Auf das Bild L’avant-garde se rend pas hatte Jorn den Titel gekritzelt. Da sich der Schriftzug auf einer im Bildhintergrund angedeuteten Mauer befand, kann er als Verweis auf Graffiti gelesen werden.386 Auch bei modifizierten Videoclips werden auf sehr ähnliche Art und Weise Wörter auf das Videobild ›gekritzelt‹, etwa bei dem bereits genannten Beispiel MORE MORE CRAP (Chris Crocker Remix) des

382 Debord, Guy (1996; 1967): Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat, Verlag Klaus Bittermann, S. 164f. Hervorhebungen im Original. 383 Vgl.: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1812): Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objective Logik. Nürnberg: Johann Leonhard Schrag, S. 45/46. 384 Grimberg (2006): Verwirklichen und Wegschaffen, S. 187. 385 Perniola (2011): Die Situationisten, S. 12. Hervorhebungen im Original. 386 Dworkin, Craig Douglas (2003): Reading the Illegible. Evanston: Northwestern University Press, S. 15.

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Nutzers kitkat424 (Abb. 14, unten). Jorn faszinierte das Phänomen Graffiti spätestens seit er bei gemeinhin als »Vandalismus« bezeichneten Modifikationen – etwa dem Einritzen oder Bekritzeln von Kirchenbänken etc. – Parallelen zwischen mittelalterlichen Kirchen der Normandie und Dänemarks entdeckte.387 Er gründete darauf 1961 in Kopenhagen das Institut Scandinave de Vandalisme Comparé (Skandinavisk Institut for Sammenlignende Vandalisme) und veröffentliche zu diesem Thema mehrere Bücher. Jorn sah in Graffiti einen Hinweis darauf, dass es ein grundsätzliches menschliches Bedürfnis danach gibt, sich auszudrücken.388 Da dieses Bedürfnis eine Beschädigung institutioneller Strukturen zur Folge hat, interpretierte Jorn Graffiti als Auflehnung gewöhnlicher Menschen gegen die Institutionalisierung der Kunst und ihre Trennung vom alltäglichen Leben; denn in den Augen Jorns isolierte die mittelalterliche Kirche ihre religiösen Kunst- und Kulturobjekte besonders stark. Dies aber bedeutet: Die Kirche hielt Kunst außerhalb sozialer Zirkulation.389 In Bezug auf Jorns L’avant-garde se rend pas schreibt Karen Kurczynski: »Jorn’s graffiti reconfigured the artistic gesture into something untutored, critical, and popular. He transformed the gesture from a sign of originality into an unauthorized response to a preexisting image.«390 Jorns Bearbeitung kann somit als Einladung zum Dialog verstanden werden, als Öffnung des Werks. Hier zeigt sich bereits eine (nicht nur von Jorn vollzogene und sich später in der Kunst allgemein vollziehende) Neudefinition des Werkbegriffs, die offene Strukturen und diskursive Prozesse gegenüber der Vorstellung eines Objekts als in sich geschlossener Entität bevorzugt. Karen Kurczynski identifiziert bei aller Ähnlichkeit einen klaren Unterschied zwischen Duchamps und Jorns Modifikation: »Yet where Duchamp’s Dada gesture was part of overt rejection of painting, Jorn’s Modifications stand as records of a subjective encounter with a past work that through gesture parodies Painting with a capital P but remains sympathetic to the anonymous creativity of the amateur painter.«391

Duchamps Kritik richtete sich gegen alle Formen der Malerei. Jorn hingegen brachte Sympathie auf für den kreativen Ausdruck des Amateur-Malers, ja er macht den anonymen Maler des ursprünglichen Bildes sogar im Nachhinein zu seinem Arbeitskollegen. Jorns Modifikation selbst ist weder autorisiert noch kunstvoll – ganz

387 Vgl. Shield, Peter (1998): Comparative Vandalism. Asger Jorn and the artistic attitude to life. Borgen in Aldershot: Ashgate. 388 Jorn, Asger (1964): Sauvagerie, barbarie et civilisation, in: Jorn, Asger; Glob, P. V. (Hg.): Signes gravés sur les églises de l’Eure et du Calvados. Kopenhagen: Borgen, S. 127. 389 Ebd. S. 247. 390 Kurczynski (2007): Ironic Gestures, S. 117. 391 Ebd. S. 117. Hervorhebung im Original.

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im Gegenteil entstammen Jorns Graffiti und seine Kritzeleien der Sphäre des Alltags, so wirkt sie wie eine Aufforderung an jedermann, es ihm nachzutun, ohne lange auf eine Erlaubnis zu warten. So verwirklicht Jorns Arbeit die Idee kollektiven Schaffens, selbst wenn sie von einem einzelnen Künstler gestaltet wurde. Bezogen auf die Produzenten der Recyclingvideos entsteht der Eindruck, diese hätten den von der SI angestrebten Zustand verwirklicht: Die Videoplattformen sind Bestandteil des alltäglichen Lebens zahlreicher Menschen, sie inkorporieren dabei neben öffentlichen, durchaus kollektiven Aspekten auch kreative Momente als Ausdruck der Empfindungen Einzelner. Für die Bearbeitung von Videoclips bietet sich daher der Begriff »détournement« an, da es sich bei diesem keineswegs um eine ausschließlich künstlerische Praxis handelt. Am Ende ihres Artikels A User’s Guide to Détournement verweisen Debord und Wolman auf die Praxis des ultradétournement. Darunter verstehen sie die Anwendung des détournement im alltäglichen Leben, nämlich in Bezug auf Gesten, Wörter, Kleidung, und Situationen. Die Veränderung dieser alltäglichen Dinge interpretieren Debord und Wolman als Resultat eines natürlichen Spieltriebs und als Zeichen der Gruppenzugehörigkeit: »In closing, we should briefly mention some aspects of what we call ultradétournement, that is, the tendencies for détournement to operate in everyday social life. Gestures and words can be given other meanings, and have been throughout history for various practical reasons. […] The need for a secret language, for passwords, is inseparable from a tendency toward play. Ultimately, any sign or word is susceptible to being converted into something else, even into its opposite. […] Outside of language, it is possible to use the same methods to detourn clothing, with all its strong emotional connotations. Here again we find the notion of disguise closely linked to play.«392

Détournement beschränkt sich demnach nicht auf professionell Kreative wie Künstler oder Autoren, vielmehr handelt es sich um eine grundsätzliche Praxis des alltäglichen Miteinanders, die auf spielerische Art und Weise versucht, eine alternative Bedeutung von Zeichen zu etablieren. Ohne auf professionalisierte Spezialisten beschränkt zu sein, sollte das détournement allen als Ausdrucksmittel zur Verfügung stehen. Deshalb kann man nicht nur auch, sondern gerade bei den Recyclingvideos von détournement sprechen, und zwar von »ultradétournement« im Sinne Debords und Wolmans. Vielleicht erzeugen auch die Recyclingvideos »Situationen« (des Iconoclashs?), in denen die Realität selbst ›wunderbar‹ wird. Oder sind die Videoplattformen bloß Teil dessen, was Debord die Gesellschaft des Spektakels genannt hat? Entscheidend für die Klärung dieser Fragen sind die »Situationen«, die der SI ihren Namen gegeben haben – um diese soll es im Folgenden gehen.

392 ‹http://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/usersguide.html› [14. Februar 2011].

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Das Recyclingvideo und die »Aufteilung des Sinnlichen« Im Gründungsmanifest der SI, dem Rapport zur Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der Internationalen Situationistischen Tendenz schreibt Guy Debord: »Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situation – d.h. der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft. Wir müssen eine geordnete Intervention in die komplizierten Faktoren zweier großer, sich ständig gegenseitig beeinflussender Komponenten durchführen: die materielle Szenerie des Lebens und die Verhaltensweisen, die sie hervorbringt und durch die sie erschüttert wird.«393

Die Konstruktion von »Situationen« war demnach das Hauptanliegen der SI, allerdings ging es nicht um irgendwelche Situationen. Debord unterscheidet im Rapport die normalen und eintönigen Situationen von den zu konstruierenden Situationen: »Das Leben eines Menschen besteht aus einer Folge von zufälligen Situationen, und wenn auch keine einer anderen genau gleicht, so sind zumindest diese Situationen in ihrer größten Mehrheit so undifferenziert und farblos, daß sie vollkommen den Eindruck der Gleichheit geben. […] Wir müssen versuchen, Situationen zu konstruieren, d.h. kollektive Stimmungen, eine Gesamtheit von Eindrücken, die die Qualität eines Augenblicks bestimmen.«394

Die konstruierten »Situationen« sollen also Empfindungen einer höheren Qualität wecken, um die Menschen zurück in den Augenblick zu holen: »Die Leidenschaften sind oft genug interpretiert worden – es kommt jetzt darauf an, neue zu finden.«395 Anstatt nun neue Leidenschaften anzubieten, wollte die SI die Menschen dazu anzuregen, selbst den Alltag zu unterbrechen, Experimente zu machen und auf die Suche zu gehen. Dies sollte durch eine doppete Enttäuschung realisiert werden: »Die Situation setzt für einen Moment das so genannte Naturhafte, den bekannten Gang der Dinge außer Kraft. Das vermeintlich Natürliche offenbart sich als Täuschung. Zum anderen ist die Situation nur von begrenzter Dauer, eine zweite Enttäuschung stellt sich ein. In dieser doppelten Enttäuschung liegt die Sprengkraft der Situationisten, ihr subversiver Gehalt. Das Begehren überlebt seine Befriedigung.«396

393 Debord (1980): Rapport zur Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der Internationalen Situationistischen Tendenz und andere Schriften, S. 41/42. 394 Ebd. S. 48/49. 395 Ebd. S. 58. 396 Grimberg (2006): Verwirklichen und Wegschaffen, S. 189.

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Eine »Situation« soll dementsprechend zunächst ein Bedürfnis wecken bzw. aufzeigen, dieses aber nicht befriedigen, so dass sie den ›Aufgeweckten‹ mit dem Gefühl eines Mangels hinterlässt, worauf dieser sich selbst auf die Suche begeben soll. Konstruiert werden »Situationen« durch Interventionen im Gefüge der materiellen Szenerie des Lebens, etwa so wie es bei einem ›Skandal‹ geschieht. Das als ›natürlich‹ empfundene (kontingente) Verhalten der Menschen ist im Verständnis der SI durch die materielle Szenerie bestimmt und soll diese stabilisieren. Interessanterweise aber schreibt die SI eben diesen alltäglichen Verhaltensweisen das Potential zu, die ›materielle Szenerie des Lebens‹ zu erschüttern. Gerade das Erschüttern durch Kritik galt in den anderen Avantgardebewegungen aber als die Aufgabe der Kunst. Die SI beschrieb die Sphäre der Kunst jedoch als unzureichend zur Erlangung ihrer revolutionären Ziele. Wie Anselm Jappe feststellt, liegt hier ein wesentlicher Unterschied zwischen der SI und den Surrealisten begründet: »Aber der Protest gegen diese Welt konnte sich nicht auf die Kunstsphäre beschränken und es genügte genauso wenig, dass Individuen oder kleine Gruppen, von Traum und Imagination geleitet, nach dem Wunderbaren in den Nischen des Alltags oder den eigenen Tiefen suchen, wie es die Surrealisten taten «397

Beide Bewegungen hatten das Ziel, ein neues Leben bzw. eine höhere Lebensform zu entdecken und zu verwirklichen, die SI wollte dabei jedoch am Ende nicht wie die Surrealisten in die reine Kunst oder Literatur zurückfallen. Deswegen siedelt die SI ihre »Situationen« im alltäglichen Leben an, und nicht in der Kunst. Was aber bedeutet eigentlich ›alltägliches Leben‹? Wie Mario Perniola zeigt, hat das alltägliche Leben im Verständnis der SI einen doppelten Charakter: »Das situationistische Konzept vom alltäglichen Leben nennt einerseits die objektiven Bedingungen der Beraubung und der Entfremdung, in welche die kapitalistische und bürokratische Gesellschaft das alltägliche Leben zwängt. Andererseits bezieht es sich auf die Potentiale, den Reichtum und die Energie, die das alltägliche Leben enthält.«398

Während der Alltag durch Passivität, Routine und die Wiederkehr des Ewiggleichen geprägt ist, richtet die SI ihr Augenmerk auf bisher unentdeckte oder vernachlässigte kreative Potentiale. Die herrschende Macht hingegen tendiert im Verständnis der SI dazu, den Status quo – und damit die soziale Kontrolle – beizubehalten. Folglich hat diese kein Interesse an der Erweckung kreativer Prozesse, ihr Ziel und Mittel zum Zweck ist vielmehr ein Zustand der Passivität, des Nicht-Einmischens.

397 Jappe, Anselm (2012): Die Situationisten und die Aufhebung der Kunst: Was bleibt davon heute?, in: Hartmann, Doreen; Lemke, Inga; Nitsche, Jessica (Hg.): Interventionen. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie. Paderborn: Fink, S. 4352, hier: S. 48. 398 Perniola (2011): Die Situationisten, S. 60.

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Wenn die Mehrheit der Menschen, ohne sich dessen bewusst zu sein, einen Zustand der entpolitisierenden Passivität und sozialen Kontrolle akzeptiert oder sogar wünscht, ist der Zustand erreicht, den Guy Debord als Gesellschaft des Spektakels bezeichnet. Der Begriff des »Spektakels« greift als innovative Form der Kapitalismuskritik Elemente der marxistischen Kritik auf, nämlich die Kritik von Ware und Wert, Geld und Arbeit, sowie Fetischismus und Entfremdung. Das Moment der Entfremdung manifestiert sich in dem eben skizzierten und laut Perniola vom Neokapitalismus produzierten ›kontemplativen‹ Passivitätszustand.399 Im Verständnis der SI bildet diese allgemeine soziale Verdinglichung jedoch nicht den wirklichen psychischen Zustand der Gesellschaft, sondern nur »die unrealisierbare Utopie der Macht«400 ab. Vor dem Hintergrund einer in zunehmendem Maße von Medien überfluteten Welt ist interessant, dass Debord insbesondere auf die Macht der Bilder verweist: »Das Spektakel ist das Kapital, das einen solchen Akkumulationsgrad er401 reicht, daß es zum Bild wird.« Der Gedanke, dass die vom Menschen im Alltag wahrgenommene Realität nur ein Schatten ist, und dass die Vorstellung der Wirklichkeit und der Schein dem Wesen vorgezogen werden, ist jedoch keineswegs an eine Mediengesellschaft gebunden, schließlich lässt er sich bis zu Platons Höhlengleichnis aus der Politeia ("$) zurück verfolgen. Neu sind allerdings das Ausmaß und die Verselbstständigung der Welt der Bilder. Debord schreibt: »Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt haben, verschmelzen in einen gemeinsamen Lauf, in dem die Einheit dieses Lebens nicht wiederhergestellt werden kann. Die teilweise betrachtete Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudo-Welt, Objekt der bloßen Kontemplation. Die Spezialisierung der Bilder der Welt findet sich vollendet in der autonom gewordenen Bildwelt wieder, in der sich das Verlogene selbst belogen hat.«402

Als ungeheure Zusammenballung von Spektakeln sind Bilder an die Stelle des unmittelbar Erlebten getreten: Unterhaltungssendungen, Sport, Wolkenkratzer, Werbung, Politische Kampagnen, Kaufhäuser, Nachrichten, Kriege, Weltraumraketen – alle diese Spektakel interpretiert Debord vor dem damaligen politischen Hintergrund als Bestandteil einer Welt, in der die gesamte Kommunikation in eine Richtung fließt, nämlich von denen, die die Macht besitzen, zu jenen, die keine Teilhabe an der Macht haben. Der entscheidende Aspekt ist, dass Passivität und fehlende Reziprozität von den Betroffenen ignoriert werden oder sogar gewollt sind:

399 400 401 402

Ebd. S. 69. Ebd. S. 67. ‹http://theoriepraxislokal.org/books/GdS1.php› [20. März 2011]. Ebd.

202 | U NDERSTANDING Y OU T UBE »One could not respond or talk back, or intervene, but one did not want to. […] On the terms of its particular form of hegemony the spectacle naturally produced not actors but spectators: modern men and women, citizens of the most advanced societies on earth, who were thrilled to watch whatever it was they were given to watch.«403

Hier stellt sich die Frage, wie die Videoclips des Internets vor dem Hintergrund der Thesen Debords zu bewerten sind. Sind sie nur ein weiteres Spektakel? Dienen sie dazu, ihre Nutzer von unmittelbaren Empfindungen und politischem Engagement abzuhalten, sie eventuell mit einer kleinen Nischenexistenz abseits des Mainstreams zu befrieden? Diese Vorwürfe treffen zum Teil sicherlich zu, vielleicht sogar auf die Mehrheit der auf den Videoplattformen getätigten Interaktionen. Das Interesse dieses Buchs gilt aber dem Gebiet, auf das diese Einschätzung vielleicht nicht zutrifft: dem Bereich der Recyclingvideos. Interessant ist nämlich, dass im Verständnis der Mächtigen in einer Gesellschaft des Spektakels die sonst positiv konnotierte kreative Betätigung zu einem geradezu staatsfeindlichen Akt wird: »Die grundlegende Absicht der Macht, ob neokapitalistisch oder bürokratisch, ist die detaillierte und engmaschige Organisation eines Zustands der Narkose, der Passivität und Fügsamkeit, welcher einem aufgeschobenen Selbstmord ähnelt und den totalen Verzicht der Untergebenen auf jede Art von kreativer Aktivität oder autonomer Initiative nach sich zieht.«404

Damit aber erlangt kreative Betätigung eine politische Dimension. Die genaue Art dieser Betätigung und die Güte ihres Ergebnisses spielen dabei keine wesentliche Rolle. Entscheidend ist, dass im Verständnis der SI die herrschenden Mächte versuchen, eine Entfaltung dieses kreativen Potentials zu behindern und zwar, indem sie dem Alltag eine feste und lückenlose zeitliche (repetitiver Kreislauf von Arbeit und Freizeit) und räumliche Struktur (Trennung von Zentrum und Peripherie, sowie dem Wohn- und Arbeitsplatz) aufzwingen. Die räumliche und zeitliche Strukturierung des alltäglichen Lebens interpretiert die SI nicht als Abtrotzen eines privaten Freiraums, sondern als ein generelles Abhandenkommen des Lebens an sich. Debord schreibt in The Situationists and the New Forms of Action in Politics and Art: »The same society of alienation, totalitarian control and passive spectacular consumption reigns everywhere, despite the diversity of its ideological and juridical disguises. The coherence of this society cannot be understood without an all-encompassing critique, il-

403 Marcus, G. (1989): Lipstick traces: A secret history of the twentieth century. Cambridge, MA: Harvard University Press, S. 99. 404 Perniola (2011): Die Situationisten, S. 63.

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luminated by the inverse project of a liberated creativity, the project of everyone’s control of all levels of their own history.«405

Eine »Situation« entsteht demnach dann, wenn die feste räumliche und zeitliche Struktur aufgebrochen wird, wenn das kreative Potential geweckt wird und jeder die Kontrolle über sein eigenes Leben zurück erlangt. Doch neben dieser individuellen Ermächtigung ist auch die soziale Aufwertung dieser Raum-Zeit406 entscheidend,407 andernfalls würde kreative Selbstverwirklichung als partikulares Hobby enden. Jorn betont deshalb die Wichtigkeit einer gewissen öffentlichen Wahrnehmung: »The space-time of a human life is its private property. […] [P]roperty only gains value in its realization, in its liberation, in its use, and what makes the space-time of a human life a reality is its variability. What gives the individual a social value is the variability of their behavior in relation to others. If this variability becomes private, excluded from social valorization […] human space-time becomes unrealizable.«408

Das entscheidende Moment ist, dass es bei den hier besprochenen Praktiken im Grunde um eine (Neu-)Organisation von Raum und Zeit geht – mit Rancière könnte man sagen: Es geht um die »Aufteilung des Sinnlichen« (partage du sensible).409 Der Begriff »Aufteilung« steht dabei sowohl für Einteilung als auch für Teilhabe: »Eine Aufteilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest, als auch Teile, die exklusiv bleiben. Diese Verteilung der Anteile und Orte beruht auf einer Aufteilung der Räume, Zeiten und Tätigkeiten, die die Art und Weise bestimmt, wie ein Gemeinsames sich der Teilhabe öffnet, und wie die einen und die anderen daran teilhaben.«410

Die »Aufteilung des Sinnlichen« definiert nach Rancière die konstitutiven und gleichzeitig limitierenden Bedingungen der Gesellschaft, sie bestimmt was sichtbar, sagbar, möglich und machbar ist. Damit aber lässt sie bestimmte Verknüpfungen von Wörtern, Bildern, Dingen und Praxen zu, andere schließt sie hingegen aus. Yves Citton weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die von Außen induzierte Verteilung verinnerlicht wird:

405 ‹http://piratecinema.org/textz/guy_debord_the_situationists_and_the_new_forms_of_ac tion_in_politics_and_art.html› [14. Februar 2011]. 406 Vgl.: Carrier, Martin (2009): Raum-Zeit. Berlin: Walter de Gruyter. 407 Vgl.: Perniola (2011): Die Situationisten, S. 27. 408 Jorn, Asger (1960): La fin de l’économie et la réalisation de l’art, in: Internationale Situationniste Nr. 4 (June 1960), S. 19-22. Die englische Übersetzung The End of the Economy and the Realization of Art ist digital abzurufen unter: ‹http://www.cddc.vt.edu /sionline/si/economy.html› [14. November 2012]. 409 Rancière, Jacques (2006; 2000): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books. 410 Ebd. S. 25/26.

204 | U NDERSTANDING Y OU T UBE »Before taking place toward other people […], the representation takes place within us, within the activity that defines our sensitivity: some of the feature of the situation that were present at the level of our sensory inputs are selected as relevant and manage to define the nature and quality of our behavioral output (remaining present at this secondary level), while other features are rejected as irrelevant or simply ignored (and become absent at this secondary level).«411

Die Verinnerlichung führt dazu, dass bereits während der sinnlichen Wahrnehmung ein Filter eingeschaltet wird, der entsprechend der vorgegebenen Ordnung das (vermeintlich) Wichtige und Richtige vom Unwichtigen und Falschen trennt. Mit Blick auf die in der Aufteilung etablierte Ordnung verweist Rancière auf Platons in der Politeia entwickelte Idee des gerechten und wohlorganisierten Staates. Entscheidend für Gerechtigkeit und damit das sichere Bestehen des Staates ist laut Platon, dass jeder seinen ihm oder ihr zugewiesenen Platz einnimmt und die ihm oder ihr zugewiesene Tätigkeit ausübt. In dem Abschnitt Bestimmung der Gerechtigkeit als das Tun des Seinigen heißt es: »Wenn aber ein Mann, der seiner Anlage nach Handwerker oder Erwerbsmann ist, emporgekommen ist durch Reichtum oder Parteien, durch Körperkraft oder sonst etwas, und versucht, in den Stand der Krieger einzudringen, oder ein Krieger in den Stand der Berater und Wächter, ohne es Wert zu sein; wenn diese also alle ihre Werkzeuge und Stellungen miteinander vertauschen oder ein einziger versucht, alles zugleich zu machen, dann […] wird ein solcher Umschwung, eine solche Vielgeschäftigkeit zum Untergang des Staates führen.«412

Interessant ist hier der Begriff der »Vielgeschäftigkeit« bzw. »Vieltuerei« oder »Einmischerei« (Polypragmosyne – *μ\^`). Als Charaktereigenschaft war die Polypragmosyne bereits in der Antike eher negativ besetzt, beschrieb sie doch Individuen die – angetrieben durch eigene Unzufriedenheit oder pure Rastlosigkeit – sich in die Pläne anderer einmischen und so Unruhe stiften und Instabilität auslösen.413 Auch die Oekonomische Encyklopädie von Johann Georg Krünitz aus dem Jahr 1810 definiert Polypragmosyne als »die üble Gewohnheit, sich in alle

411 Citton, Yves (2009): Political Agency and the Ambivalence of the Sensible, in: Rockhill, Gabriel; Watts, Philip (Hg.): Jacques Rancière: history, politics, aesthetics. Durham: Duke University Press, S. 120-140 , hier S. 137. 412 Platon (1958): Der Staat (Politeia), eingeleitet, übersetzt und erklärt von Karl Vretska. Stuttgart: Reclams Universal-Bibliothek, S. 225, 434 a-b. 413 Ehrenberg, Victor (1947): Polypragmosyne: A Study in Greek Politics, in: The Journal of Hellenic Studies, Vol. 67, 1947, S. 46-67, hier S. 46.

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Händel zu mischen.«414 Hinzu kommt noch die durch Plutarch kanonisierte Bedeutungsebene der tadelnswerten Neugier, im Sinne von »seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken«, deren Schwächen und Verfehlungen ausspähen.415 Neben diesen negativen gibt es aber auch positive Konnotationen, etwa Neugier, Mut, Einfallsreichtum oder Unternehmungslust, daher könnte man mit Kenny etwas neutraler folgende Definition anbieten: »desire to do or discover things that go beyond one’s allotted role in life.«416 Im Verständnis Platons führt die Polypragmosyne, das Verlassen der einem zugewiesenen Wirkenssphäre, zum Untergang des Staates. Rancière betont, dass Platons Zuweisung an gesellschaftliche Positionen gemäß der Beschäftigung auch darüber bestimmt, wer am Gemeinsamen teilhaben kann: »Nach Platon können sich die Handwerker nicht um die gemeinsamen Angelegenheiten kümmern, weil sie nicht die Zeit haben, um sich etwas Anderem als ihrer Arbeit zu widmen. Sie können nicht anderswo sein, denn die Arbeit wartet nicht. Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Eine bestimmte Betätigung legt somit fest, wer fähig oder unfähig zum Gemeinsamen ist. Sie definiert die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum und bestimmt, wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer nicht, etc.«417

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die deutschen Begriffe »Tätigkeit« oder »Beschäftigung« zu neutral sind, um die im Französischen »occupation« mitschwingende Bedeutung der »Inbesitznahme« oder »Besetzung« wiedergeben zu können.418 Rancière geht sogar so weit zu behaupten, dass die Arbeit, die »Beschäftigung« vor allem dazu dient, den Bereich des Sinnlichen aufzuteilen: »Die Vorstellung der Arbeit ist nicht in erster Linie die einer bestimmten Tätigkeit [...]. Sie liegt vielmehr in einer Aufteilung des Sinnlichen: in der Unmöglichkeit aufgrund des ›Zeitmangels‹, ›etwas anderes‹ zu tun. Diese ›Unmöglichkeit‹ gehört zu der verinnerlichten Vorstellung der Gemeinschaft. Sie bestimmt Arbeit als notwendige Abschiebung des Arbeiters in den privaten Zeit-Raum seiner Beschäftigung und schließt ihn dadurch von der Teilnahme am Gemeinsamen aus.«419

414 Krünitz, Johann Georg (1810): Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft. Band 115. ‹http://www.kruenitz1.unitrier.de/› [14. Februar 2011]. 415 Kenny, Neil (2004): The Uses of Curiosity in Early Modern France and Germany. Oxford: Oxford University Press, S. 57-58. 416 Ebd. S. 4. 417 Rancière (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 26. Hervorhebungen im Original. 418 Ebd. S. 71. Fußnote 5, Anmerkung der Übersetzer. 419 Ebd. S. 66. Hervorhebungen im Original.

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Sowohl Rancière als auch Debord beschreiben eine gesellschaftliche Situation, in der die Wahrnehmung und Erfahrung der Menschen sowie ihre Äußerungsformen letztlich fremdbestimmt sind: »Die Unterteilung der Zeiten und Räume, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms, geben zugleich den Ort und den Gegenstand der Politik als Form der Erfahrung vor. Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.«420

Entscheidend war in diesem Zusammenhang, dass die von der SI konstruierten »Situationen« gerade dafür sorgen sollten, dass die Menschen die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten entdecken. Auch Rancière thematisiert diesen Vorgang: »Der Handwerker muss seine Lebensbedingungen gleichermaßen kennen und nicht kennen. Denn ›kennen‹ heißt auch wiedererkennen und zustimmen, während ›nicht kennen‹ auch bedeutet, nicht mehr die Spielregeln anerkennen, sich nicht mehr der Beschaffenheit der Welt anpassen. Auch muss der Handwerker eine gewisse ›Passivität‹ erlangen, denn wer mit seinen Händen aktiv ist, wird für gewöhnlich dazu angehalten, ansonsten passiv zu sein, so dass man die Aktivität der Arme erst unterbrechen muss, um die ›passive‹ Haltung dessen, der die Welt betrachtet, annehmen zu können.«421

Um aus der Situation der Beschäftigung ausbrechen zu können ist laut Rancière ein Zustand notwendig, der in sich Wissen und Nichtwissen, sowie Aktivität und Passivität vereint. Sobald die geschäftige und ablenkende Aktivität einem Zustand der passiven Betrachtung gewichen ist, kann sich eine Erkenntnis oder Einsicht bilden, diese darf allerdings nicht in eine Akzeptanz der Lage münden. Inwiefern aber lassen sich diese Überlegungen auf die Videoplattformen des Internets anwenden? Könnte ein derart aktiv-passiver Zustand in den Recyclingvideos seinen Ausdruck gefunden haben? Schließlich erfolgt das Surfen auf den Videoplattformen in vielen Fällen ohne konkreten Sinn, selbst wenn anfangs ein bestimmter Clip gesucht wurde. Außerdem sind die Videoclips nicht der Welt der Arbeit zuzuordnen, sie könnte höchstens eine ›Beschäftigung‹ im Sinne von Ablenkung darstellen. Die von den Nutzern amateurhaft erzeugten Produkte, ihre Recyclingvideos, weisen allerdings in eine andere Richtung. Ein Videoclip hat aus irgendwelchen Gründen Missfallen erregt, man könnte auch sagen: Der Rezipient reagiert auf etwas, das ihn in bestimmter Hinsicht stört – und sei es auf einer strikt persönlichen Ebene. Die Emanzipation besteht darin, sich gerade nicht mit einer zugewiesenen

420 Ebd. S. 26/27. 421 Ebd. S. 87.

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Rolle abzufinden, sondern sich die Zeit, Tätigkeiten und Privilegien zu nehmen, die einem nicht zustanden, die man nicht besaß.422 Damit verkörpern diese Internetnutzer das Nicht-An-Seinem-Platz-Sein, das »seine Nase in Dinge stecken, die einen nichts angehen«, denn sie sind angetreten, um als Bewohner eines gemeinsamen Raumes aufzutreten. Die Recyclingvideos können somit als ein Versuch verstanden werden zu zeigen, dass mit ihnen auf dem Gebiet audiovisueller Kommunikation sehr wohl Sprache erzeugt werden kann. So sind die Recyclingvideos das Ergebnis einer Nicht-Akzeptanz, ihre Produzenten wollen sich nicht abfinden mit dem ihrer Meinung nach mangelhaften Original, sie produzieren daher eine Äußerung die – egal ob beachtet oder nicht – grundsätzlich dagegen steht. Doch die etablierten Medien und der Staat thematisierten vor allem die zahlreichen Verstöße gegen Urheberrecht oder andere Gesetze, gegen Sitte und Moral, oder zumindest gegen das Gebot der Nützlichkeit (›Wie kann man nur mit solchen Banalitäten seine Zeit verschwenden?‹). Dies weist darauf hin, dass sich auf dem Gebiet der Videoplattformen des Internets zumindest in der Anfangsphase die Ordnung des Sichtbaren und Sagbaren, des Möglichen und Machbaren noch nicht verfestigt hatte. Damit repräsentierten sie ein Gebiet, das bei der Aufteilung des Sinnlichen zunächst (!) vergessen, vernachlässigt oder nicht erkannt wurde. Auf diesem Gebiet haben nun Unmengen anonymer Nutzer einen (temporären) Freiraum genutzt und dort für Unruhe und Bewegung gesorgt. Dabei wurden auch Videoclips modifiziert. Doch inwiefern lässt sich aus diesen Interventionen ein politisches Moment ableiten? Hier hat Rancière ein neues Verständnis des Politischen entwickelt, das sich durchaus auch auf Videoclips anwenden ließe. Bei Platon war es die Aufgabe der Politik für Ordnung zu sorgen und zu gewährleisten, dass alle an ihrem Platz sind und die ihnen zugewiesene und ihren Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit erfüllen. Rancière hingegen sieht das politische Element gerade im Durchbrechen dieser Ordnung, in der streitbaren Auseinandersetzung. Was Platon und die Alltagssprache als Politik bezeichnen, nämlich die Kunst, eine festgelegte Ordnung durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, um so eine Gesellschaft zu regieren, fällt laut Rancière nicht in den Zuständigkeitsbereich der Politik sondern in den der Polizei: »Die Polizei ist [...] eine Ordnung der Körper, die die Aufteilungen unter den Weisen des Machens, den Weisen des Seins und den Weisen des Sagens bestimmt, die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihre Namen diesem Platz und jener Aufgabe zugewiesen sind; sie ist eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig

422 Rancière führt diesen Gedanken in seinem noch nicht übersetzten Buch La nuit des prolétaires aus. Vgl.: Rancière, Jacques (1981): La nuit des prolétaires. Archives du rêve ouvrier. Paris: Libraire Artheme Fayard.

208 | U NDERSTANDING Y OU T UBE ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jenes andere als Lärm.423

Mit seinem Konzept der Polizei verweist Rancière auf Foucault, der im Rahmen seiner Untersuchungen zur Gouvernementalität den Begriff der »Policey« aufgegriffen hat.424 Policey bezeichnet bei Foucault das Ensemble der Machtformen, die im 18. Jahrhundert – also zur Zeit der Entwicklung gouvernementaler Vernunft – die Kräfte innerhalb des Staates zu stärken versuchen. Um die Kontinuität der Regierungsformen im Inneren zu sichern, wurde die Policey als Instrument gouvernementaler Vernunft mit allen Bereichen der Lebensführung betraut. Ihr Wirken beschränkte sich nicht mehr nur auf die obersten Schichten eines feudalen Systems, sondern sie drang tief in die alltägliche Lebenswirklichkeit ein, um dort die Beziehung zwischen der inneren Ordnung des Staates und dem Wachstum seiner Kräfte zu ermöglichen. Auf diese Weise sollte die Policey den Glanz des Staates sichern, der sich – laut Foucault – in der sichtbaren Schönheit seiner Ordnung und »Pracht einer sich manifestierenden und strahlenden Kraft«425 zeigt. Politik entsteht laut Rancière genau dann, wenn die Polizei ihre Aufgabe nicht erfüllt, nämlich in den seltenen Augenblicken, in denen die Aufteilung des Allgemeinen und des Privaten, des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Hörbaren und 426 Nicht-Hörbaren in Frage gestellt wird. Obwohl es letztlich immer Machtformen gibt, gibt es nicht immer Politik, diese wird zum »Glücksfall«: »Das besagt, dass die Politik kein permanent Gegebenes der menschlichen Gesellschaft ist. Formen der Macht gibt es immer. Aber das heißt nicht, dass es auch immer Politik gibt. Es gibt sie, wenn sich die politischen Subjekte zum Streiten um die sinnlichen Gegebenheiten des Gemeinschaftslebens anschicken.«427

Laut Rancière ist eine Voraussetzung des Infragestellens der »Aufteilung des Sinnlichen« die Aktion ergänzender Subjekte, d.h. die Aktion von Kollektiven des Sich-

423 Rancière, Jacques (2002; 1995): Das Unvernehmen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 41. 424 In der deutschen Übersetzung soll die alte Schreibweise »Policey« auf den Unterschied zum neuzeitlichen Verständnis der Polizei hinweisen. Vgl.: Foucault, Michel (2000; 1977): Die Gouvernementalität. Vorlesung am Collège de France 1977-78, in: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 4067, hier S. 48. 425 Foucault, Michel (2004; 1978): Vorlesung XII. Sitzung vom 29. März 1978, in: Senellart, Michel (Hg.): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France (1977-1978). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 451. 426 Rancière, Jacques (2003): Glücksfall Politik, in: Freitag, Nr. 28, Berlin, 04.07.2003, ‹http://www.freitag.de/2003/28/03281701.php› [20. März 2011]. 427 Ebd.

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Äußerns und der Demonstration, die in der bisherigen Aufteilung sozialer Gruppen nicht (ausreichend) integriert sind. Er weist darauf hin, dass diese ergänzenden Subjekte bzw. überzähligen Kollektive in ihrer Existenz kontinuierlich bedroht sind: »Politische Subjekte sind, verglichen mit den Teilen der Gesellschaft und den Kollektiven der Identität, Dispositive eines überzähligen Ausdrucks. Sie befinden sich immer in der Gefahr ihres Verschwindens. Ihres Verschwindens – das kann schlicht: ihrer Ohnmacht bedeuten. Öfter aber bedeutet es: ihrer Wiedereingliederung, ihrer Identifizierung, mit sozialen Gruppen oder imaginären Körpern.«428

Das nur unzureichend repräsentierte Kollektiv der Infragesteller ist also ein höchst ephemeres Phänomen. Es ist in ständiger Gefahr entweder nur als Lärm wahrgenommen oder integriert zu werden. Dieser Vorgang ist jedoch laut Rancière alltäglich, denn Demokratie bedeutet für ihn nicht die Aushandlung von Interessen innerhalb einer konstituierten Gemeinschaft, sondern den Dissens darüber, wer dieser Gemeinschaft angehört: Politik »ist ein Konflikt über die Zählung der Teile selbst [...]. Er [der Dissens] ist keine Diskussion zwischen Partnern, sondern ein Gespräch, das die Situation des Spiels selbst ins Spiel bringt.«429 Grundlage des Dissenses und damit Motor des prozessualen Vorgangs der ständigen Aktualisierung ist die vorausgesetzte Gleichheit des Verstandesvermögens. Hier bezieht sich Rancière auf Aristoteles. Dieser teilte die Menschen in zwei Gruppen ein: diejenigen, die über Sprache (logos – {>|) verfügen und diejenigen, die die Sprache zwar verstehen aber bloß eine Stimme (phonè – }) besitzen: »Wo Aristoteles das Wesen des politischen Lebewesens definiert, führt er gleich danach eine Unterscheidung ein: Es gibt diejenigen, die Sprache haben und diejenigen, die sie nur verstehen, etwa die Sklaven. Sprachvermögen ist durchaus etwas anderes als ein physisches Vermögen. Es ist symbolische Beteiligung, symbolische Bestimmung der Beziehung zwischen der Ordnung des Worts und der Ordnung der Körper.«430

Rancière betont, dass es sich bei dieser Unterscheidung nicht um ein physiologisches Unvermögen handelt, sondern um das Problem symbolischer Beteiligung. An Sprache ist Sichtbarkeit gekoppelt und die Möglichkeit, sich um die Angelegenheiten des Gemeinsamen kümmern zu können. Rancière betont, dass Aristoteles’ Unterscheidung von Sprache und Stimme äußerst problematisch ist, soll sie doch letztlich eine Aufteilung in Herrschende und Sklaven erklären und begründen: »Um der Mehrheit der Menschheit die Qualität des politischen Tiers abzusprechen (den Sklaven, Arbeitern, Frauen, kolonialisierten Völkern, etc.), hat es in der Geschichte ge-

428 Ebd. 429 Rancière (2002): Das Unvernehmen, S. 110. 430 Rancière (2003): Glücksfall Politik.

210 | U NDERSTANDING Y OU T UBE nügt, nicht hören zu wollen, dass aus ihren Mündern Sprachliches drang, darin nur Schreie des Hungers, der Wut oder der Hysterie zu hören.« 431

Während die Unterdrückten die Herrschenden verstehen, stellen ihre Äußerungen für jene nur Lärm dar. Rancière beschreibt diesen Zustand, dieses »Faktum des nicht Hörens, des nicht Verstehens« als »Unvernehmen« (La Mésentente). Unvernehmen aber bedeutet Streit und Uneinigkeit, eine Unterbrechung der Ordnung – und damit die Möglichkeit der Demokratie und Gleichheit. Demokratie ist laut Rancière nur im Dissens möglich, im Unvernehmen, im Aufeinanderprallen von Gleichheit und der die Gesellschaft konstituierenden Aufteilung, und nicht im Konsens, also der »restlosen Übereinstimmung von den Formen des Staates und dem Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse.« Den gegenwärtigen Zustand gesellschaftlicher Organisation bezeichnet Rancière als Post-Demokratie, als Konsensstaat. Der Konsensstaat ist definiert als »Übereinstimmung der Formen des Politischen mit der Seinsweise der Gesellschaft«, und in dieser Übereinstimmung gibt er vor, alle Teile der Gesellschaft zu repräsentieren. So behauptet die Post-Demokratie einen Zustand des Konsens, in dem ohne Lücken oder ein Außen vorgeblich alles erfasst ist: Jeder ist immer zugleich vollständig anwesend und abwesend. Rancière erkennt jedoch selbst in dieser »Struktur des Sichtbaren« eine Lücke, und zwar die Lücke zwischen der Repräsentation und der wirklichen Existenz eines Teils der Gesellschaft. Diese Lücke führt dazu, dass der Zustand nicht unabänderlich ist, daher besteht laut Rancière auch in der Post-Demokratie die Möglichkeit der Politik. Rancière verweist hier auf die Polypragmosyne als Ergebnis der Lücke zwischen Repräsentation und wirklicher Existenz: »Es ist der Unterschied jeder eigenen Klasse zu sich selbst, der der Teilung des Gesellschaftskörpers selbst das Gesetz der Mischung, das Gesetz des ›jeder macht Beliebiges‹ aufzwingt. Platon hat dafür ein Wort: polypragmosyne.« Im Unterschied zu Platon erhält die Polypragmosyne bei Rancière eine positive Bedeutung: Sie ist die Unterbrechung der etablierten Ordnung und damit Motor der Demokratie. Während die Post-Demokratie als Form gesellschaftlicher Organisation vorgibt, dass niemand sich einmischen muss, weil für alles bereits gesorgt und jeder repräsentiert ist, mischen sich diejenigen, die sich eigentlich nicht einzumischen haben, trotzdem ein, denn die Repräsentation der totalen Sichtbarkeit und Transparenz übersieht in ihrem Allgemeinvertretungsanspruch ihre wahren Bedürfnisse, und vergisst allzu leicht, dass »auch in der Demokratie Inklusion immer mit Exklusion einhergeht«432 .

431 Ebd. 432 Celicates, Robin (2004): Politik und Polizei. Jacques Rancière, Zur Logik von Entpolitisierungsprozessen, in: Texte zur Kunst, Heft Nr. 55/September 2004 »Neokonservatismus«. ‹http://www.textezurkunst.de/55/politik-und-polizei/› [20. März 2011].

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Wie der Philosoph Robin Celicates in seiner Rezension von Die Aufteilung des Sinnlichen bemerkt, hebt Rancière in seiner Konzeption der Politik die Theatralität politischen Handelns hervor: »Politik besteht primär in der Konstitution einer Bühne, auf der die Akteure einen Konflikt inszenieren und austragen können. Politik ereignet sich in jenen Momenten, in denen sich die Bühne verschiebt, in denen plötzlich Akteure auftauchen, die vorher nicht sichtbar waren, Forderungen gestellt werden, die vorher nicht hörbar waren, und Handlungen vollzogen werden, die vorher nicht für möglich gehalten wurden.«433

Demokratie und Politik unterscheiden sich darin, dass erstere das Erscheinen auf der gemeinsamen Bühne oder das In-Erscheinung-Treten dieser gemeinsamen Bühne bezeichnet, während letzteres den Streit auf dieser gemeinsamen Bühne bezeichnet. Rancière betont, dass Gleichheit und Gemeinschaft nicht entstehen, weil eine gemeinsame Sprache verstanden wird, sondern weil sie zu einem Streit führen, der die bestehende Aufteilung in Frage stellt und letztlich zu einer Gleichstellung führt: »Das Faktum, eine Sprache zu hören und zu verstehen, hat an sich überhaupt keine die Gemeinschaft gleichmachende Wirkung. Diese Wirkung lässt sich nur erzwingen durch die Institutionalisierung eines Streits, der die sinnlichen, die eingefleischten Evidenzen der nicht-egalitären Logik zurückweist. Und Politik ist dieser Streit.«434

Kunst, Politik und Videoplattformen So wird die Stimme für Rancière zu einem Organ des Sichtbarmachens, ein Gedanke, der sich bei genauerer Betrachtung auch auf die modifizierten Videoclips im Internet übertragen lässt. Bis zu der Entwicklung der Videoplattformen entsprach der Fluss audiovisueller Bilder (bis auf wenige Ausnahmen, wie etwa dem Bürgerfernsehen) einer top-down Bewegung und einer One-To-Many-Distribution: Wenige Spezialisten produzierten und verteilten ihre Produkte – Nachrichten, Sendungen, Filme etc. – an die Zuschauer, natürlich in Übereinstimmung mit der etablierten Aufteilung des Sinnlichen. Die Zuschauer konnten die Sprache der audiovisuellen Bilder zwar verstehen, aber sie konnten sie nicht sprechen, weil sie weder etwas entgegnen noch etwas produzieren konnten, das im selben Maße hätte distribuiert werden können. Dementsprechend stellt der Systemtheoretiker Niklas Luhmann in seinem 1995 erschienenen Buch Die Realität der Massenmedien fest:

433 Celicates, Robin (2007): Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien (Besprechung), in: Frohne, Ursula; Held, Jutta (Hg.): Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft. Band 9/2007. Schwerpunkt: Politische Kunst heute. Göttingen: V&R Unipress, S. 183-186, hier S. 184. 434 Rancière (2003): Glücksfall Politik.

212 | U NDERSTANDING Y OU T UBE »Tempo und optisch/akustische Harmonie des Bildverlaufs entziehen sich dem punktuell zugreifenden Widerspruch und erwecken den Eindruck einer bereits getesteten Ordnung. Es gibt jedenfalls nicht im gleichen Sinne wie beim Widerspruch des Wortes gegen das Wort den Widerspruch des Bildes gegen das Bild.«435

Mit der fortschreitenden Vereinfachung von Produktion und Modifikation der Videobilder sowie der Entwicklung der Videoplattformen als potentiell globales Distributionsmittel ergab sich plötzlich die Möglichkeit – und eine Bühne – , seine Stimme zu erheben und in einen Streit um die Beherrschung dieser Sprache zu treten: Ein Widerspruch des Bildes gegen das Bild, den Luhmann 1995 noch nicht für möglich hielt. Mit diesen Akteuren hatte zuvor niemand gerechnet, und die Handlungen, die sie vollziehen, wurden vorher nicht für möglich gehalten. Die mehrheitlich banalen Recyclingvideos stellen nur einen ersten Schritt auf dem Weg zur Beherrschung dieser Sprache und einer damit einhergehenden Gleichberechtigung auf diesem Gebiet dar. Einige gelungene Ausnahmeproduktionen und die Faszination, die diese verursachen, zeigen aber, dass das Potential der Beherrschung grundsätzlich vorhanden ist und dass dieses schon jetzt von einigen wenigen genutzt wird. Détournement schien zunächst eine künstlerische Praxis im ästhetischen Raum zu sein. Bei genauerer Betrachtung stellte sich jedoch heraus, dass es eigentlich eine alltägliche Praxis im Raum der Politik ist. Doch ist es tatsächlich so, dass die politische Dimension gewissen Funktionen von Kunst entspricht, und dass es sich bei Ästhetik und Politik um zwei getrennte Bereiche handelt? In seiner Rezension von Die Aufteilung des Sinnlichen konstatiert Celicates, die Trennung von Ästhetik und Politik in zwei verschiedene Bereiche sei »in den letzten Jahren von niemandem so theoretisch versiert in Frage gestellt worden wie vom französischen Philosophen Jacques Rancière.«436 Celicates stellt heraus, dass Rancière sogar so weit geht zu behaupten, der Politik würde eine konstitutiv ästhetische Struktur und der Kunst eine konstitutiv politische Struktur zugrunde liegen, Ästhetik und Politik demzufolge eins seien: »Dass die Politik genauso wesentlich ästhetisch ist wie die Ästhetik bzw. die Kunst politisch, liegt daran, dass beide – wenn sie gelingen – dieselbe Operation vollziehen: Sie revidieren die Aufteilung der sinnlichen Welt.«437 Das, was Rancière in seiner Konzeption des Politischen im Unterschied zur Polizei beschreibt, gilt ebenso für den Bereich des Ästhetischen; Politik und Ästhetik stellen die Bühnen dar, auf denen die etablierte Aufteilung des Sinnlichen in Frage gestellt

435

Luhmann, Niklas (2004; 1995): Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 80. 436 Celicates (2007): Jacques Rancière, S. 183. 437 Ebd.

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werden kann, auf denen eine Neuverhandlung des Verhältnisses von Sehen, Sagen, Tun und Sein statt finden kann: Politik und Kunst »zeigen, dass die als unumstritten, gegeben und notwendig erfahrene Aufteilung der Welt tatsächlich umstritten, sozial instituiert und kontingent ist. Sie decken den Dissens im Konsensus auf und stellen – auch wenn Rancière das so nicht formuliert – ideologiekritische Operationen dar, weil sie symbolischen Aufteilungen den Schein der Natürlichkeit nehmen und sie damit der Kritik und der Transformation erst zugänglich machen.«438

Rancière zufolge ist Kunst letztlich nicht deshalb politisch, weil sie inhaltlich politische Themen behandelt oder eine besondere Ästhetik einsetzt, vielmehr ist sie eo ipso politisch, wenn sie traditionelle Normensysteme hinterfragt und auf diese Weise einen Dissens, einen Bruch im sozialen und ästhetischen Gefüge sichtbar macht: »Kunst ist dadurch politisch, dass sie einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit aufteilt, und dass die Gegenstände, mit denen sie diesen Raum bevölkert, und die Rhythmen, in die sie diese Zeit einteilt, eine spezifische Form der Erfahrung festlegen, die mit anderen Formen der Erfahrung übereinstimmt oder mit ihnen bricht. Sie ist eine spezifische Form der Sichtbarkeit, eine Veränderung der Beziehungen zwischen den Formen des Sinnlichen und den Regimen der Bedeutungszuweisung, zwischen unterschiedlichen Geschwindigkeiten, aber auch und vor allem zwischen den Formen der Gemeinsamkeit oder der Einsamkeit.«439

Kunst und Politik haben gemeinsam, dass sie, wenn sie funktionieren, alternative mögliche Orte erkunden, den öffentlichen Raum neu konfigurieren, Heterotopien schaffen; bei beiden geht es um »die Eröffnung eines Möglichkeitsraums.«440 An dieser Stelle wäre erneut einzuwenden, dass die Recyclingvideos nicht der Sphäre der Kunst angehören. Unbestritten dürfte hingegen sein, dass es sich bei ihnen um ein Phänomen handelt, das dem Bereich der Ästhetik zuzuordnen ist. Der Begriff der Ästhetik fasst im Verständnis Rancières einen historisch jeweils spezifischen Komplex von Praktiken, Diskursen und Wahrnehmungsregimen, in dem bestimmte Objekte als Kunstwerke und bestimmte Subjekte als Künstler charakterisiert werden. Doch entgegen dem ersten Anschein steht der Begriff der Kunst gar nicht so sehr im Vordergrund. Maria Muhle weist in ihrer Einleitung zu Rancières Die Aufteilung des Sinnlichen darauf hin, dass der Begriff Ästhetik »auf die Frage des Teilhabens und Teilnehmens an einer kollektiven Praxis [verweist], die für Rancière in der sozialen und politischen Konstitution der sinnlichen Wahrnehmung

438 Ebd. 439 Rancière (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 77. 440 Celicates (2007): Jacques Rancière, S. 184.

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entschieden wird.«441 Es geht also wieder um die Frage der Teilhabe, die im Bereich des Ästhetischen wie in dem der Politik verhandelt wird, und – in letzter Instanz – um die Rekonfiguriation der Aufteilung des Sinnlichen. Die Recyclingvideos fallen demnach – obwohl sie nicht als Kunst gelten können oder wollen – in den Bereich der Ästhetik, denn sie sind bereits Bestandteil des ästhetischen Diskurses geworden. Die Recyclingvideos und Videoclips allgemein erfüllen als neue Formen des Sinnlichen – bis auf wenige Ausnahmen – die von verschiedenen gesellschaftlich etablierten Positionen an sie heran getragenen Kriterien künstlerischer Wertzuweisung nicht – und sie werden diese Kriterien vermutlich nie erfüllen. Das müssen sie aber auch nicht, denn allein die anhaltende und immer größer werdende, von ästhetischen Einordnungen offensichtlich unbeirrte Faszination und Anziehungskraft dieses Mediums zwingt die Regime der Bedeutungszuweisung dazu, ihre Kategorisierungen kontinuierlich zu überdenken und gegebenenfalls immer wieder neu zu verhandeln. Für die Recyclingvideos gilt: Sie sind da, sie sind anders, sie passen nicht, sie stellen in Frage, und sie werden immer mehr.442 So kommt es, dass jenseits expliziter Inhalte und künstlerischen Werts das politische Element auf der von den Recyclingvideos eröffneten Bühne klar zu Tage tritt, denn, ohne es zu sagen, verlangen sie eine Revision der Aufteilung des Sinnlichen.

Eine Guerilla im »Universum der Elektrizität«? Wie sich gezeigt hat, lassen sich Recyclingvideos als ästhetische Äußerungsform einer Gruppe von Nutzern interpretieren, die bisher im audiovisuellen Diskurs nicht vertreten war und die die etablierte Aufteilung des Sinnlichen in Frage stellt. Die Produzenten der Recyclingvideos scheinen damit – unabhängig von ihrer handwerklichen Qualität – in die Nähe politischer Aktivisten gerückt. So erinnern die Praktiken der Recyclingvideo-Produzenten an die Konzepte und Aktionsformen, die das gleichermaßen bei Werbeschaffenden, Aktivisten und Künstlern äußerst populär gewordene Handbuch der Kommunikationsguerilla443 als strategische Methoden aufzählt: Überidentifizierung und subversive Affirmation, Verfremdung, Camouflage, Fake und Fälschung, Entwendung und Umdeutung, sowie Collage und Montage. Das Ziel der sogenannten »Kommunikationsguerilla« soll sein, mit Hilfe die-

441 Muhle, Maria (2006): Einleitung, in: Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 7-19, hier S. 11. 442 Der Aspekt der Störung ist besonders gut am Beispiel der Mode zu veranschaulichen. Vgl. der Sammelband: Mink, Dorothea (2011): Fashion – Out of Order. Disruption as a Principle. Stuttgart: Arnoldsche Art Publishers. 443 Blissett, Luther; Brünzels, Sonja; autonome a.f.r.i.k.a. gruppe (2001): Handbuch der Kommunikationsguerilla – wie helfe ich mir selbst. Berlin: Assoziation A.

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ser auf »die Kommunikation zwischen Medien und Medienkonsumentinnen, die Kommunikation im öffentlichen oder sozialen Raum, [sowie] die Kommunikation zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Individuen«444 abzielenden Methoden eine abweichende Verwendung und dissidente Interpretation von Zeichen auszulösen. Die Methoden und Ziele der zeitgenössischen Kommunikationsguerilla445 erinnern stark an die verschiedenen Bewegungen der Avantgarde, ihren Namen verdankt sie jedoch Umberto Eco. Dieser forderte bereits 1967 in einem Vortrag auf dem Kongress Vision ’67 des International Center for Communication, Art and Sciences in New York die Bildung einer Kommunikationsguerilla. Diese sollte, so Eco, die Welt der »Technologischen Kommunikation« durchziehen, um eine kritische Dimension in das passive Rezeptionsverhalten einzubringen: »Eine komplementäre Manifestation, eher ergänzend als alternativ zu den Manifestationen der Technologischen Kommunikation, eine permanente Korrektur der Perspektiven, eine laufende Überprüfung der Codes, eine ständig erneuerte Interpretation der Massenbotschaften.«446

Ecos Vortrag ist auch eine Replik auf Marshall McLuhans berühmten Aphorismus »The medium is the message.«447 McLuhan stellte zwar bereits 1967 fest, dass sein Satz zu einer Art Slogan geworden sei;448 seinen Gedanken aber, »dass dem jeweils verwendeten Kommunikationsmittel eine zentrale Bedeutung bezüglich der Wirkung der jeweiligen Aussagen zukommt«449 empfand Eco als Bedrohung450. In einer Rezension von McLuhans Die magischen Kanäle formuliert Eco seine Gegenthese: »Das Medium ist nicht die Botschaft; zur Botschaft wird das, was der Empfänger zur Botschaft werden läßt; indem er es seinen eigenen Empfangscodes anpaßt, die weder mit denen des Senders identisch sind noch mit denen des Kommunikationswissenschaftlers. […] Wenn das Medium die Botschaft ist, bleibt uns nichts mehr zu tun, und wir sind […] nur noch Sklaven der Instrumente, die wir geschaffen haben. Aber die Bot-

444 Ebd. S. 8. 445 Vgl. hierzu auch Hagen Schölzels Analyse dieser »vermeintliche[n] Randerscheinung« politischer Kommunikation: Schölzel, Hagen (2012): Guerillakommunikation. Genealogie einer politischen Konfliktform. Bielefeld: transcript, S. 13. 446 Eco, Umberto (1987; 1967): Für eine semiologische Guerilla, in: Ders. (Hg.): Gott und die Welt. Essays und Glossen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 146-156, hier S. 156. 447 McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media. The Extensions of Man. New York: McGraw-Hill, S. VI. 448 Fiore, Quentin; McLuhan, Marshall (1967): The Medium Is the Massage. An Inventory of Effects. New York: Bantam Books. 449 Jäckel, Michael (2008): Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 267. 450 In seinem Text verwendet Eco die Formulierung »Drohung vom Medium als der Botschaft«. Vgl.: Eco, (1987): Für eine semiologische Guerilla, S. 156.

216 | U NDERSTANDING Y OU T UBE schaft ist abhängig von der Deutung, die man ihr gibt, im Universum der Elektrizität ist noch Platz für eine Guerilla.«451

Ecos Forderung schien sich zu erfüllen. Nur ein Jahrzehnt später, 1978, beobachtet Eco einen »elektronischen Dissens«452, der sich in neuen Formen subversiver Guerillapraktiken äußert: »Die neuen Formen von subversiver Guerilla zielen dagegen auf eine Schwächung des Systems durch Zersetzung jenes feinmaschigen Konsensgewebes, das auf einigen Grundregeln des Gemeinschaftslebens beruht. Wenn dieses Gewebe zerreißt, so ihre strategische Hypothese, bricht alles zusammen.«453

In seinem Aufsatz Multiplizierung der Medien aus dem Jahr 1983 beschreibt Eco eine Situation, in der bewusst oder unbewusst alle zum Teil der Massenmedien werden. An die Stelle zentraler Sender ist eine unkontrollierbare Pluralität von Botschaften getreten.454 Diese Multiplizierung der Medien bedeutet jedoch nicht unbedingt eine Verbesserung hinsichtlich einer möglichen Einflussnahme der Rezipienten. Einerseits schien – und scheint noch heute – die Deutungshoheit der institutionalisierten und zentralisierten Massenmedien geschwächt zu sein, andererseits aber haben die Medien weite Bereiche des alltäglichen Lebens durchdrungen, so dass die Rezipienten unbewusst die medial vermittelten Botschaften weiter verbreiten. Die Forderung nach einer Kommunikationsguerilla blieb (und bleibt) also weiterhin bestehen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Künstler, Kreative und politische Aktivisten bereits in den 1980er Jahren ganz ähnliche Konzepte und Ansprüche formulierten, und zwar unter dem Begriff »Culture Jamming«. Der Begriff »Culture Jamming« wurde 1984 von der kalifornischen Band Negativland geprägt, um Eingriffe in die öffentliche, massenmediale Kommunikation zu bezeichnen.455 Konkret ging es um die Modifikation von Werbung und das Stören von Radiosendungen. Doch vor allem das Verändern des Textes oder der Bilder auf großflächigen Reklametafeln (Abb. 26) entwickelte sich zur Königsdisziplin des

451 Eco, Umberto (1987; 1967): Vom Cogito interruptus, in: Ders. (Hg.): Gott und die Welt, S. 245-265, hier S. 262. Hervorhebung im Original. 452 Eco, Umberto (1987; 1978): Die Fälschung und der Konsens, in: Ders. (Hg.): Gott und die Welt S. 163-169, hier S. 164. 453 Ebd. S. 165. 454 Eco, Umberto (1987; 1983): Die Multiplizierung der Medien, in: Ders. (Hg.): Gott und die Welt, S. 157-162, hier S. 160-162. 455 Negativland. Over the Edge, Vol. 1: Jamcon ‘84, 1985. Die Band Negativland produzierte neben experimenteller Musik und Sound Collagen auch ein Radioprogramm namens Over the Edge, das auf dem von den Hörern finanzierten Radiosender KPFA aus Berkeley, Kalifornien gesendet wurde. Das Album Over the Edge Vol. 1: Jamcon ‘84 vereint verschiedene Sendungen aus dem Jahr 1985.

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»Culture Jamming«. New Yorker Künstler wie Ron English456 oder die aus San Francisco stammende Billboard Liberation Front457 sowie Craig Baldwins Billboard Outlaws veränderten Werbebotschaften so, dass diese anschließend eine der ursprünglichen Intention genau entgegengesetzte Bedeutung annahmen. Der Begriff »Culture Jamming« wurde schließlich von Mark Dery popularisiert und mit Ecos ›guerilla‹ semiotics in Verbindung gebracht.458 Die Frage ist nun, ob die Recyclingvideos eine neue, amateurhafte Spielart dieser Kommunikationsguerilla verkörpern, oder ob es nicht doch signifikante Unterschiede zur professionell von Künstlern und Aktivisten betriebenen Guerilla im Universum der Elektrizität gibt.

Abb. 26: Billboard Liberation Front, Veränderte Reklametafel (1993)459

456 ‹http://www.popaganda.com/blog1.php› [20. März 2011]. 457 ‹http://www.billboardliberation.com/› [20. März 2011]. 458 Dery, Mark (1993): Culture Jamming. Hacking, Slashing and Sniping in the Empire of Signs. Westfield, New Jersey: Open Media, S. 8. 459 ‹http://www.billboardliberation.com/mona.html› [20. März 2011]. Die Billboard Liberation Front dokumentiert ihre Modifikationen auf ihrer Webseite als hätten sie wie eine Werbeagentur im Auftrag der Firmen gehandelt. Konsequenterweise bezeichnet sie die betroffenen Firmen als »clients« und spricht grundsätzlich nur von »Verbesserungen«, die sie vorgenommen hätten.

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Parasiten und Viren als Modell für das intervenierende Andere Potentielle Unterschiede erschließen sich vielleicht am besten, wenn man eine andere Begrifflichkeit hinein nimmt, unter der alle hier besprochenen Beispiele subsumiert werden können. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl das Culture Jamming als auch das détournement der Situationistischen Internationale in der Kunsttheorie als parasitäre Strategien behandelt werden.460 Auch die Arbeiten von Marcel Duchamp werden in der Literatur vielfach als parasitär bezeichnet: »Duchamp’s Fountain and L.H.O.O.Q. are second-order works; and second-order works require first-order works. Nonaesthetic works are second-order works that make no sense except in the context of other works. They are parasitic works, and they are parasitic on aesthetic works of art. […] The aesthetic functions of other works are essential to the functions of the parasitic works. This is the ›second-order‹ strategy.«461

Sie gelten als parasitär, da sie sich als »Arbeiten zweiter Ordnung« vorhandenen Materials bedienen; die Modifikation ›sitzt‹ wie ein Parasit auf einer bereits bestehenden Arbeit und ›zehrt‹ von deren Bekanntheit und Ideen. Diese Übertragung auf einen kunsttheoretischen Kontext entspricht der biologischen Definition des Parasiten als ein Lebewesen, das die Fitness anderer Organismen verringert: »Parasites have pervasive impacts on populations. By draining nutrients from hosts, they alter the amount of energy and nutrients the host population demands from a habitat. Also, weakened hosts are usually more vulnerable to predation and less attractive to potential mates. Some parasite infections cause sterility. […] In such ways, parasitic infections lower birth rates, raise death rates, and affect intraspecific and interspecific competitions.«462

Obwohl sie ihrem Wirt mehrheitlich nicht nach dem Leben trachten (prudent exploitation)463, gelten Parasiten gemeinhin als Schädlinge und Ungeziefer, und da sie nichts Positives leisten, ›dürfen‹ sie gnadenlos bekämpft werden. In diesem Sinn wurde der Begriff »Parasit« zuweilen propagandistisch missbraucht, um ganze Bevölkerungsgruppen zu diffamieren, denn positive Konnotationen kommen bei dieser

460 Vgl.: Fabo, Sabine (2007): Parasitäre Strategien. Einführung, in: Kunstforum International. Parasitäre Strategien. Kunst, Mode, Design, Architektur. Band 185, Mai-Juni 2007. Herausgegeben von Sabine Fabo, S. 48-60, hier S. 53. 461 Zangwill, Nick (2002): Are There Counterexamples to Aesthetic Theories of Art?, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 60, No. 2 (Spring, 2002), S. 111-118, hier S. 113. 462 Starr, Cecie; Taggart, Ralph (2006): Biology: The Unity and Diversity of Life. Belmont: Thomson Higher Education, S. 830. 463 Frank, Steven A. (1996): Models of Parasite Virulence, in: The Quarterly Review of Biology, March 1996, Vol. 71, No. 1, S. 37-78.

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vorrangig pejorativ verwendeten Bezeichnung eher nicht auf. Interessant ist, dass der Parasit nicht immer auf Schmarotzertum reduziert wurde, und dass die (vermeintliche) biologische Bedeutungskomponente nicht immer vorrangig war. In Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigem Universallexicon aller Wissenschafften und Künste aus dem Jahr 1740 fehlt ein Verweis auf das Gebiet der Biologie: »PARASITI, waren eigentlich bey den Griechen eine gewisse Art von Geistlichen, welche sowohl als die anderen Priester ihren Theil von den Opffern genossen, daher sie auch den Namen hatten. […] Hernach aber bekam dieses Wort eine schnöde Bedeutung, und hieß einen Schmarutzer, dergleichen bey den Griechen und Römern nicht seltsam waren. Man hatte aber von diesen dreyerlei Sorten, 1) die allerhand Possen bey Tische vorbrachten, und die Leute dadurch zu lachen machten; 2) die ihren Patronen gar unendlich schmeichelten, und alles, was sie sagten, bis an den Himmel erhuben, 3) die sich hänseln und schmeissen liessen, und allerhand, was man ihnen nur anthun konnte, ausstunden.«464

Tatsächlich wurde das Adjektiv »parasitär« erst im 18. Jahrhundert erstmals in Bezug auf eine Pflanze angewendet, die sich von einer anderen Pflanze ernährte, später wurde er dann auch auf Tiere übertragen.465 Erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die in der Biologie verwendete Bedeutung des Begriffs »Parasit« vorrangig.466 Der Artikel in Zedlers Universallexicon (1740) zeigt, dass sich die ursprüngliche Bedeutung auf das soziale Miteinander bezieht. Im antiken Griechenland bezeichnete man mit  (»neben, mit oder bei einem anderen essend«)467 ursprünglich Offizianten im Tempel, die am Opfermahl teilnahmen und einen Teil der Opfergaben als Entlohnung für ihre Dienste erhielten. Später wurde daraus die Bezeichnung einer populären Figur in der griechischen Komödie, näm-

464 Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Band 26 (1740). Leipzig, S. 418. ‹http://mdz10.bib-bvb.de/~zedler/zedler 2007/index.html› [20. März 2011]. 465 Roman, Myriam; Tomiche, Anne (2001): Figures du parasite. Université de ClermontFerrand II. Centre de recherches sur les littératures modernes et contemporaines. Clermont-Ferrand: Presses Universitaires Blaise Pascal, S. 21f. 466 Ebd. S. 24f. 467 Im Unterschied zu - (zusammen, mit einem essend), bzw. - (mitspeisend, gemeinschaftlich essend, Tischgenosse),  - (sein Essen zu einem gemeinschaftlichen Mahle mitbringend) und  - (zu Hause essend, bleibend; für sich allein, ohne viele Gäste essend, auf eigene Kosten essend, lebend; übh. der etwas umsonst tut) bedeutet - : »neben, mit oder bei einem anderen essend; ursprünglich im guten Sinne, bes. von Priestern, die beim Opfer gemeinschaftlich aßen. Geworden aber der Schmarotzer, der, um freien Tisch zu haben, sich zum Schmeichler oder Possenreißer hergibt. Sie wurden eine stehende Charaktermaske der neueren Komödie«. Vgl.: ‹http://www.operone.de/griech/altspraksearch.php?search=%26%23963 %3B%26%238145%3B%26%23964%3B%26%23959%3B%26%23962%3B&operator =and› [20. März 2011].

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lich der Charaktermaske des Trittbrettfahrers, der darauf hoffte, mit einer Mischung aus Witz und Schmeichelei eine Einladung zum Essen zu ergattern.468 Ein entsprechender Typ hielt als parasitus Eingang in die römische Komödie, allerdings verändert sich der Charakter im Vergleich zum griechischen Vorbild: »The parasites of Roman comedy are not generally characterized as uninvited or emptyhanded […]. And rather than showing up at the hospitably open front door of any house in which a party was underway, Roman parasites tend to attach themselves to a single host, a rex, and to take regular pot luck at his house […].«469

Mit dieser Spezialisierung kommt dem Parasiten hier eine größere Bedeutung zu; er wird zum Bestandteil der Handlung und ist fast schon Teil der Familie.470 Auch Myriam Roman und Anne Tomiche konstatieren in ihrem die Entwicklung der Figur des Parasiten bis in die Neuzeit hinein verfolgendem Band Figures du parasite ein Netz gegenseitiger Abhängigkeiten.471 Im letzten Kapitel Petite logique parasitaire472 beschreiben sie fünf Prinzipien parasitärer Logik: 1.

Der Parasit ist ein gefräßiges und vor Kraft strotzendes Lebewesen. Als solches verkörpert er nicht Logik und Vernunft, sondern animalische Kräfte, ein Getrieben-Sein, das Unheimliche und das Aggressive. Als der triebhaften Natur verbunden steht er jedoch nicht außerhalb rationaler Zusammenhänge, vielmehr ist es die Kontrolle selbst, der er sich entzieht (le corps ostentatoire).

2.

Der Parasit ist per Definition nicht-autonom, daher muss er sich in einem niemals stillbaren Hunger die Mittel für seine Selbsterhaltung außerhalb seiner selbst beschaffen. Aus der Sicht des Parasiten ist der Befall des Wirtes also im Idealfall unendlich – wird er vertrieben, so kommt er zurück. Durch die ewige Wiederholung und Reproduktion seiner selbst wird der Parasit so zum Repräsentanten der Unendlichkeit (l’insatiable, figure de l’infini).

3.

Der Parasit vereint in sich zahlreiche paradoxe Eigenschaften: Er steht nicht nur für die Unendlichkeit, sondern auch für Krankheit, das Ende und den Tod, er ist überflüssig und doch unentbehrlich, der Parasit kann zum Wirt werden und umgekehrt, er kann zerstören und aufbauen und im Zerstören aufbauen (le paradoxe).

468 Damon, Cynthia (1995): Greek Parasites and Roman Patronage, in: Harvard Studies in Classical Philology, Vol. 97, Greece in Rome: Influence, Integration, Resistance (1995), S. 181-195, hier S. 181. 469 Ebd. S. 181-182. 470 Vgl.: Damon, Cynthia (1997): The Mask of the Parasite. A Pathology of Roman Patronage. Ann Arbor: The University of Michigan Press. 471 Roman; Tomiche (2001): Figures du parasite. 472 Ebd. S. 250ff.

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4.

Der Parasit ist im Grenzbereich angesiedelt, nirgendwo willkommen befindet er sich ständig im Transit, sich um Kopf und Kragen redend mit Possen und Schmeicheleien. Diese Eigenschaften machen ihn zu einem idealen und rhetorisch geschulten Botschafter, der Grenzen überschreiten kann ohne Verdacht zu erregen (la médiation).

5.

Der Parasit ist ein Eindringling, seine Ankunft signalisiert Gefahr und Bedrohung. Die system-internen Informationen gehen ihn nichts an, tritt er hinzu, wird das Gespräch unterbrochen. Als Fremdkörper stört er das System wie Sand im Getriebe, er verursacht Unruhe und Unordnung und führt so zu einer Unterbrechung des gewohnten Ablaufes (l’interruption).

Auch das Verb »détourner« wird in Figures du parasite mehrmals in Bezug auf den Parasiten angewendet. Einerseits in puncto Kommunikation473, andererseits aber auch in Hinblick auf das vorgefundene System des Wirtes insgesamt, das der Störenfried Parasit zu seinen Gunsten nicht nur lähmt und unterbricht, sondern modifiziert: »Le parasite agit comme un perturbateur qui interrompt un système antérieur pour le détourner à son profit.«474 Die von Roman und Tomiche beschriebenen fünf Prinzipien parasitärer Logik leugnen die schädlichen oder zumindest unproduktiven Seiten parasitärer Existenz nicht, aber sie attestieren dieser auch eine gewisse Produktivität und sogar Nützlichkeit für den Wirtsorganismus. Dies ist auf den ersten Blick nicht besonders eingängig, widerspricht es doch dem intuitiven Verständnis des Begriffs. Doch wie sich bereits gezeigt hat, entspricht dieser ›erste Blick‹ tatsächlich dem biologistischen Blick der Neuzeit, der den Parasiten auf das Schmarotzerhafte reduziert. Dem französischen Philosophen Michel Serres ist es zu verdanken, dass die Figur des Parasiten aus dieser Verengung befreit wurde. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Serres’ Kommunikationstheorie den Parasiten als ein Modell für das intervenierende Andere etabliert hat. Serres Kommunikationstheorie des Parasitären aus dem Jahr 1980 entspringt einer interessanten Konstellation verschiedener Bedeutungen des französischen »le parasite«. Neben der biologischen und gesellschaftlich-sozialen Bedeutungsebene steht »parasite« im Französischen seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch für das Rauschen oder die (atmosphärischen) Störungen bei der Übertragung von Signalen.475 Entsprechend erweitert Serres die Rolle des Parasiten von der eines Schmarotzers, Schädlings und Eindringlings auf die eines kommunikativen Dritten, der sich in den Kommunikationskanälen eingenistet hat und dort den Informationsfluss

473 Ebd. S. 227. 474 Ebd. S. 258. 475 Ebd. S. 22f.

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stört. Die Figur des Parasiten ergänzt auf diese Weise das klassische Modell des Dialogs durch kommunikative Strategien der Störung, der Überlagerung und der Subversion. Doch Serres geht noch über diese Erweiterung hinaus. Für ihn ist der Parasit ein geradezu notwendiger Bestandteil des Systems, nämlich der Bestandteil, der das System aus der Stabilität bzw. Stagnation und Lethargie reißt: »Der Parasit ist ein Erreger. Weit davon entfernt, ein System in seiner Natur, seiner Form, seinen Elementen, Relationen und Wegen zu verwandeln […], bringt er es dazu, seinen Zustand in kleinen Schritten zu verändern. Er bringt ein Gefälle hinein. Er bringt das Gleichgewicht oder die Energieverteilung des Systems zum Fluktuieren. Er dopt es. Er irritiert es. Er entzündet es. Oft hat dies Gefälle keine Wirkung. Es kann Wirkungen hervorrufen – und durch Verkettung oder Reproduktion sogar gewaltige.«476

Der Parasit kann laut Serres als »Agent infinitesimaler Veränderung«477 durch kleinste Störungen und Überlagerungen Fehler und Bedeutungsverschiebungen provozieren und auf diese Weise ein System schrittweise destabilisieren und letztlich strukturell transformieren. Das Eindringen des Parasiten beunruhigt und bedroht den Wirt, es zwingt diesen zur Reaktion und regt so Veränderungen an. Ordnungsverhältnisse werden verschoben und die Komplexität des Wirtssystems kann sich erhöhen, eine bestehende Regelmäßigkeit wird in eine neue überführt: »Was ist ein Parasit? Ein Operator, eine Relation. Dieser einfache Pfeil stört, er stört die Organnachricht an einer Stelle des lebenden Systems. Rauschen vielleicht, auch Sprache, oft Lebendiges […] Was ist ein Parasit? Eine Ableitung, die zu Anfang geringfügig und dies auch bis zum Verschwinden bleiben kann, die aber auch soweit anwachsen kann, dass sie eine physiologische Ordnung in eine neue Ordnung transformiert.«478

In Serres Verständnis zerstört der Parasit demnach ein System nicht, er bringt es durch kleinere Störungen in Bewegung. Damit einher geht eine prozesshafte Veränderung, der Serres einen besonderen Wert beimisst, denn nicht die Parasiten, sondern Stagnation und identische Wiederholung seien die Feinde des Lebendigen: »Aber die Ordnung und die flache Wiederholung sind Nachbarn des Todes. Der Lärm nährt eine neue Ordnung. Die Organisation, das Leben und das intelligente Denken sind im Zwischenbereich von Ordnung und Lärm, von Unordnung und perfekter Harmonie angesiedelt.«479

Hier wird deutlich, wieso der Parasit produktiv ist, obwohl er nur konsumiert. Laut Serres bringt der Parasit Bewegung in ein stabiles bzw. festgefahrenes System –

476 477 478 479

Serres, Michel (1987; 1980): Der Parasit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 293. Ebd. S. 302. Ebd. S. 306. Ebd. S. 193.

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und damit Lebendigkeit. Genau das ist gemeint, wenn Serres behauptet: »Der Parasit erfindet etwas Neues.«480 Der Parasit ist zwar nicht produktiv, aber generierend: »Es ist mehr als nur ein Bild, wenn man sagt, es handele sich um die Einwirkung eines Rauschens auf die Botschaft. Rauschen im Sinn von Unordnung, also ein Zufall, aber auch im Sinne von Störung, eine Störung, welche die Ordnung verändert, und mithin den Sinn, wenn man von Sinn sprechen kann. In jedem Falle aber verändert diese Störung die Ordnung. Die Störung ist ein Parasit, man ahnte es bereits. Die neue Ordnung erscheint durch den Parasiten, der die Nachricht stört. Er verwirrt die alte Reihe, die Folge, die Botschaft, und er komponiert eine neue. Die Einführung eines Parasiten in ein System kommt der Einführung eines Rauschens gleich.«481

Doch Serres geht noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass die Lebendigkeit und Weiterentwicklung eines Systems auf den Parasiten regelrecht angewiesen ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass Serres in seiner Kommunikationstheorie des Parasitären den biologistischen Blick – wenn auch unter einem Vorzeichenwechsel – beibehalten hat. An Stelle des schädigenden und schmarotzenden Parasiten konstruiert er das Bild einer Immunisierung durch Komplexitätssteigerung:482 »Der Parasit gibt dem Wirt die Mittel zur Hand, mit denen dieser sich seiner entledigen kann. Der Organismus stärkt seine Widerstandskraft, er steigert seine Anpassungsfähigkeit. Man bringt ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht, und er findet es gefestigt wieder. Die großzügigen Wirte sind also stärker als die Körper, die ohne Besucher bleiben.«483

An dieser Stelle ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Evolutionstheorie. Serres weist dem Parasiten allerdings nicht nur eine Randposition im großen Prozess der Evolution zu, etwa als einer unter vielen anderen Umweltfaktoren (wie z.B. Krankheiten, Feinde, Konkurrenten oder Veränderungen des Klimas), die die Fitness eines Individuums oder einer Population auf die Probe stellen. Tatsächlich interpretiert Serres den Parasiten nicht nur als essentielles Movens evolutionärer Prozesse, er sieht diesen auch noch von der Evolution in besonderem Maße begünstigt: »Die Evolution hat eine parasitäre Struktur. Sie würde die Parasiten nicht derartig begünstigen, wenn sie nicht ihrerseits mehr oder weniger von ihnen begünstigt würde. […] Wenn die Evolution eine Ordnung ist, so ist der Parasit ihr Element. Er unterbricht eine Wiederholung, er führt eine Verzweigung in der Reihe des Identischen herbei.«484

480 481 482 483 484

Ebd. S. 59/60. Ebd. S. 282/283. Ebd. S. 106. Ebd. S. 297/298. Ebd. S. 285.

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Diese Sichtweise hat sich in den kunsttheoretischen und geisteswissenschaftlichen Diskursen etabliert. So interpretiert auch Sabine Fabo in ihrer Einleitung zum Thema parasitärer Strategien in der Kunst den Parasiten als »Agens der Evolution.«485 Sie schließt sich Serres Meinung an, dass der Parasit als auf/ein-dringlicher Neuerer letztlich zum Garanten der Überlebensfähigkeit des Wirts avanciert.486 Armin Medosch treibt die Analogie auf die Spitze, indem er das Bild eines Immunsystems unserer Aufmerksamkeit entwirft, das durch parasitäre Botschaften gestärkt wird: »Parasitäre Botschaften, die das Immunsystem unserer Aufmerksamkeit besetzen, können wie Viren im richtigen Leben, wenn wir an ihnen nicht zugrunde gehen, sondern sie überwinden, das Immunsystem sogar stärken. Sie bringen uns bei, wachen Geistes zu sein und die Tugend der gesunden Skepsis aufrechtzuerhalten. Sie tragen auch zur Artenvielfalt bei, bringen neue Nuancen ein, schaffen Erregungen.«487

Auch der Journalist Florian Rötzer beschreibt in Lob des Parasiten die systemstärkenden Eigenschaften des Parasiten.488 In Parasitäre Strategien wird Rötzer noch deutlicher: »Parasiten […] standen nicht nur schon am Beginn der Evolution, sie waren vermutlich auch die Katalysatoren, die die Entwicklung des Lebens durch Innovationen voranschoben, wenn sie den Wirt nicht vernichtet haben.«489 Diese Sichtweisen gehen über die bereits festgestellten Paradoxien des Parasitären hinaus – und man kann sich fragen, ob sie sich nicht schon zu weit vom biologischen Vorbild (auf das sie sich ja schließlich beziehen) entfernt haben. Unbestritten ist, dass die faszinierende doppelte Bedeutung als etwas einerseits DestruktivSchädigendes, andererseits Kreativ-Hilfreiches bereits im Prinzip des Parasitären selbst angelegt ist. Der Parasit sitzt gewissermaßen auf (s)einer Bedeutungsgrenze, er gehört weder dazu noch hinein, und doch ist sein Platz im Wirt. Der Wirt selbst kann Parasit eines anderen Wirtes sein, so ergibt sich ein kaskadenförmig parasitäres System,490 in dem man sich am Ende fragen muss, wer eigentlich kein Parasit ist. Claudia Jost bemerkt in ihrer Logik des Parasitären, »dass die gleiche Struktur in beunruhigender Weise im Dienst gegensätzlicher oder sich überhaupt widersprechender Interessen stehen kann. […] Die Logik des Parasitären schließt die Verfol-

485 Fabo (2007): Parasitäre Strategien, S. 50. 486 Ebd. 487 Medosch, Armin (2001): Einen Hoax will er sich machen, in: Medosch, Armin; Röttgers, Janko (Hg.): Netzpiraten. Die Kultur des elektronischen Verbrechens. Hannover: Heise, S. 87-104, hier S. 103. 488 Rötzer, Florian (1998): Digitale Weltentwürfe. Streifzüge durch die Netzkultur. München: Carl Hanser Verlag, S. 119-144. 489 Rötzer, Florian (2007): Parasiten sind immer und überall, in: Kunstforum International. Parasitäre Strategien. Kunst, Mode, Design, Architektur. Band 185, Mai-Juni 2007. Herausgegeben von Sabine Fabo, S. 66-79, hier S. 73. 490 Vgl.: Serres (1987): Der Parasit, S. 15.

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gung, den Gebrauch und den ›Genuss‹ des Anderen als Parasiten keineswegs aus.«491 Auch Rötzer konstatiert bei dem Verhältnis Wirt–Parasit die Möglichkeit des Rollentausches, der Annektion des Parasiten durch seinen Wirt: »Parasitismus ist stets eine zweischneidige Sache, denn Parasiten können die Wirte verändern (und ihnen manchmal Vorteile verschaffen), aber die Wirte können auch Einheiten ›versklaven‹ und sich ganz buchstäblich einverleiben. So werden sie zu gezähmten Parasiten, eine Art Hausorganismen, die ihre Autonomie verloren haben.«492

Diese mehrfachen Paradoxien und Vorzeichenwechsel drücken sich in zahlreichen Doppeldeutigkeiten bei Begriffen aus dem Umfeld des Parasiten aus. Serres weist darauf hin, dass das französische »l’hôte« sowohl Gastgeber als auch Gast bedeutet.493 Auch das französische Wort »l’hospitalité« für »Gastfreundschaft« ist in seiner lateinischen Wurzel »hospes« eine Kombination der lateinischen Wörter »hostis« (im Sinn von »Feind«) und »potis« (»können«).494 Der fremde Gast ist also ein potentieller Feind – und das gleich in mehreren Sprachen, denn das neuhochdeutsche »Gast« ist nicht nur mit »hostis«, sondern auch dem germanischen »astis« und dem altslawischen »gost« (»«) über die gemeinsame indogermanische Wurzel »gostis« verwandt.495 Jacques Derrida verweist ebenfalls auf diese zahlrei-

491 Jost, Claudia (2000): Die Logik des Parasitären. Literarische Texte. Medizinische Diskurse. Schrifttheorien. Stuttgart: Metzler, S. 3. 492 Rötzer (2007): Parasiten sind immer und überall, S. 74. Rötzer bezieht sich hier auf die 1905 vom russischen Biologen Konstantin Mereschkowski formulierte Hypothese, dass die in Pflanzenzellen integrierten Chloroplasten ursprünglich eigenständige, aber mit den Pflanzenzellen in Symbiose lebende Cyanobakterien waren. Vgl.: Mereschkowski, K, S. (1905): Über Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. Biologisches Centralblatt, Band 25, S. 593–604 und 689-691. In den 1970er Jahren wurde Mereschkowskis zwischenzeitlich in Vergessenheit geratene Hypothese von Lynn Margulis zur heute allgemein anerkannten Endosymbiontentheorie erweitert. Diese besagt, dass sich komplexe Zellen (Eukaryoten) durch die Inklusion bzw. das schrittweise Zusammenwachsen symbiotisch lebender anderer Zellen (meist Prokaryoten) entwickelt haben. Ehemals selbstständige und nun integrierte Organellen sind laut der Endosymbiontentheorie zum Beispiel die Mitochondrien die von einem pathogenen, d.h. parasitierenden Bakterium aus der Gruppe der Rickettsien abstammen sollen. Vgl.: Margulis, Lynn (1970): Origin of Eukaryotic Cells. New Haven: Yale University Press. Neuere Forschung deutet darauf hin, dass selbst das genetische Material von Viren zur Entwicklung komplexer Zellen beigetragen hat. Vgl.: Villarreal, Luis P. (2004): Can Viruses Make Us Human?, in: Proceedings of the American Philosophical Society, Vol. 148, No. 3 (Sep., 2004), S. 296-323. 493 Serres (1987): Der Parasit, S. 31-33. 494 Benvéniste, Émile (1969): Vocabulaire des institutions indo-européennes. Erster Band. Paris: Éditions de Minuit, S. 87-101. 495 Paraschkewow, Boris (2004): Wörter und Namen gleicher Herkunft und Struktur. Lexikon etymologischer Dubletten im Deutschen. Berlin: Walter de Gruyter, S. 115

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chen Zweideutigkeiten und die sich oftmals überraschend schnell einstellenden Bedeutungsverschiebungen: »Der Übergang vom guten Fremden zum bösen Fremden, vom guten Immigranten zum schlechten Immigranten, ist eine Rolle, die man zugleich integriert und nicht integriert nennen möchte. Dieser Übergang ist offensichtlich nicht zufällig. Dieser Übergang ist enthalten in der Logik des para- und des ›mit‹, was bedeutet, daß die Bedeutung des Parasiten sich selbst parasitiert. Und daß man den guten Parasiten und den schlechten Parasiten nicht in aller Strenge gegenüberstellen oder unterscheiden kann, wie man gerne möchte; noch zwischen Gut und Böse allgemein. Das Schlechte ist nicht das Gegenteil des Guten. Es ist sein supplementärer Parasit.«496

Der Parasit präsentiert sich demnach als Auslöser von Transitionen; er ist eine Figur des Übergangs, die sich einer binären Differenzierung in den Kategorien »nützlich« oder »schädlich« bzw. »destruktiv« oder »konstruktiv« entzieht. Sehr ähnliche Eigenschaften finden sich bei einem anderen, eng mit dem Parasiten verwandten Begriff, nämlich dem »Virus«. Die Verwandtschaft besteht darin, dass auch Viren als »parasitäre Nutznießer«497 gelten, die als interzellulärer Parasit »etwas außer Kontrolle [...] bringen.«498 Die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Brigitte Weingart versteht die Topik des Viralen sogar als zentrale Metapher der Postmoderne499, die in den 1980er und 1990er Jahren geradezu inflationär in den Medien und kulturkritischen Diskursen Verwendung fand. 500 Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Beginn der 1980er Jahre ausgehend vom Informatiker Fred Cohen der Begriff des »Computervirus« popularisiert wurde.501 Auf dem Gebiet der Computerviren bezieht sich die Analogie zum biologischen Virus eher auf die Art und Schnelligkeit der Verbreitung sowie die angerichteten Schäden.502 Hier ist die Vorstellung einer virusartigen Kommunikationsstruktur »in erster Linie eine räum-

496 Derrida, Jacques (1990): Die Signatur aushöhlen – eine Theorie des Parasitären, zitiert nach der Übersetzung (Peter Krapp 1994) des Textes »Subverting the Signature. A Theory of the Parasite« Blast, Boston 2/1990. ‹http://hydra.humanities.uci.edu/derrida/ par1.html› [20. März 2011]. Siehe auch: Derrida, Jacques (1995): Die Signatur aushöhlen. Eine Theorie des Parasiten, in: Pfeil, Hannelore; Jäck, Hans Peter (Hg.): Politiken des Anderen. Bd. I: Eingriffe im Zeitalter der Medien. Rostock: Hanseatischer Fachverlag für Wirtschaft, S. 29-41. 497 Weingart, Brigitte (2002): Ansteckende Wörter. Repräsentationen von AIDS. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 76. 498 Ebd. S. 102. 499 Ebd. S. 75-102. 500 Ebd. S. 86. 501 Röttgers, Janko (2001): Sie lieben uns.txt.vbs, in: Medosch; Röttgers (Hg.): Netzpiraten, S. 53-72, hier S. 54ff. 502 Vgl.: Fichet, Maurice (1995): Les Virus informatiques. Paris: Marabout, S. 17.

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liche und eine quantitative«503, d.h. die einer plötzlich auftretenden, scheinbar aus dem Nichts kommenden und sich rasend schnell verbreitenden Epidemie, denn: »Viren zirkulieren«504, sie sind in der allgemeinen Vorstellung wesentlich mobiler als Parasiten. Auf dieser Grundlage hat sich die Terminologie des Viralen auch auf Marketingstrategien übertragen. Als »virales Marketing« (»viral advertising«) bezeichnet man eine auf dem »Guerilla-Marketing« aufbauende505 Vermarktungsstrategie, die bestehende soziale Netzwerke ausnutzt, um Produkte bekannt zu machen.506 Dabei sollen sich die versteckten Werbebotschaften durch Mundpropaganda, also gleichsam epidemisch von Mensch zu Mensch ausbreiten. Dadurch, dass die Distribution selbsttätig unter einander schon bekannten potentiellen Kunden funktioniert (Tell-A-Friend-Funktion), wird diese besonders kostengünstig und effektiv. So veröffentlichten unter anderem bereits mehrere Firmen507, einzelne Personen und Musikgruppen authentisch wirkende, scheinbar ›intentionslose‹ Videoclips im Rahmen viraler Marketingkampagnen auf den Videoplattformen im Internet. Bei diesen hängt sich die Werbe-Information – so Balkwitz – »wie ein Parasit«508 an den Spot. Aufgrund spektakulärer Erfolge erfreut sich die virale Marketingstrategie zunehmender Beliebtheit und wird in den Medien und unter den Nutzern der Videoplattformen aufmerksam thematisiert – wobei die Berichterstattung in den klassischen Massenmedien die versteckten Werbebotschaften auch noch an ein Publikum außerhalb des Internets weiter verbreitet. Tatsächlich aber ist das Vorhandensein versteckter Werbebotschaften kein essentielles Definitionsmerkmal eines »viralen Videos«. Entscheidend ist die besonders schnelle und erfolgreiche Verbreitung über die sozialen Netzwerke und die Mund-zu-Mund-Propaganda.509

503 Geiger, Annette (2006): Virus-Metaphern in der Postmoderne: Das eingebildete Kranke als Gestaltungsprinzip, in: Geiger, Annette; Hennecke, Stefanie; Kempf, Christin (Hg.): Imaginäre Architekturen. Raum und Stadt als Vorstellung. Berlin: Reimer Verlag, S. 85-103, hier S. 90. 504 Mayer, Ruth; Weingart, Brigitte (2004): Viren zirkulieren. Eine Einleitung, in: Mayer, Ruth; Weingart, Brigitte (Hg): Virus! Mutationen einer Metapher. Bielefeld: transcript, S. 7-41. 505 Balkwitz, Jana (2007): Virales Marketing. Kommuniktionsviren und ihre Verbreitung, in: Kunstforum International. Parasitäre Strategien. Kunst, Mode, Design, Architektur. Band 185, Mai-Juni 2007. Hg. von Sabine Fabo, S. 94-107, hier S. 95. 506 Vgl. Langner (2007): Viral Marketing. Kirby; Marsden (2005): Connected Marketing. Rushkoff (1996): Media virus! 507 Hierzu eine Beispiel aus dem Jahr 2006: Der Videoclip »Ron Hammer« war eigentlich eine Schleichwerbung für einen bekannten Baumarkt. ‹http://de.youtube.com/watch?v= aE1NwfwdJ-s› [20. März 2011]. Eine Liste mit den 10 innovativsten viralen Werbevideos des Jahres 2010 findet sich hier: ‹http://mashable.com/2010/12/09/innovativeviral-videos-2010/› [20. März 2011]. 508 Balkwitz (2007): Virales Marketing, S. 106. 509 Aufschlussreich sind hier die im Wikipedia-Artikel Viral Video genannten Beispiele. Vgl.: ‹http://en.wikipedia.org/wiki/Viral_video› [20. März 2011].

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Entscheidend für den öffentlichen Virus-Diskurs aber war nicht der Topos des Computervirus, sondern die Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin: »Dass sich auch diskursive Ereignisse stark auf die Brisanz einer Metapher auswirken können, haben schließlich die Untersuchungen zur Virenmetaphorik gezeigt: Den Beginn des Booms dieser Metaphorik kann man ziemlich genau datieren – auf den Beginn der 1980er Jahre, als das HI-Virus entdeckt wurde. Die Virenmetaphorik korreliert also mit dem Diskurs über die Immunschwächekrankheit AIDS.«510

Länger als Bakterien und Parasiten blieben Viren etwas Mysteriöses, eine nicht fassbare Substanz. Folglich ist das Virus 1746 als eine Art Gift definiert: »VIRUS, heisset eigentlich eine flüßige Feuchtigkeit, gemeiniglich aber wird es vor Gift genommen; so wird auch die böse Materie, welche aus einem giftigen Geschwür fliesset, Virus genannt.«511 Ein entscheidender Schritt und medizinischer Durchbruch war deshalb die Sichtbarmachung des Virus, der damit erstmals so etwas wie eine – wenn auch technisch induzierte und künstliche – fassbare Bildlichkeit512 bekam: »Eine bildliche Vorstellung des Virus auf wissenschaftlicher Grundlage wurde erst vor ca. sechzig Jahren möglich: Ende der 1930er Jahre konnten mit dem Elektronenmikroskop Viren sichtbar gemacht werden. Das war sicher für die Vorstellung einer eindeutig ansteckend wirkenden Substanz ein weiterer Durchbruch, denn solche als ›wissenschaftlich‹ eingestuften Repräsentationen tragen zur Durchsetzung bestimmter Vorstellungen bei.«513

Doch trotz der daraufhin einsetzenden Verwissenschaftlichung des Diskurses blieben ältere, aus der Zeit um 1900 stammende mit dem Begriff verknüpfte Bedeutungen erhalten, die vor allem aus dem militärischen Bereich stammen. 514 Noch beim aktuellen Virus-Diskurs gehören »Piraterie und Guerillakrieg«515 zu den gängigsten Metaphorisierungen. Auch Sabine Fabo deutet den Virus im Rahmen parasitärer Strategien in der Kunst als Guerilla-Kämpfer, womit sich der Kreis zu Ecos Kommunikationsguerilla schließt: »Als raffinierter Guerilla-Kämpfer, der die fetten, trägen Systeme der globalisierten Medienkultur infiltriert und stört, ist er [der Virus,

510 Mayer; Weingart (2004): Viren zirkulieren, S. 8. 511 Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Band 48 (1746). Leipzig, S. 910. ‹http://mdz10.bib-bvb.de/~zedler/zedler 2007/index.html› [20. März 2011]. 512 Dem komplexen Thema der Popularisierung von Wissenschaft durch Bilder widmet sich ein äußerst interessanter Sammelband, vgl.: Hüppauf, Bernd; Weingart, Peter (2009): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft. Bielefeld: transcript. 513 Dinges, Martin (2004): Bedrohliche Fremdkörper in der Medizingeschichte, in: Mayer; Weingart (Hg): Virus! S. 79-96, hier S. 89. 514 Ebd. 515 Weingart (2002): Ansteckende Wörter, S. 85.

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R.M.] zu einer positiven Figur des Protests und der Subversion mutiert.«516 Eine ganz ähnliche Bedeutungsverschiebung hat sich auch bei der Figur des Parasiten vollzogen. Doch im Unterschied zum Parasiten ist der Virus viel stärker auf seine Wirtszelle angewiesen, denn erst in dieser kann er überhaupt eine Art Lebendigkeit entfalten. Viel länger als Bakterien und Parasiten war der Virus unsichtbar geblieben, man konnte sich von ihm längere Zeit kein Bild machen. Daher gilt er auch heutzutage noch als eher abstrakte, immaterielle Informationseinheit, die sich viel weniger als der Parasit durch körperliche Präsenz auszeichnet.517 Zwar nistet sich auch der Parasit unbemerkt ein, doch das scheinbar körperlose Virus kann in der allgemeinen Vorstellung seine Guerilla-Taktiken viel erfolgreicher umsetzen. Diese beinhalten neben dem unbemerkten Eindringen und Sich-Einnisten die Infiltration und Umcodierung fremder Systeme durch das Einschleusen eigener Information sowie – bei ihrer Entdeckung – eine Taktik des Ausweichens durch Anpassung, Mutation und Camouflage. Der kulturelle Diskurs bewertet virale Strategien deshalb im Vergleich zu parasitären als wesentlich aggressiver und desaströser: »In Ihrer Absage an aggressive Umformungen unterscheiden sich parasitäre Strategien von dem Modell der Virustheorie. Parasitäre Vorgehensweisen sind häufig temporärer Natur, ihre Wirtsbesuche sind oft kurz und flüchtig. Sie müssen nicht zwangsläufig subversiv sein, sondern können auch eine symbiotische Kollaboration eingehen, von der beide Partner des Wirtsverhältnisses profitieren. Insofern ist das Parasitäre ein Modell, das die Paradoxie der Widerspenstigkeit gegen ein System und gleichzeitig die Anschlussfähigkeit an eben dieses kritisierte System beschreibt.«518

Ende der 1980er Jahre formulierte Jean Baudrillard seine »Virustheorie«519, darin betont er – wie bereits Serres bei den Parasiten – die von Viren ausgelöste Destabilisierung: »Dann handelt es sich also nicht mehr um Subversion oder Insurrektion usw., sondern um Destabilisierung. DESTABILISIERUNG ist einfach der Effekt von Viren...«520 Eine entscheidende Neuerung ist jedoch, dass Baudrillard die subversiven Systemstörungen als Akte interpretiert, die aus dem System selbst resultieren. Ein überorganisierter Zustand der Dinge (vielleicht könnte man mit Rancière sagen: Eine vermeintlich allumfassende Aufteilung des Sinnlichen), d.h. ein Sy-

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Fabo (2007): Parasitäre Strategien, S. 51. Vgl.: Geiger (2006): Virus-Metaphern in der Postmoderne, S. 88. Fabo (2007): Parasitäre Strategien, S. 52. Baudrillard, Jean (1988): Virustheorie. Ein freier Redefluss, in: Kunstforum International, Band 97, November/Dezember 1988, S. 64-65. Baudrillards Virustheorie wurde erstmals in Kunstforum International, Bd.97, Nov/Dez 1988 S. 248-252 veröffentlicht. Das Thema des Bandes aus dem Jahr 1988 ist: Aesthetik der Immateriellen Kunst. 520 Ebd. S. 65. Hervorhebung im Original

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stem, das sich mehr und mehr konsolidiert und mehr und mehr kontrollieren will, führt laut Baudrillard zu einer »viralen Kettenreaktion«: »Vielleicht entsteht der Virus auch aus sich von selbst heraus und gar nicht einfach durch diese oder jene Gruppe, entsteht als ein terroristischer Aspekt der Dinge selbst und der Zustand der Dinge wird terroristisch, sobald ein politisches oder ein anderes System alles kontrollieren will […]. […] Überall haben wir es mit dieser Kettenreaktion, mit dieser viralen Kettenreaktion, mit diesem terroristischen Aspekt der Dinge zu tun, und das bedeutet, meine ich, nichts Negatives. […] Wir können diese Ereignisse, diese Erlebnisse [Naturkatastrophen etc., R.M.] nicht von vornherein als negativ bezeichnen, wir müssen es im Kopf behalten, daß überintegrierte Systeme ihren eigenen Untergang erzeugen und Viren sind ein Mittel dazu.«521

Baudrillard schlägt hier eine spezielle innere Logik der Systeme vor: Die Systeme wehren sich gegen Überorganisation, Kontrolle und fortschreitende Integration, und ein Mittel dazu ist das Virus. Die Metapher der »viralen Kettenreaktion« impliziert dabei einen selbstständig ablaufenden, sich selbst erhaltenden Prozess, der schnell größere Ausmaße annehmen und außer Kontrolle geraten kann (falls er denn jemals unter Kontrolle war). Das Virus repräsentiert also »die objektale Revanche gegen alle Menschen, gegen das ganze menschliche Unternehmen des Herrschens und der Überbeherrschung der Welt.«522 Diese »Rache der Dinge«523, das Auflehnen der Systeme gegen die Einflussnahme des Menschen entspricht somit einer Absage an die Utopie absoluter Kalkulierbarkeit und Beherrschung. Dementsprechend interpretiert Baudrillard das AIDS auslösende Virus Ende der 1980er Jahre wie folgt: »Doch vielleicht ist der Aufbruch dieses Virus eine Rettung, ein Gegenmittel gegen Tod und Untergang. Wir wissen auch nicht, ob Aids – Aids ist natürlich an sich tödlich – wir wissen nicht, ob es nicht ein Rettungsmittel, ein provisorisches Rettungsmittel bedeutet gegen die virtuelle Katastrophe, die eine völlige sexuelle Befreiung für die Spezies bedeuten würde.«524

Das Beispiel verdeutlich Baudrillards Sichtweise auf das Phänomen des Virus, dennoch sollte, wie Susan Sontag bereits 1978 in ihrem Aufsatz Illness as Metaphor525 argumentiert hat, eine Krankheit nicht als Metapher Verwendung finden. Die hier vorgenommene Verquickung biologischer, sozialer und kultureller Phänomene führt dazu, dass AIDS als sexuelle Krankheit und Strafe für ein zügelloses Sexual-

521 522 523 524 525

Ebd. S. 64. Ebd. S. 65. Ebd. Ebd. S. 64. Sontag, Susan (1981; 1978): Krankheit als Metapher. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.

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leben interpretiert und mit Drogenabhängigen, Homosexuellen, Prostituierten und Schwarzen assoziiert wird.526 Auch das Phänomen »Terrorismus« hatte Baudrillard bereits 1988 als »viral«527 bezeichnet. In einer vielleicht noch provokanteren Geste wiederholte Baudrillard nur wenige Monate nach den Anschlägen vom 11. September 2001 diese Einordnung und die damit verbundene Vorstellung, dass das System selbst Terrorismus hervor gebracht hat: »Terrorism, like virus, is everywhere. Immersed globally, terrorism, like the shadow of any system of domination, is ready everywhere to emerge as a double agent. There is no boundary to define it; it is in the very core of this culture that fights it – and the visible schism (and hatred) that opposes, on a global level, the exploited and the underdeveloped against the Western world, is secretly linked to the internal fracture of the dominant system. […] But with terrorism – and its viral structure –, as if every domination apparatus were creating its own antibody, the chemistry of its own disappearance; against this almost automatic reversal of its own puissance, the system is powerless. And terrorism is the shockwave of this silent reversal.«528

Das Virus erscheint in der Vorstellung Baudrillards als terroristischer Akt der Dinge selbst, d.h. die Destabilisierung wird nicht von äußeren Einflüssen an das System herangetragen, sondern die überintegrierten Systeme neigen dazu, ihren eigenen Untergang zu erzeugen. In letzter Instanz scheint es so, als sei es die Selbstbestimmung des Menschen, für das Kollabieren seiner Systeme zu sorgen. Wie Baudrillard ist auch Jacques Derrida zu der Überzeugung gelangt, die Grenzen der Kontrollierbarkeit für die vom Menschen geschaffenen Systeme wären bereits überschritten. Derrida bezeichnet sein eigenes Handeln als viral und betont die gegensätzlichen Seiten, die das Virus in sich vereint: »I often tell myself, and I must have written it somewhere – I am sure I wrote it somewhere – that all I have done, to summarize it very reductively, is dominated by the thought of a virus, what could be called a parasitology, a virology, the virus being many things. […] The virus is in part a parasite that destroys, that introduces disorder into communication. Even from the biological standpoint this is what happens with a virus; it derails a mechanism of the communicational type, its coding and decoding. On the other hand, it is something that is neither living nor nonliving, the virus is not a microbe. And if you follow these two threats, that of a parasite that disrupts destination from the communicative point of view – disrupting writing, inscription, and the coding and

526 Vgl.: Sontag, Susan (1997; 1989): AIDS und seine Metaphern. München: Hanser. 527 Baudrillard (1988): Virustheorie, S. 64. 528 Baudrillard, Jean (2001): The Spirit of Terrorism, in: Le Monde vom 2. 11. 2001, ‹http://www.egs.edu/faculty/jean-baudrillard/articles/the-spirit-of-terrorism/› [20. März 2011].

232 | U NDERSTANDING Y OU T UBE decoding of inscription – and which on the other hand is neither living nor dead, you have the matrix of all that I have done since I began writing.«529

Wenn Derrida sich selbst mit einem Virus vergleicht, dann bedeutet das nicht, dass er in einer Art nihilistischem Anflug verkündet, die Welt zerstören zu wollen. Auch Derrida geht es um die Störung, Unterbrechung und Veränderung von Kommunikation, um das Destabilisieren stagnierender Systeme. Wie bereits beim Parasiten zeigt sich in dieser Charakteristik der zugleich destruktive und konstruktive Aspekt des Virus. Im Unterschied zum Parasiten oder zur Mikrobe betont Derrida jedoch, dass der Virus weder lebendig noch unbelebt ist. Das bedeutet: Der Virus lebt, entsteht, existiert im Prozess, d.h. während des Prozesses, den er selbst ausgelöst hat – dem Prozess der Destabilisierung. Die Charakteristik des Unsichtbaren, Mysteriösen, des Auftauchens aus dem Nichts findet sich hier wieder, denn außerhalb des Prozesses – bevor es bereits zu spät wäre – scheint der Virus nicht zu existieren, ist er nicht zu fassen. Wenn man in diesem Punkt Baudrillards Vorstellung folgt, scheint der Virus aus dem System selbst heraus zu entstehen. Sobald ein Punkt der Überregulierung und Überintegrierung erreicht ist, tritt der Virus aus dem Nichts auf, als terroristischer Aspekt der Dinge, als Notbremse auf dem Weg in die Stagnation, als Revanche und Absage der Systeme an den menschlichen Kontrollanspruch. Die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Andrea Sick resümiert wie folgt: »Today ›virus‹ has become an inflationary, hybrid if not trivial term that is effective in the media and is metaphorically applied not only in a biological and information technological context but is also employed in a concretely political and artistic one as well. Both positive and negative connotations are attached to the word virus. Viral infections mark the outbreak of something uncontrollable.«530

Der Virus steht folglich nicht nur für Destruktion, Destabilisierung und Weiterentwicklung aus sich selbst heraus, sondern auch für den Verlust von Kontrolle.

529 Brunette, Peter; Wills, David (1994): The spatial Arts. An Interview with Jacques Derrida, in: Brunette, Peter; Wills, David (Hg) Deconstruction and the Visual Arts. Art, Media, Architecture. Cambridge: Cambridge University Press, S. 9-32, hier S. 12. 530 Sick, Andrea (2002): Viral structures of cyberfeminism, in: Grzinic Mauhler, Marina (Hg.): THE BODY/LE CORPS/DER KÖRPER, Filozofski vestnik , Filozofski in‚titut (Slovenska akademija znanosti in umetnosti). Vol. XXIII, No. 2, University of Lublijana, S. 155-167, hier S. 155.

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Anders werden: Der Rückzug des Produzenten Serres Kommunikationstheorie des Parasitären und Baudrillards Virustheorie eröffnen einen neuen Blickwinkel auf das Phänomen der Modifikation fremden Materials: Parasit und Virus lassen sich als störendes Element interpretieren, das in ein bestehendes System eindringt, dort für Unruhe sorgt, über die Destabilisierung das System des Wirts aus der Stagnation reißt und so eine Weiterentwicklung ermöglicht. In einem ohnehin schon zu Vorzeichenwechsel und Rollentausch neigendem Verhältnis verbinden sich damit die offensichtlich destruktiven Eigenschaften des Virus oder des Parasiten mit konstruktiven und für den Wirt eventuell nützlichen Komponenten. Eine Kategorisierung des intervenierenden Anderen innerhalb einer bipolaren Logik (z.B. destruktiv vs. konstruktiv), bzw. dessen Charakterisierung als unliebsamer Eindringling oder (vielleicht wesentlicher) Teil des Systems würde deshalb dem Phänomen insgesamt nicht gerecht werden. Vielmehr weisen Parasit und Virus – wie sie bislang in der Kunst, Politik und Kommunikationstheorie definiert und beschrieben wurden – in ihrer ganz eigenen Kombination zutiefst paradoxer Charakteristika den Weg zu einem neuen Verständnis des Phänomens der Recyclingvideos im Internet. Dieses neue Verständnis soll nun an einem weiteren Beispiel erprobt und in Frage gestellt werden. Chris Crockers Originalvideo Leave Britney Alone! (Abb. 4) wurde am 10. September 2007 veröffentlicht; bis zum heutigen Zeitpunkt (November 2012) haben mehr als 44 Millionen Internetnutzer den Clip auf YouTube gesehen. Die enorme Aufmerksamkeit erhob den bis dato nahezu unbekannten Crocker nicht nur in den Status einer Internet-Celebrity, sondern verschaffte ihm sogar Eingang in die konventionellen, etablierten Massenmedien.531 Der Verdacht liegt nahe, dass ein derartig großer Erfolg Nachahmer und Trittbrettfahrer anzieht, die gleichsam parasitär einen Teil der Aufmerksamkeit auf sich selbst umleiten möchten. Hier muss angemerkt werden, dass es äußerst schwierig ist, die (tatsächlichen) Motive und Intentionen der Produzenten von Recyclingvideos zu ergründen. Bei den bislang hier behandelten Beispielen stand der digital aufgemalte Bart im Vordergrund. Für den Nachweis aufmerksamkeitsökonomischer, parasitärer Motive bietet sich jedoch ein Recyclingvideo an, das einem kommerziellen Umfeld zugeordnet werden kann.

531 Crocker absolvierte dabei nicht nur Auftritte und Interviews in US-Talkshows (z.B. bei Maury Povich am 20. September 2007), auch außerhalb der Vereinigten Statten berichteten seriöse Zeitungen über ihn (z.B. die Süddeutsche Zeitung am 28. September 2007, 29. Mai 2008, und 29. März 2010).

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Abb. 27: Zwei Modifikationen von Crockers Originalvideo (2007)532

532 Oben: LEAVE BRITNEY ALONE! VOST von imédias ‹http://www.youtube.com/watch? v=lVQOLX1wDAc›, Unten: She’s A Human (Leave Britney Alone) feat. Chris Crocker von PredWilM ‹http://www.youtube.com/watch?v=j7lD8f X03yk› [15. Mai 2010].

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Ein solches wurde nur drei Tage nach Crockers Original veröffentlicht: Am 13. September 2007 erstellte der Nutzer imediasbiz533 einen Videoclip mit dem Titel Chris Crocker – LEAVE BRITNEY ALONE! VOST (Abb. 27, oben).534 Dieses Video wurde von mehr als 452.000 Besuchern (Stand: November 2011) betrachtet und ist damit nur mäßig erfolgreich. Der Nutzer imediasbiz modifizierte für sein Recyclingvideo das Original eher moderat: Er fügte Crockers Video lediglich französische Untertitel, einen kurzen Vorspann und eine an ein Senderlogo erinnernde Einblendung (»imédias«) hinzu. Bei den Untertiteln handelt es sich um eine Übersetzung des gesprochenen Originaltextes, frei von Kommentaren, Ergänzungen oder Auslassungen, so dass die Untertitel hier nicht als détournement im Sinne Guy Debords zu verstehen sind, da sie keine Irritation, Verfremdung, Konfrontation, Eröffnung neuer Assoziationsräume oder Hinzufügung zusätzlicher Information enthalten. Dies ist keineswegs selbstverständlich, denn die Möglichkeiten durch Untertitel Einfluss auf die Rezeption des Originals zu nehmen sind äußerst vielfältig. Im Hinblick auf Debords filmisches Schaffen stellt Thomas Y. Levin, Professor für Medienwissenschaften und Ästhetik an der Princeton Universität fest: »Auf der einen Seite können […] der Kontext und die Bedeutung sowohl der unscheinbarsten Phänomene (Zeitungsausschnitte, Anzeigen, alltägliche Phrasen) als auch herausragender Elemente (Zitate von Marx und Saint-Just oder eine Szene aus einem Film von Eisenstein) verschoben und entfremdet werden, bevor sie dann später wieder neu definiert und umgeformt werden mit Hilfe einer radikalen Nebeneinanderstellung.«535

Auf der anderen Seite verweist Levin darauf, dass Debord und Wolman bereits 1956 in dem für die SI so wichtigen Artikel A User’s Guide to Détournement darauf hingewiesen haben, dass auch ganze Filme einem détournement unterzogen werden können.536 Dieser Vorschlag wurde von dem französischen Sinologen und Cineasten René Viénet besonders konsequent umgesetzt. Viénet gehörte von 1963 bis 1971 der Situationistischen Internationale an, doch auch über diese Periode hinaus modifizierte er zusammen mit Gérard Cohen und Inez Tan B-Movies aus Hong Kong und japanische Pink Films537 , die er mit Hilfe von eigenen Untertiteln oder

533 ‹http://www.youtube.com/user/imediasbiz› [15. November 2012]. 534 ‹http://www.youtube.com/watch?v=lVQOLX1wDAc› [15. August 2010]. 535 Vgl.: Levin, Thomas Y. (2004; 1989): Dismantling the Spectacle. The Cinema of Guy Debord, in: McDonough, Tom (Hg.): Guy Debord and the Situationist International. Texts and Documents. Cambridge, MA: MIT Press, S. 321-454. Das Zitat stammt aus der deutschen Übersetzung »Ciné qua non«: Guy Debord und die filmische Praxis als Theorie dieses Artikels von Uli Nickel, digital abzurufen unter: ‹http://www.medienkun stnetz.de/themen/kunst_und_kinematografie/debord/scroll/› [5. Mai 2011]. 536 ‹http://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/usersguide.html› [14. Februar 2011]. 537 Bei den sogenannten Pink Films (ピンク映画, Pinku eiga), handelt es sich um ErotikStreifen von etwa einer Stunde Länge, die ab Anfang der 1960er Jahre in Japan zu-

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einer neu synchronisierten Tonspur auf humorvoll-absurde Weise politisch auflud.538 Der vermutlich bekannteste Film Viénets ist La dialectique peut-elle casser des briques? (Can Dialectics Break Bricks?, 1973). Hier synchronisierte Viénet die komplette Tonspur eines in Hong-Kong produzierten Kung-Fu-Films539 mit französischen Schauspielern neu, wobei die Neusynchronisation keine Übersetzung des ursprünglichen Inhalts darstellt. Dass diese Methode auch heute noch Anwendung findet, zeigt das bereits besprochene Beispiel leave britney alone sarkozy remix540 des Users agagruk vom 17. September 2007. Bei diesem Recyclingvideo ist die ursprüngliche Tonspur durch einen parodistischen Monolog ersetzt, der in larmoyantem Tonfall die schlechte Behandlung des französischen Staatspräsidenten Sarkozy beklagt. Viénet bediente sich jedoch auch der Möglichkeit, nur die Untertitel zu modifizieren, etwa in den Filmen Du sang chez les Taoïstes (Blood with the Taoists, 1971) dem ebenfalls ein Hong-Kong-Streifen541 als Grundlage diente, oder in Les Filles de Kamaré (The Girls of Kamare, 1974), der gleich zwei japanische ErotikStreifen542 kombiniert und mit verfremdenden Untertiteln versieht.543 Im Gegensatz zu diesen Beispielen veränderte imediasbiz die Aussagen Crockers nicht, und auch sonst nahm er keine verfremdenden Modifikationen vor. Ein Gegenbeispiel wäre eine Version von Crockers Video mit spanischen Untertiteln: Blue

nächst von eher kleinen, unabhängigen Studios produziert wurden. Ab den 1970er bis Mitte der 1980er Jahre waren die Pink Films in Japan äußerst erfolgreich, weshalb in dieser Periode größere Studios den Markt dominierten. Ihre spezielle Ästhetik verdankt sich dabei den besonderen japanischen Zensurvorschriften. Vgl.: Richie, Donald (1992; 1972): The Japanese Eroduction, in: Ders. (Hg.): A Lateral View. Essays on Culture and Style in Contemporary Japan. Berkeley: Stone Bridge Press, S. 156–169. 538 Vgl.: Genty, Thomas (1998): La critique situationniste ou la praxis du dépassement de l’art. ‹http://infokiosques.net/imprimersans2.php?id_article=120› Sowie: Zeter, Georges (2009): René Viénet, »Le Western Soja« en sous-titré. ‹http://bonbonlareunion.overblog.com/article-29563769.html› [15. August 2010]. 539 Dabei handelt es sich um den Film Crush Karate (唐手跆拳道, 1972) des Regisseurs Doo Kwang Gee. 540 ‹http://www.wideo.fr/video/iLyROoaft0Xd.html› [14. Februar 2011]. 541 Als Grundlage diente der Film The Mallow Forest (林渡, 1969, in Frankreich ebenfalls als Du sang chez les Taoïstes erschienen) des Regisseurs Wang Ping. 542 Die von Viénet verwendeten japanischen Filme sind: Story of a Wild Elder Sister: Widespread Lynch Law (やさぐれ姐御伝 総括リンチ, 1973) von Teruo Ishii und Terrifying Girls’ High School: Lynch Law Classroom (恐怖女子高校暴行リンチ教室, 1973) von Noribumi Suzuki. 543 Über weitere Filme Viénets gibt es nur sehr wenige Informationen, sie sollen hier jedoch (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) aufgeführt werden: L’aubergine est farcie (The eggplant is stuffed, 1975, hier ist die verwendete Grundlage der japanische PinkyViolence-Film 0課の女 赤い手錠(ワッパ) / Der Tiger von Osaka, 1974, von Yukio Noda), Une soutane n’a pas de braguette (A cassock has no fly, in Frankreich bis heute verboten), Mao par lui-même (Mao in his own words, 1977), Dialogues entre un maton CFDT et un gardien de prison affilié au syndicat CGT du personnel pénitentiaire, Une petite culotte pour l’été (A pair of panties for summer), Chinois, encore un effort pour être révolutionnaires (Peking Duck Soup, 1977). Die Filme selbst sind teilweise im Internet abrufbar: ‹http://www.ubu.com/film/vienet.html› [15. August 2010].

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Clouds – Leave Britney Alone! (Sub-español)544 wurde am 22. October 2007 vom Nutzer leonardomalacara veröffentlicht. Zusätzlich zu den spanischen Untertiteln fügte dieser Nutzer seinem Recyclingvideo Hintergrundmusik zu, nämlich das Lied Blue Clouds von Yuki Kajiura. Diese musikalische Untermalung erinnert stark an die einer Telenovela, was wiederum ein neues Licht auf Crockers Original wirft. Doch imediasbiz ging es nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Originalvideo; dem ersten Anschein nach wollte er den Clip einer größeren Zuschauergruppe verständlich machen. Da es 2007 bei YouTube noch nicht die Möglichkeit gab, über das Portal selbst die Untertitel einzublenden, modifizierte imediasbiz die ursprünglichen Videobilder durch das Einblenden von fixed subtitles, d.h. von Untertiteln, die nicht zu entfernen sind. Dies war aber nicht die einzige Modifikation, die imediasbiz vorgenommen hatte. Crockers Videoclip wurde außerdem noch ein kurzer, schlichter Vorspann hinzugefügt, der vor einem schwarzen Hintergrund auf eine Internetadresse verweist. Zudem wurde einem Senderlogo nicht unähnlich oben links im Bild »imédias« über die gesamte Länge des Videoclips eingeblendet (Abb. 27, oben), so dass diese Einblendung wie ein Wasserzeichen dauerhaft auf den Produzenten verweist. Die Endung »biz« im Namen des Nutzers deutet schließlich auf einen gewerblichen Hintergrund hin, was sich durch eine kurze Überprüfung der angegebenen Internetadresse bestätigen lässt.545 Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass eine Firma von Crockers Bekanntheit als Trittbrettfahrer profitieren wollte. Man könnte einwenden, dass sich das Recyclingvideo mit den französischen Untertiteln einen Zuschauerkreis erschließt, der den ursprünglichen Clip in englischer Sprache nicht verstehen konnte. Damit tritt dieses Video nicht in Konkurrenz zum Originalvideo. Zudem verschweigt imediasbiz in seiner Beschreibung (und dem Titel) den eigentlichen Urheber Crocker und seinen Erfolg nicht: »Britney Spears n’a pas que des détracteurs, et l’acharnement médiatique dont elle fait l’objet en agace plus d’un. Chris Crocker, cependant, a poussé les choses un peu plus loin. […] Une vidéo qui fait le tour du monde et a déjà été visionnée 3,5 millions de fois depuis sa mise en ligne...«546

Zwar wird auf Crocker verwiesen, eine Verlinkung auf das Original fehlt jedoch. Selbst bei einem höchstwahrscheinlich aus kommerziellen Motiven produzierten Recyclingvideo fällt eine Einordnung schwer, da auch hier destruktive mit kreativen Momenten zusammentreffen. Seine parasitäre Natur scheint mit sich zu bringen, dass es zwar vom Bekannten zehrt und dabei doch etwas Eigenes verkörpert.

544 ‹http://www.youtube.com/watch?v=loiMJ1ZVuuU› [15. August 2010]. 545 ‹http://www.ip-adress.com/whois/imedias.biz› [15. August 2010]. 546 ‹http://www.youtube.com/watch?v=lVQOLX1wDAc› [15. August 2010].

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Trotz dieser Ambivalenzen fällt auf, dass dieses Recyclingvideo wenig Neues bietet; dies mag darin begründet sein, dass es einen bestimmten Zweck erfüllt. Aus dieser Zweckgebundenheit folgt jedoch, dass der Videoclip in gewisser Weise vorhersagbar wird. Man könnte sagen: Wenn etwas für eine bestimmte Zielgruppe interessant genug ist, dann wird es früher oder später in andere Sprachen übersetzt. Damit aber entspringt das durchaus als parasitär zu charakterisierende Recyclingvideo bestimmten Notwendigkeiten und/oder (zumeist individuellen) Motivationen. Das Interessante daran ist, dass sich der mit der Zirkulation einsetzende Prozess nicht in der wie auch immer intendierten Entstehung einzelner (parasitärer) Varianten erschöpft. Wenn Crockers Originalvideo den Ausgangspunkt bildet, so stellt das eben besprochene Video des Nutzers imediasbiz allenfalls ein Zwischenglied dar, d.h. einen Zwischenschritt in einem Prozess, der zu einer Verkettung verschiedener Videoversionen führt, dessen Ende und Richtung aber nicht absehbar ist. Das Video von imediasbiz wurde nämlich selbst zum Ausgangsmaterial für eine weitere Modifikation, und zwar für ein Recyclingvideo in Form eines Musikvideos – einem auf den Videoplattformen insgesamt sehr beliebten Genre. Am 28. September 2007 veröffentlichte der Nutzer PredWilM547 einen Videoclip mit dem Titel She’s A Human (Leave Britney Alone) feat. Chris Crocker (Abb. 27, unten).548 Obwohl sich PredWilM mit seinem Videoclip viel Arbeit gemacht hat, wurde dieser nur von etwas mehr als 33.000 Nutzern betrachtet, eine kleine Zahl verglichen mit Crockers Zuschauerzahl. PredWilMs Recyclingvideo weist verschiedene Modifikationen auf, denn aus den ursprünglichen Ton- und Videospuren wurden die eingängigsten Passagen (etwa »She’s a human!« und »Leave her alone!«) gesampelt und im Rhythmus der Musik mit einer Art Cut-And-Paste-Technik wiederholt und aneinander gefügt. Darüber hinaus wurden mit einem Solarisationseffekt die Farben manipuliert und es wurde ein Vorspann hinzugefügt. In seinen technischen Möglichkeiten geht das hier beschriebene Verfahren der Bearbeitung noch weit über das von Klaus Urbons beschriebene visuelle Sampling der Copykünstler hinaus: »Die Fotokopie ermöglicht […] neue Formen der Collagetechnik: Die einzelnen Elemente müssen nicht mehr als dauerhafte Montage miteinander verbunden werden, sondern sie treffen nur noch auf dem Vorlagenglas des Kopierers zusammen. Dies ist die Technik der Variage, die ein direktes Komponieren auf dem Kopierer ermöglicht und eine Form des visuellen Samplings ist. […] Die Ergebnisse dieser Arbeitsweisen haben dann aber mit der Collagetechnik nur noch eines gemeinsam: den Ursprung ihrer Materialien aus dem kollektiven Bildfundus der Medien.«549

547 ‹http://www.youtube.com/user/PredWilM#p/u› [15. August 2010]. 548 ‹http://www.youtube.com/watch?v=j7lD8fX03yk› [15. November 2012]. 549 Urbons (1991): Copy Art, S. 207.

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In diesem Recyclingvideo bestätigt sich die vom Popkulturtheoretiker Jochen Bonz vorgenommene Bewertung des Samplings als Kulturtechnik, als »Technik zur Erzeugung kultureller Räume, [als] Technik zur Situierung von Subjekten in Ontologien.«550 Die Medientechnik des Sampling taucht im Zusammenhang mit den Recyclingvideos außerhalb eines professionellen, streng reglementierten Raumes auf, und sie erfüllt einen bestimmten Zweck. Einerseits wird ein bestimmter kultureller Raum abgesteckt, den nur diejenigen erfassen können, die die Samples und ihre Herkunft zu deuten wissen, und andererseits verortet sich der Produzent von Recyclingvideos (die per Definition Samples beinhalten) innerhalb eines ganz spezifischen kulturellen Kosmos. Entscheidend ist dabei das Fehlen der Abgrenzung zur Hegemonialkultur. Wie Bonz feststellt, entspricht genau dies einem neuen Mechanismus der Hervorbringung von Subkultur: »Anstelle der Bezugnahme auf die hegemoniale Kultur hat sich ein anderer Mechanismus zur Hervorbringung der Subkultur eingerichtet: Bedeutung hervorbringen, Bedeutung zerstören, Bedeutung hervorbringen, Bedeutung zerstören. An die Stelle eines einmaligen resignifizierenden Aktes ist damit die Resignifikation als Prinzip permanenter Performanz getreten.«551

Wie bereits festgestellt wurde, gehen Zerstörung und Hervorbringung (von Bedeutung) im Fall der Recyclingvideos Hand in Hand. Doch neben den gewollten Modifikationen gibt es auch etliche nicht intendierte, denn die Bildqualität zum Beispiel hat sich im Vergleich zum Original signifikant verschlechtert. Dies liegt wahrscheinlich an einer unsachgemäßen Konvertierung von einem Videoformat ins andere und wieder zurück. Auf der Videoplattform im Internet lagen die Videodaten in einem bestimmten Format vor. Um diese modifizieren zu können, mussten die Videodaten von dem Bearbeitungsprogramm des Nutzers in eine Art Arbeitsformat überführt werden. Nach der Bearbeitung wurden sie wieder in einem anderen Format gespeichert, und beim Veröffentlichen konvertieren die Videoplattformen die hochgeladenen Daten wiederum – meist automatisch – in das ihren Anforderungen entsprechende Videoformat. Bei dieser Vielzahl an Konvertierungen mit unterschiedlich aggressiven oder verlustbehafteten Komprimierungen kommt es zur Bildung von compression artifacts, die der Produzent des Recyclingvideos letztlich kaum beeinflussen kann. Die verwackelten und verschwommenen Konturen sind demnach zumindest in einem gewissen Ausmaß das Ergebnis eines Prozesses, der

550 Bonz, Jochen (2006): Sampling: Eine postmoderne Kulturtechnik, in: Jacke, Christoph; Kimminich, Eva; Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen. Bielefeld: transcript, S. 333-353, hier S. 346. 551 Bonz, Jochen (2008): Subjekte des Tracks. Ethnografie einer postmodernen / anderen Subkultur. Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 63.

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weder von den Betreibern der Videoplattformen, noch von den Produzenten gewollt ist (Abb. 27, unten). Andererseits wird diese Bildästhetik auch bewusst von Künstlern erzeugt und eingesetzt (glitch art). Was diesen Videoclip auszeichnet ist, dass PredWilM – der angibt, dass sein Name William ist und dass er aus Frankreich stammt – nicht Crockers Original verwendete, sondern die zuvor besprochene bereits modifizierte Version des Nutzers imediasbiz. Warum ein Recyclingvideo und nicht das Originalvideo recycelt wurde, lässt sich leider nicht rekonstruieren.552 Fest steht aber, dass die aus dem Recyclingvideo von imediasbiz übernommenen französischen Untertitel im neuen Video sinnlos oder sogar störend sind, denn erstens werden immer nur wenige Sätze wiederholt, und zweitens sind sie durch die Farbmodifikationen kaum noch lesbar. Sicher ist auch, dass Crockers Original trotz der fehlenden Verlinkung mit etwas Aufwand hätte gefunden werden können – die von imediasbiz hinzugefügten Untertitel (sowie die Einblendung) jedenfalls waren im Bildmaterial verankert und ließen sich nicht mehr entfernen. Welche Bedeutung aber haben Reste von Eingriffen in das Originalvideo oder dessen modifizierte Kopien für den Prozess der Zirkulation? Die Modifikation als Spur Mit Sybille Krämer könnte man argumentieren, dass die nur noch rudimentär vorhandenen Untertitel zu einer Spur geworden sind.553 Laut Krämer deutet sich in einer Spur zunächst eine Abwesenheit an; durch ihr Lesen erfolgt eine Orientierungsleistung, und sie besitzen eine Materialität, d.h. die Spuren »zeigen sich im und am Material.«554 Trotz ihrer Virtualität könnte man auch Videodaten als ›Material‹ deuten. In dem neuen Recyclingvideo hat der nun abwesende Produzent des vorherigen Videoclips so etwas wie eine Fährte hinterlassen, die gelesen werden kann und in die Richtung des vorherigen Recyclingvideos deutet. Spuren besitzen laut Krämer auch eine gewisse Auffälligkeit, als Störung stechen sie im gewohnten, d.h. erwarteten Terrain hervor. Wie bereits ausgeführt erfüllen die Untertitelreste im neuen Recyclingvideo keine spezielle Funktion. In ihrer Mangelhaftigkeit und Repetitivität stören sie jedoch den Eindruck ästhetischer Geschlossenheit. Ein weiteres Attribut von Spuren ist laut Krämer ihre Unmotiviertheit. Als imediasbiz Untertitel hinzufügte, geschah dies natürlich nicht unmotiviert. In dem neu-

552 Leider hat PredWilM / William auf Anfragen nicht reagiert. 553 Vgl.: Krämer, Sybille (2007): Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme, in: Krämer, Sybille; Kogge, Werner; Grube, Gernot (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 1-33. 554 Ebd. S. 15.

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en Recyclingvideo hat imediasbiz jedoch ohne sein Wissen Spuren hinterlassen, denn die Rudimente seiner Untertitel unterlagen nicht mehr seiner Kontrolle, sie gelangten bar jeder Intention seinerseits in eine neue Umgebung hinein. Hier vollzieht sich ein entscheidender Schritt: Aus einer intendierten und determinierten Modifikation wird im Laufe des Prozesses eine unkontrollierte und unmotivierte Spur. Diese Spur ist nurmehr ein Relikt vergangener Willenskraft, sie gleicht einem visuellen Atavismus, der in sich höchstens noch einen blassen Nachhall ehemaliger Intentionen zu tragen vermag. Wie Krämer feststellt, besteht in diesem Zusammenhang eine Beobachter- und Handlungsabhängigkeit: »Etwas ist nicht Spur, sondern wird als Spur gelesen. Es ist der Kontext gerichteter Interessen und selektiver Wahrnehmung, welche aus ›bloßen‹ Dingen Spuren macht.«555 So mögen die Untertitelreste einigen Betrachtern nicht groß auffallen, sie könnten darin z.B. einen Teil des ästhetischen Gesamtkonzeptes sehen. Erst der selektive Blick, der diese als ›etwas Anderes‹ interpretiert, ermöglicht es, sie als Spuren zu lesen. Hier zeigt sich ein weiteres von Krämer beschriebenes Attribut der Spur, nämlich Interpretativität, Narrativität und Polysemie. Wie bereits erwähnt wird die Spur der Untertitelreste erst durch einen interpretativen Akt hervorgebracht, doch damit ist ihr Rätsel noch nicht gelöst: Noch immer ist unklar, was sie zu bedeuten haben und wie sie dorthin gekommen sind. Wie Krämer ausführt, ist Vieldeutigkeit ein konstitutives Attribut der Spur, denn andernfalls könne man eher von einem Anzeichen sprechen: »Eine Spur lesen heißt, die gestörte Ordnung, der sich die Spurbildung verdankt, in eine neue Ordnung zu integrieren und zu überführen; dies geschieht, indem das spurbildende Geschehen als eine Erzählung rekonstruiert wird. Die Semantik der Spur entfaltet sich nur innerhalb einer ›Logik‹ der Narration, in der die Spur ihren ›erzählten Ort‹ bekommt. Doch es gibt stets eine Vielzahl solcher Erzählungen.«556

Ebensowenig, wie man jemals wissen wird, warum genau der Nutzer imediasbiz Crockers Originalvideo um die französischen Untertitel erweiterte, wird man abschließend in Erfahrung bringen können, warum PredWilM sich nicht des Originalvideos bediente, sondern der bereits mit Untertiteln versehenen Version. Alles, was man sagen kann, ist: Offensichtlich präferierte der Produzent dieses Recyclingvideos die bereits modifizierte Version mit französischen Untertiteln, und er nennt den Urheber, imediasbiz, sogar in seinem Vorspann. Daraus kann man schließen, dass PredWilM sich zumindest nicht mit fremden Federn schmücken wollte. Das nächste von Krämer aufgeführte Attribut bringt das Konzept der Spur im Fall der Recyclingvideos an seine Grenze, es ist der Zeitenbruch, der sich in einer Spur zeigt: »Die Spur zeigt etwas an, was zum Zeitpunkt des Spurenlesens irrever-

555 Ebd. S. 16. Hervorhebung im Original. 556 Ebd. S. 17.

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sibel vergangen ist. Das ›Sein‹ der Spur ist ihr ›Gewordensein‹. Daher können Spuren verwittern und zerfallen.«557 In dem vorliegenden Beispiel (Abb. 27) zeigt sich dank der bewusst eingesetzten Solarisation und der nicht intendierten Kompressionsartefakte zwar ein Effekt, der einem Verwittern und Zerfallen sehr schön entspricht. Andererseits aber sorgt die Virtualität der Daten für eine Gleichzeitigkeit des Gewesenen und des Seins, d.h. das Recyclingvideo ist ebenso vorhanden wie sein Orignal. Andererseits kommt es auch vor, dass Videoclips gelöscht werden; zumindest theoretisch kann dieses Kriterium der Spur damit erfüllt werden. Das verbindende Element ist, dass sich die Bearbeitung der Videoclips nur in eine Richtung vollzieht: Was einmal ins Bildmaterial eingebracht wurde, kann nicht oder nur unter Hinterlassung neuer Spuren gelöscht werden. Zwar kann die vorherige Version noch zu Vergleichszwecken herangezogen werden, aus dem konkreten Recyclingvideo sind die Spuren der Bearbeitung jedoch nicht wieder zu löschen. Sybille Krämer identifiziert abschließend noch weitere Kriterien einer Spur, und zwar Eindimensionalität und Unumkehrbarkeit, sowie Medialität, Heteronomie, Passivität. Auch im Fall der Recyclingvideos gilt, dass Spurenlesen eine einseitige Kommunikationsform ist, denn die Spuren bleiben stumm. Die Digitalisierung und allgemeine Verbreitung der Bearbeitungsmöglichkeiten digitaler Bilddaten hat die Videoclips, die ursprünglich nur professioneller Bearbeitung zugänglich waren, zu einem Medium mit einer hinreichend schwachen Eigenstruktur werden lassen. Hartmut Winkler unterstützt Krämers Spurenkonzept, kritisiert jedoch, dass dieses einen »sehr wichtigen Aspekt« nicht enthält, nämlich »die Eigenheit, dass Spuren häufig nicht einmal sondern mehrmals begangen werden, wodurch sie sich entweder überlagern und dadurch unkenntlich werden, oder aber ganz im Gegenteil sich 558 durch Eingrabung vertiefen.« Hinter diesem Einwand steckt zunächst die Forderung, das Phänomen der Spur (auch) als ein quantitatives Phänomen, also als ein bottom-up Phänomen zu begreifen. Im Fall der Recyclingvideos ist dies auf jeden Fall gegeben, sind diese doch ein bottom-up Phänomen per se. Die Virtualität der Videodaten erschwert aber auf der anderen Seite, am Bild der Fußspur entwickelte Konzepte auf Recyclingvideos zu übertragen. Das Problem ist, dass in den meisten Fällen neben der neuen Version die alte bestehen bleibt, und ebenso wie die neuere Version auch weiterhin als Grundlage für kommende Versionen bereit steht. An dieser Stelle ist die Grenze der Übertragbarkeit des Konzepts der Spur auf das Phänomen der Recyclingvideos erreicht. Grundsätzlich aber ist denkbar, dass im Laufe verschiedener Bearbeitungsschritte Spuren unkenntlich werden, die Untertitel etwa

557 Ebd. 558 Winkler, Hartmut (2010): Spuren, Bahnen… Drei heterogene Modelle im Hintergrund der Frage nach den Automatismen, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 39-60, hier S. 42. Hervorhebung im Original.

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hatten bereits nach einer Bearbeitung erheblich an Lesbarkeit eingebüßt. Denkbar wäre auch, dass in einer dritten Version nur die Teile des Recyclingvideos weiterverwendet werden, in denen keine Untertitelreste vorkommen. Möglich wäre aber auch, dass sich bestimmte Fragmente kumulativ verdichten und im Anschluss an unzählige Bearbeitungsschritte – gleichsam als Stereotyp – besonders exponiert zu Tage treten, was einer Vertiefung von Spuren vergleichbar wäre. PredWilM sampelte für sein Video nur bestimmte, besonders einprägsame Sätze aus Crockers Monolog. Einige dieser Sätze könnten auch von anderen Nutzern gesampelt werden, so dass sich Crockers Monolog schließlich in einigen wenigen, in einem bottom-up Prozess ausgewählten Samples kumulativ verdichten würde. Auf diese Weise könnte die Spur in Bezug auf Recyclingvideos als roter Faden gelesen werden, der einen durch die verketteten Videoclip-Versionen (Abb. 28) leiten kann. Dabei gilt es zu bedenken, dass der hier anhand von nur drei Beispielen beschriebene Prozess prinzipiell unendlich fortgeführt werden kann, denn die Möglichkeit einer weiteren Modifikation dieser zweiten Version ist theoretisch gegeben. Und auch in einem dritten Recyclingvideo könnten wieder Untertitelreste auftauchen. Tatsächlich aber ist die Verfolgung der Genese einer solchen Verkettung meist erheblich schwerer als in dem hier analysierten Beispiel: Eine Verkettung kann sich zwischenzeitlich aufspalten und verzweigen, um dann später wieder zusammenzukommen. Einzelne Glieder der Kette können gelöscht werden, und man kann nicht davon ausgehen, dass jeder Nutzer auf seine Quellen verweist. Dennoch zeigt sich bereits hier – und dieser Punkt ist entscheidend –, wie das Videomaterial sich loslöst von den konkreten Motivationen seiner Produzenten, wie es sich immer weiter weg entwickelt von deren ursprünglichen Intentionen, so dass man hier von einem unkontrolliertem Prozess, von einem Automatismus sprechen kann: On »a micro level, human intent can be identified, as each and every video is posted or modified with certain intentions. The same is true for video sharing web pages: They too are planned, programmed and controlled. Undoubtedly, these platforms are bursting with intent, boundaries, and regulations. However, a quick look at these sites also reveals a lack of discipline. If we change our perspective from that of the single participant, we can identify unintended, unexpected, and even unwanted, automatic processes emerging within a distributed system on the macro level.«559

559 Marek, Roman (2011): Creativity Meets Circulation. Internet Videos, Amateurs and the Process of Evolution, in: Fischer, Gerhard; Vassen, Florian (Hg.): Collective Creativity. Collaborative Work in the Sciences, Literature and the Arts. Amsterdam: Rodopi, S. 205-225, hier S. 224.

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Abb. 28: Verkettung verschiedener Videoversionen (2007-2008)560 Die miteinander verknüpften Videoversionen illustrieren, wie den Nutzern die Kontrolle über ihr Produkt entgleitet, denn diese überträgt sich auf einen auf der Makroebene ablaufenden Prozess: einen Automatismus. Auch Crocker bekam diesen Machtverlust zu spüren. In einem Interview wurde er gefragt, ob er den Erfolg seines Videoclips vorhergesehen hätte. Er antwortete: »I actually had no idea that any of this was going on. I went to the grocery store after I posted it, not even five hours afterwards. An old woman in the grocery store said she saw it on TV. From then it

560 Grafik: Roman Marek. Quelle der einzelnen Videoscreenshots: YouTube. Die gepunkteten Linien drücken aus, dass ein direkter Bezug zwar nicht nachweisbar war, aber angenommen wird.

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kind of snowballed.«561 Obwohl Internet-Celebrities wie Chris Crocker grundsätzlich dem Verdacht ausgesetzt sind, mit vorgespielter Authentizität ein (ihnen unterstelltes) Bedürfnis nach Aufmerksamkeit zu stillen, ist seine Aussage in diesem Fall wohl glaubhaft. Der englische Ausdruck »snowballing« für ein exponentiell zunehmendes, lawinenartiges Anwachsen impliziert das Bild eines kleinen Schneeballs, der einen Berghang hinunter rollt und dabei immer mehr Schnee an sich bindet, bis er schließlich zur unkontrollierbaren Lawine wird. Der kleine Schneeball am Anfang könnte die ursprüngliche Intention verkörpern, doch dem Urheber entgleitet die Kontrolle darüber zusehends. Hinter dem Rücken des Nutzers entwickelt sich ein Automatismus, ein nicht geplanter und nicht kontrollierter Prozess. Tatsächlich verliert der Nutzer bereits im Augenblick der Veröffentlichung die Kontrolle, denn sein Produkt gerät im Internet über den zerstörerischen Sog der Zirkulation in den Strudel562 von Automatismen. Crocker erfährt dies im Einkaufsladen (einem anderen Ort des Austauschs), doch es ist bereits zu spät: »Evidently, the individual user loses ground when he or she is exposed to a process of evolution: Instead of being active and emancipated, the user plays just a minor role, subordinated to a process upon which they cannot exert any influence.«563 So tritt der einzelne Nutzer mit seinen Motivationen zurück vor einem äußerst vielschichtigen und paradoxen Prozess, der sowohl destruktiv als auch kreativ ist und dabei für Bewegung und Irritation sorgt. Vielleicht wäre es möglich, diesen Prozess und die mit ihm einhergehende Entmachtung der Produzenten teilweise einzudämmen, doch wahrscheinlich wird er bei der nächsten Gelegenheit wieder zurück kommen – wie ein Virus oder Parasit.

561 Popkin, Helen A.S.: ›LEAVE BRITNEY ALONE!‹. Tear-stained video plea makes YouTube vlogger an Internet rock star. ‹http://www.msnbc.msn.com/id/20750575/› [15. August 2010]. 562 Auch Anders Fagerjord spricht im Zusammenhang mit der Remix-Kultur auf YouTube von einem Strudel, der in sich kreative und destruktive Komponenten vereint, dabei bezieht er sich auf Gunnar Liestøls Interpretation der Kurzgeschichte A Descent into the Maelström (1841) von Edgar Allan Poe. Vgl.: Fagerjord (2010): After Convergence, S. 190-191. Fagerjord verweist auf: Liestøl, Gunnar (2007): The Dynamics of Convergence & Divergence in Digital Domains, in: Storsul, Tanja; Stuedahl, Dagny (Hg.): Ambivalence Towards Convergence. Digitalization and Media Change, Göteborg: Nordicom, S. 165-178. 563 Marek (2011): Creativity Meets Circulation, S. 225.

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Variation aus Mutation: Der Nutzer als Mutagen Wie sich gezeigt hatte, ist der Unterschied zwischen Viren und Parasiten zwar nur ein gradueller, anhand der kleinen Abweichungen ließ sich jedoch an der von Baudrillard skizzierten Figur des Virus ein neuer Ansatz entwickeln. Aufgrund seiner Abstraktheit, seinem überraschenden Auftauchen aus dem Nichts, seiner scheinbaren Immaterialität verkörpert der Virus viel eher als der Parasit einen Störfaktor, der aus dem System selbst zu stammen scheint. Das intervenierende Andere wird so zum intervenierenden Eigenen, oder besser noch: zu einem sich aus systemimmanenten Prozessen ergebenden Intervenierenden. Die Existenz des Virus scheint von den laufenden Prozessen abzuhängen, denn diese sind es, die ihn hervorbringen, die sein Bestehen erst ermöglichen. Der Virus tritt in Erscheinung, wenn er systemeigene Prozesse stört, außerhalb dieser scheint er aufgrund fehlender körperlicher Präsenz inexistent zu sein. Besonders interessant ist an dieser Stelle Baudrillards Bild der »viralen Kettenreaktion«564 , da sich in diesem Begriff eine mit dem Verlust von Kontrolle einhergehende Verselbstständigung andeutet. Im Folgenden soll dieser Moment der prozessinduzierten Verselbstständigung weiter ausgeführt werden, denn hier entwickelt sich ein Gegenmodell zur bewussten und (politisch) motivierten Intervention, wie sie sich bei den bisher vorgenommenen Bezugnahmen auf künstlerische Strategien und Rancières Überlegungen zum Dissens um die Aufteilung des Sinnlichen angedeutet hatte. Zwar werden ein gegebenes System und dessen etablierte Ordnung zur Disposition gestellt, jedoch handelt es sich nicht um politische Agitation im herkömmlichen Sinn. Ausgehend von den Überlegungen zu Parasiten und Viren könnte man sich fragen, ob Recyclingvideos nicht wie diese notwendiger Teil und Abkömmling des von ihnen ›befallenen‹ Systems sind. Sind die Recyclingvideos in das System audiovisueller Medien eingedrungen, oder waren sie schon immer der Anlage nach darin vorhanden, wurden sie also von diesem selbst hervorgebracht? Erfüllen Recyclingvideos wie Viren und Parasiten eine wichtige Funktion, indem sie ihr WirtSystem durch Störung, Irritation und détournement in Bewegung bringen und so zur Weiterentwicklung anregen? Nachdem das Augenmerk bisher dem intervenierenden Individuum gegolten hat, soll nun der Blick auf die Prozesse gelenkt werden, die – so deutet es sich in der Virustheorie an – eine Eigendynamik (und nicht: ein Eigenleben) entwickeln und in ihrer Verselbstständigung die Intentionen Einzelner in den Hintergrund treten lassen. Wie bereits erwähnt bezog sich das Verb »détourner« auch und ursprünglich auf Bewegung, auf die Umleitung von Flüssen, des Verkehrs usw. Schon die Beobach-

564 Baudrillard (1988): Virustheorie, S. 64.

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tung, dass die Modifikation von etwas Bekanntem auch eine Aktualisierung bedeutet, dass sie Vergangenes vor dem Vergessen rettet, brachte zwangsläufig eine Umschichtung – und damit Bewegung – mit sich: Etwas wird von unten nach oben, von hinten nach vorne gebracht. Ist es etwa diese Bewegung, die den nötigen Schwung, gewissermaßen die Initialzündung, für eine verselbstständigte Kettenreaktion liefert? Viren und Parasiten bringen Bewegung in die Systeme, die sie befallen – in dieser und den anderen bereits aufgeführten Eigenschaften lassen sie sich mit Serres, Baudrillard und Derrida als kommunikationstheoretisches Modell gewinnbringend auf das Phänomen der Recyclingvideos beziehen. Parasit und Virus besitzen darüber hinaus aber auch Eigenschaften, die einer Übertragung der an ihnen entwickelten Kommunikationsmodelle auf die Recyclingvideos im Weg stehen. Diese sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Zunächst implizieren Viren und Parasiten ein asymmetrisches Verhältnis: Auf der einen Seite gibt es den kleinen und alleine nicht lebensfähigen, aber pfiffigen Störenfried, und auf der anderen Seite das mächtige, aber zugleich behäbige System: Der Parasit »fädelt den Tausch von Dingen ein, die nicht gleichwertig sind.«565 Aus diesem Grund bezeichnet Serres das Parasitentum als den »allgemeinste[n] Gleichmacher.«566 Ein entsprechendes Verhältnis ist auch auf den Videoplattformen im Internet zu finden, denn die Videoclips etablieren dort eine Alternative zu den übermächtig erscheinenden klassischen Medien. So finden sich z.B. Ausschnitte aus dem Fernsehen, die dort aufgegriffen und modifiziert werden und im Anschluss daran als von Viren oder Parasiten ›befallene‹ Version gegen die originale Fassung antreten. Im Fall der Recyclingvideos zeigt sich aber noch ein anderes Verhältnis. Zwar besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass besonders populäre Videoclips von Internetcelebrities wie Chris Crocker häufiger modifiziert werden als andere, was jedoch nicht an asymmetrischen Machtverhältnissen liegt, sondern an der Tatsache, dass mehr Menschen mit dem Videoclip in Berührung gekommen sind. Nur lässt sich daraus keine Regel ableiten: Theoretisch kann es ebenso gut vorkommen, dass ein von nur einer Person gesehener Videoclip von dieser auch modifiziert wird, wie ein von Millionen angeschauter Videoclip vielleicht von niemandem bearbeitet wird. Auffällig ist darüber hinaus, dass die meisten Recyclingvideos kurz nach der Veröffentlichung des Original-Videos entstehen. Das bedeutet aber, dass sie zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als unter Umständen noch gar nicht abzusehen war, ob das betreffende Original populär werden würde. Was hier deutlich wird, ist eine bestimmte Zufälligkeit: Weder ist vorhersagbar, welcher Videoclip wann und unter welchen Umständen modifiziert werden wird, noch auf

565 Serres, Michel (1981; 1980): Der Parasit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 226. 566 Ebd.

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welche Weise und von wem. Die Möglichkeiten der Modifikation weisen eine derartig große Mannigfaltigkeit auf, dass eine Einteilung in Kategorien kaum machbar ist. Auch eine differenziertere Auseinandersetzung mit den Inhalten der Recyclingvideos wäre für die vorliegende Fragestellung wenig aufschlussreich. Und während Viren und Parasiten geschickt und raffiniert ans Werk gehen, kann man dies von der Mehrheit der Recyclingvideo-Produzenten kaum behaupten. Oft kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese nach dem Try-and-Error-Prinzip operieren. Im Ergebnis sind Recyclingvideos dann vergleichsweise grob und banal. Dies spiegelt sich auch in ihrer Popularität wieder, denn in den meisten Fällen werden Recyclingvideos von deutlich weniger Nutzern angeschaut als ihr Original. Ein Vergleich mit Erkenntnissen aus der biologischen Forschung bringt dabei die Unterschiede zwischen den Recyclingvideos einerseits und den anhand der Begriffe von Parasit und Virus entwickelten Kommunikationstheorien andererseits auf den Punkt: Trotz einer geradezu erstaunlichen Vielfalt567 herrscht bei Parasiten meist eine absolute Spezialisierung auf einen bestimmte Wirt.568 Wird der Wirt (aus einer bestimmten Notwendigkeit heraus) gewechselt, so folgt eine lange Periode der Spezialisierung und Koevolution von Wirt und Parasit – ein Prozess, der letztlich zu der hohen Diversifizierung der Parasiten geführt hat.569 Der französische Parasitologe Claude Combes spricht daher von einem regelrechten »Wettrüsten« zwischen Parasiten und dem Wirtsorganismus: »It is easy to see that from an evolutionary point of view it is in the best interest of the parasite to possess adaptations that allow it (1) to encounter its host and (2) to survive in the host if the encounter has occurred. Conversely, it is in the best interest of the host to have adaptations that allow it (1) to avoid encountering the parasite and (2) to get rid of the parasite if, despite any efforts to avoid an encounter, one has taken place. From these considerations arises an ›arms race,‹ an expression that evokes the reciprocal selective pressures that the parasite species and the host species exert on one another’s evolution over long periods of time […].«570

567 Poulin, Robert; Morand, Serge (2004) Parasite biodiversity. Washington: Smithsonian Institute Press. 568 Meeûs, T. de (2000): Adaptative diversity, specialisation, habitat preference and parasites, in: Poulin, R.; Morand; S.; Skorping, A. (Hg.): Evolutionary biology of hostparasite relationships. Theory meets reality. Amsterdam: Elsevier Science, S. 27-42. 569 Hoberg, Eric P.; Brooks, Daniel R. (2010): Beyond vicariance. Integrating taxon pulses, ecological fitting, and oscillation in evolution and historical biogeography, in: Morand, Serge; Krasnov, Boris R. (Hg.): The Biogeography of Host-Parasite Interactions. Oxford: Oxford University Press, S. 7-21. 570 Combes, Claude (2005; 2001): The art of being a parasite. Chicago: Chicago University Press, S. 10. Hervorhebungen im Original.

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Dieses endlose »Wettrüsten« zwingt den Wirt dazu, immer mehr Ressourcen für den Abwehrkampf bereit zu stellen und ein immer komplexeres Immunsystem aufzubauen.571 Es ist fraglich, ob das System mit steigender Komplexität automatisch leistungsfähiger wird und ob die Ressourcen nicht an anderer Stelle besser investiert worden wären. Unabhängig von diesen Fragestellungen soll es hier aber nicht darum gehen, das biologische Verständnis des Parasiten mot-à-mot auf Recyclingvideos zu übertragen. Bei einer Analogiesetzung bleiben schließlich immer einige – zwangsläufig zu tolerierende – Unterschiede bestehen. Im vorliegenden Fall ist allerdings nicht zu übersehen, dass sich die nicht vorhersagbare und an Zufälligkeit grenzende Flexibilität der Modifikationen, sowohl hinsichtlich der Ausführung als auch der Auswahl, vom Modell des Parasitären und Viralen entfernt. Um die Prozesse, die zur Entstehung von Recyclingvideos führen, noch besser und adäquater beschreiben zu können, ist daher ein weiterer Begriff erforderlich. Dieser Begriff müsste einen Prozess bezeichnen, der wie beim Virus oder Parasiten zu einer Störung und Veränderung führt, das System dabei aber potentiell weiter entwickelt. Außerdem müsste die Veränderung zufällig erfolgen, d.h. in gewisser Weise wahllos und ungerichtet. Wie beim Virus müsste deutlich werden, dass es vielleicht gar nicht um ein Eindringen von Außen geht, sondern dass der Ursprung dieses Prozesses im System selbst liegt. Ein besonders geeigneter Begriff, und zwar der der »Mutation«, wird von Serres in seiner Kommunikationstheorie des Parasitären angeführt: »Die Evolutionstheorie basiert auf zwei Begriffen: Mutation und Selektion. Man weiß mit hinreichender Genauigkeit, auf welches Ensemble die Mutation einwirkt. Es ist mehr als ein Bild, wenn man sagt, es handele sich um eine Botschaft, die auf einem Träger gespeichert ist. Ein Teil dieser Botschaft verändert sich durch Mutation, Abwesenheit, Substitution oder Verschiebung von Elementen.«572

Die von Serres und Baudrillard entwickelten Mechanismen einer sich von biologischen Vorbildern herleitenden Kommunikationstheorie fußen ergo auf den Grundlagen der Evolution: Mutation und Selektion. Das Moment der Selektion ist auf Recyclingvideos problemlos übertragbar. Zwar können sich Videoclips nicht vermehren, aber ihre Popularität (die durch User erfolgten Auswahlakte) könnte hier als Gradmesser für so etwas wie reproduktiven Erfolg gelten. Auch der Begriff der Mutation (von lat. mutare: verändern, tauschen, ändern, wechseln, verwandeln) 573 lässt sich übertragen, scheint es sich hierbei doch um ein ebenso mediales wie biologisches Phänomen zu handeln:

571 Vgl.: Poulin; Morand (2004) Parasite biodiversity, S. 147ff. 572 Serres (1987): Der Parasit, S. 282/283. 573 ‹http://www.albertmartin.de/latein/?q=mutare› [20. März 2011].

250 | U NDERSTANDING Y OU T UBE »There is no single molecule whose integrity is as vital to the cell as DNA. Indeed, survival of the species depends upon maintaining the nucleotide sequence intact. The genetic material is, however, subject to constant challenge. During DNA replication, RNA transcription, and even while in an inactive, resting state, damage can occur. Copying errors, breaks, and damage to nucleotide bases, if not corrected, lead to permanent change – mutation. Most mutations are potentially dangerous, since they lead to either blocks in DNA replication or the production of defective proteins. […] The most common type of change is a substitution, addition, or deletion of one or more bases.« 574

Die im Zitat vorkommenden Begriffe (Kopieren, Transkribieren, Kopierfehler, Löschen...) erinnern daran, dass die Mutation auf das zentrale Speichermedium der Zelle wirkt und eine Übertragung dieses Begriffs auf andere Medien und die »Veränderung von Botschaften«575 somit naheliegend ist. Zudem sind sie ein anschauliches Beispiel für den metaphorischen Gebrauch von Begriffen aus der Informationsverarbeitung auf dem Gebiet der Biologie. W.J.T. Mitchell bringt somit die Analogie nur auf den Punkt, wenn er die (Meta-)Daten einer digitalen Fotografie als »DNA of the image«576 bezeichnet. Die Veränderung von Botschaften verdankt sich auf der Mikroebene natürlich dem einzelnen Produzenten, und nicht dem Zufall. Doch unabhängig von den Motiven dieser Produzenten entsteht auf der Makroebene, d.h. der unüberschaubaren Anzahl realisierter Modifikationen insgesamt577, der Eindruck, dass in unvorhersehbarem Maße mal dieser und mal jener Videoclip einmal so und einmal anders oder überhaupt nicht bearbeitet wird. Gleichzeitig hätte aber auch alles ganz anders sein können, denn zwingende Kausalitäten lassen sich nicht feststellen. Insofern entsprechen die auf den Videoplattformen ablaufenden Prozesse dem biologischen Vorbild: Die Mutation kann entweder ohne erkennbare äußere Ursache erfolgen (Spontanmutation), oder aber durch exogene Einflüsse verursacht werden (induzierte Mu578 tation). Der Spontanmutation entsprächen die ohne das Wissen oder Wollen der Beteiligten vollzogenen Veränderungen am Material, also das Einschleichen von Übertragungs- und Kompressionsfehlern etc., und der induzierten Mutation die von den Produzenten bewusst vorgenommenen Modifikationen. Der Produzent des Recyclingvideos, d.h. der Mutante, würde damit zum Mutagen werden, d.h. zum Aus-

574 Malacinki, George M. (2005): Essentials of Molecular Biology. London: Jones and Bartlett Publishers International, S. 193. 575 Starr; Taggart (2006): Biology, S. 226. Eigene Übersetzung. 576 Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 124. Vgl. auch Kapitel »Biokybernetik«: Von der mechanischen Reproduktion zum Klon in der vorliegenden Arbeit. 577 Zur Problematik eines derartigen »Blickes von oben« vgl.: Leistert, Oliver (2010): Automatismen werfen das Problem der Beobachterin auf, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 99-102. 578 Malacinki (2005): Essentials of Molecular Biology, S. 198ff.

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löser von Mutationen wie etwa bestimmte Chemikalien oder Strahlung, und die Produktion eines Recyclingvideos entspräche der Mutagenese, der Erzeugung von Mutationen.579 Dass hinter den Modifikationen bestimmte Motive stehen, ist in diesem Zusammenhang unerheblich, denn offensichtlich erscheint sie auf der Makroebene als zufällig. Zudem hat sich gezeigt, dass die Intentionen eines Produzenten zu einer bloßen Spur und damit hinfällig werden, sobald jemand anderes das Material als Grundlage für ein neues Recyclingvideo verwendet. Zufällig ist auch das Ergebnis einer Mutation, es kann stumm580 oder neutral581 sein, positiv oder zu einer Verschlechterung führen. Entscheidend für den hier besprochenen Zusammenhang ist, dass die Mutation zu einer ergebnisoffenen und nicht vorhersehbaren strukturellen Veränderung führt, darin liegt die Parallele zu den von Nutzern vorgenommenen Modifikationen. Auch Sybille Krämer spricht an einer Stelle ihrer Kleinen Metaphysik der Medialität davon, dass es ein zentrales Anliegen der nachklassischen Theorie sei, die Produktivität der Übertragung zu erfassen, »welche doch die Mutation und Metamorphose des Übertragenen einschließt.«582 Im Anschluss an Serres und McLuhan scheint Krämer damit implizit davon auszugehen, dass die Mutation als Variante des Rauschens ein inhärentes, wesentliches Moment der Übertragung darstellt. W.J.T. Mitchell jedenfalls spricht auf dem Gebiet der Bildtheorie völlig 583 selbstverständlich von einem »image and its many clones and mutations.« Kreativität als evolutionärer Prozess Aus Baudrillards und Serres’ kommunikationstheoretischen Überlegungen folgt aber auch, dass Modifikationen nicht nur Irritation auslösen, sondern dass sie eine Weiterentwicklung des Systems bewirken. Wird die Modifikation als Mutation interpretiert, dann liegt es durchaus nahe, diese Entwicklung als eine Art evolutionä-

579 Vgl.: Cammack, Richard; Attwood, Teresa K.; Campbell, Peter N.; Parish, J. Howard; Smith, Anthony D.; Stirkling, John L., Vella, Francis (2006): Oxford dictionary of biochemistry and molecular biology. Oxford: Oxford University Press, S. 445. 580 Von einer stillen oder stummen Mutation spricht man, wenn trotz Mutation der Informationsgehalt der Gene nicht verändert ist. Dieser Effekt kann eintreten, da Aminosäuren auf verschiedene Arten kodiert sein können, so dass nach einer Veränderung dennoch die gleiche Aminosäure angesprochen wird. 581 Eine neutrale Mutation tritt auf, wenn DNA-Abschnitte betroffen sind, die keine relevanten Informationen kodieren, man spricht in solchen Fällen von Pseudogenen bzw. Nichtkodierender DNA. 582 Krämer (2008): Medium, Bote, Übertragung, S. 217. 583 Mitchell (2011): Cloning Terror, S. 143.

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ren Prozess zu begreifen.584 Die Schwierigkeit besteht darin, dass »Weiterentwicklung« (im Sinne von »Fortschritt«) und »Evolution« lange miteinander verknüpft waren: »evolution rode on the back of the doctrine of progress.«585 Die Begriffe »Weiterentwicklung« bzw. »Fortschritt« implizieren jedoch eine strategisch koordinierte Bewegung, die auf das Erreichen bestimmter Ziele hin ausgerichtet ist. Die Produzenten der Recyclingvideos mögen zwar der Meinung sein, dass ihr Produkt eine Weiterentwicklung darstellt, doch handelt es sich hierbei letztlich immer um eine subjektive Einschätzung. Auch wenn im Einzelfall generelle Vorstellungen, Moden oder Trends die Modifikationen beeinflusst haben, ist es auf der Makroebene dennoch unwahrscheinlich, dass eine grundsätzliche Regelhaftigkeit oder koordinierte Bewegung in Richtung eines gemeinsamen Ziels identifiziert werden kann. Tatsächlich ist die biologische Evolution nicht frei von kohärenten Bewegungen in bestimmte Richtungen, andernfalls wäre es nicht möglich, zukünftige Entwicklungen586 und evolutionäre Trends587 zu bestimmen. Doch obwohl es einen bestimmten Grad an Vorhersagbarkeit gibt, bedeutet dies nicht, dass Evolution zielgerichtet abläuft, dass sich also eine bestimmte Struktur im Hinblick auf potentiellen zukünftigen Nutzen entwickelt: »Natural selection cannot predict the future; it can only improve a structure in the context of its current utility«. Darwin selbst hat jeglichen Fortschrittsgedanken strikt abgelehnt588, und es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass die Evolution in Darwins oder dem modernen biologischen Verständnis nach perfekter Anpassung strebt: »The marvelous matches of organism to environment offer a strong temptation to conclude that adaptation is perfect. […] Natural selection does not design an organism or its features; it merely filters existing variation. The end product of Darwinian evolution is always as good as possible, but here possible is defined as the best of available opti-

584 Vgl. hierzu auch das Kapitel »Makrosoziologische Evolutionstheorie« in: Degele, Nina (2002): Einführung in die Techniksoziologie. München: Fink, S. 58-62. Zu beachten ist jedoch, dass in der vorliegenden Untersuchung nicht die technische Entwicklung insgesamt, sondern die Entwicklung medialer Produkte im Vordergrund steht. 585 Ruse, Michael (2009): The History of Evolutionary Thought, in: Ruse, Michael; Travis, Joseph (Hg.): Evolution. The First Four Billion Years. Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard University Press, S. 1-48, hier S. 23. 586 Vgl.: Byars, Sean G.; Ewbank, Douglas; Govindaraju, Diddahally R.; Stearns, Stephen (2009): Natural selection in a contemporary human population, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS), 26. Oktober, doi: 10.1073. 587 Vgl.: Campbell, Neil A. (2009): Biology, 8th edn. Sydney: Pearson Education Australia, S. 532. 588 Burrow, J. W. (1985): Editor’s introduction, in: Darwin, Charles (1859): The Origin of Species. London: Penguin Books, S. 11-48, hier S. 32-33.

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ons [...]. Put another way, adaptation is a contingent process; it constructs the best possible solution contingent on the raw material provided by mutation.«589

Hier zeigt sich die Bedeutung der Mutation für die Evolution: Sie liefert das Rohmaterial, aus dem die natürliche Selektion erfolgt – Evolution lässt sich beschreiben als »descent with modification.«590 Der mit einem Nobelpreis ausgezeichnete Genetiker François Jacob definiert Evolution als Herumbastelei (»tinkering«), d.h. als einen Prozess, in dem Neues durch das Verändern bestehenden Materials entsteht. Dies ähnelt durchaus den bei Recyclingvideos vorgenommenen Veränderungen, die man größtenteils ebenfalls als »Flickschusterei« bezeichnen könnte. In ihrer Diskussion von Serres Theorie des Parasitären stellt Krämer fest: »Das Parasitäre im Verständnis von Serres bildet nun nicht den schlichten Gegensatz zum Austausch, sondern es erweist sich als dessen nicht eliminierbare Dimension. So, wie es keine Struktur ohne Störung gibt, so gibt es keinen Austausch ohne das Parasitäre.«591

Vielleicht wäre es in Bezug auf die Recyclingvideos im Internet angemessen, den Begriff des »Parasiten« mit »Mutation« zu ersetzten. Würde man dann aus der Sicht eines evolutionären Prozesses argumentieren, könnte man die spezifischen Eigenschaften der auf den Videoplattformen ablaufenden Prozesse wie folgt beschreiben: Die Digitalisierung der Videobilder erlaubt erstmals auch Amateuren eine Form der Bearbeitung, die zuvor nur Fernsehtechnikern oder Videokünstlern möglich war. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass die Digitalisierung eine Bearbeitung nicht nur ermöglicht, sondern regelrecht dazu anspornt, das enorme Potential an Möglichkeiten auszuschöpfen. Dank des Internets lassen sich die Bilddaten schließlich noch unendlich distribuieren – bei gleichzeitig uneingeschränkter Zugänglichkeit: Nie zuvor waren so viele Amateurvideos abrufbar, hatten so viele Menschen die Möglichkeit ihre Produkte zu veröffentlichen. Doch die ungeheuren Mengen an Videos können nicht nur angesehen werden, sie dienen zugleich als riesiger Pool, aus dem potentielle Produzenten von Recyclingvideos Inspiration und Rohmaterial schöpfen können. Außer rechtlichen Aspekten scheint es keine Begrenzung der Kreativität zu geben. In der Konsequenz verlieren die veröffentlichten Videos ihren Status als Produkt, auf einmal stehen sie zur Verhandlung, sie werden gar zu Rohmaterial (im Sinn von Alexander Kluge).592 Die Medienwissenschaftlerin José van

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Travis, Joseph; Reznick, David N. (2009): Adaptation, in: Ruse, Michael; Travis, Joseph (Hg.): Evolution. The First Four Billion Years. Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard University Press, S. 105-123, hier: S. 114. 590 Campbell (2009): Biology, S. 454. 591 Krämer (2008): Medium, Bote, Übertragung, S. 79. 592 Im Verständnis Alexander Kluges soll der Zuschauer beim Betrachten von Filmen nicht die Intentionen des Regisseurs verstehen, sondern sich aktiv an der Konstruktion des

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Dijck schlägt daher für diese Art von Videomaterial die Bezeichnung »snippet« vor. Snippets, also Videoschnipsel, haben meist nur eine begrenzte Länge und einen fragmentarischen593, d.h. unvollständigen Charakter. Entscheidend ist aber, dass sie den Status einer Ressource besitzen: »they are meant for recycling in addition to storing, collecting, and sharing. Snippets, by common agreement, are posted […] to be reused, reproduced, commented upon, or tinkered with.«594 Aus dem ›Kunstwerk‹ Film wird so das mutierbare Rohmaterial Videoschnipsel. Dieser Prozess ist untrennbar verbunden mit einer auf dem Gebiet audiovisueller Medien neuen Ausprägung kollektiver Kreativität. Ein (Kino-)Film basiert auf einer kollektiven Anstrengung verschiedener Individuen auf unterschiedlichen Gebieten,595 Crockers Video hingegen ist das Ergebnis eines Ein-Mann-Unternehmens. Derartiges audiovisuelles Material mag es schon bei früheren Amateurproduktionen gegeben haben. Neu ist aber, dass die auf den Videoplattformen des Internets zirkulierenden Videoschnipsel zu Rohmaterial werden. Das bedeutet auch, dass diese mutieren, und dass es unzählige verschiedene modifizierte Versionen gibt, die miteinander um ihre Bedeutung, Relevanz und Daseinsberechtigung konkurrieren. Dieser von der Zirkulation ausgelöste und durch neuartige Bearbeitungsmöglichkeiten begünstigte (wenn nicht gar angefachte und befeuerte) Prozess ist nicht nur unkontrollierbar, er ist darüber hinaus ungerichtet, ungeplant und neigt zur Verselbstständigung. Das Schicksal der größtenteils wohl mit äußerster Sorgfalt vorgenommenen Modifikationen ist in diesem fortschreitenden Prozess ungewiss bis tragisch: Sie können verschwinden, verstärkt werden, oder als Rudiment fort bestehen. Die Rolle der Produzenten verliert dadurch an Bedeutung, denn ihre Produkte geraten in einen Prozess, der in seiner Gesamtheit nicht kontrollierbar ist. Dies führt dazu, dass die hinter den Modifikationen stehenden Intentionen und Motivationen der Produzenten im Laufe weiterer Bearbeitungsschritte anderer Produzenten obsolet werden. Die Modifikationen einzelner Produzenten sind daher nur in Bezug auf die Mikroebene als motiviert interpretierbar, vom Standpunkt der Makroebene aus erscheinen sie als

Films beteiligen. Vgl.: Bitomsky, Hartmut; Farocki, Harun; Henrichs, Klaus (1979): Gespräch mit Alexander Kluge über Die Patriotin. Geschichte und Filmarbeit, in: Filmkritik 275, November 1979, S. 505-520, hier S. 510. Vgl. außerdem: Forrest, Tara (2011): Creative Co-productions: Alexander Kluge’s Television Experiments, in: Fischer; Vassen (Hg.): Collective Creativity, S. 191-203, hier S. 197f. 593 Vgl.: Lemke, Inga (1999): Video und Fragment. Zu neuen Formen medial vermittelter Welt-Anschauung, in: Camion, Arliette; Drost, Wolfgang; Leroy, Géraldi; Roloff, Volker (Hg.): Über das Fragment – Du fragment. Band IV der Kolloquien der Universitäten Orléans und Siegen. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, S. 276-287. 594 Dijck (2007): Television 2.0. 595 Vgl. Kracauer, Siegfried (1979): Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, in: Ders.: Schriften. Hg. von Karsten Witte. Bd. II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 223-226.

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zufällig. Die Rolle des einzelnen Produzenten reduziert sich so auf die eines Mutagens: Seine Beweggründe verlieren sich im Laufe des Prozesses, er wird zum bloßen Auslöser von Variation – einer neuartigen Form kollektiver Kreativität. Das hier analysierte Phänomen fortwährender bottom-up Redaktion ist aus anderen medialen Kontexten bereits bekannt, auf der audiovisuellen Ebene stellt er hingegen ein Novum dar. Was außerdem noch den besonderen Reiz der Videoplattformen ausmacht, ist die plötzliche Sichtbarkeit derartiger Prozesse, welche vor allem durch die (potentielle) Dokumentation jeglicher Zwischenschritte und die erhöhte Geschwindigkeit evolutionsartiger Vorgänge erreicht wird. Was zuvor nur von vereinzelt handelnden Professionellen, meist Künstlern596 , fragmentarisch aufgezeigt werden konnte, kann nun quasi live betrachtet werden. Somit stellt dieser Prozess einer interpiktorialen, spielerisch-satirisch bis ernsthaft-kritischen, sich zahlreicher Bildsamples bedienenden Transformation und Absorption der Videoschnipsel einen weiteren Schritt in Richtung einer Interpiktorialität597, einer Bezugnahme von Bildern auf Bilder, einer »Textualisierung von Bildern«598 dar. Die Wiederholung ist und war immer schon eine Wiederholung mit Differenz, aber mit zunehmender Quantität und Geschwindigkeit der Zirkulationsakte verfestigen sich die unzähligen kleinen und scheinbar unbedeutenden Differenzen hinter dem Rücken der Teilnehmer zu einem äußerst wirkmächtigen, sich über die Intentionen und Motivationen Einzelner hinwegsetzenden Automatismus. Die hier diskutierten Beispiele verketteter Recyclingvideos entstanden innerhalb weniger Wochen, aber im gleichen Zeitraum sind noch unzählige weitere modifizierte Versionen entstanden. Viele wurden wieder gelöscht, sie verschwinden von der Bildfläche, andere werden überleben, weil sie kopiert und weiterverwendet wurden: survival of the prettiest.599 Würde man diese Vorgänge unterbinden, etwa durch eine Verschärfung des Urheberrechts, so bedeutete dies mit Sicherheit einen großen Verlust. Bisher handelt

596 Neben Bruno Munari und Sonia Landy Sheridan (»Generative Systems«) als »Grande dame« der Copy Art wäre hier besonders die 1962 von Ray Johnson gegründete New York School of Correspondence Art (Mail-Art-Bewegung) zu nennen: »Die internationale Mail-Art-Bewegung nutzte den Postweg zum Austausch von Bildern und Texten die oft von den Empfängern bearbeitet und weitergeschickt werden. Die überall verfügbare, schnelle und preiswerte Xerografie stellt dafür ein ideales Mittel dar.« Urbons (1991): Copy Art, S. 103. 597 Wie der Call for Paper zur Tagung Interpiktorialität – der Dialog der Bilder feststellt, fallen auch die Begriffe »Interpikturalität«, »Interikonizität« und »Interbildlichkeit« in dieses Umfeld. 598 Stiegler, Bernard (2009): The Carnival of the New Screen. From Hegemony to Isonomy, in: Snickars; Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, S. 40-59, hier S. 55. 599 Am 9. Dezember 2009 veranstaltete das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte eine Paneldiskussion mit dem Titel Survival of the prettiest? Evolution, Kunst und Ästhetik nach Darwin.

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es sich nur um den Beginn eines neuen kreativen, evolutionären Prozesses auf dem Gebiet audiovisueller Medien; es ist noch nicht absehbar, in welche Richtung sich derartige verselbstständigte Entwicklungen bewegen werden. Andererseits scheint es sowieso nicht möglich zu sein, das Entstehen derartiger Abläufe dauerhaft zu verhindern, denn es handelt sich um einen von den Intentionen Einzelner unabhängigen Automatismus, der immer dann einsetzt, wenn das, was ehemals das Privileg weniger Professioneller war, alltäglich wird. Dies ist der Fall, wenn die medialen Konfigurationen möglichst vielen Menschen Zugänglichkeit, Distribution und Aneignung ermöglichen, denn erst unter diesen Bedingungen entwickelt sich so etwas wie eine echte Zirkulation, die – wie sich gezeigt hat – einen gleichermaßen faszinierenden und kreativen wie destruktiven Prozess auslöst.

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N ACHAHMUNG

ALS

W IEDERHOLUNG

MIT

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D IFFERENZ

Das Recyclingvideo kann als typischer Vertreter einer Medienpraxis gelten, die bereits vorhandenes Material modifiziert, d.h. zumindest Teile eines anderen Videoclips verwendet. Daneben aber gibt es Clips, die durch indirekte Bezugnahme auf andere Videoclips verweisen, d.h. durch eine Form der Nachahmung. Die Parodie etwa verwendet zwar kein audiovisuelles Material der Vorlage, aber mit ihr verknüpfte Ideen und Motive. Das können etwa Bestandteile der Inszenierung sein, die durch Überzeichnung verfremdet sind, aber dennoch (mehr oder weniger) erkennbar auf den ursprünglichen Videoclip verweisen. Ein Beispiel zeigt, zu was für erstaunlichen Ergebnissen diese Prozesse der indirekten Bezugnahme führen können. Der Clip Spinning Chico Says Leave Britney Alone!600 wurde von einem Nutzer namens Zoobride601 am 16. September 2007 veröffentlicht, nur sechs Tage nach Crockers Orignal. Vor einer Art Tuch ist eine Katze zu sehen (Abb. 29), die schnurrt und ihren Kopf bewegt. Es wird kein audiovisuelles Material aus Crockers Originalclip verwendet. Die einzige explizite Referenz ist im Titel enthalten: »Leave Britney Alone!«. Ein Besucher der Videoplattform, der diese Phrase für eine Suche eingibt, könnte folglich bei der Katze namens Chico landen. Das Erstaunliche ist, dass trotz der nur sehr vagen Referenz auf Crocker dennoch nicht der Eindruck entsteht, bei einem falschen Videoclip gelandet zu sein, d.h. einem Videoclip, der falsch betitelt wurde.602 Obwohl die Katze weder auf der inhaltlichen, noch auf der sprachlichen Ebene auf Crocker verweist, reichen der Titel und bestimmte minimale Übereinstimmungen in der Inszenierung aus, um eine signifikante und damit legitime Verbindung zu Crocker herzustellen. Die Frage, worin diese Verbindung genau besteht bzw. was diese aussagen soll, kann hier nicht weiter erörtert werden. Entscheidend ist, dass sich offenbar ein Prozess entwickelt, der in Form einer »flexiblen Normalisierung«603 bei den Betrachtern bestimmte Stereotypen und Schemata604 entstehen lässt; und diese Schemata sorgen dafür, dass eine Verbindung zwischen der Katze und Chris Crocker hergestellt bzw. erkannt wird.

600 ‹http://www.youtube.com/watch?v=gPnZEUigjPM› [2. Juli 2011]. 601 ‹http://www.youtube.com/user/Zoobride› [2. Juli 2011]. 602 Dies kann man daraus schließen, dass Spinning Chico Says Leave Britney Alone! zwar von über 6430 Besuchern betrachtet wurde, jedoch keiner der 34 hinterlassenen Kommentare Verärgerung oder Enttäuschung zum Ausdruck bringt, ganz im Gegenteil finden sich durchweg positive Bewertungen. 603 Vgl. Link (2006): Versuch über den Normalismus. 604 Vgl. Schweinitz, Jörg (2006): Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses. Berlin: Akademie Verlag.

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Abb. 29: Screenshot aus Spinning Chico Says Leave Britney Alone! (2007)605 Bereits Walter Benjamin betont, dass das Erkennen von Ähnlichkeiten weitgehend dem Bewusstsein entzogen ist: »Die mit Bewußtsein wahrgenommenen Ähnlichkeiten – z.B. in Gesichtern – sind verglichen mit den unzählig vielen unbewußt oder auch gar nicht wahrgenommenen Ähnlichkeiten wie der gewaltige unterseeische Block des Eisbergs im Vergleich zur kleinen Spitze, welche man aus dem Wasser ragen sieht.«606

Die Betonung des Unbewussten aber ist, in Verbindung mit den auf den Videoplattformen stattfindenden Prozessen der Schemabildung, ein deutlicher Hinweis auf die Existenz von Automatismen.607 In Bezug auf die Parodien bzw. anderen Arten der Nachahmung gilt es, den Zusammenhang zwischen Schemabildung und Automatismen zu untersuchen. In einem ersten Schritt rückt die Parodie in den Mittelpunkt des Interesses, wobei zu fragen ist, welcher Zusammenhang zwischen Parodie und Original besteht, und in welchem Verhältnis beide zueinander stehen.

Zur Funktionsweise und Entstehung von Schemata aus systhemtheoretischer Sicht vgl. das Kapitel 15 Schemabildung in: Luhmann (2004): Die Realität der Massenmedien, S. 190-205. 605 ‹http://www.youtube.com/watch?v=gPnZEUigjPM› [2. Juli 2011]. 606 Benjamin (1933): Lehre vom Ähnlichen, S. 205. 607 Vgl.: Winkler, Hartmut (2010): These 13. Automatismen haben einen engen Bezug zur Wiederholung, zur Gewohnheit und zur Schemabildung, in: Bublitz; Marek; Steinmann; Winkler (Hg.): Automatismen, S. 234-236, hier S. 301.

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In einem zweiten Schritt wird von den Charakteristika der Parodie abstrahiert auf den ihr zugrunde liegenden Prozess, den der Nachahmung. Die Thesen des französischen Soziologen Gabriel Tarde (1843-1904) zur Nachahmung als Spielart der Wiederholung und sein Verständnis des Publikums sollen im Zusammenhang mit den Videoclips im Internet genauer analysiert werden, wobei zu klären wäre, ob eine Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Nachahmung überhaupt erforderlich ist, und ob es die Schöpfung aus dem Nichts oder eine perfekte Wiederholung überhaupt gibt. Abschließend soll dann ein Phänomen der Nachahmung in den Mittelpunkt rücken, das aus einem ganz anderen Kulturkreis stammt und von einem bisher noch nicht betrachteten Register menschlicher Tätigkeit ausgeht, nämlich der Wirtschaft. Produktimitationen sind in der Wirtschaft kein neues Phänomen, doch in der VR China hat sich mit der Shanzhai-Kultur (auch Guerilla- oder Raub-Kultur608) ein ganz anderes Verständnis des Phänomens herausgebildet. Tatsächlich wird die Nachahmung bestimmter Produkte hier nicht mehr von wenigen größeren Herstellern betrieben, vielmehr erscheint sie als das Resultat eines bottom-up Prozesses der von unzähligen kleinen Amateurproduzenten ausgeht. Die Begeisterung, die Shanzhai bei der Bevölkerung insgesamt auslöst, erinnert dabei an die Rezeption der Amateur-Videoclips im Internet. Das Ziel ist daher, Übereinstimmungen zwischen den beiden an sich sehr verschiedenartigen Phänomenen heraus zu arbeiten um daraus ein generelles Entwicklungsmuster von Automatismen ableiten zu können.

608 Vgl.: A special report on innovation in emerging markets. First break all the rules. The charms of frugal innovation, in: The Economist, 15. April 2010. ‹http://www.economist. com/node/15879359?story_id=15879359› [2. Mai 2011].

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Die Parodie als Form der Nachahmung

It is quite unnecessary to add to the published mass of writing, wise and foolish, on the art and ethics of parody.

WALTER JERROLD & R. M. LEONARD (1913)

Am 11. September 2007, nur einen Tag nachdem Crocker seinen Clip veröffentlicht hatte, erstellte ein Nutzer namens TheResponderUno eine Videoantwort: Re: LEAVE BRITNEY ALONE!609 Dieser Clip gehört zu den ersten Videoantworten überhaupt (anders als es der Name des Nutzers verspricht, ist es jedoch nicht die erste Videoantwort). Bisher wurde es von über 61.000 Personen angeklickt – verglichen mit den Zuschauerzahlen von Crockers Originalvideo kann dieser Clip damit als eher wenig erfolgreich gelten. Bei diesem Video verweist nicht nur der Titel auf LEAVE BRITNEY ALONE!, auch im Bezug auf Stil und Form gibt es deutliche Referenzen zu Crocker: der Hintergrund, der Habitus, die Gestik, die Stimmlage, einzelne Formulierungen und Sätze, sogar die blonden Haare wurden nachgeahmt. Schon an der blonden Perücke (Abb. 30, oben) ist allerdings zu erkennen, dass es sich nicht um eine Nachahmung im Sinne von Imitation oder Mimikry handelt. Die im Video auftretende Person – in der Beschreibung als Maggie Uno bezeichnet – gibt nicht vor, Crocker zu sein. Folglich liegt hier keine möglichst genaue Nachahmung vor, sondern es handelt sich um eine parodistische, d.h. nicht streng mimetische Verfremdung. Auch in der Selbstbeschreibung des Nutzerprofils von TheResponderUno wird trotz übereinstimmender Merkmale die Aufrechterhaltung der Differenz betont: »Aside from original work I also do Parodies. When producing parodies it is acceptable under US law to use bits of the original show to enhance the comedic nature of your new creation. This includes music and other identifying elements. It does not violate copyright law. I also make the originals faces in the videos I parody unrecognizable. So it doesn’t damage or harm the reputation of the original calibrators.«610

609 ‹http://www.youtube.com/watch?v=Zt1C396ReTg› [15. August 2010]. 610 ‹http://www.youtube.com/user/TheResponderUno› [15. August 2010]. Diese Selbstbeschreibung wurde inzwischen allerdings verändert.

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Abb. 30: Zwei Beispiele für nachahmende Wiederholung (2007)611

611 Oben: Re: LEAVE BRITNEY ALONE! von TheResponderUno ‹http://www.youtube.com /watch?v=Zt1C396ReTg›, Unten: LEAVE BRITNEY ALONE (clay version) von StopMotionGang ‹http://www.youtube.com/watch?v=_fMorW7tmVQ› [15. Mai 2010].

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Diese Charakterisierung seiner Arbeit zeigt, dass TheResponderUno sein Werk nicht als Imitation versteht, sondern als »new creation«. Aus dem Verweis auf das Urheberrecht lässt sich gleichzeitig eine gewisse Furcht vor rechtlicher Verfolgung herauslesen. Davon unabhängig wird jedoch der Respekt gegenüber dem Bild und der Reputation anderer Nutzer, den »original calibrators« deutlich. Die unübliche Bezeichnung »original calibrator« erinnert einerseits an den »contributor«, an den sich mit einbringenden Nutzer des ›Web 2.0‹, verweist gleichzeitig aber auf Kalibrieren, d.h. auf das Messen an einer bestimmten Norm. Tatsächlich aber werden nicht nur Form und Stil des ursprünglichen Videoclips (überzeichnend) nachgeahmt, auch der gesprochene Text ist beinahe identisch. So kombiniert Re: LEAVE BRITNEY ALONE! eine übertriebene Nachahmung von Form und Stil mit einer satirischen Verzerrung von Inhalt, Themen und Motiven, d.h. es vereint die vielfältigen Möglichkeiten der Nachahmung in sich. Möglichkeiten parodistischer Verfremdung Dieses Beispiel stellt nur eine der Möglichkeiten parodistischer Verfremdung dar. Zahlreiche Parodien übernehmen Komponenten des Originals, etwa die komplette Bild- oder Tonspur. So kombiniert der am 16. September 2007 veröffentlichte Videoclip LEAVE BRITNEY ALONE (clay version)612 des Users StopMotionGang die Tonspur Crockers mit den Bildern einer diesen darstellenden Knetfigur (Abb. 30, unten). Videos wie das am 11. September 2007 von OlegKozyrev veröffentlichte LEAVE PUTIN ALONE!     !613 hingegen unterlegen die originale Bildspur mit einer Stimme, die in einem ähnlichen Tonfall, jedoch in russischer Sprache und ironisch gebrochen614 vermeintliche Vorzüge des damaligen (und erneuten) russischen Prädidenten Vladimir Putin aufzählt. Diese Beispiele verkörpern die in klassischen Definitionen der Parodie geforderte Beibehaltung von Form und Stil des Originals bei verändertem Inhalt idealtypisch.615

612 ‹http://www.youtube.com/watch?v=_fMorW7tmVQ› [15. August 2010]. 613 ‹http://www.youtube.com/watch?v=uOQhxDHwtzw› [15. August 2010]. 614 Dazu ein Auszug aus dem Kommentartext, der eine (recht fehlerhafte) Übersetzung des nur mit russischen Untertiteln versehenen Videos bietet: »How can you laugh at president Putin?! He is good! He kissed a fish, you’d eat her by yourselves, you’d devour her, but he kessed! Both he kissed a boy, and even Condoleezza Rice he kissed! And you arn’t loving nobody, so you envy him! What wrong did he do for you?!«. 615 Vgl.: Kuester, Martin (2004): Parodie, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler, S. 512.

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Neuere Diskussionen zu Form und Funktion der Parodie stellen diese Textgattung jedoch eher in den Kontext von Intertextualitätstheorien.616 So definiert die Literaturwissenschaftlerin Linda Hutcheon die Parodie als »a form of repetition with ironic critical distance, marking difference rather than similarity«.617 Es geht demnach um eine Art der Wiederholung, bei der etwas aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt wird, jedoch zusätzlich versehen mit einer gewissen Differenz. Tatsächlich muss man – so die Literaturwissenschaftlerin Margaret A. Rose – das Original nicht einmal kennen, um den Zusammenhang zwischen Original und Parodie (und die Parodie selbst) zu verstehen, denn das Original lässt sich indirekt durch die Referenz in der Parodie erfahren.618 Laut Hutcheon formen Parodie und Original eine bitextuale Synthese, sie stehen in einer dialogischen Beziehung zueinander, weder heben sich beide auf, noch verschmelzen sie zu einer Einheit, die Differenz bleibt bestehen: »[I]ts two voices neither merge nor cancel each other out; they work together while remaining distinct in their defining difference«.619 Wie Hutcheon betont, verstärkt auch die gemeinste parodistische Verspottung letztlich die Bedeutung des Originals: »parody always implicitly reinforces even as it ironically debunks«.620 So präsentiert sich die Parodie weniger als aggressive denn als versöhnliche rhetorische Strategie in der Schnittmenge aus Kritik und Innovation: Original und Parodie bekämpfen sich nicht, sondern bauen aufeinander auf – unter Beibehaltung einer kritischen Distanz.621 Hier ließe sich einwenden, dass von vorneherein ein asymmetrisches Verhältnis vorliegt, denn das Original kann nichts erwidern. Zudem scheint es der Intuition zu widersprechen, dass das Original von der Parodie profitieren soll. Tatsächlich bleibt das Original unverändert, es reagiert nicht auf Kritik, es beharrt auf seiner Position. Doch gerade darin liegt auch seine Stärke, es stellt zugleich Fix- und Ausgangspunkt dar, und Parodie wie jegliche andere Bezugnahme festigt die Position des Originals, mag sie auch noch so kritisch sein. Zweifellos führt die ›etwas andere Wiederholung‹, wie es Hutcheon überzeugend dargelegt hat, grundsätzlich zu einer Spannung zwischen dem potentiell konservativen Effekt der Wiederholung und dem potentiell revolutionären Einfluss der

616 Verweyen, Theodor; Witting, Gunther (1982): Parodie, Palinodie, Kontradiktio, Kontrafaktur – Elementare Adaptionsformen im Rahmen der Intertextualitätsdiskussion, in: Lachmann, Renate (Hg.): Dialogizität. (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. Reihe A: Hermeneutik, Semiotik, Rhetorik, 1). München: Fink, S. 202-236. 617 Hutcheon, Linda (2000; 1985): A theory of parody. The teachings of twentieth-century art forms. Chicago: University of Illinois Press, S. XII. 618 Rose, Margaret A. (1995; 1993): Parody: ancient, modern, and post-modern. Cambridge: Cambridge University Press, S. 39-40. 619 Hutcheon (2000): A theory of parody, S. XIV. 620 Ebd. S. XII. 621 Ebd. S. XIV.

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Differenz.622 Die mögliche Doppelfunktion parodistischer Verfahren als Moment der Verfremdung, ihr kritisches Potential und ihre destruktive Qualität einerseits, sowie ihr konstruktiver Wert als »verwandelte Neukonstruktion« und als »Neuaufbau aus alten Elementen«623 andererseits, war schon von den russischen Formalisten Viktor „klovskij624 und Jurij Tynjanov625 als wichtiges Grundmuster literarischer Entwicklung identifiziert worden. Die zuvor angeführten Beispiele erfüllen zwar die Kriterien der Parodie, doch geht es hier nicht um die Bewertung einzelner Werke nach ästhetischen (oder gar künstlerischen) Gesichtspunkten, sondern um die medialen Praxen vieler einzelner Nutzer, um die Prozesse, die die Zirkulation der Videobilder gleichzeitig auslösen und ausmachen. Im Folgenden soll versucht werden, den Begriff der Nachahmung als Dachbegriff für Parodie und andere Formen der Verfremdung theoretisch einzuordnen, um daraus die Grundprinzipien der Wiederholung als Wiederholung mit Differenz ableiten zu können.

622 Ebd. S. XII. 623 Durst, Uwe (2001): Theorie der phantastischen Literatur. Berlin: LIT Verlag, S. 382. 624 „klovskij, Viktor (1971; 1921): Der parodistische Roman. Sternes Tristram Shandy, in: Striedter, Jurij (Hg): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: UTB, S. 245-299. 625 Tynjanov, Jurij (1971; 1921): Dostoevskij und Gogol (Zur Theorie der Parodie), in: Striedter, Jurij (Hg): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: UTB, S. 301-371.

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Die Soziologie der Nachahmung In den Sozialwissenschaften und der Psychologie standen seit Beginn der theoretischen Erörterung der Nachahmung Fragestellungen in Bezug auf die soziale Interaktion im Mittelpunkt. Ende des 19. Jahrhunderts faszinierten Wahnsinnige und »Somnambule«, sowie Phänomene der »Hysterie«, »Magnetisierung«626 und Hypnose die Wissenschaft. Bei diesen psychischen Ausnahmezuständen schien das Bewusstsein des Individuums entweder zu verschwinden, oder ganz und gar einer anderen Person zu gehorchen. Auch »Nachahmung« schien in gewissem Maße fremdbestimmt zu sein. Einerseits stand zwar fest, dass imitatives Verhalten nicht zwanghaft geschieht627, andererseits aber gab es Prozesse, die unbewusst und unmittelbar abliefen, das Rätsel des auslösenden Faktors – der »Suggestion« – blieb bestehen: »Man is a suggestible animal, and ideas, feelings, and movements are all thought of as suggestions, and produce in turn imitation. The behavior of crowds and mobs, the spread of fashions and conventions, the social heritage of customs, the conscious copying of new forms, and the unconscious imitation of gestures, dialects, and language elements, all these are assigned to the single and simple impulse of imitation, which comes to us through the avenue of suggestion.«628

Der französische Soziologe Gabriel Tarde (1843-1904) definierte in Les Lois de l’imitation (1890) als erster die Nachahmung als ein soziales Grundphänomen, d.h. als die soziale Grundtatsache. Seine Theorien sollen nun im Hinblick auf parodistische Verfremdung erörtert werden. Aufmerksamkeit und Ansteckung Laut Tarde geht die Nachahmung als intermentale Handlung von innen nach außen. Sie setzt nicht beim beobachtbaren Verhalten anderer an, sondern bei den dahinter stehenden Vorstellungen, Motiven und Ideen. Erst nachdem diese verinnerlicht werden, folgt, quasi symptomatisch, das nach außen sichtbare Verhalten. Bei einer oberflächlichen Betrachtung des Phänomens der Nachahmung steht hingegen das äußerlich Sichtbare im Vordergrund; Tardes Ansatz widerspricht daher zunächst der

626 Vgl.: Gordon, Rae Beth (2001): From Charcot to Charlot. Unconscious Imitation and Spectatorship in French Cabaret and Early Cinema, in: Critical Inquiry, Vol. 27, No. 3 (Spring, 2001), S. 515-549, hier S. 541ff. 627 Faris, Ellsworth (1926): The Concept of Imitation, in: The American Journal of Sociology, Vol. 32, No. 3 (Nov., 1926), S. 367-378, hier S. 368. 628 Ebd.

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Intuition.629 Dennoch ist in Tardes Verständnis das Objekt der Nachahmung in den Augen des Betrachters/Nachahmenden immer aufgeladen durch eine Überzeugung oder ein Begehren. Überzeugung und Begehren verstärken sich gegenseitig und setzen so eine »Logik der Ansteckung« frei. Mit Bezug auf die Metaphorik der damaligen Zeit formulieren Borch und Stäheli: »Das soziale Band kommt durch eine ›Elektrisierung‹ und ›Magnetisierung‹ zustande.«630 Tarde spricht in diesem Zusammenhang von den »Epidemien des Luxus, des Spiels, der Lotterie, der Börsenspekulation, […] des Hegelianismus, des Darwinismus usw.«631 Nachahmung wird so dem funktionalistischen Verständnis enthoben, denn etwas wird nicht deswegen nachgeahmt, weil es nützlich oder wahr ist, sondern weil es den Nachahmenden in ihrer subjektiven Einschätzung und historischen Konfiguration nützlich oder wahr scheint. Nachahmung erweist sich so als Phänomen der Faszination.632 Dieser Grundsatz lässt sich laut Tarde auf sämtliche Arten der Nachahmung übertragen: »Die Sympathie ist sehr wohl die erste Quelle der Soziabilität sowie die sichtbare oder verborgene Seele aller Arten von Nachahmung, sogar der feindlichen oder berechnenden Nachahmung und der Nachahmung eines Feindes.«633

629 Wie sich bei den Diskussionen dieses Textes gezeigt hat, scheint gerade dieser Aspekt von Tardes Theorie der Nachahmung besonders kontraintuitiv zu sein; er bedarf daher einer genaueren Erläuterung. Das Missverständnis scheint darin begründet zu sein, dass auch eine von innen nach außen verlaufende Nachahmung nicht ohne das Beobachten äußeren Verhaltens auskommt – was sie jedoch gar nicht muss. Am einfachsten verdeutlicht dies das Beispiel einer Modezeitschrift. In Tardes Logik hat der Käufer eines Journals bereits vor dem Kauf die grundlegenden Vorstellungen, Motive und Ideen dieser Modezeitschrift verinnerlicht, z.B. »Diese Kleidung ist chic, modern, mondän etc.« oder »Heiß, heiß sind diese Stiefelchen.« Nur weil diese Überzeugungen zuvor vom Grundsatz her bereits geteilt werden, entsteht überhaupt erst ein Drang zum Kauf der abgebildeten Kleidung (und damit zur Nachahmung des vorgeführten Stils). Als Gegenbeispiel kann man sich vorstellen, was eben diese Modezeitschrift in den Händen einer Person auslöst, die mit westlicher Kultur noch nicht in Berührung gekommen ist (das Journal fällt aus einem Flugzeug und landet im Dschungel). In einem solchen Fall ist bereits fraglich, ob diese Person die Bilder vor dem Hintergrund ihrer eigenen ästhetischen Erfahrung überhaupt versteht. Gänzlich unwahrscheinlich ist hingegen, dass diese Person den unwiderstehlichen Drang verspürt, das nächste Kaufhaus (etwas, von dem diese Person gar keine Vorstellung hat) aufzusuchen, um diese Kleidung zu erwerben. Der Grund ist, dass diese Person nicht die Codes der (von Roland Barthes so treffend analysierten) Sprache der Mode kennt. Daher kann sie diese auch nicht verinnerlichen, um die Mode anschließend nachzuahmen. Zur Sprache der Mode vgl.: Barthes, Roland (1985; 1967): Die Sprache der Mode. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 630 Borch, Christian; Stäheli, Urs (2009): Einleitung, in: Borch, Christian; Stäheli, Urs (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 7-38, hier S. 13. 631 Tarde, Gabriel (2003; 1890/1895): Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 169. 632 Ebd. S. 227. 633 Ebd. S. 103. Anm. 33.

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Der Hintergrund dieser Überlegung ist, dass ein Ereignis, bevor es nachgeahmt wird, zunächst einmal Aufmerksamkeit erzeugen muss, das heißt – so Borch und Stäheli – »es muß jene, die es nachahmen sollen, in seinen Bann ziehen.«634 Diese Voraussetzung deckt sich mit den laut Hutcheon für die Parodie charakteristischem Aspekt, dass auch die gemeinste Verspottung das Original in seiner Bedeutung verstärkt und so letztlich eine affirmative Wirkung ausübt. Sehr viele Menschen haben ablehnend auf Chris Crocker reagiert, sei es in Kommentaren oder nachahmenden Videos, die zumeist seine Einstellungen, Männlichkeit, Sexualität und vieles andere mehr in Frage stellen. Dennoch sind, so könnte man mit Tarde argumentieren, auch die schlimmsten Beschimpfungen letztlich Ausdruck von Aufmerksamkeit. Würde man Tardes Sichtweise folgen, so hätte Chris Crocker auf alle ihn parodierenden oder in anderer Weise nachahmenden Menschen Faszination ausgeübt. Die Fernwirkung innerhalb von Publika Man sollte nicht vergessen, dass es sich bei den medial vermittelten Praxen der Nachahmung auf den Videoplattformen des Internets nicht um eine direkte und unmittelbare »face-to-face« Situation handelt. Hier kommt vielleicht zum Tragen, was 635 Tarde als »die Fernwirkung eines Geistes auf einen anderen« bezeichnet hat. Für Tarde sind die Massenmedien und die medial vermittelte Suggestion (suggestion á distance) von zentraler Bedeutung. Mit seiner Konzentration auf das Publikum erweist er sich in einem Zeitalter vor Radio, Fernsehen und Internet als sehr weitsichtig. Ungebunden an physische Präsenz kann sich das Publikum unendlich ausbreiten636 , die Masse hingegen gehört für Tarde der Vergangenheit an, denn diese sei nach der Familie die älteste soziale Gruppe, kurzlebig und räumlich beschränkt. Das Publikum hingegen sei eine zivilisierte Einheit, die sogar zu vernünftigen Diskussionen fähig sei, weniger extrem, despotisch und dogmatisch als die Masse. Man muss diese Charakterisierungen nicht teilen, entscheidend ist jedoch Tardes Feststellung, dass sich die Verkettung sozialer Ereignisse auch außerhalb von »face-toface« Situationen ereignen kann.637 Die Akteure können in Publika weit voneinander entfernt sein, so wie im Fall der Videoplattformen im Internet. Wie weit Tarde seiner Zeit voraus war, zeigt sich auch in seinen Ideen über Zirkulation und Kommunikation, die er in der 1902 veröffentlichten Vorlesungsreihe Psychologie éco-

634 635 636 637

Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 13. Tarde (2003): Die Gesetze der Nachahmung, S. 10. Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 25. Ebd. S. 31.

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nomique am Collège de France aus den Jahre 1900/1901 entwickelte.638 Das von ihm konzipierte »gloriomètre« zur Messung von admiration (Bewunderung) und notoriété (Bekanntheitsgrad) scheint erst zum heutigen Zeitpunkt zum Beispiel in den Zählalgorithmen und Rankings der Videoplattformen realisiert zu sein. Vom Kleinen zum Großen: Nachahmung als bottom-up Prozess Wie bereits deutlich wurde, interessiert Gabriel Tarde sich für das Soziale in seiner Ereignishaftigkeit. Ausgehend von seinen Beobachtungen als Kriminologe639 fragt Tarde sich, wie es dazu kommt, dass kollektive Vorstellungen und Wissensformen sich verbreiten. Wie Borch und Stäheli feststellen, verfolgt Tarde eine bottom-up Perspektive: »Seine Soziologie der Nachahmung findet ihren Ausgangspunkt […] nicht so sehr in einem stabilen und fixierten Objekt, das nachgeahmt wird, sondern in den unzähligen Praktiken der Nachahmungen.«640 Eben diesen Ansatz verfolgt auch die vorliegende Untersuchung, die von den einzelnen Videoclips als kleinste Entitäten ausgeht und versucht, deren Komplexität zu erfassen und zu klären, wie temporäre Strukturen von diesen geformt und umgeformt werden können. Auf den Videoplattformen im Internet lassen sich offensichtlich keine Gesetzmäßigkeiten erkennen. Einige Videoclips haben Erfolg, und vielleicht werden sie parodistisch nachgeahmt, viele andere hingegen finden keine Beachtung und gehen in der Masse unter. Zudem ist die Aufmerksamkeit recht kurzlebig: Etwas, das heute ein Hit ist, kann morgen schon wieder vergessen sein. Nur weil ein Video oft angeklickt wird, bedeutet dies noch lange nicht, dass er auch nachgeahmt wird. Und ein Videoclip, der nachgeahmt wird, muss keineswegs ein Millionenpublikum haben, vielleicht haben ihn nur einige wenige Leute angeschaut. Große Zuschauerzahlen etwa oder Prozesse der Nachahmung lassen sich auf den Videoplattformen im Internet nicht erzwingen, und sie sind auch nicht aus dem Status der Produzenten ableitbar. Meist ist es gerade der Durchschnittsbürger, der mit seinen Videoclips große Beachtung findet, Politiker und Institutionen hingegen scheinen meist einen schweren Stand zu haben. Dies lässt an Tarde denken, der schreibt: Anstatt »alles durch die vermeintliche Geltung eines Entwicklungsgesetzes zu erklären, das die Gesamterscheinungen zwingen würde, sich zu repräsentieren, sich unverändert

638 Hughes, Everett C. (1961): Tarde’s Psychologie Économique: An Unknown Classic by a Forgotten Sociologist, in: The American Journal of Sociology, Vol. 66, No. 6 (May, 1961), S. 553-559, hier S. 556f. 639 Vgl.: Wilson, Margaret S. (1954): Pioneers in Criminology. I. Gabriel Tarde (18431904), in: The Journal of Criminal Law, Criminology, and Police Science, Vol. 45, No. 1 (May-Jun., 1954), S. 3-11. 640 Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 10.

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in einer bestimmten Ordnung zu wiederholen, anstatt so das Kleine durch das Große, das Einzelne durch das Ganze zu erklären, erkläre ich die Gesamtgleichheiten durch die Anhäufung kleiner elementarer Tatsachen, also das Große durch das Kleine, das Ganze durch das Einzelne.«641

Seine hier geübte Kritik an der Makro-Soziologie führt jedoch nicht zu einer Fixierung auf das Individuum. Tarde möchte zeigen, »wie das Große es bewerkstelligt, nicht: aus dem Kleinen hervorzugehen, sondern einige seiner Merkmale hervorzuheben«.642 Dieses Zitat von Bruno Latour entstammt einem Artikel, der Tarde als einen Vorfahren der Akteur-Netzwerk-Theorie beschreibt, doch wie lässt es sich deuten? Das Kleine, das Individuum, stellt für Tarde ein äußerst komplexes Chaos disharmonischer Heterogenialität dar. Das Große versteht Tarde als temporäre Kombination zahlloser strukturierender Effekte, die Gelegenheit bieten, ein einzelnes (wie auch immer vereinfachtes und wiederholtes) Element auf eine allgemeine Ebene zu führen. An dieser Stelle verweist Latour auf die Ähnlichkeit von Tardes Verständnis des Sozialen zu den Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari. Weder ist laut Tarde das Kleine Ergebnis bestimmter Gesetzmäßigkeiten einer höheren Ebene, noch geht die höhere Ebene aus einer kumulativen Anhäufung bestimmter Merkmale im Kleinen hervor. Das Große ist »die Vereinfachung eines der Elemente des Kleinen«.643 Die von den unzähligen Ereignissen verschiedener Individuen ausgehende Perspektive entspricht auch dem hier verfolgten Ansatz, denn: Ein Video wird nicht deshalb bedeutsam, weil es Millionen bereits bestehender Videos in bestimmten Punkten entspricht, oder weil es generelle Gesetzmäßigkeiten erfüllt, sondern es erhält dank seiner Popularität Gelegenheit dazu, bestimmte Merkmale zu verbreiten, zum Ausgangspunkt eines Nachahmungsstrahls zu werden. Verlust der Kontrolle – Unbewusste und bewusste Motivation An dieser Stelle ließe sich einwenden, dass die medialen Praxen jeweils von konkreten Motivationen einzelner Individuen abhängig sind. Schließlich würde man intuitiv davon ausgehen, dass ein Nutzer gezielt darüber entscheidet, welche Züge des Originalvideos er nachahmt und warum. Tarde jedoch richtet sich gerade gegen diese Vorstellung autonomer Subjektivität; für ihn ist die Suggestibilität Grundlage des Sozialen, nicht etwa Spontaneität oder Nützlichkeit. Die Nachahmung stellt laut Tarde kein rationales soziales Phänomen dar, denn in der Nachahmung agiere der

641 Tarde (1908): Die sozialen Gesetze, S. 24. 642 Latour, Bruno (2009): Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen, in: Borch; Stäheli (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens, S. 39-61, hier S. 47. 643 Ebd. S. 49. Hervorhebung im Original.

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Mensch schlafwandlerisch und naiv: »In höchstem Grade leichtgläubig und fügsam zu sein wie der Somnambule oder der Mensch als soziales Wesen heißt vor allem, nachahmend zu sein«.644 Diese wenig schmeichelhafte Charakterisierung scheint in ihrer Härte nicht direkt nachvollziehbar; es lohnt sich daher auf ein weiteres Zitat von Gabriel Tarde zu verweisen, das in seiner vollen Länge von Jonathan Crary in seinem Buch Suspensions of perception (1999) angeführt wird: »In this singular condition of intensely concentrated attention, of passive and vivid imagination, these stupefied and feverish beings inevitably yield themselves to the magical charm of their new environment. They believe everything that they see, and they continue in this state for a long time. It is always more fatiguing to think for oneself than to think through the minds of others. Besides, whenever a man lives in an animated environment, in a highly strung and diversified society which is constantly supplying him with fresh sights, with new books and music and with constantly renewed conversation, he gradually refrains from all intellectual effort; his mind, growing more and more stultified and, at the same time, more and more excited, becomes, as I have said, somnambulistic. Such a state of mind is characteristic of many city dwellers. The noise and movement of the streets, the display of shop-windows, and the wild and unbridled rush of existence affect them like magnetic passes. Now, is not city life a concentrated and exaggerated type of social life?«645

Jonathan Crary stellt dieses Zitat in den Zusammenhang eines Publikums, das gebannt einer Jahrmarktsattraktion oder Zirkusaufführung folgt. Doch Gabriel Tarde konstruiert eine komplexe Situation, die nicht nur durch eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einen kleinen Bereich (die Schaubude, die Bühne, die Arena) gekennzeichnet ist. Es kommen mehrere Faktoren zusammen: Einerseits unterstellt Tarde eine gewisse Tendenz zur Leichtgläubigkeit und Bequemlichkeit – ein Publikum, das gerne bereit ist, vorgefertigte Überzeugungen zu übernehmen. Hinzu kommt eine Umgebung, die mit schnell wechselnden und alle Sinne betreffenden Reizen übersättigt ist. Das Individuum gerät laut Tarde in einen Zustand gleichzeitiger Überreizung und Eingelulltheit. Die von Tarde charakterisierte Umgebung könnte ebenso gut die heutige, von Stress und Informationsflut geprägte Zeit beschreiben. Zwar soll hier keine Generalisierung vorgenommen werden, doch die Kombination aus einerseits gebannter Aufmerksamkeit und andererseits gleichzeitig herrschendem ›information overload‹ erinnert durchaus an die Rezeption der Videoclips auf den Internetplattformen.

644 Tarde (2003): Die Gesetze der Nachahmung, S. 111. 645 Tarde, Gabriel (1903; 1890): The Laws of Imitation. New York: Henry Holt, S. 84. Zitiert in: Crary (2001): Suspensions of perception, S. 240.

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Tarde sieht hier keinen ideomotorischen Reflex646, d.h. keine automatische, unbewusste und unwillkürliche Handlung, die als Reaktion auf die Idee einer anderen Person vollzogen wird. Die Nachahmung ist für ihn mehr oder weniger unbewusst, wobei grundsätzlich jeder Mensch einen unbewussten Impuls zur Nachahmung auslöst, besonders aber Menschen, die (etwa als Internet-Celebrity, R.M.) in bestimmten Kreisen Anerkennung genießen.647 In ihrer Untersuchung zur unbewussten Nachahmung im französischen Cabaret und frühen Film hat Rae Beth Gordon gezeigt, dass neben dem unbewussten Drang zur Nachahmung in durchaus der Betrachtung von Videoclips entsprechenden Situationen ein starker bewusster Drang zur Nachahmung vorhanden ist: »[O]ne cannot exclude a conscious desire to imitate those in power ... or in the spotlight. Certainly, the fashionable aspect of hysteria, as depicted in society or on stage, provided an impetus for conscious imitation.«648 Doch die Fragestellung nach den bewussten und unbewussten Komponenten der Nachahmung spielt für Gabriel Tarde keine große Rolle. Borch und Stäheli führen in ihrer Einleitung zu Gabriel Tarde hierzu aus: »Der Nachahmungsprozess wird zwar – auch – von Individuen getragen, aber diese handeln in der Regel nicht bewußt. […] Manche Nachahmungen mögen bewußt zustande kommen, viele andere nicht. Die Differenz ist letztlich jedoch grundbegrifflich bedeutungslos, da Nachahmungen sich nicht durch die subjektiven Intentionen einzelner erklären lassen.«649

Tarde spricht demnach den subjektiven Intentionen Einzelner keine größere Bedeutung zu, denn alle werden Teil eines Prozesses, der sich nicht mehr durch individuelle Motivationen erklären lässt. Zwar verneint Tarde die Möglichkeit bewusster Nachahmung nicht, diese sei jedoch – so Borch und Stäheli – nicht der Regelfall: »Allenfalls ließe sich darauf verweisen, dass bewußte Nachahmungen ein Störpotential entfalten, daß diesen die Geschmeidigkeit fehlt, welche für beschleunigte – und damit für die Moderne typische – Nachahmungsprozesse wichtig ist. Paradigmatisch für die moderne Form des Sozialen ist für Tarde daher der Schlafwandler, der nachahmt, ohne etwas davon zu wissen […].«650

Charakteristisch für die Nachahmungsprozesse der Moderne ist laut Tarde eine gewisse Geschmeidigkeit, ein reibungsloses, schnelles Ablaufen, welches nur bei un-

646 Michaud, Eric (1984): Le Réflexe, in: Borch-Jacobsen, Mikkel; Michaud, Eric; Nancy, Jean-Luc (Hg.): Hypnoses. Paris: Galilée, S. 113-149. 647 Dieses Gesetz der Nachahmung erinnert stark an das von Albert Bandura entwickelte Konzept des Modelllernens, vgl.: Bandura, Albert (1976): Lernen am Modell: Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart: Klett. 648 Vgl.: Gordon (2001): From Charcot to Charlot, S. 544. 649 Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 10. 650 Ebd.

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bewusster Nachahmung gewährleistet ist. Tatsächlich misst Tarde etwaigen bewussten Komponenten keine größere Bedeutung zu: Die »Fernwirkung eines Geistes auf einen anderen […] [besteht] in der quasi fotografischen Reproduktion eines zerebralen Negativs durch die fotografische Platte eines anderen Hirns […]. Wenn die fotografische Platte sich nun plötzlich dessen bewußt würde, was in ihr vor sich geht, würde sich die Natur des Phänomens dann wesentlich ändern? – Ich verstehe unter Nachahmung jeden Abdruck zwischengeistiger Fotografie, sei sie nun gleichsam gewollt oder nicht, passiv oder aktiv.«651

Für Tarde steht die qualitative Unterscheidung der Nachahmungsprozesse (intendiert/nicht intendiert, aktiv/passiv, bewusst/unbewusst) auch deshalb nicht im Vordergrund, da seine Gesetze der Nachahmung allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Doch was bedeutet dies für den am Anfang dieses Kapitels analysierten Videoclip des Nutzers TheResponderUno? Zunächst einmal hat TheResponderUno eine Parodie auf den Videoclip eines anderen Nutzers erstellt und veröffentlicht. Es soll nicht behauptet werden, dass der Nutzer sich in einem dissoziativen Zustand schlafwandlerisch betätigt hat, andererseits wird er aber kaum genau durchdacht und geplant haben, welche Geste er wie und wann nachahmt, welche Formulierungen und Sätze er genau oder abgewandelt übernimmt. Schließlich sollte man nicht vergessen, dass es sich hier wohl kaum um eine wohlüberlegte Inszenierung handelt. Vielmehr gab es nach dem Betrachten des Originalvideos von Chris Crocker einen teils unbewussten, teils bewussten Impuls zur parodistischen Nachahmung, TheResponderUno folgte diesem Affekt und erstellte in einer Art kreativen Fluss eine Parodie. Berücksichtigt man Tardes Thesen, so müsste in Bezug auf parodistische Nachahmungen ein bewusstes Handeln als Überinterpretation angesehen werden. Denn laut Tarde stellen sich die Prozesse des Wiederholens eben nicht nur als Ausdruck von bewussten, rational entscheidenden Individuen dar, sondern im Wesentlichen als Prozesse, die unbewusst (irréfléchie), unintendiert, auf kreative Weise und auch jenseits rein rationalistischen Kalküls ablaufen. Was sich in diesen Überlegungen andeutet ist ein Verlust an Kontrolle. Die bisherigen Beispiele machten bereits deutlich, dass das Original keine Kontrolle mehr über die Nachahmung ausüben kann. Chris Crocker kann nicht mehr kontrollieren, was mit seinem Videoclip passieren wird. Neu ist hier der Gedanke, dass selbst die nachahmende Person keine genaue Kontrolle über ihre Nachahmung hat, und zwar nicht nur nach der Veröffentlichung, sondern bereits bei der Erstellung.

651 Tarde (2003): Die Gesetze der Nachahmung, S. 10.

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Die Wiederholung als Wiederholung mit Differenz An diesem Punkt schließt sich der Gedanke der Wiederholung als Wiederholung mit Differenz an. Wenn dem Nachahmenden die Kontrolle über die Nachahmung bereits bei der Erstellung entgleitet, dann ist das Projekt der perfekten Kopie von Vorneherein zum Scheitern verurteilt. Doch die Parodie intendiert ohnehin keine perfekte Kopie, sondern eine Wiederholung mit intendierter Differenz. Überraschend scheint, dass Tarde auch die Wiederholung im sozialen Kontext immer als eine Wiederholung mit Differenz sieht. Borch und Stäheli schreiben: »Wiederholungen mögen noch so monoton anmuten – es gibt dennoch keine Wiederholung ohne ein Mindestmaß an Veränderung, die gerade durch die Tatsache des Wiederholtwerdens zustande kommt. […] Das Material der Wiederholung erweist sich also als widerborstig, es widersetzt sich einer perfekten Wiederholung und wird nur mühsam so weit angeglichen, daß überhaupt von einigermaßen homogenen Bereichen wie etwa dem Gesetz gesprochen werden kann.«652

In der Konsequenz wird die Wiederholung grundsätzlich zur imitatio cum variatione. Tarde versteht sogar den Gegensatz, die contre-imitation,653 als eine Art der Wiederholung.654 Diese von Vorneherein vorausgesetzte Heterogenität könnte implizit bedeuten, dass eigentlich der Wunsch nach oder die Notwendigkeit einer perfekten Wiederholung besteht. An dieser Stelle jedoch behauptet Tarde das genaue Gegenteil: »Die Wiederholungen gibt es […] um der Variationen willen«.655 Die eigentlich homogenisierende Wiederholung erhält durch den »unauflösbare[n] Zusammenhang zwischen Wiederholung und Veränderung«656 schöpferischkreatives Potential. Laut Tarde verändern sich Gesellschaften durch Wiederholung zwar langsamer, aber grundlegender als durch Revolutionen.657 Die Erkenntnis, dass sich gesellschaftliche Strukturen über »differentielle Wiederholungen«658 generieren, wurde laut Borch und Stäheli in Übereinstimmung mit Gabriel Tarde von den post-strukturalistisch orientierten Sozialwissenschaften wieder aufgegriffen:

652 Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 16. 653 Tarde (2003): Die Gesetze der Nachahmung, S. 13. 654 Tarde, Gabriel (1908 [1898]): Die sozialen Gesetze. Skizze einer Soziologie. Leipzig: Klinkerhardt, S. 43. 655 Tarde (2003): Die Gesetze der Nachahmung, S. 31. 656 Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 30 657 Tarde (2003): Die Gesetze der Nachahmung, S. 31. 658 Moebius, Stephan (2009): Imitation, differentielle Wiederholung und Iterabilität. Über einige Affinitäten zwischen Poststrukturalistischen Sozialwissenschaften und den »sozialen Gesetzen« von Gabriel Tarde, in: Borch; Stäheli (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens, S. 255-279, hier S. 256.

274 | U NDERSTANDING Y OU T UBE »Gerade seine Aufmerksamkeit für die Einzelereignisse, die das Soziale erst konstituieren, und sein Interesse für die Formen ihrer Verkettung sind für Deleuze/Guattaris Analyse des Werdens von größter Bedeutung. Deleuze deutet die Bedeutung Tardes für sein Werk in einer vielbeachteten Fußnote in Differenz und Wiederholung an: Das Soziale fußt auf Ähnlichkeiten (sei es der Mode der Ideen oder kultureller Praktiken), die nicht von einer zentralen Norm abgeleitet werden können. Vielmehr beruhen sie auf einer unendlichen Zahl von Wiederholungen, durch welche erst Ähnlichkeit hergestellt werden kann.«659

Die einzelne Nachahmung wird so zum Teil eines Prozesses der permanenten Nachahmung und Wiederholung. Die sich auf diese Weise bildenden Strukturen existieren dabei ohne Zentrum, sie können nur durch permanente Wiederholung existieren. Dieser Prozess entspricht Derridas Konzept der Iterabilität, das ebenfalls durch ein Mit- und Gegeneinander von Andersheit und Wiederholung geprägt ist: »Die Iterabilität setzt eine minimale restance voraus (wie auch eine minimale, wenngleich begrenzte Idealisierung), damit die Selbst-Identität in, quer durch und selbst hinsichtlich der Veränderung [altération] wiederholbar und identifizierbar ist. Denn die Struktur der Iteration, ein weiterer entscheidender Zug, impliziert gleichzeitig Identität und Differenz.«660

Auch Judith Butler argumentiert, dass die Identifizierungsprozesse, die über Wiederholung performativer Akte Diskurse, Strukturen oder auch normative Systeme konstituieren, niemals vollendet oder stabil sein können: »Identifications are never fully and finally made; they are incessantly reconstituted and, as such, are subject to the volatile logic of iterability. They are that which is constantly marshaled, consolidated, retrenched, contested, and, on occasion, compelled to give away.«661 In Bezug auf die (parodistische) Nachahmung einzelner Videoclips im Internet ergibt sich damit eine neue Perspektive auf das Phänomen der Wiederholung. Einerseits gibt es (scheinbar) identische Kopien, die dank technischer Reproduktion als Klone des Originals dieses vervielfachen662, andererseits gibt es aber auch die Wiederholung mit Differenz, d.h. Videoclips die entweder Material des Originals verwenden und/oder sich nachahmend darauf beziehen. Je größer der zeitliche Abstand von Originalvideo und z.B. Parodie ist, desto unsicherer lässt sich der Weg der Nachahmung verfolgen. Hat der Parodist das Original überhaupt gesehen? Oder haben

659 Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 30 660 Derrida, Jacques (1977): Limited a b c…, in: Ders. (2001): Limited Inc. Wien: Passagen Verlag, S. 53-168, hier S. 89. Hervorhebungen im Original. 661 Butler, Judith (1993): Bodies that matter. On the discursive limits of »sex«. London: Routledge, S. 105. 662 Vgl. hierzu Kapitel Clone Wars: Das Projekt der perfekten Wiederholung.

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ihn bereits vorhandene Parodien inspiriert? Und selbst wenn er das Originalvideo kennt: Ahmt er Züge des Originals nach, oder übertreibt er bereits übertriebene Nachahmungen anderer Parodien? Wie schon bei der theoretischen Betrachtung der Parodie deutlich wurde, muss man das Original nicht kennen, denn die Bedeutung konstruiert sich in der Wiederholung. Doch in der Wiederholung mit Differenz konstruiert sich die Bedeutung von mal zu mal neu. Die ursprüngliche Nachahmung entwickelt sich auf diese Weise immer weiter, vielleicht immer weiter weg vom Original; sie stellt ein äußerst ephemeres Phänomen dar. Bei Derridas restance handelt es sich nicht etwa um ein bleibendes Merkmal, das im Sinne einer gewissen Permanenz übereinstimmend in Bezugnahme auf das Original wiederholt wird, das von einer Wiederholung in die nächste hinüber gerettet wird. In einem Interview stellt Derrida vielmehr heraus, dass reste in seiner Verwendung dem deutschen Wort »Rest« näher ist als dem Wort »bleiben«. Reste wäre folglich mehr im Sinne von Überbleibsel, Abfall oder Spur zu verstehen.663 Jede Wiederholung beinhaltet einen Rest der vorherigen Wiederholung (möglicherweise mit Bestandteilen des Originals) plus einen Anteil an Neuheit; in diesem aber steckt ihr kreatives Potential. Da jede Wiederholung zumindest einen kleinen Teil an Erfindung beinhaltet, fordert Tarde auch von der Soziologie, sie solle sich der Erforschung der »vielen kleinen Erfindungen«664 widmen. Das Erschaffen von Erfindungen durch Wiederholung besitzt für Tarde eine gewisse Notwendigkeit, denn die übergroße Zahl an Variationen wird durch Tod (und Vergessen) dezimiert.665 Während die Liebe der letzte Grund für die Wiederholung war, so stellt der Tod ihr Gegenprinzip dar. In einer gewissen Analogie zur biologischen Reproduktion sieht Tarde die Wiederholung als ständiges Mittel, um dem Tod zu entrinnen. Die Erfindung als (re-)kombinierende Wiederholung Die Wiederholung mit Differenz bietet mehr als einfache Reproduktion, sie hat das Potential zur Schaffung von Neuem, zur Erfindung. Der Philosoph Éric Alliez beschreibt die besondere Bedeutung sozialer Erfindungen für Tarde: »Tarde ging von der Frage nach der Produktion des Neuen aus, das sich im Virtuellen findet, d.h. in den virtuellen Beziehungen zwischen affektiven Kräften, wo die infinite-

663 Derrida, Jacques (1998): Auslassungspunkte. Gespräche. Wien: Passagen Verlag, S. 325. 664 Tarde, Gabriel (1908 [1898]): Die sozialen Gesetze. Skizze einer Soziologie. Leipzig: Klinkerhardt, S. 101. 665 Tarde (2003): Die Gesetze der Nachahmung, S. 31.

276 | U NDERSTANDING Y OU T UBE simale Dynamik entsteht, auf deren Grundlage soziale Erfindungen zustande kommen und die letztlich deren Wirklichkeitsbedingung ist …«666

Es geht demnach nicht nur darum, dass eine Person das Verhalten einer anderen nachgeahmt hat, sondern der Akt des Nachahmens symbolisiert gewissermaßen ein ganzes Netz an virtuellen Beziehungen und Bindungen, an übernommenen, veränderten, verinnerlichten und weiter gegebenen Überzeugungen und Ideen. Zudem ist Nachahmung gleichzeitig Symptom und Auslöser einer gesellschaftlichen Dynamik über die der einzelne Mensch keine Kontrolle hat. Jean-Phillipe Antoine, Professor für Ästhetik in Paris, beschreibt die durch Erfindung erzeugte Dynamik wie folgt: »So spielt die Erfindung auf zwei verschiedenen Ebenen eine dynamische Rolle. Erstens bildet sie den Knotenpunkt von zwei unabhängigen Serien. Zweitens fungiert sie als virtuelle Quelle für verschiedene neue Serien und unterstützt die folgende Wucherung von Imitationen: Mit der Erfindung wird etwas Neues zur Imitation angeboten.«667

Die Erfindung kreiert nicht nur neue Objekte, sondern auch neue Arten des Sehens und Wahrnehmens, außerdem verknüpft sie bisher nicht zusammen Gehörendes. Da jede Wiederholung potentiell auch Erfindung ist, scheint es nur konsequent, dass Tarde auch die Erfindung im Sinne von ›Neu-Schöpfung‹ als nicht vom Himmel gefallen betrachtet. Borch und Stäheli führen dazu aus: »Eine der wichtigsten Quellen von Erfindungen ist nicht die plötzliche Erschaffung von etwas Ungedachtem und Ungeahnten, sondern die Kreuzung bestehender Nachahmungsströme – also die Kombination von bereits erfolgreich nachgeahmten Erfindungen.«668 Dieses Prinzip erstreckt sich für Tarde auch auf den Bereich der Wissenschaft, denn Analogiebildung ist für ihn ein Beispiel dafür, wie bestimmte Elemente aus einem Bereich auf einen anderen übertragen werden, man erfindet somit beim Wiederholen.669 Entsprechendes gilt für die Kunst, die sich für Tarde immer im Werden befindet; wie z.B. für Künstler wie Marcel Duchamp oder Joseph Beuys geht es auch ihm vor allem um die Fähigkeit der Erfindung, der Re- und Neukombination. Es ist deshalb nur konsequent, dass Tarde die In(ter)ventionen als »Auflehnungen gegen die herrschende Moral«,670 d.h. die Moral des bereits Etablierten charakterisiert.671

666 Alliez, Éric (2009): Die Differenz und Wiederholung von Gabriel Tarde, in: Borch; Stäheli (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens, S. 125-134, hier S. 126f. Hervorhebung im Original. 667 Antoine, Jean-Phillipe (2009): Tardes Ästhetik. Kunst & Kunst oder Die Erfindung des sozialen Gedächtnisses, in: Borch; Stäheli (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens, S. 164-179, hier S. 167. 668 Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 15-16. 669 Tarde (2003): Die Gesetze der Nachahmung, S. 165. 670 Tarde, Gabriel (1908; 1898): Die sozialen Gesetze. Skizze einer Soziologie. Leipzig: Klinkerhardt, S. 95.

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Das Genie als Schöpfer aus der Zerstörung Die Nachahmung als intermentale Handlung zeigt, wie ein Begehren oder ein Verhalten einer Person von einer anderen Person wiederholt wird. Könnte man aber die Verkettung verschiedener Nachahmungsakte – das was Tarde »Nachahmungsstrahl«672 (rayonnement imitatif) nennt – zurückverfolgen, so würde man herausfinden, dass jede Nachahmung in letzter Instanz notwendigerweise die Nachahmung der Erfindung einer »genialen Person«673 ist – im französischen Original spricht Tarde hier von den inventions-mères. Dem Verhältnis von »Genie« und Erfindung widmet Tarde ausführliche Überlegungen. Charakteristisch für das Genie sei, dass in dessen Kopf zwei unterschiedliche Ideen zusammentreffen und von diesem dann neu miteinander kombiniert werden.674 Doch wie Borch und Stäheli ausführen, vereint das Genie paradoxe Eigenschaften: »Das Genie ist also keineswegs ein deus ex machina, der plötzlich Unbekanntes und Undenkbares erschafft. Vielmehr ist das Genie ein ›Möglichkeitsmedium‹, das überhaupt erst die ›inhärenten Möglichkeiten‹ auch in Routineprozessen sichtbar macht – das Genie wird damit zum Kontingenzproduzenten. […] Der Erfinder ist also gleichermaßen ein kreativer Konstrukteur und ein Mäkler, welcher überall Widersprüche – und damit eben auch: die Möglichkeit, daß alles anders sein könnte – aufdeckt […].«675

So existieren beim Genie gleichzeitig das Bedürfnis und Vermögen nach destruktiver Kritik wie nach kreativer Neuschaffung. Das destruktive Element dient dabei jedoch dem Aufbrechen gewohnter Strukturen und Verbindungen, und aus den Bruchstücken lassen sich dann neue Ideen konstruieren.676 In der Konsequenz sind Erfindung und Nachahmung untrennbar miteinander verknüpft. Ohne die Nachahmungsströme sich durchsetzender Ideen und Erfindungen – Tarde spricht in Anlehnung an Darwin von einem Stammbaum der Erfindungen (arbre généalogique des inventions) – hätte das Genie kein Rohmaterial für Neuschöpfungen, seine Neuschöpfungen aber ermöglichen wiederum einen neuen »Nachahmungsstrahl«, also einen neuen Ast am Stammbaum der Erfindungen.677

671 Vgl. hierzu auch Kapitel Intervention – Das Recyclingvideo als »ikonoklastische Wiederholung«. 672 Tarde (1908): Die sozialen Gesetze, S. 51. 673 Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 19. 674 Tarde, Gabriel (1999; 1895): La logique sociale, Paris: Les Empêcheurs de penser en rond / Institut Synthélabo, S. 122. 675 Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 17. Hervorhebung im Original. 676 Tarde (1999): La logique sociale, S. 272. 677 Borch; Stäheli (2009): Einleitung, S. 18.

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Auf die Videoplattformen übertragen würde dies bedeuten, dass Chris Crocker ein solches Genie sein könnte, gewissermaßen handelt es sich bei ihm dann um einen inventions-père. Dieser Status ist zunächst nichts Besonderes, denn jeder, der einen Videoclip veröffentlicht, könnte ihn erreichen. Auch Crocker hat verschiedene Videoclips erstellt, doch nur einer davon hatte einen durchschlagenden Erfolg; erst LEAVE BRITNEY ALONE! hat einen Nachahmungsstrom in Gang gebracht. Es ist dabei unerheblich, ob sich die Nachahmungen kritisch oder affirmativ äußern, denn alle tragen einen Rest Crockers weiter, eine restance seines ursprünglichen Videos, seines ursprünglichen Begehrens, seiner ursprünglichen Idee. Vielleicht ist die große Aufmerksamkeit für LEAVE BRITNEY ALONE! damit zu erklären, dass es Crocker gelang, verschiedene Ideen, Diskurse oder Erfindungen in seinem Clip zu verknüpfen, etwa 1. die (damals) aktuelle Diskussion um Britney Spears, ihre Performance und ihr Privatleben mit 2. einem generellen Gender-Diskurs mit Fragen über männlich/weiblich konnotiertes Aussehen und Auftreten mit 3. der Problematik um Homosexualität in einem intoleranten Umfeld und 4. dem bereits in Literatur, Film und Fernsehen etabliertem Motiv der damsel in distress, des (zumeist) blonden, hilflosen Mädchens (in diesem Fall von ›gender blender‹ zur Überraschung einiger jedoch ein Junge), das tränenreich (und mit verlaufener Schminke) sein Leid klagt und auf Rettung hofft – in Bezug auf den letzten Punkt könnte das Standbild aus Chris Crockers Videoclip (Abb. 4) sogar als didcap (›damsell in distress‹ capture) charakterisiert werden. Die ihn parodierenden Nachahmer haben dann im Grunde genommen nichts anderes gemacht, auch sie haben den von ihm in Gang gesetzten »Nachahmungsstrahl« mit weiteren Ideen kombiniert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die bereits für die Parodie wesentlichen Kriterien auf andere Formen der Nachahmung übertragen werden können: Die Wiederholung wird als Wiederholung mit Differenz verstanden – das Element der Differenz birgt dabei ein schöpferisch-innovatives und auch subversives Potential. Die Wiederholung verweist auf ein Original, sie bringt deshalb immer eine affirmative Re-Inskription dieses Originals mit sich. Tarde schließlich interpretiert den einzelnen Nachahmungsakt als Teil einer weit verzweigten Dynamik, die in strukturierenden Effekten den Merkmalen Einzelner eine Gelegenheit bietet, sich in vereinfachter Wiederholung auf eine größere Ebene einzubringen, um so letztlich Gesellschaft zu konstituieren. Er weist darauf hin, dass zwar sowohl bewusste als auch unbewusste Motive bei der Nachahmung eine Rolle spielen, dass diese Unterscheidung letztlich aber nicht wesentlich ist, da die bewussten Motive zu vernachlässigen sind. Ebenso zu vernachlässigen ist – so Tarde – das gemeinhin als ›Nachahmung‹ verstandene Kopieren von Äußerem, denn dieses ist nur ein Symptom bereits zuvor verinnerlichter Wünsche und Überzeugungen. Die Wiederholung als »Widerholung mit Differenz« bringt laut Tarde zwangsläufig das Potential zu Erfindungen mit sich. Diese sind jedoch nicht völlig neu, sondern Rekombinationen bereits vorhandener Nachahmungsstränge.

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Tardes Überlegungen haben in vielerlei Hinsicht neue Perspektiven auf die Nachahmung im Allgemeinen eröffnet. Dennoch sollte dem parodistischen Video als Sonderfall der Nachahmung noch etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Schließlich kann die Entscheidung, ein parodistisches Video zu erstellen durchaus im Affekt, aus einer Art unbewusster Hass-Liebe getroffen werden – der organisatorische Aufwand jedoch, den es selbst bei einfachster Technik braucht, um einen Videoclip zu produzieren, spricht hingegen für eine gewisse Vorbereitung und Überlegung. Es scheint daher lohnenswert, den Aspekt der bewusst nachahmenden Produktion, der missbräuchlichen Anwendung von vorgefundenen Mustern sowie den damit verbundenen Intentionen und Motivationen der Nutzer näher zu analysieren. Unter dieser Fragestelltung soll im Folgenden das Phänomen der chinesischen Shanzhai-Subkultur (die Herstellung von Produktimitaten) in einen Zusammenhang mit dem Begriff der Nachahmung und den auf den Videoplattformen im Internet ablaufenden Prozessen gestellt werden.

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” Õ ° _ – Shanzhai-Subkultur Gabriel Tarde definiert Nachahmung als einen alltäglichen Vorgang, der für das soziale Miteinander von essentieller Bedeutung ist. Erfindungen erscheinen damit als Verknüpfung bereits vorhandener Ideen, d.h. als Ergebnis und Ausgangspunkt eines Nachahmungsstrahls (rayonnement imitatif). Tardes Bild des Stammbaums der Erfindungen (arbre généalogique des inventions) impliziert außerdem, dass es sich um einen organischen, natürlichen Prozess handelt. Auch Walter Benjamin betont die Natürlichkeit und Notwendigkeit des Produzierens von Ähnlichkeiten: »Die Natur erzeugt Ähnlichkeiten; man braucht nur an die Mimikry zu denken. Die allerhöchste Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten aber hat der Mensch. Ja, vielleicht gibt es keine seiner höheren Funktionen, die nicht entscheidend durch mimetisches Vermögen bestimmt ist.«678

Es gibt jedoch ein Gebiet, das mit dem Schaffen von Ähnlichkeiten, dem Nachahmen, dem Imitieren auf Kriegsfuß steht, und zwar die Wirtschaft. Wohl auf kaum einer anderen Ebene der »höheren Funktionen« menschlichen Daseins widerspricht das tatsächliche Handeln dem bisher skizzierten Verständnis des Phänomens der Nachahmung so eklatant: Nicht nur, dass die Leistungen der Vorgänger auf denen man aufbaut totgeschwiegen werden, noch dazu versucht man mit allen Mitteln zu verhindern, dass Nachahmungen, billige Imitate oder »Fakes« 679 der eigenen Produkte geschaffen werden. Trotz diverser Anstrengungen hat sich Produktpiraterie jedoch als weit verbreitetes, hartnäckiges und darüber hinaus noch in seinem Umfang zunehmendes Phänomen erwiesen, das laut einer Studie der OECD vom Umsatz her das Bruttoinlandsprodukt ganzer Volkswirtschaften übersteigt. 680

678 Benjamin (1933): Lehre vom Ähnlichen, S. 204. 679 In der Kunst wird dies durch die Strategien des »Fake« thematisiert. Vgl.: Römer, Stefan (2001): Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung. Köln: DuMont. Becker, Andreas; Doll, Martin; Wiemer, Serjoscha; Zechner, Anke (2008): Mimikry. Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kultur. Schliengen: Edition Argus. 680 OECD (2007): The Economic Impact of Counterfeiting and Piracy. Executive Summary, S. 16. ‹www.oecd.org/dataoecd/13/12/38707619.pdf› [2. Mai 2011].

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Nachahmung als wirtschaftliches Phänomen Wo Wirtschaft ist, da sind auch Zirkulation und Tausch, diese aber bringen Nachahmung mit sich. Nachahmung ist folglich so alt wie das Wirtschaften selbst. Bereits in der Antike wurden erfolgreiche Handelsgüter, etwa attische Keramik nachgeahmt: »Obgleich die wirtschaftliche und politische Bedeutung Attikas im 4. Jahrhundert gesunken war, beherrschte auch jetzt noch die gute Qualität der attischen Töpferwaren als Import, Nachahmung oder in Form von Stilvarianten die Märkte außerhalb Attikas.«681 Nachgeahmt zu werden ist einerseits eine Ehrerbietung, weist das Imitiert-Werden doch auf einen Vorbildcharakter hin. Tatsächlich aber birgt die Praxis des Nachahmens für die Produzenten der Originale eine doppelte Gefahr: Nicht nur verlieren sie Marktanteile an nachahmende und meist noch billiger produzierende682 Konkurrenten, die Kunden können darüber hinaus durch qualitativ minderwertige oder sogar gefährliche, von den Originalen kaum zu unterscheidende Imitate verunsichert werden und sich insgesamt von den Produkten abwenden – im Extremfall geraten sogar ganze Regionen in Verruf.683 Besonders die Hersteller von Luxusgütern versuchen daher, ihre Produkte vor Nachahmung zu schützen. Der Wirtschaftshistoriker Carlo Poni beschreibt am Beispiel der Lyoner Fabrikanten von Seidenstoffen, wie diese sich im 18. Jahrhundert durch die immer schnellere Entwicklung von Moden vor Imitationen z.B. aus England schützten: »In order not to incur a defeat on the market at the hands of a differentiated product, the English merchants preferred to imitate the French products, with the result that they were left with the residual share of the market (a certain amount of time was needed in order to examine the fabrics which were to be copied, prepare the looms, imitate the dyes, train the weavers and so on). But as soon as the British entrepreneur began to reproduce the new fabric, ›another fashion comes from France,‹ and so the game began again.«684

681 Schäfer, Jörg (1968): Hellenistische Keramik aus Pergamon. Berlin: Walter de Gruyter & Co., S. 8. Für diesen Hinweis danke ich Bettina Reichardt, die an der Universität Wien zum Thema Menschen und Mischwesen. Studien zur ostgriechischen Ikonographie archaischer Zeit promoviert. 682 Für eine günstigere Produktion muss das Imitat nicht notwendigerweise qualitativ schlechter, bzw. aus minderwertigen Rohstoffen hergestellt sein. Die Nachahmer sind meist vor Ort und sparen deshalb Transportkosten ein, zudem brauchen sie nicht in Design, Forschung und Entwicklung zu investieren. 683 Chakraborty, Goutam; Allred, Anthony T.; Bristol, Terry (1996): Exploring Consumers’ Evaluations of Counterfeits. The Roles of Country of Origin And Ethnocentrism, in: Advances in Consumer Research Volume 23 1996, Provo: Association for Consumer Research, S. 379-384. ‹http://www.acrwebsite.org/volumes/display.asp?id=7986› [2. Mai 2011]. 684 Poni, Carlo (1997): Fashion as flexible production. The strategies of the Lyon silk merchants in the eighteenth century, in: Sabel, Charles F.; Zeitlin, Jonathan (Hg.): World of

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Man könnte sagen: Die Mode ist das, was der Nachahmung davon läuft: Innovation und Imitation als Schwestern beim Fangen spielen. Doch wie beim Fangen ändern sich die Rollen schnell. Bereits in den 1780er Jahren sollten englische Baumwollstoffe Versailles erobern685 , was die Lyoner Fabrikanten in eine tiefe Krise stürzte und Seidenstoffe bis heute marginalisierte. Kaum ein Jahrhundert später aber litt Großbritannien, der Gewinner der Industrialisierung, selbst unter Imitaten und Plagiaten – aus Deutschland.686 Der Historiker Sebastian Conrad weist darauf hin, dass die Globalisierung der Gütermärkte nicht nur zu Entgrenzung führte, sondern gleichzeitig auch zu einer Re-Lokalisierung.687 In der Praxis bedeutete dies, dass deutsche Imitate englischer Waren diesen auf ihrem Heimatmarkt Konkurrenz machten, und das auch noch unter falschem englischen Herkunftsnachweis688 – zum Beispiel mit, laut Kennzeichnung, angeblich aus Sheffield stammenden Scheren und Messern. Um der »üblichen deutschen Betrügereien« (»the usual German skullduggery«689 ) Herr zu werden, wurden die Ergebnisse zweier internationaler Konferenzen in Paris (1883) und Rom (1886) in Großbritannien schließlich in nationales Recht umgesetzt. Der 1887 in Kraft getretene Merchandise Marks Act schrieb eine ordnungsgemäße Kennzeichnung der Herkunft industriell gefertigter Produkte vor. Doch, so stellt Conrad fest: »Was allgemein formuliert war, ließ sich unschwer als eine Maßnahme gegen deutsche Konkurrenz erkennen. Deutsche Produkte galten bis dato in Großbritannien als billige und schlechte Imitation britischer Waren. Zudem hatte sich Deutschland 1883 geweigert, ein internationales Abkommen gegen falsche Herkunftsbezeichnungen (etwa ›Sheffield made‹) zu unterzeichnen. Der ›Merchandise Marks Act‹ sorgte dafür, daß wieder als deutsch bezeichnet wurde, was sich international – oder schlimmer noch: britisch – gab.«690

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Possibilities. Flexibility and Mass Production in Western Industrialization. Cambridge: Cambridge University Press, S. 37-74, hier S. 42. Ebd. S. 72. Vgl.: Kiesewetter, Hubert (1997): Aspekte der industriellen Rivalität zwischen England und Deutschland im 19. Jahrhundert (1815-1914), in: Gerhard, Hans-Jürgen (Hg.): Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold. Band 2: Neunzehntes und Zwanzigstes Jahrhundert. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 31-49, hier S. 42f. Conrad, Sebastian (2006): Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. München: C.H. Beck, S. 279. Pollard, Sidney (1984): Die europäische Industrialisierung, in: Dascher, Ottfried (Hg.): »Mein Feld ist die Welt«. Musterbücher und Kataloge, 1784-1914. Dortmund: Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv, S. 17-22, hier S. 19f. Tweedale, Geoffrey (1995): Steel city. Entrepreneurship, strategy, and technology in Sheffield 1743-1993. Oxford: Clarendon Press, S. 270. Conrad (2006): Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 279.

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Der Merchandise Marks Act ist ein bis dato beispielloses Regelwerk, das sämtliche Problemfälle wie das Ausnutzen eventueller Mehrdeutigkeiten auszuräumen sucht (etwa gleiche Ortsbezeichnungen in den USA und Großbritannien). Zudem gilt ein Produkt bereits als Nachahmung, wenn »ausreichende Ähnlichkeit« zum Original besteht, es muss sich folglich keineswegs um eine exakte Kopie handeln: »An exact resemblance or fac-simile is not required to constitute the crime of forgery; for if there be a sufficient resemblance to show that a false marking was intended, and that the false stamp is so used as to have an aptitude to deceive, it is sufficient to bring it under the Act.«691

Doch der Merchandise Marks Act dämmte den Siegeszug deutscher Produkte nicht ein, ganz im Gegenteil entwickelte sich Made in Germany allmählich zum Gütesiegel, und damit von einer Stigmatisierung zum Prädikat692 – inzwischen gilt es sogar als lieux de mémoire.693 Angesichts dieser Entwicklung schürten Bücher wie das 1896 in mehrfacher Auflage erschienene und den britischen Händlern und Herstellern gewidmete Made in Germany von Ernest Edwin Williams Ängste vor dem wirtschaftlichem Niedergang.694 Williams pathetisch-patriotische Abhandlung wies darüber hinaus darauf hin, dass offenbar ein nationales Selbstverständnis verletzt wurde; und zwar ein Selbstverständnis, das Großbritannien als Universal Provider begriff, der die Welt mit seinen Waren – und damit einhergehend: (seiner) Zivilisation – beglückt: »English machinery, English pottery, English hardware, guns, and cutlery, English rails and bridge-work, English manufactures of well-nigh every kind formed the material of civilisation all over the globe.«695 Deutschland hingegen war für Williams ein Newcomer, der das etablierte Rollenverständnis unter dem Schutz protektionistischer Maßnahmen und staatlicher Subventionen umkehrt:

691 Payn, Howard (1887): The Merchandise Marks Act 1887 with special reference to the Importation Sections and the Customs Regulations & Orders Made Thereunder, together with the Conventions with Foreign States for Protection of Trade Marks and Orders in Council under the Patents, Designs and Trade Marks Act, 1883, etc. London: Stevens and Sons, S. 15. 692 Vgl.: Pollard, Sidney (1987): »Made in Germany« – die Angst vor der deutschen Konkurrenz im spätviktorianischen England, in: Technikgeschichte 53, S. 183-195. Haucap, Justus; Wey, Christian; Barmbold, Jens F. (1997): Location Choice as a Signal for Product Quality. The Economics of »Made in Germany«, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, Nr. 153, September 1997, S. 510-531. 693 Vgl.: Umbach, Maiken (2001): Made in Germany, in: François, Etienne; Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. München: C.H. Beck Verlag, S. 405-418. 694 Vgl.: Saxonhous, Gary (2006): The Integration of Giants into the Global Economy, in: American Enterprise Institute for Public policy Research. Nr 1/2006, S. 1-11, hier S. 3. 695 Williams, Ernest Edwin (1896): Made in Germany. London: William Heinemann, S. 7. Das Buch erschien im gleichen Jahr bereits in deutscher Übersetzung: Williams, Ernest Edwin George (1896): »Made in Germany«. Der Konkurrenzkampf der deutschen Industrie gegen die englische. Dresden: C. Reissner.

284 | U NDERSTANDING Y OU T UBE »Up to a couple of decades ago, Germany was an agricultural State. Her manufactures were few and unimportant; her industrial capital was small; her export trade was too insignificant to merit the attention of the official statistician […]. Now she has changed all that. Her youth has crowded into English houses, has wormed its way into English manufacturing secrets, and has enriched her establishments with the knowledge thus purloined.«696

Die sich hier bereits 1896 abzeichnenden Topoi der subversiven Unterwanderung und des Ausnutzens von Vertrauensverhältnissen, um Produktionsgeheimnisse zu stehlen, erinnern frappant an heutige Rhetoriken, nur dass die Nachahmungen nicht mehr aus Deutschland kommen, sondern aus der VR China.697 So tritt das Land, dem einst u.a. das Wissen um die Aufzucht von Seidenraupen und die Herstellung von Porzellan gestohlen wurde, die Nachfolge an von Nationen wie Japan, deren Image sich vollständig gewandelt hat: Einst Ursprungsland billiger Imitate 698, nun Quelle von Innovation (Just-In-Time699, Kaizen 700). Doch obwohl das Phänomen der Nachahmung alles andere als neu ist und die Rollen oft getauscht wurden und werden, gilt die Imitation eines Produkts grundsätzlich nicht nur als qualitativ minderwertig, sondern darüber hinaus als Indikator für das Fehlen eigener kreativer und intellektueller Leistungen. Im Zentrum der nachfolgenden Analyse steht deshalb ein Verständnis von Imitation und Nachahmung, das ein Gegenmodell zu bisherigen Interpretationen entwirft und althergebrachte Sichtweisen als westlichen Blick, als Konstruktion des Anderen (Othering)701 erscheinen lässt.

696 Ebd. S. 9. 697 Vgl. z.B.: Dahlkamp, Jürgen; Rosenbach, Marcel; Schmitt, Jörg; Stark, Holger; Wagner, Wieland (2007): Prinzip Sandkorn, in: Der Spiegel Nr. 35/2007 mit dem Titelthema Die gelben Spione. Wie China deutsche Technologie ausspäht, S. 18-34. 698 Vgl.: Patente. Innen Anders, in: Der Spiegel Nr. 32/1958, S. 22-23. 699 Vgl.: Ohno, Taiichi (1988), Just-In-Time for Today and Tomorrow. Cambridge Mass: Productivity Press. Majima, Ichiro (1994): JIT. Kostensenkung durch Just-In-Time Production. München: Wirtschaftsverlag Langen Müller / Herbig. 700 Vgl.: Imai, Masaaki (1992): Kaizen. Der Schlüssel zum Erfolg der Japaner im Wettbewerb. München: Wirtschaftsverlag Langen Müller / Herbig. 701 Vgl.: Kerstin Gernig (2001): Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen. Berlin: Dahlem University Press.

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Shanzhai: Produktimitation als bottom-up Bewegung Um das Jahr 2002702 verbreitete sich in der VR China eine Art der Nachahmung, die sich von bisherigen Formen der Produktimitation derart unterschied, dass auch auf der sprachlichen Ebene eine neue Bezeichnung für das Phänomen gefunden werden musste: »Shanzhai« (”Õ – pinyin: sh†nzhài). Dieser Begriff hat dabei weder etwas mit der ähnlich klingenden Stadt Schanghai (–X – pinyin: Shàngh‡i) zu tun, noch handelt es sich um eine neue Wortschöpfung. Shanzhai setzt sich aus den beiden Zeichen ” für »Berg« und Õ zusammen, wobei das zweite Zeichen ursprünglich eine für Verteidigungszwecke genutzte Barrikade bzw. Palisade bezeichnete, heute aber so viel wie »Dorf« bedeutet.703 Im Deutschen wird Shanzhai daher meist als »Bergdorf« bzw. seltener als »Gebirgsdorf«704 übersetzt, wobei jedoch ein bestimmter Sinngehalt der ursprünglich drei Bedeutungsebenen verloren geht: 1. Ein durch Zäune oder ähnliche Befestigungsanlagen gesichertes Bergdorf 2. Ein Bergdorf im Allgemeinen 3. Ein in alter Zeit von Räubern in den Bergen errichtetes Lager705

Im allgemeinen Sprachgebrauch hielt sich nur die mittlere Bedeutung, doch wie der Literatur- und Sprachwissenschaftler Sun Xiaoxuan (¥µ¾) bemerkt, hat die dritte Bedeutungsebene in der neuen Verwendung des Begriffs »Shanzhai«, d.h. in seiner Verwendung in Bezug auf Produktimitationen, eine unverhoffte Renaissance erlebt.706 Das Räuberlager in den Bergen impliziert einen Ort, der abgelegen, ver-

702 Fei, Jiang (2009): Game Between »Quan« and »Shi«: Communication Strategy for »Shanzhai« Subculture in China Cyber Space, S. 3. ‹http://www.scribd.com/doc/15919 031/Fei-Jiang-Chinese-Shanzhai-Culture-Studies› [1. Mai 2011]. 703 Xiaoxuan, Sun (¥µ¾) (2010): Wortschatzentwicklung am Beispiel des Begriffs »Shanzhai« (2”Õ¹Ås0bCÖ), in: Journal of Shandong Normal University (”>œF4¿¿#), Vol. 55, No. 2, General No. 229, 2010, S. 52-55, hier S. 52. Siehe die Übersetzung des Artikels im Anhang der vorliegenden Arbeit. 704 Vgl.: Wu, Xiujie (2010): Verfälschen als Zeichensetzen. Die Shanzhai-Bewegung, in: Flitsch, Mareille; Henningsen, Lena; Isler, Andreas; Wu, Xiujie (Hg.): Die Kunst des Verfälschens. Ethnologische Überlegungen zum Thema Authentizität. Supplement zur Ausstellung Die Kunst des Fälschens – untersucht und aufgedeckt des Museums für Asiatische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, 29.1.–30.5.2010 im Völkerkundemuseum der Universität Zürich. Zürich: Völkerkundemuseum der Universität Zürich, S. 3747, hier S. 38. 705 Ebd. Siehe auch den entsprechenden Eintrag im Großen Chinesischen Wörterbuch (Ó4Ì