Ortung - die multimediale Vermessung eines Militärstandortes: Postmoderne Geschichtsschreibung im Dokumentarfilm [1. Aufl.] 9783839431146

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Ortung - die multimediale Vermessung eines Militärstandortes: Postmoderne Geschichtsschreibung im Dokumentarfilm [1. Aufl.]
 9783839431146

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Zum Projekt Ortung
Inhaltliches
Persönliches
Stetten a.k.M. und TrÜbPl Heuberg – ein historischer Überblick
Teil 1: Erzählungen, Geschichten, Dokumente
Die Einrichtung des Truppenübungsplatzes
Erster Weltkrieg
Zwischenkriegszeit
Nationalsozialismus
Nachkriegszeit
Französische Besatzung (1945-1959) und Garnison (1960-1997)
Afghanistan, 2001 – heute
Bundeswehrreform 2011
Teil 2: Geschichte im Film – der Film Ortung
Einleitung
1. Von Historiographie zu Historiophotie: Geschichtsschreibung im Film
2. „Historiophotologie“ – Ansätze und Überlegungen zu einer Geschichtsfilmtheorie
3. Film als kritische Geschichtsschreibung
4. Analyse des Films Ortung
Schluss
Quellen, Literatur und Abbildungen
Anhang
I. Transkript Ortung (2012)
II. Szenenprotokoll

Citation preview

Kathrina Edinger Ortung – die multimediale Vermessung eines Militärstandortes

Film

Kathrina Edinger (M.A.) studierte Geschichte und Germanistik an der LMU München mit kulturgeschichtlichem Schwerpunkt in der Zeitgeschichte. Sie arbeitet als freie Journalistin, Publizistin und Filmemacherin in München.

Kathrina Edinger

Ortung – die multimediale Vermessung eines Militärstandortes Postmoderne Geschichtsschreibung im Dokumentarfilm

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. Unterstützt von der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Eduard Stürmer, Truppenübungsplatz Heuberg, 2011 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3114-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3114-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

von Martin Zimmermann | 7 Zum Projekt Ortung | 11 Inhaltliches | 15 Persönliches | 17 Stetten a.k.M. und TrÜbPl Heuberg – ein historischer Überblick | 19 Teil 1: Erzählungen, Geschichten, Dokumente | 23

Die Einrichtung des Truppenübungsplatzes | 23 Erster Weltkrieg | 25 Zwischenkriegszeit | 33 Nationalsozialismus | 37 Nachkriegszeit | 63 Französische Besatzung (1945-1959) und Garnison (1960-1997) | 75 Afghanistan, 2001 – heute | 81 Bundeswehrreform 2011 | 83 Teil 2: Geschichte im Film – der Film Ortung |  93 Einleitung | 93

1. Von Historiographie zu Historiophotie: Geschichtsschreibung im Film | 108 2. „Historiophotologie“ – Ansätze und Überlegungen zu einer Geschichtsfilmtheorie | 121 3. Film als kritische Geschichtsschreibung | 134 4. Analyse des Films Ortung | 174 Schluss | 204 Quellen, Literatur und Abbildungen | 213  Anhang |  225

I. Transkript Ortung (2012) | 225 II. Szenenprotokoll | 253

Vorwort

Mit diesem Buch kommt ein bemerkenswertes Projekt der Gerda Henkel Stiftung zum Abschluss, das eine lange und verschachtelte Vorgeschichte hat, die hier kurz nachgezeichnet werden soll. Die Stiftung fördert entsprechend ihrer Satzung in ihrem Programm vornehmlich wissenschaftliche Arbeiten der Geschichts- und Kunstwissenschaften. Sie gehört in der Bundesrepublik zu den kleinen, aber aufgrund der außerordentlich kompetitiven Auswahlverfahren sehr angesehenen Adressen für diese Sparte der Wissenschaftsförderung. Parallel zur Unterstützung von traditionellen wissenschaftlichen Arbeiten ist seit rund zehn Jahren in der Stiftung verstärkt auch darüber nachgedacht worden, wie die wissenschaftliche Forschung in anderen Medien als Fachbüchern bekannt gemacht werden kann. Da die digitale Vermittlung einen besonderen Stellenwert in der heutigen Zeit einnimmt, entstanden früh Pläne, eine besondere Website der Stiftung neben der Homepage zu initiieren, die ohne kommerzielle Interessen das wissenschaftliche Oeuvre der Stiftungsförderung bekannt macht, aber auch ein Forum bietet, wissenschaftliche Vorträge, Tagungen und Themen in Interviews einer interessierten Netzgemeinde zu vermitteln.1 Parallel zu dem Webprojekt wurde in Beirat und Kuratorium der Stiftung darüber nachgedacht, in welcher Form die wissenschaftliche Forschung in traditionellen Medien wie dem Film einem breiteren Publikum bekannt gemacht werden kann. So entstand zunächst die Idee, dass die geförderten Projekte sich selbst bei der Arbeit filmisch begleiten. Die Stiftung stellt seit einigen Jahren hierfür interessierten Projektleitern das nötige technische Equipment bereit und kooperierte mit einer Produktionsfirma, um die visuelle Präsentation wissenschaftlicher Arbeit professionell aufzubereiten. Die Ergebnisse zeigten jedoch leider, wie schwierig die Zusammenführung von publikumswirksamer Filmsprache und Forschungsarbeit der Wissenschaftler ist.

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Die im Zuge dieser Überlegungen entstandene Website namens L.I.S.A feiert in diesem Jahr ihren 5. Geburtstag (http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de).

8 | O RTUNG

Aus diesen Erfahrungen ergaben sich in der Stiftung grundlegende Diskussionen über die Frage, ob historisches Arbeiten, ja, ob ‚Geschichte’ in Filmen aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt adäquat abgebildet oder wiedergegeben werden kann, und welches Format eine solch „adäquate“ Weise einnehmen könnte. Neben den Problemen, die reine Historienfilme in Hollywood, aber auch in heimischen Produktionen mit sich bringen, sorgten viele Fernsehproduktionen, wie Dokumentationen zur deutschen Geschichte, für großen Unmut unter den Fachkollegen. Diese Produktionen hatten mit den wissenschaftlichen historischen Forschungen selbst oft wenig zu tun, auch wenn beteiligte und im Rahmen der Sendungen interviewte Wissenschaftler dies erst im Nachhinein realisierten. Im November 2009 initiierte die Gerda Henkel Stiftung daher im Auswärtigen Amt eine Podiumsdiskussion zum Thema Film und Geschichte. Der Moderator Rainer Wirtz brachte den Journalisten Ulrich Kriest (Stuttgart), den Dokumentarfilmregisseur Thomas Heise (damals Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe, heute Professor an der Akademie in Wien), den Schauspieler Mathias Herrmann und mich (Professor für Alte Geschichte an der LMU, München) als Mitglied des Beirats der Henkel Stiftung an einen Tisch, um über das Thema Film und Geschichte zu sprechen. Aus diesen Diskussionen heraus entstand zwischen Thomas Heise und mir die Idee, Film- und Geschichtsstudenten in einem gemeinsamen Projekt zusammenzubringen. Es sollte ein Film entstehen, der Geschichte im Film in neuartiger Weise präsentiert. Wir beide wollten als Historiker und Filmregisseur die Studenten aussuchen und das Projekt gemeinsam begleiten. Einbezogen wurde maßgeblich auch Margit Szöllösi-Janze, die 2010 als neue Münchner Lehrstuhlinhaberin für Zeitgeschichte an der LMU eine Medienstelle eingerichtet hatte, in der die Autorin dieses Buches arbeitete. Das Außergewöhnliche an dem Vorhaben sollte sein, dass Filmstudierende und Geschichtsstudierende gemeinsam an diesem Projekt arbeiten. Erstere sollten die Historiker für die Bildsprache des Mediums Film und die Probleme des Filmens selbst sensibilisieren, letztere sollten den künstlerisch arbeitenden Filmemachern die Probleme historische Archivrecherche und Forschung vermitteln. Die Stiftungsgremien konnten angesichts dieser sehr interessanten Konstellation überzeugt werden, eine namhafte Summe Geldes zur Verfügung zu stellen, um den Studenten ein Projekt zu finanzieren, in dem ohne jegliche Vorgaben von Seiten des Geldgebers ein historischer Stoff filmisch aufgearbeitet werden sollte. Ein wahrlich ungewöhnliches und im Rahmen sonstiger Filmfinanzierung außergewöhnliches Experiment! Insbesondere der Vorsitzenden der Gerda Henkel Stiftung, Julia Schulz-Dornburg, sei für ihre großes Interesse und die Unterstützung durch die Stiftung gedankt.

V ORWORT

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Das Ergebnis Ortung kann sich sehen lassen und ist mittlerweile mehrfach preisgekrönt. Dieses Buch nun bringt, wie eingangs erwähnt, das Projekt zu einem vorläufigen Ende. Ich denke, das Ergebnis sowohl im Film als auch im Buch kann sich sehen lassen und als wichtiger und anregender Beitrag zum Thema Film/Geschichte geschaut und gelesen werden. Martin Zimmermann, New York, im Februar 2015

Zum Projekt Ortung

Ortung – ursprünglich nur als Arbeitstitel eines Filmprojekts gedacht – steht heute für den Versuch einer multimedial dokumentarischen Vermessung eines Ortes und dessen Vergangenheit. Ihr Gegenstand ist die 100-jährige Geschichte des Dorfes Stetten am kalten Markt und des Militärstandorts „Heuberg“. Die gemeinsame Vergangenheit ist eine Zeit von moralischen, sozialen, ökonomischen und militärischen Konflikten und Allianzen. Seit über einem Jahrhundert ist das Militär dort der größte Arbeitgeber. Im Zentrum des Projekts stehen Menschen, die sich nicht alle begegnen, aber Räume und Zeiten teilen und durch das Konzept, das man „Geschichte“ nennt, miteinander verbunden sind. Alltag, Tagebücher, Tagesbefehle, Briefe, Vergessenes, Erinnertes und Fotografien erzählen eine Geschichte. Einen Teil der deutschen Geschichte. Das Projekt Ortung versucht sich an verschiedenen Betrachtungsperspektiven und Medientypen. Teils experimentell, journalistisch oder wissenschaftlich kann und soll keine der Erzählformen eine abgeschlossene Interpretation liefern, sondern mit den Möglichkeiten von (historischen) Stoffen und ihrer multimedialen Aufbereitung experimentieren. Seinen Ursprung nahm Ortung in der Initiative der Gerda Henkel Stiftung, in Zusammenarbeit mit dem Professor der alten Geschichte am Historischen Seminar der LMU München, Prof. Dr. Martin Zimmermann, und dem Dokumentarfilmer und damalig Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Thomas Heise. Im Rahmen eines interdisziplinären Projekts sollten Studierende der Geschichte und des Dokumentarfilms an einer adäquaten filmischen Darstellung von Geschichte arbeiten. Im Oktober 2010 wurde hierfür ein siebenköpfiges Team von drei Dokumentarfilmstudent und vier Historiker1 zusammengestellt.2

1

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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Ziel des Projektes war es, Studierenden die Möglichkeit zu geben, unabhängig von gängigen wissenschaftlichen oder journalistischen Arbeitsweisen eigene Ideen und Strategien zu entwickeln. Nach einer etwa fünfmonatigen Phase der Themensuche fiel die Entscheidung Anfang 2011 auf den Ort Stetten am kalten Markt (Baden-Württemberg) und den dort ansässigen Truppenübungsplatz „Heuberg“ als Gegenstand des geplanten Films. Die Idee der Studierenden war es, sich einem lokal begrenztem Thema aus möglichst unterschiedlichen Richtungen zu nähern. Darüber hinaus war die Geschichte des Ortes zu dem Zeitpunkt kaum wissenschaftlich erforscht und daher historiographisches, aber auch filmisches „Neuland“. Lediglich die Geschichte des Konzentrationslagers im Lager Heuberg im Jahr 1933, welches später im KZ Oberer Kuhberg aufging, war zum damaligen Zeitpunkt quellenkritisch untersucht worden. Durch eigene Archivarbeit im Gemeindearchiv in Stetten a.k.M., dem Kreisarchiv und Staatsarchiv in Sigmaringen, dem Militärarchiv in Freiburg, Bundesarchiv in Berlin und dem Tagebucharchiv in Emmendingen erschloss sich dem Team zunehmend ein facettenreiches Bild der letzten 100 Jahre des Garnisonsstandorts. Ein zentraler Aspekt der Aufarbeitung war nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus, sondern darüber hinaus die Militärgeschichte, die mit der gegenwärtigen Nutzung des Truppenübungsplatzes durch die Bundeswehr eine besondere Aktualität enthielt. Insgesamt 70 Tage dauerten die Drehphasen im Herbst und Winter 2011/2012. Um einen möglichst intensiven Kontakt mit den Menschen Vorort aufbauen zu können, bezogen die Teammitglieder für den Drehzeitraum ein von der Gemeinde zur Verfügung gestelltes ehemaliges Kasernengebäude. Dadurch verbrachten sie nicht nur ihre „Arbeitszeit“, sondern auch ihre Freizeit fast ausnahmslos auf dem Heuberg und waren in der Lage, über die Dreharbeiten hinaus als „Dorfbewohner auf Zeit“ Erfahrungen zu machen. Schwierigkeiten für eine thematische Schwerpunktsetzung bestanden zunächst vor allem deshalb, weil die Geschichte des Ortes und des Truppenübungsplatzes nur teilweise in einer Dorfchronik und Broschüren dokumentiert ist. Da der Anspruch des Teams jedoch darin lag, nicht bereits erschlossene Sachverhalte unkritisch zu reproduzieren, sondern die Dreharbeiten und Recherchen zur Schaffung und Auswertung von neuen Quellen zu nutzen, entstand eine intensive Auseinandersetzung mit zahllosen Akten und Dokumenten, deren „Geschichten“ und Abbildbarkeit mit Film getestet werden mussten. Mithilfe von Interviews, Alltags- und Arbeitsbeobach-

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Eduard Stürmer, Marco Kugel, Serpil Turhan (HfG Karlsruhe); Kathrina Edinger, Johannes Friedl (LMU München); Nina Mirza, Helena Maria Körner (Universität zu Köln).

Z UM P ROJEKT O RTUNG

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tungen wurde Bild- und Tonmaterial geschaffen, das für sich alleine oder in Ergänzung zu Archiv- oder Egodokumenten als Material für den Film dienen sollte. Dabei gaben vor allem private Aufzeichnungen, wie Tagebücher und Briefe, ganz besonderen Aufschluss über die Vergangenheit Stettens a.k.M. Während der Schnittphase ab Juni 2012 bestand die Aufgabe schließlich darin, eine eigene Erzählung der Geschichte des Heubergs zu schaffen, die keine allgemeingültige Interpretation diktiert. Das Ziel war es nicht, einen vermeintlich „objektiven“ Film zu schaffen, sondern verschiedene konkurrierende Sichtweisen angemessen zum Ausdruck zu bringen. Hierin lag tatsächlich ein großer Teil der geschichtswissenschaftlichen Arbeit: Jedes Bild, jeder Schnitt und jeder geschaffene Kontext musste nach seiner Intention und Wirkung befragt werden. Im Oktober 2012 waren der Schnitt und die Postproduktion des Films schließlich abgeschlossen. Das Ergebnis ist eine 92-minütige Betrachtung nicht nur der Geschichte, sondern auch der Gegenwart des Heubergs. Nach einigen Aufführungen3 und sehr erfreulichen Auszeichnungen4, beendeten Studienjahren und weiteren beruflichen Verpflichtungen der Teammitglieder schien Ortung nach und nach abgeschlossen. Der Film blieb ein fragmentarisches Experiment ohne maßgebliche künstlerische Agenda. Viele Ansätze und Ideen waren im Laufe der Produktion aufgenommen und wieder verworfen worden. Andere Perspektiven auf die Geschichte des Heubergs konnten von Anfang an nicht näher verfolgt werden. Gerade deshalb schien es mir und Eduard Stürmer, der nicht nur inhaltlich, sondern vor allem technisch hinter der Kamera und im Schnitt die größte Leistung am Projekt erbracht hatte, notwendig, die aufgegriffenen Ideen in einer anderen Form weiterzuverfolgen. Dank des Vertrauens eines Redakteurs des Südwestrundfunks konnte so im Sommer 2014 aus den im Rahmen der Dreharbeiten entstandenen Audiomaterialen (viele davon wurden im Film nicht verwendet) ein Radiofeature anlässlich des 100. Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs entstehen.5 Mit dem

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Erwähnenswert sind hier die Aufführungen auf der 25. édition des États généraux du film documentaire 2013 (Lussas, Frankreich) und dem dok.forum im Rahmen des dok.fest München 2014.

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Kunstförderpreis auf der „Atlas 2013“, dem 21. Bundeswettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Förderung des künstlerischen Nachwuchses, Bonn 2013; Förderpreis des Landespreises für Heimatforschung Baden-Württemberg, 2013; Förderpreis der Stiftung „Erinnerung Ulm - Für Demokratie, Toleranz und Menschenwürde“, Ulm 2013.

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Das Feature wurde am 27.07.2014 auf SWR 2 im Rahmen der Sendung „Feature am Sonntag“ bzw. „SWR2 extra: Der Erste Weltkrieg“ gesendet.

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42-minütigen Hörstück, das sich im Gegensatz zum Film „journalistischer“ in einer linearen Erzählung unter anderem mit der Auseinandersetzung mit der Geschichte vor Ort beschäftigte, war somit ein zweiter „Baustein“ im Projekt Ortung gesetzt. Als Historikerin hatte ich mich bereits während des Studiums vermehrt mit Theorien zu historischen Stoffen im Dokumentarfilm beschäftigt. So lag es nahe als dritte Ergänzung einen wissenschaftlichen Text anhand der gemachten Erfahrungen auf Basis von geschichtswissenschaftlicher und (dokumentar)filmischer Theorie zu verfassen. Und wieder tauchten längst zur Seite gelegte Dokumente, Abschriften und Transkriptionen von Interviews auf, die bisher vernachlässigt nun ihren Platz in diesem Buch finden sollten. Für die Leser dieses Buchs steht der Film Ortung kostenfrei zur Ansicht zur Verfügung. Hierfür befolgen Sie bitte die folgenden Schritte: • Gehen Sie auf die Webpage http://www.kathrinaedinger.de • Im Menü finden Sie den Unterpunkt „Ortung (D, 2012)“ • Zur Entsperrung des Videos geben Sie bitte das Passwort „stettenakm“ ein.

Sollten Sie Probleme mit dem Video haben, wenden Sie sich bitte an [email protected].

Inhaltliches

Dieses Buch ist eine Sammlung von Texten und Archivdokumenten, Perspektiven und der Versuch einer Interpretation. Es basiert auf drei Komplexen: dem Film Ortung, Materialien, die im Rahmen der Dreharbeiten zu diesem Film entstanden oder gefunden worden sind; eine wissenschaftliche Abhandlung über Geschichtsschreibung und Dokumentarfilm, veranschaulicht an Ortung. Der Film ist ein wesentlicher Teil dieses Buchprojekts. Nicht nur basiert die wissenschaftliche Abhandlung darauf, sondern auch die Materialien des ersten Teils sind als Ergänzung zu den im Film präsentierten Quellen zu betrachten. Die Materialien sind vor allem Dokumente, die während den Archivrecherchen für den Film gefunden wurden. Letzterer verlangte häufig aus erzählerischen Gründen eine Kürzung der Quellen. Die Dokumente in diesem Buch sind trotz Lücken, vor allem aufgrund von Archivschäden, in ihrer vollständigen Länge enthalten. Damit will ich vor allem auf den originalen Zustand der Quellen hinweisen. Ein Großteil der verwendeten Materialien sind Egodokumente. Dies könnte aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive einer näheren Begründung bedürfen. Da diese Sammlung aber keine umfassende Quellensammlung darstellen kann und soll, möchte ich es bei einer kurzen Erläuterung belassen: im Laufe der Produktion des Films Ortung waren es gerade die Egodokumente, die mit ihrer Erzählung überraschten und faszinierten. Der „Entdeckergeist“, den wohl Filmemacher und Historiker gleichermaßen ergreifen kann, wenn sie einen Einblick in persönliche und zum Teil irritierende Perspektiven bekommen, möchte ich auch in diesem Buch aufrecht erhalten. Dabei kommt sicherlich die kontextuelle Einordnung der Geschehnisse an manchen Stellen zu kurz. Wiederum soll aber dieses Buch keine Chronik der Ereignisgeschichte Stettens a.k.M. oder des Truppenübungsplatz bieten. Trotz einer chronologischen Sortierung der Materialien habe ich eine Gliederung nach den Verfassern der Quellen bevorzugt. Auf diese Weise sollen zeitliche und räumliche Verbindungen sichtbar werden.

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Leider ist es aufgrund ihres Umfangs nicht möglich, sämtliche geführten Interviews mit Zeitzeugen und „Experten“ in diesem Buch abzudrucken. Die ausgewählten Gesprächspassagen haben für mich aufgrund ihres Inhalts, ihrer „inneren Debatte“ oder ihrer zeitübergreifenden Relevanz bereits selbst Quellencharakter und unterscheiden sich in ihrer Qualität daher meiner Einsicht nach nicht wesentlich von den Archivdokumenten. Um die Verfasser der Quellen und die Gesprächspartner formal nicht zu trennen, werden sie daher gleich behandelt. Die Verwendung der Vornamen (insofern bekannt) hat ganz pragmatische Gründe: zum einen, um den Personen eine gewisse Anonymität zu garantieren; zum anderen, da ein persönlicher Bezug zu den sowohl lebenden als auch bereits verstorbenen Personen im Rahmen der Filmproduktion entstanden ist. Die vermeintliche objektive Distanz, die Journalisten oder Historiker zu „ihren“ Protagonisten haben, soll damit erst gar nicht suggeriert werden.

Persönliches

Das Ziel dieses Buches ist es, ein Projekt, das mich mit seiner immer weiter schreitenden Entwicklung überraschte, nun doch zu einem versuchten Abschluss zu bringen. Vor vier Jahren begann Ortung mit vagen Ideen und stichprobenartigen Recherchen. Heute stehe ich trotz der spannenden Entdeckungen, Begegnungen und Erkenntnissen an demselben Punkt. Die Lücken sind nicht geschrumpft, sondern gewachsen. Ein Erkenntnisgewinn, der es unmöglich macht den Anspruch auf eine umfassende Behandlung der jüngeren Geschichte des Truppenübungsplatzes Heuberg zu erheben. Dennoch erscheint es mir umso sinnvoller, die Unabgeschlossenheit des Projekts zu dokumentieren und in Form dieses Buchs zu fixieren. Meine Absicht ist es nicht finale Antworten zu geben, sondern den über mittlerweile vier Jahre andauernden Prozess und seine Ergebnisse festzuhalten und zu archivieren. Und um zu verknüpfen, was bisher getrennt war: Theorie und Praxis, Recherche-, Archiv- und Filmmaterial, Überlegungen und Ergebnisse. An dieser Stelle soll auch kurz denen gedankt sein, die dieses Projekt möglich gemacht, beeinflusst, in Frage gestellt und unterstützt haben. Eduard Stürmer, Marco Kugel, Serpil Turhan, Helena Maria Körner, Nina Mirza, Johannes Friedl, Nicholas Zeitler, Martin Zimmermann, Margit SzöllösiJanze, Thomas Heise, Sybille Wüstemann, Angela Kühnen, dem Kuratorium und Beirat der Gerda Henkel Stiftung, Georgios Chatzoudis, Ulrich Kriest, Martin Biebl, Marcus Klotz, Udo Eckbrett, Gemeinde Stetten am kalten Markt, Antje Dechert, Juliane Hornung, alle Helfer und Gesprächspartner der Gemeinde Stetten a.k.M. und der Bundeswehr auf dem Truppenübungsplatz Heuberg.

Stetten a.k.M. und TrÜbPl Heuberg – ein historischer Überblick 1

Vor über 100 Jahren wurden die ersten Kasernen auf dem „Heuberg“ auf der Schwäbischen Alb gebaut. Seit diesem Zeitpunkt stehen die Einwohner der Garnisonsgemeinde Stetten am kalten Markt in einer von Höhen und Tiefen geprägten Beziehung zu den herrschenden Institutionen des Truppenübungsplatzes. Dabei mussten und konnten die hier ansässigen Bauern und Gewerbetreibende ihr Land, ihre Waren und Leistungen immer wieder an einen kaufkraftstarken „Kunden“ vertreiben: das Militär. Im Jahr 1910 begann die Einrichtung des heute knapp 5000 Hektar großen Truppenübungsplatzes und den ersten Kasernengebäuden. Sie dienten zunächst der Stationierung badischer Einheiten des Deutschen Kaiserreichs. Mit dem Ersten Weltkrieg nutzte das Land Baden das „Lager Heuberg“ zur Rekrutierung und Ausbildung seiner Truppen. Mit fortschreitendem Kriegsverlauf funktionierte die Lagerkommandantur außerdem Teile der Kasernenbaracken zu einem Kriegsgefangenenlager für überwiegend französische und russische Soldaten um. Die Unterbringung und Verpflegung erfolgte getrennt. In den Jahren zwischen 1920 und 1933 befand sich in den zu dieser Zeit nicht militärisch genutzten Kasernenanlagen ein Kindererholungsheim des Vereins Kindererholungsfürsorge e.V., der neben Sommerlagern für Kinder aus den städtischen Ballungszentren auch eine Hauswirtschafts- und Taubstummenschule unterhielt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme musste das Kin-

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Die Informationen und Datierungen sind zum großen Teil in Jeuck, Erika/Schaffer, Wolfgang (Hg.): 1200 Jahre Stetten am kalten Markt. 799-1999. Geschichte der Gemeinde und ihre Ortsteile, im Auftrag der Gemeinde Stetten am kalten Markt, Ulm 1999 und Kienle, Markus: Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt, Ulm/Münster 1998 belegt. Die Akteneinsicht in den verschiedenen Archiven haben die hier gemachten Angaben bestätigt.

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dererholungsheim im März 1933 schließen. An seiner Stelle errichtete das württembergische Innenministerium ein Konzentrationslager für politische Häftlinge. In diesem wurden von März bis Dezember 1933 insgesamt etwa 15.000 Personen interniert, darunter überwiegend politisch engagierte Sozialdemokraten oder Kommunisten. Trotz der bis heute zum Teil gebräuchlichen Bezeichnung „Schutzhaftlager“ ist das Lager Heuberg als Konzentrationslager einzustufen.2 Aus Platzmangel wurde es Ende 1933 aufgelöst und die Gefangenen in das Konzentrationslager „Oberer Kuhberg“ in Ulm verlegt. Zur gleichen Zeit diente das Lager Heuberg zur Ausbildung von SA-Mannschaften an einer SA-Sportschule. Anfang 1934 bezog die Reichswehr die Kasernen. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nutzten die deutsche Wehrmacht, sowie ausländischen Truppen wie die Legion „Freies Indien“, die „Wlassow“-Armee und die WaffenSS, den Truppenübungsplatz zur Rekrutierung und Ausbildung. Außerdem stellte die Wehrmacht das sogenannte Strafbataillon „999“ im Lager Heuberg auf. Dieses zwangsrekrutierte überwiegend vorbestrafte oder regimefeindliche Personen und bildete sie hier für den Fronteinsatz aus. Darüber hinaus beherbergte das Lager die französischen Miliztruppen der Vichy-Regierung von Oktober 1944 bis April 1945, die im etwa 20 Kilometer entfernten Sigmaringer Schloss unter dem „Chef de l’État“ Philippe Pétain ihren Hauptsitz hatte. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs richtete die Lagerkommandantur ein allgemeines Kriegsgefangenlager sowie ein gesondertes und isoliertes „Russenlager“ ein. Die Umstände der dort inhaftierten Soldaten sind kaum erforscht. Aus unterschiedlichen Akten geht allerdings hervor, dass die Wachmannschaft sie entsprechend der nationalsozialistischen Rassenideologie als besonders minderwertig behandelte. Die russischen Kriegsgefangenen waren stärker als die restlichen Kriegsgefangenen von Hunger, Krankheit und Isolation betroffen. Mit dem Kriegsende besetzten französische Alliierte das Lager Heuberg. Ab 1956 kamen Truppenteile der Bundeswehr als Gäste der französischen Armee hinzu. 1959 wurde das Lager Heuberg unter der Bezeichnung „Albkaserne“ zum Garnisonsstandort der Bundeswehr umgewandelt. Die französische Armee nutzte allerdings noch bis 1997 die Kasernenanlagen und den Übungsplatz. Mit dem Ende einer drohenden militärischen Auseinandersetzung im Ost-Westkonflikt reduzierte sich die Anzahl der dauerhaft stationierten Truppen der Bundeswehr und der französischen Armee ab 1989 zunehmend. Nach der Auflösung der letzten französischen Truppenteile im Jahr 1997 mussten eine große Anzahl von Kasernengebäude und Wohngebäude im Ort abgerissen werden. Anfang der 2000er Jahre baute die Bundeswehr die Albkaserne zugunsten der Zentrale der Brand-

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Vgl. Kienle: Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt.

H ISTORISCHER Ü BERBLICK

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schutzschule der Bundeswehr und des Zentrums für Kampfmittelbeseitigung erneut aus. Im Zuge der Bundeswehrreform entschied das Bundesverteidigungsministerium im Oktober 2011 darüber, welche militärischen Standorte in der Bundesrepublik geschlossen werden sollten. Die Gemeinde Stetten am kalten Markt, die von der Albkaserne als ziviler Arbeitgeber stark abhängig ist, war von den Schließungen nicht betroffen. Die Militär- und Gesellschaftsgeschichte des Ortes ist keine abgeschlossene: bis heute spielen viele Faktoren der Vergangenheit – wie Arbeitsplätze bei und Handel mit dem Militär – eine bedeutende Rolle für die Gemeinde. Dennoch scheint es 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und über 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überraschend, dass Vergangenheitsbewältigung – geschweige denn eine umfassende historiographische Aufarbeitung – kaum stattfindet. Die Arbeiten für den Dokumentarfilm Ortung haben allerdings gezeigt, dass dies kein Phänomen ist, das auf verschlossene Türen, Zeitzeugen oder mangelnde Archivdokumente zurückzuführen ist. Im Gegenteil. Es zeigte sich vielmehr eine Unfähigkeit – und vielleicht auch eine von im Jahr 2011 existenzbedrohender Bundeswehrreform geprägte Unsicherheit – die Geschichte des Truppenübungsplatzes und der Gemeinde begreifen zu wollen.

Teil 1: Erzählungen, Geschichten, Dokumente

D IE E INRICHTUNG

DES

T RUPPENÜBUNGSPLATZES

Auf Betreiben des XIV. Badischen Armee-Korps sollte ab Mitte der 1880er Jahre ein neuer Truppenübungsplatz für Manöverübungen entstehen. Seit den 1900er Jahre rückte schließlich der Heuberg in die nähere Auswahl. Grundstücksverkäufe durch die ortsansässigen Bauern führten zu ersten Bautätigkeiten. Die ersten badischen Truppen wurden ab 1910 in den umliegenden Dörfern untergebracht. Aus dem Heuberger Volksblatt Stetten a.k.M., 21. August [1910] Vor einigen Tagen hat sich die Bevölkerungszahl Stetten durch die Ankunft von etwa 500 Soldaten ungefähr um 50 Prozent vermehrt. Infolge dieses ungewöhnlichen Zuwachses herrscht in dem hießigen Orte namentlich morgens und abends ein reges Leben, zumal fast jede Familie mit mehreren Gästen beehrt ist. Meistens geben sich die wackeren Vaterlandsverteidiger ehe die Sonne aufgeht in voller Ausrüstung in „das Hardt“, wo sie etwas südlich von Ebingen ihre Schießübungen abhalten. Gegen Abend kehren sie dann staubbedeckt und in Schweiß gebadet in das Dorf zurück. Da es in den letzten Tagen sehr schwül war, vor allem auf dem von Wälder ringsum eingeschlossenen Übungsplatz, meinten einige, auf die die Sonne ganz unbarmherzig ihre glühenden Strahlen niedergesengt hatte, man würde Stetten besser „am warmen Markt“ oder wegen der bergigen Gegend der Nähe „an der warmen Halde“ benennen. Nun, wenn sie an einem frostigen Februartage auf unsere Höhe kämen, würden sie wohl mit dem Ortsnamen einverstanden sein. Übrigens sind solche Aussprüche ein Beweis, daß es in Stetten doch nicht immer so kalte ist, wie man es sich manchmal erzählt. Wenn dann die Erschöpften Mannschaften, die beim Singen von kräftigen Soldatenliedern ihre Müdigkeit und Ermattung für einige Augenblicke zu vergessen scheinen, ihre Quartiere aufsuchen, dann erhalten die Hausfrauen reiche Gelegenheit, ihre Kochkunst zu zeigen. Jeden Abend spielt die Regimentskapelle (114er) über eine Stunde lang auf dem freien Platze neben der „Krone“. Bisweilen sind zwar die

24 | O RTUNG Einwohner durch die viele und ermüdende Arbeiten – die Ernte hat bereits ihren Anfang genommen – verhindert, sich in größerer Anzahl einzufinden, um lautlos zuzuhorchen und sich an diesem seltenen Genuß zu ergötzen. Doch, wenn keine ungünstigen Winde wehen, sind die Töne weithin hörbar und rufen in den Herzen der alten Soldaten willkommene Erinnerungen wach.1

Ab 1912 entstand das „Lager Heuberg“, das bis heute Teil der Kasernenanlagen auf dem Truppenübungsplatz ist. Die Entscheidung, diese auf der Gemarkung Stetten a.k.M. zu errichten, veränderte die soziale und wirtschaftliche Struktur der Gemeinde maßgeblich. Aus dem Heuberger Volksblatt Stetten a.k.M., 30. Aug. [1910] Nach einem gestern hier eingetroffenen Telegramme ist die Barackenfrage nun endgültig entschieden; dieselben kommen auf Gemarkung Stetten in unmittelbare Nähe des Ortes zu stehen. Böllerschüsse verkündigten am Abend noch die Freudenbotschaft auf dem Heuberg.2

1

k.A., Nachricht im Heuberger Volksblatt, 21.08.1910.

2

k.A., Nachricht im Heuberger Volksblatt, 30.08.1910.

T EIL 1: E RZÄHLUNGEN , G ESCHICHTEN , D OKUMENTE

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Abbildung 1: Karte des Truppenübungsplatzes 1916

Quelle: Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg

E RSTER W ELTKRIEG Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erhielt der Truppenübungsplatz und das Lager Heuberg eine neue Bedeutung. Noch bevor die Kasernenanlagen fertiggestellt werden konnten, wurden hunderte von Soldaten auf dem Heuberg rekrutiert und ausgebildet. Albert, 1914 - 1915 Albert (geboren 1894) bereitete sich im Herbst 1914 auf dem Heuberg auf den Kriegseinsatz vor. Er war 21 Jahre alt, als er als Angehöriger der 7. Komp. Res.

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Inf. Regt. 250, 75. Res. Div. in die Masuren zur Winterschlacht gegen die Russen zur Winterschlacht aufbrach. Er fiel am 9. März 1915 in Polen. In seinem Nachlass befinden sich mehrere Feldpostkarten, ein Schreiben seines Kameraden Willi H. und ein Gedicht.1 Ach Gott, wie geht’s im Kriege zu, was wird für Blut vergossen, wie mancher Mutter einz’ger Sohn wird durch die Brust geschossen. Wie weint so manche junge Braut, weil man ihr hat geschrieben, ihr Liebster dem Sie anvertraut, ist in der Schlacht geblieben. Ein Jüngling schön, wie Milch und Blut, der ihr so hold war und so gut, der liegt jetzt in dem Sande in einem fremden Lande. Mein Sohn, ach wie betrübst du mich, hört man den Vater klagen, der, eine Stütz sollt sein für mich in meinen alten Tagen, der liegt jetzt auf dem Schlachtfeld draus kommt nimmermehr zu mir ins Haus, ich werd mit grauen Haaren ihm bald müssen nachfahren. Heuberg, 16.XI.14 Liebe Mutter und Schwester! Wir sind hier nach langer Fahrt Sonntag nach 12 Uhr angekommen. Wir haben von Lörrach mittags 1 Uhr bis Nachts 9 Uhr in Immendingen nichts zu Essen bekommen. In Tiergarten sind wir um 10 Uhr ausgeladen worden und mussten noch 2 Stunden in starkem Schneegestöber laufen und bekamen gleich Tee, Brot und Wurst. Mark W., Sütterlin A. – zwei Friedlinger – und ich auf einer Stube. Ich habe von Stiegeler noch eine dürre Wurst bekommen. Es sind 2500 Mann auf den Heuberg gekommen. Es grüßt euch Albert. Adresse: Musk. V., ERs. Regt. 113, 5 Kompl. Rekrutendepot II, Truppenübungsplatz Heuberg, Kreis Konstanz.

1

Nachlass Albert V., Tagebucharchiv Emmendingen, Sig. 1305.

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Heuberg, 17.XI.14 Liebe Schwester! Ich will dir mitteilen, daß ich am 15. Eingezogen wurde und auf den Heuberg gekommen bin. Es sind noch A. S., W. M. – zwei Friedlinger – und ich auf der gleichen Stube. Es ist hier schon ziemlich kalt, es hat schon geschneit. Viele Grüße an Anneli und Willi. Es grüßt Dich Albert Heuberg, 17.XI.14 Liebe Mutter! Sei so gut und sage D. Alfred, er soll mit die Turnschuhe holen, sie hangen auf dem Turnplatz in der Hütte an der hintern Wand, es sind die braunen Gummischuhe, dann schickst Du mir sie so bald wie möglich. Es grüßt Dich Albert Heuberg, 24.XI.14 Meine Lieben! Da ich bis jetzt noch nichts bekommen habe, bin ich in der Lage zu fragen, ob ihr noch am Leben seid oder nicht. Alle meine Kollegen erhalten bereits jeden Tag Post. Nur ich stehe immer mit leeren Händen da. Wir waren jetzt eingekleidet und Montag Nachmittag hatten wir gerade Instruktion, da kam Befehl Uniform ausziehen. Jetzt werden wir wieder neu eingekleidet. Also schickt mir vorläufig nichts mehr bis ich die neue Adresse schicke. Seit so gut und strickt mir eine Kappe wie Anna Robert sie gestrickt hat, aber nicht abschicken bis ich wieder schreibe, auch ein paar Fingerhandschuhe. Schickt mir dann auch die Unterhosen und ein Unterleibchen, wir haben bis jetzt noch keine Leibwäsche erhalten. Also zum Voraus besten Dank. Grüßt mir auch s’Mutters, M.S., W.V. und alle Bekannten. Fr. R. ist auch hier. Euer Albert Heuberg, 25.XI.14 Meine Lieben! Wir sind heute vormittag wieder neu eingeteilt worden, aber wir sind wie früher beieinander. Meine jetzige Adresse: Musk. V., 6. Korp., 3 Komp. Feld Inf. Batl. 65 Heuberg, Kreis Konstanz. Verbreitet die Adresse an die Bekannten. Sei so gut und schreibt mir auch einmal, es ist alles verleidet, alle bekommen Post, ich stehe mit leeren Händen da. Grüßt euch, Albert Geschrieben, den 2. Dez. 1914 Meine Lieben! Teile euch mit, dass ich das 1. Paket Samstag abends und das 2. Dienstagabend erhalten habe, wofür besten Dank. Ihr müsst verzeihen, dass ich so lang nicht geschrieben habe, wir haben so viel Arbeit, dass wir manchmal nicht eine ¼ Stunde Zeit haben zum Schrei-

28 | O RTUNG ben. Die Sachen, um die ich geschrieben habe, braucht Ihr mir nicht schicken, nur ein Unterleibchen. Brief folgt sobald ich Zeit zum Schreiben habe. Also nochmals besten Dank. Grüßt mir auch Anneli und Willi. Hatten heute Ausmarsch, anschließend Nachtübung bis 8 Uhr abends und waren sehr müde, von ½ 3 Uhr bis 8 Uhr. Es grüßt euch euer Albert. Heuberg, 3. Dez. 14 Liebe Mutter und Schwester! Endlich komme ich dazu, euch zu schreiben und mich für die Pakete mit den vielen lieben Sachen zu bedanken, also besten Dank. Ihr müsst die Pakete besser verpacken, denn beide waren ganz verdrückt. Die Birnen waren ganz breit gedrückt und auch die Büchse hatte einen Dumpf, die im 2. Paket von Hemmi. Ich habe gerade Zeit zum Schreiben, denn ich bin zu Spielleuten eingeteilt und sind schon um ½ 4 Uhr wieder eingerückt, die andern kommen erst um 5 Uhr. Vormittags habe ich Exerzieren, Nachmittags Trommeln, da werde ich immer früher fertig. Gesund bin immer noch gesund, was ich auch von euch hoffe. Das Essen wird immer schlechter. Die ersten zwei Wochen war es gut. Es gab mittags immer Suppe und Gemüse und Fleisch. Jetzt bekommen wir nur noch Gemüse und Fleisch und manchmal so schlecht gekocht, dass man es kaum essen kann. So viel dürre Wurst müsst ihr mir nicht schicken. Schickt mir lieber Landjäger. Sie sind besser zum Aufbewahren. Morgen, Freitag, werden wir vereidigt. Am zehnten Dezember sollen wir feldgrau eingekleidet werden. Ich komme voraussichtlich an Weihnachten auf Urlaub. Komme am 24. nachts. Wann genau weiß ich nicht. Komme in feldgrau. Grüßt Euch alle, auf Wiedersehen, Albert. Das Res.-Inf.-Regt. 250 in der Winterschlacht2 Im Herbst 1914 traten in Freiburg und auf dem Heuberg aus badischen Rekruten die Feldbatl. 64, 65 und 66 zusammen, die dann im Verbande der 75. Res.-Div. Zum Res.-Inf.Regt. 250 vereinigt und im strengen Winter 1914/15 auf dem Truppenübungsplatz Heuberg im Hohenzollerschen für ihre Kampfaufgabe herangebildet wurden. Sie sollten ihre Feuertaufe unter Hindenburgs Oberbefehl in der Winterschlacht in Masuren empfangen. Eisig hatte der Winterwind über di Höhen des Heubergs gefegt, eine harte Schule für die Kämpfe, die des Regiments harrten, als es Ende Januar 1915 nach dem Osten verladen wurde. In das vom russischen Einbruch hart getroffene Ostpreußen ging die Fahrt. Im Raume zwischen Insterburg und Gumbinnen waren die Bataillone ausgeladen und lernten im beschwerlichen Marsche zu den Quartierorten bereits die Unbilden des östlichen Winters kennen.

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Voß, [k.A.]: Die Badener im Weltkrieg 1914/18, bearbeitet von Wilhelm MüllerLoebnitz, Karlsruhe 1935.

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Für die geplante Umfassungsschlacht in den Masuren war der 75. Res.-Div. und in ihr dem Res.-Inf.-Regt. 250 unter seinem Führer Oberstleutnant Janke kein Platz an den Entscheidungsflügeln zugedacht, die Division trat vielmehr etwa in der Mitte der Angriffsfront zum rechten Flügel der 10. Armee des Generalobersten v. Eichhorn. Dem ersten Vorgehen der Armee am 8. Februar wich der Russe über Pillballen und Stallupönen aus, die in der Verfolgung am 19. Februar erreicht wurden. Ein schaurig schönes Bild bot der in breiten Front erfolgende Rückzug der russischen Armee. Der ganze Teil Ostpreußens, den der Gegner räumte, stand in Flammen. Stallupönnen brannte noch, als die müde Truppe Unterkunft bezog. In der Vorhut der Division rückte das Regt. 250 am 11. Februar, einem schneidenden Südost entgegen, auf die russische Grenze zu. Dort, im Dorf Wistyniec, in einem Haufen strohgedeckter Häuser, hatte sich der Russe zum Widerstand gesetzt. Rasch entschlossen greift der Regimentskommandeur zu und setzt das an der Spitze befindliche III. Batl. ohne Feuervorbereitung zum Angriff an. Die überraschten Russen beginnen ein unregelmäßiges Feuer, das aber den stürmischen Vorwärtsdrang der Badener nicht zu hemmen vermag. Von Gehöft zu Gehöft arbeiteten sich die Bataillone vorwärts bis auf den Marktplatz von Wistyniec, wo sich die Kämpfenden ineinander verbissen. Aber vor dem raschen Zugriff der 250er streckte die starke russische Besatzung die Waffen. Über 1200 Gefangene, mehr als 500 Pferde und ein Wagenpark von 200 Fahrzeugen waren die Siegesbeute, die mit neun Toten und einigen zwanzig Verwundeten nicht allzu teuer erkauft ist. Ein 1916 auf dem Marktplatz von Wistyniec errichtetes Ehrenmal hält die Erinnerung wach an die erste Waffentat des jungen Regiments, das das Vertrauen der Führung nicht enttäuscht hatte. Nur kurz war die Rast in dem eroberten Dorf, denn es galt, dem Feind auf den Fersen zu bleiben. Am nächsten Morgen ging es östlich des Wystiter Sees hinter ihm her. In den nächsten Tagen kam es jedoch nicht zu ernstlichen Kampfhandlungen, da der Russe immer weiter zurückwich oder seitwärts abbog. In der Verfolgung war das Regiment vor die 76. Res.Div. gelangt, als deren Spitze es die Aufgabe erhielt, den Feind, der sich bei Marjanka zum Widerstand gesetzt hatte, aus seiner Ausnahmestellung herauszuwerfen. I. und III. Batl. entwickelten sich zum Anfriff. Aber schon während ihres Vorgehens räumte der Feind die Stellung. Während darauf die 76. Res.-Div. auf Suwalki angesetzt wurde, wurde das Res.-Inf.-Regt. 250 auf Smolniki abgedreht, um den dort gemeldeten Feind zu werfen. Auf unvorstellbar schlechten Wegen, auf denen schließlich kaum noch zwei Mann nebeneinander marschieren konnten, entledigte sich das Regiment seines Auftrages, dessen Ausführung die völlig erschöpften Nachh[...] des Feindes keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochten. Nur bei Vorwerk Eidorowka hemmte eine starke Aufnahmestellung das Vordringen. Es schien geraten, erst das Herankommen der Artillerie abzuwarten. Aber ehe sie mit ihrem Feuer einsetzte, räumte der Russe auch hier. Weiter ging der Marsch auf Suwalki. Es regnete in Strömen und die Wege waren so versumpft, daß die Truppe nur langsam und mühsam vorwärtskam. Aber schließlich, am 15.

30 | O RTUNG Februar, war Suwalki erreicht, in das die 250er als erste deutsche Truppe einrückten. Nur in den Südkasernen gab es noch mit den Russen zu tun, aber nach kurzem Kampf waren auch sie genommen und es ging an das Einsammeln der Gefangenen und Versprengten. Kurz nur war die Ruhe in der sauberen und freundlichen Stadt. Am nächsten Tage schon gegen Mittag wurde das Regiment alarmiert und in Richtung auf Augustowo angesetzt, um einen von dort gemeldeten Durchbruchsversuch dreier im Walde eingeschlossener Korps zu verhindern. Der Ring um die Russen hatte sich bereits fest geschlossen. Schon erschienen die Armeen Eichhorn und von Below auf den Rückmarschlinien der Russen. Es galt zu verhindern, daß der Feind nach Suwalki durchbrach. Zur Durchführung dieses Auftrages hatte das Regiment Artillerie erhalten. Auf einer breiten Waldlichtung bei Dubowo stieß das Regiment auf den Feind, der sich gegen die unverzüglich angreifenden 250er lebhaft und mit starken Kräften zur Wehr setzte. Seinen überlegenen Kräften war mit sofortigem Infanterieangriff nicht bezukommen. Bald nachdem das Vorbereitungsfeuer unserer Artillerie eingesetzt hatte, brach die Nacht herein, und die Fortsetzung des Kampfes erschien dem Kommandeur bei dem gewaltigen Munitionsaufwand des Feindes als wenig aussichtsreich. Das Regiment grub sich deshalb auf den Schneefeldern bei eisiger Kälte ein, so gut es der harte Boden erlaubte. Unaufhörlich rollte das Abwehrfeuer der Russen. Feuer und Kälte stellten an die Nervenkraft jedes einzelnen große Anforderungen. Aber die Front hielt unerbittlich stand. Als der Morgen graute, hatte der Russe wohl eingesehen, daß hier kein Durchkommen war. Er räumte schließlich kampflos den Platz. Dem Regiment winkte nach der harten Nacht vor Augustowo ein Tag wohlverdienter Ruhe in Suwalki. Aber schon am Mittag wurde es wieder alarmiert zum Vormarsch auf Augustowo. Abends stellte es sich heraus, daß die Brücken bei Augustowo gesprengt waren, so daß die Division gezwungen war, an der Marschstraße Unterkunft zu beziehen. Bis nachts um drei Uhr waren nur Teile des Regiments in den ihnen zugewiesenen entlegenen Quartieren eingetroffen; andere waren in der Dunkelheit abgesprengt und mancher suchte in einem Graben oder hinter einem Baume eine kurze Ruhestunde. Wieder ging es, nachdem die Versprengten gesammelt waren, am nächsten Tage nach Suwalki zurück. Schon am 18. Februar frühmorgens erging zum drittenmal der Befehl zum Marsch auf Augustowo, wo die erschöpfte Truppe endlich für einige Tage zur Ruhe kam. Dort wurde nun auch der überwältigende Sieg Hindenburgs in seinem vollen Ausmaße bekannt. Wahrlich ein Erfolg, der die Erinnerung an die Strapazen bald überstrahlte. Und das Regiment hatte seinen Teil daran. Dr. Voß.

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Augustowo, 19. Februar 1915 Meine Lieben! Endlich komme ich dazu, euch zu schreiben. Habe sonst keine Zeit dazu. Es geht alle Tage drauf und drauf. Meine Erlebnisse bis jetzt: In Gutschen ausgeladen marschierten wir bis Blimballen von mittags bis nachts, wo wir dann vier Tage Ruhe hatten. Dann ging es aber los: Am Achten Marsch gegen den Feind. Kamen in einen Wald, wo wir Stunden im Schnee standen. Kalte Füße, dann ging es zurück ins Quartier. Den Neunten wieder vor, aber die Russen rissen aus. Am 13. fingen wir eine russische Bagage ab. Am 14. ins erste Gefecht bei Regen. Am 15. schreckliches Infanteriefeuer. Immer noch nass. Im zweiten Gefecht bekam Wilhelm M. eine Kugel durch das Kochgeschirr und zwei sausten haarscharf am Kopf vorbei. Am 18. wieder hierher. Ich habe schon einen ordentlichen Bart im Gesicht. Unsere Armee hat bis jetzt 60.000 Gefangene gemacht. Seid nicht böse, wenn ich so lange nicht schreibe. Schreibe jedes Mal, wenn ich Zeit habe. Wie geht es euch? Seid ihr alle gesund? So Gott will, auf Wiedersehen. Euer Albert.

Willi H., 1915 Schützengraben bei Kolno in Russland, 24. Mai 1915 Geehrte Frau V.! Will es nicht unterlassen Ihnen mein Beileid zu dem Verlust Ihres Sohnes Albert auszusprechen. War ich doch auch längere Zeit sein Lehrer und ich weiß, was für ein Mensch mit ihm dahingegangen ist. Gestern, am ersten Pfingstfeiertag, habe ich die Stätte noch einmal besucht, wo er mit drei Kameraden ruht. Das Grab ist mit Steinen eingefasst und es blühen kleine Sträucher darauf. Das Herz dreht sich einem um, wenn man die guten alten Bekannten ruhen sieht. Aber geehrte Frau V. – beruhigen Sie sich – denn er ist von allem erlöst und es schlafen ja so viele in seiner Nähe von seinen Kameraden. Wir, die das Glück hatten bis jetzt mit dem Leben davon zu kommen, haben gestern bei den Hügeln der Kameraden inmitten des Herrn Pfarrers die Kriegserklärung Italiens vernommen. Dieses Judasvolk scheut sich nicht seine Bundesgenossen anzugreifen. Ein Schauer und Hass durchzieht die Seele. Jedoch weiß von uns jeder, was es für uns bedeutet und so erneuert sich der Schwur auszuhalten. Zu kämpfen bis wir dort liegen wie unsere Kameraden zu unseren Füßen. Zertreten wie ein Vieh sollte jeder Italiener werden, der einem Deutschen in die Hände fällt. Und koste es, was es wolle. Mit diesem Gedanken im Herzen schieden wir von der Stätte der toten Kameraden. So sah unser Pfingstfest aus und heute, wo ich wieder einsam am Schützengrabenrand sitze, kann ich nicht umhin, Ihnen ein Schreiben zu senden, damit Sie sehen, dass Ihr Sohn nicht verlassen und vergessen in fremder Erde liegt. Ergebenst, Willi H.

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Abbildung 2: Russische Kriegsgefangene auf dem Truppenübungsplatz Heuberg

Quelle: Bildbroschüre „Leben und Treiben der Kriegsgefangenen“ der Kommandantur des Kriegsgefangenenlagers Heuberg, 1917

Kriegsgefangene, 1915-1918 Bereits kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde auf dem Heuberg ein großes Kriegsgefangenlager eingerichtet. Ein Großteil der Gefangenen war französischer und russischer Abstammung. Auf dem sogenannten „Russenfriedhof“ auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes sind ein Teil der hier Verstorbenen begraben. Ein Großteil wurde später in ihre Heimatländer überführt. Marcus, 1915/2011 Marcus ist Oberleutnant der Bundeswehr (mittlerweile außer Dienst) und Leiter der militärhistorischen Sammlung des Truppenübungsplatzes Heuberg. Seit einigen Jahren sammelt er Dokumente, Fotografien, Uniformen und sonstige Relikte der verschiedenen Militärs auf dem Heuberg. In einer kleinen Ausstellung auf dem Kasernengelände hat er diese ausgestellt.

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Interview während einer Museumsführung, 22.9.2011 Marcus: Die Phase des Ersten Weltkriegs, klar, hat auch hier seinen Niederschlag gefunden. Und zwar wurden hier viele viele Divisionen aufgestellt die an die West- wie an die Ostfront gingen und ab November 1914 wurde oberhalb des Lagers, und da hinten habe ich jetzt einen Originalplan ergattern können, den habe ich im Keller einer Architektenfrau in Konstanz entdeckt, bei einer Haushaltsauflösung. Wie der da hin kam weiß keiner, aber er ist ein Originalplan von diesem Kriegsgefangenenlager was hier eingerichtet wurde und im Sommer 1915 waren 15.000 Soldaten, hier als Kriegsgefangene untergebracht. In der Masse waren es Russen und Serben, Franzosen, Engländer, Italiener, Belgier, Soldaten auf Seiten der Entente, die aus den Kolonialstaaten kamen, also Vietnamesen, Inder, Schwarzafrikaner, was es alles gab, bis was sie jetzt vor kurzem in einer Recherche rausgebracht haben, das wusste ich auch nicht, 589 Amerikaner waren hier auch noch. Weil Amerika ist ja dann 1917 dann auch in den Krieg eingetreten. Krankheitsbedingt kam es hier zu Todesfällen und da ist im Stettener Tal der auch heute noch existierende Russenfriedhof eingerichtet worden. Er ist nur ein bisschen verkleinert worden und die Schotterfläche ist nicht mehr da, die haben wir mit Gras eingesät, weil er wird bis zum heutigen Tage von der Bundeswehr gepflegt. Er steht unter Denkmalschutz, das führte dann dazu, dass ich letztes Jahr mal das Regierungspräsidium hier hoch zitiert habe, weil mir die Anlage, langsam aber sicher die Grabstellen zusammen gebrochen sind. Weil die sind alle aus, mit Zement und Sand, gemischt mit einem Stahlskelett gemacht worden und das fängt an zu rosten, jetzt sind die abgebrochen. Dann haben sie sich ein Jahr lang geziert, aber sie kamen nicht drumherum, Regierungspräsidien sind für den Denkmalschutz zuständig, da mussten sie das Geld locker machen, jetzt haben wir ihn komplett hergerichtet, ist also alles wieder original hergerichtet. Und wir haben ihn jetzt auch für die Bevölkerung freigegeben, weil die Bevölkerung ist bisher immer in den Truppenübungsplatz reingelaufen, um dort hin zu kommen, und das ist eine Ordnungswidrigkeit, weil das ist ein militärischer Sicherheitsbereich. Und wir haben jetzt aber die Grenze so verlegt, dass sie reinlaufen können – laufen, nicht fahren, weil das wollen wir schon verhindern.

Z WISCHENKRIEGSZEIT Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs veränderte sich die wirtschaftliche Lage der Gemeinde Stetten a.k.M. drastisch. Aufgrund der Demilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrags durfte das Lager und der Truppenübungsplatz militärisch nicht weiter genutzt werden. Damit entfiel für die ortsansässigen

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Bauern und Gewerbe- und Handwerktreibenden der größte Arbeitgeber. Hinzu kam, dass ein großer Teil von Forst- und Landwirtschaftsflächen für die Einrichtung des Truppenübungsplatzes verkauft wurden und nun den ehemaligen Eigentümern zur Bewirtschaftung nicht mehr zur Verfügung standen. 1920 versprach die Nutzung des Lagers durch den Karlsruher Verein „Kinderheilfürsorge Heuberg e.V.“ einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Versorgung des Großkinderheims erfolgte jedoch nicht ausschließlich durch die einheimischen Betriebe. Ein Zustand, der die ortsansässigen Gemeinden zu einer gemeinsamen Beschwerde und Hilfesuche veranlasste. Die Gemeinden, 1922 Brief der Gemeinden an das Reichsschatzministerium vom Februar 19221 Betr.: Die Verwaltung des früheren Truppenübungsplatzes Heuberg Mit Eingabe vom 9. Juli 19[…] haben die Gemeinderäte der Gemeinden Stetten a.k.M., Balingen, Schwenningen, Nusplin- gen, Oberglashütte und Unterglashütte um Berücksichtigung des in und um ihre Gemarkungen gelegenen Heuberg-Geländes bei Anlegung eines Truppenübungsplatzes gebeten. Nach Anhörung der hierfür in Betracht kommenden[…] und nach Beendigungen langwieriger Verhandlungen wurde die Anlegung des Truppenübungsplatzes Heuberg durch […] beschlossen und im Jahre 1910 mit dem Bau […] begonnen; der Truppenübungsplatz wurde sodann im Jahre 19[…] seiner Bestimmung übergeben. Durch die zwangsweise […] des Deutschen Heeres durch die Entente im Jahre [...] der Truppenübungsplatz Heuberg als […] und sind dadurch die oben genannten Orte […], Heinstetten und Oberglashütte, in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung hart betroffen worden. Während der [Entstehung des Lagers] und nach Inbetriebnahme desselben hat für den Ort Stetten a.k.M. eine verheißungsvolle Entwicklung begonnen, die aber durch die veränderten Verhältnisse jäh unterbrochen worden ist. Eine Reihe von Geschäften, Betrieben und Wirtschaften, die sich seiner Zeit für den Truppenübungsplatz uns seine Verhältnis- se aufgetan, stehen vor dem Ruin. Das seit Inbetriebnahme des Übungsplatzes, speziell in Stetten a.k.M., so rege betätigte Geschäftsleben ist seit dieser Zeit dahin und die Von auswärts zugezogen, hier ansässig gewordenen Ge- schäftsleute müssen sich heute, um einigermaßen leben zu können, durch Ausübung des Handels mit allen möglichen Be- darfsgegenständen schlecht und gerecht durch das Leben schlagen; sie können Stetten a.k.M. vorderhand nicht verlassen, da sie dahier fast durchweg eigenen Besitz erworben habe, den Sie aber infolge fast vollständigen Brachliegens ihres früheren Geschäftsbetriebes

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Aus einer Sammlung der Korrespondenz zur Nutzung des ehemaligen Truppenübungsplatzes, 1919-1926, Bundesarchiv Berlin.

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jetzt nicht gut […] können. Aber auch für die einheimischen Kleinhandwerker und Gewerbetreibenden ist eine harte Zeit angebrochen: auch sie hatten sich seiner Zeit ganz den veränderten Verhältnissen angepasst, ihre nebenher betriebene kleine Landwirtschaft zum Teil aufgegeben und die Felder an den Truppenübungsplatz abgegeben. Die Gemeinde Stetten a.k.M. hat circa 300 Morgen Wald, die Gemeinde Oberglashütte ihrer ganzen Wald an das Reich abgegeben. Was mit den vielen durchweg massiv erstellten Gebäuden des Lagers Heuberg nun geschehen soll und wird, weiß heute Niemand, insbesondere solange nicht, als das Deutsche Vaterland von seinen Feinden so stark bedrückt wird. Im Mai 1920 wurde der Truppenübungsplatz nach vorher- gegangenen Verhandlungen mit dem Reichschatzministerium, den Vertretern größerer Bad. und Württ. Städte, sowie den größeren caritativen Verbänden als Kindererholungsheim eingerichtet. In den Jahren […] und 1921 sind […] zirka 12-15000 Stadt Kinder zur Erholung untergebracht gewesen. Durch die Unterbringung bezw. Verpflegung dieser Kinder im Erholungsheim Heuberg glaubten die Einwohner der Gemeinde Stetten a.k.M. und Umgebung einen regeren Geschäftsverkehr wieder zu erlangen, um sich von den Schicksalsschlägen einigermaßen wieder erholen zu können, was aber leider bis heute nicht der Fall gewesen ist. Im Gegenteil, die Verwaltung des Kindererholungsheims bezieht ihre Lebensmittel, mit Ausnahme der [Milch], Butter, Fleisch und Backwaren, anscheinend aus Württemberg, bestimmt nicht von Geschäftsleuten von Stetten a.k.M. und Umgebung. In der […] Sitzung des Badischen Landtags vom 13.April 1921 wurde hier- wegen bereits Klage geführt und hat daraufhin das [Bad. Arbeits] Ministerium unterm 23. Mai 1921 der Verwaltung des Kindererholungsheim Heuberg ersucht, den […] der Geschäftsleute von Stetten a.k.M. auf Erteilung von Aufträgen aller Art entgegen zu kommen. Leider haben [die] Geschäftsleute [hiervon] weinig verspürt und sind […] im [Verein] mit […] Einwohnern von Stetten a.k.M. und den anderen in Betracht kommen den Orten nicht nur der Meinung, sondern der [festen] Überzeugung, dass sie von der Verwaltung des Kindererholungsheims und der Reichsvermögenstelle Heuberg mit Aufträgen jeder Art mehr bedacht worden wären, wenn die Verwaltung nicht an […] des Landesfinanzamtes III in Stuttgart, sondern an denen von Karlsruhe gelegen wäre.

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Bürgermeisteramt Stetten a.k.M. 2 Eing. 4. APR. 1932 No. 573. Meßkirch, den 2. April 1932 Bekämpfung politischer Ausschreitungen Die N.S.D.A.P. Ortsgruppe Meßkirch hat uns heute gemäß § 10 Absatz 2 der Verordnung des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 28. März 1931 ein Plakat zur Kenntnisnahme vorgelegt, mit dem eine nationalsozialistische Versammlung in Schwenningen (Wttbg) am Samstag, den 9. April 1932 angekündigt wird, bei der Adolf Hitler sprechen wird. Gegen den Anschlag dieses Plakats im Amtsbezirk Meßkirch werden keine Einwendungen erhoben.

Kinderheim Heuberg, 1920-1933 Das Kinderheim der „Kinderheilfürsorge Heuberg e.V.“ blieb bis 1933 in Betrieb. Es war die längste zivile Nutzung des Geländes seit der Errichtung des Truppenübungsplatzes bis heute. Während der letzten Monate fand eine zeitgleiche Nutzung verschiedener Kasernengebäude durch den Verein und die Wehrmacht statt. Weithin über Berg und Tal, Berg und Tal, Berg und Tal, grüßt der erste Sonnenstrahl, der erste Sonnenstrahl. O Heuberg, du mein Sehnsuchtsland, das leuchtend mir vor Augen stand, so nah am Himmel wohnt man dort, ja, niemals möchte ich fort.3

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Gemeindearchiv Stetten a.k.M., o. Sig.

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Heuberg-Lied, abgedruckt in: o.A.: Der Heubergs-Spielmann, Kinderheim Heuberg 1932.

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Abbildung 3: Kinder des Kindererholungsheims Heuberg

Quelle: Geschichts- und Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg

N ATIONALSOZIALISMUS Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung änderte sich das Verhältnis zwischen dem Truppenübungsplatz und der Gemeinde nachhaltig. Die wenigen Jahre zuvor sollten bis heute die letzten sein, in denen das Lager Heuberg ausschließlich zivil genutzt wurde. Als Wehrmachts-, SA- und SS-Ausbildungsstandort, Kriegsgefangenenlager und Konzentrationslager wurde das Lager Heuberg plötzlich zum Wohn- bzw. Haftraum von vielen tausenden Menschen. Für die Bürger der Gemeinde Stetten a.k.M. bedeute dies vor allem wirtschaftlichen Aufschwung und Arbeitsplätze. Das Konzentrationslager, 1933 Im März 1933 wurde im Lager Heuberg ein Konzentrationslager zur Internierung von Regimegegnern eingerichtet. Es war Teil der systematischen Verfolgungs- und Repressionsmaßnahmen, die nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zur Gleichschaltung von kulturellem, politischem und privatem Leben eingesetzt wurden.

38 | O RTUNG Stetten am kalten Markt, 10. Juli 19331 An den Herrn Kreisvorsitzenden S., Konstanz. Wie allerorts bekannt, befindet sich in dem ehemaligen Truppenlager Heuberg seit Mitte März ein Konzentrationslager für Württemberg. Dasselbe ist durchschnittlich mit circa 1500 Häftlingen belegt. Neuerdings hat auch das Land Baden circa 150 Häftlinge eingeliefert. Nachdem der Truppenübungsplatz und das Lager selbst größtenteils auf Badischem Gebiet liegt, hätte man annehmen dürfen, dass die Geschäftsleute von Stetten in der Lieferung von Lebensmitteln in erster Linie berücksichtigt würden, zumal ein großer Teil sehr viel Grund und Boden durch die Errichtung des Übungsplatzes verloren hatte. Nur mit großer Mühe konnte man es wenigstens durchsetzen, dass die Bäcker und Metzger einigermaßen berücksichtigt worden sind. Obwohl wir hier vier Bäcker haben, liefern heute zwei Bäcker aus Württemberg mehr als alle vier hier am Platze. Ebenso ist es bei den Metzgern. Alle anderen Lebensmittel werden restlos aus Württemberg bezogen. Wir vertreten den Standpunkt, dass die Gemeinde das Recht hat, Anspruch auf Belieferung des Lagers zu erheben. Sollte dieses trotzdem nicht möglich sein, so wäre die andere Frage aufzuwerfen, ob wir Badener auch den Standpunkt vertreten wollen, nämlich unsere badischen Truppen, die in nichtbadischen Garnisonen untergebracht sind, nur von Badenern beliefern zu lassen. Dies wäre in kurzen Umrissen der Stand der Sache und ich möchte dringend bitten alles zu versuchen, um dieses Unrecht gutzumachen. Einer näheren Antwort Ihrerseits sehe ich gerne entgegen. Heil Hitler.

Im Konzentrationslager Heuberg wurden etwa 15.000 Personen, überwiegend politisch engagierte Sozialdemokraten oder Kommunisten, durch psychische und physische Folter zu Opfern des nationalsozialistischen Regimes. Das Heuberg-Lied2 Auf des Heuberg rauhen Höhen Eng umspannt mit Stacheldraht, Liegt das Lager der Marxisten Vom Faschismus hinverbannt.

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Gemeindearchiv Stetten a.k.M. 9/126a.

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Oberschulamt Tübingen (Hrsg.): Württembergisches Schutzhaftlager Ulm, Ein frühes Konzentrationslager im Nationalsozialismus (1933 - 1935), Informationen und Arbeitshilfen für den Besuch der Ulmer KZ-Gedenkstätte mit Schülern, Tübingen 2004, S. 95.

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Menschenrechte sind verloren Und Beschwerden gibt es nicht. Anstatt Fleisch gibt es nur Knochen, Gutes Essen wäre Gift. Menschen wollen wir erst werden, bisher waren wir es nicht, denn in jedes Häftlings Herzen wächst der Rache stärkstes Gift. Doch die Freiheit, die kommt wieder – Dann, SA-Mann gebe acht! Rotgardisten werden siegen, rufen auf zur letzten Schlacht. Rote Fahnen werden wehen Auch auf diesem Lager dann! Nicht SA hat dann die Waffen, sondern nur der Arbeitsmann!

Neben dem Einsatz im Straßenbau und Waldarbeiten wurden die Gefangenen mit sinnlosen Zwangsarbeiten körperlich gequält und erniedrigt. Hunger, Kälte und Schmerzen wurden zur Demoralisierung und Entmenschlichung der Gefangenen eingesetzt. Dazu gehörten auch Foltermethoden wie das „Waschen“ an den Brunnenanlagen vor den Kasernen. Gezielte Tötungen dagegen waren im Konzentrationslager Heuberg nicht geplant. Der Willkür und Brutalität der SAWachmannschaft fielen jedoch vermutlich einige Männer zum Opfer. Bis heute kann keiner der Todesfälle zweifelsfrei als vorsätzlicher Mord nachgewiesen werden. Es bleiben lediglich die Aussagen von Mithäftlingen. Nur in einem Fall scheint die gezielte Tötung eines Gefangenen gesichert: Das Opfer, ein Sozialdemokrat jüdischer Konfession, wurde zu Tode geschleift.

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Simon, 1933 Simon wurde 1886 in der Ukraine geboren und kam als Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg nach Eberbach (Rhein-Neckar-Kreis). Als Staatenloser bleibt er nach dem Kriegsende 1918 dort und arbeitete bis 1933 bei der Reichsbahn in Eberbach. Simon war Kommunist. Im März 1933 wurde er ins Konzentrationslager Heuberg interniert. Abbildung 4: Wachmannschaft des Konzentrationslager Heuberg, 1933

Quelle: Geschichts- und Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg

Richard, 1934/1946 Richard befand sich zur gleichen Zeit wie Simon im KZ Heuberg. Für die Zeitung „Der neue Tag“, Ausgabe vom 17. September 1946, verfasste er einen Bericht über seine Erlebnisse im Konzentrationslager.3 Richard war Zeuge der Tötung Simons.

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Abgedruckt in Kienle, Markus: Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt, Ulm/Münster 1998, S. 91f.

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Am 9. September meldete ich mich krank und kam um acht Uhr in das Revier. Oben auf der Treppe sprangen zwei Scharführer daher und riefen: „Wo ist L.?“ Ein Gefangener antwortete: „Hier liegt er im Bett, er ist krank.“ „Wir werden ihm die Krankheit austreiben.“ Die Tür wurde aufgerissen: „Jude raus. Sie haben fünf Tage strengen Arrest vom Lagerkommandanten, weil Sie sich gestern nicht waschen lassen wollten.“ L. antwortete: „Ich kann nicht aufstehen, ich bin schwer krank, ich habe Fieber.“ Scharführer: „Bei uns gibt es keine Kranken.“ Jeder packte einen Fuß und sie zogen L. aus dem Bett, wobei der ganze Körper mit dem Kopf auf den Boden aufschlug. Dann zogen sie den Körper aus dem Zimmer die Treppe hinab, wobei immer der Kopf von einer Stufe auf die nächste herabfiel. Unten angekommen rief einer der Scharführer: „Jetzt ist die Sau auch noch verreckt.“ In der Tat, L. war tot. Sterbeurkunde Nr. 144 Stetten a.k.M. am 10. September 1933 Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt Dr. Hugo F., Lagerarzt des Schutzhaftlagers in Stetten a.k.M. und zeigte an, dass Simon L., Streckenarbeiter 45 Jahre 4 Monate als wohnhaft in Eberbach, Bussemerstr. 3 geboren zu Anajew, Russland zu Stetten a.k.M. im Schutzhaftlager Heuberg am neunten September des Jahres tausend neun hundert dreiunddreissig nachmittags um dreiviertel Uhr verstorben sei. Der Anzeigende erklärt, dass er von dem Sterbefall aus eigener Wissenschaft unterrichtet sei. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben gez.(eichnet) Dr. Hugo F., Der Standesbeamte

Strafdivision 999 Die Bewährungsdivision 999, fälschlicherweise meistens als Bataillon bezeichnet, bestand aus zwangsrekrutierten Zivilisten, die als ursprünglich „wehrunwürdig“ eingestuft nicht einberufen worden waren. Aufgrund der starken Verluste der Wehrmacht wurden ab 1942 Vorbestrafte, Häftlinge und Regimegegner auf dem Heuberg zum Fronteinsatz ausgebildet. Die Einsatzorte der Strafdivision lagen in Afrika, der Sowjetunion und als Besatzungstruppe in Griechenland.

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Abgedruckt in Kienle, Markus: Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt, Ulm/Münster 1998, S. 91f.

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Egon/Werner, 1942/2011 Egon (1908-1989) wurde als Regimegegner 1942 zwangsrekrutiert und auf dem Heuberg ausgebildet. In einem Tagebuch erinnerte er sich an die Zeit bei der Strafdivision 999. Die Aufzeichnungen sind nie veröffentlicht worden. Sein Enkel, Werner, lebt und arbeitet heute als Stabsfeldwebel der Bundeswehr in der Albkaserne auf dem Heuberg. Er hat die Aufzeichnungen seines Großvaters zur Verfügung gestellt. Tagebucheintrag Egon (undatiert)5 Zwangsweise zu einem militärischen Haufen gerufen, in dem man sich mit Leib und Leben einsetzen sollte, für eine politische Partei, für eine Regierung, die man hasste und nicht mochte, war das nicht zu viel verlangt von einem Menschen? Ich soll mich für etwas einsetzten, das ich nicht nur nicht will, nein, das ich verabscheue und das ich hasse, noch etwa unter Umständen, wenn ich Pech habe, dafür sterben müssen, nein das wollte mir nicht in den Kopf hinein. Was haben die Nazis mit denen gemacht, die nicht ihre Ansichten und Meinungen teilten? Doch nur verfolgt bis zum Letzten, aber von uns, die wir anders denken als die, verlangen sie, dass wir Andersdenkende uns für sie, für ihre Wahnsinnsideen mit Gut und Blut einsetzen sollen. Man verlangt also von mir, dass ich mich noch einsetzen solle, für etwas das ich nicht will, dass ich hasse, wie solle das weitergehen? Soll ich mich teilen? Die eine Hälfte meines Ichs dagegen und die andere Hälfte meines Ichs zwingen gegen den Willen der ersten Hälfte, Taten zu vollbringen, die Andere auch vollbringen, die dafür sind. Wird das gehen? Ich werde es versuchen müssen. Eines stand für mich fest, an mir haben die Herren, die mich zur Wehrmacht einzogen, das große Los bestimmt nicht gezogen. Ich werde mir bei Adolf Hitlers Volksheer, so gut ich nur kann, keinen Fuß ausreißen. Hätte ich nicht Frau und Kinder gehabt, die mir lieb und teuer waren, so wäre ich nie Soldat in der deutschen Wehrmacht geworden! Aber nun war ich bei diesem Verein und harrte der Dinge die kamen.

Interview mit Werner, 13.10.2011 Interviewer: Sie haben das Tagebuch gefunden und hatten es auch schon längere Zeit, aber erst nachdem sie das Treffen mit K. (Anm.: Marcus, Leiter der Mili-

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tärhistorischen Sammlung des Truppenübungsplatz Heuberg) hatten, ergab der Inhalt für Sie Sinn? Werner: Also, gefunden hat man das, als man die Schreinerei eben abgerissen hat, als lose Blattsammlung in so einem ganz alten Leitzordner war das gelocht und abgeheftet, handschriftlich. Dann hat, wie gesagt, mein Patenonkel das mitgenommen, mein Vater hat sich Kopien davon gemacht und hat das dann binden lassen in einer Buchbinderei und seid dem ist das bei uns, sage ich jetzt mal, steht das im Wohnzimmer rum, bei meinem Vater und ich habe das irgendwann einmal entdeckt und gefragt was das ist und dann hat er es mit gegeben, dann habe ich angefangen drin rumzuschmökern und seitdem liegt es bei mir, weil er es eigentlich nicht vermisst. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass es bei mir ist. Interviewer: Mal abgesehen von dem was in dem Buch steht, was wissen Sie über Ihren Großvater? Werner: ...ist schon lange her. Also er war ein sehr, wie soll ich sagen, sturer, alter Zeitgenosse, sage ich jetzt mal so, sehr beherrschend, auch in der Familie und er war halt uns Kindern damals gegenüber, wo ich noch klein war eben, wir durften zwar in der Werkstatt spielen, aber wir durften nichts durcheinander bringen. Auch in der Wohnung nicht und so habe ich ihn kennen gelernt. Aber so in der Natur und so, da hat er uns viele Dinge eben beigebracht. Taschenmesser schnitzen, Bäume und Vögel und das, da hat er sich ausgekannt. Das war immer schön, aber wenn man dann eben, wenn das Wetter schlecht war drin sein musste, das war für uns Kinder nicht so toll. Er saß dann immer in seinem Sessel, er hat seinen eigenen Sessel gehabt, in den Sessel durfte sich auch kein anderer reinsetzen, nur er und dann wurde das Sonntags Mittagsbesüchlein eben von diesem Sessel aus geleitet, sozusagen. Interviewer: Was hat Ihr Großvater beruflich gemacht? Werner: Er war Schreinermeister. Interviewer: Und er hat nie über seine Zeit bei den 999ern oder in der Wehrmacht gesprochen? Werner: Ich kann mich daran überhaupt nicht erinnern, dass also jemals darüber gesprochen worden ist. Mein Vater hat wohl mal erwähnt, im Rahmen von dem Buch oder von dem Tagebuchfund, dass er da wohl eingezogen worden ist einundvierzig, aber was da so alles passiert ist und so weiter, das weiß ich eben nicht, weil er auch darüber nie gesprochen hat. Und mein Vater war damals zu der Zeit auch noch klein, grad auf der Welt sozusagen, kann sich daran eigentlich auch nicht so erinnern, also mein Vater, gut, der erinnert sich schon, dass er mal nach dem Urlaub nach Hause kam und so, das eigentlich schon, aber man hat eigentlich nie darüber gesprochen.

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Interviewer: Er hat dann ja doch sehr detailliert gesprochen, in dem er das Buch hinterlassen hat. Werner: Aber sonst nicht, ich kann mich also an kein Gespräch erinnern, wo man mal darüber gesprochen hätte, ich habe mich auch nie getraut da mal nachzufragen. Ich kann mich nur daran erinnern, dass er absolut dagegen war, dass ich also zur Bundeswehr gehe. An das kann ich mich noch erinnern, also als ich mich mal mit den Gedanken getragen habe zur Bundeswehr zugehen. Dann ist er davor noch gestorben, bevor ich zur Bundeswehr eben gegangen bin. Also er war da nicht so sehr, und das steht ja auch öfters in dem Buch drin, nicht so der, Soldatenfreund sage ich mal. Interviewer: Aber was hat er dann gesagt, wie hat er da reagiert? Erinnern Sie sich da noch dran? Werner: Barras ist mal gefallen, geh da ja nicht hin. Vermutlich und dann war das Gespräch auch eigentlich schon beendet, also er war da nicht sehr erfreut...ich soll was anderes lernen, ich soll was anderes machen, das war ihm lieber. Da hat er mich mit raus genommen und mir am Auto was erklärt, ich soll doch irgendwas am Auto machen oder was technisches oder so, dann hat er mir erklärt was am Automotor was und was ist, das hat er dann schon gemacht. Vielleicht in der Hoffnung, dass ich es nicht mache, weiß ich nicht. Interviewer: Er hat sich ja auch nicht frei entschieden dahinzugehen, das ist natürlich ein großer Unterschied. Werner: Das denke ich schon auch ja, wenn man zu etwas gezwungen wird, ist das oft anders wie wenn man freiwillig sich zu was entscheidet, ne? Interviewer: Über die 999er wussten Sie vorher auch nicht viel oder? Werner: Ich wusste, dass es die, solche Einrichtungen oder Verbände gab, das wusste ich. Wo die aber stationiert waren, habe ich erst im Rahmen vom Oberleutnant beim Museumsbesuch das erste Mal, mitbekommen, sage ich mal, dass die hier angesiedelt waren. Darauf habe ich dann meinen Vater mal angesprochen und er wusste das, also sein Vater hier dienen musste, das wusste er, aber wie und was das hat er nie erzählt. Interviewer: Wie war das als sie in der Ausstellung waren? Werner: Also ich wusste schon davon, dass mein Opa bei den 999ern eben im Krieg war. Ich wusste aber nicht ganz genau aus welchem Grund, ich wusste auch nicht wie lang oder in welchem Zeitraum, ob er da nur am Anfang war und später dann wieder wo anders hingekommen ist und ich kam eben im Prinzip darauf, weil eben mir mein Vater das mal beiläufig bei einem Gespräch eben erzählt hat und es hängen auch ein paar im Museum aus mit Namen und so weiter und dann habe ich halt eben geschaut aber ich habe es nicht gefunden, also sein Name ist dort nirgendwo aufgetaucht. Da habe ich das, und das habe ich dann als

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Anlass genommen mich doch ein bisschen intensiver damit zu beschäftigen und darauf hin habe ich dann auch, ist mir das wieder mit dem Tagebuch eingefallen und dann habe ich das mal konfisziert. Tagebucheintrag Egon (undatiert)6 Was nun kommt, ist die Wahrheit. Ich habe keinen Grund etwas zu verschweigen oder gar wegzulassen. Die ersten Einheiten der 999 wurden 1942 aufgestellt in Südfrankreich, in Nimes. Erst später wurde der Heuberg als Standort gewählt. Wer waren nun die Rekruten dieser Einheit? Wer nicht an den glorreichen Endsieg glaubte, wer einen ausländischen Sender abhörte und das Erlauschte anderen im Vertrauen mitteilte, der war reif für die Bewährung bei 999. Den Hamsterern, Schwarzschlächtern und Warenschiebern war 999 sicher. Versteckte und verstockte Kommunisten und SPD-Leute konnten bei 999 geheilt werden. Ungläubige, die die Lehren der Nazis nicht glaubten und ein ungläubiges Leben führten, konnten Vergebung und letzte Ölung finden. In Zuchthäusern und Gefängnissen wurde den Insassen nahegelegt, dass sie sich durch freiwillige Meldung zum Militär und Frontbewährung von all ihrer Schuld reinwaschen konnten. Kurz und gut: Wer nicht williger Gefolgsmann Hitlers war und es sich in irgendeiner Form anmerken ließ, wer verschrieben oder verpfiffen wurde, zu Recht oder zu Unrecht, der landete früher oder später bei den 999ern auf dem Heuberg und musste dort seine Sünden als Soldat bei dem berüchtigten Bewährungshaufen abbüßen. Genau so erging es auch mir! Auf dem Heuberg war ich mehrere Male Augenzeuge von Erschießungen. Wenn ein Todeskandidat erschossen wurde, so mussten von jeder Kompanie einige Mann als Zuschauer zum Richtplatz gehen. An einem schon vorbestimmten Platz sammelten sich die Ehrengäste. Dort angekommen wurde so anmarschiert, dass wir direkt vor dem Schießstand standen und alle Mann alles sehen konnten. Der Verurteilte wurde nun vor den Schießstand geführt. Dort wurden ihm die Fesseln abgenommen. Die vier Bewacher führten nun den armen Kerl nach vorne, wo ein vierkantiger Pfahl in einem vorgerichteten Loch steckte. Dort wurden normalerweise die Ziele aufgesteckt für das MG-Schießen. Vorne am Pfahl wurden mit einer Binde dem Mann die Augen verbunden, wenn er es nicht ablehnte. Ich habe beide Fälle gesehen. Zum Schluss wurde dem auf den Tod Wartenden ein etwa fünf Zentimeter großer, runder, schwarzer Fleck auf die Herzgegend geheftet. Nun war alles fertig für den gesetzlich geschützten Mord. Sobald die Schüsse verhallt waren, kam der Befehl: Ganze Abteilung – Kehrt!

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Unveröffentlicht, zur Verfügung gestellt Militärhistorischer Sammlung des TrupÜbPl Heuberg mit Erlaubnis von Werner S.

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Willi S., 1941/2011 Willi S., geboren 1928, verbrachte abgesehen seiner militärischen Dienstzeit sein gesamtes Leben in Stetten a.k.M. Als gelernter Maler und Lackierer hatte er Anfang der 1940er Jahre die Arbeit französischer Kriegsgefangener im Lager Heuberg beaufsichtigt. In dieser Zeit fertigte er einige Fotografien der Gefangenen an. Abbildung 5: Französische Kriegsgefangene bei Lackierarbeiten, 1941

Quelle: Privatbesitz Willi S./Geschichts- und Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg

Interview mit Willi S., 21.09.2011 Willi: Die Franzosen, die Franzosen sind auch gekommen, aber bloß vorübergehend. Ich habe dann als 17-jähriger mit in dem Moment gerade abgeschlossener Gesellenprüfung, habe ich 10 Kriegsgefangene zum... Kriegsgefangene bekommen zum beaufsichtigen. Da war eine Baracke – sagen wir mal das ist eine Baracke (zeigt auf Tisch) – und wir haben die Fenster gestrichen in der Baracke. Gibt’s schöne Bilder davon. Meinen Fotoapparat mitgenommen und, wenn der Wachposten – der Wachposten war immer dabei – wenn der um die Baracke herumgelaufen ist, dann habe ich darüber Bilder gemacht. Bis der gekommen ist waren wir fertig. Und da war...nur im Lager selber hat auch noch zur Renovierung von... vom Gebäude, aber des waren ein bißchen so... ein bißchen andere

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Franzosen. Die wollten heim. Und dann sind die zu mir gekommen und haben gefragt, wie sie am schnellsten nach Singen kommen. Singen ist ja die Grenze von der Schweiz. Da habe ich gesagt: "Da müsst ihr nach Süden marschieren. Vielleicht vier, fünf Stunden und dann seid ihr da, das sind rund 70 Kilometer bis zur Grenze. Dann haben die es versucht zu fliehen in die Schweiz. Ich habe noch zu ihnen gesagt: „Ihr kommt wieder!“ Sind alle wieder gekommen. Sind nicht durchgekommen. ...Und ich hatte eine schöne Taschenuhr gehabt. Einen Taschenwecker. Einen Reisetaschenwecker. Den haben sie mir geklaut und haben ihn umgebaut als Kompass. Immer nach Süden hatte ich gesagt. Meine Vespertasche, die hatte ich da gehabt, die haben sie ihn rausgeklaut. Den haben sie gebraucht als Kompass. ...  weiß ich nicht – die sind dann weggekommen von Stetten, ich glaube nach Immendingen in ein Sammellager von den Franzosen. [...] Ich bin noch 1941 Soldat geworden, da war für mich der Truppenübungsplatz oder die Kriegsgefangenen erledigt. K., 1941 K. (Vorname unbekannt) war Oberstabszahlmeister der Wehrmacht auf dem Truppenübungsplatz Heuberg. Er hinterließ in der sogenannten „Standortchronik vom Truppenübungsplatz Heuberg mit kommunaler Geschichte des Standorts“ einen Text über die Geschichte des Ortes. Etwas über Land und Leute des „Heubergs“ und über die Geschichte des Ortes Stetten a.k.M.7 An der südwestlichen Ecke des deutschen Vaterlandes, in der Spitze des „badischen Reiterstiefels“, liegt ein Fleckchen Erde, wo sich, wie der Badener zwischen Mannheim und Konstanz meint, die Füchse und Hasen einander gute Nacht sagen, „Der Heuberg“. Es ist die Landschaft in der Spitze des Reiterstiefels, dort, wo die Zehen empfindlich gegen boshaften Druck sind, das muss man schon sagen. Eine Landschaft, für deren schöne, herbe Eigenart auch einmal Maler und Sänger erstehen müssten. Natürlich ist ihre raue Albhöhe nichts für Leute die sich an landschaftlicher Vielfalt berauschen wollen. Wer indessen Sinn hat für die stille Größe der Natur, die sich in endlosen Wäldern birgt, wo kaum ein Mensch wandert, aber dafür das Leben der Tiere und Pflanzen ungestört sich abspielt, wo die Bienenorgel z. Zt. Des hohen Sommers über Thymian und Heidekraut summt, wo der Uhu ruft, wo seltene Gebirgs – und Steppenpflanzen gedeihen und die ungeheure Weite

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Aus: Standortchronik vom Truppenübungsplatz Heuberg mit kommunaler Geschichte des Standorts vom Oberstabszahlmeister Kirschner, 1941, Bundesmilitärarchiv Freiburg, Msg 2/21.

48 | O RTUNG des Horizonts in Sonnenauf- und Untergängen prunkt wie nirgends sonst, wo aber auch wie überall von den Höhen her in diesem Landstrich Badens die höchsten Alpenfirne an den Himmel zeichnen eine wahrhaft überwältigende Schau der steinalten Schöpfung aus dem Dunkel ins Licht. Wer ein Wanderer ist von Gottes Gnaden, der wird die Alb des Heuberg ihrem schlechten Ruf mit freudiger Seele entreißen. Der Heuberg ist groß. Für unserer Betrachtung kommt die stille Hardt um Stetten in Betracht, um Stetten am kalten Markt, wo aus den Gasthöfen der Herrgott den Arm heraushängt in prachtvoll geschmiedeten Volkskunstwerken. Tannen- und Buchenwälder bedecken weite Flächen, mächtige alte Hardtbuchen stehen auf einsamer Höhe, auch ehrwürdig bejahrte, kleinblättrige Linden. Birkenhaine sind hingestreut über Hügelwellen. Im Sommer ist alles Licht überflutet. Viel Himmelsweite wölbt sich über der hochgelegenen Landschaft. Wenn die Silberdistel die Buckel- und Weidhänge dicht bedeckt, die königliche Blüte des Heubergs, dann leuchtet der Herbst auf mit vielfarbiger Glut im Laubwald. Eisenhut und Arnika, Enzian und Erika haben ausgeblüht, die Bauernheime im karg besiedelten Land haben eingeheimst, was der spröder Boden hergab, die großen Herden Erfüllen die Ställe mit tierharter Dumpfheit. Die ungezählten Schafherden, die während des Sommers sich auf den Weideflächen tummeln, suchen milderes Klima auf. Und die Seelen der herben Menschen hier oben sind geborgen im Instinkt, der sich Mythischen reinigt und erhebt. Und dann bricht der lange, riesige Winter ins Land. Viel weiß man nicht vom Innenleben der Bauern hier oben, aber zu ahnen ist es, dass sie wohl viel heimliches, ihnen fast unbewusstes Brauchtum haben. Das klingt einem aus Redewendungen entgegen, die halb vergessen und uralt sind. Der Jurakalk der Alb, der Hardt und des Donautals gibt der Landschaft eine eigentümliche Stimmung. Nicht die heroischen Basteien im Donautal sind damit gemeint, sondern der Hauch von hellem Staub, der überall im trockenen Sommer silbern auf Halm und Blatt liegt, in der Luft schwebt, zarte Trübung schwermütig über Hang und Hügel, über Siedlung und Mensch legt. Manche heitere Seele, die vielleicht aus dem südlichen, glasklaren Glanz des Bodensees kommt, kann sich davon bedrückt fühlen und dies vielleicht mit der Armut in Zusammenhang bringen, die in einzelnen einsam gelegenen Dörfern wortkarg in ungepflegten Gassen nistet. Ob es eine Armut an Dingen oder an Seelengut ist, blieb allerdings verborgen. Das überhaupt scheint als Wesentlichstes bisher versäumt worden zu sein: Die Erforschung des Volkstums im hohen und herben Landes des Heubergs. Es ist ein Bauerntum in Reinkultur, als Wald-, Vieh- und Herdenzüchter leben sie. Das Lands ist nicht fruchtbar, die Kalkböden bringen wohl Futtermittel hervor, aber bäuerliche Handelsware ist in der Hauptsache nicht Obst, Gemüse, Frucht, Kartoffeln, sondern Holz und Herdenvieh. Dass die Bauern ungesprächig, ja stumm, dumpf scheinen, bringt die Landschaft mit sich, auch daß sie auf eine eigenwillige, fast heidnische Zähigkeit grenzende Art fromm- katholisch- sind, das will heißen: ebenso weltverlassen wie gotterfüllt.

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Der Himmel ist über ihnen weit gespannt und nah, den Naturgewalten sind sie, von keiner Seite geschützt, weil sie selber auf der Höhe wohnen, ausgeliefert. Stiere, mächtig, zottig, urweltlich stark, brüllen über den Weiden, und Kühe mit geraden Rücken, große Muttertiere mit walzenrunden Leib, geraden, festen Beinen und sauber gepflegtem, gefleckten Fell gehen umher in stolzer, ruhiger Kraft. Schafherden ziehen meckernd über das Umland, hastig und emsig die saftigen, wohlschmeckenden, kräftigen Blätter und Pflänzelein suchend. Man ist mitten im Lande der oft „prämierten“ Kühe, Stiere, Pferde und Hammel. Die Tierhaltung ist hier das A und O der Lebenshaltung. Sie weckt Leidenschaft und Ehrgeiz im alltäglichen, rauen Tagwerk der bäuerlichen Menschen. Im Handeln und Tauschen auf großen Märkten in Messkirch wetzt sich ihr Geist und erobert Stolz und Lebensfreude ihr Gemüt. Es ist fast unbegreiflich, daß keine Tracht mehr, auch von der Bäuerin nicht, getragen wird, in diesem sonst so urtümlichen Bauernland. Längst ist die letzte Spur ihres Eigenkleides verwischt, wenn auch nicht gerade das modische Städtische seinen Einzug hielt. Dieser Landesteil Südosten Badens hatte, so verkehrsfern er zu liegen scheint, weil eben die Anziehungskräfte des Bodensee und des Donautales zu stark sind, durch die Kriege, die unser Reich erschütterten, unter Pest und deren Folgen viel zu leiden. Die alten Römerstraßen blieben in allen Zeiten für Heere gangbar. Die Ritterfehden von Burg zu Burg, von Landschaft zu Landschaft waren oft grausamer und blutiger als ein großer Krieg. Nichts jedoch kam den Trubeln des dreißigjährigen Krieges gleich. Die Horden, von berittenen Heerscharen abgesprengt, fanden das einsamste Bauerngehöft so sicher wie das stillste Kloster. Sie brandschatzten die bewerten, tapferen Städte und die mutig verteidigten Dörfer. Dann kamen die Franzosenkriege, der spanische Erbfolgekrieg, und ihre Soldaten hausten nicht minder grauenvoll. Das Bauernland ächzte inmitten seiner blutgetränkten zerstampften Äcker und verbrannten Wälder, aber es starb nicht. Boden hat ewiges Leben!

Eva, 1941 Eva, geboren 1914, verbrachte den Sommer 1941 bei der Försterfamilie auf dem Truppenübungsplatz. Der Grund ihres Aufenthalts geht aus ihren Briefen8 an ihre Familie nicht hervor. Diese betrieb einen Buchhandel in Tübingen. Das Wohnhaus der Försterfamilie steht bis heute im militärischen Sperrbereich und

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Briefe von Eva W. (1926-1995), in: Briefe an ihre Eltern und Schwestern über ihren Aufenthalt bei der Oberförsterfamilie des Truppenübungsplatzes S., Tagebucharchiv Emmendingen, Sig. 199.

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in unmittelbarer Nähe zum Russenfriedhof und dem früheren Kriegsgefangenlager. Abbildung 6: Ehemaliges Försterhaus auf dem Truppenübungsplatz Heuberg

Quelle: Standbild aus Filmmaterial Ortung

b. L. Fortsth. den 8.8.41 Liebe Mutter und Lieber Bäbel und Helga und Roswitha! Die Karte von Vater habe ich erhalten, Vielen Dank! Ich denke immer ans Geschäft, daß ich da viel nötiger bin als hier. Hat Bäbel viel Geschäft? Und wie ist es Samstags? Wer bringt das Essen? Bei mir ist es sehr schön! Denkt Euch nur gestern führen wir im Auto durch den Wald und über den Übungsplatz! Es hat natürlich sehr geschaukelt und gewackelt das fand ich sehr schön! Euch wäre es vielleicht schlecht geworden! In dem Wagen saßen drinnen Helmut und Fredi und ich und gelenkt hat es Herr S. Wir waren eine ganze Stunde unterwegs und als wir heimkamen konnten wir schon Essen. Leider kam ich erst um 3/4 10 Uhr ins Bett! Jetzt weiß ich wo das Gefangenenlager ist! Es ist gleich hinter dem Hause und es ist mit Stacheldraht eingezäunt. Die Franzosen haben zum Schlafen Baracken. Wenn einer nicht kapiert wird er furchtbar angeschrien. Frau S. hat gesagt, die könnten prima deutsch sprechen, sie täten als ob sie nichts verstünden. In dem Wachhaus steht immer ein Soldat mit dem Gewehr. Ich kann alles sehr genau sehen. [...] Heute gibt es bei uns Dampfnudeln. Ich habe schon sehr viel zugenommen. Wir haben herrliches Wetter, nur ein kalter und rauer Wind geht! Ich habe meinen gestrickten Pullover an. Wir haben auch eingeheizt. Gestern haben wir Stachelbeeren gezupft und Frau S. ist ein Dorn in die Hand und heute hat es ihr Mann herausgemacht. Ich habe einen Dorn im Finger gehabt und habe ihn wieder herausgemacht. Heute Morgen gehe ich mit Frau S. nach Stetten

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zum Einkaufen und sie sind evangelisch! Gestern zeigte mir Helmut den Metzger und ich mußte Fleisch einkaufen und brachte zu viel. Der Metzger hatte mir statt 1/2 Pfd. Hackfleisch 1 1/2 Pfd. gegeben. Es gab so Fleischknödel und Kartoffeln und Bohnen. Das schmeckte mir! Wie geht es Helga? Hoffentlich besser und Euch? Mir gefällt es sehr gut hier. Die Herzlichsten Grüße sendet Euch Eva! Forsthaus, 10.8.41 Lieber Bäbel und Liebe Mutter! Wie ich heute Morgen aufgewacht bin, habe ich an Euch gedacht. Ich bin heute um 10 4/3(?) Uhr aufgestanden. Gestern am Samstag haben wir gebadet, jedes für sich! Habt Ihr meine 2 Briefe nicht erhalten? Warum schreibt Mutter nicht? Mir geht es gut [...] Heub. Forsthaus 12.8.41 Lieber Bäbel und Liebe Mutter und Helga und Roswitha! Gestern und heute ist der heißeste Tag und ich habe mein Dirndl an. Man kann es kaum aushalten vor Hitze. Heute schlief ich bis 11 1/4 Uhr! Nun will ich dir berichten, wie ich den Tag anfange und aufhöre: Wenn ich am Morgen aufgestanden bin, dann wasche ich mich zuerst und bringe mein Zimmer in Ordnung. Wenn ich auf den Markt muss immer schon um 1/2 7 Uhr. Dann schlafe ich nachher weiter. Bald darauf gehe ich zum Frühstück hinunter. Morgens gibt es immer bei uns Brot mit Butter und Gesälz. Dann nachdem gehe ich mit Helmut nach Stetten, zum Einkaufen. Oder wenn ich nicht Einkaufen muss, dann gehen wir in den Garten und spielen. (In dem Garten hat es auch Hühner, 7 Stück welche uns gehören. Dann bekommen wir manchmal abends 1 Ei!) Bei Regenwetter spielen wir im Wohnzimmer. Um 1 Uhr, es ist auch manchmal später, essen wir zu Mittag. (Es gibt auch Gemüse) Dann nach dem Essen, helfe ich Frau S. abtrocknen. Nachdem gehen wir ins Bett zum Mittagsschlaf, der bis 4 Uhr dauert; es kann natürlich auch später werden, das ist gleich. Gleichdarauf bekommen wir unser Vesper, welches aus Brot, Butter und Gesälz besteht. Gestern haben wir als Mittagsbrot bekommen: Eine saure Milch, darin war enthalten: Zitrone, Zucker und Verstampfte, welche herrlich schmeckte. Dann spielten wir unten bei K. Ich spiele mit Maja. Sie hat eine goldige junge Katze und einen Ball (sie ist 10 Jahre alt aber 10 Zentimeter kleiner als ich) und hat ein Rad, auf welchem sie im Hof herumfährt und auch Hasen haben sie. (Morgens muss sie in die Schule und Mittags hat die keine. [...] Wir spielen immer bis Frau S. zum Essen ruft und dann essen wir zu Nacht. Nach dem Nachtessen gehe ich dann zu Bett und Helmut bleibt dann nach ein paar Minuten auf. [...] Mir geht es gut. Gerade ist Gewitterregen gekommen. Nun gehe ich zu Helmut und spiele mit Ihm. Viele Grüße an Euch alle Eure Eva. [...]

52 | O RTUNG 14.8.41 Lieber Bäbel und Liebe Mutter, Helga und Roswitha Am 12.8. holten wir unsern „Seppel“ (Jetzt haben wir ihn umgetauft auf „Schuftel“!) Wir fuhren mit Herr S. seinem Auto nach Storzingen (Helmut und ich.) Als wir unten ankamen verstauten wir die Holzkiste im Auto, denn der Hund war in einer Holzkiste befördert worden. Nach der Fahrt trugen wir die Kiste in die Waschküche und Herr S. machte sie mit Werkzeug auf und drinnen saß ein goldiger Welpe. [...] Herr S. nahm es heraus und fütterte es. (Es ist erst 3 Monate alt) Natürlich bekam es genug zu fressen. Und nachher spielten wir mit ihm, es bellte gar nicht! Wir sind alle sehr gespannt, wann es zum ersten Mal bellt. Dieses Hündchen hat ach einen Stammbaum. Gestern Abend saß es mir auf dem Schoße und schlief beinahe ein. Es läuft mir immer nach und sieht aus wie ein Tollpatsch mit seinen weichen Pfoten. (Kostete Herrn S. 65.- RM) Es ist bei uns allen der Liebling. Es kann Herr S. sehr gut leiden, es läuft ihm immer nach und schläft in einer Kiste in Herr S. Büro. Gestern Abend spielten wir wieder bei K. drunten und Helmut und Fredi stöberten die jungen schwarzen Katzen im Hof auf. [...] Heute scheint die Sonne sehr warm wieder. Wie geht es im Geschäft? Jetzt gehe ich wieder zu Helmut in den Garten und spiele mit ihm. Frau K. fragt mich immer nach dem Buch „Lieschens Streiche“ von Sapper! (Es bekommt nämlich Maja) Sie hätte es bei dir Bäbel schon lange bestellt! Schicke es, wenn es nicht vergriffen ist! Es ist jetzt 10 Minuten bis 3/4 11 Uhr. Kaffee getrunken habe ich schon. Für Helgas und Roswithas Karte herzlichen Dank, es hat mich sehr gefreut! Ich sehe, daß Helga und Roswitha feste im Geschäft mithelfen! Schreibt mir wieder! Es grüßt Euch alle herzlich Eure Eva! Holt ihr mich am 24. August ab oder soll ich allein fahren? Oder erwartet ihr mich auf der Bahn? Viele grüße an Euch alle Eva!

Briefe an Eva von ihrem Vater (Undatiert) Liebes Evele! Deine Briefe und Karten haben uns immer sehr erfreut, hauptsächlich aber, dass es dir gut gefällt und du schon zugenommen hast. Und Unterhaltung hast du ja auch mit Nachbarskindern, Schuftel, Autofahrten usw.; da hast Du keine Langeweile! Wie steht es aber mit der Stenographie? Übst du fleißig? Treibst Du auch Gymnastik Händehoch? Damit Du eine gerade Körperhaltung bekommst! Ich will sehen, wenn du kommst. Im Geschäft habe ich es jetzt natürlich streng ohne Dich, aber es muss trotzdem gehen. Ich hebe Dir viel Geschäft auf, damit es Dir nicht langweilig wird, wann Du zurückkommst. Roswitha hilft etwas und macht die Postbesorgungen. [...]

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Tübingen 15.8.41 Fräulein Eva W. z. Hd. Oberförsterei Truppenübungsplatz Heuberg Liebes Evele! Guten Morgen! Hast gut geschlafen? Bin heute kaum fertig geworden ohne dich. Weißt, es kamen so viele Briefmarken, welche aufhielten und dann hatte ich noch viel zu bestellen. [...] Du fehlst halt und Im Garten haben wir jetzt alle Träuble abgezupft und eingemacht. Bis du kommst werden gerade die roten Zwetschgen und Pflaumen reif. Bohnen und Tomaten hat es jetzt genug im Garten. Deine Schaukel wartet auf Dich mit Schmerzen. Dein Lehrlingspass und Mitgliedsausweis als Buchhändler ist jetzt auch von Leipzig gekommen. Das Buch „Sapper, Lieschens Streiche“ ist zur Zeit vergriffen, vielleicht gibt es es wieder zu Weihnachten, sag es Deiner Nachbarsfrau! Anbei einige Briefhüllen. Wozu brauchst Du so viele? Wem schreibst Du immer Briefe? Deinen Brief schreib ich im Geschäft, ich hab fast keine Zeit. Es sind schon wieder Leute da und ich schließe mit den herzlichsten Grüßen Dein Vater Herzliche Grüße auch an Familie S.

Will, 1941/1976 Will war der Hauptdarsteller des anti-britischen Propagandafilms „Mein Leben für Irland“ (1941). In seiner Autobiografie schrieb er 1976 über die Produktionsbedingungen. Laut des Kameramanns sollen für die Kampfszene echte Sprengsätze eingesetzt worden sein. Der Sprengstoffexperte sei aber vor Produktionsende eingezogen worden. „Als dann bei Drehbeginn Hunderte Statisten zum Sturm antraten, liefen einige von ihnen auf die Sprengsätze und wurden zerrissen oder verletzt. Am Schneidetisch aber machte es keinen Unterschied, ob die Leute ihren Tod spielten oder wirklich starben, und so wurde die Filmgeschichte um ein blutiges Ereignis bereichert. Der Zwischenfall wurde totgeschwiegen. Die Szenen kamen in den Film. Außer den Augenzeugen erfuhr niemand etwas davon.“9

Eva, 1941 Oberförsterei 18.8.41 Lieber Bäbel, Liebe Mutter! Helga und Roswitha! Ich muss Euch mitteilen, dass ich erst am Montag kommen kann, weil am 24. August am Sonntag fährt kein Postauto nach Stortzingen, nur am Montag wieder oder ich kann auch

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Quadflieg, Will: Wir spielen immer. Erinnerungen, Frankfurt am Main 1976, S. 116.

54 | O RTUNG am Freitag fahren! Wie soll ich fahren? Am Montag, den 25. täte ich um 8 Uhr bei Euch in Tübingen ankommen! Was soll ich machen? Gestern war ich mit Frau S. im Kino. Es wurde gespielt: Mein Leben für Irland. Frau S. zahlte auch mein Kino. Mir ist es oft so langweilig! Schickt mir etwas zum Spielen, es darf aber nicht so schwer sein, weil ich es sonst nur tragen muss! Schickt mir auch meine Mundharmonika mit! Helmut spielt immer mit Fredi, da gräbt er manchmal, oder führt Steiner fort, oder sandelt, dann ist er nachher ganz und gar schmutzig! Gerade eben war ich mit Frau Kreiselmeier beim Himbeersammeln. Wir brachten nicht besonders viel zusammen, aber jedes ein kleines Eimerchen voll. In unserem Garten hat es nur 1 Traubenstock und 6 Stachelbeerstöcke. Sie sind alle leer gegessen! Zu Essen bekomme ich genügend, es gibt zwischendurch ganz gute Sachen. Hat Bäbel viel Geschäft? [...] Wie geht es meinen Puppen? Heute ist es wieder furchtbar heiß bei uns. Jetzt Essen wir dann! Es grüßt Euch alle herzlich Eure Eva!

Felix Steiner, 1941 Felix Steiner10 war zum Zeitpunkt der folgenden Korrespondenz SSBrigadeführer und Kommandeur der SS-Division „Wiking“, die sich im Frühjahr 1941 zu Ausbildungszwecken für einige Wochen auf dem Truppenübungsplatz Heuberg aufhielt. SS Division Wiking11 Div. Stabsquartier, den 13. April 1941 Es ist darüber Klage geführt worden, dass Truppenangehörige der Div. sich im Alkoholgenuss nicht beherrscht und im Zustande der Trunkenheit einen üblen Eindruck auf die Öffentlichkeit bzw. im Lager Heuberg auf die dortige Heeresdienststelle gemacht haben. Ich verlange von jedem Angehörigen der Div., dass er im Alkoholgenuss Mass hält und weiß, wieviel er verträgt. Wer sich betrinkt, schädigt das Ansehen der Div. Ich ersuche die Herrn Kdre., gegen jeden Fall von Trunkenheitsexzessen mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln einzuschreiten und ersuche die Kp.Chefs, durch Belehrung und Überwachung der Untergebenen derartige Fälle überhaupt zu unterbinden.

10 Um die frühere Erwähnung in Evas Brief kenntlich zu machen, wird Felix Steiner nicht anonymisiert. 11 Korrespondenz des Div. Stabsquartiers, 13.04.1941, Bundesmilitärarchiv Freiburg, RS3-5-3b.

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Der deutsche Soldat hat in und ausser Dienst stets die Würde seines Berufes, dieses ganz besonderes der Waffen SS, und die Ehre seiner Uniform zu wahren. S.

Eva, 1941 Oberförsterei d. 20.8.41 12 1/2 Uhr Lieber Bäbel, Liebe Helga und Roswitha! Denkt Euch nur gestern Abend am 19.8.41 nachts sind 54 Rußen durchgegangen, das ist schlimm! Herr S. hat gesagt, dass dieser Wachmann sicher geschlafen hätte! Nun sind alle Soldaten aufgeboten die Rußen zu suchen. Gestern gegen 6-8 Uhr war ich mit Frau K. im Wald und Maja war dabei. Wir bekamen über 1 1/2 Pfd. Himbeeren zusammen. Ich aß natürlich alle, die wo ich fand. Bei uns in der nähe im Wald gibts einen Russenfriedhof! Da war ich schon ganz allein mit Maja drinnen, es ist schwer interessant. Jetzt ist es mir nicht mehr langweilig! Von Herr und Frau S. einen Gruß an Euch soll ich ausrichten. Stenographie übe ich auch und treibe auch Gymnastik morgens. Die Briefumschläge bringe ich alle wieder heim. Aber meine 10 wo ich mit habe, brauche ich ganz. Onkel Otto, Frl. Dieter, Hildegard S., allen habe ich schon geschrieben. Die Post von Helga vom 16.8.41 habe ich erhalten, ebenso Roswithas vom 16.8.41 und Mutter deine vom 16.8.41 und Vater deine vom 15.8.41. Diese Post habe ich alle zu gleicher Zeit bekommen und es hat mich riesig gefreut. Gestern Abend und heute Morgen habe ich wieder mit Seppel gespielt und er hat meine Hand in sein Maul genommen. Er ist doch zu drollig. Wenn Herr S. 1/2 Std. fort ist, dann ist er ganz traurig. Mir geht es sehr gut. Wie geht es Euch? Am 18.8.41 habe ich Nachmittags mit Frau S. in der Stadt Eis gegessen bei Frau M. Ich bekam 3 Eis auf einem Eistellerchen und Frau S. dasselbe und Helmut nur 2 Eis. Viele Grüße an Euch alle, Eure Eva! Denkt Euch nur gestern ist eine Frau geschoren worden in Stetten, sie hat 2 kleine Kinder. Alle Leute von Stetten sahen zu, nur wir nicht. Dies erzählte unsere Putzfrau Frau R.. Sie ist durch den ganzen Ort geführt worden. Frau S. sagte, das erinnere an Mittelalter! Gestern hat es auch immer grau ausgesehen und am Abend gerade als wir heimkamen hat es angefangen zu regnen. Nochmals die besten Grüße Eva!

Willi S., 1941/2011 Interview mit Willi S. vom 21.09.2011 Willi: Die ersten Kriegsgefangenen waren Polen. 1939 ist der Krieg ja ausgebrochen in Polen und da haben die – ich weiß nicht was – 2000, 3000 Polen bekommen. Die haben von Storzingen ausgeladen und nach Stetten marschiert. Und dann sind sie entlaust worden in der Entlausungsanstalt. Das ging folgen-

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dermaßen: die mussten sich ausziehen, Kleider weglegen, dann bekamen sie eine Hand voll Champagnerkreide. Das wissen Sie nicht, was das ist? Champagnerkreide hat man viel verwendet zum Decken zu streichen. Es gab ja noch keine Wandfarbe wie heute. Heute habe ich Wandfarbe. Dispersionsfarbe. Und dann mussten sie sich waschen, einreiben mit der Kreide und wieder abspülen. Die haben am Lager geschafft, aber durch das, dass in Stetten Männermangel war, Männermangel in der Landwirtschaft, dann sind einige rausgekommen zum Schlosser, einige zum Landwirt, zum mithelfen in der Landwirtschaft. Ich habe mit dem von der ...von der Schlosserei – die steht heute noch, das Gebäude wenigstens – habe ich mit unterhalten, gern unterhalten, damit ich polnisch lernen konnte und er deutsch. Das war ein junger Mann mit 20 Jahren und ich war damals...22, 23. Und dann bin ich beobachtet worden. Dann hat es einen Nazi, einen ehemaligen Nazi hat mich beobachtet, dass ich am Sonntag mit dem nach Nusplingen gelaufen bin und wieder zurück. Da bin ich fast angezeigt worden, weil ich mit Kriegsgefangenen unterhalten, mit Kriegsgefangenen beschäftigt habe. Dann musste ich das aufgeben. Die haben auch da gewohnt. Die sind nicht ins Gefangenenlager gekommen. Die haben da im Haus gewohnt. Und eine Frau, die Frau H., die verheiratete S., der ihr Mann war im Krieg, und ist nicht mehr heimgekommen. Und der eine, die hat einen Kriegsgefangen, kriegsgefangenen Polen gehabt zur Mithilfe. Dass aus der Bekanntschaft, weil sie miteinander geschafft haben, hat sie ein Verhältnis gehabt mit dem Mann. Und da gab es in Stetten einen Mann, der hat müssen nachts am Fenster horchen, ob da Radio läuft, ob man einen englischen Sender hört und was die Leute miteinander schwätzen. Und das war ein Nazi, aber ein ein bißchen komischer Mann. Der B., B. hat er geheißen. Den habe ich gut gekannt. Und dann ist sie angezeigt worden und dann hat man die Frau im Wagen auf den Marktplatz gefahren – das steht auch im Heimatbuch – und ist dann...Kopf...Haare weg. Kahlgeschoren worden. Die Franziska. Das war neunzehnhundert...ich war noch daheim, ich war noch nicht im Krieg, war 1940, glaube ich.

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Abbildung 7: Willi S. notiert Erinnerungen auf seinem Computer

Quelle: Standbild aus Filmmaterial Ortung

Franziska, 1941 - 1944 Franziska lebte in Stetten und betrieb dort gemeinsam mit ihrer Verwandtschaft und mit Hilfe eines polnischen Zwangsarbeiters einen landwirtschaftlichen Betrieb. Aufgrund eines angeblichen Verhältnisses mit dem Zwangsarbeiter wurde sie kahlgeschoren, durch das Dorf abgeführt und zunächst im Konzentrationslager in Konstanz, später in Ravensbrück interniert. Konstanz, den 6.12.1941 An das Bürgermeisteramt Stetten a.k.M. Habe soeben von meiner Tante Franziska G. Nachricht erhalten, daß mein Mann in letzter Zeit einigemal in meinem Hause in Stetten war. Soviel mit bekannt ist, hat er doch nicht das Recht aus meinem Hause etwas zu nehmen oder zu verkaufen, ohne mein Wollen oder Beisein, oder vor der Endentscheidung. Ich glaube kaum, daß er das Recht hat, meinen Leuten die allgemeine Wohnungstür abzuschließen und den Schlüßel einzustecken; Denn Sie als stellvertretender Herr Bürgermeister wissen ja am besten, daß ich das Haus von meinem Onkel Raphael H. auf meinen Nahmen vor 4 Jahren beim Kauf von S. eingetragen bekam, daß noch 3000 Mark Hypothek Schuld und das allgemeine Wohnungsrecht für Raphael und Anna M. H. im ganzen Hause nicht nur in ihren jetzt bewohnten Zimmern, darauf ist. Auch wollte er soviel ..., entnahm unser Mutterschwein zum Verkaufen, er nimmt sich scheints das Recht aus, da er es als Kleines bei Karl R. vor 3 Jahren gekauft hat. Aber all die Jahre musste es doch von Onkels Landwirtschaft ernährt und gezüchtet werden, da wir ja nichts hatten, und den späteren Nutzen, den es trug, wurde zum allge-

58 | O RTUNG meinen Hausverbrauch und Zahlung von Rechnungen benutzt. Auch kauften wir vor 3/4 Jahren eine Schrotmühle und Futterschneidemaschine. Aber S. ihr Mann muß doch selbst zugeben, daß mir der Onkel von einer verkauften Kuh zu einer Maschine das Geld gab und die andere noch nicht ganz ausbezahlt ist, und infolgedessen hat er gar kein Recht sie zu verkaufen; Vor dem Kriege gab er mir immer so wenig Geld, daß ich nicht alle Tage nur eine gute Suppe hätte kochen können, wenn nicht von dem Onkel seinem Sach soweit alles vorhanden gewesen wäre. Als er fort war, da mußte ich erst anfangen in allen Ecken die angehäuften Schulden zu begleichen, aber es gelang mir noch nicht ganz, trotzdem ich meine 400 Mark elterliches Vermögen seit meiner Ehe noch in Anspruch genommen habe. Den neuangebauten Wagenschopf und Schweinestall, der ungefähr bei Firma W. 500 Mark kostete, habe ich als gleich bei der Volksbank von meiner Familienunterstützung überweisen lassen und ungefähr 180 Mark nach Meßkirch von meiner Hausschuld Zins. Hätten wir irgendwo eine Wohnung gemietet gehabt, dann wäre dieses längst für Miete aufgegangen, und hätten erst nichts eigenes gehabt. 200 Mark habe ich vor dem Kriege von meinem Bruder und dessen Ehefrau Johanna H. entlehnt, da der Zins fällig war und ich einfach kein Geld zusammen brachte Die Quittungen halte ich alle schön beisammen in einem Einbinder, wenn sie mein Mann nicht weggenommen oder zerstreut hat. Ich bitte Sie als stellvertretender Bürgermeister meinen alten Leuten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, und sollte S. grob werden, dann wünsche ich, daß Sie ihm polizeilich das Haus verbitten oder durch Beisein eines Polizeibeamten seine Kleider und Wäsche, die alles in Kleiderkisten aufbewahrt sind zu holen, aber auf alle Fälle darf sonst nichts weggenommen werden. Die Möbel wurden von den 500 Mark Ehestanddarlehen bezahlt, worüber jedenfalls das Gericht entscheidet andernfalls ich gewillt wäre, ihm seinen Anteil auszuzahlen, da es auch keine modernen Möbel mehr sind. Die Kleider, Leib und Bettwäsche ebenso Küchengeschirr hatte ich alles bezahlt in die Ehe mitgebracht und es entstanden ihm keine Schulden. Er wird sich noch erinnern können, daß er bereits gar nichts mitbrachte, also jetzt für seine Grobheiten große Ansprüche machen darf. Sind Sie als stellvertretender Bürgermeister doch meinen Leuten und mir behilflich, daß nicht alles zugrunde geht und meine selbstgesparte Wäsche auch nicht zugrunde geht, denn mein Mann braucht doch immer Geld, und ich möchte doch meinen armen Kindern die Heimat erhalten, denn einstens wird doch die Zeit kommen, da sie ihm zur Last sind. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich von Ihnen Nachricht erhalten könnte, denn dem Herrn S. stehen meine Leute machtlos da, Sie kennen ihn ja selbst. Danke Ihnen im Voraus für alle Sorge und Bürde, die ich Ihnen mit diesen Zeilen auftrage und grüße Sie freundlich, Franziska S.

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Bürgermeister der Gemeinde Stetten a.k,M. Stetten a.k.M., den 30. März 1944 An die Geheime Staatspolizei Konstanz Betr. Frau Franziska S. z.Zt. im Konzentrationslager in Ravensbrück Frau Franziska S., Stetten a.k.M. befindet sich z.Zt., und zwar seit über 2 Jahren, in dem Frauenkonzentrationslager Nr. 9137, Block 6 in Ravensbrück in Mecklenburg, Post Fürstenberg in Haft. Frau S. besitzt zu Hause ein landwirtschaftliches Anwesen, das die Jahre herein von ihrer Tante Fr. Anna H. und einem polnischem Zivilarbeiter betrieben wurde. Anna H. ist aber z.Zt. schwer krank, sodass mit dem Ausfall ihrer Arbeitskraft im kommenden Sommer gerechnet werden muss. Der polnische Zivilarbeiter kann jedoch den Betrieb nicht alleine betreiben und es wäre deshalb dringend erforderlich, dass zur Bestellung der Felder und zu den Ernten die Franziska S. wieder in ihrem Betrieb tätig ist. Ich bitte Sie deshalb um Nachricht, ob ich ein solches Gesuch einreichen darf und ob zur Genehmigung dieses Ges. Aussicht besteht. I.V. NB. An welche Stelle müsste ein solches Gesuch gerichtet werden?

Russische Kriegsgefangene, 1941-1945 Zwischen 1941 und 1945 wurden tausende von russischen Kriegsgefangene in einem gesonderten Massenlager auf dem Heuberg interniert. Über die tatsächlichen Opferzahlen ist nichts bekannt. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung des Heubergs durch die Alliierten wird eine sogenannte „Russische Kommandantura“ eingerichtet: ein Verwaltungsbüro, das die Sammlung und Rückführung von Russen in ihre Heimat koordinieren, aber auch Deserteure und Wehrmachtskollaborateure finden und zur Rechenschaft ziehen soll. An die Gemeinde Stetten am kalten Markt12 Truppenübungsplatz Heuberg, 18. August 1941 Am Montag, den 18 August 1941, treffen 1200 kriegsgefangene Sowjetrussen ein und werden in den hierfür vorbereiteten Stallbaracken im neuen Lager untergebracht. Sie sind vorerst nicht für den Arbeitseinsatz bestimmt. Eine Verwendung, wie bisher üblich bei den französischen Kriegsgefangenen, zum Beispiel einzeln bei der Heeresstandortverwal-

12 Brief des Kommandanturmitarbeiters S. an die Gemeinde Stetten a.k.M. über die Ankunft der russischen Kriegsgefangenen, 20.08.1941, Gemeindearchiv Stetten a.k.M., 9/145.

60 | O RTUNG tung, dem Heeresverpflegungsamt, der Gärtnerei, der Malerwerkstatt, usw., ist ausgeschlossen. Die sowjetrussischen Kriegsgefangenen dürfen unter keinen Umständen mit anderen Kriegsgefangenen zusammenkommen. Sie sind daher in streng isolierten Baracken unterzubringen und auf der Arbeitsstelle dürfen keine anderen Kriegsgefangenen, keine deutschen Zivilpersonen und ebenso keine ausländischen Zivilarbeiter beschäftigt sein. Es sind besonders energische Wachleute für die Russen bereitzustellen. Es ist äußerste Zurückhaltung und schärfste Wachsamkeit geboten. Mit heimtückischem Verhalten, insbesondere der Kriegsgefangenen asiatischer Herkunft, ist zu rechnen. Daher rücksichtsloses und energisches Durchgreifen bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit. Restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes. Der Sowjetrusse ist ein unter das Tier gesunkener Mensch. Dementsprechend erfolgt seine Verwendung und seine Behandlung! Gezeichnet S., Kommandantur Truppenübungsplatz Heuberg. Vermerk: Kopie geht an den Bürgermeister von Stetten mit der Bitte um Kenntnisnahme und Belehrung der Bevölkerung über das Verbot des Verkehrs mit den Sowjetrussen.

Edwin, 2011 Edwin ist Archivar im Landkreis. Er beschäftigt sich seit einiger Zeit mit dem Schicksal der russischen Kriegsgefangenen auf dem Heuberg. Interview mit Edwin vom 07.10.2011 Interviewer: Mich würde das „Verschwinden“ der Russischen Kriegsgefangenen interessieren und auch, wie die Kriegsgefangenen hier zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Was weiß man in welchem Umfang das stattgefunden hat? Edwin: Ja gut, wir haben es jetzt natürlich nicht für alle Orte untersucht, aber Sie dürfen davon ausgehen, dass in jedem Dorf und mag es noch so klein eine gewisse Anzahl von Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern einfach zu Gange waren, sei es, dass sie auf den Höfen mitgearbeitet haben, die Lücken geschlossen haben, die da halt einfach durch die Teilnahme der Männer an den Eroberungsund Vernichtungskriegen des Dritten Reiches da entstanden waren, in Handwerksbetrieben, in Gewerbebetrieben, im Bergbau. Sie können eigentlich hingehen wo sie wollen, wenn ich die Zahlen der Forschung richtig in Erinnerung habe, sind das glaube ich, über zehn Millionen Leute. Wir alleine bei uns im Landkreis Sigmaringen mehrere tausend, die hier halt überall omnipräsent sind und natürlich die große Zahl sitzt in Industriebetrieben, da haben wir hier das Hüttenwerk Taubertal, das voll auf Rüstung arbeitet im Zweiten Weltkrieg, da haben wir siebzehnhundert Zwangsarbeiter. Kriegsgefangene und Zivilarbeiter, Männer und Frauen, ich glaube aus sechzehn oder siebzehn verschiedenen Ländern. Und

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in Stetten da oben sicher auch etliche Dutzend auf den Höfen und in den Betrieben, wie auch immer, das ist der Normalfall. Das eigentlich Furchtbare darüber hinaus ist eben der Umgang mit den Kriegsgefangenen, die werden eben gerade nicht als Zwangsarbeiter eingesetzt, sondern werden im Grunde genommen in diesem Massenlager ihrem Schicksal und auch Hunger und Seuchen und Misshandlungen preisgegeben, das hat eine andere Qualität. Und dem Thema hat man sich eigentlich bisher noch nicht gestellt. Das war bisher, bis vor einigen Jahren und ich muss sagen mir selber auch nicht bekannt. ...Und ich denke, dass ist jetzt eine Aufgabe der wir uns jetzt eben auch stellen müssen. Interviewer: Und da ist die Aktenlage aber sehr viel schlechter als in allen anderen Bereichen? Edwin: Ja gut, das Problem ist natürlich die Überlieferungssituation generell, zu bestimmten Themen des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs. Ich denke, wenn man ein bisschen im Netz recherchiert, sich einfach in die verschiedenen Quellen und Archive hineinbegibt, findet man schon was, vor Ort scheint da im Moment die Überlieferung sehr lückenhaft zu sein. Da haben wir im Grunde genommen eigentlich noch ein paar wenige Hinweise aus dem Gemeindearchiv, wenn ich es richtig sehe und dann eben Zeitzeugenschilderungen. Aber ich bin da eigentlich ziemlich zuversichtlich, dass wenn man sich da ans Werk macht, dass man da durchaus noch einiges rekonstruieren kann. Interviewer: Wir haben einige Zeitzeugenberichte gehört von einer Wanderung von mehreren tausend Gefangenen, die dann eben von heute auf morgen verschwanden. Sind das dann ihrer Meinung nach die, die ins KZ Welzheim gebracht wurden? Edwin: Nach Welzheim sind bestimmt nicht tausende gekommen. Das sind so, ich denke, das sind so zwei, drei Dutzend gewesen, die halt einfach im Rahmen von Strafmaßnahmen, wegen Brotdiebstahl oder weil sie aus dem Lager ausgebrochen sind, einfach tatsächliche oder vermeidliche, auch nur unterstellte Delikte, die da halt einfach dieser drakonischen Herrenjustiz ausgeliefert wurden. Das ist sicher nur ein Teil, aber ich könnte mir vorstellen – da wissen wir im Moment noch zu wenig, um da wirklich vernünftige und tragfähige Aussagen zu machen – ich gehe eigentlich davon aus, dass da viele, ohne dass ich die Zahl beziffern könnte, einfach an Hunger und Seuchen und Kälte zugrunde gegangen sind. Irgendwo verscharrt worden... Aber da sind wir noch am Anfang der Recherchen, da wissen wir noch nicht viel. Interviewer: Stetten und das Lager müssen ja ganz eng zusammengelebt haben. Und trotzdem ist die Erinnerung der Zeitzeugen an das Lager nur ganz punktuell. Edwin: Das Lager und der Truppenübungsplatz sind die wichtigsten Arbeitgeber. Da findet ein Großteil der Stettener Bürger ihr Auskommen und ihre Be-

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schäftigung. Natürlich gibt es da Verbindungen und zwar äußert intensive. Wobei ... mit dieser erinnerten Geschichte, das ist natürlich immer eine bisschen problematische Sache, man sollte sich da nicht mit den harten Fakten auf Erinnerungen nach fünfzig sechzig siebzig Jahren stützen. Das dürfen Sie nicht, da kommen eigentlich die absurdesten Sachen raus. Die harten Fakten, die müssen sie aus den schriftlichen Quellen holen, aber sie können das ein oder andere atmosphärische oder vielleicht auch, wie wird Geschichte verarbeitet, rationalisiert, vielleicht auch bagatellisiert, erinnert auf jeden Fall, das ist immer noch aufschlussreich genug. ... Interviewer: Ich frage mich auch inwieweit die Erinnerung, zum Beispiel an die Russen, die nach fünfundvierzig in Stetten gesammelt wurden, geprägt ist durch die anti-sowjetische Propaganda im Vorfeld. Edwin: Ja, diese Diffamierung überhaupt der ganzen osteuropäischen, der ganzen slawischen Völker, die ja als Untermenschen und dann eben auch als politisch höchst gefährlich, in Verbindung mit Bolschewismus, halt dargestellt wurden, das hat sicher eine Langzeitwirkung. Also sie können sich manches im Kalten Krieg an Vorbehalten und auch einfach an Misstrauen und Verdacht eigentlich nur vor dem Hintergrund dieser Diskreditierungsstrategie des Dritten Reiches erklären. Das geht im Grunde genommen nahtlos weiter: der Gegner bleibt im Osten. Sei es einundvierzig, sei es einundsechzig, da gibt es Kontinuitätslinien und da hat man sich eine bestimmte verzerrte Wahrnehmung natürlich, einfach als Hypothek im Grunde genommen, über den Systembruch, den Systemwechsel hinaus bewahrt. Und dann kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu, der ist auch in der Forschung in den letzten Jahren immer mehr thematisiert worden. Die Deutschen sehen sich nach fünfundvierzig nicht mehr als Täter, sondern sie sehen sich selber als Opfer. Und das müsste man jetzt wahrscheinlich sozialpsychologisch erklären, man versucht eben, das eine oder andere was einem selber an Unrecht oder an Schicksalsschlägen beschieden war, angefangen von den Kriegstoten, Bombenopfer und natürlich auch Dinge, die in der Besatzungszeit passieren, aufzurechnen. Aufzurechnen, vielleicht sogar ein Stückweit sich zu entlasten, freizurechnen von dem Unrecht, das ja durchaus der älteren Bevölkerung schon bewusst war, das da von deutscher Seite ausgegangen ist über die anderen Völker Europas. Aber das ist sicher eine sehr subtil anzugehende Sache, aber ich würde vermuten, dass diese adaptierte Täter- oder Opfersicht – man ist selber nicht mehr der Täter, sondern das Opfer – darum erinnert man eher das geklaute Fahrrad oder die massakrierte Henne oder vielleicht auch Vergewaltigungen als Unrecht, das man selber erlitten hat, als einfach diese unsäglichen Menschheitsverbrechen, an dem natürlich das ganze Volk direkt oder indirekt beteiligt war.

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N ACHKRIEGSZEIT Auf dem Heuberg hinterließ das nationalsozialistische Diktatur und der Zweite Weltkrieg oberflächlich betrachtet kaum Spuren. Weder Bomben- noch Bodenangriffe erreichten den abgelegenen Ort. Dennoch haben einige Menschen auch nach dem Kriegsende noch mit den Folgen der Verfolgung durch das Regime zu kämpfen. Wilhelm M., 1945 Protokoll, September 1945 Es erscheint Wilhelm M., Schäfer geboren am 18. April 1902. Jetzt wohnhaft in Oberkirch Kreis Offenburg und erklärt: Am 19. Juli 1944 wurde ich von der Geheimen Staatspolizei verhaftet. Mir wurde zur Last gelegt, dass ich Adolf Hitler einen Massenmörder genannt habe. Bei der Verhandlung wurde ich wegen Zersetzung der Wehrmacht und wegen Führerbeleidigung verurteilt. Ich war bei Schafhalter Gottlob B. in Stetten am kalten Markt als Schäfer beschäftigt und habe einmal beim Mittagessen mit meinen Arbeitskameraden August B., Hans S. und Karl B. politisiert. Dabei hatte ich mich gegen Hitler geäußert. Die beiden Schäfer [...] machten am anderen Tage Anzeige bei dem Meister der Berittenen Gendarmerie Wilhelm Z., der die Sache dann der Geheimen Staatspolizei gemeldet hat. [...] Die ganze Angelegenheit wurde dann von den beiden Schäfern sowie Gendarmerie Meister Z. aufgebauscht. Bei der Verhandlung am 20. Dezember 1944 waren die beiden Schäfer als Zeuge geladen und haben gegen mich geschworen. Ich wurde dann zu zwei einhalb Jahren Konzentrationslager verurteilt. Das Urteil wurde vom Obergericht Stuttgart [...] ausgesprochen. Ich war von Juli 1944 bis Januar 1945 um Untersuchungsgefängnis in Konstanz und vom Januar 1945 bis Februar 1945 im Politischen Zentralgefängnis in Ulm, [...] anschließend kam ich ins Straflager Bentereuthe bei Ravensburg. Ende März gelang es mir von dort zu entfliehen. Ich bitte die drei genannten Personen zu bestrafen. Es war ihnen bekannt, dass ich Familienvater bin und drei unmündige Kinder habe. Trotzdem hatten sich mich der Geheimen Staatspolizei ausgeliefert und sehr zu meine Nachteil gesprochen. Vorgelesen, genehmigt, unterschrieben Wilhelm M.

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Franziska S., 1948 2. April 1948 An die Badische Landesstelle für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus, Freiburg Betr.: Frau Franziska S., Stetten akM. Frau S. reichte am 19.11.1945 einen Antrag auf Anerkennung der O. d. N. bei der Zweigstelle Überlingen ein. Dieser Antrag wurde von ihrer Dienststelle am 21.8.1947 abgelehnt. Ich habe mich betreffs dieser Angelegenheit nochmals mit der Zweigstelle Singen in Verbindung gesetzt. Dieselbe gab mir den Rat mich direkt mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Frau S. ist aus dem KZ krank entlassen worden und es liegen noch Rechnungen vor und um dessen Bezahlung es hauptsächlich geht. Ich will Ihnen den Sachverhalt nochmals kurz schildern: Frau S. war z.Zt. des Umgangs mit Kriegsgefangenen verheiratet. Derselbe war ein Deutschpole, eine Verurteilung hat nicht stattgefunden. Frau S. wurde von der Gestapo am 19.8.1941 verhaftet, auf einem öffentlichen Platz die Haare geschnitten und dann von der Partei durch das ganze Dorf geführt. Eine Tafel wurde voraus geführt darauf stand geschrieben „Eine Polendirne“. Ihre Entlassung erfolgte laut Entlassungsschein am 20.2.1945. Anbei eidesstattliche Erklärungen, dass Frau S. durch einen Umgang mit Kriegsgefangenen ins KZ kam, Abschrift des Entlassungsscheines aus dem KZ., amtlicher Nachweis, dass Fr. S. nicht Mitglied der NSDAP war. Der Ehemann war Beamter und Mitglied der NSDAP und das Eheleben war alles weniger als ein gutes. Auf diesen Fall hin reichte der Ehemann sofort die Scheidung ein und wurde auch bewilligt. Allerdings wurden beide Teile für schuldig geschieden. In der Urteilsschrift wird betont, dass eigentlich der Lebenswandel des Ehemannes schuld ist an den Verfehlungen von Frau S. Meiner Ansicht nach war es nur eine politische Sache. Falls Frau S. nicht zu den Opfern des Nazismus gezählt wird, dann gibt es meines Erachtens überhaupt keine Naziopfer mehr. Hat denn die Welt schon einmal gesehen, dass eine Frau wegen Umgang mit einem Mann, selbst wenn es ein Gefangener war, eine solche Bestrafung hat über sich ergehen lassen müssen. Sowas war doch nur im dritten Reich möglich, folglich ist sie ein Opfer dieses Systems. Ich bitte daher die Angelegenheit nochmal zu überprüfen und vor allen Dingen Sorge tragen zu wollen und dass die Arztrechnungen, die aus ihrer im KZ zugezogenen Krankheit herrühren werden auch mindestens bezahlt werden. Arztrechnungen im Betrage von RM 125,- habe ich bereits an das Kreiswohlfahrtsamt eingereicht. Bürgermeisteramt: (Unterschrift)

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Moritz/Manfred, 1945/1995/2012 Im Jahr 1995, anlässlich des 50-jährigen Kriegsendes, bat die Schwäbische Zeitung um Zuschriften von Menschen aus der Region, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Moritz, gebürtiger Stettener und zum Zeitpunkt des Kriegsendes 15 Jahre alt, schickte einen ausführlichen Bericht über seine Erlebnisse ein. Sein Cousin Manfred, zwei Jahre älter, traf sich im Januar 2012 mit uns zu einem Gespräch. Auf unsere Bitte hin las und kommentierte er den Bericht seines Verwandten. Interview mit Manfred B., 05.01.2012 Manfred: Schade? Wir sind froh, dass er gestorben ist. Das war also kein Edelstein in der Verwandtschaft. Der hat immer ein bißchen Zicken gemacht. Der war was Besonderes und immer da zu viel. Der war Studienrat. Dem könnte man eigentlich was mehr zumuten. (Interviewer erklärt, wie Manfred den Text seines Cousins Moritz lesen soll. Er beginnt zu lesen.) Manfred: „Ich bin in Stetten geboren und war damals 15 Jahre alt und habe die bösen Geschehnisse leider noch gut im Kopf, die mich nachts bei Schlaflosigkeit heute noch beunruhigen. Es kann sein, dass einige Angaben nicht ganz stimmen, doch es ist schwierig diese Ereignisse ganz genau zu recherchieren. Hauptübel war die extreme Misshandlung russischer Kriegsgefangener. Weniger anderer Gefangener, das manche moralischere Mitbürger betroffen macht, mit der Hoffnung, dass ein solches Regime den Krieg nicht gewinnen sollte.“ Mmh... gestolpert. Interviewer: Macht ja nichts. Ist das bei Ihnen auch so, dass Sie sich noch sehr an die Zeit erinnern? Manfred: Ja,...also ich war ja 17. Und die bösen Geschehnisse, die waren damals noch nicht bekannt. Die sind ja erst nachher bekannt geworden. Also von den bösen Geschehnissen hat man dort, in jener Zeit nichts mitgekriegt. Interviewer: Er (Moritz) scheint sich ja zu erinnern, dass ihn das so beunruhigt im Schlaf. Manfred: Ja. Interviewer: Sie glauben, dass ist dann erst im Nachhinein gekommen? Manfred: Erst nach dem Umsturz haben wir das alles mit erfahren. Was vorher gegangen ist...und das war ja auch immer wieder so überliefert und so und so. Je nach Ansicht des Redners. Interviewer: Hier, wo er schreibt, dass das mit den russischen Kriegsgefangenen die Bürger betroffen machte... das war aber gar nicht Thema zu der Zeit?

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Manfred: Nein, kaum. Also ich kann mich nur da dran erinnern, dass circa zwei bis drei Zausend russische Gefangene gekommen sind und wo sie hingekommen sind, weiß man kaum. Also es gibt ja auf dem Ehrenfriedhof draußen am Übungsplatz ein Massengrab, da sind russische Gefangene drin, und auch deutsche Strafgefangene usw., da hat man ja auch immer bloß großes Loch gemacht und fertig... und wo die Russen abgezogen sind, waren es nicht einmal mehr die Hälfte. Aber wo sie hingekommen sind und wie, das blieb ein Rätsel. Der, wo das ausgeplaudert hat, ist ja mit an die Wand gestellt worden. Also da waren wir keine Minute sicher, ob dich ein „Andersgläubiger“ nur als Spitzel betrachtet oder andersrum. Also das war immer ein bißchen ein Misstrauen. Jedem gegenüber. Man konnte nicht damit rechnen, dass der auch so schön ist zu dir. Das war das Manko da dabei. Man wusste ja genau, irgendein schräger Schritt und dann war man weg. Interviewer: Hier auf der nächsten Seite, macht er einen Abriss darüber, wer alles auf dem Truppenübungsplatz war, also welche Truppen da waren usw. Vielleicht können Sie das auch einmal lesen und ein bisschen ergänzen? Manfred: Also, es waren ja Inder da, Italiener da, Deutsche waren da, Wehrunwürdige waren da...was war noch da? Interviewer: Vielleicht auf der nächsten Seite... Manfred: Das geht aber mitten drin an. Achso da... „Mussolini kam zu Besuch. Petain-Truppen mit ihren blauen Uniformen waren oben ebenfalls stationiert.“ Das war in Sigmaringen, war der Petain. Der hat ja da seine provisorische Regierung gehabt. „Dazu Vlassow-Truppen.“ Wissen Sie was das sind, VlassowTruppen? Das waren russische Kriegsgefangene, die sich für den deutschen Wehrdienst freiwillig gemeldet hatten. Und die dann auch so behandelt worden sind, wie ein deutscher Soldat. Und das waren diejenigen, die nachher nicht mehr in Russland angekommen sind. Später mal. Also, die sind also vorher abgehauen, weil sie nichts Gutes erwartet hätte drüben. ... „Last not least...“ was heißt des wieder? Interviewer: Das ist englisch. Englisch schreibt er da zwischen drin. Last not least. Wie übersetzt man das gut? Nicht zuletzt. Genau. Manfred: „Nicht zwischen die Fronten geraten waren last not least ... Zusammenstellung des 999er Strafbatallions, von denen weit über 50 Personen draußen bei der bekannten Dreitritten-Kapelle durch Genickschuss erledigt wurden.“ Wo hat der des her erfahren? Interviewer: Wurde das gesagt im Ort? Darin können Sie sich nicht erinnern? Manfred: Nein... „Wie mir ein Wachmann sagte mussten sie zuvor ihr eigenes Grab ausheben. Menschenverachtender geht’s wohl nicht. Unter diesen Personen waren meist weitsichtigere Leute, wie Kommunisten, Zeugen Jehovas, Sozial-

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demokraten, auch Offiziere, die den Krieg verloren hielten.“ Mmmh. Die 999er. Das waren vorwiegend welche, die schwarzgeschlachtet haben, ausländische Sender gehört haben, und sonstige Regimegegner, aber nicht ganz so wie er das da beschreibt. Über 50 Personen draußen? Also Hinrichtungen hat es soviel ich weiß keine gegeben. Die sind ja an die Front gekommen wieder, das Bataillon. Und da natürlich in die heißeste Zone. Und da sind sie automatisch dezimiert worden. „Überflogen wurde der Heuberg am hellen Tag von riesigen alliiertenBomberflotten, angegriffen von Jagdflugzeugen ... angegriffen von Jagdflugzeugen wie Messkirch oder Ebingen auch am Kriegsende nie, wohl weil Gefangene vermutet wurden. Übrigens wurde noch am Ende des Krieges der Hitlergruß genutzt, was die meisten nicht mit Freude erfüllte.“ Pah... Er war halt ein Sonderling. „Überflogen wurde der Heuberg am hellen Tag von riesigen alliierten Bomberflotten.“ Das war zwei oder drei Mal, als sie nach München sind. Da sind sie da oben drüber. Und deutsche Jagdflugzeuge, deutsche Jagdflugzeuge hat man nur an dem Tag gesehen, an dem Mussolini hier war. Sonst nie. Und da waren plötzlich 70 deutsche Jagdflugzeuge unterwegs. Und Stetten wurde wahrscheinlich nicht angegriffen, da hat er schon Recht, weil zu viele ausländische Nationen hier vertreten waren. Also zu viele möglichst überall her und da drunter hat's auch viele Kriegsgefangene gehabt. Die indische Legion, die damals da war, das waren meistens Leute, die in Deutschland studiert haben und beim Kriegsbeginn nicht mehr wegkonnten. Und die haben sich dann notgedrungen freiwillig gemeldet, aber eingesetzt wurden sie glaube ich nie. So wie ich mitgekriegt habe... ich hab bloß bei denen das Rauchen gelernt. Das weiß ich noch. Da hat man immer die Zigarette da zwischen die Finger genommen und so (zieht an imaginärer Zigarette) aus hygienischen Gründen. Aber sonst waren sie sehr freundlich, die Inder. Und die Italiener auch, aber die haben ja fast nichts zu essen gekriegt. Sonst noch irgendwelche Fragen? Interviewer: Das mit dem Hitlergruß hat Sie aber gestört...da haben Sie so „Pah!“ gemacht. Manfred: Der Hitlergruß, das hat mich am meisten gestört, wenn wir haben müssen antreten an der Schule und stundenlang den Arm hochheben bis einem der Arm weh getan hat, das war mein Hitlergruß. Den habe ich gehasst! Aber nur aus dem Grund, weil mir der Arm weh getan hat einmal. Und im übrigen hat man dem wenig Wert zugemessen, dem Hitlergruß. Das war ein Gruß... Interviewer: Da erzählt er von so persönlicheren Erinnerungen. Ich glaube, da geht es auch mal um sie. Also eine Geschichte, wo sie auch da bei sind. Manfred: Jetzt soll ich weiter laut vorlesen? Oder wie? Interviewer: Ja, wenn es Ihnen nicht zu viel ist. Wenn es Ihnen zu viel ist, einfach mal ne Pause machen.

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Manfred: „Nun zum Kriegsende selbst. Einige wenige Tage vor dem Herannahen der Franzosen am 29. April 45 zogen deutsche Lagertruppen und die Vlassow-Truppen Richtung Sigmaringen meist über Schmeien ab.“ Das ist ja das nächste Dorf, Schmeien. „Es war ein völliges Durcheinander. Meist erfolgte der Abzug noch mit Pferdegespannen. Beim Gasthaus Sonne sah ich noch, wie ein Soldat einem Stettener sein Fahrrad wegnehmen wollte, der sich aber energisch wehrte und ihm zurief ‚Haut doch endlich ab!’ Als die französischen Panzer von Glashütte auf Stetten zufuhren, waren viele Stettener noch dabei die tatsächlich umfangreichen Lebensmittellagervorräte des Lagers heimzuschaffen. Leider ist dabei meiner Mutter das Leiterwägelchen zusammengebrochen. Auch an die Weinvorräte machte man sich mit Freude heran. Leider versuchte eine kleine halsstarrige Gruppe deutscher Soldaten noch im Oberdorf auf die anrückenden Franzosen zu schießen. Obwohl Stettener sie energisch drängten Richtung Thiergarten abzuziehen und sich außerhalb Stettens zu stellen. Es wäre hierbei fast noch zu einem bösen Handgemenge gekommen. Bei der unnötigen kurzen Schießerei wurden noch einige Franzosen ge...getötet.“ Das ist wieder unwahr! Ein Franzose ist gefallen. Nur ein einziger. Und einer wurde verwundet. „Hierbei schoss ein französischer Panzer mit seiner Kanone auf die hinter einem Haus stehenden Soldaten und traf dabei jedoch den Viehstall, wobei eine Kuh noch...das ist...“ Interviewer: Die stand nur noch auf drei Füßen, die Kuh, erinnern Sie sich an die Geschichte? Manfred: (Nickt) Das war da vorne das Haus, vis à vis vom Gasthaus „Zur Sonne“. Und die Panzer sind unten gestanden an der Kurve. Zwei Panzer und die zwei Soldaten sind da vorne an der Ecke gestanden und die beiden Panzer sind wieder zurück. Sind also kein Risiko mehr eingegangen. Und dann hat man die beiden aufgefordert Stetten zu verlassen. Da ist einer gekommen, ein herzhafter, allerdings ein Kommunist, und mit dem Revolver gekommen und hat gesagt „Haut ab oder ich schieße!“ Daraufhin sind sie dann gegangen. Und später wurde zu mir gesagt, dass der eine von beiden in Stetten im Sägewerk gearbeitet hat. Ich soll das bezeugen! Aber ich konnte das nicht bezeugen. So genau war mir das nicht mehr in Erinnerung. Naja... Manfred: Ja, er hat halt gleich immer ein bisschen übertrieben. Kann es weitergehen... ja? ...„Die Franzosen drohten dann die amerikanische Luftwaffe anzufordern, dann würde Stetten eingeebnet.“ Falsch! Das war Wetter wie heute. Es hat geschneit. Nebenher geregnet und geschneit und gewindet. Es war an einen Luftwaffeneinsatz nicht zu denken. Weil die Wolkendecke war dermaßen niedrig und also es war keine Luftwaffe weder gehört noch gesehen. „Anscheinend wurde dann im Rathaus mit den Franzosen verhandelt und der Spuk beendet. Für

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die meisten Stettener war das Kriegsende eine Erlösung.“ Das stimmt schon, ja! „Als die Franzosen weiter nach Sigmaringen gezogen waren, bestand große Angst, dass die Deutschen eine Rückeroberung vorhätten. Am meisten gefürchtet war die SS und die sogenannten Kettenhunde, die nicht mehr kämpfen wollende Soldaten an den Bäumen aufhängen sollten und auch taten.“ Das kann er aber auch nicht beweisen! Mir ist kein Fall bekannt. „Trotz jahrelangem Fronteinsatz. Zum Glück ist bei mir uns kein Fall bekannt.“ Aha! „Auch die Mär von jungen kampfbereiten Werwölfen sorgte für Unruhe. Ein Menschenleben konnte in diesen turbulenten Tagen wegen eines kleinen Missgeschicks ausgelöscht werden.“ Des stimmt, ja! „Eine Ukrainerin, die bei uns arbeitete, war eine tüchtige Frau, die auch bei der Sommerarbeit schnell einen Kuchen backen konnte. Im Herbst 44 sagte sie beim abendlichen Essen ‚Wenn Stalin und Hitler kaputt, dann besser!’ Meine Mutter wurde ganz bleich, schaute in die Runde und bat nichts weiter zu sagen, obwohl sie hundertmal recht gehabt hatte, hätte man sie sicher abgeholt. Sie blieb übrigens noch bis Herbst 45 bei uns bis die ersten Heimkehrerzüge vom Bahnhof Storzingen nach Russland heimfuhren.“ Interviewer: Kannten Sie die auch, die Frau? Manfred: Ja, das ist meine Taufpatin. Gotter sagt man bei uns, das war meine Gotter. Der Moritz war ja ein Cousin zu mir. Mein Vater und die Frau waren Geschwister. Interviewer: Ich meinte jetzt die Ukrainerin. Manfred: Die habe ich nicht gekannt. Ich habe gar nicht gewusst, dass bei denen eine Ukrainerin arbeitet. Vis à vis, im anderen Haus drüben war eine, ja, und in dem anderen Haus da, war ne Polin. Und die waren meist recht zufrieden mit den Leuten. Aber die Leute da waren auch wieder zufrieden, weil die zumindestens Essen gekriegt haben und so weiter und so fort. Manfred: „Übrigens wissen wir viele nicht, dass 1945 der Stettener Truppenübungsplatz mit den vielen Kasernen den Russen zur Sammlung ihrer Volksangehörigen zur Verfügung gestellt wurde. Die russische Kommandantur befand sich im damaligen Haus Schuler. Mit großem Sovjetstern und Posten davor. Verwandte von mir arbeiteten bei ihnen und meinten, dass es eigentlich gutmütige und freigiebige Menschen gewesen seien. Am Anfang war der Hass noch groß, als Zwangsarbeiter von Dornier in Stetten ankamen.“ Also der, der bei denen geschafft hat, das war ich. Und ich und ein Kamerad von mir von da unten, bei denen haben wir zwei Jahre geschafft. Mir sind eigentlich gut behandelt worden. Weil derjenige, der über uns das Sagen hatte, auch gut behandelt worden ist in Deutschland. Und der hat also uns etliches gelernt, wie man Schnaps brennt aus französischem Wein usw. und alles mögliche. Das war also ein Nikolai, ein guter Russe. Ne, also im Allgemeinen, waren die meisten Russen gutmü-

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tige Leute. Bis auf natürlich die großen Schreier. Das hat’s bei uns früher genauso gegeben. ...Soll ich das alles vorlesen? ...„Hierzu eine noch fast tragische Episode vom Sommer 45. Mit drei anderen Gleichaltrigen war ich an einem heißen Sommertag dabei auf der Teerstraße nach Sigmaringen und damals noch vorhandenen Bierkeller an einer Kurve Leuchtpistolenpatronen hochgehen zu lassen. Es lagen ganze Kisten herum plus Zündschnüre. Mit einem Schraubenzieher machten wir durch die Aluminiumhülse ein kleines Loch, steckten die Zündschnur hinein und freuten uns an der Farbe beim hochgehen. Plötzlich standen da acht Russen um uns herum und meinten, wir hätten dies gegen sie getan. Natürlich nicht! Sie nahmen uns mit durch Stetten hindurch, vorbei an der französischen Kommandantur im heutigen Eisenwarenladen Pfeiffer. Da es ein sehr heißer Tag war, war niemand zu sehen. Im Lager drin haben die Franzosen wenig zu melden. Es waren ja einige tausend Russen drin, wohl mit Waffen versehen, da die Deutschen anscheinend versäumt hatten das Waffenlager wegzusprengen. Im umfangreichen Lebensmittellager wurde es ja wie gehört versucht.“ Etliches falsch... Interviewer: Waren Sie dabei? Manfred: Ich war nicht dabei, aber ich habe auch Lebensmittel geholt. Und Moment einmal, wie viele waren es? 124 Dosen Rindfleisch. Mit denen hat man nachher Handel getrieben. Der eine hatte Zucker gehabt, die anderen hatten das Mehl gehabt, dritte hatten das Fleisch gehabt. Hat man halt getauscht, dass jeder von jedem was hatte. Interviewer: Und was ist sonst noch falsch? Manfred: „Es waren ja einige tausend Russen drin, wohl mit Waffen versehen, da die Deutschen anscheinend versäumt hatten das Waffenlager wegzusprengen. Im umfangreichen Lebensmittellager wurde es ja wie gehört versucht.“ Die Russen haben keine Waffen gehabt. Die Franzosen haben den Russen sofort die Waffen abgenommen. Das habe ich selber beobachtet und mehrfach mitgekriegt. Und die Russen haben sich tatsächlich auch nicht gewehrt dagegen. Es war lediglich der Kommandant im Hotel Schuler, da draußen, da habe ich ja geschafft, der und noch zwei Offiziere habe ich jemals einmal gesehen mit Pistolen. Aber sonst kaum einmal einer. „Die Russen hielten uns an einer Backsteinmauer fest. Einer brachte ein deutsches Maschinengewehr auf dem Boden in Stellung und legte einen Patronengurt ein und fing an auf uns zu zielen. In diesem gefährlichen Moment kam zufällig en höherer russischer Offizier um die Ecke, sah die Situation, stieß den zielenden Russen mit einem kräftigen Fußtritt um, zog den Patronengurt heraus und brachte uns zu den Franzosen. Auch von deutschen Soldaten in Russland habe ich von ähnlich positiven Reaktionen gehört.“ Aha... ...„Kurz nach der Kapitulation war auch der braune Spuk schnell vorbei. Gar

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manche Stettener braunen Durchhalteparteibonzen wandten sich dann der ‚Schwarzen Linie’ zu.“ Was war die schwarze Linie? Das weiß ich nicht. Interviewer: Ich glaube er meint die CDU. Manfred: Möglich. Im ersten Moment war kaum von Parteien die Rede. Das hat sich ja erst im Laufe der Zeit dann ergeben. Also, es hat bloß geheißen, dass verschiedene Kommunisten, die schon vorher Kommunisten waren, dass die sich dann groß rausgebracht haben. Aber von einem auf anderen Parteigenossen weiß ich nichts. Hat es noch gar nicht gegeben, andere Parteien. Das Zentrum war ja zerschlagen, naja... Interviewer: Also das hat gedauert bis es die CDU überhaupt in Stetten gab? Manfred: Ja, zuerst hat sich alles andere normalisiert. Die Lebensmittelversorgung usw. und die Gebäude, die beschädigt waren hat man wieder hergerichtet usw. Das war vordringlich. Also, da hat sich noch kaum einer um eine Partei gekümmert. Da hat man sich eher drum gekümmert, dass man am anderen Tag irgendein Brot gekriegt hat oder so was. Also ich meine, das war in Stetten nicht so schlimm, aber in den Städten, die haben schon gehungert. Und wenn wir heimgekommen sind und gesagt haben, wir haben Hunger, dann haben wir halt ein trockenes Brot gekriegt oder einen Apfel, gell? Aber richtig gehungert haben wir nicht. Interviewer: Und insgesamt, wenn Sie jetzt so das gelesen haben von ihrem Cousin, und sie haben oft gesagt, das stimmt so nicht, daran erinnern Sie sich so nicht, also so insgesamt würden Sie sagen, das ist schon richtig oder würden Sie dem widersprechen? Manfred: Ist ein klein bisschen übertrieben, aber das hat er damals schon gemacht. Übertrieben. Immer gern... Auch mit dem Trinken hat er es übertrieben. Drum ist er ja nicht bis zum Ende Studienrat geblieben. Er ist ja vorher, wie muss man da sagen, weggelobt worden. Also die Schule war froh, dass er weg war. Weil er immer wieder dermaßen eigene Ansichten vertreten hat, die in Wirklichkeit nicht zu vertreten waren. Beispiel. Ein kleines Beispiel! Sein Bruder hat zwei Töchter. Die Töchter waren damals um die 17, 18 Jahre alt. Da hat er zu seinem Bruder gesagt, da wäre doch nichts dabei, wenn eine von den Töchtern bei ihm schlafen würde. Das sagt doch viel, oder? Und einmal ist er zu seinem Arzt gegangen, und da hat ihn der Arzt gefragt „Wieviel trinken Sie?“, und da hat er gesagt zwei bis drei Halbe, hat er mir persönlich erzählt, hat der Arzt gesagt, „Du saufst schon fünf oder sechs“. Ja, der hat auch schon gewusst was los ist. Naja, ein Sonderling... ...Außerdem sind meine Enkel, vier Stück von meinen Enkel, sind schon wieder Soldat. Vier Stück sind schon wieder Soldat! Das er gegen das Regime war, das war ja klar, aber das er gegen die Wehrmacht

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war...die ist ja von oben so kommandiert worden. Und die hat er ja auch verdammt. Und das waren ja normale Soldaten. Interviewer: Er war damals schon dagegen? Manfred: Ja...aber wo er Interesse dafür entwickelt hat, war die Gegnerschaft schon da. Also er ist nicht mehr in die Lage gekommen wie ich, dass der Hitler für seine Jugend was übrig hatte, ja, das muss ich heut schon sagen: er hat für uns was übrig gehabt! Und in die Zeit ist er nicht mehr reingekommen. Er ist nur noch da reingekommen, wo's Regime Quatsch gemacht hat. Interviewer: Ja,...wenn er 1944 14 Jahre alt war... Manfred: Da war ja auch schon Stauffenberg usw. Interviewer: Und für Sie war das anders. Sie waren ja zwei Jahre älter... Manfred: Ja, ich habe also noch die besseren Zeiten mitgemacht. Mein Vater hat gesagt, du bist immer überhaupt nie daheim. Ich war immer da in einem Lager oder da in einem Lager oder da in einem Zeltlager. Immer irgendwo. Und das hat uns jungen Kerlen Spaß gemacht. Ja... Besser wie daheim Kartoffeln auflesen oder so. Das war halt so. Und die Gräueltaten sind uns ja erst Ende 45 bekannt geworden. Vorher hat man gar nichts erfahren davon. Es ist ein Friseur, hat einmal dumme Bemerkungen gemacht und der ist fort gekommen, es hat zwar geheißen, er sei ins KZ gekommen, aber was ein KZ war, hat man ja gar nicht gewusst. Kon-zen-tra-tions-la-ger. Was heißt Konzentration? Sich auf etwas konzentrieren. Interviewer: Aber es gab doch auch viele, die am Anfang wieder entlassen wurden aus den Konzentrationslagern. Haben die nicht erzählt wie es da war? Manfred: Ich weiß keinen, der entlassen worden ist. Interviewer: Am Anfang hier oben vom Heuberg? Manfred: Das war kein Konzentrationslager, das war ein – wie hat sich das genannt – da sind etliche entlassen worden da draußen. Unter anderem sogar ein Professor, der nachher geschrieben hat, so pünktlich hätte er sein Essen nie gekriegt wie da. Aber das hat er auch erst nachher geschrieben. Und das war auch – wie hat denn das geheißen damals – also das waren halt Parteienfeindliche. Also Kommunisten waren es, Sozialdemokraten und es waren auch andere Straftäter noch. Und das ist ja auch bloß zwei Jahre gegangen oder so ungefähr im Lager, bis die Wehrmacht das ganze Lager gebraucht hat. Und irgendwo steht was da drüber, aber wo? Was der Apotheker B. mal ausfindig gemacht hat, den kennen Sie ja oder? Interviewer: Ja den kennen wir... Manfred: Da muss man sich wunderen. Grad der Herr B. und noch einer war's, der war Hauptmann oder so, Hauptmann E., auch kein gebürtiger Stettener,... Also drei oder vier, die in Stetten zugewandert sind, haben sich hauptsächlich für

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die Stettener Geschichte interessiert. Die Einheimischen nicht. Das ist schon komisch. Und der B. (Apotheker), der hat schon viel Zeit aufgewendet. Der macht ja die Rundbriefe, für den Museumsverein, naja... Manfred: Ja, das bei denen Russen in dem Lager, das war natürlich auch so... Uns hat man eingesperrt zum Arbeiten, haben uns natürlich nicht überarbeiten brauchen, aber da haben wir jeden Tag da sein müssen. Und da haben wir 200 Mark gekriegt, die haben ja keinen Wert gehabt, aber das Essen haben wir gekriegt. Rindfleisch und Kartoffeln. Jeden Tag. Die russische Köchin hat nichts anderes fertig gebracht wie Rindfleisch und Kartoffeln... Das Rindfleisch haben ja die Franzosen angeliefert. Das ist vom Schlachthaus in Tuttlingen gekommen und Tuttlingen, die haben ja gelebt von den Bauern ringsrum, die haben das Vieh abliefern müssen. Naja, so wars halt damals. ...Aber, viele Frauen waren damals da in der Zeit, als das – wie heißt das Lager, jetzt fällt es mir nicht ein – also das Stettener KZ, sagen wir mal so, da waren viele da, die haben ihre Männer besucht, aus dem Ruhrgebiet, aus ganz Deutschland. Und da hat meine Niene mal gesagt, mein Großvater, da nimmt manche ein lebendes Andenken mit. Weil sie tatsächlich durch den Maschendrahtzaun Sex gehabt haben. Ja... aber das hast du diesen Leuten nicht übelnehmen können! Und die waren verheiratet, jahrelang schon nicht mehr beieinander, ja da hat eine – wir hatten auch drei oder vier einquartiert gehabt – eine hat uns mal die Betten abgezogen und ist abgehauen. Und mein Vater natürlich sofort hinterher nach Storzingen, wo sie eingestiegen sind und hat der das Zeug wieder abgenommen. Aber es ist gegangen ohne Polizei. Sonst wäre sie ja auch eingesperrt worden. Interviewer: Frauen der Soldaten oder der Gefangenen? Manfred: Die Frauen der Gefangenen, also der deutschen...Mensch wie hat denn das Lager geheißen... Wehrunwürdige...das waren also lauter politisch Gefangene und Straftäter zum Teil, mit nicht übergroßen Straftaten, und die sind ja da gewesen drei Wochen, vier Wochen, fünf Wochen und wieder entlassen worden. Als geheilt entlassen oder sozusagen. Auf jeden Fall waren es grad die SPD-Leute, die da drinnen waren und die Kommunisten, insoweit geheilt, dass sie nichts mehr gesagt haben. Das war ja... wann war das Lager 1926? 27? 28? Also nicht...nein, nein, nein,...stimmt nicht, das war wieder etwas anderes. Das war ein Kindererholungsheim. Und das andere Lager, das war ja dann 35, 36, also wo schon das NS-Regime da war. Interviewer: Und die kamen dann auch von überall her? Manfred: Aus ganz Deutschland. Schwarzhörer, oder auch solche die mit dem Ausland irgendwie korrespondiert haben, oder naja...also einfach RegimeGegner. Auf irgendwelche Art. Interviewer: Aber Sie kannten keinen, der da mal hinmusste?

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Manfred: Von Stetten selber nicht. Also, es hat ja mal geheißen, ein Rektor von Gammerdingen sei draußen zur Zeit, aber das waren immer so Gerüchte. Weil die Wachleute waren ja auch keine Stettener. Das waren auch, also, Regimefreundliche kann man sagen. SA-Leute oder so. SA, SS, hat es ja damals auch gehabt, das ist gerade im Werden gewesen... Naja...und so weiter und so fort. Abbildung 8: Russische Kommandatura in Stetten a.k.M.

Quelle: Geschichts- und Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg

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F RANZÖSISCHE B ESATZUNG (1945-1959) G ARNISON (1960-1997)

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UND

Nach dem Kriegsende besetzten französische Alliierte das Lager Heuberg und den Truppenübungsplatz. Seit 1959 ist der Standort unter der Kommandantur der Bundeswehr, französischen Truppenteile blieben hier aber zunächst weiterhin kaserniert. Nach dem Ende des Kalten Kriegs reduzierte sich die Anzahl der französischen und deutschen Truppen zunehmend. Im Jahr 1997 wurden die letzten Soldaten aus Frankreich vom Standort abgezogen. Horst, 1982-1995 Horst, Oberstleutnant a.D., kam 1982 als Soldat auf den Heuberg. Zwischen 1991 und 1995 war er Kommandant des Standorts. Er lebt heute immer noch mit seiner Frau in Stetten a.k.M. Interview mit Horst und seiner Frau Liliane, 06.01.2012 Horst: ... Das ist manchmal so, wenn man mit Leuten redet, dann sagen die: „Ach Sie waren mal Oberstleutnant!“ Ne. Dann sag ich: „Wieso war mal? Ich bin Oberstleutnant! Nur mit dem Zusatz ‚außer Dienst’.“ Ich hab extra eine Urkunde, da steht drin: „Sie werden mit Wirkung vom Soundsovielten in Pension versetzt, in Ruhestand versetzt. Sie haben das Recht Ihren Dienstgrad mit dem Zusatz ‚außer Dienst’ weiter zu führen.“ ... kann also schreiben, D. OTL a.D. Und wenn einer sagt: „Ja, sie waren aber Oberstleutnant!“ Sage ich: „Nein, ich kenn kein Truppendienstgerichtverfahren, wo mir der Dienstgrad aberkannt wurde.“ Ne. (grinst) Interviewer: Und wann sind Sie dann nach Stetten gekommen? Horst: (blättert in seinen Memoiren)...Hier beginnt der Truppenübungsplatz Heuberg, hier komm ich dann nach Stetten am kalten Markt. 1982 bin ich hierher versetzt worden, da war ich Major. Und bin Leiter der Gruppe Schießtechnik geworden, so hieß das da – in der Truppenübungsplatzkommandantur gibt es ne Gruppe Schießtechnik, da sind alles Feuerwerker drin und alle, die das Scharfschießen überwachen und so, und Munitionsvernichtung und so n Kram. Und weil ich nach meinem Studium dann so eine Feuerwerkerlehre gemacht ..., bin also Fachkundiger für Munition, Sprengstoffe und so ein Zeug. ... Und dann haben sie gesagt, D., du bist ja doch qualifiziert für die Ausbildung und dann bin ich also in die Technik gekommen, weg von den Fallschirmjägern und bin dann zum Schluss dann Leiter Schießtechnik geworden. Und da war ich dann auch gleichzeitig stellvertretender Kommandant. Das war ich dann acht Jahre lang,

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von 1982 bis Anfang 1991. Und 91 hab ich dann die Nachfolgen meines Vorgängers angetreten und bin Kommandant Truppenübungsplatz geworden und bin das bis 1995, bis zur Pensionierung, geblieben. Und 1995, dann kam das sogenannte Personalstärkegesetz. Da hatte man schon wieder eine Reform – die Bundes lebte ja nur von Reformen. Am Anfang meiner Dienstzeit, so von 1958, -60, -70, immer Reform aufwärts, aufbauen – ich kann mich ersinnen, als ich Leutnant war, wurde alle halbe Jahre irgendeine Brigade oder irgendeine Division in Dienst gestellt und mit viel Trara und mit Paraden der NATO unterstellt, aus dem Feldheer. Und dann man hat man aufgebaut. Zum Schluss hatte die Bundeswehr dann ja 12 Divisionen mit 36 Brigaden und fast 500.000 Mann. Und dann begann der Abstieg, dann kamen die Reformen, noch eine Reform, noch eine Reform, immer weniger. Und jetzt haben wir den Zustand, schon wieder eine neue Reform. Dabei hatten wir Reformen, die begannen schon, da waren die alten Reformen noch nicht mal durchgeführt. Und bei uns gab es ein sogenanntes Personalstärkegesetz, da hieß es: man hat viel zu viel Häuptlinge und zu wenig Indianer, was ja heute auch wieder der Fall ist. Und man sollte, musste sehen, das man ältere Unteroffiziere und Offiziere wegkriegt. Haufenweise. Das selbe Problem hat die Bundeswehr jetzt wieder. Interviewer: Wie war diese Kooperation mit den Franzosen auf dem Truppenübungsplatz? Horst: Die Franzosen hatten zu meiner Unterstützung ein sogenanntes Unterstützungsbüro zur Truppenübungsplatzkommandantur Heuberg eingerichtet. Das war eine kleine militärische Einheit, das stand ein Verbindungsoffizier vor und der hatte denn so drei, vier Soldaten noch und paar zivile Angestellte, in der Regel Franzosen. Die aber deutsch sprachen. ...Und die hatten den Auftrag mich zu unterstützen und den französischen Kommandeur zu unterstützen, zu vermitteln. Die haben also ab und zu mal Dolmetscher gestellt und wenn gemeinsame Veranstaltungen waren, wurden die immer herangezogen. Gut, später hab ich dann ...selber angerufen, dann haben wir uns in Englisch unterhalten mit den Kommandeuren. Wir haben ein gutes Verhältnis gehabt, ich hab mich dann mit den Kommandeuren geduzt und der P. war Noel und der C.-C. war Philippe und ich war Horst. Wie die Franzosen meinen Namen „Orst!“ aussprechen... So komisch. Interviewer: Aber fanden Sie die Zusammenarbeit eher angenehm? Horst: Ja. Wunderbar. Bestens. Wir haben uns auch immer gegenseitig eingeladen. Es gab nichts Schöneres als mal ein Mittagessen bei den Franzosen. Ab und zu mal, wenn irgendeine Veranstaltung war, dann hieß es Mittagessen bei den Franzosen und dann schön im Kasino und dann acht Gänge und Rotwein dazu und und und. Nette Unterhaltung und die kucken nicht auf die Uhr. Bei uns war

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ja, wenn der Offizier der Bundeswehr Mittagspause hatte, geht er rüber ins Kasino, schlingt seinen Haferbrei runter, den er da kriegt und dann trinkt er noch eine Tasse Kaffee, macht ein Schwätzchen und dann geht er wieder in die Dienststelle. So ungefähr. Interviewer: Und hatten die Franzosen eine andere Mentalität? Horst: Ja. Die waren auch viel zackiger. Die französische Armee ist sowieso eine ganz andere Armee, als wir es sind. Die sind anders organisiert. ... Selbst jetzt, wo ich nicht mehr Soldat bin, wenn ich noch mal einen französischen Soldat treffe, der mich von früher kennt, der knallt heute noch die Hände an die Hosen und sagt: „Mon Colonel!“ Oder so. Also die sind unheimlich obrigkeitshörig, so wie man es den Österreichern nachsagt, so wie es vielleicht im Dritten Reich in Deutschland war. Bei uns ist das ja alles sehr légère geworden. Aber, wenn ich französische Soldaten bei mir hatte, auch Offiziere, immer mit Händen an die Hosen abklatschen und „Mon Colonol! Oui, mon Colonel!“ und so. Während wir relativ lässig sind. Wir reden unsere Untergebenen ja meistens mit Herr an. Also wenn da ein Hauptmann ist, der Hauptmann Meier. Dann sag ich also Herr Meier, wenn das Vertrauensverhältnis gut ist. Nur wenn man rein dienstlich ist, dann kann man auch mal sagen Hauptmann Meier oder im Gefecht oder in einer Gefechtsübung, da ist der nicht der Herr Meier, sondern ist er „Meier!“. Dann geht es denn ganz kurz. ...Aber die Franzosen, die sind immer sehr formal und die reden auch ihre Untergebenen mit Dienstgrad an und so. Interviewer: Und meinen Sie, haben die sich hier wohlgefühlt auch? Horst: Die Franzosen hier fühlten sich pudelwohl. Erstmal kriegten sie ne dicke Auslandszulage zu ihrem Gehalt. So wie die Bundeswehrsoldaten, die jetzt in Frankreich sind, die kriegen ja auch Auslandsgelder. Und so. Liliane (Ehefrau): Afghanistan, das selbe… Horst: Die fühlten sich wohl. Wie gesagt, die gehörten zur Stettener Öffentlichkeit, zum militärischen Leben auf jeden Fall. Der zivilen Bevölkerung hat man nachgesagt, als dann das große Heulen und Zähneklappern losging, als das dritte RD aufgelöst wurde, sagte man so, schaut mal her: Jetzt, wo sie weggehen, da merken plötzlich viele Stettener, dass sie ja beliebt waren. Hättet ihr das mal früher gezeigt. Hättet ihr die mal früher mehr miteinbezogen und so. Also, diese Vorwürfe hat man den Stettenern auch gemacht. Obwohl nicht alle Stettener so waren, viele Stettener mochten die Franzosen auch, die sind dann auch eingeladen worden.

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Aus „Stetten am kalten Markt. Profil eines optimierten Bundeswehrstandortes. Stationierung, Ausbildung, Üben und Schießen an einem Standort“, 20071 „Am 30.06.1997 wurde die franz. Garnison in Stetten a. k. M. aufgelöst. Folgender Personenkreis verließ die Gemeinde: 243 Berufssoldaten 696 Wehrpflichtige 690 nichtmeldepflichtige Angehörige Folgen der Auflösung: 20 deutsche Zivilbeschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz 250 Wohnungen wurden überflüssig; ein Großteil wurde 2002 abgerissen der Einzelhandelsumsatz sank von 11,5 Mio. €, um 1,8 Mio. €, auf 9,7 Mio. € Deutliche Verschlechterung im Finanzausgleich Geringere Auslastung der kostenrechnenden Einrichtungen, insbesondere im Wasser- und Abwasserbereich, die nur durch höhere Belastungen der verbliebenen Gebührenzahler ausgeglichen werden kann. Nach dem Abzug der französischen Streitkräfte besuchte im Oktober 1997 Herr Bundespräsident Roman Herzog in Begleitung von Innenminister Thomas Schäuble und Regierungspräsident Hubert Wicker die Gemeinde Stetten a. k. M., um sich über die dramatischen Auswirkungen des Abzugs und die sich daraus resultierende Konversion vor Ort zu informieren. In gleicher Angelegenheit besuchten auch die Herren MdB Gernot Erler (Mitglied im Verteidigungsausschuss) und Klaus Kirschner die Gemeinde. Im Juli 2000 besuchte der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Dr. Walter Kolbow den Standort und die Gemeinde, um sich ebenfalls ein Bild der Lage zu machen.“

Hassan, 2011 Hassan betreibt seit 14 Jahren an der Hauptstraße in Stetten einen Kebabladen – der einzige Schnellimbiss im weiteren Umkreis. Ein paar Jugendliche und Soldaten kommen regelmäßig vorbei.

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Gemeinde Stetten a.k.M.] (Hrg).: Stetten am kalten Markt. Profil eines optimierten Bundeswehrstandortes. Stationierung, Ausbildung, Üben und Schiessen an einem Standort, Stetten a.k.M. 2007, URL: http://www.stetten-akm.de/fileadmin/Dateien/ Dateien/standortprofil_stetten_akm.pdf Stand: 11.08.2014

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Interview mit Hassan, 31.12.20112 Interviewer: Wie läuft das Geschäft jetzt? Hasan: Es geht normalerweise. Für mich reicht es. Aber es ist nicht so besonders. Also: ehrlich gesagt: Das Finanzamt braucht Geld, Steuerberater, Strom, Mitarbeiter, und Versicherungen, da kommt man nicht zurecht so. Interviewer: Wer ist deine Hauptkundschaft hier? Hasan: Soldaten aus der Kaserne. Die Bundeswehr ist Hauptkundschaft. Im Dorf gibt es kein Gewerbe, es gibt keine Arbeitsplätze. Junge Leute auch nicht, die bleiben nicht da, die gehen weg vom Dorf. Die paar älteren Damen oder älteren Herren hier, die wollen auch nicht jeden Tag Kebab und Pizza, die sitzen lieber daheim und kochen. ... Interviewer: Und vor 2007 war mehr los? Hasan: Vor 2007 war richtig was los. Als mehr Soldaten da waren. Wir haben gute Umsätze und auch noch mehrere Angestellte gehabt. Und da konnte man auch gut davon leben. Aber ab 2007 haben die richtig reduziert. Und letztes Jahr haben sie alles weggemacht [Anm.: als die Wehrpflicht abgeschafft wurde]. Und danach gab’s überhaupt nichts mehr. Interviewer: Und wie war die Stimmung vor der Entscheidung, dass der Standort der Bundeswehr hier vielleicht aufgelöst wird? Hasan: Also, die haben gedacht: wenn die Bundeswehr geht, wird Stetten auch gleich geschlossen. Natürlich hat jeder Angst bekommen. Wir haben auch gedacht, dass wir dann schließen müssen, dass es dann nicht mehr weiter geht. Wenn immer mehr Soldaten weggehen, dann muss man aufhören. So funktioniert es nicht. Es ist ein kleines Dorf, wie gesagt, es gibt keine Arbeitsplätze. Viele Leute arbeiten woanders, in Albstadt-Ebingen oder Sigmaringen oder irgendwo anders. Aber die meisten aus dem Dorf arbeiten in der Kaserne. Einige als Koch, oder Schlosser oder Elektriker. Natürlich werden die auch arbeitslos, und dann wird es richtig schlecht... Niemand kann sich leisten hier jeden Tag in eine Gaststätte zu gehen oder sich im Kebab-Laden Essen zu hole. Die Leute haben kein Geld. Und die Wirtschaftskrise hat sowieso alles durcheinander gebracht. Interviewer: Aber jetzt bleibt die Bundeswehr ja hier! Hasan: Die denken die Bundeswehr bleibt da. Aber es ist nicht wie früher. Die haben in der Kaserne zum Beispiel eine Kantine, die kochen auch da. Ist auch günstiger. Und die meisten sind wegen dem Geld bei der Bundeswehr. Die sparen das Geld, damit sie sich nachher selbstständig machen oder was anderes ma-

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Das Interview wurde zugunsten der Verständlichkeit an einigen Stellen sinngemäß umformuliert.

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chen können. Die essen in der Kaserne. Und die kommen überhaupt nicht raus. ...Wenn es so weiter geht, spielt es gar keine Rolle, ob die Bundeswehr da ist oder nicht. Vor paar Tage sind mehrere Soldaten zu uns gekommen. Ich habe gefragt, wie lange sind Sie da? Drei Monate. Wo wart ihr die ganze Zeit? Die haben gesagt, wir durften nicht raus aus der Kaserne. Die müssen in der Kaserne essen, bis die Grundausbildung vorbei ist. Nach den drei Monaten wurden die wieder überall hin verteilt. Einige sind nach Ulm oder die anderen sind woanders hin verlegt worden. Und dann bleiben wir wieder ohne Kunden. Niemand denkt an uns, was wir machen. [...] Also eigentlich ist die Kaserne auch abhängig davon, ob es irgendwo eine Krise gibt. Die brauchen Soldaten hier, die müssen ausbilden. Wenn es keine Krisen- und Kriegsgebiete gibt, braucht man keine Soldaten und niemand kommt mehr hier her. Aber wir können auch nicht darauf hoffen, mit dem Iran oder anderen Ländern zu kämpfen, damit viele Soldaten kommen und wir davon leben. Ich hoffe das passiert nicht. Das wäre nicht korrekt. Viele haben gedacht, jetzt ist Libyenkrise, die müssen jetzt wahrscheinlich viele Soldaten für die Ausbildung hier herbringen. Aber das ist nicht passiert. Viele haben gehofft, aber es ist nicht so gekommen. Das ist jetzt eine andere Zeit. Der Kalte Krieg ist vorbei. Früher waren die Franzosen hier stationiert, Amerikaner waren auch da. Deutsche waren mehrere tausend hier, da war im Dorf richtig was los. Aber jetzt nicht mehr. Die Situation hat sich geändert. Abbildung 9: „Haine“ (dt.: Hass), Blick von Stetten auf den Truppenübungsplatz

Quelle: Standbild aus Filmmaterial Ortung

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A FGHANISTAN , 2001 –

HEUTE

Mit dem Einsatz in Afghanistan hat sich die Bundeswehr maßgeblich verändert. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg musste nach Jahren von Kampfeinsätzen und Verlusten anerkannt werden, dass sich die deutschen Truppen in einem Krieg befanden. Auch auf dem Heuberg ist dies auf unterschiedliche Weise sichtbar: neue Soldaten, die für den Einsatz ausgebildet werden auf der einen – aus Afghanistan heimkehrende Soldaten, auf der anderen Seite. Heute hat man für diese einen Namen. Sie sind die „Generation Einsatz“. Marcus, 2011 Interview mit Marcus, 22.09.2011 Marcus: Mein Schwiegersohn, der war jetzt sechs Monate im Einsatz, von Januar bis Anfang Juli. Fallschirmjäger. Das sind die, die sind jeden Tag draußen, die sind nur draußen, die leben im Dreck da draußen, die haben jeden Tag ein Gefecht, es ist jeden Tag. Die sind zurück gekommen, das ist nicht mehr mein Schwiegersohn. Und der ist lang genug dabei, aber der ist nicht mehr... Interviewer: Wo war der? Marcus: In Mazar-e Sharif. Und die Masse ist von denen. Das habe ich nie für möglich gehalten, als mein Kommandeur im Jahre 2000, das war so ein Soldat par excellence, genau, formal, weiß der Teufel was. Der war im Kosovo, da wo das ja begonnen hatte. Da kam der zurück, da habe ich den in Landsberg abgeholt, kam ein anderer Kommandeur zurück. Der ist freundlich, geht mit den Soldaten anders um, irgendwie hat der es zwar auch aufgearbeitet, aber die Masse, ein Großteil der Soldaten, die halt in Afghanistan im Einsatz sind, die, die brauchen medizinische Hilfe. Und wir erleben das auch hier vor Ort, wir haben hier die schwere Kompanie, der Jägerbataillon 292, die zur DF Brigade gehören, die sind jetzt wieder im Einsatz, in Afghanistan, in Kunduz, als die aber vor zwei Jahren aus dem Einsatz zurück kamen haben wir das hier selber erlebt. Der Kompanie Chef ist nicht mehr gekommen: Posttraumatische Belastungsstörung. Und dann so sind es im Laufe der Zeit immer weniger Soldaten dort geworden. Und dann habe ich mit dem Spieß (umgangssprachlich für Kompaniefeldwebel) mal geredet, und dann sagt der, ja, wissen Sie, da kommt dann morgens ein Soldat sagt, die sind sehr russlanddeutsch geprägt, die Einheit, der Valerij, der weint die ganze Nacht. Und dann muss der Spieß hinter her gehen, ein Psychologe, wir haben ja hier eine, die Frau K. und der Truppenarzt und dann ab in die Behandlung. Die kommen auch nicht mehr zurück, weil das lebt ja immer wieder auf. Wenn die in eine bestimmte Situation kommen, dann lebt das auf und...Gerade

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solche Gefechte, wo dann auch Kameraden verletzt werden, wo Kameraden ums Leben kommen, die bleiben einem stecken, ja. Ist ja wie im Zentrum auch, das Zentrum für Kampfmittelbeseitigung, die sind eigentlich platt, weil sie keine Leute mehr haben für die Einsätze, weil die auch alle...was glauben Sie, wie das ist...die leben ein halbes Jahr und auch die Fallschirmjäger, die Jäger, ein halbes Jahr ist bei denen Adrenalin im Körper, das hört gar nicht mehr auf. Wenn die eine Ruhephase von zwei, drei Tagen haben, das hört nicht auf, sondern da denken die ja schon wieder an den nächsten Einsatz wo sie raus gehen. Das hört nie auf. Und bei denen ist das genauso. Ist ja nicht gerade jedermanns Sache mit so einem Ding da zu agieren, weil, so wie es im Fernseher ist, immer den roten Draht durchschneiden, das ist nicht so. Die Taliban, die haben schon Profis dabei, die wissen was für Fallen man aufstellt. Es war undenkbar einen Panzer hoch zu blasen. Als die den Schützenpanzer Marder von uns hoch geblasen haben, haben sie 150 Kilo unter den drunter gelegt. Da ist der drüber gefahren. Das hält der beste Panzer nicht aus und dann stand der senkrecht. Also ist man im Panzer auch schon nicht mehr geschützt. Und da gehe ich nicht mehr so „Mmmh“, munter und fröhlich in den hinteren Kampfraum und setze mich hin und so, jetzt fahren wir ein bisschen Patrouille. Oder, wenn man feststellt, mit einem G36, die Munition, 5.56, ist ja toll, aber die geht durch den Taliban durch, der steht wieder auf und schnappt seine Kalaschnikow und schießt wieder zurück. Dann verschwindet der in einer Lehmhütte, da geht meine Munition nicht durch. Und was passiert? Wir führen wieder unser Vorgängermodell, das G3 ein. Was wir 40 Jahre lang hatten. Da unten springt jetzt jeder mit zwei Waffen rum, ne mit drei. Sind Gott froh, weil dieses Ding hat 7.62, das ist mannstoppend, da wo es trifft, der steht nicht mehr auf, und es geht durch jede Lehmhütte durch. Man hat es wieder eingeführt.

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Abbildung 10: Marcus K. als Beobachter einer Manöverübung

Quelle: Standbild aus Filmmaterial Ortung

B UNDESWEHRREFORM 2011 Im Rahmen der Bundeswehrreform im Jahr 2011 drohte die Albkaserne (Lager Heuberg) und der Truppenübungsplatz geschlossen zu werden. Die lokale Politik und der ortsansässige Wirtschaftsverband haben sich daraufhin mit Hilfe einer Unterschriftensammlung beim zuständigen Bundestagsabgeordneten für den Erhalt des Standorts stark gemacht. Am 26. Oktober 2011 wurde die Entscheidung zur Schließung von 31 Kasernen bekanntgegeben. Der Garnisonsstandort Stetten a.k.M. war nicht betroffen. Martin, 2012 Martin ist der Apotheker in Stetten a.k.M. Er ist außerdem Herausgeber einer kleinen historischen Informationsbroschüre. Seine Freizeit verbringt er oft im nahegelegenen Kreisarchiv in Sigmaringen oder auf Flohmärkten, immer auf der Suche nach Dokumenten und Fotografien aus der Vergangenheit des Ortes und des Truppenübungsplatzes. 2011 stellte er im Schaufenster der Apotheke eine Reihe von Fotos unter dem Titel „100 Jahre Truppenübungsplatz Heuberg“ aus.

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Interview mit Martin, 02.01.2012 Interviewer: Warum interessiert dich die Lokalgeschichte? Martin: Oje, ich war prinzipiell, schon bevor ich nach Stetten kam – ich kam 1986 hier her – an Geschichte interessiert. Schon von jeher. Ich hab es vorhin schon angedeutet, ich war in allen möglichen philatelistischen Bundesarbeitsgemeinschaften, wo sich aber auch halt in erster Linie mit Geschichte, mit Begleitumständen befassen. Und es war für mich eigentlich nahe liegend, mich auch für die Lokalgeschichte hier zu interessieren. Das war wirklich naheliegend. Und da hat es sich durch unser Geschäft einfach so entwickelt, wir haben in der Apotheke ganz klar sehr häufig ältere Patienten, und da hat es sich so entwickelt, dass man das ein oder andere aufgeschnappt hat und das hat das Interesse geweckt. Das muss ich wirklich sagen. Und wenn man da gerade so Dinge über den Truppenübungsplatz, über ausländische Einheiten hört, das kommt einem ja mysteriös vor, wenn man es nicht weiß, gell? Dann hat man sich einfach dafür interessiert und sich da reingekniet. Aber ich hab es ja vorhin schon gesagt, das ist nicht das einzige Interesse. Ich könnte auch Fossilien sammeln oder irgendwas anderes, mich interessiert da eigentlich immer alles. Es ist schlimm! Der Tag ist zu kurz. Interviewer: Und wie beschäftigst du dich mit Geschichte? Wie betreibst du diese Arbeit, diese Recherchen? Martin: Also, das ist so eine Sache, was ich nicht gerne hab, ist wenn man nur an der Oberfläche rumkratzt. Das stößt mich auch an vielen Chroniken und vielen Veröffentlichungen ab, wenn nur so an der Oberfläche rumgekratzt wird. Wenn mich was interessiert, interessiert es mich richtig. Dann versuch ich rauszukriegen, was man rauskriegen kann. Natürlich gibt es immer noch andere Möglichkeiten, die mir aber mangels Zeit nicht offen stehen, gell? Aber was man einfach machen kann, versuch ich dann rauszukriegen. Das geht so weit, dass eben das Generallandesarchiv in Karlsruhe regelmäßig bemüht wird, ständig das Kreisarchiv, das Kreisarchivamt in Sigmaringen bemüht wird, das Internet natürlich auch bemüht wird, wenn möglich – wobei das Internet kann man meistens nur als Anhaltspunkt nutzen. Wo man weiterrecherchieren könnte. Die Informationen sind im großen und ganzen so schlecht, dass man es also als Quelle in keinster Weise benutzen kann. Man kriegt nur Winke, wo kann man nachgucken kann, was ist sinnvoll, in welcher Richtung kann man weiterarbeiten. Das ist das eine, also man benutzt Informationsmedien, um einfach den Dingen auf den Grund zu gehen, oder wir fragen hier im Geschäft – das macht meine Frau wie ich – wir fragen hier im Geschäft unsere älteren Patienten nach diesem oder jenem. Und das ist natürlich eine Quelle, die ist überhaupt mit nichts aufzuwiegen, weil das sind private Erlebnisse oder private Sicht der Dinge, die stehen in kei-

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nem Lehrbuch. Und die verschaffen einem einen Einblick, den man sonst gar nicht kriegen kann. Das bezieht sich jetzt wirklich nur auf Sachverhalte der letzten 100 Jahre, wo sich zum Beispiel eben unsere älteren Patienten auch noch an Geschichten ihrer Oma erinnern. Aber so ist das dann auch schon vorbei. Interviewer: Wie geht Gemeinde mit der eigenen Geschichte um? Martin: Jetzt muss ich vorsichtig sein, damit ich mich nicht in ein Fettnäpfle setze. Ich fange jetzt mal mit dem Platz draußen an, bevor ich auf die Gemeinde komme. Wir haben auf dem Truppenübungsplatz einen regelmäßigen Wechsel des Kommandanten. Und es gibt Kommandanten, die interessieren sich für Geschichte – unter deren Ägide läuft dann auch wirklich was. Da kommen Chroniken raus, da werden kleine Museen aufgebaut oder wie jetzt große Museen aufgebaut, und es gibt Kommandanten – das ist jetzt kein Vorwurf – die interessieren sich einfach nicht. Die leisten ihre Arbeit, die machen das auch gut, keine Frage, so ein Kommandant hat auch was anderes zu tun als wie Geschichte, gell, aber das nur als Vorspann. Und gleich gibt es bei den Gemeinden Bürgermeister, die interessieren sich für Geschichte, und es gibt Bürgermeister, denen ist das egal. Da kostet das nur Geld. Und dementsprechend gab es den Bürgermeister L., der damals die sehr teure Ortschronik initiiert hat und es gibt den jetzigen Bürgermeister, der an Geschichte einfach nicht so interessiert ist. Der ist tagespolitisch wirklich ein guter Mann, keine Frage, der macht das richtig gut, aber was Geschichte anbelangt, das ist einfach nicht sein Gebiet. Interviewer: Aber wie reflektieren das die Bürger? Martin: Also, das muss man differenzieren. Es gibt Themenbereiche, die sehr sehr offen angesprochen werden. Sei es jetzt – was weiß ich – irgendwelche landwirtschaftlichen Themen, wie war des, wie war des, wie hat man das damals gemacht, irgendwelche Themen wie – was weiß ich – wer war Bürgermeister, wie kam es zu der Wahl, wie waren da die Hintergründe. Es gibt aber auch Themen, das ist der zweite Teil der Wahrheit, an die man nicht gern rangeht. ...Es gibt so Themen, da redet man nicht gerne drüber. Das sind in aller Regel Themen aus der Zeit des Dritten Reiches. Das muss man einfach sagen wie es ist. Es ist auch so – man weiß das auch von Heilbronn, da ist es ganz berühmt, da sind alle Akten verschwunden, von 1933 bis 1945. Die sind einfach weg! Und wenn man im Landkreis Sigmaringen oder Stetten recherchiert fehlen aus dieser Zeit auch Akten, weil sie einfach auf den einen oder anderen kein günstiges Licht werfen. Ich sehe das anders. Das ist Zeitgeschichte. Ich weiß nicht, wie ich mich in der Zeit verhalten hätte. Ich finde es auch völlig falsch, dass wir richten, aus unserer Sicht. Das ist diese Devise „mit der vollen Hose ist gut stinken“, das geht so nicht. Man muss das wirklich aus der Zeit beurteilen und keiner von uns, oder ich würde für keinen von uns die Hand ins Feuer legen, wie er sich verhält,

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wenn es wirklich nochmal so wäre. Oder wie er sich damals verhalten hätte. Wir haben zum Glück zu sehr sehr vielen Personen hier, zu sehr sehr vielen älteren Patienten hier – weil wir einfach das seit 25 Jahren am Stück hier machen – ein sehr gutes Verhältnis. Und erfahren dann auch aus der Zeit das ein oder andere. Zum Beispiel der Umgang mit den 999er-Einheiten. ... Ich habe sie zwar in der Ausstellung beschrieben, aber habe sie fotographisch nicht dokumentieren können, weil es nichts gibt. Nichts Gescheites gibt. Diese Strafeinheiten, da gibt es in der Bevölkerung natürlich Kreise, die an der Erschießung beteiligt waren. Oder die zum Wachpersonal gehörten. Die das gern oder ungern gemacht haben, mag ja sein, aber die reden natürlich nicht gerne drüber. Es gibt andere, die den Frauen der 999er Obdach boten. Die haben natürlich versucht, ihre Männer hier zu sehen und zu sprechen, aber die sind nirgends untergekommen, die mussten privat irgendwo hingehen und sind dann aufgenommen worden oder nicht. Die sehen das natürlich unter einem ganz anderen Aspekt. Die erzählen das gern. Die haben geholfen damals. Andere, die bewacht haben, und vielleicht sogar mal einen Schuss abgegeben haben auf irgendjemanden, erzählen das nicht gern. Gell, das ist schwierig alles Interviewer: Was ist deine Meinung zu Stettens Verhältnis zum Militär? Hat sich das Dorf seine Abhängigkeit vom Militär in der Vergangenheit immer wieder selbst geschaffen? Martin: Das muss man auch wieder ganz differenziert sehen. Also, man ist sich des Militärs sicher in Krisenzeiten. Haben wir jetzt zum Glück keine. Die Krisenzeiten, der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg und selbst der Kalte Krieg, waren letztlich Garanten für Stetten. Gar keine Frage. Da ist auch alles expandiert hier. Gar keine Frage. Das Verhältnis zum Militär muss man zeitlich differenzieren. Heute ist es so, dass wir so viele ehemalige Soldaten hier am Ort haben, die hierher geheiratet haben, die irgendwann mal mit Familie hierher gezogen sind und seitdem hier wohnen, dass heute wirklich Militär und Ort massiv verwoben sind. Natürlich sind das häufig ehemalige Soldaten, die keinen Einfluss mehr haben aufs Geschehen. Aber es sind trotzdem Soldaten der Bundeswehr, die am Ort sind, die gesellschaftlich wahnsinnig integriert sind, die also Vereinsvorsitzende sind oder wirklich tragende Funktionen haben, Gemeinderäte sind, und und und...die arbeiten am Ort, die haben Geschäfte eröffnet am Ort, also mittlerweile ist es so verwoben, dass Stetten ohne Bundeswehr jetzt gar nicht denkbar wäre. Da wären viele Vereine ohne Vorstände, viele Geschäfte...das wäre einfach ganz anders. Undenkbar. Dieses Verweben geht eigentlich los mit der Entstehung des Platzes. Massiv ist es heute, wie gesagt, weil viele hier wohnen geblieben sind. Also Stetten ist, was das anbelangt, ohne die Bundeswehr, ich weiß nicht wie das sein sollte, da würden viele Leute fehlen hier, die hierher ge-

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hören. Das ist das eine. Das andere: es ist immer ein wirtschaftlicher Faktor gewesen. Und zwar jetzt wirtschaftlich wieder zu differenzieren, nicht nur für die Geschäfte und Wirtschaften am Ort – die Wirtschaften haben immer massiv profitiert, vor allem wieder in Krisenzeiten, die waren voll bis zum Rand. Vom Gasthaus Sonne weiß man, dass sie während des Ersten Weltkrieges bis zehn Uhr abends für die Ortsbevölkerung tabu war. Geschlossen. Da war sie nur für Soldaten offen und war voll und erst ab zehn konnten die Einheimischen kommen, weil da war Zapfenstreich. Das ist eine Seite. Die Geschäfte, die Wirtschaften, das ist eindeutig ein Aspekt. Auch heute noch. Keine Frage. Das andere ist, die Bundeswehr ist ein riesen Arbeitsgeber. Ich kenn die aktuelle Zahl nicht, aber die letzte die mir geläufig ist so acht oder 10 Jahre alt, da waren knapp 40% der Arbeitsplätze hier in Stetten bei der Bundeswehr. Also betrifft es nicht nur die Geschäftsleute, es betrifft wirklich alle. Es betrifft alle! Interviewer: Was hätte eine andere Entscheidung in der Standortfrage bedeutet? Wenn der Truppenübungsplatz geschlossen worden wäre? Martin: Du kannst das schon früher ansetzen. Du kannst es wirklich mit der Entstehung des Platzes ansetzen. Wir haben aufgrund der Tatsache, dass wir einen sehr großen Arbeitgeber in den Ort bekommen schon 1914, groß mit der Eröffnung des Lagers, waren die Leute beschäftigt. Da haben überhaupt keine anderen Industrien hier Fuß gefasst. Es war ein bißchen Textil, da waren Frauenarbeitsplätze vor allem, das ist okay, ... aber so mit Großbetrieben – sei es jetzt Metall-verarbeitend oder sonst was – hat sich einfach mangels Arbeitnehmer und natürlich auch aufgrund der verkehrstechnisch schlechten Lage überhaupt nie was entwickelt. Das schon von Anfang an nicht. Jetzt, aus heutiger Sicht – ich weiß nicht was passiert wäre, wenn man den Platz jetzt geschlossen hätte. Es ist ganz schlecht zu beurteilen. Es wäre mit Sicherheit – um wieder die zwei Schienen zu nehmen – den Geschäften deutlich schlechter gegangen. Weil einfach die Leute, die draußen arbeiten und das sind viele, die kaufen natürlich auch in Stetten ein. Wenn die arbeitslos geworden wären, und das wäre ja letztens zwangsläufig passiert, man hätte ihnen zwar – so kulant ist man (die Bundeswehr) ja – irgendwo anders eine Ersatzbeschäftigung angeboten, aber was nützt dir die, wenn sie irgendwo im Osten oder so ist, da zieht ja keiner um. Das hätte man schon gemacht und hätte dann auch gesagt „Wir haben doch...“, gell? Es wäre furchtbar gewesen. Furchtbar. Keine Frage.

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Thomas de Maizière, 2012 1 Truppenbesuch: Verteidigungsminister in den Standorten Sigmaringen und Stetten2 Sigmaringen, 11.01.2012. Verteidigungsminister Dr. Thomas de Maizière hat den Stab der 10. Panzerdivision in Sigmaringen und den Standort Stetten am kalten Markt besucht. Im Zuge der Bundeswehrreform ist entschieden worden, die Graf-Stauffenberg-Kaserne in Sigmaringen zu schließen, während der Standort Stetten am kalten Markt personell aufwächst. Dem Minister war es wichtig, die beiden Standorte wo Freud und Leid nahe beieinander liegen, als erste im neuen Jahr zu besuchen. Der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière, hat am 26. Oktober 2011 im Bundeskabinett das Stationierungskonzept vorgestellt. Dieses sieht unter anderem vor, dass der Standort Sigmaringen und der Divisionsstab aufgelöst werden. „Die Auflösung des Standortes Sigmaringen und die Verstärkung des Standortes Stetten am kalten Markt ist Teil einer umfangreichen Neuausrichtung der Bundeswehr“, sagte de Maizière bei seinen Besuchen an den beiden Standorten. Sie sei verbunden mit der Aussetzung der Wehrpflicht und einem erheblichen Personalabbau sowie einer Veränderung der Strukturen. „Wir werden künftig nicht mehr fünf Divisionen haben, sondern drei. Deshalb war eine Entscheidung zu treffen zwischen Leipzig, Sigmaringen und Veitshöchheim“, so der Minister. Die Entscheidung sei aus infrastrukturellen, regionalpolitischen und geografischen Gründen gegen Leipzig und gegen Sigmaringen ausgefallen. Der Standort Stetten am kalten Markt wird mit dem Panzerartilleriebataillon 295, der Panzerpionierkompanie 550 und dem Feldjägerdienstkommando aus Sigmaringen sowie einer Rekrutenkompanie von rund 1.600 auf 2.330 Dienstposten aufwachsen. Tradition aufrecht erhalten Generalmajor Erhard Bühler, Kommandeur der 10. Panzerdivision, begrüßte den Minister in der Graf-Stauffenberg-Kaserne und führte ein persönliches Gespräch mit Minister de Maizière. Nach dem Eintrag in das Gästebuch der Division besuchte der Verteidigungsminister die Dauerausstellung, die das Leben von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, dem Namensgeber der Sigmaringer Kaserne, darstellt. Die Kaserne wurde 1957 erbaut. Sie wurde am 20. Juli 1961 nach dem Oberst im Generalsstabsdienst und Widerstandskämpfer gegen das Nazi-Regime, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, benannt. Dieser scheiterte am 20. Juli 1944 mit seinem Versuch, Adolf Hitler zu töten.

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Als seinerzeit amtierender Verteidigungsminister wird Herr de Maizière nicht anonymisiert.

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Jung, Volker: Truppenbesuch: Verteidigungsminister in den Standorten Sigmaringen und Stetten, URL: http://www.deutschesheer.de Stand 25.11.13.

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Oberstleutnant a. D. (außer Dienst) Thomas Krause führte den Minister mit sachkundigen Ausführungen durch die Ausstellung und zum Stauffenberg-Denkmal. Der Verteidigungsminister sagte danach: „Mir ist wichtig, bei allem was wir tun, die Tradition des Namens Stauffenberg und die Erinnerung an den Attentäter auf Hitler hochzuhalten. Das ist für die Bundeswehr eine Ehre und eine Pflicht.“ So würden in Ruhe Überlegungen zur Aufrechterhaltung der Namensgebung der wichtigsten Galionsfigur des deutschen Widerstandes angestellt. Dazu gehörten auch Überlegungen zum Thema Verbleib des Museums und des Gedenksteins Stauffenbergs. Der erste Vorsitzende der Stauffenberg- Gesellschaft Baden-Württemberg und ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General a. D. Wolfgang Schneiderhan, begrüßte die Initiative des Ministers: „Es ist eine Ehre und die Pflicht, die Erinnerung an den Namen Stauffenbergs zu erhalten und zu pflegen. Eine dauerhafte und solide Lösung zur Fortsetzung der Tradition begrüße ich sehr.“ Offenes Wort Im Offizierheim vor der Kaserne sprach der Minister mit Vertretern aus der Politik über die Gründe zur Schließung des Standortes Sigmaringen. Vor dem Offizierheim hatten sich rund hundert Demonstranten versammelt, die für den Erhalt des Standortes demonstrierten. Der Minister ging zu ihnen und lud spontan zwei Vertreter der Stadtinitiative zum Gespräch am runden Tisch ein. In einem weiteren Gespräch erläuterte de Maizière rund 150 Soldaten und zivilen Mitarbeitern die Gründe zur gefallenen Entscheidung der Standortschließung. Die Sorgen und Nöte der betroffenen Soldaten und Zivilangestellten nahm der Verteidigungsminister sehr ernst. „Wichtig ist mir der Zeitplan. Alle Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr sollen möglichst rasch erfahren, wann die Maßnahmen umgesetzt. werden. Dazu gibt es einige Entscheidungsprinzipen. Das wichtigste ist: der Einsatz geht vor“, sagte de Maizière. Das bedeute für Sigmaringen: „Die Division ist für 2013 als Leitdivision für den Einsatz vorgesehen, deshalb wird es vor Ende 2013 keine Auflösung des Divisionsstabes geben.“ So werde es aber auch Standorte in Deutschland geben, wo es schneller ginge. Im Laufe des Februars werde der Öffentlichkeit mitgeteilt, welche Standorte schnell von der Auflösung betroffen seien und im Laufe des Frühjahres würde allen Standorten mitgeteilt, in welchem Zeitplan Veränderungen auf sie zukommen. Die regionale Presse zeigte großes Interesse am Besuch des Verteidigungsministers, auch ihnen beantwortete er die gestellten Fragen. Stetten am kalten Markt profitiert Bereits am Vormittag besuchte Thomas de Maizière den Standort Stetten am kalten Markt. Der Kommandeur des Zentrums für Kampfmittelbeseitigung der Bundeswehr, Oberst Johann Freudenfeld sowie der Kommandant des Truppenübungsplatzes Heuberg und zugleich Standortältester, Oberstleutnant Udo Eckbrett, begrüßten den Verteidigungsminister. In Gesprächsrunden mit den Dienststellenleitern und Angehörigen der Dienststellen erläuterte de Maizière die Gründe für den Erhalt und den personellen Aufwuchs des Standortes. „Es war verständlicherweise eine sehr entspannte Atmosphäre“, sagte Oberstleut-

90 | O RTUNG nant Eckbrett. Schließlich profitiere der Standort und werde künftig unter den elf größten in Deutschland sein.

Semira, 2012 Semira ist Hellseherin. Sie zog etwa zum gleichen Zeitpunkt wie der Beginn der Dreharbeiten nach Stetten am kalten Markt. Interview vom 05.01.2012 Semira: Ich bin die Semira, ich bin Hellseherin von Beruf. Ich bin geboren in Süddeutschland. Meine Mutter ist Norwegerin und mein Vater ist deutsch. Ich habe früher in Stuttgart gelebt und lebe jetzt hier in Stetten am kalten Markt. Seit September letzten Jahres. Also 2011. Interviewer: Wie ist es gekommen, dass sie nach Stetten gekommen sind? Semira: Das war eigentlich reiner Zufall. Obwohl Zufälle gibt es nicht, sage ich immer. Das wird wahrscheinlich Schicksal sein, dass ich hierher gekommen bin. Warum, das weiß ich noch nicht. Dafür bin ich zu kurz noch hier. Das wird sich noch herausstellen. Interviewer: Und waren viele Stettener schon bei Ihnen? Semira: Also von Stetten noch nicht, ich bin erst zu kurz hier. Aber es gibt schon verschiedene Leute, die mich angesprochen haben, ob sie mal kommen dürfen. Dann sage ich: „Ja, selbstverständlich.“ Ich habe so ein bisschen das Gefühl, die Leute haben ein bisschen Angst vor mir…. Aber so allmählich werde ich schon angesprochen. Und ich habe zwei Prognosen in der Zeitung gemacht. Einmal für den Bürgermeister und einmal für Stetten. Ist auch prompt eingetroffen. Das war Ende November, da hat mich der Bürgermeister gefragt: „Semira, wann kommt der erste Schnee?“ Dann habe ich gesagt: „Lassen sie mir einen Moment Zeit… Der kommt zum zweiten Advent.“ Und genau am zweiten Advent hat es geschneit. Da hat er mich angerufen und gesagt: „Das gibt es doch gar nicht!“ Interviewer: Und hat er sie auch bezüglich der Entscheidung über den Erhalt oder die Schließung der Kaserne gefragt? Semira: Das war schon leider gerade vorbei. Er wusste es schon. Sonst hätte er mich das natürlich gefragt. Aber dann wollte er noch ein bisschen was wissen über Stetten, wie es sich entwickelt, ob in der Zukunft die Einwohnerzahl wieder mehr wird. Dann habe ich ihm gesagt: „Ganz bestimmt, jetzt wo die Bundeswehr aufgestockt wird, werden sicher neue Zuwanderer oder Einwohner kommen.“ „Ach, das freut mich“, hat er gesagt. Das war ein sehr, sehr nettes Gespräch mit ihm, das ist ein ganz sympathischer Mensch.

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Interviewer: Kommt es auch vor, dass sie sich mit einem Ort beschäftigen und in die Vergangenheit schauen oder ist ihre Arbeit immer auf einen Menschen bezogen? Semira: Also generell ist es meistens auf einen Menschen bezogen. Aber Ich kann mich natürlich auch mit einem Ort beschäftigen und schauen, was da so auf den Ort zukommt oder was in dem Ort in der Vergangenheit war. Wobei heute mach ich das nicht mehr, weil heute kann man ja alles im Internet nachlesen, wenn man sich für einen Ort interessiert. Aber was ich hier gleich nachgefragt habe, ob es hier viel Kriminalität gibt, weil das wollte ich nicht mehr erleben. Der Bürgermeister und auch der Reporter von der Zeitung haben also gesagt: „Hier sind sie ganz sicher. Da brauchen sie gar keine Angst zu haben. Hier wird auch nicht eingebrochen.“ Sie konnten sich gar nicht erinnern, dass hier irgend ein Verbrechen stattgefunden hat. Dann habe ich gesagt: dann bin ich froh, genau das wollte ich. Ein Ort, wo ich mich sicher fühlen kann.

Teil 2: Geschichte im Film – der Film Ortung

E INLEITUNG In der Dorfchronik des Ortes Stetten am kalten Markt, im Kapitel zur „Zeit des Nationalsozialismus“,1 wird die Geschichte der Landwirtin Franziska S. erzählt. Sie hatte sich mit einem polnischen Zwangsarbeiter, der ihr bei der Landwirtschaft aushelfen sollte, sexuell eingelassen. Nach den Rassegesetzen war dies ein Verbrechen. Nachdem die Einwohner des Dorfes von Franziskas Vergehen erfahren hatten, wurde diese am 19.8.1941 auf dem Rathausplatz öffentlich mit einem „Polendirne“-Schild vorgeführt und der Friseur rasierte ihr vor der versammelten Dorfgemeinschaft die Haare ab. Später wurde S. ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht und kam dort erst am 20.2.1945 wieder frei. Eine Fotografie der Situation auf dem Rathausplatz belegt diesen Augenblick der „dunklen“ Vergangenheit des Dorfes. Zugleich steht dieses Bild auch repräsentativ für die nationalsozialistische Geschichte Stettens. Es ist ein „authentischer“ Beleg für das Verhalten der Gemeindemitglieder und ihre Partizipation an der Verfolgung von Menschen, die nicht den Regeln der nationalsozialistischen Herrschaft folgten. Zugleich ist es eine Reduktion der Geschichte auf dieses singuläre Ereignis, es verallgemeinert die Täterschaft und beschränkt die Vielzahl der Opfer auf die Person Franziska S. Dieses fotografisch dokumentierte Ereignis war eine der ersten „Geschichten“, die dem Team des Dokumentarfilms Ortung, der die Geschichte des Ortes Stetten am kalten Markt erzählen sollte, bei ihren Recherchen im März 2011 in die Hände fiel. Zunächst erschien diese Anekdote aus der NS-Vergangenheit wie gemacht für den Film, denn immerhin gab es in der Dorfchronik vorrecherchier-

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Jeuck, Erika/Schaffer, Wolfgang (Hg.): 1200 Jahre Stetten am kalten Markt. 7991999.Geschichte der Gemeinde und ihre Ortsteile, im Auftrag der Gemeinde Stetten am kalten Markt, Ulm 1999.

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te Informationen und sogar eine Fotografie des Ereignisses. Nach monatelanger Suche nach einer geeigneten Erzählweise im Film, beschloss das Team aber schließlich im Juni 2012, dass es die Geschichte Franziskas nicht erzählen wollte. Den Teammitgliedern war klar geworden, dass es genau der bisherigen Tradition der Vergangenheitsbewältigung der Gemeinde entsprochen hätte, dieses eine dramatische Ereignis stellvertretend für die Diskriminierungen und Verbrechen der 12-jährigen Regimeherrschaft zu zeigen. Das Schicksal der Franziska S. ist ohne Zweifel schrecklich und nicht zu beschönigen. Tragisch an diesem Ereignis ist aber auch die Tatsache, dass seine prominente Darstellung in den Geschichtserzählungen über Stetten am kalten Markt die Vielzahl der anderen Verbrechen vor Ort ausblendet. Es trägt damit indirekt zu einer Verharmlosung und Unkenntnis von weiteren Ereignissen bei. Das Filmteam wollte nicht der bisherigen Geschichtsschreibung folgen, sondern andere „Geschichten“ finden, die bisher ignoriert wurden. Doch wie erzählt man das, was bisher unbekannt war? Wie stellt man etwas dar, für das es zunächst keine Fakten, Vorlagen oder Archivbilder gibt? Der Filmemacher Claude Lanzmann begegnet dieser paradoxen Herausforderung mit dem Leitsatz: „You cannot see it, but what you cannot see you have to show in images.“2 Aber wie kann man eine adäquate Darstellung für vergangene Ereignisse finden, die nicht zu beschreiben sind? Und kann ein Film überhaupt diese Aufgabe erfüllen? Wenn man Dokumentarfilme am Maßstab der Geschichtswissenschaft misst, können sie überhaupt einen Beitrag zur Geschichtsschreibung leisten? Oder verhält es sich sogar genau umgekehrt: Erobern filmische Darstellungen Bereiche, die der konventionellen Historiographie verschlossen bleiben? Und lassen sie sich mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit vereinen? Diesen Fragen will sich dieses zweite Kapitel widmen. Als Mitglied des Projekts konnte ich Erfahrungen und gedankliche Anstöße zum Thema Film und Geschichte sammeln, die in dieser Abhandlung vertieft werden sollen. Sie beschäftigt sich mit Geschichtsschreibung im Film und welche Möglichkeiten diese heute anbieten kann. Die postmoderne Historiographie des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr allein auf Text und Sprache angewiesen. Auch der Film ermöglicht mit seinen spezifischen Arbeitsweisen und Charakteristika neue Formen der Auseinandersetzung mit Geschichte im wissenschaftlichen Bereich. Ziel ist es, in vier Stufen eine Argumentation zu bieten, wie man mit Filmen geschichtswissenschaftliche Inhalte vermitteln kann: Ausgehend von theoretischen Überlegungen zu Geschichte, Geschichtsschreibung und Film sollen Ansätze für

2

Zit. n./dt. v. Berg: Lanzmann, Claude: Parler pour les morts, in: Le monde des débats, 5(2000), S. 15.

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eine Theorie der „Historiophotie“3 erarbeitet werden. Daraufhin werden mögliche filmische Methoden zusammengestellt. Um Aufschluss über die Praxis filmischer Geschichtsschreibung zu erhalten, möchte ich schließlich anhand der aufgestellten Theorien und Operationsweisen den Film Ortung4 analysieren. Wesentlich für die Umsetzung des Films war die Auseinandersetzung der Gruppe mit grundsätzlichen Fragen zur Art und Weise der Darstellung von Geschichte. Einig war man sich darüber, dass Film für Geschichtsschreibung besondere narrative und ästhetische Möglichkeiten bieten könne. Zur Diskussion stand außerdem die Frage, inwiefern Film das Verhältnis von Darstellung und Interpretation mit eigenen Mitteln angemessen zum Ausdruck bringen könne. Ziel des Filmprojekts war es deshalb, einen multi-perspektivischen Blick auf Vergangenes und Gegenwärtiges zu richten, Offenheit und Mehrdeutigkeit von historischen Spuren und ihre verschiedenen möglichen Wertungen bewusst zu machen. Geschichte sollte als unabgeschlossener, stetig neu zu erarbeitender Erkenntnisprozess erfahrbar werden. Letztendlich sollte auch die Bedeutung von Geschichte für die Gegenwart wahrnehmbar werden. Nachdem der Film im Oktober 2012 mit einer endgültigen Schnittfassung abgeschlossen war, beschäftigte ich mich vermehrt mit theoretischen Überlegungen zu filmischer Geschichtsschreibung und den Möglichkeiten einer Analyse des entstandenen Films. Die Verbindung von Geschichte und Film ist meist problematisch. Sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme verdichten, manipulieren und emotionalisieren die ihnen zugrundeliegende Informationen und Materialien. Dazu bestimmen marktorientierte Interessen der Filmindustrie Inhalte und Formen der Produktionen, welche die Sehgewohnheiten der Zuschauer prägen. Daraus entwickeln sich Erwartungen gegenüber Authentizität, Informationsgehalt oder Unterhaltung, die mit den Prämissen einer gewissenhaften Geschichtswissenschaft wenig gemeinsam haben. Das Ergebnis sind große Differenzen zwischen „populärwissenschaftlichen“ Darstellungen im Fernsehen und den wissenschaftlichen Ansprüchen der akademischen Forschung. Dem sogenannten „Histotainment“ werden eine zu starke Fiktivisierung und Emotionalisierung von historischen Ereignissen sowie eine unreflektiert einseitige, zum Teil reaktionäre Interpretation von Vergangenheit vorgeworfen. Ausgerechnet diese umstrittenen TV-Dokumentationen haben sich in der Vergangenheit jedoch durch außergewöhnlich hohe Zuschauerzahlen aus-

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In Anlehnung an Hayden Whites Begriff „Historiophoty“. Ortung (D 2012), Regie: Edinger, Kathrina/Stürmer, Eduard/Kugel, Marco/Friedl, Johannes/Mirza, Nina/Körner, Helena/Turhan, Serpil, 92 Min.

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gezeichnet.5 Auch wenn die Kritik am unterhaltenden Geschichtsfilm durchaus berechtigt ist, muss eingeräumt werden, dass die Geschichtswissenschaft bisher kaum Erfahrungen und eigene Vorschläge zu einer adäquaten Nutzung des Mediums Film vorgebracht hat. An Hochschulen wird dieses Problem zunehmend in Angriff genommen.6 Auch die Filmbranche beschäftigt sich im Rahmen von historischen Spielfilmen7 und Dokumentationen8 immer wieder mit der Frage, wie Vergangenheit adäquat und „richtig“ darzustellen sind. Die multimediale Flut historischer Bilder in Film, Fernsehen, Internet und Ausstellungen suggeriert, dass die Vergangenheit durch Bilder „greifbar“ geworden sei. Dementsprechend haben auch kulturelle und pädagogische Einrichtungen diesem Trend nachgegeben und bedienen sich dem vermeintlich unmittelbaren filmischen „Fenster zu Vergangenheit“. Die Kehrseite dieses Phänomens ist die mangelnde kritische Auseinandersetzung mit Bildern und Filmen, sowie Verlust von „Tiefenperspektive“, den „die totale Präsenz und Verfügbarkeit von Vergangenheit [...] nach sich gezogen [hat]. Geschichte wird zu einer Sammlung von stets vorhandenen Images, durch Knopfdruck und Fernbedienung. Die Geschichte kehrt so ewig wieder – als Film.“9 Archivbilder sollen die Wirkung und Authentizität von Filmen verstärken, doch werden sie dabei meist auch zum Untergrund von Text reduziert. Das zur Illustration eingesetzte Archivbild wird durch die wiederholte Verwendung sukzessiv inhaltlich entwertet oder neubewertet. Eine begrenzte Anzahl von Aufnahmen, beispielsweise der jubelnden „NSVolksgemeinschaft“, des Schreckens des Zweiten Weltkriegs oder der glücklichen Ersten jenseits der Berliner Mauer, wird in unzähligen Dokumentationen,

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Bemerkenswert ist hier die ZDF-Serie „Die Deutschen“ (2008) von Guido Knopp. Die Zahl der Zuschauer der ersten Staffel (8 Folgen) lag zwischen 4,3 und 6,48 (≈ 21 % Marktanteil) Millionen Zuschauer, URL: http://www.meedia.de/nc/background/ meedia-blogs/jens-schroeder/mr-analyzer-post/article/sensationserfolg-die-deutschen-qualitt-und-quote-schlieen-sich-nicht-aus_100012682.html [Stand: 28.03.2013].

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Mithilfe von Arbeitskreisen zu Film und Geschichte, interdisziplinäre Lehrveranstaltungen, u. a.

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Vgl. Zelig (USA 1983), Regie: Allen, Woody; JFK (USA 1991), Regie: Stone, Oliver;

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Vgl. La Jetée (F 1962), Regie: Marker, Chris; Die Patriotin (D 1979), Regie: Kluge,

Forrest Gump (USA 1994), Regie: Zemeckis, Robert. Alexander; Sans soleil (F 1983), Regie: Marker, Chris; Far from Poland (USA 1984), Regie: Godmillow, Jill; Shoah (F 1985), Regie: Lanzmann, Claude; The Halfmoon Files (D 2007) Regie: Scheffner, Philip. 9

Kaes, Anton: Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München 1987, S. 209.

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Rückblicken, Spielfilmen und Jahrestagberichten eingesetzt und verliert dabei ihre Spezifik. Dazu werden häufig die vermeintlich wertvollsten Archivbilder, Zeitzeugen oder Orte zum einzigen Repräsentanten ihres historischen Kontexts gemacht. Der Dokumentarfilmer Hans-Dieter Grabe gibt zu bedenken, dass „[w]enn sich Leute mit dem Mikrophon, ohne dass es sein muss, in Auschwitz aufbauen, sollten sie vorher genau nachdenken: Ist es nötig, dass ich nach Auschwitz gehe und dort ein Statement spreche? Oder ist es vielleicht nicht nötig. Entspringt es einer falschen Eitelkeit oder der Fehleinschätzung von Zuschauern, wenn man annimmt, man könnte ihnen das Grauen auf diese Weise näher bringen?“10 Im akademischen Bereich sind diese Probleme mittlerweile erkannt und entsprechende Fragestellungen nach Entstehungs- und Verwendungskontexten, Ikonisierungen und Überschreibungen formuliert worden.11 Forschungsperspektiven, wie die „visual history“12, haben gezeigt, dass Spiel- und Dokumentarfilme – im Endeffekt jede Form der audio-visuellen Aufzeichnung – einer bestimmten wissenschaftlichen und kritischen Handhabung bedarf. Das Erkennen des Quellenwerts von Filmen hat dazu geführt, dass sich auch geschichtswissenschaftliche Forschungsrichtungen, wie die Kultur-, Alltags-, Mentalitäts- oder Geschlechtergeschichte, vermehrt mit dem Medium auseinandersetzen. Auch die Methoden der Historiographie sind von den filmischen Möglichkeiten nicht unberührt geblieben. Für die sogenannte „oral history“ bot sich aus pragmatischen Gründen die Ton- beziehungsweise Ton-Bild-Aufzeichnung an. Film versprach eine bestechende Genauigkeit, denn er konnte Gespräche mit Zeitzeugen im Moment ihrer Entstehung mit allen Details, wie Pausen, Mimik oder Gestik, aufzeichnen. Fehler bei dieser Form der Quellengenerierung schie-

10 Voss, Gabriele (Hg.): Ins Offene...Dokumentarisch Arbeiten 2, Gespräch mit HansDieter Grabe „Lieber weniger als mehr“, Berlin 2000, S. 19. 11 Vgl. Paul, Gerhard: Die Geschichte hinter dem Foto. Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 2 (2005), H. 2, URL: http:// www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Paul-2-2005 Stand: 28.03.2013]. 12 Vgl. Ders. (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; BachmannMedick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006; Hamann, Christoph: Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Herbolzheim 2007; Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt a.M. 2009; Knauer, Martin/Jäger, Jens (Hg.): Bilder als historische Quellen? Dimensionen der Debatten um historische Bildforschung, München 2009.

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nen im Vergleich zur schriftlichen Protokollierung so gut wie ausgeschlossen. Auch bewegte und tonsynchrone Aufnahmen zur Dokumentierung von Orten und Räumen erschlossen neue Möglichkeiten für die Forschung. Paradoxerweise sind diese Aufzeichnungen häufig nur Grundlage für textuelle Geschichtsschreibung. Die filmische Aufnahme der Aussage eines Zeitzeugen, die ja gerade durch ihre non-verbale Dimension einen Zugriff (oder zumindest Blick) auf sprachlich nicht Beschreibbares bietet, wurde durch Transkription und Zitat im Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten wieder auf eine mit Text beschreibbare Dimension reduziert.13 Ähnliches gilt – wenn auch aus finanzieller Motivation heraus – für die unendlich scheinende Zahl von Geschichtsdokumentationen im TV: häufig wird im „Buch zum Film“14 das, was der Film doch gerade mit seinen „authentischen“ (Archiv-)Aufnahmen und nachgestellten Szenen so glaubhaft zu vermitteln versuchte, auf einer Textebene verkürzt erneut aufbereitet und mit Bildern aus dem Film, sogar sogenannten „Screenshots“, veranschaulicht. Was ist der Grund dafür, dass Film – von der Unterhaltung bis zur Wissenschaft – eine so hohe Verwendung findet und gleichzeitig doch allein nicht zu genügen scheint? Wieso ist gerade die Geschichtswissenschaft ein Feld, in dem man zwar die Darstellung von Vergangenem in bewegten Bildern akzeptiert und zunehmend unterstützt, dies aber dennoch unentwegt durch verbalen und schriftlichen Kommentar einzuordnen sucht? Eine mögliche Antwort: Film wird zwar als Darstellungsmittel akzeptiert, doch bietet er vermeintlich nicht die Möglichkeiten einer ausreichend differenzierten Beschreibung, Selbstreflexion oder Kritik. Auf die Geschichtswissenschaft bezogen heißt das: Film könne nur zeigen, aber nicht argumentieren. Film sei im Gegensatz zu Text kein ausreichendes Medium für kritische Geschichtsschreibung. Die Gründe, warum der Film diesen Stellenwert genießen muss, sind zu vielschichtig, um sie ihm Rahmen dieser Arbeit aufzuarbeiten. Es ist allerdings davon auszugehen, dass sie im akademischen Bereich vor allem auf wissenschaftli-

13 Vgl. Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002; Botz, Gerhard: Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2007. 14 Hitlers Helfer (D 1996), Regie: Knopp, Guido; Ders.: Hitlers Helfer, München 1998; Der Untergang (D 2004), Regie: Hirschbiegel, Oliver; Eichinger, Bernd/Fest, Joachim: Der Untergang. Das Filmbuch, Reinbek 2004; außerdem besonders bemerkenswert: Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985; Der BaaderMeinhof-Komplex (D 2008), Regie: Edel, Uli; Eichinger, Katja: Der Baader-MeinhofKomplex. Das Buch zum Film, Hamburg 2008.

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che und institutionelle Traditionen und Konventionen zurückgeführt werden können. An den Universitäten gehören Schrift und Text zum unabdingbaren Handwerkszeug der wissenschaftlichen Disziplin. Auch wenn sich die Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert der Untersuchung von anderen Medien geöffnet hat, dominiert dennoch die textuelle Auseinandersetzung mit diesen. Dabei lässt sich ein gewisses Spannungsverhältnis, beispielsweise beim Versuch Bilder in Worten zu beschreiben, nie vollständig auflösen. Das wissenschaftliche Schreiben über Vergangenheit ist außerdem die wichtigste und einzige obligatorische Lektion im Rahmen eines Geschichtsstudiums. Das Medium Film dagegen wird nach wie vor als entweder als kulturelles Ausdrucksmittel, das Wissen lediglich veranschaulichen kann, oder als historische Quelle verstanden. Durch meine Erfahrungen und Einblicke im Rahmen meines Geschichtsstudiums, des Filmprojekts Ortung und der Lektüre geschichts- und filmtheoretischer sowie sprachwissenschaftlicher Texte bin ich jedoch zur Überzeugung gekommen, dass in Filmbildern durchaus eine Form der geschichtswissenschaftlichen Forschung stattfinden kann. Als bedeutungsstiftende Konstruktion ist der Film eine Methode zur Erforschung, Darstellung und Diskussion von Geschichte. Das möchte in vier Schritten aufzeigen. Dabei werde ich zunächst den Hintergrund meiner Hypothese ausformulieren, film- und geschichtswissenschaftliche Argumente anbieten, mögliche Methoden entwickeln und schließlich die Möglichkeiten einer Umsetzung am Beispiel des Films Ortung herausarbeiten und präsentieren. Die Literatur und die Forschungsperspektiven, auf die ich mich beziehe, zeigen, dass nur wenige Historiker Film als Mittel zur Darstellung und Forschung begreifen. Meist sind es Vertreter der Literaturwissenschaft oder der stark textkritischen Historiographie, die sich mit dem Film auseinandersetzen.15 Zwar gibt es eine große Anzahl an geschichtswissenschaftlicher beziehungsweise geschichtsdidaktischer Literatur zu Film, jedoch beschränkt sich diese meist nur auf den Darstellungscharakter und die Anwendungsmöglichkeiten von Geschichtsbildern im Film.16 Auf der Seite der Filmwissenschaft dagegen gibt es Untersuchungen, die sich zwar nicht mit Film als historische Methode im Allgemeinen beschäftigen, jedoch auf einzelne filmische Methoden und ihre An-

15 U.a. Hayden White, Nancy Partner, Frank Ankersmit. 16 Vgl. eine Auswahl der neuesten Publikationen: Schultz, Sonja: Der Nationalsozialismus im Film. Von „Triumph des Willens“ bis „Inglorious Basterds“, Berlin 2012; Rongstock, Richard: Film als mentalitätsgeschichtliche Quelle. Eine Betrachtung aus geschichtsdidaktischer Perspektive, Belin 2011; „Heute gucken wir einen Film“. Eine Studie zum Einsatz von historischen Spielfilmen im Geschichtsunterricht, Oldenburg 2012.

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wendbarkeit für die Geschichtsschreibung hinweisen.17 Die Ausnahme bilden diejenigen, die sowohl die geschichts- als auch die filmwissenschaftliche Seite berücksichtigen. Gerade diese bieten für den praktischen Teil meiner Arbeit eine große Hilfestellung.18 Im ersten Teil möchte ich mich grundsätzlich mit dem Geschichtsbegriff und den Bedingungen der Geschichtsschreibung auseinandersetzen. Zunächst werde ich darlegen, welche Definitionen von Geschichte und Geschichtsschreibung meinen Überlegungen zugrunde liegen, um im Anschluss die Möglichkeiten, die der Film hierzu bietet, herauszuarbeiten. Berücksichtigt man bisherige Kritik am Film als Geschichtsschreibung, wird die Notwendigkeit einer grundlegenden Definition von Geschichte offensichtlich. So unterstellt beispielweise der englische Philosoph Ian Jarvie, der sich eingehend mit der Filmindustrie auseinandersetzte,19 dass Film diskursiv schwach sei.20 Er könne wohl Vergangenes, aber nicht Geschichte darstellen, da diese nicht einfach eine narrative Beschreibung von Vergangenheit, sondern vielmehr eine Debatte „between historians about just what exactly21 did happen, why it happened, and [...] an adequate account of its significance“22 sei. Jarvie arbeitet mit einem Begriff von Geschichte, der nach heutigen Erkenntnissen zu hinterfragen ist. Die Annahme, dass ein historiographischer Zugriff auf die exakte Wirklichkeit eines Ereignisses in der Vergangenheit existiert, ist durch die Erkenntnisse der „postmodernen“ Forschung widerlegt worden. Wenn die Vergangenheit doch endgültig vergangen ist, wie weit kann oder sollte man überhaupt von Rekonstruierbarkeit sprechen? Denn schließlich setzt die Rekonstruktion eines vergangenen Ereignisses einen unmittelbaren Zugriff auf dieses Ereignis voraus. Die Vorstellung, dass der historische Referent lediglich zu ermitteln sei, um Historikern die „Fakten“ der Vergangenheit als Grundlage für ihre wissenschaftliche Interpretation zu bieten, ist frag-

17 U. a. Margit Tröhler, Oliver Fahle. 18 U. a. Olaf Berg, Eva Hohenberger, Linda Williams, Robert Rosenstone, Frank Thomas Meyer. 19 Vgl. Jarvie, Ian Charles: Towards a sociology of the cinema. A comparative essay on the structure and functioning of a major entertainment industry, London 1970; Ders.: Philosophy of the film: epistemology, ontology, aesthetics, London 1987. 20 Ders.: Seeing through movies, in: Philosophy of the Social Sciences, 8 (1978), S. 374397, hier S. 377. 21 Hervorhebung der Verfasserin. 22 Jarvie: Seeing through movies, S. 378.

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würdig. Die Erkenntnis, dass Geschichte eine „unsichere“23 Sache geworden ist, führt doch zur Notwendigkeit einer Definition von Geschichtsschreibung, die ihren Entstehungsprozess und -kontext, also die veränderten Wahrnehmungen zum Zeitpunkt ihrer Dokumentation berücksichtigt. Ziel dieses Kapitels soll die Bestimmung eines Geschichtsbegriffs sein, der nicht lediglich als Rekonstruktion von Vergangenem, sondern als die Konstruktion einer Beziehung zur Vergangenheit verstanden wird.24 Der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White hat den narrativen Konstruktionscharakter von historiographischen Werken beschrieben.25 Darüber hinaus hat White für die nicht-textuellen Möglichkeiten von Geschichtsschreibung plädiert und den Begriff der „Historiophoty“, in Abgrenzung zur Historiographie, als „the representation of history and our thought about it in visual images and filmic discourse“ definiert.26 Diesen Begriff der, zu deutsch, Historiophotie werde ich in meiner Argumentation für filmische Geschichtsschreibung nutzen. Historiophotie ist dabei nicht als willkürliche „anything goes“27-Methode zu verstehen. Vielmehr möchte ich die Bedingungen und Einschränkungen von Film und Text parallel herausarbeiten und diskutieren. Hierbei stütze ich mich vor allem auf die Argumentationen von Hayden White28 sowie der Geschichtstheoretiker Hans-Jürgen Goertz29, Wolfgang Welsch30 und der Vertreter von „postmoderner“ Theorie, Jean-François Lyotard31 und Fredric Jameson32.

23 Goertz, Hans-Jürgen: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001. 24 Ebd., S. 6. 25 Vgl. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1994. 26 Ders.: Historiography and Historiophoty, in: The American Historical Review, 93(1988), S. 1193-1194, hier 1193. 27 Diese Aussage stammt von Paul Feyerabend, aus: Ders.: Wider den Methodenzwang. Skizze einer Anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a.M. 1976. 28 V.a. in White: Historiography and Historiophoty. 29 Goertz: Unsichere Geschichte. 30 Welsch, Wolfgang: Unsere moderne Postmoderne, Weinheim 1987. 31 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Otto Pfersmann, Wien/Graz 1986 [urspr. erschienen 1979]; Ders.: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Engelmann, Peter (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 33-48.

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Im zweiten Teil werde ich mich mit Ansätzen und Überlegungen zu einer „Historiophotologie“, also einer Theorie der filmischen Geschichtsschreibung, auseinandersetzen. Die Analyse von bisherigen „Vergangenheitsfilmen“33 allein kann meiner Meinung nach nicht genügen, um die Möglichkeiten von Geschichtsschreibung im Film zu erarbeiten. Daher werde ich mich in diesem Kapitel zunächst auf theoretischer Basis dem Potential des Films als kritischer Geschichtsschreibung nähern. Auch hier untersuche ich filmische Geschichtsschreibung immer in Abgrenzung oder Übereinstimmung zur textuellen Geschichtsschreibung. Anhand von geschichts- und filmwissenschaftlichen Problemfeldern möchte ich Analogien zwischen Film und Text erarbeiten, die eine gleichrangige Einordnung der beiden Medien rechtfertigt. Die Verhältnisse von filmischer und historischer Wirklichkeit, Fiktionalität, Referentialität und die Bedeutung von Wahrheit(en) stehen hierbei im Mittelpunkt. Wie kann man mit Unterscheidungen von Fakt und Fiktion umgehen? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander und unterscheidet sich dieses für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Film? Inwiefern kann man trotz filmischer oder textueller „Manipulation“ noch von wahren Darstellungen sprechen? Können Filme oder Texte überhaupt auf historische Ereignisse oder Lebenswelten zugreifen? Bei meinen Überlegungen beziehe ich mich auf Arbeiten der Filmwissenschaftlerinnen Margit Tröhler34, Linda Williams35, der Medienwissenschaftlerin Eva Hohenberger36 und des Filmhistorikers Robert Rosenstone.37

32 Jameson, Fredric: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Huyssen, Andreas/Scherbe, Klaus (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986, S. 45-102. 33 Die Unterscheidung in Dokumentar- oder Spielfilm bzw. die Definition eines Genres von „Geschichtsfilmen“ erachte ich nicht für sinnvoll. Vgl. dazu Kapitel 3.4. 34 Tröhler, Margit: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden. Fiktion - Nichtfiktion - Narration in Spiel- und Dokumentarfilm, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 2(2002), S. 10-43. 35 Williams, Linda: Spiegel ohne Gedächtnisse. Wahrheit, Geschichte und der neue Dokumentarfilm, in: Hohenberger, Eva (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, S. 24-44. 36 Hohenberger, Eva: Dokumentarfilmtheorie, in: Dies. (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin 1998, S. 8-34. 37 Rosenstone, Robert: Revisioning History. Film and the construction of a new past, Princeton 1995; Ders.: The future of the past: film and the beginnings of postmodern history, in: Sobchack, Vivian (Hg.): The persistence of history. Cinema, television, and the modern event, New York/London 1996, S. 187-200.

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Anhand der Ausführungen zum Verhältnis von Film und Geschichtswissenschaft sowie der Reflexion ihrer Bedingungen möchte ich einerseits die Möglichkeiten filmischer Geschichtsschreibung und andererseits die Grenzen von konventioneller Geschichtsschreibung diskutieren. Wo liegen sprachliche und narrative Barrieren und gibt es filmische Lösungen, die diese überschreiten? Welchen Einfluss können spezifisch filmische Erzählweisen auf die Darstellung von Geschichte haben? Obwohl die Unterhaltungsliteratur sprachliche, typographische und künstlerische Formen der Vergangenheitsbewältigung, die jenseits der Möglichkeiten des wissenschaftlichen Schreibens liegen, aufgezeigt hat,38 muss auch sie und jede Form der sprachlichen oder bildlichen Fixierung von Vergangenheit an die „Grenze des Sagbaren“39 beziehungsweiße Darstellbaren stoßen. Diese Erkenntnis ist jedoch nicht erst den „cultural turns“ der vergangenen Jahrzehnte geschuldet. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Walter Benjamin die sprachlichen Grenzen für die Bewältigung von traumatischen Ereignissen dargestellt. Sprachliche, narrative und um „Wahrheit“ bemühte Beschreibungen von Vergangenheit, so vertritt auch White seinen Standpunkt, müssen ab einem bestimmten Punkt versagen. Eine Alternative, die das Primat der „Realität“ aufgibt, glauben neben White auch Nancy Partner und Jeanne-Marie Gagnebin in sogenannten „para-historischen“40 Darstellungen zu finden. Diese vermischen Fakt und Fiktion beziehungsweise Imaginäres und Reales. Im dritten Kapitel sollen schließlich Formen und Operationsweisen kritischer Historiophotie erarbeitet werden. Im Gegensatz zur textuellen Geschichtsschreibung wurde in der Forschung bisher keine umfassende Sammlung von filmischen Methoden entwickelt. Die vorgestellten Ansätze können daher auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Vielmehr sollen sie eine Auswahl an möglichen Anwendungen des Films zur kritischen Geschichtsschreibung vorstellen. Welche Möglichkeiten bietet der Film, um einen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs zu liefern? Welche Beziehungen der Gegenwart zur Vergangen-

38 Vgl. z. B. die Werke der Nobelpreisträgerin Herta Müller, insbesondere die Romane „Atemschaukel“(2009) und „Herztier“(1993); außerdem der Roman „Unglaublich nah und extrem laut“ (2005) von Jonathan Safran Foer und der Comicroman „The Complete Maus: A Survivor’s Tale“ (1994) von Art Spiegelman. 39 Vgl. Pollak, Michael: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZÜberlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, Frankfurt a.M./New York 1988. 40 White, Hayden: Das Ereignis in der Moderne, in: Hohenberger, Eva/Keilbach, Judith: Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, S. 194-215, hier S. 194 [urspr. erschienen 1996].

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heit können Filmbilder darstellen? Und wie lassen sich deren Charakteristika mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit vereinen? Der Filmtheoretiker Olaf Berg hat die herkömmlichen geschichtswissenschaftlichen Zugänge zum Film (Filmgeschichte, Film als Quelle und Darstellung von Geschichte im Film)41 erweitert. Er teilt Filmaufnahmen nach ihrem Verhältnis zu Geschichte ein und hat die Kategorien „Film als Archiv“, „Film als Spur“ und „Film als Ableitung“ definiert.42 Letztere verspricht die Möglichkeit, dass nicht allein Vergangenheit in Bildern gezeigt werden kann, sondern die Beziehung zur Vergangenheit und demnach auch eine kritische Haltung zu dieser Beziehung in Filmaufnahmen manifestiert sein kann. Bergs Kategorien bieten ein geeignetes Handwerkszeug zur konkreten Analyse von einzelnen Aufnahmen bis hin zu komplexen Filmmontagen. Berg hat dies selbst an Claude Lanzmanns Film Shoah überzeugend gezeigt.43 Berg hat sich für seine Analyse an der Theorie des sogenannten „Bewegungs-Bilds“ und „Zeit-Bilds“ von Gilles Deleuze orientiert. Die Philosophen Gilles Deleuze und Walter Benjamin haben beide das Phänomen der historischen Zeit- und Raum-Erfahrung in Filmbildern untersucht. Ihre Theorien sollen mithilfe der Überlegungen Michaela Otts,44 Oliver Fahles,45 Ansgar Hillachs46 und Olaf Bergs47 erläutert sowie Übereinstimmungen und Ergänzungsmöglichkeiten herausgearbeitet werden. Walter Benjamins Konzept des „dialektischen Bilds“48 gründet sich zunächst auf der geschichtsphilosophischen Auffassung, dass Geschichte eine Erkenntniskonstruktion der Gegenwart ist.

41 Berg, Olaf: Film als historische Forschung: Geschichte in dialektischen Zeit-Bildern. Perspektiven für eine kritische Geschichtswissenschaft in Anschluss an Gilles Deleuze, Walter Benjamin und Alexander Kluge, in: mpz-materialien 9(2004), S. 10. 42 Ebd., S. 32. 43 Berg, Olaf: The challenge of film considered as historical research. Claude Lanzmann’s approach to the Shoah: Constructing history in dialectical time-images, in: Cultural Studies Review 14(2008), S. 124-136. 44 Ott, Michaela: Gilles Deleuze zur Einführung, Hamburg 2005. 45 Fahle, Oliver: Zeitspaltungen. Gedächtnis und Erinnerung bei Gilles Deleuze, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 1(2002), S. 97-112. 46 Hillach, Ansgar: Dialektisches Bild, in: Opitz, Michael/Wizisla, Erdmut (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a.M. 2000, S.186-229. 47 Berg: Film als historische Forschung. 48 Benjamin, Walter: Passagen-Werk, Erster Band (=Gesammelte Schriften Bd. V. 1), hg. v. Rolf Teidemann, Frankfurt a.M. 1983.

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Davon ausgehend lässt sich ein Begriff eines (visuellen) Bildes ableiten, in dem Vergangenheit und Gegenwart in einem Moment „dialektischen Stillstands“49 verschmelzen und Geschichtserkenntnis wahrnehmbar machen. Gilles Deleuze hat sich ebenfalls mit Bewegung und ihrer zeitlichen Dimension beschäftigt. In zwei Werken50 hat er zunächst ein duales Klassifikationsschema für Filmbilder entwickelt. Er unterscheidet zum einen in Bilder51, die Zeit indirekt durch Bewegungsabläufe und logische Sukzession entlang eines „senso-motorischen Bands“52 darstellen (Bewegungs-Bilder). Zum anderen definiert er Filmbilder, die losgelöst von chronologischer Abfolge, Logik oder Abhängigkeit von Bewegung, Zeit unmittelbar darstellen können (Zeit-Bilder). Letztere bieten sich gerade zur Visualisierung von Wahrnehmungen, die jenseits von Raum-ZeitKontinuitäten liegen, wie zum Beispiel Erinnerung und Gedächtnis, an. Die deleuze’sche Klassifikation von Bildern und das Dialektik-Konzept Benjamins sensibilisieren für ein Erkennen filmbildlicher Beziehungen zu Zeit und sind daher für meine Entwicklung entsprechender Methoden wesentlich. Kritische Geschichtsschreibung zeichnet sich auch durch einen gewissen Grad an Selbstreflexion beziehungsweise Selbstkritik aus. Zum einen zeigen sich Historiker ihren Quellen und damit ihrer interpretatorischen Arbeit gegenüber kritisch, zum anderen versuchen sie im besten Fall die Rezipienten für eine kritische Haltung zur eigenen These und zur Geschichtskonstruktion im Allgemeinen zu motivieren. Ähnliches lässt sich für Filmemacher und für filmische Geschichtsschreibung annehmen. Daher soll die Rolle der Filmemacher und ihr Verhältnis zu sich selbst, zu Film und den Rezipienten untersucht werden. Wie historiographische können auch historiophotische Arbeiten ihre Intentionen, Grenzen und Konstruktionsprinzipien offenlegen. Diese wiederum sind maßgeblich für die Wirkung eines Films, die „nicht materiell im Film selbst, sondern [...] im Kopf des Zuschauers aus den Bruchstellen zwischen filmischen Ausdruckselementen“53 entsteht. Unter anderem anhand der Überlegungen von Bill

49 Ebd., S. 577. 50 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, dt. v. Ulrich Christians/Ulrike Bokelmann, Berlin 1996 [urspr. erschienen 1983]; Ders.: Das Zeit-Bild. Kino 2, dt. v. Klaus Englert, Berlin 1996 [urspr. erschienen 1985]. 51 In diesem Zusammenhang sind unter „Bilder“ nicht nur einzelne Kameraaufnahmen, sondern auch Bildfolgen bis hin zu einem gesamten Film zu verstehen. 52 Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 52. 53 Reitz, Edgar/Kluge, Alexander/Reinke, Wilfried: Wort und Film, in: Eder, Klaus/Kluge Alexander (Hg.): Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München/Wien 1980, S. 15.

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Nichols54 und Frank Thomas Meyer55 werde ich zunächst Definitionen der Begriffe Selbstreferentialität, Selbstreflexion und Performanz erarbeiten. Daraufhin soll das Verhältnis von Produktion und Rezeptionspraxis und die Rolle des Publikums eingehend berücksichtigt werden. Wie können Filmemacher sich ihrer eigenen Arbeit gegenüber kritisch zeigen? Wie kann ein Film wirken und gibt es Methoden, die eine kritische Rezeption anregen können? Wie weit geht der Einfluss der Filmemacher auf die Rezeptionspraxis der Zuschauer? Mithilfe der Theorie der Semio-Pragmatik56 möchte ich auf verschiedene Modi der Rezeption, ihre Wirkungen und Grenzen eingehen. Zugleich bietet Roger Odins Unterscheidung nach sogenannten Lektüremodi eine zur klassischen Gattungszuordnung57 alternative Kategorisierung von Filmen. Aufgrund der Problematik einer Definition von „Vergangenheitsfilmen“ erachte ich Odins Einordnung in „Ensemble“58 , dessen Filme sich ähnlicher Lektüreanweisungen bedienen, als durchaus sinnvoll. Anhand der bisher gewonnen Erkenntnisse und erarbeiteten Theorien werde ich schließlich ein Methodenkatalog für kritische Geschichtsschreibung im Film aufstellen. Dieser kann nur eine Auswahl von möglichen Verfahrensweisen aufzeigen. Er soll als Handwerkszeug für die Untersuchung des Films Ortung, zur Bestimmung und Analyse von Operationsweisen dienen. Das vierte Kapitel wird sich schließlich mit der Analyse des Films Ortung befassen. Diese baut sich aus folgenden Teilen auf: Als erstes möchte ich auf die Produktionsabläufe und -bedingungen eingehen. Daran anschließend geben ein historischen Überblick und eine Zusammenfassung des Filminhalts Aufschluss über das zugrundeliegende Forschungsfeld. Daraus erschließt sich die Beschreibung und Kategorisierung des verwendeten filmischen, fotografischen, textuellen und akustischen Materials. Dabei stelle ich drei Kategorien – das gefundene, das selbst geschaffene und das hybride Material – auf. Mithilfe dieser Einteilung soll der Grad der Konstruktion des Materials vor der Montage gezeigt werden.

54 Vgl. Nichols, Bill: Introduction to documentary, Bloomington 2001; Ders.: Representing reality: Issues and concepts in documentary, Bloomington 1991. 55 Meyer, Frank Thomas: Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film, Bielefeld 2005. 56 Odin, Roger: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, in: Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wien 1990, S. 125-146. 57 Eine Unterscheidung in Dokumentar- und Spielfilm ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll, da die assoziierte Unterscheidung in faktualer und fiktionaler Film gemäß den Ausführungen in Kapitel 2 keinen Sinn gibt. 58 Odin: Dokumentarischer Film, S. 135.

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Die Kategorisierung des Materials ist neben Szenenbeschreibungen und Montagefolgen in einem ausführlichen Szenenprotokoll erfasst. Dieses und eine Transkription des Films befinden sich im Anhang dieses Buches. Die Untersuchung des Films umfasst die Analyse von Chronologie und Aufbau, Themenblöcken und Miniaturen. Erzählstränge, einzelne Sequenzen, (Abfolgen von Bildern und Tönen) und Miniaturen (Sinneinheiten von Bildern und Tönen) werden mithilfe der aufgestellten Methoden untersucht und damit die Wirkungsmöglichkeiten beziehungsweise Anwendbarkeit von Methoden hinterfragt. Ziel dieser Analyse ist es, am singulären Beispiel Ortung Erkenntnis über das Verhältnis von Produktion und Montage, Filmemacher und Rezipienten, theoretischer Methode und praktischer Umsetzung zu gewinnen. Dabei muss angemerkt werden, dass der Film retrospektiv mit den erst nach der Filmherstellung erarbeiteten Methoden untersucht wird. Als Mitglied des Filmteams und Untersucherin befinde ich mich in einer ungewöhnlichen doppelten Position. Ich gehe davon aus, dass die intendierten Konstruktionen, Assoziationen und das erweiterte Wissen über die Produktionsbedingungen bei der Untersuchung nicht ausgeblendet werden können und „mitgedacht“ werden. Dennoch bin ich überzeugt, dass gerade die sich im Laufe der Produktion und Rezeption wandelnde „Realität“59 des Films sowie die auch auf mich wirkenden Rezeptionsbedingungen genug Distanz für eine gewinnbringende Analyse bewirken können. Außerdem spreche ich Filmbildern eine gewisse Autonomie zu,60 die im Rahmen der Montage durch audio-visuelle, räumliche, zeitliche oder assoziative Verknüpfungen noch verstärkt wird. Darüber hinaus sehe ich durch das Wissen um Produktionsbedingungen, Kontext, notwendige Kompromisse und Entscheidungen die Chance auf Erkenntnisse über die Praxis von kritischer Geschichtsschreibung. Ziel dieser Abhandlung ist zum einen die Klärung, welche Erkenntnisse die erörterten Theorien bieten konnten. Zum anderen möchte ich abschließend beurteilen, welche Methoden sich im Film Ortung gewinnbringend anwenden ließen,

59 Vgl. Kapitel 3.4: Nach dem Modell des Produktions- und Rezeptionszyklus durchläuft die „Realität“, auf die sich ein Film bezieht, sechs Stufen (vermutete R., nichtfilmische R., vorfilmische R., R. im Film, filmische R., nachfilmische R.), dazu: Hattendorf, Manfred: Dokumentarfilm und Authentizität. Pragmatik und Ästhetik einer Gattung, Konstanz 2. Aufl. 1999, S. 43-50; Hohenberger, Eva: Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm, ethnographischer Film, Jean Rouch, Hildesheim/New York/Zürich 1988, S.28-61. 60 Der unvorhersehbare Einfluss von z. B. Personen, Licht oder Geräuschen zur Zeit der Aufnahme macht das Filmbild komplexer als die Bildvorstellung des Kameramanns oder Regisseurs.

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aufgrund welcher Bedingungen dies nicht der Fall war und welche Erkenntnisse sich daraus ableiten lassen.

1. V ON H ISTORIOGRAPHIE ZU H ISTORIOPHOTIE : G ESCHICHTSSCHREIBUNG IM F ILM Diesem Text liegt eine zentrale Überlegung zugrunde: Was ist Geschichtsschreibung eigentlich? Die Antwort darauf scheint nur im ersten Moment leicht gegeben: Geschichtsschreibung ist die Darstellung und Interpretation von Vergangenheit. Hier stellt sich aber zunächst die Frage, welcher Unterschied dann zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung besteht. Frank Rexroth hat in seinem Vortrag zu „Moderne, Postmoderne und die Krise der Geschichtsschreibung. Ein Widerspruch“1 darauf hingewiesen, dass zwischen beiden Begriffen differenziert werden muss. Unter Geschichtsforschung versteht er die Anfertigung eines Textes mit eingegrenzter Fragestellung und begrenztem empirischen Material. Mithilfe von „gesicherten Tatsachen“, Belegen und Literaturverweisen versuchen Historiker etwas „Neues“ zu erarbeiten und generieren damit Wissen innerhalb des disziplinären Systems. Geschichtsforschung sei demnach „eine Praxis des Einzelnen, die ihren Wert durch den Bezug auf den disziplinären Diskurs, seine Rationalitätskriterien und seine Formationen (den Forschungsstand, die Kontroverse, die Desiderata)“ erhalte.2 Als Geschichtsschreibung definiert Rexroth chronologische Aufbereitung von historischem Wissen, narrative Erklärung und Synthetisierung historischen Wandels, wie es beispielsweise national-, global- oder kulturgeschichtliche Überblickdarstellungen häufig bieten. Aufgrund der narrativen Organisation spiele die „Autorschaft“ der Historiker hier eine bedeutende Rolle.3 Eine Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Forschung, wie sie Rexroth anbietet, ist zwar grundsätzlich sinnvoll, um das potentielle Arbeitsfeld für Filme zu erörtern. Allerdings spricht Rexroth

1

Dieser Vortrag, der im Rahmen des interdisziplinären Arbeitsgesprächs der DFG „Klio auf der Spur. Geschichte schreiben nach der Postmoderne. Historiographie im internationalen Vergleich“ (Stuttgart 18.-20.6.2009) gehalten wurde, ist nicht publiziert worden. Das Skript hierzu wurde freundlicherweise von Herrn Prof. Dr. Rexroth (Universität Göttingen) zur Verfügung gestellt.

2

Rexroth, Frank: Moderne, Postmoderne und die Krise der Geschichtsschreibung. Ein

3

Ebd.

Widerspruch, Göttingen 2012, S. 5 [unveröffentlicht].

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der Geschichtsforschung in gewissem Maße eine höhere Wissenschaftlichkeit zu, die anhand von unterschiedlichen Arbeitsweisen nicht grundsätzlich anzunehmen ist. Befasst man sich außerdem mit der Geschichte der Historiographie, vor allem ihren Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten, wird klar, dass es keine universell definierte Geschichtsschreibung gibt und dass ihre Begriffe, Kategorien und Methoden alles andere als selbstverständlich oder einheitlich sind. Die notwendige Grundlage für meine Überlegungen ist demnach an erster Stelle die Definition eines Geschichtsbegriffs. Erst dann lässt sich prüfen, welche Bedingungen, Chancen und Einschränkungen filmische Geschichtsschreibung mit sich bringt. 1.1 „Unsichere“ Geschichtsschreibung in der Postmoderne Was ist Postmodernität? „[Dass] ein und derselbe Sachverhalt in einer anderen Sichtweise sich völlig anders darstellen kann und dass diese andere Sichtweise doch ihrerseits keineswegs weniger ‚Licht’ besitzt als die erstere – nur ein anderes. Licht, so erfährt man dabei, ist immer Eigenlicht.“4

Die Geschichtsschreibung ist in vielen Bereichen in der Postmoderne angekommen. Eine Vielzahl von neuen Forschungsrichtungen – von „gender“ über „queer“ bis hin zu „postcolonial studies“ – stellen unter Beweis, dass sich die Geschichtswissenschaft unkonventionellen, mikrogeschichtlichen, oder divergierenden Untersuchungsbereichen geöffnet hat. Auch in der Theorie der Historiographie ist das Phänomen der Postmoderne wahrgenommen und verarbeitet worden. Wie aber lässt sich der Begriff der Postmoderne, der viel genutzt auch schnell falsch verstanden werden kann, definieren? Wolfgang Welsch, der mit seiner Monographie „Unsere moderne Postmoderne“ ein Grundlagenwerk zur Postmodernität in verschiedenen Bereichen und Wissenschaften geschaffen hat, definiert die Postmoderne als „diejenige geschichtliche Phase, in der radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaften real und anerkannt wird und in der daher plurale Sinn- und Aktionsmuster vordringlich, ja dominant und obligat werden.“5 Diese Aussage enthält einige wesentliche Aspekte, die im Folgenden näher erläutert werden sollen. Zunächst spricht Welsch von einer „geschichtli-

4

Welsch: Unsere moderne Postmoderne, S. 5.

5

Ebd.

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chen Phase“, behauptet an andere Stelle aber, dass die Postmoderne keinen Epochenanspruch ausdrücke.6 Christof Dipper dagegen definiert Postmoderne als „geschichtliche Epoche“7. Der Epochenbegriff führt zwangsweise zur Vermischung von Zäsuren, Periodisierungen und Inhalt. Die Postmoderne ist jedoch nur ein bedingt zeitlich definierbares Phänomen. Das Missverständnis hierüber mag man auf den ungünstig gewählten, aber dennoch etablierten Begriff „PostModerne“ zurückzuführen. Da selbige jedoch weder nach der Moderne als sukzessive Nachfolge oder Ablöse noch in Abgrenzung im Sinne einer AntiModerne zu verstehen ist, muss der Postmodernismus vor allem auf inhaltlicher Ebene definiert werden. „Radikale Pluralität“ kann als das zentrale Kriterium des Postmodernismus aufgefasst werden. Was Jürgen Habermas noch als „neue Unübersichtlichkeit“8 definierte, lässt sich treffender mit dem „Zeitempfinden [von] Verlust vertrauter Sicherheiten“9 beschreiben. Es ist das große Angebot von unterschiedlichen, zum Teil konkurrierenden Anschauungen, Positionen, Lebensweisen und Handlungsoptionen, die diesen „postmodernen Pluralismus“ 10 prägen. Pluralismus tritt in allen von der Postmoderne erfassten Bereichen – von Literatur, Architektur, Kunst, Gesellschaft bis zu Ökonomie und Politik – auf. Versteht man ihn als „Wirklichkeitsvielfalt von Lebenswelten“11 wird auch evident, dass dies keineswegs ein Phänomen nach der Moderne ist. Vielmehr tritt dieses nun in der Breite der Lebenswirklichkeiten und in einer radikalen Form auf. Christoph Dipper erläutert das Phänomen der Postmoderne als Folge eines soziokulturellen Wandels. Sogenannte Basisprozesse, wie wirtschaftlicher Wandel, Globalisierung, Urbanisierung oder Individualisierung, werden anhand „zeitgemäßer“ Ordnungsmuster, wie Wahrnehmungen, Erfahrungen, Diskurse oder Sprache, verarbeitet. Geraten die Ordnungsmuster jedoch an ihre Grenzen die gegenwärtige Lebenswelt zu erklären, müssen sie sich weiterentwickeln und übertreten eine sogenannte Kulturschwelle in ein neues „Zeitalter“.12 Die Postmoderne ist demnach die Folge einer Veränderung der bisherigen Ordnungsmuster. Vor allem der seit den 1970er Jahren fortschreitende Wandel in europäischen Gesellschaftsordnungen und Wertesystemen hatte eine Radikalisierung von Plu-

6

Welsch: Unsere moderne Postmoderne, S. 1.

7

Dipper, Christof: Moderne, Version: 1.0 (2010), in: Docupedia-Zeitgeschichte, URL:

8

Habermas, Jürgen: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a.M. 1985.

9

Dipper: Moderne, S. 15.

https://docupedia.de/zg/Moderne?oldid=84639, S. 1 [Stand: 28.03.2013].

10 Welsch: Unsere moderne Postmoderne, S. 4. 11 Ebd., S. 3. 12 Dipper: Moderne, 9f.

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ralität beziehungsweise ihrer Wahrnehmung zur Folge.13 Nicht nur die Vielfalt möglicher Lebensstile und Interpretationen der Wirklichkeit nahm zu, sondern auch das Bewusstsein für diese. Die Folge war die Entwicklung neuer Erklärungsansätze, Sinnstiftungen und Ausdrucksformen, die heute auch als „postmodern“ bezeichnet werden. Diese lösen ihre Vorgänger jedoch nicht einfach ab, sondern existieren zum Teil parallel und haben unterschiedliche Bezugspunkte. Daher sollte die Postmoderne nicht als ein singuläres oder synchrones Phänomen verstanden werden. Passender wäre sie folglich als „multiple [radical]14 modernities“15 zu bezeichnen. Ich schließe mich deshalb dem, nach Welsch, zur „Postmoderne“ synonymen Begriff der „Radikal-Moderne“16 an. Bezeichnend für diese Radikal-Moderne ist, dass die Pluralität an Lebensweisen, Handlungsformen oder Sozialkonzeptionen „dominant und obligat“17 ist. Ein Ausschließlichkeitsanspruch oder eine bestimmte Deutungshoheit kann nicht durchgesetzt werden, da diese nur „illegitim [von] eines in Wahrheit Partikularen“18 erhoben werden kann. Das bewusste Entscheidungsrecht für oder gegen Teile des pluralen Angebots ist dementsprechend oberstes Gesetz. Eine radikal-moderne Haltung ist in logischer Konsequenz immer auch eine kritische Haltung gegenüber Autorität. Skepsis gegenüber Ausschließlichkeitsansprüchen findet zwar bereits in der Moderne ihren Ausdruck, aber die bewusste Reflexion von radikaler Pluralität ist „eine Ausprägung der reflexiven Dimension der Moderne“, die sich in der Bezeichnung Postmodernismus etabliert hat.19 Anders formuliert: Postmoderne kann als „exoterische Einlösungsform der einst esoterischen Moderne des 20. Jahrhunderts“20 verstanden werden. Die Geschichtswissenschaft als ein Ausdruck von Ordnungsmustern ist demnach „Zeitzeuge“ der Kulturschwelle21 von der Moderne zur Postmoderne geworden. Auch sie hat eine neue Gestalt annehmen, neue Ordnungsmuster und Leitbegriffe finden und ihnen folgen müssen. Während beispielsweise in der Ge-

13 Dipper: Moderne, S. 15. 14 Ergänzung durch Verfasserin. 15 Dipper: Moderne, S. 10-15. 16 Welsch: Unsere moderne Postmoderne, S. 6. 17 Ebd., S. 5. 18 Ebd. 19 Vgl. dazu Rexroth: Moderne; R. historisiert das Verhältnis von „moderner“ bzw. „postmoderner“ Wissenschaft und Geschichtsschreibung. 20 Welsch: Unsere moderne Postmoderne, S. 6. 21 Ich verstehe „Kulturschwelle“ nach Dipper allerdings nicht als Zäsur, sondern als Phasenbegriff.

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sellschaftsgeschichte die Selbstwahrnehmung von Menschen und Gesellschaften bis dahin nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, ist durch kulturwissenschaftliche Impulse, den sogenannten „cultural turns“22, auch die Geschichtswissenschaft für postmoderne Themen empfänglich geworden. Ebenso Einflüsse aus der Literaturwissenschaft, wie der „linguistic turn“, haben zu einer Perspektivenvielfalt, aber auch Infragestellung der eigenen Disziplin geführt. Die Auseinandersetzungen mit den postmodernen Strömungen haben sichtbare und bedeutende Konsequenzen bewirkt. Zum einen musste anerkannt werden, dass die Historiographie selbst keine kohärenten Texte mehr produzieren kann. Unter dem „Kriterium der Offenheit“ subsumiert François Lyotard die durch die Postmoderne vorausgesetzte Wahrnehmung von Pluralität, Anerkennung von Differenzen und die möglichen Übergänge von differierenden Wissensformen.23 Dies hat allerdings auch das „Ende der großen Erzählungen“24 zur Folge. Ihr Sinn ist es, der Vergangenheit einen verlässlichen und universellen Sinn zu geben und damit der Gegenwart Legitimation zu schaffen. „Großen“ Erzählungen oder Darstellungen bringen daher das Widersprüchliche, Andersartige oder Unvorstellbare nicht zum Ausdruck. Sie diktieren eine bestimmte Betrachtungsweise und widersprechen somit dem anti-autoritären Grundprinzip des Postmodernismus. „Das Postmoderne wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen; das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt, jedoch nicht, um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt.“25 Die bisherige Annahme, Geschichtswissenschaft könne geschlossene Aussagen über Vergangenheit (oder gar die Gegenwart) treffen, stellte sich als unmöglich heraus.26 Die aktuelle Skepsis der Historiker gegenüber großen Erzählungen ist allerdings nicht allein ein Phänomen der Postmoderne. Rexroth

22 An dieser Stelle soll aufgrund ihrer Anzahl nicht auf die verschiedenen Tendenzen in der Geschichtswissenschaft eingegangen werden; dazu vgl. Bachmann-Mehdick: Cultural Turns; Jameson, Fredrik: The cultural turn. Selected writings on the postmodern. 1983-1998, London 1998. 23 Meyer: Filme über sich selbst, S. 204. 24 Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 112 u. 175. 25 Ders.: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, S. 47. 26 Conrad, Christoph/Kessel, Martina: Geschichte ohne Zentrum, in: Dies. (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 10.

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räumt ein, dass dieses bereits Ende des 18. Jahrhunderts mit der Modernisierung der Historie, als sich ein Konzept der Wissenschaft als Forschung formierte, zu beobachten gewesen sei.27 In einer weiteren Hinsicht war die Geschichtswissenschaft von den kompromissloseren Ausprägungen der Postmoderne, wie zum Beispiel dem radikalen Poststrukturalismus, der auf die Nichtexistenz einer außersprachlichen Wirklichkeit besteht, betroffen: Sie hat ihren Gegenstand – den historischen Referenten, der hinter dem Geschriebenen auf eine wirkliche Vergangenheit zugreifen soll – eingebüßt. Hans-Jürgen Goertz hat mit seiner These, Geschichte sei eine „unsichere“ Sache geworden, das Kernproblem der historischen Referenz benannt.28 Das Referenzgefüge zwischen Gegenwart und Vergangenheit ist erschüttert, da der in der Vergangenheit liegende Bezugspunkt, der es ermöglichen soll, Sinn oder Legitimation für die Gegenwart zu schaffen, sich als unerreichbar herausgestellt hat. Kollektive und individuelle Vergangenheit sowie das Wissen, dass diese Vergangenheit die Gegenwart bestimmt, gehen nach dem Literaturtheoretiker Fredric Jameson in der Postmoderne verloren:29 „Die Vergangenheit als ‚Referent’ [wird] schrittweise in Klammern gesetzt, bis sie schließlich ganz ausgelöscht ist und uns nur mehr ‚Texte’ hinterlässt.“30 Die historische „Wirklichkeit“ wird damit zum Grundproblem der wissenschaftlichen Disziplin. „Wirklich“ sind nur die zugänglichen und auch überprüfbaren Zeugnisse, die überliefert werden konnten. Diese sind allerdings in zweierlei Hinsicht nur Bruchstücke. Zum einen bilden sie aufgrund ihrer Subjektivität die vergangene Wirklichkeit nur partiell ab, zum anderen müssen sie in der Gegenwart erhalten sein und von Historikern ausgewählt werden. Zu spezifisch historischer Information werden Quellenmaterialien daher erst, wenn sie nach einem vorgefassten Plan, der ein bestimmtes historisches Untersuchungsfeld absteckt, ausgesucht werden. Von ihnen abgeleitete Wirklichkeit(en) der Vergangenheit sind Erzählungen, die durch Sprache, theoretisches Konzept und Methode konfiguriert werden. Folglich können sie konkurrieren oder sich sogar gänzlich widersprechen. Nach Reinhard Koselleck ist somit das Produkt der Geschichtswissenschaft nicht die Rekonstruktion einer historischen „Wirklichkeit“,

27 Rexroth: Moderne, S. 2. 28 Vgl. Goertz: Unsichere Geschichte. 29 Jameson: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, S. 45-102. 30 Ebd., S. 63.

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sondern immer retrospektive „Fiktion des Faktischen.“31 Zwischen der Sprachhandlung, also dem fixierten Text oder dem Reden über Geschichte, und der Wirklichkeit der Vergangenheit herrscht ein unauflösbares Spannungsverhältnis. Sprache kann mit der historischen Wirklichkeit nie vollkommen zur Übereinstimmung kommen. Nicht Vergangenheit, sondern das Konstrukt Geschichte kommt erst durch die narrative Verbindung von Quellen sprachlich zum Ausdruck und generiert historische Erkenntnis. Hayden White als einer der Hauptvertreter des „linguistic turn“ hat die narrativen Modi von Geschichtsschreibung, ihre rhetorischen Mittel und politischen Implikationen kategorisiert und damit den narrativen Konstruktionscharakter von historiographischen Werken bestimmt.32 Sein konstruktivistischer Ansatz geht davon aus, dass Geschichte immer gegenwärtige Gestaltung von Vergangenheit ist. Geschichtsschreibung ist nicht Rekonstruktion von Vergangenheit, sondern die gegenwärtige Konstruktion von Geschichte. Narrative Strategien entwickeln sich folglich immer in Abhängigkeit von gegenwärtig etablierten Regeln zur Genese und Ordnung von historischen Fakten. Für White ist Geschichtsschreibung Fiktion und demnach konventionelle Geschichtsschreibung, die auf einem Wahrheitsanspruch beharrt, nicht mehr zeitgemäß. Kritiker wie Wulf Kantstein wehren sich dagegen, dass historiographische Praxis von politisch, sozial oder disziplinär bedingten Regeln abhängig sei.33 Größere Kritik hat White allerdings erhalten, weil er den epistemologischen Wert von historiographischen Werken grundsätzlich in Frage stellt. Seine relativistische Haltung ist vor allem im Kontext der Holocaust-Forschung vehement abgelehnt worden: „[...] the current tendency to conflate ‚historical’ and ‚fictional’ narrative and the new emphasis on the ‚poetics’ of history [...] may be promoting a facile and irresponsible relativism which will leave many who espose it defenseless before the most dangerous myths and ideologies, incapable of justifiying any stand.“34

Die Annahme, dass White historische Wahrheit zugunsten poetischer Gestaltung unterordnet, erachte ich jedoch als falsch. Ziel seines Ansatzes ist es vielmehr,

31 Koselleck, Reinhart: Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, in: Ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. v. Carsten Dutt, Berlin 2010, S. 91 [als Vortrag 2007 gehalten]. 32 Vgl. White: Metahistory. 33 Kantsteiner, Wulf: Hayden White’s critique of the writing of history, in: History and Theory 32(1993), S. 273-295, hier S. 295. 34 Gossman, Lionel: Between history and literature, Cambridge 1990, S. 303.

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die konventionelle epistemologische Geschichtsschreibung und ihre Fähigkeiten, Vergangenheit zu konstruieren, in Frage zu stellen und dafür der sprachlichen Gestaltung von Geschichte mehr Bedeutung zukommen zu lassen. Für White ist Geschichte keine faktenorientierte Rekonstruktion des Realen, sondern ein „discourse of the real“.35 Nach diesem konstruktivistischen Ansatz muss, wie weitere Vertreter der „narrative theory“36 aufzeigen, die historische Realität nicht gänzlich aufgegeben werden. Historiker können dem „Amorphen des Vergangenen“ Gestalt (in der herkömmlichen Geschichtsschreibung als Sprache) verleihen und damit der Vergangenheit abtrotzen, „was von ihr zu erkennen möglich ist.“37 Damit leugnen sie nicht die Existenz des historischen Gegenstands, sondern reflektieren lediglich den vermittelnden und damit verändernden Zugriff auf Vergangenheit.38 Frank Ankersmit sieht den Sinn der Geschichtsschreibung nicht im historischen Urteil, das feststellt, was oder wie etwas war, sondern als Vorschlag. Folglich ist der „historiographische Vorschlag“ untrennbar mit seinem Konstrukteur und dem Zeitpunkt seiner Konstruktion verknüpft.39 Hieraus lässt sich eine wesentliche Beurteilung des Verhältnisses der Gegenwart zu Vergangenheit ableiten: „Streng genommen“, so Goertz, „werden mit den Erzählungen auch keine Erkenntnisse gewonnen, sondern nur Einsichten in die Art und Weise, wie Vergangenes gesehen werden kann.“40 Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist demnach nicht die Suche nach einem historischen Referenten, sondern die Ermittlung einer „historischen Referentialität“. Diese beschreibt kein in der Vergangenheit liegendes (und damit unwiederbringlich vergangenes) Faktum, sondern die Beziehung zwischen einem vergangenen Sachverhalt oder Ereignis und Sprache, also auch der Geschichtsschreibung.41 Ziel dieses Geschichtsbegriffs ist demnach nicht die Konstruktion einer gültigen „History“, sondern die Relationenmessung von „histories“ der Gegenwart zur Vergangen-

35 Partner, Nancy: Narrative persistence. The post-postmodern life of narrative theory, in: Ankersmit, Frank/Domanska, Ewa/Kellner, Hans (Hg.): Re-figuring Hayden White, Stanford 2009, S. 81-104, hier S. 101. 36 U. a. Frank Ankersmit, Nancy Partner, Hans Kellner. 37 Goertz: Unsichere Geschichte, S. 37. 38 Berg: Film als historische Forschung, S. 25. 39 Ankersmit, Frank R.: History and tropology. The rise and fall of metaphor, Berkeley/Los Angeles/London 1994, S. 40. 40 Goertz: Unsichere Geschichte, S. 38. 41 Ebd.

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heit und untereinander.42 Die Vergangenheit ist und bleibt „das zur Gegenwart Differente und endgültig Vergangene“ 43. Geschichte dagegen ist die „retrospektive Rekonstruktion der Genese der Gegenwart.“44 Wenn folglich Geschichte(n) plurale und partikulare Konstruktion von Beziehungen zum Vergangenen sind, die ihren narrativen und damit in letzter Konsequenz „fiktiven“ Charakter anerkennen, können sie dann auch mithilfe von Film gestaltet werden? Oder ist es sogar Bedingung, den „einem jeder Erkenntnisarbeit vorgängigen unveränderlichen Gegenstand namens Geschichte, den es unverfälscht zu erkennen und adäquat darzustellen gilt“, hinter sich zu lassen, wenn man die Möglichkeiten die Film als Medium der historischen Forschung bietet wahrnehmen will?45 1.2 Historiophotie als Form der Geschichtsschreibung Moderne Geschichtsschreibung ist traditioneller Weise textuell. Historiker fixieren Geschichte mithilfe von Sprache und Text in Form von Aufsätzen, Monographien oder Rezensionen. Mündliche Vorträge auf wissenschaftlichen Tagungen beispielsweise werden ebenfalls, wenn möglich, in schriftlicher Form in einer Publikation aufgenommen. Auch bildliche oder performative Versuche der Geschichtskonstruktion, wie zum Beispiel Fotoausstellungen oder historische Inszenierungen, kommen meist nicht ohne textuellen oder verbalen Kommentar aus. Ähnlich ist es im Bereich der TV-Dokumentarfilme über Geschichte, deren Narration trotz „found footage“46, Zeitzeugengesprächen, Experteninterviews sowie aufwendigen Reenactmentszenen, in der Regel nicht ohne gesprochenen

42 Vgl. Rosenstone, Robert: Die Zukunft der Vergangenheit. Film und die Anfänge postmoderner Geschichte, in: Hohenberger, Eva (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, S. 45-64, hier S. 46: Rosenstone unterscheidet zwischen „History“ als Geschichtsschreibung, die sich auf Geschichte als großen Entwurf einer kohärenten Geschichte bezieht, und „history/ies“, die von einer Vielfältigkeit und Partikularität von möglichen Geschichten ausgehen. 43 Rother, Rainer: Die Gegenwart der Geschichte. Ein Versuch über Film und zeitgenössische Literatur, Stuttgart 1990, S. 1. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 11. 46 Unter „found footage“- Filmen versteht man Dokumentar- oder Spielfilme, die zum Teil oder ausschließlich aus nicht für den jeweiligen Film produzierten Material, wie zum Beispiel Archiv- oder Privataufnahmen, bestehen.

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Kommentar auskommt. Solche Filme sind im Grunde lediglich historiographische Arbeiten, die in Filmbilder übersetzt beziehungsweise durch Filmbilder illustriert wurden. Film wird in der Regel als „complement“ statt „supplement of verbal evidence“47 verwendet. Einige Wissenschaftler, darunter auch Hayden White, der Historiker Robert Rosenstone und die Film- und Medienwissenschaftlerinnen Linda Williams und Eva Hohenberger, sind der Meinung, dass die Fähigkeit von Film, Geschichte nach filmischen (nicht ausschließlich verbalen) Kriterien konstruieren zu können, unterschätzt wird. Filmbilder werden zwar als eigener Diskurs mit spezifischen Charakteristika anerkannt, aber die Chancen, die hierin für die Geschichtswissenschaft liegen, werden kaum genutzt. Bewegte Bild- und Tonaufnahmen sind „a discourse in its own right and one capable of telling us things about it referents that are both different from what can be told in verbal discourse and also of a kind that can only be told by means of visual images.“48 Als eigene filmsprachliche Sphäre darf und kann Film auch nicht mit Text verglichen oder an ihm gemessen werden. Die formalen, ästhetischen und disziplinären Regeln für textuelle Geschichtsschreibung lassen sich auf die methodischen Möglichkeiten des Films nicht anwenden. Jedes Medium der Geschichtsschreibung hat seine eigenen „rules of games“49 und muss an diesen gemessen werden. Geschichte ist ein „agreed-upon game“, das seine eigenen Regeln aufstellt – darunter auch die Regel, wer was zum „Spiel“ beitragen darf.50 Dennoch hält sich der Vorwurf, dass Film kein analytisches, sondern rein narratives und hochgradig fiktivisierendes Medium sei und deshalb maximal als Präsentationsform für populärwissenschaftliche Darstellungen in Frage käme. Film wäre diskursiv schwach51, da er entweder zu viele Details enthalte und damit die Bruchstückhaftigkeit von Vergangenheit verfremde oder nicht detailliert genug sei, um Widersprüche oder Kontext ausreichend zu beschreiben. Wissenschaftliche Geschichtsschreibung habe einen Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch, den Film aufgrund seiner Spezifika nie erfüllen könne.52 Wie im vorangegangenen

47 White: Historiography and Historiophoty, S. 1193. 48 Ebd. 49 Rosenstone, Robert: Introduction, in: Ders. (Hg.): Revisioning History, Princeton 1995, S. 5. 50 Ebd. 51 Jarvie: Seeing through Movies, S. 378. 52 Zur Kritik an Film als historisches Darstellungsmittel vgl. außerdem: Raack, Richard: Historiography as Cinematography: A prolegomenon to film work for historians, in: Journal of Contempory History, 18(1983), S. 411-438 ; Herlihy, David: Am I a came-

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Abschnitt erläutert kann ein postmoderner Begriff von Geschichte diesen Vorwurf entkräften. Versteht man textuelle und filmische Geschichtsschreibung gleichermaßen als narrative Konstruktion von Geschichte, muss anerkannt werden, dass Text nicht weniger „verbal fiction“ ist, als Film „visual fiction“.53 Für Hayden White ist demnach grundsätzlich von einer gleichberechtigten Legitimation von filmischer Geschichtsschreibung auszugehen. Um diese auch sprachlich greifbar zu machen, hat er in Abgrenzung zu Historiography als „representation of history in verbal images and written discourse“ den Begriff der Historiophoty als „the representation of history and our thought about it in visual images and filmic discourse“ eingeführt.54 Dieser begrifflichen Unterscheidung möchte ich mich mit der Verwendung der Bezeichnung „Historiophotie“ anschließen. Es bleibt dennoch die Frage, was der wissenschaftliche Mehrwert von historiophotischen Arbeiten sein kann. Die Tatsache, dass Film als geschichtswissenschaftliches Medium bisher kaum genutzt wird, veranlasst nicht zwangsläufig, es zu tun. Geschichtsschreibung besteht aus etablierten Konventionen, die zwar immer wieder überdacht werden müssen, sich aber in ihrer Grundform bewährt haben. Die Möglichkeiten, Filmbilder als „principal medium of discursive representation“ zu nutzen, nur mit verbalen Kommentaren diakritisch zu ergänzen und damit eine Bedeutung zu vermitteln, die nur mit visuellen Mitteln möglich ist, sind kaum erforscht.55 Ich gehe davon aus, dass Film nicht nur ein gegenwärtig mögliche, sondern eine notwendige Form ist, um in der Gegenwart adäquat mit Vergangenheit umzugehen. Rosenstone, ein Vertreter der Historiophotie, ist überzeugt, dass Geschichte in visuellen Medien einen einzigartigen Weg bietet, um Vergangenheit wiederzugeben und zu interpretieren. Diese neuen Methoden könnten beunruhigend sein, da sie die Grenzen der Sprache überschreiten und Elemente zur Verfügung stellen – wie das Visuelle, das Akustische, das Emotionale oder das Unbewusste – deren Fähigkeiten der Wissensvermittlung wir kaum kennen.56 Rosenstone sieht im Film aber die Möglichkeit Historys, also metanar-

ra? Other reflections on films and history, in: The American Historical Review 93(1988), S. 1186-1193. 53 Rosenstone, Robert: History in images/History in words: Reflections on the possibility of really putting history onto film, in: The American Historical Review 93(1988), S. 1173-1186. 54 White: Historiography and Historiophoty, S. 1193. 55 Ebd. 56 Rosenstone, Robert: What you think about when you think about writing a book on history on film, in: Ders. (Hg): Visions of the past. The challenge of film to our idea of history, Cambridge/London 1995, S. 226-246, hier S. 232-236.

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rative Geschichtskonstruktionen, in Frage zu stellen, das Spannungsfeld zwischen der Abstraktion und dem spezifischen Beispiel aufzuzeigen und die etablierten Begriffe, Definitionen und konventionellen Bilder auf die Probe zu stellen (contesting).57 Außerdem ist er überzeugt, dass manche Filme Geschichtsschreibung überprüfen können (revisioning), indem sie ihre eigene Konstruktion in den Vordergrund rücken und auf die arbiträre Natur von Wissen hinweisen. Diese Filme würden könnten über die Grenzen des „Realistischen“ hinaus innovative Modi der Repräsentation von Geschichte zeigen.58 Rosenstone plädiert appelliert an seine Kollegen,: „[w]e must recognize that film will create different sorts of projects, pose different sorts of questions and give different sorts of answers from written history. Which means: film will carry different sorts of data. Will undertake different sorts of analysis. Will, ultimately, create a different sort of historical world.“59 Goertz ist außerdem der Überzeugung, dass die Erzählung von Geschichte nicht nur Instrument und Urteil, sondern selbst historische Erkenntnis sein kann.60 Für Film als narratives Mittel ist das in einer weiteren Hinsicht zutreffend: Im Unterschied zur textuellen Geschichtsschreibung, die ihre „gefundenen“ Quellen zwar auswählt, kürzt, neu kombiniert und damit auch verändert, schafft filmische Geschichtsschreibung tatsächlich neue Quellen. Die „oral history“, die sich in Form von Experten- oder Zeitzeugeninterviews im TV-Film zur beliebten Methode entwickelt hat, zeigt dies in besonderem Maße. Kritiker bemängeln zwar zurecht den unkritischen Einsatz von Zeitzeugen oder Stellvertretern61 in TV-Dokumentationen, denn den Aussagen der Interviewten wird in der Regel Authentizität und Wahrheitsgehalt unterstellt, ohne die Subjektivität des Befragten, seine selektive Erinnerung, die Intentionen des Fragenstellers oder die Manipulation durch Kürzungen und Montage zu berücksichtigen. Allerdings schafft die „oral history“ mithilfe von Film auch die Möglichkeit, neue Quellen, die beispielsweise Aufschluss über Erinnerung, Traumatisierung oder Heroisierung von Vergangenheit geben, zu generieren.62 Darüber hinaus sind aber auch

57 Vgl. Rosenstone: Revisioning History: „Part One: Contesting History“, S. 15-77. 58 Vgl. ebd.: „Part Three: Revisioning History“, S. 137-214. 59 Rosenstone: What you think about, S. 238. 60 Goertz: Unsichere Geschichte, S. 32. 61 In Fällen, in denen die Zeitzeugen nicht mehr selbst sprechen können (z. B. RAFAngehörige/-Opfer, NS-Widerstandskämpfer, Opfer des Holocaust), kommen Bekannte oder Nachkommen stellvertretend zu Wort. 62 Vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“; Botz: Schweigen und Reden einer Generation.

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Aufnahmen von Landschaften, Wohn- und Arbeitsräumen, Menschen und Ereignissen, die vordergründig nur als narratives Mittel oder Illustration im Film scheinen, Materialien, die durch die entsprechende Betrachtungsweise zu wertvollen Quellen werden können. „Filmmaker do routinely utilize, even create, new sorts of evidence that we might call „cinematic“ data, visual and aural „facts“ that the written word would find impossible to reproduce“.63 An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die anfänglichen Überlegungen zum Geschichtsbegriff unter postmodernen Voraussetzungen und dem Verhältnis von Geschichtsschreibung und -forschung zurückkehren. Ein Begriff von „Geschichte“, die „wissenschaftlich“ objektiv sein will, die von der Rekonstruktion von vergangener Realität überzeugt ist und ihre eigenen narrativen Konstruktionsprinzipien nicht reflektiert, ist nach den Erkenntnissen der reflexiven „Radikal-Moderne“ nicht mehr haltbar. Sie entspricht weder den pluralistischen Lebenswelten derjenigen, die Geschichte schreiben, noch derjenigen, die aus ihr lernen und für die eigene Gegenwart eine sinnvolle Erkenntnis ziehen möchten. Denn Aufgabe von Geschichte ist nicht allein die akkurate Aufbereitung von Vergangenheit, sondern auch die Bestimmung der Signifikanz der Vergangenheit für die Menschen in der Gegenwart.64 Geschichte(n) in der Postmoderne, also narrative Konstruktionen von Beziehungen zur Vergangenheit, zeigen sich offen gegenüber neuen Erzählweisen und Medien. Film, so sehen es Vertreter einer Historiophotie, verspricht diese Art von Geschichtsschreibung erfüllen zu können. Was jedoch bisher ungeklärt bleiben musste, ist die Frage, was ein Film im Umgang mit unsicherer Geschichte konkret leisten kann. Die Zeit der sogenannten „Meistererzählungen“ und der Suche nach der historischen „Wahrheit“ ist vorbei. Die textuelle Geschichtsschreibung hat diesen Wandel in Form von neuen Perspektiven und Darstellungsformen aufgegriffen und für sich neue, „postmoderne“ Regeln geschaffen. Denn obwohl der Postmodernismus plurale Möglichkeiten verspricht, ist es die Aufgabe der Wissenschaft, nicht willkürlich, sondern pointiert und kritisch zu arbeiten. Welche könnten nun die Regeln der Historiophotie sein? Welche Paradigmen kann sie verfolgen? Und wo kann sie sich zwischen Geschichtsschreibung und -forschung positionieren?

63 Rosenstone: Revisioning history, S. 6. 64 Weinstein, Fred: History and theory after the Fall. An essay on interpretation, Chicago 1990, S. 3.

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2. „H ISTORIOPHOTOLOGIE “ – A NSÄTZE UND Ü BERLEGUNGEN ZU EINER G ESCHICHTSFILMTHEORIE Die Unterscheidung in Historiographie und Historiophotie ist sinnvoll, um die unterschiedlichen Möglichkeiten der Geschichtskonstruktion begrifflich herauszustellen. Beide Verfahrensweisen haben ihre Spezifika und Methoden und können daher nicht normativ unterschieden werden. Ihre Produkte kann man gleichermaßen als Narrationen betrachten, die sich lediglich unterschiedlicher Medien und damit Sprachen bedienen. Stellt man historiographische und historiophotische Arbeiten ihrer Funktion nach auf eine Ebene, lassen sich gemeinsame Begriffe, Probleme und Fragestellungen finden. Einige sollen in diesem Kapitel diskutiert werden. „Vergangenheitsfilme“ und Geschichtsschreibung, die einen Wahrheitsanspruch vertreten sollen, haben ein gemeinsames Grundproblem: wie können überhaupt fiktionale von faktualen Darstellungen unterschieden werden und in welchem Verhältnis stehen sie zur realen Welt? Was unter Fiktion verstanden wird, ist immer in Abhängigkeit zum angewandten Begriff von Wahrheit und Wirklichkeit zu betrachten. Der semantisch-logische und pragmatische Status von Texten, Bildern und Tönen in Bezug auf die Realität oder die aktuelle Welt wird erst durch den Leser oder Zuschauer zugeteilt.1 Analytische Fiktionstheorien gehen davon aus, dass fiktionale Darstellungen keinen mittelbaren Bezug zum Referenten, also der Welt der Wirklichkeit, haben und ihre Aussagen damit in letzter Konsequenz nicht „wahr“ sein können. Fiktionale Bilder wären demnach „Bilder mit leerem Gegenstandsbezug, [die] damit keine Relation zu einem realen Gegenstand“ aufweisen.2 Ein allgemeingültiger Begriff von Wahrheit oder Realität muss aber in Frage gestellt werden, da sprachliche, mündliche oder filmische Beschreibung auf diese nie unmittelbar zugreifen können. Sowohl fiktionale als auch faktuale Darstellungen beziehen sich auf etwas, das bereits vor beziehungsweise außerhalb ihrer jeweiligen Ausdrucksformen existiert. „Wahrnehmungen, Erfahrungen und Konventionen entstehen zuerst einmal unabhängig von Sprache in der Gesellschaft, in einer Tradition und in einem Netz von Kodes, die durch soziale Praktiken bestimmt sind.“3 Orientierung darin bieten Schemata, die sich aus Faktischem, aber immer auch Imaginärem zusammenset-

1 2

Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 34. Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2003, S. 153.

3

Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 12.

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zen,4 wie beispielsweise Religionen. Fiktion und Realität vermischen sich in einem „gelebten Mythos“, also der „wahrscheinlichen Rede“ über eine „natürliche Wirklichkeit“.5 Er veranschaulicht das eigentlich nicht Anschauliche und muss, um seine Legitimation zu halten, akzeptiert und praktiziert werden. Erst wenn der Mythos als „Glaubenssache“ nicht mehr haltbar ist, tritt die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Realität und Fiktion und damit das Problem der Referentialität auf.6 Man könnte folglich auch von einem „historiogra-phischen Mythos“ ausgehen, also einer wissenschaftlich begründeten, aber dennoch nur wahrscheinlichen Rede über eine reale Wirklichkeit, deren Bezugsgegenstände nicht rekonstruierbar sind. Der Glaube an einen „historiographischen Mythos“ hat sich mit den Erkenntnissen der Postmoderne endgültig aufgelöst. Darüber hinaus äußern postmoderne Theoretiker ihre grundsätzlichen Zweifel an Referenz als Kriterium für Realität.7 Da kein unmittelbarer Zugriff auf einen realen Referenten möglich ist, kann dieser auch nicht als Unterscheidungskriterium zwischen wahr/falsch, imaginiert/real oder fiktional/faktual gelten. Außerdem kann Referenz als Voraussetzung für die Annahme einer Existenz grundsätzlich in Frage gestellt werden.8 Folgt man einem integrationistischen Ansatz der Fiktionstheorie9, gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Darstellungen der Welt.10 Alle Diskurse – folglich auch der historiographische – stünden demnach in keiner Verbindung zur „Wahrheit“. Den Umkehrschluss für die Geschichtsschreibung haben Reinhard Koselleck und Hayden White gezogen. Da sie davon ausgehen, dass sich Geschichtsschreibung in Erzählungen organisiert, hat deren sprachlicher Ausdruck demnach keinen unmittelbaren Zugriff auf den historischen Referenten und enthält folglich zumindest fiktionalisierende Elemente. Der Filmsemiotiker Christian Metz beschreibt dieses Spannungsfeld zwischen Narration und ihrem Bezug zur Wirk-

4

Pavel, Thomas: Fictional Worlds. Cambridge/London 1986, S. 61f.

5

Preussner, Andreas: Mythos, in: Rehfus, Wulff (Hg.): Handwörterbuch Philosophie,

6

Pavel: Fictional Worlds, S. 80f. u. 131.

7

Derrida, Jacques: Limited Inc, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2001; Luhmann, Niklas:

8

Vgl. Rorty, Richard: „Is there a problem about fictional discourse?“ in: Henrich, Diet-

Stuttgart 2003, URL: http://www.philosophie-woerterbuch.de [Stand: 28.03.2013].

Die Gesellschaft der Gesellschaft, Berlin 81998. er/Iser, Wolfgang (Hg.): Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 67-93. 9

Vgl. Pavel: Fictional Worlds, S. 11-13: Pavel differenziert Vertreter der Segregation und Integration. Nach dem segregationistischen Ansatz gibt es keine wahre Existenz außerhalb der Realität.

10 Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 13.

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lichkeit für filmische Erzählungen. Er problematisiert die Arbitrarität von kinematographischen Zeichen und merkt an, dass das Verhältnis des analogen Bildinhalts zur referenziellen Welt zwar ein motiviertes, jedoch immer gestaltetes und kodiertes sei.11 Jede Erzählung fiktionalisiere oder „irrealisiere“ die in ihr dargestellten Ereignisse – unabhängig davon, ob das Ereignis wahr ist oder nicht. Und damit sei auch Dokumentarfilm keine fiktionsfreie Diskursform. 12 Die Problematik einer Unterscheidung nach fiktionalem und faktualem Inhalt im Film zeigt sich in den Genrezuweisungen von Spiel- und Dokumentarfilmen. Eine einfache Definition wäre die Behauptung, Spielfilm würde fiktionale Geschichten erzählen, während Dokumentarfilm Reales und Wirklichkeit abbildet. Es stünde sich demnach das Gegensatzpaar Fiktionales und Nicht-Fiktionales, oder analog dazu Imaginiertes und Reales, gegenüber. In der Filmindustrie haben sich diese Genrezuweisungen etabliert. In der Filmwissenschaft dagegen haben bereits Siegfried Kracauer13 und André Bazin14 die Erkenntnis durchgesetzt, dass „die aus der Subjektlosigkeit der photographischen Technik abgeleitete Authentizität filmischer Bilder, die eine privilegierte Referentialität des Dokumentarfilms begründen soll, [...] entweder für jedes filmische Bild oder für keines“15 gilt. Darüber hinaus ist die Existenz einer „nicht-filmischen Realität“, auf die ein Film sich beziehen könnte, zunehmend in Frage gestellt worden.16 Nach dem Modell des Produktions- und Rezeptionszyklus17 stellt die „nichtfilmische Realität“ die gesamte, auch nicht gegenständliche Wirklichkeit dar, die weder im Ganzen abgebildet werden kann noch soll. Sie ist das Reservoir überhaupt abbildbarer Realität. Die „vorfilmische Realität“ dagegen ist die bereits zum Objekt der Kamera gewordene Realität, also die zufällige, inszenierte oder arrangierte Wirklichkeit, die sich in der Kadrage des Kameraobjektivs zeigt. Folglich ist jeder Film, ob Spiel- oder Dokumentarfilm, die Dokumentation seines vor-

11 Metz, Christian: Das Kino: ‚Langue‘ oder ‚langage‘? in: Ders.: Semiologie des Kinos. München 1972, S. 51-129. 12 Ders.: Semiologie des Films, München 1972, S. 45. 13 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1985. 14 Vgl. Bazin, André: Was ist Film?, hg. von Robert Fischer, Berlin 2004. 15 Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie, S. 21. 16 Paech, Joachim: Einige Anmerkungen/Thesen zur Theorie und Kritik des Dokumentarfilms, in: Bredella, Lothar/Lenz, Günter H. (Hg.): Der amerikanische Dokumentarfilm: Herausforderungen für die Didaktik, Tübingen 1994, S. 26. 17 Zur ausführlichen Erläuterung des Produktions- und Rezeptionszyklus siehe Kapitel 3.3.

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filmisch Realen. Paech wirft zurecht die Frage auf, warum überhaupt zwischen dokumentarischen und fiktionalen Filmen unterschieden wird.18 Der fiktionale Film bezieht sich auf seine eigene, im Film dargestellten Realität, also auf eine „Wirklichkeit des Fiktiven“. Außerhalb des Spielfilms ist diese Realität nicht existent. Auch im Dokumentarfilm ist das dokumentierte Ereignis, also die vorfilmische Realität, grundsätzlich räumlich und zeitlich abwesend und kann sich somit nicht selbst repräsentieren. „[...] ein Film ist nicht dokumentarisch, weil Wirklichkeit gefilmt wurde, sondern weil er eine andere, abwesende Wirklichkeit repräsentiert, die er selber nicht ist.“ Der Dokumentarfilm ist damit ebenso wie der Spielfilm eine „Fiktion des Wirklichen“. Sie unterscheiden sich nicht in ihrem Fiktionscharakter, sondern lediglich in ihrer Bezugsrealität. Diese Definition von Dokumentarfilm entspricht der bereits erwähnten Einordnung von Geschichtsschreibung als „Fiktion des Faktischen.“19 Dokumentarfilm baut demnach eine diegetische Welt auf und könnte als fiktionale Gattung angesehen werden.20 Im Anbetracht der „postmodernen Bilderflut“, in der ein Verweis auf eine Wahrheit a priori verloren gegangen zu sein scheint,21 diskutiert Paech die „(Un)möglichkeit“ des Dokumentarfilms.22 In Anlehnung an den Medientheoretiker Jean Baudrillard23 behauptet er, dass das Reale nicht mehr dargestellt, sondern durch „Zeichen des Realen“ ersetzt wird. Die Realität als Referent des Dokumentarfilms verschwinde in der Simulation. Dennoch bilde diese „Realsimulation“ Realität ab, wenn auch in zeichenhafter Rekonstruktion.24 Paech räumt ein, dass sich die abgebildete Wirklichkeit gemäß den Bedingungen der zeichenhaften Rekonstruktion anordnen muss. Dennoch nähme die „Realsimulation“ noch nicht die Materialität von Zeichen an.25 Hier lassen sich Parallelen zur textuellen Geschichtsschreibung ziehen, die beispielsweise in Quellenzitaten eine schriftzeichenhaften Rekonstruktion von Realität betreibt. Die Abschrift eines Originals bleibt Simulation, in dem sie durch eigene Schrift ersetzt. Dennoch bleiben

18 Paech: Einige Anmerkungen/Thesen, S. 26. 19 Koselleck: Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, S. 91. 20 Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 34. 21 William: Spiegel ohne Gedächtnis, S. 25. 22 Paech, Joachim: Rette, wer kann. Zur (Un)Möglichkeit des Dokumentarfilms im Zeitalter der Simulation, in: Blümlinger, Christa: Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wien 1990, S. 110-124. 23 Baudrillard, Jean: Die Agonie des Realen, Berlin 1978. 24 Paech: Rette wer kann, S. 118f. 25 Ebd.

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die Schriftzeichen Signifikanten und werden nicht zum bloßen Zeichenkörper eines Buchstabens. Die Schlussfolgerung ist, dass sowohl filmische als auch sprachliche (und damit auch historiographische) Narrationen nicht nach ihrem Bezug auf eine reale Wirklichkeit unterschieden werden können. Die Behauptung, eine Form der Darstellung könne sich grundsätzlich mehr als eine andere Realität nähern, ist nicht haltbar. Jeder Zugriff auf einen (realen oder historischen) Referenten ist immer auch fiktional und konstruiert. Der Bezugspunkt von Geschichtsschreibung und Dokumentarfilm liegt in der Vergangenheit, während sie selbst gegenwärtig sind und durch ihre aktuelle Rezeption26 auch bleiben. Eva Hohenberger ist überzeugt, dass „[s]o wie die Geschichtserzählung die Ordnung und sinnhafte kausale Verknüpfung von Ereignissen in die Realität zurückverlegt, während sie rhetorisch mit Hilfe bestimmter Tropen erst konstituiert, so behauptet auch der Dokumentarfilm, Realität lediglich zu zeigen, wo er selbst sie als sinnvolle doch ebenso erst konstruiert.“27 Eine trennscharfe Beurteilung von fiktionalen oder faktualen, filmischen oder historiographischen Gattungen ist demnach nicht möglich. Sinnvoll erscheint nur die Verwendung des Begriffs der Fiktionalität, wie ihn Tröhler vorschlägt. „Der semantisch-logische Vergleich – die Verifizierbarkeit in einem Spielfilm oder in einem Dokumentarfilm, das heißt allgemein ihre Referentialität – stellt [...] nur ein Argument zum Verständnis der Grenze zwischen Fiktion und Nichtfiktion dar.“28 Analog zur bereits erläuterten historischen Referentialität als Beziehung zwischen Vergangenheit und Sprache kann Fiktionalität als Beziehung zwischen der Wirklichkeit und ihrer Darstellung verstanden werden.29 Sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der „Realsimulation“ des Dokumentarfilms verbleibt dennoch ein Anspruch auf „Wahrheit“. Der folgende Abschnitt soll die Problematik dieses Begriffs näher beleuchten. 2.1 Mögliche Welten und Wahrheit(en) Als „Realsimulation“ bildet Dokumentarfilm keine reale Wirklichkeit ab, sondern lässt eine diegetische Welt – ein eigenes „Universum“, in dem sich Geschichten ereignen – entstehen. Diegese ist nach Tröhler „ein deskriptives Raum-Zeit-Universum von relationalen Strukturen, in dem eine Geschichte sich

26 Zur Aktualität des Dokumentarfilms durch seine Rezeption vgl. Kapitel 3.4. 27 Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie, S. 22. 28 Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie, S. 22. 29 Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 38.

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ereignen kann und das also eine potenzielle Narrativität besitzt.“30 Die semantische Organisation der erzählten beziehungsweise im Film dargestellten Welt wird zu einer möglichen, wenn sie in sich logisch und kontingent ist. Das bedeutet, dass Objekte, Räume, Figuren und deren Beziehungen nach dem Modell der aktualen Welt, also der „Wirklichkeit“ beziehungsweise „Realität“, präsentiert werden.31 Wenn die diegetische Welt im Film den Gesetzen der aktualen (also vom Rezipierenden als „realistisch“ angenommenen) Welt folgt, entspricht sie einer möglichen Zustandsbeschreibung der Wirklichkeit. Die filmische und die als real angenommene Welt können zwar nie deckungsgleich sein. Umso mehr sich die Welt im Film der wirklichen Welt aber nähert, desto wahrscheinlicher ist sie. Sie bleibt damit zwar nur eine mögliche, wenn auch „die möglichste aller Welten“.32 Margit Tröhler bezeichnet dieses Konzept als die „Semantik der möglichen Welten“33. Es versucht nicht das Problem des Wirklichkeitsbezugs mit Begriffen der Wahrheit zu lösen, sondern lotet die Grenzen, Distanzen und Überschneidungen zwischen den Bereichen der Realität und der Fiktion sowie den fiktionalen und nichtfiktionalen Diskursen aus.34 Sie stützt sich dabei unter anderen auf die Überlegungen der Literaturtheoretiker und Vertreter der „fictional worlds theory“ Lubomír Doležel35, Thomas Pavel36 und Umberto Eco37. Nach Tröhler ist jede semantische Weltkonstruktion eine reduzierte und organisierte Darstellung, die in einer diskursiven Dynamik eine neue Perspektive einnehmen kann und deren Bezugsrahmen im pragmatischen Sinne ein anderer ist.38 Dieser Annahme liegt die Theorie der „small“ bzw „possible worlds“ zugrunde.39 Sie positioniert sich gegen eine „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ (also der Annahme, dass subjektive Aussagen nur und immer dann wahr sind, wenn sie mit objektiven Tatsachen korrespondieren)40 und plädiert für die Mög-

30 Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 29. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 31f. 33 Ebd., S. 14. 34 Ebd. 35 Vgl. Doležel, Lubomír: Possible worlds of fiction and history. The postmodern stage, Baltimore 2010; Ders.: Heterocosmica fiction and possible worlds, Baltimore 1998. 36 Pavel: Fictional Worlds. 37 Eco, Umberto: The limits of interpretation, Bloomington 1990. 38 Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 17. 39 Vgl. Eco: The limits of interpretation, S. 64-82. 40 Nach Korrespondenztheorie (auch Adäquationstheorie) besteht Wahrheit in der Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Erkanntem bzw. zwischen der Erkenntnis oder

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lichkeit von gleichzeitigem Auftreten beziehungsweise Funktionieren von gegensätzlichen Behauptungen. Ein allgemeingültiger Wahrheitsanspruch wird nach der Theorie der möglichen Welten abgelehnt. Die Grenzziehung zwischen Fakt und Fiktion, Wahrheit und Manipulation, hängt demnach ausschließlich von der Beobachterposition ab. Wie die „possible world“-Theorie bedient sich auch Tröhlers Konzept der „Semantik der möglichen Welten“ einer sogenannten modallogischen Argumentation. Ihre Kriterien sind Möglichkeit, Notwendigkeit und Kontingenz.41 Für Dokumentarfilme, so Tröhler, können wir tendenziell eine Möglichkeitsbeziehung, die durch Notwendigkeit definiert ist, annehmen. Das heißt, dass das im Film Dargestellte in allen möglichen Alternativen „wahr“ sein muss.42 Auch wenn Dokumentarfilme es anstreben, können sie als „Weltenkonstruktion“ nie mit der Realität deckungsgleich sein. Die Wirklichkeit, auf die sich solche Konstruktionen beziehen, ist größer als jede der alternativen Teilwelten. Sie sind also immer unvollständig, heterogen und textuell gestaltet oder semiotisch vermittelt. Folglich können Dokumentarfilme lediglich„small possible worlds“ erschaffen. Die Wirklichkeitsvorstellung des Rezipierenden bestimmt die Zugänglichkeit dieser fiktionalen „kleinen Welten“. Das heißt, das Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft entscheidet über die Grenze zwischen dem, was als in der Wirklichkeit möglich und damit „real“ angesehen wird, und dem, was als diskursives oder fiktionales Universum gelten kann beziehungsweise muss.43 Aus Tröhlers Konzept ergeben sich Anknüpfungspunkte zwischen Fiktionstheorie, Historiophotologie und Historiographie. Auch Geschichtsschreibung entwirft kleine mögliche Welten, die immer nur fragmentarisch sein können, durch formale, sprachliche und disziplinäre Bedingungen gestaltet und den sozialen und kulturellen Einflüssen unterworfen sind. Die Suche nach Wahrheit, oder zumindest Aufdeckung von „Lügen“, haben historiographische und historiophotische Darstellungen dennoch gemeinsam. Es scheint ein Paradoxon, dass Konstruktionen, die sich fiktionalisierender Elemente bedienen, das Primat der „Wahrheit“ verfolgen. Der Begriff „Wahrheit“ ist jedoch schwer zu definieren: er kann anhand empirischer, pragmatischer, kohärenter oder konsensualer Eigen-

Beschreibung eines Gegenstands und diesem Gegenstand selbst, wobei der Gegenstand in der Regel als Teil einer vom Erkennenden unabhängigen Wirklichkeit angesehen wird; vgl. dazu: Spree, Axel: Adäquatio-Theorie, in: Rehfus: Handwörterbuch Philosophie, URL: http://www.philosophie-woerterbuch.de [Stand 28.03.2013]. 41 Zoglauer, Thomas: Einführung in die formale Logik für Philosophen, Stuttgart 4. überarb. Aufl. 2006, S. 116-131. 42 Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 16. 43 Ebd., S. 17.

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schaften erklärt werden, wie verschiedene Theorien zum Wahrheitsbegriff zeigen.44 Neben der jeweiligen Definitionsweise ist der Begriff kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen unterworfen und befindet sich darüber hinaus ständig im Wandel. Auch der in wissenschaftlichen oder künstlerischen Konstruktionen angewandte Wahrheitsbegriff ist demnach ein zeitlich bedingter. Er definiert sich über das subjektive Ermessen des Verhältnisses zu „Wahrheit“ beziehungsweise der Grenzziehung zwischen Wahrheit(en) und Unwahrheit(ein). Im Umkehrschluss bedeutet dies für kritische historiographische und historiophotische Darstellungen, dass sie sich in ihren Realitätsbezügen und Wahrheitsansprüchen immer wieder neu positionieren müssen. Damit geben sie einen absoluten für einen „emphatischen Anspruch auf Wahrheit“ auf, „wohl wissend, dass er sich weniger denn je in der Wiedergabe von Sichtbarkeiten realisieren lässt.“45 Die Vorstellung von Wahrheit in der Postmoderne ist von Fragmenten und Bruchstücken geprägt. Nach der Filmwissenschaftlerin Linda Williams kann ihre historiophotische Darstellung nie einfache Enthüllung oder Widerspiegelung bieten, sondern sollte eine sorgfältige Konstruktion und Intervention in die Politik und die Semiotik von Repräsentation sein.46 Williams verweist damit bereits auf die potentielle Fähigkeit von Filmen, eine kritische Debatte über ihre eigenen Bedingungen und Methoden führen zu können, die im dritten Kapitel weiter untersucht wird. In Anknüpfung an die Überlegungen zur „Weltenkonstruktion“ durch Film zeigt sich, dass Wahrheit(en) nach ihrem Möglichkeits- und Notwendigkeitscharakter beurteilt werden können. Der Wahrheitsgehalt von Darstellungen konstituiert sich demnach zum einen durch innere Kontingenz, zum anderen durch die Relation zum Wahrheitsbegriff der aktualen Bezugswelt. Gerade postmoderne Repräsentationen, behauptet Williams, geben Wahrheit nicht zugunsten willkürlicher Darstellungen auf. Sie führen nicht unweigerlich zur „Oberflächlichkeit des Simulakrums“, sondern sie konstruieren eine Wahrheit von „historischer Tiefe“ – allerdings nicht in Referenz zu einer kohärenten oder einheitlichen Vergangenheit, sondern im Vermessen der Korrespondenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.47 Der Erkenntnisgewinn liegt nicht in der Erfahrung einer einzigen, universell gültigen Wahrheit. Vielmehr können die Zuschauer das Verhältnis ihrer Lebenswelt zu der im Film dargestellten Vergangenheit, der Kon-

44 Vgl. dazu: Wiesen, Brigitte: Wahrheit, in: Rehfus: Handwörterbuch Philosophie, URL: http://www.philosophie-woerterbuch.de [Stand 28.03.2013]. 45 Hohenberger: Dokumentarfilmtheoire, S. 28. 46 Williams: Spiegel ohne Gedächtnisse, S. 42. 47 Williams: Spiegel ohne Gedächtnisse, S. 43.

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struktion und deren Regeln, den Motiven und Ideologien entdecken. Die von Williams bezeichnete „historische Tiefe“ liegt im Erkennen von Geschichte. Im Anschluss an die Überlegungen zum Begriff der (historischen) Referentialität könnte man also von „Wahrheit“ als Referenzbegriff sprechen. Selbstkritischer (oder postmoderner) Dokumentarfilm kann keine verbindliche Wahrheit, sondern ein Spektrum von relativen und kontingenten Wahrheiten anbieten. Anstatt Dokumentarfilm als „Spiegel“ von Wirklichkeit oder Wahrheit anzunehmen, vergleicht Williams diese Art von Dokumentarfilmen mit Spiegelkabinetten, die durch verschiedene, zum Teil differierende Perspektiven und Reflexionen plurale Wahrheiten oder die Vielfalt möglicher Realitäten darstellen, aber auch „die Verführungskraft von Lügen“48 enthüllen können.49 Als „Axiom des neuen Dokumentarfilms“ konstatiert sie, dass Filme keine Wahrheit von Ereignissen enthüllen, sondern „die Ideologien und das Bewusstsein, das konkurrierende Wahrheiten konstruieren (also jene fiktionalen Meistererzählungen, mit denen wir Ereignissen Sinn geben)“, offenlegen können.50 Nach Hayden White zeichnet sich gerade Film durch die Fähigkeit zur Reflexion und Infragestellung von Wahrheit aus: „[Experimental films] show us, [...] that the criterion for determining what shall count as ‚accuracy of detail’ depends on the ‚way’ chosen to represent both ‚the past’ and our thought about its ‚historical significance’ alike.“51

2.2 Sprachliche und nicht-sprachliche Geschichtsschreibung: Zur parahistorischen Darstellung von Vergangenheit Filmische Geschichtsschreibung zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit Sprache, Bildern und Tönen operieren kann, aber nicht notwendigerweise muss. Sprachliche oder audiovisuelle „Lücken“ können mithilfe eines anderen Mediums geschlossen werden. Aus dieser Feststellung erschließt sich die Frage, inwieweit nicht-sprachliche Darstellungen etwas für die Geschichtswissenschaft leisten können, was textuelle und damit sprachgebundene Geschichtsschreibung nicht

48 Williams nimmt hier u. a. Bezug auf Lanzmanns Film Shoah: Widersprüchliche Aussagen und Erinnerungen könnten hier zwar keinen Aufschluss über den „wahren“ Holocaust geben, jedoch die „Lügen“ von Tätern und Mitläufern aufdecken. 49 Williams: Spiegel ohne Gedächtnisse, S. 43. 50 Ebd., S. 32. 51 White: Histriography and Historiophoty, S. 1199.

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kann. Rosenstone hat diese Frage im Umkehrschluss als Antwort auf die Kritik an der Historiophotie formuliert: „If it is true that the word can do many things that images cannot, what about the reverse – don’t images carry ideas and information that cannot be handled by the word?“52

Der Kulturphilosoph Walter Benjamin beschäftigte sich mit Bildern und ihrem Verhältnis zu Zeit und Vergangenheit53 und attestiert der „historischen Rede“ des 20. Jahrhunderts zwei „Restelemente“: zum einen die Darstellung von unsagbarem Schmerz, zum anderen die Vergegenwärtigung von „alle[n], die keinen Namen haben, [dem] Namenlose[n], was keine Spur hinterlässt, was so gut verwischt wurde, dass sogar die Erinnerung dessen Existenz nicht besteht, alle diejenigen, die so gründlich verschwunden sind, dass sich niemand mehr an ihren Namen erinnert.“54 Folglich wäre es die Aufgabe von Historikern, gerade das, was die offizielle und herrschende Tradition nicht berücksichtigt, zu überliefern. Das paradoxe an dieser Aufgabe ist die Tatsache, dass die Historiker erzählen sollen, was nicht erzählt werden kann, weil es entweder „unaussprechlich“ oder unbekannt ist.55 Die Grenzen der textuellen Geschichtsschreibung beruhen auf der Notwendigkeit, dass Vergangenheit in bekannte Sprache umgewandelt werden muss und die „Andersartigkeit früherer oder fremder Geschehnisse in [die] eigene Erfahrung“ hineingeholt werden muss.56 Geprägt von den Erlebnissen im Ersten Weltkrieg stellte Walter Benjamin fest, dass beispielsweise Kriegs- und Schockerfahrungen im Allgemeinen unmöglich mit der Alltagssprache und den traditionellen Erzählformen zu assimilieren sei.57 Er verwies damit bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf ein Problem, das von postmodernen Theoretikern, Literatur- und Kulturkritiken, sowie Soziologen und Historikern aktuell diskutiert wird.58 Der Soziologe Michael Pollak hat in seiner

52 Rosenstone: Visions of the past, Introduction, S. 5. 53 Vgl. u. a. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M. 1963; Hillach: Dialektisches Bild, S.186-229. 54 Zit. n. Gagnebin, Jeanne-Marie: Erinnerung, Geschichte, Zeugnis, in: Schweppenhäuser, Gerhard/Gleiter Jörg H. (Hg.): Rückblick auf die Postmoderne (=Philosophische Diskurse), Weimar 2002, S. 84-93, hier S. 89. 55 Ebd. 56 Conrad/Kessel: Geschichte ohne Zentrum, S. 20. 57 Gagnebin: Erinnerung, Geschichte, Zeugnis, S. 88. 58 Rosenstone: Visions of the past, Introduction, S. 5f.

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Studie zur Erzähl- und Erinnerungskultur von Holocaust-Überlebenden auf die „Grenze des Sagbaren“ und die identitätsstiftende Funktion von Erinnerung in Gesellschaften und damit von Geschichtsschreibung hingewiesen.59 Gerade Verdrängtes, Vergessenes oder Verschwiegenes trage maßgeblich zu (Nicht-)Kommunikation bei, sei aber in textuellen Erzählungen kaum fassbar. Reaktionen auf die Grenzen der konventionellen sprachlichen Praktiken und Forderungen nach einem neuen, experimentellen Umgang mit Narration sind außerdem aus den Reihen der Vertreter der „narrative theory“ festzustellen. So hat Hayden White zwar die multiplen Möglichkeiten der Geschichtskonstruktion herausgestellt, aber auch auf die „Endlichkeit der Sprachformen, die uns zur Verfügung stehen, um Unvertrautes vertraut zu machen“ verwiesen.60 Wie bereits Walter Benjamin stellt White fest, dass vor allem traumatische Ereignisse als Schockerfahrung nicht adäquat erinnert, aber auch nicht vergessen und damit im kollektiven Gedächtnis nicht kontextualisiert werden können. Gerade deshalb haben sie aber eine besondere Brisanz für die Geschichtswissenschaft. Unter sogenannten „holocaustartigen“ Ereignissen versteht White die retrospektiv unvorstellbaren Erfahrungen wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, die Weltwirtschaftskrise, aber auch prozesshafte und subtile Phänomene wie Umweltzerstörung oder die Bedrohung durch atomare Zerstörung.61 Die Erkenntnis, dass empirische Untersuchungen oder analytische Beschreibungen keinen adäquaten Zugang zu diesen „unnatürlichen“ Ereignissen bieten können, legt eine Öffnung zugunsten alternativer Darstellungsformen nahe. Walter Benjamin stellte im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Schockerfahrung fest, dass das Trauma das Subjekt vom Symbolischen trennt.62 Versteht man das Symbolische als diskursive und sprachliche Ordnung ist als Opposition zu ihm das bildhafte Imaginäre nach seinen Möglichkeiten der Darstellung zu befragen.63 Eine trennscharfe Unterscheidung des Imaginären vom Realen ist, wie bereits erläutert, in der postmodernen Geschichtsschreibung nicht mehr haltbar. Folglich versprechen gerade Darstellungen, die keine klare Trennung von Fakt und Fiktion beanspruchen einen, wenn auch nicht unmittelbaren, Zugriff

59 Vgl. Pollak: Die Grenzen des Sagbaren. 60 Zit. n. Conrad/Kessel: Geschichte ohne Zentrum, S. 20. 61 White. Das Ereignis in der Moderne, S. 197f. 62 Gagnebin: Erinnerung, Geschichte, Zeugnis, S. 88; Benjamin orientierte sich an den Begriffen der Psychoanalyse von Freud. 63 Ich verwende die Begriffe des Symbolischen und des Imaginären in Anlehnung an die Strukturbestimmungen des Psychischen von Jacques Lacan; vgl. dazu Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Seminar XI), Berlin 41996.

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auf die genannten „Restelemente“ der Geschichtsschreibung. Eine Lösung vom Sprachzwang bietet darüber hinaus die Möglichkeit, neue Narrationsformen zu finden. Während konventionelle Erzählformen sich an Gattungskriterien, wie Linearität, Kausalität und Logik halten, erschließen experimentelle Narrationen Gattungs- und Medien-übergreifende Methoden. Hayden White benennt diese Formen als „anti-narrative Nicht-Geschichten“. Unter „anti-narrativ“ ist allerdings kein Gegensatz zu „narrativ“ (nach White folgt wie erläutert alles einer bestimmten Narration), sondern vielmehr die Abkehr von konventionellen Narrationsmodi gemeint. Die Notwendigkeit von „Nicht-Geschichten“ taucht ebenfalls bereits bei Walter Benjamin auf, der die Aufgabe der Geschichte darin sieht, „sich den Lücken, dem Vergessenen und dem Verdrängten [zu] eröffnen, um auf oft zögernde und unvollständige Weise das zu sagen, was noch kein Recht weder auf Worte noch auf Andenken hatte.“64 White benennt eine neue Gattung von postmodernen, sogenannten parahistorischen Darstellungen, die durch Auflösung von Fakt und Fiktion und Hinwendung zu Nicht-Geschichten eine adäquate, de-fetischisierende (also nicht vergegenständlichende) Aufbereitung von beispielsweise traumatischer Vergangenheit bietet.65 Diesen Ansatz findet Nancy Partner auch im neuen „anti-language approach“ bestätigt. Postmoderne Forschungsperspektiven zu Erinnerung, Trauma, Erfahrung oder Gedächtnis zeigen Gemeinsamkeiten auf: sie versuchen sich vom konventionellen Sprachzwang zu lösen, suchen nach einem unmittelbareren Zugang zu Vergangenheit und wenden sich gegen die Auffassung, dass Sprache „Geschichte“ völlig kontrollieren könne.66 Der „anti-language“-Ansatz darf allerdings nicht als Absage an den „linguistic turn“ verstanden werden. Partner stellt heraus, dass gerade die Tatsache „that we are being offered trauma, memory, experience, and the sublime as post-postmodern interests should tell us clearly enough that we are not turning back to any place that looks empirical in the old confident sense.“67 Die möglichen Medien und Techniken der parahistorischen Darstellungen sind vielfältig: sie reichen von Lesbarem, Hörbarem, Sichtbarem bis hin zu Unbewusstem und Fühlbarem. Sie nutzen die spezifischen Möglichkeiten von Medien, kombinieren unterschiedliche Darstellungs- oder Narrationsmodi und lösen traditionelle Stil- und Gattungszwänge auf, indem sie beispielsweise nicht zwischen Realem und Imaginierten unterscheiden. Entsprechende Darstellungsfor-

64 Zit. n. Gagnebin: Erinnerung, Geschichte, Zeugnis, S. 89. 65 White: Das Ereignis in der Moderne, S. 194. 66 Partner: Narrative Persistence, S. 82. 67 Partner: Narrative Persistence., S. 83.

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men lassen sich in der Literatur68, der Ausstellungskunst und Architektur69 und nicht zuletzt im Film70 finden. Benjamin und White sind von den Chancen solcher Darstellungen vor allem für traumatische Ereignisse ausgegangen. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass die Möglichkeiten parahistorischer Darstellungen insbesondere durch filmische Geschichtsschreibung sich auch zur Analyse sprachlich schwer greifbare Fragestellungen in der neuesten Geschichtsforschung eignen, wie zum Beispiel zur Erforschung von Erinnerungsgemeinschaften, Gruppendynamiken, Emotionen und Prozessen von Identifikation. Insofern bietet filmische Geschichtsschreibung als parahistorische Darstellung nicht nur ein Medium zur Aufarbeitung der „großen“ historischen Ereignisse der Moderne, sondern auch der „kleinen“ alltagsgeschichtlichen Ereignisse der jüngeren Zeitgeschichte. Rosenstone sieht in der Verlagerung von schriftlicher auf visuelle Geschichtsschreibung sogar die Chance für eine Revision unseres Geschichtsbewusstseins: „In a post-literate world, it is possible that visual culture will once again change the nature of our relationship to the past.“71

68 White verweist auf Sartre, Jean-Paul: Der Ekel, Reinbek 51963. 69 Zum Beispiel der Libeskind-Bau des Jüdischen Museums Berlin. 70 Ich möchte besonders hinweisen auf: The Halfmoon Files (D 2007) Regie: Scheffner, Philip. 71 Rosenstone: History in images/History in words, S. 1184.

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3. F ILM

ALS KRITISCHE

G ESCHICHTSSCHREIBUNG

Die vorliegende Abhandlung hat bisher zwei wesentliche Aspekte beleuchtet: Zum einen hat sie einen „postmodernen“ Geschichtsbegriff definiert, zum anderen hat sie Ansätze für die theoretische Grundlage einer Historiophotologie dargelegt. Es hat sich gezeigt, dass Film als narratives Mittel durchaus in Konkurrenz beziehungsweise in Ergänzung zu Text treten kann. Der hartnäckigste Vorwurf gegen filmische Geschichtsschreibung ist allerdings ihr vermeintlicher Mangel an Tiefe und kritischer Auseinandersetzung mit Vergangenheit und sich selbst. In einem Diskussionsbeitrag zur Debatte über filmische Geschichtsschreibung kritisiert David Herlihy: „The camera excels in one type of history - the narrative; it has manifest difficulties in offering anything beyond simplistic explanations as to why those events occurred. The visual only sees skins and surfaces, not what lies beneath or soars above them. It cannot easily supply for the events it records an appropriate context, whether based in personal motivations, in overarching economic forces, or in reigning ideologies.“1

Bezeichnenderweise reduziert Herlihy Film auf die vermeintliche Oberflächlichkeit des Visuellen. Die Wirkung von beispielsweise Geräuschen und Sprache im Film vernachlässigt er völlig. Jedoch nicht nur deshalb ist seine These nicht haltbar, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Ziel dieses Kapitels ist es, mithilfe von methodischen Ansätzen konkrete Vorschläge zur Umsetzung von kritischer Geschichtsschreibung im Film zu geben. Es soll aufgezeigt werden, wie Film eine kritische und selbstbezügliche Haltung einnehmen kann. Entscheidend hierfür ist zunächst eine klare Definition, was unter kritischer Geschichtsschreibung zu verstehen ist. Konventionelle Historiographie zeichnet sich durch ihren (selbst)kritischen Umgang mit Operationsweisen und einer Positionierung innerhalb des disziplinären Diskurses aus. Diese Fähigkeit wird Film von Kritikern wie Ian Jarvie grundsätzlich abgesprochen: „[A] historian could embody his view in a film, just as he could embody it in a play [but] how could he defend it, footnote it, rebut objections and criticize the opposition?“2

1

Herlihy: Am I a camera, S. 1190f.

2

Jarvie: Seeing through movies, S. 378.

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Die Behauptung, Filme könnten weder adäquat verweisen noch reagieren, muss näher betrachtet werden. Tatsächlich ist es aus ästhetischen, technischen und narrativen Gründen unmöglich, alle gesprochenen und geschriebenen Wörter, Bilder sowie Töne nach den Standards der textuellen Geschichtsschreibung zu belegen. Wie bereits im zweiten Kapitel erläutert sind diese formalen Regeln aber lediglich etablierte Konventionen der aktuellen Geschichtsschreibungspraxis. Diese disziplinären Standards sind zwar innerhalb des schriftlichen Diskurses hilfreich. Vor dem Hintergrund einer postmodernen Geschichtsschreibung, die über Konstruktionsprinzipien und das Verhältnis von Gegenwart zu Vergangenheit Aufschluss geben soll, bedeutet das Fehlen dieser Formalien aber nicht, dass eine solche Arbeit sich nicht doch angemessen in den Forschungskontext einordnen kann oder dass sie deswegen weniger „wissenschaftlich“ wäre. Alternative Operationsweisen sollten nicht automatisch ausgeschlossen werden. Da Film nicht in den schriftlichen Diskurs der Geschichtswissenschaft integriert ist, besteht auch keine Notwendigkeit, dessen Regeln anzuwenden. Vielmehr könnte filmische Geschichtsschreibung eigene Standards der Kenntlichmachung von Zitaten und Verweisen entwickeln. Es bleibt allerdings fraglich, inwiefern diese Belege relevant sind, damit ein Film als kritisch gilt. Ein Film ist eine Montage, die sich bewusst und unbewusst audiovisueller und sprachlicher „Zitate“ bedient und zugleich eine Zusammensetzung von Versatzstücken unterschiedlichster „Autoren“ ist (u.a. Regie, Kamera, Ton, Schnitt, Protagonisten). Sie entspricht damit dem Konstruktionscharakter von Geschichte. Die Sichtbarkeit der Konstruktion an sich kann nach Rosenstone daher schon kritisch im Sinne einer postmodernen Geschichtsschreibung sein: „Modernist and postmodernist film highlights its constructed nature. This forces [...] the spectator to consider the problematics of the form and thus the problematics of the meaning. [...] Film is so obviously constructed of bits and pieces that to view any film is to face the issue of the production of meaning.“3

Weder in einem Film noch in einem Text ist es möglich, unmittelbar auf Oppositionen und Debatten zu reagieren. Filme wie Texte sind grundsätzlich in sich geschlossene „Produkte“ von Autoren, die über ihre Länge in Minuten oder über ihre Seiten hinaus keine selbstbestimmten Aussagen treffen können. Ihr Bezug auf den filmischen, literarischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Diskurs ist bruchstückhaft und im Moment seiner Entstehung bereits Vergangenheit. Ihren „kommunikativen“ Charakter bekommen Filme und Texte erst durch ihre

3

Rosenstone: What you think about, S. 245.

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Rezeption in Form von Zitaten, Kritiken, Rezension, Gegendarstellung oder Nachahmung. In der Geschichtswissenschaft herrscht eine Routine an Interaktionsmustern unter Wissenschaftlern und ihren Texten, die es für „Vergangenheitsfilme“ in dieser Form nicht gibt. Interaktive Kritik innerhalb einer Geschichtsschreibungspraxis ist abhängig von ihren Diskursformen und deren Entwicklung beziehungsweise Etablierung. In der Historiophotie steht diese noch am Anfang. Kehrt man zur Definition von Geschichtsforschung nach Frank Rexroth zurück, könnte Film nach den etablierten Konventionen der textuellen Geschichtswissenschaft keine Geschichtsforschung sein, da er bisher über keinen eigenen „disziplinären Diskurs, [...] Rationalitätskriterien und [...] Formationen.“4 verfügt. Daher werde ich im Folgenden von kritischer Geschichtsschreibung im Film sprechen, um eine Abgrenzung zur Geschichtsforschung auf der einen und zu rein deskriptiven, nicht-reflexiven Darstellungen auf der anderen Seite zu schaffen. Dennoch muss betont werden, dass Film forschende Konstruktion von Geschichte sein kann, das heißt: Film generiert durch seine Aufnahme, Gespräche, Montage und die Recherchen, die dahinter stehen, nicht nur neue Quellen, sondern auch neue Sinnzusammenhänge, Interpretationsansätze oder Beurteilungen. Film ist ein Dispositiv zur Eröffnung und Aneignung von Welt, das in einem Verhältnis gegenseitiger Interdependenz zum historischen Geschehen steht. Film als kritische Geschichtsschreibung5 würde also nicht nur vor der Aufgabe stehen, „geschichtliche Abläufe außerhalb seiner selbst zu erfassen und in sich abzubilden, sondern auch in selbstreflexiver Weise die historischen Strukturen in den eigenen filmischen Strukturen offenzulegen und wissenschaftlich nutzbar zu machen.“6 Kritische Geschichtsschreibung im Film definiere ich daher als produktive Konstruktion von Vergangenheit unter gleichzeitiger, selbstkritischer Reflexion der angewandten Methoden und des Verhältnisses der eigenen Gegenwart zur untersuchten Vergangenheit. In Anlehnung an das Konzept des Mediendispositivs7 definiere ich Film außerdem nicht nur über seine Materialität, sondern begreife ihn als „Struktur der historischen Forschung“8 im Sinne eines kommunikativen Funktionszusammenhangs. Das heißt, Geschichtsschreibung im Film ist

4

Rexroth: Moderne, S. 5

5

Berg differenziert nicht zwischen Geschichtsschreibung und -forschung: „Film als historische Forschung“ im Original, vgl. Berg: Film als historische Forschung, S. 30.

6

Ebd.

7

Vgl. u. a. Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart 2. akt. u.

8

Berg: Film als historische Forschung, S. 30.

überarb. Aufl. 2010.

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nicht nur als Medium, sondern als Struktur von Medialität9 – als „spezifische Konstellation von Mensch und technisch-apparativer Anordnung sowie ihren diskursiven Erweiterungen“10 – zu begreifen. Von Bedeutung ist diese Begriffsbestimmung im Hinblick auf die Rolle der Rezeption für historiophotische Arbeiten.11 3.1 Beziehung zu Geschichte in Bildern: Bildkategorien nach Olaf Berg Vergangenheit und Film stehen in einem grundlegenden Spannungsverhältnis: Film ist immer eine Aufnahme von gegenwärtigen Bildern, die zugleich bereits der Vergangenheit angehören. Das heißt, er ist eine gegenwärtige Montage von Archivbildern. Im Moment ihrer Rezeption aber werden sie aus einem gegenwärtigen Kontext heraus wahrgenommen und interpretiert. Also bleibt ein Film im Moment seiner Rezeption immer aktuell.12 Zwischen einem Film und der Vergangenheit, die er bruchstückhaft abzubilden versucht, liegt eine unüberbrückbare Zeitdifferenz. Wie bereits im ersten Kapitel erläutert, ist der historische Referent unerreichbar und ein tatsächlicher, also vermeintlich „wahrer“ Vergangenheitsfilm daher nicht möglich. Nicht Vergangenes selbst, sondern die Beziehung zur Vergangenheit – also Geschichte – kann sich in Bildern manifestieren. Geschichtsschreibung im Film ist daher nicht der Versuch einer Rekonstruktion von Wahrheit hinter den historischen Fakten, sondern eine Beziehung zu vergangenen Ereignissen auf der Basis von gegenwärtigen Materialien und nicht-materiellen Artefakten.13 Olaf Berg hat sich intensiv mit historischer Forschung und Film auseinandergesetzt und vertritt die Auffassung, dass Filme nicht nur Illustrationen von historischer Erkenntnis, sondern auch Beiträge zur historischen Debatte sein können, indem sie historische Beziehungen in filmische Beziehungen einschreiben:14 Solche Filme15, behauptet Berg, „verweigern

9

Berg: Film als historische Forschung, S. 29.; vgl. auch Kirchmann, Kay: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenz von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozess, Opladen 1998.

10 Hickethier, Knut: Zur Dispositiv-Debatte, in: Tiefenschärfe. Zeitschrift des Instituts für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg, Medien-Dispositive, Ausgabe WS 2002/2003, S. 3. 11 Vgl. Kapitel 3.4. 12 Zur Aktualität durch Rezeption s. Kap. 3.4. 13 Berg: Film als historische Forschung, S. 27. 14 Ders.: The challenge of film, S. 127-129.

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den Fakten eine Autorität, die nur noch auf ihre Existenz als ungenügende Abbildung gründen könnte; stattdessen erscheinen die Bilder als gegenwärtiges Material, in dem eine Beziehung zu Vergangenem enthalten ist, in der wiederum das vergangene Faktum aufgehoben ist. Auf dieser Grundlage erarbeiten sie Geschichte und reflektieren zugleich die Konstruktions- und Existenzbedingungen dieser Geschichte im Film.“16 Auf der Suche nach einer Systematisierung der medialen Konkretisierung des Geschichtsverhältnisses in Filmaufnahmen, hat Berg vier Kategorien aufgestellt. Unter Film als Archiv oder archive mode versteht er Filmmaterial, das in der behandelten historischen Zeit entstanden ist, unabhängig davon, ob als Dokumentar- oder Spielfilmaufnahme. Film als Archiv verweist auf die Beziehung zwischen dem Aufnahmeereignis und dem Rezeptionsereignis. Seine Bilder entsprechen der in der Geschichtswissenschaft üblichen Bezeichnung des Dokuments oder der Quelle. Wie textuelle Archivmaterialien auch unterliegt die eingeschriebene Beziehung zu Vergangenheit dem aktuellen Rezeptions- und Interpretationsmodus und ist damit wandelbar.17 Unter Film als Spur versteht Berg zunächst Filmmaterial, das Überreste von und Erinnerungen an vergangene Zeit einfängt, wie zum Beispiel Interviews mit Zeitzeugen, Aufnahmen von historischen Orten oder nachgestellte Szenen. Während Berg in seiner ersten Veröffentlichung18 nur in drei Kategorien unterteilte, differenziert er in seiner letzten Publikation hierzu aus dem Jahr 200819 das Spur-Bild weiter in trace-mode und emulation-mode. Den trace-mode von Filmbildern beschreibt er als die Beziehung des gefilmten Objekts zu (seiner) Vergangenheit.20 Diese kommt sprachlich zum Ausdruck in der Art wie und ob ein Zeitzeuge über Vergangenheit spricht. Dabei kann auch fehlendes Sprechen Aufschluss über die Beziehung zur Vergangenheit geben, da Schweigen ebenso ein kommunikativer Akt ist. Was der Zeuge spricht kann zwar Aufschluss über

15 Berg zieht für seine Argumentation u. a. Shoah (F 1985), Regie: Lanzmann, Claude, heran. 16 Berg: Film als historische Forschung, S. 74. 17 Ders.: The challenge of film, S. 129. 18 Berg verfasste den Text „Film als historische Forschung. Geschichte in dialektischen Zeit-Bildern“ im Jahr 2004 als Magisterarbeit im Fach Geschichte an der Universität Hamburg. 19 „The Challenge of Film Considered as Historical Research“ ist bisher nur auf Englisch erschienen. Eine genauere Differenzierung der Kategorienbegriffe auf Deutsch steht daher noch aus. 20 Berg: The challenge of film, S. 129.

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das Verhältnis zu Vergangenheit geben, beispielsweise wenn Ereignisse verharmlost oder verdrängt werden, aber die Faktizität der Aussagen ist nicht entscheidend. Im Gegensatz zum für TV-Dokumentarfilme üblichen Einsatz von Zeitzeugen als historische Referenten, ist nicht die Information als solche, sondern die Art und Weise ihres Auftretens entscheidend. Der trace-mode kann seinen Ausdruck auch nicht-sprachlich in Form von Gesten, Stimme und Redepausen finden. In Anknüpfung an Bergs frühere Definition des Spur-Bilds21 gehe ich davon aus, dass auch Objekte wie Gebäude, Orte und Landschaften im tracemode abgebildet werden können. Gerade in der Architektur lässt sich anhand von Umbauten, Demontagen oder Zweckentfremdung das Verhältnis zur Vergangenheit ablesen. Der trace-mode ist demnach die Verkörperung einer inneren Beziehung der innerfilmischen Gegenwart zur Vergangenheit, die von gegenwärtigen und/oder vergangenen Bedingungen geprägt ist. Die produzierten Bilder sind weder Repräsentation noch Nachbildung, sondern stimulieren die Imagination des Publikums. So können sie zwar nicht notwendigerweise Aufschluss geben über das, was war, aber über die Grenzen der Darstellungs- und Erinnerungsmöglichkeiten. Berg bezeichnet daher dieses Geschichtsverhältnis in Filmbildern als „afterlife of the past“ oder „present marked by its past“.22 Gerade in Fällen, in denen semiologische Annäherungen nicht ausreichen, ermöglichen Filmbilder im trace-mode die Möglichkeit zu einer Vergangenheitskonstruktion auf imaginärer Ebene. An dieser Stelle soll noch einmal auf die Ausführungen zu sprachlichen Grenzen der Konstruktion von den „holocaustartigen“ Ereignissen hingewiesen werden. Es wurde festgestellt, dass im Bereich des Traumas ein Zugang zum Realen vielleicht nur durch das Imaginäre möglich sei. In Filmen kann dieses in der Darstellung von abstrakten und assoziativen Bildern zum Ausdruck kommen. Olaf Berg hat sein Konzept vom trace-mode an Claude Lanzmanns Film Shoah eindrucksvoll dargelegt. Lanzmann selbst hat seinen Zugang zur Vergangenheit als Filmemacher entsprechend beschrieben: „You cannot see it, but what you cannot see you have to show in images.“23 Der emulation-mode24 entspricht einer Simulation oder Nachahmung von Vergangenheit. In diesem Filmbild können sich Fiktion und Fakten stark vermischen. Es kann inszeniert, nachgestellt oder verfremdet sein. Der emulationmode ist in sogenannten Reenactment-Szenen, in denen Schauspieler zur Dar-

21 Berg: Film als historische Forschung, S. 32f. 22 Ders.: The challenge of film, S. 129. 23 Zit. n./dt. v. Berg: Lanzmann, Claude: Parler pour les morts, in: Le monde des débats, 5(2000), S. 15. 24 Berg: The challenge of film, S. 130.

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stellung hinzugezogen werden, zu finden, aber auch in künstlich geschaffenen Situationen realer Personen, die „zeitreisenhaft“ einen illusionären Blick auf Vergangenheit möglich werden lassen. Die Einschreibung von Geschichte in diese Szenen entsteht aus einer einst gegenwärtigen Information, die bereits vor der Filmaufnahme existent und bekannt gewesen ist.25 Folglich können auch Aufnahmen von Objekten oder Orten, die in einer historisierten Form in Szene gesetzt werden, dem emulation-mode folgen. Unter Film als Ableitung26, oder auch connotation-mode, versteht Berg schließlich Filmmaterial, das sich aus einer Beziehung zur Vergangenheit ableitet und damit die Beziehung selbst zum Gegenstand hat. Die eingesetzten Filmbilder können zunächst nicht von beispielsweise Spurbildern (Interviews, Beobachtungen von Personen oder Orten, u.a.) unterschieden werden. Jedoch leitet sich ihre Beziehung zur Vergangenheit nicht vom Bild ab, sondern das Bild lässt sich assoziativ aus der Beziehung ableiten. Zur Erläuterung soll ein Beispiel Bergs angeführt werden:27 Claude Lanzmann interviewt in Shoah einen Holocaust-Überlebenden, der im Konzentrationslager den Gefangenen vor ihrem Tod die Haare schneiden musste. Das Interview findet in einem Friseurladen statt. Die Situation ist jedoch kein Versuch einer Nachstellung, sondern vielmehr ein „embodiment“28, eine „Verkörperlichung“, die ein Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit hervorruft. In diesem Moment zeigt sich die unüberbrückbare „Lücke“ zwischen Gegenwart und Vergangenheit und wird audiovisuell vermessen. Das heißt, nicht die Rekonstruktion der Fakten, sondern „Geschichte“ wird zum Gegenstand der Situation. Im Gegensatz zu den Spurbildern reproduziert das Ableitungsbild keine Nachahmung, sondern bedient sich Bildern und Tönen, die abstrakt und evokativ sind. Sie erwecken eine Vorstellung von Ereignissen oder Erlebnissen, ohne diese darzustellen.29 So kann beispielsweise die Unmöglichkeit einer Rekonstruktion von Vergangenheit durch Widersprüche im Filmmaterial, Montage oder Aussagen im Interview reflektiert werden. Berg behauptet, dass gerade Ableitungsbilder die Fähigkeit besitzen, eine kritische Haltung zur eigenen Geschichtsschreibung einzunehmen. Er bezeichnet sie als „die selbstreflexivste Art der Einschreibung“.30 In der dargestellten Grafik soll die Verortung der einzelnen Bild-

25 Berg: The challenge of film, S. 130. 26 Ders.: Film als historische Forschung, S. 33. 27 Ders.: The challenge of film, S. 131f. 28 Ebd., S. 132. 29 Ebd., S. 30. 30 Ebd.

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kategorien zwischen Fakt und Fiktion, Vergangenheit und ihrer Konstruktion als Geschichte veranschaulicht werden. Abbildung 11 : Bildkategorien nach Olaf Berg

Quelle: Eigene Darstellung

Berg hat mit seinen Kategorien ein sinnvolles Handwerkszeug für die Analyse von Filmbildern, ihrer Beziehung zu Vergangenheit, zu „Geschichte“ und zu ihrer eigenen Haltung entwickelt. Die genannten vier Modi der Relationenbildung konkretisieren den „Wahrheitsgehalt“ ihrer historischen Beziehung auf ganz unterschiedliche Weise. Der archive-mode vermittelt ein bestimmtes Maß an Gewissheit über das Abgebildete. Überlieferte Filmaufnahmen oder Fotografien, gefilmte oder gesprochene Textdokumente implizieren einen relativen hohen Grad an Faktizität. Der trace-mode und der emulation-mode stehen zwischen dem archive-mode und dem connotation-mode. Zwar kann auch hier gesichertes Wissen über die Tatsächlichkeit der Bilder bestehen.31 Ihr Nachahmungs- oder Inszenierungscharakter und der zeitliche Abstand zur Vergangenheit sind den Filmbildern aber eingeschrieben. Die beiden Formen des Spur-Bilds sind somit

31 Historische Orte, Ereignisse oder die verbürgte Zeugenschaft einer Person, wie zum Beispiel Ausschwitz, der Fall der Berliner Mauer oder die überlebenden Opfer der Flugzeugentführung „Landshut“ können als „gesichertes Wissen“ als Tatsachen angenommen werden.

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ein „Abbild der Distanz zu Vergangenem“32 und tragen als „Realsimulation“, um erneut Joachim Paechs Begriff aufzugreifen, ein gewisses Maß an Zweifel über das vergangene Geschehen in sich. Der connotation-mode ist schließlich das Abbild für die Unmöglichkeit einer Rekonstruktion von Vergangenheit. Er stellt „Wahrheit“ als normative Kategorie grundsätzlich in Frage. Durch den assoziativen und imaginären Charakter der Ableitungsbilder tragen sie multiple Rezeptions- und Interpretationsansätze in sich und sind somit Versinnbildlichung von pluralen, unter Umständen auch konkurrierenden, Wahrheiten. Die Fähigkeit von Film als Ableitung zu funktionieren, bestätigt die Annahme, dass Filmbilder nicht nur Illustration von historischer Erkenntnis, sondern ein Beitrag zur historischen Debatte sein können. Film kann gerade aufgrund seiner spezifischen Möglichkeiten konstitutiv für die Erkenntnis über Vergangenheit sein. Wenn historische Beziehungen kritisch und selbstreflexiv in filmische Beziehungen eingeschrieben werden können, kann Film eine kritische Konstruktion von Geschichte sein.33 3.2 Historische Zeit- und Raum-Erfahrungen in Filmbildern: Das „Zeit-Bild“ nach Gilles Deleuze und das dialektische Bild nach Walter Benjamin Gilles Deleuze und Walter Benjamin haben filmtheoretische und philosophische Konzepte für Geschichte in Filmbildern entwickelt, die in diesem Kapitel näher erläutert werden sollen. Dabei möchte ich zunächst auf Benjamins „dialektisches Bild“ eingehen, um davon ausgehend Deleuzes Taxonomie von Filmbildern und der zugrunde liegenden Vorstellung einer vorsprachlichen Zeichen-Materie zu erläutern. Die Theorien der beiden Philosophen bieten kein ausgearbeitetes Handwerkszeug zur Filmanalyse. Ihre bisherigen Anwendungen in der Forschung34 möchte ich daher heranziehen, um entsprechende Methoden zu entwickeln. Walter Benjamin hat im ersten Teil seines „Passagen-Werks“35 geschichtsphilosophische Überlegungen anhand des sogenannten dialektischen Bilds aufgestellt. In einem frühen Exposé hierzu beschreibt er den Begriff des dialektischen Bilds als „[...] eine Konstellation [...], die eine Sedimentierung historischer Zeit ins gegenwärtige Bild, eine Verräumlichung von Dialektik zum Ausgang

32 Berg: Film als historische Forschung, S. 34. 33 Ders.: The challenge of film, S. 127f. 34 Vgl. u. a. Fahle: Zeitspaltungen; Berg: The challenge of film. 35 Benjamin: Passagen-Werk, Erster Band.

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von Erkenntnis nimmt.“36 Während unter Dialektik ursprünglich eine Form des Dialogisierens mit Argumenten verstanden wurde, die zur Herausarbeitung, gegenseitigen Profilierung und vorläufigen Klärung und Bewertung unterschiedlicher Positionen diente,37 offenbart sich für Benjamin Erkenntnis in einer „Dialektik im Stillstand“38 in Form eines blitzhaften Auftauchens von „Zweideutigkeit“39. Benjamin versteht Geschichte nicht als die möglichst wahrheitsgetreue Rekonstruktion eines historischen Referenten. Er sucht historische Erkenntnis im Auftreten des dialektischen Bildes – also in dem Moment, in welchem Vergangenheit, Gegenwart und ihre Beziehung zueinander zeitgleich auftreten. Die Wirklichkeit einer dialektischen Geschichtserkenntnis als Gegenwartserkenntnis liegt in der aufblitzenden „Zeitdifferenz des Jetzt von dem Jetzt, das aufscheint in einem Zitat oder Zeugnis der Vergangenheit.“40 Damit entspricht Benjamins Theorie einem Geschichtsbegriff, der das Vergangene nicht schlicht als gegenwärtig darstellen will, sondern mithilfe der Erkenntnis über Vergangenheit dem Gegenwärtigen eine Perspektive für die Zukunft bieten soll.41 Für Benjamin entsteht „[d]ie Wahrheit des Faktischen [...] in dem Augenblick, in dem die Gegenwart sich als vom Vergangenen ‚gemeint’ erkennt [...] und die Gegenwart sich in eine bessere Zukunft führen läßt.“42 Auf den messianischen Aspekt der Theorie möchte ich im Rahmen dieses Textes nicht weiter eingehen, sondern den Fokus auf die Interpretation des dialektischen Bildes als mögliches Filmbild richten. Dabei liegt eine tatsächlich bildhafte Auffassung von Benjamins Konzept nahe, zumal er im „Passagen-Werk“ die Pariser Einkaufspassagen des 19. Jahrhunderts selbst zum Sinnbild macht.

36 Zit. n. Hillach: Dialektisches Bild, S. 191. 37 Hillach: Dialektisches Bild, S. 186. 38 Benjamin: Passagen-Werk, S. 577. 39 Ebd., S. 204. 40 Hillach: Dialektisches Bild, S. 191. 41 Berg, Olaf: Film als historische Forschung [2]. Perspektiven für eine Geschichtswissenschaft als filmische Beziehung zur Vergangenheit, in: Heigl, Richard/Naumann, Katja/Starzel, Philip/Ziegler, Petra (Hg.): Kritische Geschichte. Positionen und Perspektiven, Leipzig 2005, S. 61-89, hier S. 14 (diesen Aufsatz hat Berg in Anlehnung an seinen ursprünglichen Aufsatz von 2004 in gekürzter und überarbeiteter Fassung in genanntem Sammelband veröffentlicht). 42 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte [1940], in: Ders.: Illuminationen, Ausgewählte Schriften, hg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt a.M. 1997, S. 251-263, hier S. 253.

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Die Überlagerung zweier Aktualitäten, also der erinnerten und der gegenwärtigen, zur gesteigerten Intensität der „Jetztzeit“ ist nach dem Philologen Ansgar Hillach nur im Medium bildlicher Wahrnehmung möglich.43 Nimmt man den Bildbegriff bei Benjamin also wörtlich, lässt sich dieser an die bisherigen Überlegungen zur filmischen Geschichtskonstruktion anschließen: „If the so-called postmodern moment in historiography seems mired in a linguistic dead end, Benjamin’s questions, topics, and method can help us take cultural history in a new direction – towards the visual. By this, I mean [...] an alternative way to think about historical categories and methods – in some measure what Hayden White referred to as ‚historiophoty’ – the representation of history and our thought about in visual images, as filmic discourse.“44

Gilles Deleuze hat mit seiner Taxonomie von Filmbildern einen an Benjamin anschlussfähigen philosophischen und filmtheoretischen Ansatz entwickelt. Dieser vertritt die Auffassung, dass Filmbilder nicht als reine Repräsentation von Welt, also als nachahmende Visualisierung von „Wirklichkeit“, zu beurteilen sind, sondern vielmehr eine Welt konstituieren, die nach eigenen Regeln und Maßstäben funktioniert. Film ist folglich nicht nur ein Medium, sondern eine selbstständige Art des Denkens. Dementsprechend kann die filmische Auseinandersetzung mit Bildern und Tönen nicht durch andere Medien und damit andere Denkweisen, wie zum Beispiel durch Sprache, ersetzt oder nachempfunden werden.45 Deleuze vertritt die Überzeugung, dass Film eine eigene, spezifische Weltordnung darstellt: eine „visuell verfasste Ontologie“46. Hier zeigen sich auch klare Analogien zum Konzept der „Semantik der möglichen Welten“ von Margit Tröhler, das Film ebenfalls die Fähigkeit zur Konstruktion von eigenen Welten attestiert. Tröhlers Theorie ist allerdings überwiegend auf die sprachliche Dimension von filmischen Darstellungen ausgerichtet. Sie schließt zwar die Tatsache, dass filmische Aussagen durch Bilder und Töne getroffen werden, in ihre Ausführungen ein. Ihre Argumentation, die sich vor allem auf aussagenlogische Kategorien wie mögliche oder notwendige Behauptungen stützt, gründet sich auf Sprache als zentrales Medium. Hinter der deleuze’schen Klassifizierung von Filmbildern steht dagegen das Konzept einer vorsprachlichen Zeichen-Materie, derer sich

43 Hillach: Dialektisches Bild, S.227. 44 Schwartz, Vanessa: Walter Benjamin for Historians, in: American Historical Review 106 (2001), S. 1721-1743 , hier S. 1723. 45 Fahle: Zeitspaltungen, S. 97. 46 Ebd.

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Sprache für die Konstituierung von Narrationen bemächtigen kann. Allerdings bleibt Sprache für Deleuze immer eine Reaktion auf zuvor existente Zeichen.47 Für ihn geht es nicht um Äußerungen oder Aussagen, „wohl aber um Aussagbares. [...] [D]ie Sprache (langue) existiert lediglich als Reaktion auf eine nichtsprachliche Materie, die sie transformiert. Aus diesem Grund sind die Aussagen, ist die Erzählhandlung keine Gegebenheit der sichtbaren Bilder, sondern eine Konsequenz, die von dieser Reaktion herrührt.“48 Damit lässt sich die deleuze’sche Beurteilung von Sprache und Filmbildern logisch mit den Überlegungen zur Historiophotie in den vorangegangen Kapiteln, vor allem an die Erkenntnisse zur nicht-sprachlichen Geschichtsschreibung im Film, verknüpfen. White, Partner und Benjamin sind von den Möglichkeiten der filmischen Darstellung von bestimmten (post-)modernen Phänomenen ausgegangen. Nach dem Filmwissenschaftler Oliver Fahle sind aber gemäß der deleuze’schen Filmphilosophie „Bewegung, Zeit, Gedächtnis und Erinnerung [bereits] visuell verfasste Denkfiguren, die in der Moderne vor allem vom Film hervorgebracht werden können.“49 Wendet man die Überlegungen von Deleuze allein auf Filmbilder an, die sich mit Vergangenheit beschäftigen, bieten sie einen historiophotologischen Ansatz zum Verständnis, in welchem nicht-sprachlichen Verhältnis Bilder und ihre Konstruktion von „vergangenen Welten“ stehen. Deleuzes Werke „Das Bewegungs-Bild. Kino 1“ und „Das Zeit-Bild. Kino 2“ bilden den Kern seiner filmtheoretischen beziehungsweise philosophischen Arbeit. Darin hat er eine Taxonomie von Filmbildern und eine Periodisierung der Filmgeschichte nach Bewegungs-Bildern und Zeit-Bildern aufgestellt. Die historische Periodisierung ergibt sich aus dem Verhältnis der Filme zu Zeit und Bewegung. Während in den Filmen vor dem Zweiten Weltkrieg die Bewegung das Dominierende sei, habe das Kino der Nachkriegszeit Zeit zum Subjekt werden lassen, damit selbstreflexive Bildstrategien erzwungen und Bewegung und Narration in eine untergeordnete Position gerückt werden.50 Darüber hinaus klassifiziert Deleuze Filmbilder in „Bewegungs-Bilder“ und „Zeit-Bilder“. Zum einen kann eine einzelne Aufnahme oder Einstellung gemeint sein, zum anderen definiert er auch ganze Montagen und damit gesamte Filme als „Bilder“. Diese vermeintliche begriffliche Ungenauigkeit gründet sich auf seine Auffassung, dass „[d]er Film [...] uns kein Bild [gibt], das er dann zusätzlich in Bewegung

47 Berg: Film als historische Forschung, S. 39. 48 Deleuze: Zeit-Bild, S. 46f. 49 Fahle: Zeitspaltungen, S. 97f. 50 Ott: Gilles Deleuze, S. 129f.

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brächte – er gibt uns unmittelbar ein Bewegungs-Bild“51 Das Bewegungs-Bild ist auch der Sammelbegriff für drei untergeordnete Bildtypen: das Aktions-Bild, das Affekt-Bild und das Wahrnehmungs-Bild. Sie sind alle einer Narration unterworfen und entlang eines „senso-motorischen Bands“52 angeordnet. Dieses entspricht einem Intervall zwischen zwei Zeitpunkten, innerhalb welchem Bewegungs-Bilder kausallogisch und chronologisch aufeinander folgen. Das Wahrnehmungs-Bild ist ein „freies, indirektes und subjektives Bild“.53 Es ist „wie eine Reflexion des Bildes im Bewusstsein des Kameraselbst aufzufassen [...].“54 Der Blick der Kamera nimmt den identischen Blick der Protagonisten ein. Als „zweite Metamorphose“ des Bewegungs-Bilds bezeichnet Deleuze das Aktions-Bild. Es unterscheidet sich in eine große und eine kleine Form. Das Große ist in der Regel gekennzeichnet durch die Abfolge einer Situation, einer Aktion und einer veränderten Situation. Das Kleine besteht aus einer Aktion, einer folgenden Situation und einer neuen Aktion.55 Sie unterscheiden sich vor allem durch die Intensität ihrer Differenz zwischen der Ausgangsituation oder Ursache und der (Re-)Aktion darauf. Sie können beide gleichermaßen in Filmen auftreten.56 Tendenziell kann man aber eine jeweilige Dominanz in unterschiedlichen Genres feststellen: In Westernfilmen, historischen Epen und Monumentalfilmen dominiert beispielsweise das große Aktionsbild, während in Kriminalfilmen, Psychothrillern und subversiven Komödien, wie Slapstick oder Kabarett, das kleine Aktionsbild überwiegt. In Gegensatz zum realistischen Aktions-Bild tritt das idealistische und wirklichkeitsfremde Affekt-Bild.57 Es nimmt den filmimmanenten Abstand zwischen Wahrnehmung und Aktion ein.58 Unter Affekt-Bild versteht Deleuze ein Bild, das einen Zustand darstellt und „unpersönlich, unteilbar und unabhängig“59 ist. Es ist daher strukturell bedeutungsoffen, also polyvalent, und muss folglich interpretiert werden.60 Es trete in einem, so Deleuze, „Indeterminationszentrum auf, dass heißt in einem Subjekt, zwischen einer in gewisser Hinsicht verwirren-

51 Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 15. 52 Ders.: Zeit-Bild, S. 52. 53 Ders.: Bewegungs-Bild, S. 107. 54 Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 109. 55 Deleuze beschreibt diese Abfolgen schematisch auch als SAS und ASA. 56 Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 127f. 57 Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 171. 58 Ott: Gilles Deleuze, S. 130. 59 Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 138. 60 Leschke, Rainer: Einführung in die Medientheorie, München 2003, S. 127.

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den Wahrnehmung und einer verzögerten Handlung.“61 Die drei Varianten des Bewegungs-Bilds lassen sich mit räumlichen Einstellungen gut erläutern. Das Wahrnehmungs-Bild entspricht einer totalen, das Aktions-Bild der halbtotalen Aufnahme.62 Das Affektbild entspricht einer Großaufnahme und diese ist in der Regel ein Gesicht.63 Folglich kann ein Film nie aus nur einer Art von Bildern bestehen: „[...] so wird man unter Montage auch die Kombination der drei Varianten verstehen. Die Montage ist [...] die Anordnung der Bewegungs-Bilder, mithin das Verteilungsverhältnis von Wahrnehmungsbildern, Affektbildern und Aktionsbildern.“64 Als Beispiel für das Bewegungs-Bild und die mögliche Montage soll hier eine erfundene Szene beschrieben werden. Die doppelten Trennlinien der Tabelle kennzeichnen Schnitte zwischen den einzelnen Einstellungen.

61 Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 96. 62 Ebd., S. 102. 63 Ebd., S. 123. 64 Ebd., S. 102.

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Tabelle 1: Montage-Beispiel für Bewegungs-Bild

Nr.

Beschreibung

Bild

Einstellung

Interpretation

1

Ein Kind sitzt auf einer Bank auf einem Bahnsteig. Ein Zug fährt ein, das Kind springt auf und stellt sich an das Gleis.

Großes AktionsBild (Situation – Aktion – veränderte Situation)

Halbtotale (sowohl das Kind als auch der Bahnsteig sind zu sehen)

eindeutig; realistische Darstellung.

2

Das Kind blickt auf den Zug.

Affekt-Bild

Nahaufnahme des Gesichts des Kindes

bedeutungsoffen

3

Blick auf die noch geschlossenen Türen des Zugwagons.

WahrnehmungsBild

Totale (nur der Zug ist zu sehen)

Entspricht der subjektiven Wahrnehmung des Zuschauers.

4

Die Zugtür öffnet sich. Hinter ihr steht die Mutter. Das Kind lächelt.

Kleines Aktions-Bild (Aktion – Situation – folgende Aktion)

Halbtotale (Kind, Tür und Mutter sind innerhalb der Kadrage erfasst)

Eindeutige Interpretation; Ursache und Wirkung folgen logisch aufeinander.

Quelle: Eigene Darstellung

Eine wichtige Komponente im deleuze’schen Bild-Konzept ist Zeit und ihr Verhältnis zur Bewegung im gezeigten Raum. Das Bewegungs-Bild stellt Zeit nur indirekt als Maß einer Bewegung dar.65 Die Einfahrt des Zuges in Bild 1 ist im Moment des Schnitts zu Bild 2 nicht abgeschlossen und daher zeitlich verkürzt. In Bild 4 dagegen kann von einer realistischen Zeitlichkeit von wenigen Sekunden ausgegangen werden. Deleuze bemerkt, dass „insofern [die Einstellung] die

65 Berg: Film als Forschung, S. 38.

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Bewegung auf ein sich veränderndes Ganzes bezieht, ist sie der bewegliche Schnitt einer Dauer.“66 Im Gegensatz zum Bewegungs-Bild wird im Zeit-Bild die Bewegung zu einer der Perspektiven der Zeit. Mit seinem Auftreten in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts67 entsteht ein „regelrechtes Kino der Zeit mit einer neuen Montagekonzeption und neuen Montageformen“.68 Die Beschreibung des Filmraums folgt aus der Kombination unabhängiger Opto- und Sonozeichen69, aber auch aus einer bislang unbekannten Kameraautonomie.70 Im Gegensatz zum BewegungsBild kann das Zeit-Bild „die Zeit und das Denken wahrnehmbar, visuell und akustisch erfahrbar“71 machen. In ihm sind Bilder keine Abfolge von Aktionen und Reaktionen, sondern Darstellungen, die von Chronologie, Logik, Kausalität und Linearität befreit sind. Bild und Ton können autonom eingesetzt werden. Das Bezeichnete stimmt nicht gezwungenermaßen mit dem filmischen Zeichen überein. Das Zeit-Bild stellt selbst die Frage, was zu sehen ist, während das Bewegungs-Bild nur nach der Aktion im nächsten Bild fragt.72 Raum und Zeit stehen in keinem gezwungenen Verhältnis zueinander. Dieser „Bruch mit der raumzeitlichen Kontinuität des senso-motorischen Bandes“73 kommt einem Bruch mit konventionellen Darstellungsformen gleich. Das Zeit-Bild entspricht einem reflexiven, mentalen Zustand, wie er beispielsweise in Erinnerungen, Träumen, Vorstellungen und Denken besteht. Mit der Reflexion im Zeit-Bild entwickelte sich der Film über die Möglichkeit hinaus, Zeit nur in Form von zeitlicher Differenz im Verhältnis zu Bewegung darzustellen,. Das moderne Kino bewies damit die Fähigkeit „an ein Mysterium der Zeit zu rühren und schließlich Bild, Denken und Kamera [...] in ein und derselben ‚Subjektivität’ zu vereinen.“74 Die Zeitpunkte des Denkens und des Gedachten, zum Beispiel im Fall einer gegenwärtigen Erinnerung von Vergangenem, überlagern sich. Damit wird Zeit ohne Bewegung als Maßeinheit „[...] vom bloßen Faktor des Mediums zu seinem In-

66 Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 40. 67 Vgl. ebd., S. 282: Deleuze beschreibt eine „Krise des Aktionsbilds“, die das Zeit-Bild im modernen Film hervorgebracht habe. Als Zäsur für Deutschland markiert er die späten 1960er Jahre. 68 Deleuze: Zeit-Bild, S. 37. 69 Entspricht Bild und Ton, vgl. Ders.: Zeitbild, S. 32. 70 Ott: Gilles Deleuze, S. 136. 71 Deleuze: Zeit-Bild, S. 348. 72 Deleuze: Zeit-Bild, S. 348. 73 Berg: Film als historische Forschung, S. 42. 74 Deleuze: Zeit-Bild, S. 78f.

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halt“.75 Als Beispiele können filmische „Stillleben”, wie zum Beispiel Filme von Andrej Tarkowskij76 oder Chris Marker77, genannt werden. Sie stellen ihre Gegenstände in gleichbleibendem Zustand, in einer scheinbar unbeweglichen Dauer dar und machen dennoch durch Form und Montage der Filmbilder Zeit erfahrbar. „Zeit-Bild“-Filme bedienen sich zwar auch Bewegungs-Bildern, allerdings ist hier die Beziehung von Bewegung und Zeit eine andere als in klassischen „Aktions-Filmen“: Die Zeiterfahrung ergibt sich nicht mehr nur indirekt aus der Verkettung von Bewegungsbildern, sondern sie dominiert die Bewegungserfahrung.78 Darüber hinaus ist das Zeit-Bild genaugenommen ein doppeltes Bild, was Deleuze auch als Kristall-Bild beschreibt. Es trägt ein aktuelles und ein virtuelles Bild in sich. Diese sind zwar verschiedenartig, aber ununterscheidbar. Das aktuelle und das virtuelle Bild stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander, das Deleuze anhand der Spiegelreflexion erläutert: „[D]as Spiegelbild ist in Bezug auf die aktuelle Person, die es einfängt, virtuell, aber zugleich ist es aktuell im Spiegel, der von der Person nicht mehr als eine einfache Virtualität zurücklässt und sie aus dem Bild – hors champ79 – verdrängt.“80 Die Zuordnung, was real und was imaginär ist, bleibt ununterscheidbar, da sowohl das aktuelle als auch das virtuelle Bild die Rolle des jeweils anderen Bilds innerhalb einer Relation einnehmen. Diese kann man nach Deleuze als „reziproke Voraussetzung oder als Umkehrbarkeit“ bezeichnen.81 Folglich ist die Differenzierung zwischen Realität und Imagination im Zeit-Bild aufgehoben.82 Der Filmwissenschaftler Oliver Fahle hat das Zeit- beziehungsweise KristallBild an mehreren Filmen, wie zum Beispiel Letztes Jahr in Marienbad (F/I,

75 Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 129. 76 Vgl. Thaliath, Babu: Grenzlinien des Dasein. Das Bildmotiv bei Andrej Tarkowskij, Freiburg 2005, URL: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2028/ [Stand: 28.03.2013]. 77 Binczek, Natalie/Rass, Martin (Hg.): „...Sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder...“ Anschlüsse an Chris Marker, Würzburg 1999. 78 Barion, Marcel: Film und Zeit aus Deleuzescher Perspektive, in: bild auf zeit. Magazin über Geschichte und Theorie des Films, 2011, URL: http://www.bildaufzeit. de/?eintrag=25 [Stand: 28.03.2013]. 79 Unter „hors-champ“ (entspricht zu dt. einem „Außenfeld“) versteht man die Illusion des dreidimensionalen Raums, der über die Ränder (Kadrage) des zweidimensionalen Filmbilds hinausragt. 80 Deleuze: Zeit-Bild, S. 97. 81 Ebd., S. 96f. 82 Berg: Film als historische Forschung [2], S. 19.

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1961) von Alain Resnais und Der Leopard (I/F, 1963) von Luchino Visconti, herausgearbeitet und dabei überzeugend gezeigt, wie die filmische Darstellung von Erinnerung und Gedächtnis mithilfe des deleuze’schen Konzepts analysiert werden kann.83 Auf einige Erkenntnisse von Fahle soll hier kurz eingegangen werden. Bei klassischen Narrationen im Film setzt Erinnerung die sukzessive Erzählweise in der Regel nicht außer Kraft. Rückblenden, die in der Montage kenntlich gemacht werden (beispielsweise durch entsprechende Schnitte, farbliche Bearbeitung des Filmmaterials, Historisierung der Szene mithilfe von zeitgenössischer Kleidung) bilden nur Miniaturen im Erzählfluss des Films. Die damit implizierte Zeitdifferenz zwischen Erinnerung und Erinnertem widerspricht dabei aber grundsätzlich der Definition von Erinnerung als „aktuelle Sinnproduktion im Zusammenhang jetzt wahrgenommener und empfundener Handlungsnotwendigkeiten.“84 Nach Fahle werden Erinnerung und Gedächtnis erst zu „eigenständige[n] Momente[n]“, wenn sie nicht mehr sukzessiv und kausallogisch innerhalb der Narration angeordnet sind. Die zeitliche oder räumliche Simultanität von Erinnern und Erinnerung, Denken und Gedächtnis, Träumen und Traum, beschreibt Fahle als ein „Durchdringen der Schichten“.85 Die „Delokalisierung von Bewegungen“86 ist in dem von Chris Marker selbst als „Photoroman“ bezeichneten Film La Jetée durch die ausschließliche Montage von Standbildern besonders eindrücklich. Anhand einer Abfolge von sechs Einzelbildern aus einer Traum-beziehungsweise Zeitreise-Szene soll dies veranschaulicht werden. Aus dem Off werden die Bilder mit folgen dem Text kommentiert: „Am zehnten Tag begannen die Bilder durchzusickern, wie Geständnisse [Bild 1]. Ein friedlicher Morgen [Bild 2]. Ein friedliches Schlafzimmer, ein richtiges Schlafzimmer [Bild 3]. Richtige Kinder [Bild 4]. Richtige Vögel [Bild 5]. Richtige Katzen [Bild 6].“

83 Vgl. Fahle: Zeitspaltungen. 84 Schmidt, Siegfried J.: Geschichte beobachten. Geschichte und Geschichtswissenschaft aus konstruktivistischer Sicht, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1(1997), S. 27. 85 Fahle: Zeitspaltungen, S. 99. 86 Ebd.

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Abbildung 12: Montagefolge von Standbildern aus der Traumszene in Chris Markers „La Jetée“

Quelle: Eigene Darstellung, Einzelbilder aus La Jetée (F, 1964)

Der Protagonist des Films, der als Versuchsperson an Experimenten zu Zeitreisen teilnimmt, bewegt sich im Laufe des Films in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Er befindet sich in realen und erträumten Szenen, die zunehmend voneinander nicht zu unterscheiden sind. Durch die Montage von Einzelbildern ist die Bewegung im Sinne eines Bewegungs-Bildes vollständig zum erliegen gekommen. Die wahrnehmbare Bewegung im Film liegt in den Reisen zwischen Zeiten, Traum und Wirklichkeit. Gleichzeitig löst sich die trennscharfe Unterscheidung zwischen Realität und Imagination völlig auf. La Jetée thematisiert damit auch einen wesentlichen Aspekt des Zeit-Bilds, nämlich seine Fähigkeit Erinnerung oder Gedächtnis darzustellen, ohne sie durch einen narrativen Kommentar zu erklären. Deleuze bezieht sich mit seiner Theorie des Zeit-Bildes maßgeblich auf das Zeit-Konzept des Philosophen Henri Bergson. Auch Fahle ergänzt seine Argumentation für das Potential von Zeit-Bildern zur Darstellung von Erinnerung mit Thesen aus Bergsons „Materie und Gedächtnis“87. Bergson unterscheidet automatische und attentive Erinnerung.88 Erstere entspricht einer Nacherzählung innerhalb der Erinnerung, also einer Verknüpfung von Vorher-Nachher- beziehungsweise Aktion-Reaktion-Schemata in einer senso-motorischen Reihung. Ausgehend von einer erinnerten Situation werden retrospektiv die folgenden Ak-

87 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, übers. v. Julius Frankenberger, Hamburg 1991 [urspr. erschienen 1896]. 88 Ebd., S. 71.

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tionen, Wahrnehmungen und neue Situationen abgleitet. Die automatische Erinnerung folgt damit den Prinzipien des Bewegungs-Bildes und ist von Chronologie und Kausallogik abhängig. Die sogenannte attentive Erinnerung dagegen reproduziert Vergangenes losgelöst von dieser Ordnung. Einzelne Erinnerungsbilder verknüpfen sich unabhängig von kausalen, räumlichen oder logischen Zusammenhängen mit anderen Bildern und generieren damit neue Assoziationen. Man kann sie mit dem Phänomen des „déjà-vu“ vergleichen. Eine Situation, eine optische oder akustische Wahrnehmung verursachen eine unmittelbare Erinnerung an etwas, das in Vergangenheit ähnlich wahrgenommen wurde. Der Bezugspunkt der Erinnerung ist zunächst noch die aktuelle Wahrnehmung, dann „entfaltet [sie] aber eine Eigendynamik von Erinnerungsbildern und zieht diese in einen Kreislauf hinein, der sich von der momentanen Wahrnehmung ablöst.“89 Auch Filmbilder, die weder durch Zeit, Raum oder Logik mit einer vergangenen Situation verknüpft sind, können eine Assoziation hervorrufen, die sie mit der Vergangenheit verbindet. Fahle hält schlussfolgernd fest, dass das Gedächtnis nicht bloß als Zulieferer der Wahrnehmung betrachtet werden kann, sondern dass man es als eigenständige Welt, eine Sphäre mit ontologischem Status, begreifen sollte. Demnach organisiert das Gedächtnis Erinnerungsbilder in gedachten Welten, „in den[en] man sich gewissermaßen einrichten kann“. Das deleuze’sche Zeit-Bild bietet nicht nur die Möglichkeit zur Darstellung, sondern auch zur ästhetischen Erforschung dieses Bereichs.90 Fahle stellt fest, dass Erinnerungsbilder also Scharniere sind, „denn einerseits können sie aktualisiert werden, um eine gegenwärtige Wahrnehmungssituation zu unterstützen, anderseits sind sie eigentlich virtualisiert, nämlich in den Tiefen des Gedächtnisses abgespeichert.“91 Für Film bedeutet dies, dass Erinnerungen an Vergangenes unmittelbar in Bildern evident werden können, ohne dass sie als „historische“ Bilder oder Rückblenden gekennzeichnet werden müssen. Erinnerung ist gegenwärtige mentale Wiederbelebung und demnach auch in der Gegenwart in Worten, Handlungsabläufen oder Gesten wahrnehmbar. Folglich ist Erinnerung reflexiv und steht immer in Relation zur Jetztzeit. Für den Umgang mit Geschichte im Film bedeutet dies, dass attentive Erinnerungen in Zeit-Bildern die Funktion einer kritischen Reflexion der Protagonisten, der Filmemacher oder der Kamera einnehmen können. Allerdings erachtet Deleuze die Aktualisierung von Erinnerungsund Traumbildern nicht für das „tiefste Verfahren“ der filmimmanenten Reflexionen. Als adäquatere Verfahren nennt er die „Selbstthematisierung des Aufnah-

89 Fahle: Zeitspaltungen, S. 101. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 102.

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meprozesses [...], die den Prozess ihrer Genese wiederholen.“92 Ott bezeichnet dieses Verfahren als „Revirtualisierung des Filmbilds“.93 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Zeit-Bild Möglichkeiten zur unmittelbaren Darstellung von Vergangenheit, Erinnerung oder Gedächtnis schafft und dabei die Trennung zwischen Realität und Imagination aufhebt. Anwendung und Ausdruck findet es in autonomen Opto- und Sonozeichen, bildimmanenten Brechungsverfahren und unmittelbaren Zeitpräsentationen, „Dekadrierungen“, falschen Anschlüssen, unabhängigen Schnitten oder Modi der Zeitdehnung und raffung.94 Es bringt damit achronologische und chronologische Zeiten hervor, „Zeiten, die sich vertikalisieren, Tableaus ausbilden und damit zu neuen Denkspitzen gelangen.“95 Walter Benjamin und Gilles Deleuze haben beide, trotz völlig unterschiedlicher Medienerfahrungen, Modelle für kritische Geschichtsschreibung in Bildern erstellt, die durchaus kompatibel sind und sich in ihren Thesen bestätigen. Das Zeit-Bild zeigt klare Parallelen zum dialektischen Bild auf. Während im ZeitBild „das aktuelle Bild mit dem eigenen virtuellen Bild als solchem in Beziehung tritt“96, kommt im bewegungslosen dialektischen Bild „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation“97 zusammen. Auf filmische Darstellungen übertragen bedeutet dies, dass die deleuze’schen Opto- und Sonozeichen des Zeit-Bilds dem blitzhaften Auftreten des dialektischen Stillstands entsprechen. Beide lösen ein Zeitkontinuum auf und ordnen Zeit der Bewegung unter. Erkenntnis über Gegenwart und Vergangenheit entsteht in diesem Moment des „Aufblitzens“. Deleuze hat diesen Augenblick als diskontinuierliche Öffnung in der Kontinuität des Bewegungs-Bilds genannt. Benjamin bezeichnet ihn als dialektisches Bild oder Dialektik im Stillstand. Die folgende Darstellung soll diese veranschaulichen.

92 Ott: Gilles Deleuze, S. 137. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Deleuze: Zeit-Bild, S. 349. 97 Benjamin: Passagen-Werk Band 1, S. 576.

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Abbildung 13: Schematische Darstellung Zeit-Bild und dialektisches Bild

Quelle: Eigene Darstellung

Die waagrechte Achse entspricht dem Bewegungs-Bild und einer chronologischen Anordnung von historischen Fakten. Die Linearität der im BewegungsBild stattfindenden Narration impliziert eine Affirmation der Gegenwart. Das heißt, die Gegenwart – und damit auch die Zukunft – werden zu einer logischen und determinierten Verlängerung des Vergangenen.98 Die senkrechte Achse stellt das Zeit-Bild dar und steht als „Jetztzeit“, also als gegenwärtige Visualisierung, entgegen der linearen Ordnung von historischem Material. Das Zeit-Bild organisiert demnach im „Moment einer flüchtigen Gegenwart die Überreste des Vergangenen als Geschichte“.99 Die in diesem Augenblick stattfindende Konstruktion entspricht dem Versuch einer kritischen Geschichtsschreibung, indem es den historischen Gegenstand aus dem Kontinuum der Vergangenheit herauslöst.100 Geschichte als Konstrukt ist zu diesem Zeitpunkt virtuell und unterliegt der aktuellen künstlerischen, wissenschaftlichen oder technischen Praxis. Vergangenheit und Gegenwart sind zwar nicht identisch, aber aufgrund ihrer gemeinsamen Aktualisierung im Bild ununterscheidbar.101 Berg bewertet den Austausch zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem im Bild als besonders dien-

98

Berg: Film als historische Forschung, S. 100.

99

Ebd.

100

Ebd., S. 102.

101

Ebd., S. 100.

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lich, um Geschichtsschreibung als Aneignungspraxis darzustellen.102 „Indem die zwischen Aktualität und Virtualität changierenden Zeit-Bilder wie die aufblitzenden dialektischen Bilder sich einer Fixierung verweigern, ohne deswegen beliebig zu werden, stellen sie eine Referentialität her, ohne einen Referenten zu fixieren.“103 Im Anschluss an Deleuzes und Benjamins Verständnis von Geschichte als in der Gegenwart auftauchende „Bilder“, hat die Philosophieprofessorin JeanneMarie Gagnebin den resultierenden Arbeitsauftrag der Historiker und damit, in diesem Zusammenhang, auch der Filmemacher definiert: „Es beinhaltet eine starke Aufmerksamkeit auf die Gegenwart, auf dieses seltsame Auftauchen der Vergangenheit in die Gegenwart hinein; denn es handelt sich nicht bloß darum, die Vergangenheit nicht zu vergessen, sondern auch und vor allem darum, in der Gegenwart und an ihr zu handeln. Die Treue zur Vergangenheit ist ja kein Selbstzweck, [...] sondern hat die Veränderung der Gegenwart zum Ziele.“ Gagnebin verweist damit auf wesentliche Aspekte des historiophotischen Arbeitens: Zum einen auf die „Aufmerksamkeit“, die es erst möglich macht, Vergangenheit zu erkennen und damit Geschichte in der Gegenwart zu schaffen. Das Bewusstsein für diese verantwortungsvolle Aufgabe zeigt sich in der Regel in der Reflexion über die eigene Arbeit, Arbeitsbedingungen und kulturelle, konventionelle oder disziplinäre Einflüsse. Im nächsten Abschnitt soll deshalb besonders auf die Rolle der Filmemacher104 eingegangen werden. 3.3 Selbstreflexion und Selbstreferentialität: Die Rolle der Filmemacher Bei vielen TV-Dokumentationen über Geschichte fällt es schwer, Autoren, Regisseure oder beratenden Historiker hinter der Produktion auszumachen. Es gibt weniger persönliche Handschriften, als eine „corporate identity“ der Redaktion oder des TV-Senders. So kommen beispielsweise die Dokumentationen der Redaktion „Zeitgeschichte“ des ZDFs einer „Marke Knopp“105 gleich. Obwohl es eine umfangreiche Zahl von Autoren gibt, die hinter den Histotainment-

102

Berg: Film als historische Forschung, S. 98.

103

Ebd., S. 21.

104

Ich verwende den Begriff Filmemacher, da dieser Historiker als Filmschaffende nicht ausschließt. Darüber hinaus impliziert der Plural, dass ein Film in der Regel das Produkt eines Personenkollektivs (Regie, Kamera, Ton, Schnitt) ist.

105

Guido Knopp leitete von 1984 bis Anfang 2013 die Redaktion Zeitgeschichte des ZDF.

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Sendungen stehen, sind Redakteure oder Regisseure kaum bekannt oder in ihren Arbeitsweisen zu unterscheiden. Vergleicht man diesen Zustand mit den Ansprüchen der Geschichtswissenschaft, werden immense Differenzen bezüglich des Werts von Autorschaft, persönlicher oder Methoden-spezifischer Herangehensweisen und Kritikfähigkeit offensichtlich. Damit historiophotische Arbeiten dem Anspruch kritischer Geschichtsschreibung gerecht werden können, müssen sie sich in einem gewissen Maße den selbstkritischen Konventionen der textuellen Geschichtsschreibung stellen. Es soll aber auch an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass ein Film mit eigenen Maßstäben gemessen werden muss. Eine Einordnung in den aktuellen Forschungsstand oder eine verbale Artikulation von Forschungsdesiderata, wie sie in Texten üblich ist, kann Film nicht vergleichbar leisten. Dennoch gibt es Methoden zur Positionierung der Filmemacher in ihrer historiophotischen Arbeit, die dem Anspruch einer adäquaten Selbstreflexion und Selbstreferentialität gerecht werden. Eine Differenzierung zwischen Selbstreferentialität und Selbstreflexion ist mithilfe der Literatur nicht eindeutig. Meist werden die Begriffe synonym benutzt oder zumindest nicht trennscharf charakterisiert. Manche Autoren entgehen der problematischen Begriffszuweisung, indem sie selbstkritsche, -reflexive oder -referentielle Filme unter Genres wie „Experimentalfilm“ oder „neuer Dokumentarfilm“ zusammenfassen. Im Folgenden möchte ich mich daher zunächst von unterschiedlichen Seiten den Begriffen nähern, um eine eigene Differenzierung zu erarbeiten. Nach Frank Thomas Meyer ist unter Selbstreferentialität eine Form von Rückbezüglichkeit zu verstehen. Das heißt, die Regie oder Kamera tritt nicht nur als Beobachter der vorfilmischen Realität und Realität Film auf, sondern beobachtet sich selbst bei dieser Beobachtung und wird so zum Teil der Realität. Selbstreferentialität ist demnach die „Feststellung, dass der Beobachter bei allem, was er über die Wirklichkeit, in der er steht, aussagt, stets zu sich selbst zurückkehrt bzw. bei sich bleibt.“106 Veranschaulichung hierzu bietet das „mise en abyme“107 als Abbildung oder Narration, die auf sich selbst rekurriert. In der selbstreferentiellen Aufnahmesituation spiegelt sich also der „Kameraspiegel“ selbst. Die vermeintliche Objektivität der Filmemacher ist aufgehoben, indem sie ihre selbstbeobachtete Beobachterposition sichtbar machen. Die filmischen Möglichkeiten von Selbstreferentialität reichen von der Abbildung der Produktionsbedingungen in Form von Sichtbarmachung der technischen Apparatur, über verbalen oder textuellen Kommentar bis hin zu filmischen

106

Meyer: Filme über sich selbst, S. 89.

107

Wörtlich übersetzt „an den Abgrund stellen“, im Sinne von „sich selbst hinterfragen“.

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Selbstzitaten. Oftmals werden solche Methoden zur Authentisierung eingesetzt, wie beispielsweise im Cinéma vérité.108 Hier stehen vor allem die Offenlegung des eigenen, nicht objektiven Standpunkts und die Einflussnahme sowie die kulturelle Bedingtheit der Autoren im Vordergrund.109 Aufnahmen von beispielsweise einer zweiten Kamera oder der Regie in Interaktion mit den Protagonisten stellen den Bezug zwischen Filmenden und Gefilmten dar. Die bewusste Montage von Unterbrechungen, audio-visuellen „Fehlern“ oder verbalen Absprachen innerhalb des Produktionsteams oder mit den Protagonisten zeigt die Bedingungen der „Realität Film“, also der Ausschnitt der Wirklichkeit zur Zeit der Aufnahme und Postproduktion. Selbstreferentielle Filme streben gerade mit ihrer Sichtbarmachung von Interaktionen und Einflusskomponenten nach dokumentarischer Authentizität. Sie brechen folglich nicht mit der Vorstellung eines realistischen Abbildcharakters des Mediums Film. Sie offenbaren zwar ein „disjunktes Spannungsgefüge“110 zwischen dem Wahrheitsanspruch und dem Konstruktionscharakter des Films. Aber darüber hinaus zeigen sie sich nicht kritisch, denn die Offenlegung der Produktionsbedingungen allein ist nicht ausreichend, um als Selbstreflexion gewertet zu werden. Selbstreferentieller Film intendiert eine „selbstreflexive Auseinandersetzung des Filmemachers mit den filmischen Ausdrucksmöglichkeiten“ genauso wenig wie eine „Offenlegung der filmischen Authentizitätsstrategie.“ 111 Selbstreferentielle „Codes“, wie die audio-visuelle Zurschaustellung von Kamera, Mikrofon oder Produktionsteam, hinterfragen die eigentlichen Darstellungsstrategien aber nicht, sondern wirken sogar stabilisierend: „Die Rhetorik des Verweises auf die Apparatur beschränkt sich auf den gewünschten Effekt einer Steigerung von Authentizität.“112 Folglich streben selbstreferentielle Filme eine kritische Revision ihrer Machart und Intentionen nicht an, sondern – im Gegenteil – verschleiern diese sogar mithilfe von sogenannten „truth claims“.113 Selbstreflexiver Film dagegen verspricht eine selbstkritische Prüfung der eigenen Darstellung. Linda Williams beschreibt in diesem Zusammenhang einen Typ „zeitgenössischen Dokumentarfilms“, der sich auf der einen Seite auf die

108

Das Cinéma vérité stellt eine überwiegend französische dokumentarfilmerische

109

Blümlinger, Christa: Blick auf das Bilder-Machen. Zur Reflexivität im dokumenta-

Epoche bzw. Strömung der 1960er Jahre dar. rischen Film, in: Dies. (Hg.): Sprung im Spiegel, S. 193-208, hier S. 202f. 110

Williams: Spiegel ohne Gedächtnisse, S. 28.

111

Meyer: Filme über sich selbst, S. 58.

112

Ebd.

113

Ebd.

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ernsthafte Suche nach einer „letzten Wahrheit“ mache, auf der anderen Seite aber diese einer „aufdringlichen Manipulation“ unterwerfe.114 Meyer definiert selbstreflexiven Dokumentarfilm „[...] als Sinneinheit, die sich aus der strukturierenden Opposition zwischen dem möglichst hohen Anspruch auf Authentizität und Objektivität einerseits und seinen subjektiven Voraussetzungen andererseits ergibt.“115 Eine Hilfestellung zur näheren Begriffsbestimmung bietet das Konzept der „documentary modes“ des Filmtheoretikers Bill Nichols.116 Er unterscheidet in sechs verschiedene Modi des Dokumentarfilms, wobei ich nur auf die letzten drei eingehen möchte.117 Der „participatory mode“ betont die Interaktion zwischen Filmemacher und dem Subjekt, also beispielsweise der Protagonistin. Typische Methode dieses Modus ist der Einsatz von Interviews oder Archivmaterial. Er stimmt damit weitestgehend mit dem konventionellen TVGeschichtsdokumentarfilm überein.118 Der „reflexive mode“ richtet die Aufmerksamkeit auf die Voraussetzungen und Konventionen des Filmemachens und schafft damit ein Bewusstsein für den Konstruktionscharakter von filmischer Wirklichkeit. 119 Er entspricht damit, trotz der sprachlichen Parallele zum Begriff der Selbstreflexivität, den Merkmalen eines selbstreferentiellen Films. Der „performative mode“ dagegen „emphazises the subjective or expressive aspect of the filmmaker’s own engagement with the subject and an audience’s responsiveness to this engagement.“120 Filme im „performative mode“ lehnen nach Nichols die Vorstellung einer filmischen Objektivität zugunsten Evokation und Beeinflussung des Publikums ab. Das heißt, sie provozieren den Zuschauer durch beispielsweise irritierend stimulierende Bildmontage, sich aktiv mit dem Gezeigten auseinanderzusetzen. Die persönliche Involvierung der Filmemacher in den Sachverhalt, in Beziehungen zu Personen oder Orten spielt eine wesentliche Rolle und wird auch demonstrativ zum Ausdruck gebracht. Nichols ordnet Experimentalfilme oder Avant-garde-Filme diesem Modus zu.121 Da die erläuterten Genre und Modi keinen übereinstimmenden Terminus anbieten, möchte ich in Anlehnung an die genannten Begriffe einen „historiophoti-

114

Williams: Spiegel ohne Gedächtnisse, S. 28.

115

Meyer: Filme über sich selbst, S. 7.

116

Nichols: Introduction, S. 34f.

117

Nichols unterscheidet in „poetic“, „expository“, „observational“, „participatory“, „reflexive“ und „performative mode“.

118

Nichols: Introduction, S. 34.

119

Ebd.

120

Ebd.

121

Ebd.

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schen“ Modus definieren. Bezeichnend für diesen sind die Erkennbarkeit des Urhebers der filmischen Wirklichkeit und ein herausgestellter Konstruktionscharakter (Selbstreferenz), der Abschied von absoluten Wahrheitsansprüchen und die Infragestellung einer eindeutigen Evidenz von Bildern122 (Selbstreflexion) und die Evokation des Publikums sowie die subjektiv-provokative Positionierung der Filmemacher (Performanz). Der Performanz-Begriff ist in diesem Zusammenhang von der üblichen Verwendung in der Sprechakt-Theorie zu unterscheiden. Filmbilder im performativen Modus tragen nicht nur eine narrative Aussage in sich, sondern sie enthalten auch eine Information, die erst durch die Rezeption durch das Publikum ihre Bedeutung entfalten kann. Selbstreferentielle, selbstreflexive und performative Merkmale können in Filmbildern mehr oder weniger zum Ausdruck kommen. Idealtypisch erfüllt die Kombination der drei Modi die Ansprüche einer kritischen Geschichtsschreibung im Film. 3.4 Film und Rezeption als soziale Praxis: Die Rolle der Rezipienten Beschäftigt man sich mit den Möglichkeiten einer kritischen Geschichtsschreibung im Film, kann es nicht genügen, die ästhetischen, epistemologischen oder technischen Bedingungen zu diskutieren. Filme im historiophotischen Modus können, wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde, ihre Methoden, Herangehensweisen und ihren Gegenstand – die filmische Narration – in Frage stellen. Dabei wird zum einen die Rolle der Filmemacher betont, indem ihr „materielles und geistiges Produkt den Zuschauern kenntlich gemacht [wird]“.123 Auf der anderen Seite wird das Publikum „auf sich selbst, das heißt auf seine Position im kinematographischen Diskurs, zurückgeworfen.“124 Wie Filme gesehen und verstanden werden, ob und wie das historiophotische Potential angenommen wird, liegt nur begrenzt im Einflussbereich der Filmemacher oder Filmvorführenden Institutionen. Ich habe bis hierhin herausgestellt, dass beispielsweise eine trennscharfe Unterscheidung in Fiktion und faktische Wirklichkeit nicht möglich ist und dass gerade der Bereich des Imaginären Möglichkeiten zur Geschichtskonstruktion erschließt, die den „reinen“ Fakten verschlossen bleiben, wie Erinnerung, Trauma oder Gedächtnis. Allerdings hängt die erfolgreiche Vermittlung dieser Inhalte stark von der gesellschaftsbedingten Auffassung bezüglich des Faktischen (also was als „wahr“ angenommen wird), von den indivi-

122

Meyer: Filme über sich selbst, S. 204.

123

Blümlinger: Blick auf das Bilder-Machen, S. 206.

124

Ebd.

T EIL 2: G ESCHICHTE IM F ILM – DER F ILM O RTUNG

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duellen Einstellungen, vom Bildungsstand oder der politischen Haltung des Publikums ab. Die „Intention des Autors“ kann als solche nicht isoliert betrachtet werden, da ein Film nicht auf den Moment seiner Produktion fixiert ist. Der Ausdruck eines Films, bemerkt der Filmemacher Alexander Kluge, „verdichtet sich nicht materiell im Film selbst, sondern entsteht im Kopf des Zuschauer aus den Bruchstellen zwischen den filmischen Ausdruckselementen“.125 Über die selbstkritische Haltung der Filmemacher beziehungsweise des Films hinaus ist die aktive und kritische Teilnahme der Rezipienten wichtig. Ziel eines historiophotischen Films sollte die „Herstellung der Autonomie des Zuschauers“126 sein. Die Rezeption eines Films ist darüber hinaus nicht nur vom Publikum abhängig, sondern auch von der Vorführungssituation und genretypischen Bestimmungen. Konventionelle Filme sind in der Regel innerhalb weniger Minuten einer Filmgattung zuzuordnen. Zumindest die Unterscheidung in Spiel- oder Dokumentarfilm hat meist bereits vor der Filmvorführung stattgefunden. Aber selbst über die Beschaffenheit von „dokumentarischen“ Bildern herrscht weitestgehend Konsens. Das Publikum meint in einer bestimmten „authentischen“ Ästhetik und technischen Fertigung von Filmbildern das „Dokumentarische“ erkennen zu können.127 Die Bedeutung der Rezeptionskriterien eines Films zeigt, dass gerade Gattungszuweisungen allein anhand der Produktionsbedingungen problematisch sind. Nach dem Filmtheoretiker Christof Decker konstituiert sich „[d]as ‚Dokumentarische’ des Dokumentarfilms [...] weder durch die technologische ‚Reinheit’ der Aufzeichnung, die dem Filmmaterial als ontologische Qualität eingeschrieben sein soll, noch durch die Dichotomisierung einer falschen Fiktion einer wahren Dokumentation, sondern durch eine spezifische Erzählform, die dem historiographischen Diskurs zugeordnet wird, und durch eine zuschauerbedingte Erwartungshaltung, die ein kontext- und kulturspezifisches Vorverständnis über Kriterien der Referentialiät und Authentizität aufruft.“128 In diesem Abschnitt möchte ich daher den Fokus von filmtheoretischer Ebene auf die Analyse von Verwendungskontexten verlagern. Ich werde dabei auf die Rezeption von „do-

125

Reitz/Kluge/Reinke: Wort und Film, S. 15.

126

Ebd., S. 84.

127

Ausnahmen bilden hier lediglich Filme, welche Gattungszuweisungen grundsätzlich in Frage stellen, zum Beispiel fingierte „found footage“-Filme oder „Mockumentaries“.

128

Decker, Christof: Problematische Wahrheitsansprüche des Dokumentarfilms. Anmerkungen zur ‚programmatischen Reflexivität’, in: Bredella/Lenz: Der amerikanische Dokumentarfilm, S. 67-80, hier S. 68.

162 | O RTUNG

kumentarischen“ Filmen und die Möglichkeiten einer Motivation der Zuschauer zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Film eingehen. Die Rezeptionsforschung, als systematische Beschäftigung mit „Filmverstehen“, lässt sich in vier Untersuchungsbereiche unterteilen, wobei sich diese überschneiden können. Erstens untersucht sie die „Filmrealität“, also alle im Film feststellbaren, formalen und technischen Informationen, Inhalt, Aufbau und Personen.129 Zweitens setzt sie sich mit der „Bedingungsrealität“ des Films, wie Produktionsbedingungen und der historisch-gesellschaftlichen Situation zur Entstehungszeit des Films und Filmtechnik, auseinander.130 Im Fall von „dokumentarischen“ Geschichtsfilmen kann auch die Quellenlage und Zugänglichkeit von Dokumenten oder Archivbildern zur Bedingungsrealität gezählt werden. Des Weiteren spielt die „Bezugsrealität“, also die inhaltliche und historische Problematik, die im Film thematisiert wird, eine Rolle. In welchem Verhältnis Filmbilder zu ihrem „realen“ Referenten stehen können und wie problematisch der Begriff der „Bezugsrealität“ ist, habe ich bereits im zweiten Kapitel erläutert. Als weiterer Untersuchungsbereich der Rezeptionsforschung gilt die „Wirkungsrealität“. Um diese zu ermitteln, sind unter anderem die Publikumsstruktur, Einsatzorte, Laufzeiten, Intentionen der Hersteller und Aufarbeitung der Rezeptionsdokumente des Films zu berücksichtigen.131 In Kapitel 2 habe ich bereits auf das Modell des Produktions- und Rezeptionszyklus hingewiesen, der das Verhältnis von Bedingungen, Produktion, Realität(en) und Wirkung schematisch veranschaulicht. Das Modell ist in leicht abgewandelten Formen bei Hohenberger, Hattendorf und Paech zu finden.132 Es stellt die Film-, Bedingungs-, Bezugs- und Wirkungsrealitäten im Verlauf des Produktions- und Rezeptionsprozesses in Bezug zueinander. Auf einer ersten Stufe wird die „vermutete Realität“ verortet. Sie wird vom Rezipierenden weitestgehend mit der „nichtfilmischen Realität“, nicht aber mit der im Film gezeigten Realität, gleichgesetzt. Paech betont, dass von „einer Differenz an Glaubwürdigkeit [...], die der Rezipient zu Lasten der Anwesenheit der Kamera [...] bei einem filmisch aufgezeichneten Ereignis“ be-

129

Korte, Helmut: Einführung in die Systematische Filmanalyse, Berlin 22001, S. 21.

130

Ebd., S. 17f.

131

Ebd., S. 23.

132

Das ursprünglich von Eva Hohenberger entwickelte Modell wurde u. a. von Joachim Paech und Manfred Hattendorf bearbeitet und erweitert. Ich beziehe mich auf ihre Ausführungen in: Hohenberger: Die Wirklichkeit des Films, S. 28-61; Hattendorf: Dokumentarfilm und Authentizität, S. 43-50; Paech: Einige Anmerkungen/Thesen zur Theorie und Kritik des Dokumentarfilms, S. 24-28.

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reits annimmt, ausgegangen werden muss.133 Die „nichtfilmische Realität“ stellt die, weder in ihrer Gesamtheit wahrnehmbare noch filmisch abbildbare Wirklichkeit dar. Die Filmemacher bedienen sich Teilen dieser Realität, indem sie beabsichtigen, Ausschnitte zu zeigen, zu inszenieren und zu verknüpfen. Sie generieren damit eine „vorfilmische Realität“. Sie ist intentional mit der nichtfilmischen Realität verknüpft. Durch die zeitliche oder auch räumliche Trennung, durch Improvisationen oder Zufälle, kann sie sich ihr aber nur annähern. Die vorfilmische Realität findet tatsächlich im Moment vor der Aufnahme, beispielsweise in der Auswahl eines Bildschirmausschnitts, statt. Von der nächsten Stufe des Produktionsprozesses, der „Realität Film“, kann die vorfilmische Realität allerdings durchaus abweichen. Die Differenz zwischen der nichtfilmischen und der vorfilmischen Realität wird erst im Moment der Realität Film, also in der „Diegese“ der gezeigten Erzähl- und Darstellungswirklichkeit greifbar.134 Der Grad der wahrgenommenen Differenz hängt auch vom Vorwissen der Reziptienten über die nichtfilmische Realität ab. Die Abweichungen können im Laufe des Aufnahmeprozesses durch die gesteigerte Einflussnahme der Regie oder der Wahrnehmung der Kamera zunehmen. Die nächste Stufe der „filmischen Realität“ ist zwischen dem Produktionsund Rezeptionsprozess einzuordnen. Sie ist als eine im Endprodukt Film stattfindende Wirklichkeitspräsentation zu verstehen. Zeitlich ist sie der Realität Film nachgeordnet und weicht durch Montagetechnik, Auswahlverfahren, Kürzungen, Narration, Kommentar und optischer und akustischer Nachbearbeitung von ihr ab. Hierbei können auch Versuche eines Rückgriffs auf die vorfilmische Realität stattfinden, wenn Interviews oder Szenen zugunsten einer vermeintlich in der vorfilmischen Realität präsenten Authentizität angepasst werden. Üblicherweise werden zum Beispiel Versprecher oder falsche Angaben im Schnitt korrigiert. Auf der letzten Stufe findet die „nachfilmische Realität“ statt. Der Moment der Rezeption ist spezifisch, da er von unter anderem Ort, Zeit und Zuschauern abhängig ist. Die nachfilmische Realität beruht demnach auf der filmischen Realität, aber sie wird immer wieder im Augenblick der Rezeption aktualisiert. Im umgekehrten Sinne aktualisiert auch die filmische Realität das Rezeptionsverhalten des Publikums. Das bisherige Vorwissen über beispielsweise Filminhalt oder Genrekonventionen wird erweitert und erneuert das Rezeptionsverhalten im nächsten Zyklus. Die folgende Darstellung soll den Produktions- und Rezeptionsprozess veranschaulichen.

133

Paech: Einige Anmerkungen/Thesen, S. 24.

134

Hattendorf: Dokumentarfilm und Authentizität, S. 47.

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Abbildung 14: Produktions- und Rezeptionszyklus

Quelle: Eigene Darstellung

Das Verhältnis von Produktion und Rezeption zeigt, dass der „Dokumentarfilm als eine Art von Äußerungs-Pakt“ zu betrachten ist, „der die Beziehung des (Film-)Textes zu seinem Adressaten im Rahmen einer diskursiven Pragmatik klärt.“135 Nicht der referentielle Bezug zur vorfilmischen Realität, sondern die Art der Rezeptionspraxis konstituiert den Film als „dokumentarisch“. Wie bereits erläutert, steht die Definition von Fiktion in Abhängigkeit zur Definition von Realität. Das Publikum legt folglich bei der Rezeption eines Films aktuelle Maßstäbe zur Unterscheidung zwischen fiktivisierendem und dokumentarisierendem Film an. Die filmische Realität wird an „intertextuellen Genrekonven-

135

Blümlinger: Blick auf das Bilder-Machen, S. 201.

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tionen und -erwartungen gemessen, geprägt von gesellschaftlichen Rezeptionsgewohnheiten.“136 Diese sind einem ständigen kulturellen und historischen Wandel unterworfen. Eva Hohenberger stellt heraus, dass nicht der dokumentarische Charakter von Filmbildern, sondern deren „dokumentarische[r] Effekt“137 als Wechselspiel zwischen den Erwartungen der Zuschauer und den textuellen Charakteristika des Films untersucht werden müssen.138 Dem Prozess der Rezeption – der „dokumentarisierenden Lektüre“ – sind, so Hohenberger, nicht nur Kriterien von Referentialität und Authentizität, sondern ebenso die Konstitution von Öffentlichkeit und Probleme sozialer Wissensvermittlung eingeschrieben.139 Folglich kann der Dokumentarfilm als soziale Praxis, verstanden werden sowie als eine im pragmatischen Sinn stets aufs neue auszuhandelnde Realitätskonstruktion, die sich in ihren Realitätsbezügen immer wieder neu positionieren muss. Decker bezeichnet diesen filmanalytischen Ansatz als „Programmatik der Reflexivität“.140 Neben der Analyse von formalen Bedingungen der Inhaltsästhetik des Dokumentarfilms, berücksichtigt dieser die Rezeption als soziale Praxis. Die „Programmatik der textuellen und rezeptionsbedingten Reflexivität“ versteht Decker als wesentliches Kriterium für die Verständigung über den Beitrag eines Filmes zum wissenschaftlichen Diskurs.141 Auch die Theorie der „Semio-Pragmatik“ nach Roger Odin stellt die Bedeutung der Rezeptionspraxis auf sowohl semantischer als auch pragmatischer Ebene heraus. Zur Einordnung dieses Konzepts möchte ich zunächst grundlegende Begriffe klären. Die Bildsemiotik richtet den Fokus auf die Zeichenhaftigkeit von Bildern. Damit berücksichtigt sie vor allem die Bedeutung der Verwendung von Zeichensystemen und -prozessen. Die Bildpragmatik dagegen versteht den Einsatz von Bildern als eine spezielle Form des kommunikativen Handelns. Das heißt, sie untersucht externe und interne kontextuelle Vorgaben, die sich aus den konkreten Bildtypen und -medien, den jeweiligen Bildfunktionen und - um gebungen sowie den spezifischen kognitiven Kompetenzen ergeben. 142 Pragmatische Bedingungen des Films können beispielsweise Institutionen, wie das Kino oder Fernsehen, und deren paratextuelle und kontextuelle Informationen,

136

Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 20.

137

Hohenberger verwendet diese Formulierung in Anlehnung an Guynn, William: To-

138

Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie, S. 29.

ward a reexamination of the documentary film: Theory and text, Berkely 1980. 139

Ebd.

140

Decker: Problematische Wahrheitsansprüche des Dokumentarfilms, S. 69.

141

Ebd.

142

Sachs-Hombach: Das kommunikative Bild, S. 163f.

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wie Kritiken, Programmankündigen oder Sendereihen, sein. Das Ziel des semio-pragmatischen Ansatzes ist es zu zeigen, dass die „Text-Produktion“143 ein doppelter Prozess zwischen Sender und Empfänger ist. Der Ansatz stützt sich auf die Annahme, dass sich „jede Textproduktionsarbeit durch die Kombination einer begrenzten Anzahl von Modi der Sinn- und Affektproduktion beschreiben lässt, die zu einem jeweils spezifischen Erfahrungstypus führt (Erfahrungen, die der Leser macht, Erfahrungen, auf die der Absender [...] zielt), und die zusammengenommen unsere kommunikative Kompetenz bilden.“144 Filme sind polysemantische Zeichensysteme und können zwar unterschiedlich, aber nicht beliebig entziffert werden. Ihre Rezeption hängt davon ab, wie die Rezipienten die Bilder entschlüsseln. Der Ästhetik und Semiotik von Bildern, Texttafeln wie Vor- oder Abspann und der Montage im Allgemeinen sind, laut Odin, „Lektüreanweisungen“ eingeschrieben, die das Publikum dazu motivieren sollen, den Film in einem bestimmten Modus zu „lesen“. Es lassen sich eine Vielzahl von „Lektüremodi“ – also die Art und Weise, wie Zuschauer den Film rezipieren – definieren, wie zum Beispiel der fiktionalisierende, spektakularisierende, fabularisierende oder dokumentarisierende Modus.145 In diesem Rahmen soll vor allem die dokumentarisierende Lektüre berücksichtigt werden. Der semio-pragmatische Ansatz ist eng mit der Theorie der Enunziation verknüpft. Der Begriff der Enunziation geht ursprünglich auf den Linguisten Emile Benveniste zurück, der zwischen dem Sprachakt und dem eigentlichen "Text" unterscheidet. Enunziation ist somit zunächst als Produktion zu verstehen, dann als Übergang von der virtuellen Instanz des Sprachsystems zur konkreten, individuellen, tatsächlichen Äußerung und schließlich als eine Aneignung durch die Anwesenheit des Sprechenden innerhalb seiner Rede.146 Der Enunziator kann vereinfacht auch als Äußerungsinstanz bezeichnet werden, wobei diese nicht notwendigerweise eine Person (Regisseur, Protagonist), sondern auch eine Apparatur (Kamera) oder Institution (Kino) sein kann. Ein Film kann eine Vielzahl von realen oder fingier-

143

Odin bedient sich stark linguistisch geprägter Termini wie „Text“ und „Lektüre“, die ich zugunsten der Nachvollziehbarkeit Odins Thesen übernehme; Odin: Kunst und Ästhetik bei Film und Fernsehen, S. 42.

144

Odin: Kunst und Ästhetik bei Film und Fernsehen, S. 42f.

145

Ebd.

146

Vgl. Benveniste, Emile: Problèmes de linguistique générale I. Paris 1966; Ders.: Problèmes de linguistique générale II. Paris 1974; Kessler, Frank/Lenk, Sabine/Müller, Jürgen E.: Christian Metz und die Enunziation. Einleitende Anmerkungen zur Übersetzung, in: montage AV 1(1994), S. 5-10.

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ten Enunziatoren auf verschiedenen Ebenen in sich tragen. Dementsprechend gibt es auch mehrere Möglichkeiten der Lektüremodi innerhalb eines Films.147 Bei der dokumentarisierenden Lektüre eines Films stimmt folglich die filmische Realität nicht automatisch mit der vorfilmischen Realität überein. Die Entscheidung, ob ein Film als fiktivisierend oder dokumentarisierend gelesen wird, liegt bei den Rezipienten. Bei der dokumentarisierenden Lektüre konstruieren sie einen als real angenommenen Enunziator.148 Das Publikum nimmt also beispielsweise die Kamera („Der Apparat hat zur dargestellten Zeit und an diesem Ort das so aufgezeichnet.“) oder die Regie („Sie hat tatsächlich dieses Interview geführt.“) als real an. Diesen Produktionsmodus bezeichnet Odin auch als individuellen, da die Rezipienten die Lektüre bestimmen. Im Gegensatz dazu steht die institutionelle Produktion, beispielsweise durch das Kino, das durch die Vorführung des Films im Rahmen einer Dokumentarfilmreihe den Lektüremodus bereits vor der eigentlichen Rezeption dominiert.149 Diese Trennung erachte ich allerdings nur bedingt für sinnvoll, da nie ausschließlich von dem einen oder anderen Modus ausgegangen werden kann. Film ist alleine aufgrund seiner Distributionswege kein Institutionsfreies Produkt. TV- oder Kino-Ausstrahlungen, DVD-Editionen oder Webvideos, um nur ein paar Möglichkeiten zu nennen, sind immer an eine Institution, die dem Film einen bestimmten diskursiven Rahmen gibt, gebunden. Dennoch kann sich das Publikum auch den Lektüreanweisungen einer Institution verweigern, wenn beispielsweise das genrespezifische Vorwissen dem institutionell vermittelten Modus völlig widerspricht. Die Bestimmung des Lektüremodus hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. An dieser Stelle soll vor allem auf die Anweisungen zugunsten einer dokumentarisierenden Lektüre eingegangen werden. Diese können sich auf einen gesamten Film, aber auch nur auf Fragmente beziehen. Das heißt, auf einer temporalen syntagmatischen Ebene können Zuschauer beispielsweise nur einen Filmausschnitt als „dokumentarisch“ akzeptieren. Dagegen auf einer topischen syntagmatischen Ebene – der „Achse des Simultanen“150 – kann das Publikum einen oder mehrere reale Enunziatoren konstruieren.151 Die folgenden Beispiele für dokumentarisierende Lektüreanweisungen können nur zur Erläuterung dienen, da die tatsächliche Rezeption als soziale Praxis spezifisch ist und nicht allgemeingültig beschrieben werden kann. Ein Text ist eine übliche Methode zur Lek-

147

Odin: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, S. 132.

148

Ebd., S. 131.

149

Ebd., S. 134.

150

Vgl. Metz, Christian: Sprache und Film, Frankfurt a.M. 1973, S. 188f.

151

Odin: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, S. 133.

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türeanweisung. In der Regel werden bereits durch den Vorspann Hinweise gegeben, auf welche Weise der Film gelesen werden soll, indem beispielsweise auf den Filmtitel die Information „ein Dokumentarfilm von“ oder ähnliches folgt. Bei der fiktivisierenden Lektüreanweisung sind meist die Namen der Schauspieler, der Drehbuchautoren oder Hinweise wie „nach einer Geschichte von“ zu finden.152 Lektüreanweisungen in den Filmbildern selbst sind je nach Ästhetik und Kameratechnik schwieriger zu unterscheiden. Zumindest im Bereich der TV-Produktionen hat sich eine bestimmte Form von dokumentarisierenden Bildern etabliert. Reportagen sind meist durch ein bewegtes, technisch „unsauberes“ Bild, Direktton und der Hinwendung der Protagonisten/Reporter zur Kamera identifizierbar.153 Viele Arten von Dokumentationen, zum Beispiel der ethnografische Film, demonstrieren durch lange Beobachtungen und nur vereinzeltem Kommentar ihre authentisch-objektive Herangehensweise. Solche Authentisierungsstrategien und „truth claims“ können beim Publikum die Zuordnung zu einem „dokumentarischen“ Film aktivieren.154 Die Anzahl und Übereinstimmung der Anweisungen zur dokumentarisierenden Lektüre innerhalb eines Films entscheiden über die Art der Lektüre. Somit können manche Filme „dokumentarischer“ rezipiert werden als andere.155 Dementsprechend kann es auch hybride Formen geben, wenn beispielsweise innerhalb eines Films dokumentarisierende und fiktivisierende Lektüreanweisungen auftreten. Ebenso sind diskontinuierliche Lektüren möglich, wenn ein Modus unterbrochen, abgelöst oder an anderer Stelle wieder fortgesetzt wird. Bei einer extremen Ausprägung von widersprüchlichen Lektüreanweisungen ist davon auszugehen, dass die Rezipienten sich nicht endgültig für einen Modus entscheiden können und zur Reflexion über die ihnen präsentierten Lektüreanweisungen motiviert werden.156 Somit regt eine entsprechende Lektüre Fragen nach den Motiven der Autoren und nach den angewandten Methoden des (dokumentarisierenden) Produktionsmodus an. Hybride oder diskontinuierliche Lektüren können auf das Publikum verunsichernd wirken. Es muss den dokumentarischen oder fiktiven Status von Bildern, Tönen und Texten hinterfragen. „Diese Unsicherheit über den filmischen und pragmatischen Ort der Aussage leitet immer eine metadiskursive Lektüre ein, welche die Reflexion über Kodes fördert.“157 Die Rezipienten werden damit nicht zu einem

152

Odin: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, S. 136.

153

Ebd., S. 137f.

154

Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie, S. 26.

155

Odin: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, S. 139.

156

Ebd.

157

Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 36.

T EIL 2: G ESCHICHTE IM F ILM – DER F ILM O RTUNG

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bestimmten Lektüremodus, sondern zur Reflexion über die Position der Enunziatoren und der eigenen diskursiven Haltung angeregt. Durch die Unsicherheit der Zuschauer rückt der pragmatische Status der Bilder damit „in den Zwischenraum einer fiktionalisierenden Prozesshaftigkeit, an einen diskursiven Ort zwischen der Welt der Leinwand und der Wirklichkeit, zwischen Fiktion und Nichtfiktion.“158 Die Berücksichtigung der semio-pragmatischen Lektüremodi zeigt folglich eine Möglichkeit auf, wie Filme durch die Praxis ihrer Rezeption eine kritische Dimension erhalten. Für Filme über Geschichte bedeutet dies, dass die Motivation des Publikums zur Auseinandersetzung mit dem Film und seiner Wahrnehmung eine Form von kritischer Debatte sein kann. Die zwischen den Rezipienten, dem Film und dem diskursiven Rezeptionsraum stattfindende Austauschpraxis kann daher als eine Verhandlung über historiophotische Filme und als „Wirkungskonstruktion“159 betrachtet werden. „Wenn wir uns verunsichern lassen, so fordern diese Filme Auseinandersetzung mit dem pragmatischen und semantischen Bezug der Filmwelt [...] zu ihrem Referenten; so rütteln sie auch an der Vorstellung, die wir uns von er aktuellen Welt machen, und problematisieren – über die seit längerem debattierte Krise der Repräsentation hinausführend – den Status der Bilder in unserer Gesellschaft.“160 Der semio-pragmatische Ansatz plädiert außerdem für die Aufhebung einer Unterscheidung zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Da Dokumentarfilm keine fiktionsfreie Diskursform ist und die „Wirklichkeit“ der dargestellten Ereignisse grundsätzlich irrealisiert, kann nur von dokumentarisierenden Filmen in Abgrenzung zu Filmen, die sich auf eine vollständig fingierte Bezugsrealität stützen, gesprochen werden. Odin lehnt dementsprechend Genrezuordnungen kategorisch ab und schlägt alternativ vor, jeweils von einem Ensemble von Filmen zu sprechen, die bestimmte Lektüreanweisungen teilen. Ein Film gehört damit zum dokumentarischen Ensemble, „wenn er in seine Struktur explizit [...] die Anweisung zur Durchführung der dokumentarisierenden Lektüre integriert, d.h. wenn er die dokumentarisierende Lektüre programmiert.“161

158

Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden, S. 36.

159

Ebd., S. 27.

160

Ebd., S. 36.

161

Odin: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, S. 135.

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3.5 Historiophotische Geschichtsschreibung: Methodenkatalog Der Ansatz einer historiophotischen Geschichtsschreibung eröffnet Möglichkeiten, Geschichte filmisch so darzustellen, dass sie wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Filme verfügen über eine Vielzahl von Kodierungsformen: realistisch, symbolisch, imaginär, auditiv, visuell oder verbal. Der Einsatz dieser Codes, ihre Korrespondenz zueinander und die ausgelöste Interaktion mit dem Publikum bieten die Chance, Formen der Geschichtskonstruktion zu schaffen, die selbstständig und ohne normative Unterscheidung zur textuellen Geschichtsschreibung anerkannt werden können. Filmische Methoden für historiophotisches Arbeiten sind bisher kaum beschrieben worden. Eine auch nur annähernd vollständige Sammlung ist hier nicht möglich. Die Methoden, die ich im Folgenden aufführen und erläutern möchte, erschließen sich daher aus den bisherigen theoretischen Überlegungen. Ihre Anwendbarkeit muss im vierten Kapitel überprüft werden. Einsatz und Vermischung von imaginären und realen Bildern Filmbilder tragen in sich eine radikale Skepsis gegenüber ihrem vermeintlich objektiven und dokumentarischen Charakter.162 Ihr Entstehungsprozess ist geprägt von Entscheidungen, Intentionen, Kürzungen und Verfremdungen. Der gezielte Einsatz von Filmbildern, die nicht versuchen, eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Dokument und Fiktion zu generieren, ermöglicht eine bildsprachliche Kritik am Objektivitätsanspruch von Geschichtsschreibung. Mit der Aufhebung von Gegensatzpaaren wie Realität und Imagination können Filme die Abgrenzung von Gegenwart und Geschichte auflösen und konstruieren eine Wahrnehmung von Geschichte als Aktualisierung/Vergegenwärtigung von Vergangenheit im Jetzt. Indem Filmbilder diese Haltung reflektieren und wahrnehmbar machen, können sie sich gegen den Anspruch auf eine allgemeingültige „historische Wahrheit“ wenden und sich für die Offenlegung relativer und polyvalenter Wahrheiten einsetzen.163 Eine „Enthierarchisierung“ von Bildern und Dokumenten kann durch den gezielten Eingriff ins Filmmaterial und dessen Abbildung vorgenommen werden. Das Verhältnis der Filmbilder und damit der Filmemacher zur Gegenwart kann im Aufbau und der Montage im Film zum Ausdruck kommen. Archiv-, Spur- oder Ableitungsbilder, die nicht nach ihrem „Wahrheitsgehalt“ oder ihrem dokumentarischen Status gemessen werden, erzeugen

162

Meyer: Filme über sich selbst, S. 205.

163

Williams: Spiegel ohne Gedächtnisse, S. 42.

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eine Wahrnehmung von Geschichte als Relationenmessung zur Vergangenheit.164 Autonomer Einsatz von Bild, Ton und Text Film zeichnet sich durch seine multimodalen Formen aus. Werden Bilder, Töne und Texte als selbstständige und vollwertige Präsentationsformen berücksichtigt, verschaffen sie einen spezifischen Blick auf Geschichte im Film, der monomodal nicht möglich wäre. Bewegte und statische Bilder, Fotografien, Illustrationen, Geräusche, Sprache, Musik und Texttafeln können durch einzelnen oder kombinierten Einsatz einen multiperspektivischen Blick auf den Gegenstand des Films richten. Narrative „Leerstellen“, die aufgrund ihrer fehlenden Bildhaftigkeit nicht gezeigt oder adäquat beschrieben werden können, erhalten darüber hinaus durch den Einsatz von alternativen Erzähl- und Filmmodi eine assoziative Darstellungsform. Außerdem kann der autonome Einsatz von Bildern und Tönen Darstellungs-immanente Konflikte oder Konkurrenzen sichtbar machen. Irrationale Schnitte und Kombinationen von akustischen oder visuellen Elementen können Intensivierungen, Irritationen und wechselseitige Verfremdungen schaffen, die auf Widersprüchlichkeiten in der Konstruktion „Geschichte“ und die Subjektivität einzelner Perspektiven hinweisen. Auflösung von Linearität Der autonome, also getrennte oder asynchrone, Einsatz von Bildern und Tönen kann darüber hinaus eine Auflösung von raum-zeitlichen Verknüpfungen schaffen und damit eine differenzierte Darstellung von historischen und gegenwärtigen Räumen und Zeiten, ihren Überschneidungen und Gleichzeitigkeiten liefern. Indem die Sukzessionslogik von Bewegung und Zeit im Raum gebrochen wird, kann auch die Vorstellung eines determinierten und linearen Verlaufs der Geschichte problematisiert werden. Mithilfe diskontinuierlicher Montage, beispielsweise falsche Anschlüsse oder Wiederholungen, werden Filmbilder aus einem funktionalen und eindimensionalen Verwendungszusammenhang herausgenommen. Damit können sich in Form von „dialektischen Zeit-Bildern“ assoziative Verknüpfungen, Neu- und Wechselkontextualisierungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit oder zwischen sozialen, gesellschaftlichen oder räumlichen Strukturen ergeben.165

164

Berg: Film als historische Forschung, S. 46f.

165

Williams: Spiegel ohne Gedächtnisse, S. 34.

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Fragmentarisierung und „Miniaturen“ Ereignisse der Vergangenheit entziehen sich dem unmittelbaren Zugriff von gegenwärtigen Konstruktionen. Ihre Darstellung kann daher nie vollständig, totalisierbar oder im Ganzen verständlich sein. Um dieses Bewusstsein wahrnehmbar zu machen, kann Geschichte im Film in Fragmenten, Bruchstücken und Miniaturen zum Ausdruck kommen. Miniaturen sind in sich geschlossene Konzentrate, die sich durch Kürze, Montierbarkeit und Assoziierbarkeit auszeichnen.166 Sie verweisen zum einen auf die Unmöglichkeit eines Anspruchs auf ganzheitliche Wiedergabe von (historischer) Wirklichkeit.167 Zum anderen bietet sie die Chance, Nicht-Geschichten, das heißt vergessene bruchstückhafte Bezüge, Zufälle, Wahrnehmungen und Erlebnisse, darzustellen. Damit wenden sie sich von der Praxis der „Meistererzählungen“ ab und widmen sich der Präsentation von „histories“. Talking heads Der Einsatz von Zeitzeugen zur vermeintlichen Authentifizierung von Dokumentarfilmen gehört zu den aktuell überwiegend praktizierten Methoden im Fernsehen. Eine grundsätzliche Absage an sogenannte „talking heads“ verkennt aber die Möglichkeiten eines solchen filmischen Mittels. Nicht nur Mitlebende „erinnern“ Vergangenheit in aktualisierter Form in der Gegenwart. Aussagen von Menschen, die historische Ereignisse und ihre Bedeutung anhand historiographischer Aufzeichnungen, eigener oder tradierter Erinnerung reflektieren, geben weniger nicht nur Aufschluss darüber „was“ war, als darüber, welche Bedeutung dem „warum“ und „wie“ beigemessen wird. Damit kann ihre Aussage das Verhältnis von Gegenwart zur Vergangenheit im Rahmen von Erinnerungs-, Verdrängungs- und Überlieferungsdiskursen beschreiben und erhält damit eine geschichtswissenschaftliche Qualität Darstellung von kritischer Selbstbezüglichkeit Selbstreferenzielle Methoden können das Publikum auf die allgemeinen Bedingungen des „Produkts Film“ hinweisen. Die Sichtbarmachung der technischen Apparatur, der Recherche- und Produktionsbedingungen und des Eingriffs der Filmemacher im Moment der Aufnahme und der Montage können dafür sorgen, dass sich die Zuschauer nicht der illusionierenden Wirkung vermeintlich dokumentarischer Bilder hingeben, sondern Film als einen Vorgang manipulativer Eingriffe in die vorfilmische und die filmische Realität verstehen. Dabei müssen

166

Meyer: Filme über sich selbst, S. 51f.

167

Berg: Film als historische Forschung, S. 53.

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sich diese Hinweise allerdings klar von Authentifizierungsstrategien abgrenzen. Möglich ist dies nur, wenn auch Strategien und Intentionen der Darstellung im Film selbst reflektiert und infrage gestellt werden. Eine selbstreflexive und kritische Haltung zur eigenen Geschichtsschreibungspraxis können Filme erhalten, indem sie die ihren Konstruktionscharakter herausstellen und sich von absoluten Wahrheitsansprüchen distanzieren, zum Beispiel wenn eigene Grenzen oder Meinungen durch verbale Eingriffe kenntlich gemacht werden. Eine Auseinandersetzung des Publikums mit seinen eigenen Rezeptionsgewohnheiten und Meinungen werden durch Filmbilder im performativen Modus angeregt. Subjektiv-provokative Positionierungen der Filmemacher können Zuschauern ihren Fokus auf sich selbst richten lassen. Umso aufdringlicher der Film seine Subjektivität zum Gegenstand macht, desto mehr kann das Publikum zur Selbstbetrachtung bewegt werden. Integration und Provokation des Publikums Filme konstituieren sich nicht nur auf der Leinwand, sondern in der Wahrnehmung durch die Rezipienten. Diese ist von einer großen Anzahl von Faktoren, von der Vorführungssituation bis hin zu den Sehgewohnheiten der Zuschauer, abhängig. Eine Berücksichtigung von Kriterien, welche die Wahrnehmung und Interpretation des Films beeinflussen können (nicht müssen!), ermöglichen eine Form der kritische Revision des Sehens, des Gesehenen und der eigenen Sehpraxis durch das Publikum, die einer „inneren“ Debatte gleichkommt. „Anweisungen“ im Film zu einer entsprechenden Rezeption können in Form von demonstrativen Positionierungen oder Widersprüchen stattfinden. Dafür bieten sich vor allem Hinweise im üblicherweise Genre-konventionalisierten Vor- oder Abspann eines Films an. Die bereits erläuterte Vermischung von realen und imaginären Bildern und der autonome Einsatz von Bildern und Tönen können darüber hinaus für Irritationen und Unentschlossenheit bei den Rezipierenden sorgen. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Effektivität einer Anregung des Publikums zur kritischen Auseinandersetzung stark von sozialen, kulturellen und situativen Faktoren abhängig und die Wirksamkeit der Lektüreanweisungen nicht absehbar ist.

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4. A NALYSE

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Im folgenden vierten Teil werden die erarbeiteten Methoden zur filmischen Geschichtsschreibung am Film Ortung überprüft. Zunächst möchte ich allerdings die Entstehung des eingangs erwähnten Projekts und den historischen Hintergrund des bearbeiteten Themas beschreiben sowie eine kurze Zusammenfassung des Films geben. Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt im Rahmen des Förderschwerpunkts „Geschichte zwischen Literatur, Film und Wissenschaft“ Projekte, die sich interdisziplinär mit verschiedenen Präsentationsformen von Geschichte auseinandersetzen. Das Web-Wissenschaftsportal „L.I.S.A.“1, das den Austausch zwischen Wissenschaftlern und ihren Arbeiten fördern möchte, soll eine Plattform für diese multimedialen Projekte bieten. Die Versuche von Wissenschaftlern, ihre Arbeiten im Film zu präsentieren, ergaben jedoch gerade dann Probleme, wenn sie auf die technische und handwerkliche Umsetzung von professionellen Filmproduktionsfirmen angewiesen waren. Es zeigte sich, dass die filmische Aufarbeitung von Forschungsprojekten nicht als Auftragsarbeit funktionieren konnte, solange eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Wissenschaft und ihren möglichen Repräsentationsformen fehlte. Auf die Initiative des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung und in Zusammenarbeit mit dem Historiker der Alten Geschichte am Historischen Seminar der LMU München, Martin Zimmermann, sowie dem Dokumentarfilmer und Lehrbeauftragten der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Thomas Heise, wurde deshalb ein interdisziplinäres Filmprojekt geschaffen. In diesem sollten Studierende der Geschichte und des Dokumentarfilms gemeinsam eine entsprechende filmische Darstellung von Geschichte erarbeiten. Im Oktober 2010 wurde hierfür ein siebenköpfiges Team von drei Dokumentarfilmstudenten und vier Historikern beauftragt. Die fachlichen und künstlerischen Schwerpunkte der Gruppe waren relativ vielfältig und reichten, auf wissenschaftlicher Seite, von klassischer Archäologie, über Amerikanische Kulturgeschichte bis hin zur deutschen Zeitgeschichte. Dementsprechend gewährleistete die Stiftung jegliche Freiheit bezüglich des Filminhalts. Nach einer etwa fünfmonatigen Phase der Themensuche einigte sich die Gruppe Anfang 2011 schließlich auf die Geschichte der Gemeinde Stetten am kalten Markt (Baden-Württemberg) und dem dortigen Truppenübungsplatz „Heuberg“ als Gegenstand des geplanten Films. Im Rahmen mehrerer gemeinsamer Treffen wurden die Möglichkeiten einer filmischen Aufarbeitung der Geschichte dieses Ortes,

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L.I.S.A. Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung, URL: http://www. lisa.gerda-henkel-stiftung.de.

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auch im Vergleich zu aktuellen „Vergangenheitsfilmen“, diskutiert. Zwei Vorort-Recherchen im März und Juni 2010 schafften erste Kontakte zu ansässigen Personen und Einblicke in die bisherige Auseinandersetzung mit der lokalen Vergangenheit. Neben einer im Jahr 1999 entstandenen Ortschronik2 und nicht publizierten Schriften, wie ein von der Bundeswehr herausgegebener 100jähriger Rückblick auf die Geschichte der Garnison3, stand als wissenschaftlicher Beitrag lediglich die Dissertation des Historikers Markus Kienle zum Konzentrationslager Heuberg zur Verfügung.4 In Vorbereitung für die Dreharbeiten recherchierten deshalb sowohl die Studierenden der Geschichte als auch des Dokumentarfilms im Gemeindearchiv in Stetten a.k.M., dem Kreisarchivs und Staatsarchiv in Sigmaringen, dem Militärarchiv in Freiburg, Bundesarchiv in Berlin und dem Tagebucharchiv in Emmendingen. Die Recherchen im Gemeinde-, Kreisund Staatsarchiv wurden auch während der Drehphasen fortgesetzt. Die Projektgruppe hielt sich für zwei, insgesamt 70-tägige, Drehphasen im Herbst und Winter 2011/2012 in Stetten a.k.M. auf. Um einen möglichst intensiven Kontakt mit den Menschen vor Ort aufbauen zu können, bezog das Team für den Drehzeitraum ein von der Gemeinde zur Verfügung gestelltes ehemaliges Kasernengebäude. Dadurch verbrachten die Teammitglieder nicht nur ihre „Arbeitszeit“, sondern auch ihre Freizeit fast ausnahmslos auf dem Heuberg und waren in der Lage, über die Dreharbeiten hinaus als „Dorfbewohner auf Zeit“ Erfahrungen zu machen, welche die Entstehung des Films nachhaltig beeinflusst haben. Die erste sechswöchige Drehphase wurde parallel von intensiver Archivarbeit und Recherchen begleitet. Schwierigkeiten für eine thematische Schwerpunktsetzung bestanden zunächst vor allem deshalb, weil die Geschichte des Ortes und des Truppenübungsplatzes nur teilweise dokumentiert ist. Da der Anspruch des Teams jedoch darin lag, nicht bereits erschlossene Sachverhalte lediglich zu reproduzieren, sondern die Dreharbeiten und Recherchen zur Schaffung und Auswertung von neuen Quellen zu nutzen, entstand eine intensive Auseinandersetzung mit zahllosen Akten und Dokumenten, deren „Geschichten“ und Abbildbarkeit im Film getestet werden mussten. Parallel zu der Archiv- und Recherchearbeit „vermaßen“ die Kameraführenden Studierenden Marco Kugel und Eduard Stürmer das Forschungsfeld

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Jeuck/Schaffer: 1200 Jahre Stetten am kalten Markt.

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100 Jahre Garnison Stetten a.k.M. Truppenübungsplatz Heuberg. 50 Jahre Bundeswehrdienstleistungszentrum. 50 Jahre Truppenübungsplatzfeuerwehr, hg. v. Bundeswehr Garnison Stetten a.k.M., Stetten a.k.M. 2010.

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Kienle, Markus: Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt, Ulm/Münster 1998.

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„Heuberg“ mit Bild und Ton. Dabei verfolgten sie das Ziel, topologische und soziale Räume sowie deren „Historizität“ zu erfassen. Weder die Recherchearbeiten noch die ersten Aufnahmen folgten einem festgesetzten Konzept. Damit sollte eine Offenheit für mögliche, auch unerwartete Themenkomplexe gewahrt bleiben. Mit fortschreitenden Dreharbeiten bildete sich aber schließlich eine Zahl von Schwerpunktthemen heraus, die intensiver verfolgt wurden. Mithilfe von Interviews, Alltags- und Arbeitsbeobachtungen wurde Bild- und Tonmaterial geschaffen, dass für sich alleine oder in Ergänzung zu Archiv- oder Egodokumenten als Material für den Film dienen sollte. Nach Abschluss der Dreharbeiten im Februar 2012 sah sich das Team mit über 100 Stunden Bild- und Tonmaterial (darunter 17 Interviews) sowie hunderten von Dokumenten aus Archiven und eigenen Recherchen konfrontiert. Die Auswertung des gesammelten und geschaffenen Materials, die Anfertigung von Interviewtranskriptionen und Sortierung von Bild- und Tonmaterial nahm mehrere Monate in Anspruch. Im Juni 2012 schließlich konnte mit der eigentlichen Montage des Films begonnen geworden. Bilder und Dokumente aus unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Kontexten mussten im Schnitt zusammenfinden. Dabei wurde das ursprüngliche Anliegen des Projekts, keine einzige gültige „Meistererzählung“ zu schaffen, erneut zur Herausforderung. Im Oktober 2012 waren der Schnitt und die Postproduktion des Films schließlich abgeschlossen. 4.1 Synopsis des Films Der Film Ortung beschäftigt sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart der Gemeinde Stetten am kalten Markt auf dem Heuberg. Moralische, soziale, ökonomische und militärische Konflikte und Allianzen prägen seit einem Jahrhundert das Leben der Gemeinde. Das Militär war und ist hier der größte Arbeitgeber. Anlässlich des Ersten Weltkriegs wurden auf den ehemaligen Ländereien des Dorfes ein Truppenlager und Übungsplatz eingerichtet. Dank seiner Lage und Infrastruktur ist dieses Gelände seitdem unter fast ausschließlich militärischer Verwaltung. Seit 1914 bis heute sind die Gebäude des „Lagers Heuberg“ von Reichswehr, Wehrmacht, französischem Besatzungsmilitär und Bundeswehr belegt worden. Am gleichen Ort existierten aber auch mehrere Kriegsgefangenenlager, ein Kinderheim und ein Konzentrationslager. Zugleich bot der Heuberg Wohnraum, Arbeit, soziales Umfeld und Heimat. Im Zentrum des Films stehen Menschen, die – ungeachtet ihrer Lebensspannen und unabhängig von Räumen wie Zeiten – Erfahrungen und Erinnerungen teilen: Der Bürgermeister der Gemeinde, der mit wirtschaftlichen und demographischen Problemen und der dro-

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henden Schließung der Kaserne zu kämpfen hat. Der jüdische Sozialdemokrat, der das Lager nicht überlebte. Das junge Mädchen, das den Sommer auf dem Heuberg verbringt, und in ihren Briefen von ihrem Leben im Lager erzählt. Der ehemalige Maler und Wehrmachtssoldat, der den Heuberg nur für den Frontdienst verlassen hat und mit dem Vergessen und Erinnern ringt. Der Oberleutnant der Bundeswehr, der in einem stillgelegten Kasernengebäude eine kleine militärhistorische Sammlung betreibt. Die Wirtin einer Bar, die zur Zeit der französischen Truppen in Deutschland noch mehrere Tanzlokale unterhalten konnte. Der deutschrussische Wäschereibetreiber aus Kasachstan, der hier sein Zuhause gefunden hat. Der Film verbindet diese Menschen mithilfe von Tagebüchern, Tagesbefehlen, Briefen, Orten und Fotografien. 4.2 Filmbilder und Quellen: Zu gefundenem, geschaffenem und hybriden Material Ein zentraler Aspekt der bisherigen Überlegungen war die Frage nach Filmbildern. Woher stammen sie? Wie wurden sie ausgewählt? Wie haben die Filmemacher sie manipuliert? Wie wurden sie montiert? Um für die Analyse eine gewisse Transparenz der in Ortung verwendeten Bildern zu bieten, möchte ich im Folgenden auf die verschiedenen Film-, Bild-, Ton- und Textmaterialien eingehen, ihre Bezugsquellen und ihre Entstehung offenlegen. Die Materialien, die für den Film erschlossen oder durch die Dreharbeiten „geschaffen“ wurden, gliedern sich in drei Gruppen. Vorgefundene Materialien (A) Unter Materialien der Gruppe A werden alle Arten von Materialien verstanden, die in Archiven, Sammlungen, Institutionen oder privaten Haushalten vorgefunden wurden. Darunter fallen die Kategorien Schriftdokumente (z. B. Korrespondenz einer Institution), Egodokumente (z. B. Tagebuchaufzeichnungen), Fotografien und Videoaufnahmen (z. B. Privataufnahmen). Ihr Bezug zur Vergangenheit ist in der Regel der des archive modes, das heißt, sie sind zunächst als Quellen ihrer Entstehungszeit und ihres Kontextes zu betrachten. Die Problematik von vorgefundenen Materialien liegt in ihrer Visualisierung. Text- oder Fotodokumente können zwar unter Umständen als autonome Filmbilder dargestellt werden. Ihr Informationscharakter ist aber oft nicht mit den Vorgaben von Film kompatibel. So lassen sich beispielsweise fotografische Abbildungen nicht immer in die standardisierte Kadrage ästhetisch ansprechend einsetzen. Textdokumente zeigen das gleiche Problem. Sie können zwar als Bild im Film gezeigt werden, aber ihre Information, die das Publikum ja erst lesend erfassen muss, ist

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in der Regel zu umfangreich und formalisiert. Dennoch sind häufig abgefilmte Textdokumente als Informationsträger in TV-Dokumentarfilmen zu finden. Die narrativen und ästhetischen Möglichkeiten im Film werden dabei allerdings kaum ausgenutzt. Neben „historischen“ Dokumenten zähle ich auch gegenwärtig auftretende Text- oder Bilddokumente zur Gruppe der vorgefundenen Materialien, da sie – wie Archivalien – als diskursiver Ausdruck ihrer Entstehungszeit verstanden werden können. Die Bandbreite dieser Dokumente reicht von Denkmalsinschriften, über Werbung bis zu Informationstafeln. Geschaffene Materialien (B) Unter Materialien der Gruppe B werden alle Arten von Materialien verstanden, die im Rahmen des Produktionszeitraums durch Einsatz von Kamera und Tonaufzeichnungsgeräten geschaffen wurden. Dazu zählen bewegte Bilder, wie beispielsweise Aufnahmen von Landschaften, Menschen oder Situationen. Außerdem Gespräche, wie Interviews, spontane Gesprächssituationen unter Personen oder den Filmemacher, und Tonaufnahmen von beispielsweise atmosphärischen Geräuschen. Die Materialien dieser Gruppe sind in der Regel der Versuch einer Abbildung der vorfilmischen Realität und zeichnen sich häufig durch selbstreferentielle Hinweise aus, wie beispielsweise die Fragestellung des Interviewers im On-Ton. Der manipulative Eingriff in die Entstehung dieser Filmbilder ist allerdings nicht immer evident. Gespräche oder Situationen müssen oft aus technischen Gründen vorab besprochen werden und sind somit zwar nicht notwendigerweise inhaltlich, aber in ihrem zeitlichen und räumlichen Auftreten inszeniert. Ihr Verhältnis zur Vergangenheit kann sowohl im trace mode als auch im connotation mode zum Ausdruck kommen. Hybride Materialien (C) Materialien, die aus der Kombination von A und B gebildet wurden, bezeichne ich als hybride Materialien der Gruppe C. Darunter zählen zunächst Vertonungen, wie die Aufnahme einer Sprecherstimme, die ein Dokument der Gruppe A liest und im Off-Ton des Films zu hören ist. Auch Texttafeln, die Dokumente der Gruppe A verschriftlichen, und Detailausschnitte oder Nachbearbeitung von Fotografien gehören zu den hybriden Materialien. Auch diese können im trace mode oder connotation mode auftreten. Durch die gegenwärtige Verfremdung der gefundenen Materialien kann allerdings das Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit besonders als Ableitungsbild wahrnehmbar werden. Diese Kategorisierung soll vor allem auf Entstehungskontext, Zeit, Urheber und den Eingriff im Rahmen von Dreharbeiten und Schnitt hinweisen. Dabei wird klar, dass beispielsweise ein Textdokument zwar anfangs zur Gruppe der

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vorgefundenen Materialien gezählt werden kann. Durch seine Verwendung im Rahmen der Dreharbeiten oder in der Postproduktion sowie durch Bearbeitung oder Kombination mit anderen Materialien verändert sich aber der Status des Materials. Ein ursprünglich archivarisches Dokument der 1940er Jahre kann beispielsweise den Status hybriden Materials im Jahr 2012 erhalten. Um die Kategorisierung der Materialtypen kenntlich zu machen, sind die einzelnen Bilder, Töne und Texte im Szenenprotokoll (siehe Anhang) mit den entsprechenden Materialgruppenkürzeln versehen. 4.3 Analyse von Filmbildern und Montage Den Aufbau auf visueller und auditiver Ebene habe ich in Form eines erweiterten Szeneprotokolls, das im Anhang beiliegt, systematisch analysiert. Die Ebene „Bild“ unterteilt sich in folgende Bereiche: Unter „Bewegten“ Bildern sind alle sukzessiven Bildfolgen zu verstehen. Die Kategorie „Still“ umfasst alle Standbildaufnahmen, wie abgefilmte oder digital gescannte Fotografien, Abbildungen oder Karten. Unter „Text“-Bildern sind zum einen in der Postproduktion entstandene Texttafeln zu verstehen, die beispielsweise Schriftdokumente der Materialgruppe A wiedergeben, oder aber bewegte Aufnahmen, die einen Text zum zentralen und lesbaren Gegenstand haben, wie zum Beispiel ein gefilmtes Straßenschild. Die Ebene „Ton“ unterteilt sich in Originaltöne (OT) und atmosphärische Töne. Zur ersten Gruppe zählen Aussagen von Personen oder Sprechern im Interview oder in Gesprächssituationen. Unter Atmosphäre ordne ich alle wahrnehmbaren natürlichen oder künstlich erzeugten Töne, wie beispielsweise Wind, Schuss- oder Straßenverkehrsgeräusche. Alle im Film sicht- oder hörbaren verbalen Äußerungen oder Texte sind im vollständigen Transkript des Films ebenfalls im Anhang zu finden. Um Themenkomplexe, (dis)kontinuierliche Erzählstränge, motivische Parallelen oder Gleichzeitigkeiten in Bild und Ton übersichtlich erkennbar zu machen, sind die einzelnen Szenen oder Aufnahmen in der fünften Spalte verschlagwortet. Teilt sich eine Szene in mehrere Ebenen, zum Beispiel wenn Bilder und Töne autonom von einander eingesetzt werden, ergeben sich dementsprechend getrennte Schlagwortsammlungen. In der sechsten Spalte ist der Status des verwendeten Materials, wie in 4.3 erläutert, vermerkt. Im folgenden interpretativen Teil der Analyse möchte ich zunächst die Montage im Gesamten auswerten. Daran schließt sich die exemplarische Untersuchung von Themenkomplexen und Miniaturen an.

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4.3.1 Chronologie und Aufbau Die Montage des Films folgt grundsätzlich einem chronologischen Aufbau. Die erzählte Zeitspanne erstreckt sich von etwa 1914 bis 2012. Die Erzählung läuft von der Vergangenheit, von einzelnen Unterbrechungen abgesehen, der Gegenwart zu. Jahreszeitenwechsel und Hinweise zur zeitlichen Einordnung, wie Weihnachten, Sylvester und Fastnacht, finden in korrekter Reihenfolge statt. Ebenso verhält es sich mit den erzählten Wechseln zwischen Tag und Nacht, Lichtstimmungen und Wetterverhältnissen. Damit folgt die Montage auch einer gewissen historischen Phasengliederung, wie beispielsweise 1914-1918 oder 1933-1945. Bei genauerer Betrachtung fällt allerdings auf, dass Ereignisse zwar meist chronologisch, aber dennoch mit Bezügen auf andere Phasen oder die Gegenwart durchbrochen erzählt werden. Kenntlich gemacht wird dies in der Regel durch die Nennung oder Darstellung von Orts- und Zeitangaben oder historischen Symbolen. Nach der Exposition des Films (Szene 1-3), die zur Aufnahme einer Schafherde eine einleitende Erzählung zur Geschichte des Heubergs gibt, folgen zunächst in der Gegenwart verortete Szenen (Sz. 4-6), die erst durch den auf das Jahr 1941 datierten Brief, der das gezeigte Bild zu kommentieren scheint, einen Bezug zur Vergangenheit erhalten. Der Film zeigt einen Russenfriedhof aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und auch der Brief erwähnt die „Entdeckung“ dieses Friedhofs. Damit „springt“ die Erzählung von der Gegenwart über 1941 schließlich in das Jahr 1914.5 Die folgenden Szenen 6-9 entsprechen der ereignisgeschichtlichen Periodisierung des Ersten Weltkriegs. Die zehnte Szene verlegt die Erzählung zwar durch die Darstellung der Arbeit der Archivarin im „Jetzt“ wieder in die Gegenwart, aber der Gegenstand der Szene – nämlich die Akte von historischen Dokumenten – behält auch ohne Datierung ihren Bezugspunkt in der Vergangenheit. Ebenso verhält es sich in der darauffolgenden Szene 11. Sie zeigt einen offensichtlich greisen Mann, der mit einer Anzahl von altern Fotoapparaten hantiert. Sowohl der Protagonist als auch seine Geräte wirken dabei selbst wie historische Exponate. Allerdings wechselt hier unvermittelt der zeitliche Bezugspunkt. An die Stelle der russischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs treten nun die französischen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs. Durch die Aussage des Protagonisten wird klar, dass die Erzählung sich nun auf das Jahr 1940 bezieht.6 Der zeitliche Bezug des „Heuberglieds“ erschließt sich über die eingeblendete Texttafel (1932), wird aber in folgenden Szene 12 auf den Zeitraum 1920 bis 1933 erweitert. Die Erzählung verbleibt danach in der Zeit des Nationalsozialismus, was mit der Datierung des

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Transkript (=TrSr.), Sz. 5.

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TrSr., Sz. 11.

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Briefes (1933) in Szene 13 bestätigt wird. Hier bricht allerdings bereits die kontinuierliche Narration wieder ab. Die gegenwärtigen Dorfansichten, die implizierten, unterschiedlichen Zeitbezüge7 und schließlich die aktuelle Gemeinderatssitzung (Sz. 15) lassen die erzählte Zeit endgültig in der Gegenwart der Dreharbeiten ankommen (Sz. 16-17). Die Militärgeschichtliche Sammlung, ihre Exponate und die Aussagen des Protagonisten verlagern die Erzählung erneut in die Vergangenheit, wobei der zeitliche Bezug nicht auf allen Ebenen identisch ist (Sz.18). Während der Protagonist die Entstehung des Truppenübungsplatzes ab 1910 (allerdings ohne Datierung) bis zu seinem aktuellen infrastrukturellen Zustand beschreibt, zeigen die Bilder der Ausstellung Exponate aus den unterschiedlichen Phasen des Lagers Heuberg. Symbole und Texte wie das französische „Tricolor“-Zeichen oder das Schild „Garnison francaise“8 verweisen auf die französische Besatzungszeit nach 1945, während Uniformen der Wehrmacht und der Bundeswehr den zeitlichen Bezug wieder auflösen. Parallel zum Ausstellungsraum zeigen die Bilder der Sammlung vielmehr eine Gleichzeitigkeit von militärischen Institutionen. Dementsprechend lässt sich die fotografische Darstellung der KZ-Wachmannschaft in der darauffolgenden Sequenz nicht unmittelbar einer militärischen Institution zuordnen (Sz. 19). Die fehlende Kommentierung und der gewählte Bildausschnitt verweigern zunächst eine klare Datierung. Die eingeblendeten Texttafeln, die den Bericht eines Insassen über den Tod eines jüdischen Mithäftlings abbilden, geben auch keinen Aufschluss über die Entstehungszeit. Allerdings legen die Ausdrucksweise der direkten Rede („Jude“) und die Rangbezeichnungen („Scharführer“)9 die Vermutung nahe, dass es sich um ein Ereignis zur Zeit des Nationalsozialismus handeln muss. In den veränderten Bildausschnitten lassen sich außerdem zunehmend Hinweise für eine Datierung der Fotografie finden, wie ein Hakenkreuz und ein Bild von Adolf Hitler.10 Schlussendlich klären die letzte Darstellung der gesamten Fotografie und die abschließende Texttafel mit der Nennung von Herkunft und Datierung des Berichts über seinen Entstehungskontext auf. Der darauf folgende Kommentar des Protagonisten im O-Ton belegt die Datierung des Konzentrationslagers und die Einordnung der Wachmannschaft endgültig. Eine weiterhin chronologische Erzählung – nämlich der Einzug der Wehrmacht – wird kurz angedeutet,11 aber durch die nachstehende Szene jäh unterbrochen (Sz. 21). Ähnlich wie in

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SzPr., Sz. 14, Text.

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SzPr., Sz. 18, Bild u. Text.

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TrSr., Sz. 19, Min. 31:09-33:24.

10 SzPr., Sz. 19, Still. 11 TrSr., Sz. 19, Min. 35:05-35:01.

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Szene 18 wird hier auf unterschiedliche Zeiten Bezug genommen. Anstelle von chronologischen Abfolgen von militärischen Institutionen, weist der Protagonist mit der Erläuterung der Karte vielmehr auf die gleichzeitig existenten Spuren der verschiedenen historischen Phasen hin. In der folgenden Szene 22 verlagert sich die Erzählung auf der Tonebene in die Zeit einer solchen Spur, nämlich die Rekrutierung und Ausbildung des sogenannten Strafbataillons „999“ ab 1942. Auf der Bildebene bleibt die Narration aber in der Gegenwart und in der Zeit der französischen Besatzung.12 Die Tagebuchausschnitte des „999“-Rekruten werden in der folgenden Szene schließlich auch auf der Tonebene durch eine Ausbildungsszene der Bundeswehr in der Gegenwart unterbrochen (Sz. 23). Eine Gleichzeitigkeit der Zeit der „999“er und ihr Gedenken in der Gegenwart wird in Szene 24 mit der filmischen Oberflächenbetrachtung von Schießstand und Gedenkstein nahegelegt. Die Aussage des Protagonisten in Szene 25 wirft zunächst einen retrospektiven Blick auf die Vergangenheit, vor allem die Zeit des Weltkriegs. Im Laufe seiner Aussage nähert er sich aber der Gegenwart und dem akuten Spannungsfeld zwischen dem Erhalt von historischen Anlagen und der adäquaten Auseinandersetzung mit ihrem politischen und ideologischen Entstehungskontext an.13 Der Brückenschlag von der Zeit des nationalsozialistischen Regimes zur Gegenwart bedeutet aber keine grundsätzliche Verlagerung der Zeit der Narration. In den folgenden Szenen 26-28 bewegt sich die Erzählung auf der Tonebene im Zeitraum von 1941 bis 1945.14 Auf der Bild- und Textebene werden aktuelle Bilder, wie die Aufnahmen der Ausbildung der Bundeswehrsoldaten, durch Bilder mit historischer Referentialität, wie der Bahnhof und die auf 1934 datierte Gleisschwelle15, durchbrochen. Diese Montagetechnik setzt sich nach der Szene 29, in der ein Protagonist allerdings verbal auf die Vergangenheit verweist,16 in Szene 30 fort. In den darauffolgenden Abschnitten 31 und 32 tritt eine bisher nicht erzählte Zeitspanne zwischen 1989 und 2010 hinzu. Zunächst kommentiert der Protagonist retrospektiv die demographischen, sozialen und baulichen Entwicklungen des Zeitraums, wobei er selbst Mit(er)lebender dieser Zeit ist (Sz. 31). Anschließend wechselt die Erzählung in die Ich-ErzählerPerspektive, aus der zunächst ein Sprecher Filmbilder seines Vaters kommentiert. Daraufhin werden die Positionen getauscht und der Vater filmt den als Kind identifizierten Sprecher (Sz. 32). Wer wann und wo die Aufnahmen vorge-

12 SzPr., Sz. 22, Bild. 13 TrSr., Sz. 25, Min. 42:09-45:05. 14 TrSr., Sz. 27 u. 28, Min 51:41-53:26. 15 SzPr., Sz. 26, Bild u. Text. 16 TrSr., Sz. 29, Min. 58:44-59:30.

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nommen hat, wird mithilfe von Texttafeln klargestellt.17 Mit den Szenen 34 bis 38 verweilt die Narration auf der Bildebene in der Gegenwart der Dreharbeiten und folgt der Chronologie von Feiertagen (Weihnachten, Sylvester) und den Jahreszeitenwechsel von Winter zu vorfrühlingshaftem Wetter. Vergangenheitsbezüge auf der Tonebene finden zwar statt, allerdings liegen die Zeitpunkte in der jüngeren Vergangenheit.18 Damit bricht die darauf folgende Beschreibung der Lagergebäude, die zwar von einer in der Gegenwart existierenden Person im Präsens erfolgt, sich selbst aber auf „das Jahr 1919“19 datiert (Sz. 38), ab. Nahezu nicht nachvollziehbar vermischen sich aktuelle und historische Bezüge: Ausgehend von der Belegung der Lagergebäude nach 1919 durch das Kindererholungsheim verbindet der Protagonist die gegenwärtige Situation der Bundeswehr-Truppenreduzierung mit der zukünftigen Aussicht von Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt.20 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden mithilfe des Angelpunkts „Lager“ gleichzeitig Gegenstand der Überlegungen des Protagonisten. Ähnlich verhält es sich im finalen Abschlusskommentar der Szene 39. Rückblickend auf die vergangenen 100 Jahre der Geschichte des Ortes und des Truppenübungsplatzes, verbindet der Protagonist die durch die Vergangenheit determinierte Gegenwart mit einer „zukünftigen Urzeit“ – ein Widerspruch in sich, der Zeit als solche aufhebt.21 Die letzte Szene findet vollständig in der Gegenwart statt und schließt sich an die Chronologie der Szenen 34-38 (Weihnachten, Sylvester, Fastnacht) an. Die eingeblendeten Texttafeln belegen abschließend die Herkunft und Datierung aller im Film dargestellten Bild- oder Tondokumente. Neben der Erwähnung aller beteiligten Personen werden auch sämtliche Archivdokumente mit Signaturen genannt.22 Neben den zum Teil recht vielschichtigen zeitlichen Bezügen innerhalb und zwischen den einzelnen Szenen bedient sich der Film weiterer signifikanter Montagetechniken. So wird auf in der Postproduktion hinzugefügte Musik gänzlich verzichtet. Dafür dominieren „lautlose“ Momente, die den Fokus auf das Bild beziehungsweise den Text und seinen Inhalt richten. Auch die Aussagen der Protagonisten sind relativ verhalten eingesetzt – vor allem in Anbetracht des bereits erwähnten Umfangs der gedrehten Interviews. Anstelle von „Informationsträgern“ treten die Protagonisten vielmehr als „Kommentatoren“ auf. Außerdem

17 TrSk., Sz. 32, Text. 18 TrSk., Sz. 34, Min. 72:25-75:33 u. Sz. 37. 19 TrSk., Sz. 38, Min. 83:10-83:46. 20 TrSk., Sz. 38, Min. 84:22-85:21. 21 TrSk., Sz. 39. 22 TrSk., Sz. 41.

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fällt der häufige Einsatz von Texttafeln auf. Zum einen liefern sie Hinweise zur raum-zeitlichen Einordnung des Dargestellten, zum anderen geben sie gefundene Dokumente23 oder selbst geschaffene Aufnahmen24 als hybride Materialien wieder. 4.3.2 Themenblöcke und Motive Trotz der zum Teil sehr fragmentarischen Narration lassen sich eine Reihe von Themenblöcken und Motiven feststellen, welche die Geschichte des Ortes und des Truppenübungsplatzes von unterschiedlichen Seiten beleuchten. Analog zu Forschungsrichtungen der Geschichtswissenschaft, wie zum Beispiel Wirtschafts-, Sozial- oder Alltags-geschichte, können verschiedene Themenkomplexe einen differenzierten Blick auf die Geschichte des Ortes geben. Dabei werden nicht alle Perspektiven an allen Bereichen abgearbeitet. Die diskontinuierliche Montage und wiederholt auftretende Motive können aber den Blick für unterschiedliche oder sogar konkurrierende Sichtweisen sensibilisieren. Im Folgenden sollen einige dieser Komplexe und ihre filmbildliche Umsetzung erläutert werden. Rassen-/Fremdenhass Vor allem das Schicksal russischer Personen scheint mit der Geschichte des Lagers Heuberg und dem Ort Stetten a.k.M. stark verknüpft zu sein. Während des Bestehens des großen Kriegsgefangenenlagers für Russen zur Zeit des Ersten Weltkriegs wurde mit der Broschüre „Leben und Treiben der Kriegsgefangenen“ ein Dokument geschaffen, das vom Interesse an der „Andersartigkeit“ der russischen Häftlinge gekennzeichnet ist. Religiöse Praktiken, physiognomische Unterschiede und auch alltägliches Verhalten sind in dem Heft mit Fotografien und schriftlichem Kommentar festgehalten.25. Diese Differenzierung erhielt zur Zeit des Zweiten Weltkriegs eine neue Qualität. Wieder wurden russische Kriegsgefangene in einem gesonderten Lager interniert, wobei sie hier weder ihre eigenen Traditionen ausleben noch sich in den Alltag der Dorfbevölkerung im Rahmen von Zwangsarbeit „integrieren“ durften.26 Ihre Gefangenschaft war geprägt von Isolation und starkem Rassenhass. Ihr Schicksal mit dem Kriegsende 1945 ist bis heute weitestgehend ungeklärt. Auszugehen ist von einer großen Anzahl von Tö-

23 Vgl. die Briefe von Eva W., TrSk., Sz. 5 u. 25. 24 Vgl. das Interview mit Magarete F., TrSk., Sz. 37. 25 SzPr./TrSk., Sz. 8. 26 SzPr./TrSk., Sz. 27.

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tungen der Häftlinge.27Zur gleichen Zeit haben allerdings russische Soldaten auf der Seite der Wehrmacht gekämpft als Teil der sogenannten Wlassow-Armee.28 Im Lager Heuberg waren sie zeitgleich mit tausenden von russischen Kriegsgefangenen und in ihrer unmittelbaren Nähe anwesend. Während die einen als so genannte Untermenschen in geschlossenen Lagern unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht waren, wurden die anderen von wem als Kollaborateure geduldet. Unter der Russischen Kommandantur nach 1945 wendete sich für kurze Zeit das Machtverhältnis. Zentrale Gebäude wie ein Hotel beziehungsweise Offizierswohnheim wurde von russischen Soldaten besetzt. Von dort organisierten sie die Sammlung und Rückführung der russischen Soldaten in Deutschland.29 Nach Jahren des kalten Krieges und einer räumlichen und politischen Trennung zwischen Bürgern der Bundesrepublik und der Sowjetunion, verschwanden mit der Auflösung der UdSSR die unüberwindbaren Grenzen und viele der sogenannten Deutsch-Russen immigrierten nach Deutschland. Auch in Stetten und Umgebung suchten viele Migranten Asyl und Wohnraum, was an vielen Stellen durch lokalpolitische Interventionen verhindert wurde.30 Ein neues fremdenfeindliches Bild von Menschen russischer Herkunft entwickelte sich. Bis heute bleiben Bilder von Feinden und ihre Bekämpfung evident. Während der „Feind“ im Bundeswehr-Ausbildungsszenario klar aus dem nahöstlichen/arabisch-sprechenden Raum stammt,31 zeigt sich in der Silvesterpredigt, dass der Pfarrer immer noch von Vorbehalten der Dorfbevölkerung gegen Migranten ausgehen muss. Tatsächlich bringt er die Vergangenheit der Dorfbevölkerung in einen unmittelbaren Kontext mit den Mordanschlägen des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“.32 Der Film zeigt aber, dass die Grenzziehung zwischen dem vermeintlich „Fremden“ und dem „Heimischen“ manchmal kaum möglich ist. Die Familie Stürmer sieht in Kasachstan deutsches, in Deutschland russisches Fernsehen und Paul Stürmer, erklärt, wie er sich zwischen der deutschen und der russischen Sprache zurechtzufinden versucht.33

27 An der Erforschung des Schicksals der russischen Kriegsgefangenen arbeitet nach eigenen Angaben der Archivar des Kreisarchivs Sigmaringen Dr. Edwin W. 28 SzPr./TrSk., Sz. 28. 29 SzPr./TrSk., Sz. 30. 30 TrSk., Sz. 31. 31 TrSk., Sz. 28, Min. 54:23-57:03. 32 TrSk., Sz. 36. 33 SzPr./TrSk., Sz. 32.

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Wirtschaft/Arbeit Aussagen, Bilder und Texte im Film thematisieren wiederholt die wirtschaftliche Abhängigkeit des Ortes vom Lager Heuberg und das Verhältnis zwischen ziviler und militärischer Arbeit im Allgemeinen. Die Gründung des Truppenübungsplatzes und die Einrichtung34 und Versorgung des Konzentrationslagers folgten vor allem finanziellen Motivationen.35 Auf den Zusammenhang zwischen Arbeit und Krieg weisen immer wieder Texte im Film hin.36 Die Abhängigkeit der Stettener Bevölkerung von der Bundeswehr zeigt sich zum einen in der täglichen Arbeit einer ortsansässigen Baufirma und anderem zivilen BundeswehrPersonal.37 Zum anderen wird sie in der Wahrnehmung und Erinnerung des Bürgermeisters über die Truppen- und damit Arbeitsplatzreduzierung in der jüngeren Vergangenheit evident.38 Geschichte/Geschichtsschreibung Der Film thematisiert Geschichte, ihre Ausdrucksformen und damit Tendenzen von Geschichtsschreibung an mehreren Stellen. Der in der Exposition gesprochene Auszug aus dem Text „Etwas über Land und Leute des ‚Heubergs’ und über die Geschichte des Ortes Stetten am Kalten Markt“ scheint zunächst wie ein Kommentar der Filmemacher. Erst die letzten Zeilen des Textes verweisen auf seinen Entstehungskontext. Aus einem vermeintlich „neutralen“ Text über Geschichte wird so ein Hinweis auf die ideologische Prägung von Geschichtsschreibung.39 Auf welcher Grundlage Geschichte erst geschrieben werden kann, zeigt der Entstehungsprozess einer Archivakte. Nur was erfasst und nach entsprechenden Kategorien archiviert wird, kann der Erforschung von Geschichte dienen.40 Ähnlich verhält es sich mit Fotografien. Der Film zeigt nicht nur, wie Fotos selektiv eingesetzt werden können,41 sondern thematisiert den Entstehungsprozess und damit den Quellenwert von Fotografien selbst.42 Auch der schlechte Zustand des Denkmals für das „999“er-Bataillon zeigt, wie selektiv Geschichte und Gedenken und, wie in diesem Fall, von der politischen Lage ab-

34 TrSk., Sz. 18, Min. 29:38-30:42. 35 TrSk., Sz. 13. 36 TrSk., Sz. 14, Min. 23:19-23:28 u. Sz. 26; SzPr., Sz. 28. 37 SzPr., Sz. 17 u. TrSk., Sz. 34. 38 TrSk., Sz. 29, Min. 58:44-59:30. 39 TrSk., Sz. 2. 40 SzPr., Sz. 10. 41 SzPr., Sz. 19. 42 TrSk., Sz. 11.

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hängig ist.43 Welcher Willkür oder Zufall die Interpretation von Vergangenheit unterliegen kann, thematisiert der Text von Claude Lévis-Strauss bereits in der ersten Szene.44 Die Militärgeschichtliche Sammlung zeigt allein mit ihrem institutionellen Rahmen, wie Geschichte nach einer bestimmten Tendenz – in diesem Fall die Perspektive des Bundeswehrstandorts Heuberg – geschrieben werden kann. Außerdem weist die Aufstellung darauf hin, dass Geschichtsschreibung nicht nur einen textuellen, sondern auch einen audio-visuell und taktil wahrnehmbaren Charakter haben kann.45 Der Abspann des Films legt schließlich alle verwendeten Dokumente und Bilder dar und zeigt somit, wie sich Geschichtsschreibung an Quellenmaterialien orientieren muss.46 Raum Soziale, geographische und topographische Räume sind ein wiederkehrendes Motiv des Films. Erneut gibt bereits der Text von Lévis-Strauss den Hinweis, dass Räume und Zeiten miteinander verschmelzen, sich überlagern oder nebeneinander stehen können: „[...] Wenn sich im selben Augenblick im Felsen zwei Ammonshörner mit ungleich komplizierten Windungen erraten lassen, die auf ihre Weise von einem Abstand von einigen 10.000 Jahren zeugen: dann verschmelzen plötzlich Zeit und Raum; die lebendige Vielfalt des Augenblicks stellt die Zeitalter nebeneinander und verewigt sie.“47 Die Filmbilder des Russenfriedhofs, der sich innerhalb des militärischen Sperrgebiets befindet, zeigt, wie religiöse und militärische Nutzung unmittelbar nebeneinander stattgefunden hat und immer noch stattfindet.48 Auch die Baracken verweisen im Laufe des Films immer wieder auf ihre unterschiedlichen Funktionen, Nutzungen und institutionellen Hoheiten. Dabei kollidieren Wohnräume,49 Hafträume,50 Tatorte51 und Ausstellungsräume52. So überschneidet sich der Spielplatz der 15-jährigen Eva mit

43 SzPr., Sz. 24; Die Aufstellung eines Gedenksteins wurde von Mitgliedern der SPD erwirkt. Aufgrund mangelnder Mitgliederzahl gibt es allerdings keinen Ortsverband der SPD. 44 TrSk., Sz. 1. 45 SzPr., Sz. 18. 46 TrSk., Sz. 41. 47 TrSk., Sz. 1. 48 SzPr., Sz. 6 u. 9. 49 SzPr., Sz. 22. 50 SzPr., Sz. 8 u. 19. 51 SzPr., Sz. 19 u. 22. 52 SzPr., Sz. 18.

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dem Kriegsgefangenenlager der Franzosen im Jahr 1941.53 Schlafstuben der Bundeswehrsoldaten im Jahr 2011 befinden sich in denselben Gebäuden, in denen zwischen 1920 und 1933 Kinder des Erholungsheims untergebracht wurden und in denen der KZ- Häftling Simon Leibowitz im Jahr 1933 zu Tode gequält wurde.54 Die in den 1940er Jahren exekutierten „999“er-Rekruten sind auf dem Friedhof der kriegsgefangenen Soldaten des Ersten Weltkriegs beerdigt worden.55 Auch soziale und geographische „Heimat“-Räume können sich, wie die Erzählung der Familie Stürmer zeigt, verändern.56 Ebenso wird das Verhältnis von zivilen, politischen und militärischen Räumen wiederholt wahrnehmbar: Filmbilder der russischen Kriegsgefangenen, der Kinder des Erholungsheims, des Mädchens Eva und aktuelle Aufnahmen, wie die Weihnachtsansprache des Standortkommandanten oder die Attrappen-Stadt „Klein-Stetten“, zeigen und beschreiben die topografischen Grenzen beziehungsweise Übergänge und demographischen Differenzen zwischen Lager und Dorf.57 Ziviler und militärischer Raum sind nicht streng voneinander getrennt, sondern nehmen sich, je nach gegebenem Raumbedarf, gegenseitig in Anspruch.58 Erinnerung und Gedächtnis Der intensive Einsatz von retrospektiven Berichten und Aufzeichnungen verweist durch den zeitlichen Abstand zwischen Ereignis und schriftlicher Fixierung direkt auf die Problematik von Erinnerung und Gedächntis zur Rekonstruktion von Vergangenheit. In seinem erst nach 1945 verfasstem Bericht irritiert der „999“er-Rekrut Egon S. mit seinem überzeugten Wahrheitsanspruch.59 Vertreten durch einen Sprecher aus dem Off problematisiert dagegen der Stettener Bürger Moritz B. in seinem Bericht für die Schwäbische Zeitung aus dem Jahr 1995 explizit die Schwierigkeit, die Ereignisse der Vergangenheit zu „recherchieren.“60 Auch der 1946 in direkter Rede verfasste, in Texttafeln wiedergegebene Bericht des KZ-Häftlings Richard H. über den Tod des Mithäftlings Simon Leibowitz sensibilisiert für eine kritische Haltung: zwischen dem Zeitpunkt des Erlebnisses

53 SzPr., Sz. 25, Min. 45:08-48:18. 54 SzPr., Sz. 19 u. 22. 55 Trsk., Sz. 28, Min. 51:41-53:26 u. SzPr., Sz. 6, 24 u. 40. 56 SzPr., Sz. 32. 57 SzPr., Sz. 5, 8, 23, 34, 37, 39 u. 41. 58 TrSk., Sz. 31. 59 TrSk., Sz. 22, Min 36:52-38:29. 60 TrSk., Sz. 28, Min. 51:41-53:26.

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und dem schriftlichen Festhalten liegen 13 Jahre.61 Die verbindliche Zeitzeugenschaft des Malers Willi S., der nicht nur über die Kriegsgefangenschaft von Franzosen berichten kann, sondern darüber sogar Fotografien angefertigt hat, relativiert sich in dem Augenblick, indem er vor der Kamera vergeblich versucht, das ihm ursprünglich bekannte „Heuberg-Lied“ zu erinnern.62 Religion/Ideologie Das Verhältnis von Religionen zu Ideologien, ihre Ausdrucksformen und Überschneidungen werden an einigen Stellen des Films sichtbar gemacht. Ein zentrales Bild ist der Russenfriedhof, dessen religiöse und ideologische Belegung mehrschichtig ist. So sind am gleichen Ort russisch-orthodoxe und römischkatholische Christen sowie sozialdemokratische oder kommunistische „999“erRekruten bestattet. Der Brief des Kameraden Willy H. an die Mutter seines gefallenen Kameraden Albert V. vermischt die Beschreibung der christlichen Bestattung am Pfingstsonntag mit einer ideologisch geprägten Rede gegen das „Judasvolk“ Italien, dessen Kriegserklärung die Soldaten „inmitten des Herrn Pfarrers [sic]“ vernommen hatten.63 Auch der ebenfalls Sprecher-vertonte Tagebucheintrag des „999“er-Rekruten Egon S. bedient sich religiöser Termini, wenn er beschreibt, wie die „Ungläubigen“ im Strafbataillon „Vergebung und letzte Ölung“ finden konnten.64 Die Silvesterpredigt des Gemeindepfarrers im Jahr 2011 setzt den „langen Weg“ eines christlichen Lebens in den Kontext der ideologisch geprägten Vergangenheit („Wo sind wir eigentlich aus einer Sklaverei frei geworden?“) und Gegenwart („Was hatten wir nicht schon alles überwunden gedacht [...] an Rassenhass und Ausländerfeindlichkeit.“)65 Schließlich stellt sich der Maler Willi S. im Zusammenhang der Nutzung des Truppenlagers die Frage, wem die Lagerkapelle im Moment „geweiht“ sei.66 Dass die Kapelle erst nach dem nationalsozialistischem Regime zur Zeit der französischen Besatzung als solche eingerichtet wurde bemerkte bereits in einer früheren Szene der Oberleutnant Marcus K. 67

61 TrSk., Sz. 19, Min. 31:09-33:24. 62 SzPr., Sz. 11. 63 TrSk., Sz. 9, Min. 11:26-13:26. 64 TrSk., Sz. 22. 65 TrSk., Sz. 36. 66 TrSk., Sz. 38, Min. 83:53-84:10. 67 TrSk., Sz. 21.

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4.3.3 Miniaturen Im Folgenden sollen Gruppen von Filmbildern, sogenannte Miniaturen, im Detail betrachtet werden. Diese können mithilfe von bestimmten Montagemethoden (vgl. 3.5) die Darstellung von Geschichte auf besondere Weise umsetzen. Die ausgewählten Miniaturen sind als Exempel zu betrachten und ihre Wirkungen können nicht notwendigerweise für den gesamten Film angenommen werden. Vielmehr ist auch die Kontrastierung und Widersprüchlichkeit von Montagetechniken zu berücksichtigen. Indem Filme mit verschiedenen Methoden arbeiten, können sie auch einen Allgemeingültigkeitsanspruch von bestimmten Herangehensweisen ablehnen. Miniatur 1: Russische Kriegsgefangene im Lager Heuberg/deutsche Soldaten im Lager Heuberg und in Russland (Sz. 6-9) Die Erzählung von den russischen Kriegsgefangenen und dem deutschen Soldaten Albert V. folgt einer Parallelmontage. Abwechselnd und überlagernd wird auf Bild-, Ton- und Textebene die Zeit des Aufenthalts im Lager Heuberg, alltägliches, militärisches und religiöses Leben, sowie Sterben und Gedenken thematisiert. Zunächst zeigt der Film Bilder des Russenfriedhofs in der Gegenwart, während Bundeswehrsoldaten und -fahrzeuge in unmittelbarer Nähe ihrem regulären Dienst nachgehen. Pfeifen, Rufen und permanente Schussgeräusche der Bundeswehrsoldaten stehen in einem Spannungsverhältnis zu den Bildern von Gedenkstein und Grabkreuzen. Der Russenfriedhof stellt eine Art stillgelegte räumliche und zeitliche Insel im Alltagsbetrieb der Bundeswehr dar. Der Eindruck entsteht, dass dieser Ort zwar nicht mehr seine Funktion als pietätvolle Gedenkstätte erfüllt, aber mit seiner fast 100-jährigen Existenz nicht einfach aufgelöst werden kann (Sz.6). In den Aufnahmen des Friedhofs wird der trace-mode evident. Sein ursprünglicher Zweck ist erkennbar, aber in der Gegenwart nicht mehr existent. Vielmehr wird der religiöse Ort vom militärischen Nutzungsraum dominiert und isoliert. Die anschließend eingeblendete Texttafel steht in Kontrast zu den Bildern des Kriegsgefangenenfriedhofs. Das Kriegsgefangenenlager wird zum „sicheren Hort des Lagers“, welches „das kostbare Gut des Lebens sichert in dieser eisernen, totstarrenden Zeit.“68 Das Lager, in dem Personen aus einem verfeindeten Land gegen ihren Willen festgehalten wurden und gestorben sind, wird durch die Rhetorik der Broschüre „Leben und Treiben der Kriegsgefangenen“ zu einem lebenserhaltenden Refugium (Sz.7). Der euphemistische Tenor der Texttafel sensibilisiert das Publikum für die Betrachtung der folgenden Abbildungen von Fotografien in den Szenen 8 und 9, auf denen

68 TrSk., Sz. 7.

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die russischen Gefangenen in alltäglichen Situationen des Kriegsgefangenenlagers inszeniert dargestellt sind. Diese Kombination zeigt, wie der Text der Broschüre unter Berücksichtigung seiner Entstehung und Funktion gelesen werden muss, dürfen auch die Fotografien nicht als wahrheitsgetreue Abbildung des Lebens der russischen Kriegsgefangenen interpretiert werden. Durch den Einsatz des Textes wird der Kontext der Fotografien offengelegt. Obwohl die Fotografien mit hoher Wahrscheinlichkeit russische Kriegsgefangene des Lagers Heuberg zeigen, wird ihr Wahrheitsgehalt – also der Grad ihrer Inszenierung und Manipulation – unmittelbar, wenn auch nicht durch Kommentar, in Frage gestellt. Bei jeder Fotografie wird auch die originale Bildunterschrift eingesetzt, die in ihrer Ausdrucksform immer wieder auf ihren Entstehungskontext verweist. Sie sind und bleiben in der Vergangenheit verortet und sind folglich dem archive-mode zuzuordnen. Durch eine weitere Texttafel wird nun auf die überlieferten Tatsachen des Kriegsgefangenenlagers und dessen räumliches und zeitliches Zusammentreffen mit der Stationierung von Badischen Truppen, darunter der Soldat Albert V., verwiesen (Sz. 8). Auch die darauffolgende Parallelmontage von gesprochenen Briefen auf der Tonebene und Fotografien der russischen Kriegsgefangenen auf der Bildebene betont die Gleichzeitigkeit von Ereignissen, ohne dies in gemeinsamen Filmbildern zu zeigen. Vielmehr wird die Trennung zwischen der Lebenswelten der Gefangenen und der Soldaten durch den autonomen Einsatz von Bild und Ton evident (Sz. 8). Zwischen den „Welten“ der Personen stehen die aktuellen Aufnahmen von Fliegen. Ihre Darstellung scheint sowohl eine Bildhaftigkeit für die rein akustisch wahrnehmbaren Briefe als auch Bewegung für die im Stillstand eingefrorenen Fotografien zu bieten. In den Bewegungen, den Zuckungen und schließlich dem Sterben der Insekten ist das „Leben und Treiben“ der Kriegsgefangenen, die Ausbildung und die Fronterfahrung des Soldaten visuell verfremdet und doch „erlebbar“. Die Aufnahmen der Fliegen können dem emulation-mode, aber auch dem connotation-mode zugeordnet werden. Zum einen wirken die Bilder wie eine inszenierte Nachahmung des Schicksals realer Personen. Zum anderen evozieren sie aber auch auf abstrakte Weise eine Vorstellung von Hunger und Sterben. Inwiefern die ausgelösten Assoziationen den wirklichen Erfahrungen der Soldaten und Kriegsgefangenen gerecht werden können, ist nicht relevant, weil die Aufnahmen nicht versuchen einer historischen Wirklichkeit gerecht zu werden, sondern ihre eigene Realität schaffen. Auf inhaltlicher Ebene stehen die Briefe des Soldaten und die Abbildungen der Russen und deren Bildunterschriften in einem permanenten Austausch. Während der Soldat seiner Familie vom Essen und Hunger berichtet,

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werden die „Russen beim Essenfassen“ gezeigt.69 Gleichzeitig mit der Abbildung der „Russenbaracken“ und den „jungen russischen Kriegsgefangenen“ beschreibt der Soldat V. seine Erlebnisse im Quartier und Feld sowie die Gefangennahme von russischen Soldaten.70 Die Aufnahme der jungen Gefangenen und die Beschreibung der Gefangennahme finden an unterschiedlichen Orten und nicht zum gleichen Zeitpunkt statt. Durch die Montage der Filmbilder fallen jedoch die Orte und Zeiten der Ereignisse im Film zusammen und ergeben neue kausale, emotionalisierende, aber nicht notwendigerweise „wahre“ Verknüpfungen. In Szene 9 verändert sich zwar nicht die Montagetechnik, aber die Art der verwendeten Filmbilder: Anstelle des Soldaten Albert V. tritt ein Brief seines Kameraden Willy H., gelesen von einer weiblichen Sprecherin, die stellvertretend für V.s Mutter spricht. Statt Fliegen zeigt der Film nun erdige Oberflächen. Wieder stehen die Abbildungen der russischen Kriegsgefangenen, der Brief des Soldaten H. und die Oberflächen in einem assoziierbaren Zusammenhang. Zunächst steht die Beileidserklärung und die Abbildung der „Russen beim Kartenspiel“ in starkem Kontrast.71 Daraufhin nähern sich aber die „Welten“ Kriegsgefangenenlager und deutsch-russische Front wieder einander an, indem die Beschreibung der Grabstätte mit der Abbildung des Operationssaals des Gefangenenlagers ergänzt wird. Die Parallelmontage spitzt sich gegen Ende der Szene 9 auf semantischer Ebene weiter zu. „Trauer und Hass“ prägen die Beschreibungen des Soldaten H., wenn er auf der einen Seite vom Verlust der Kameraden, auf der anderen Seite von der aktuellen Kriegssituation gegen Italien berichtet. Das historische Ereignis der Kriegserklärung erhält für den Soldaten H. eine ganz eigene Datierung, nämlich am „ersten Pfingstfeiertag“, an dem er seine Kameraden bei Kolno beerdigte.72 Auf der Bildebene zeigen die aktuellen Aufnahmen von Erdoberflächen, die aufgrund ihrer Unbeweglichkeit wie Standbilder wirken, Parallelen zum erdigen Schützengraben des Soldaten H. auf der einen, zu den „Hügeln der Kameraden“ in „fremder Erde“ auf der anderen Seite.73 Die Aufnahmen entsprechen dem trace-mode, da sie die historischen Orte weder abbilden noch nachstellen, sondern vielmehr eine Vorstellung von Natur und Verfall stimulieren. Dabei verweisen sie auf die namenlosen, vergessenen Gräber und die Unmöglichkeit einer Rekonstruktion aller Gräber im Ersten Weltkrieg. Während die Grabstätte an der deutsch-russischen Front keinen adäquaten

69 TrSk., Sz. 8, Min. 09:11-09:20. 70 TrSk., Sz. 8, Min. 10:02-11:26. 71 TrSk., Sz. 9, Min. 11:46-12:16. 72 TrSr., Sz. 9, Min. 11:26-13:26. 73 Ebd.

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religiösen Rahmen bieten kann (sie ist lediglich „mit Steinen eingefasst“), zeigen die Bilder der russischen Kriegsgefangenen das Anlegen eines Grabs und schließlich die Denkmalssäule. Wie bereits in Szene 8 entsteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den russischen und den deutschen Gräbern und den Schicksalen der dort begrabenen Personen. Die Gegensatzpaare Heimat und Fremde, Westen und Osten, lösen sich in dem Augenblick auf, in dem der Film die Parallelität und Gleichzeitigkeit der Ereignisse aufzeigt. Dabei konstruiert er mit Sekunden-genauen Schnitten, Kürzungen und Lesungen der Briefe sowie dem gezielten Einsatz von assoziativen Bildern, wie Fliegen und Erdoberflächen, eine Narration, die so nur in Filmbildern möglich ist. Diese Form der Erzählung ist zwar stark manipulierend, aber sie zeigt ihre Konstruktionsprinzipien, den Ursprung und die Bearbeitung der zugrundeliegenden Materialien auf und behält damit eine kritische Haltung gegenüber sich selbst. Trotz der gestalteten Verbindung von Orten, Zeiten und Personen verlieren diese nicht an Wahrheitsgehalt, sondern treffen eine relativ wahre Aussage über Lebenswelten von Soldaten und Gefangenen und deren Parallelen. Miniatur 2: Maler, Fotograf und Zeitzeuge Willi S. (Sz. 11 u. 38) Der 1923 in Stetten geborene Willi S. ist der einzige im Film auftretende Zeitzeuge. Ein Zeitzeuge ist im konventionellen Sinn eine Person, die als Mitlebender von bestimmten historischen Ereignissen oder Phasen die Erzählung durch persönliche Erinnerungen bereichern kann. Die Inszenierung und Montage der Person S. im Film schöpft jedoch die narrativen Möglichkeiten über den bloßen Einsatz als vermeintlich verbürgten Zeugen hinaus aus. Die Miniatur ist geteilt und tritt an zwei völlig unterschiedlichen Stellen im Film auf. Dennoch möchte ich die im Schnitt getrennten Abschnitte gemeinsam als eine Miniatur bewerten, da sie inhaltliche und methodische Parallelen aufweisen und durch die Figur S. miteinander verbunden sind. Im ersten Teil der Miniatur (Sz. 11) tritt Willi S. als sichtlich gebrechlicher Mann in seinem Schlafzimmer auf. Diese Szene ist offensichtlich inszeniert, da S. zum einen die Fotoapparate für die Aufnahme auf einem Tisch ausbreitet, zum anderen direkt in Interaktion mit anwesenden Personen steht. Das erste im „On“ gesprochene Wort des Films – „Guck!“74 – richtet sich bezeichnender Weise an die Filmemacher im Raum und durch die direkte Anrede auch an das Publikum im Kino. Die Szene 11 stellt eine „inszenierte Beobachtung“ dar. Dass sich diese Bezeichnung in sich nicht widersprechen muss, zeigt sich daran, dass die Situation zwar durch die Filmemacher ins Leben gerufen wurde (die Kamera befindet sich im Raum, S. breitet seine alten Fotoappara-

74 TrSk., Sz. 11, Min. 16:11-19:27.

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te aus, etc.), die tatsächlichen Bewegungen, Interaktionen und Gespräche aber nicht geplant sind und von der Kamera im Moment ihrer Entstehung aufgezeichnet werden. Der Hobbyfotograf S. holt seine alten Fotoapparate hervor, überlegt und testet die Funktionen, erinnert sich an den Einsatz des jeweiligen Geräts und stellt fest, dass dieses heute mangels passendem Filmmaterial kaum noch zu benutzen sei.75 Dieser Abschnitt zeigt Parallelen zu der vorherigen Szene 10, in der die Archivarin eine Akte erstellte und verzeichnete. Auch S. beschäftigt sich mit historischen Objekten, deren Funktion und Gültigkeit in der Gegenwart nicht mehr aktuell sind. Dabei nimmt er zum einen die Rolle des „Fachmanns“ (analog zur Archivarin) ein, zum anderen stammt er selbst aus der „historischen“ Zeit der Fotoapparate. Die Bedeutung des Mitlebenden wird damit unmittelbar und ohne sprachlichen Kommentar in den Filmbildern offensichtlich. Die Aufnahmen entsprechen zunächst dem emulation-mode. Der Fotograf, der die Funktionen der antiquarischen Fotoapparate testet und erklärt, wirkt wie eine Nachstellung seines früheren Ichs. Das offensichtlich fortgeschrittene Alter des Mannes, Lichtund Farbstimmung und die zeitlupenhaften Bewegungen erzeugen darüber hinaus eine Illusion des Stillstands. Zeit wirkt in dieser Szene entschleunigt und ihre Dauer wird indirekt in Bildern, wie die Beobachtung von Staubkörnern, die von Alter gezeichneten Händen des Protagonisten und die Langsamkeit seiner Bewegungen, erfahrbar. Aus diesem Moment springt die Narration über die Erzählung S.s aus dem „Off“ und die eingeblendeten Fotografien in das Jahr 1940. S. beschreibt den Entstehungsprozess der Aufnahme und verweist damit auf die kritische Haltung, die gegenüber vermeintlich authentischen Bilddokumenten eingenommen werden muss. Ohne S.s Erklärung, dass die Aufnahme heimlich und mit dem Risiko, vom Wachposten entdeckt zu werden, gemacht wurde, würden die Fotografien lediglich freundliche Männer mit Malerausrüstung zeigen.76 Kein Detail der Aufnahme zeugt von ihrer Kriegsgefangenschaft oder vom militärischen Sperrbereich Lager Heuberg.77 Dass sich dieselben Männer aus ihrer Gefangenschaft durch Flucht in die Schweiz befreien wollten, scheint in Anbetracht der allgemeinen Kriegssituation im Europa der 1940er Jahre und der vermeintlich angenehmen Situation der Gefangenen im Lager Heuberg kaum nachvollziehbar.78 Der Kontrast zwischen verbalem Kommentar und Bild hebt das Spannungsverhältnis zwischen Bildern, ihrem Entstehungskontext und ihrer Interpretation hervor. Damit thematisiert S. einen zentralen Aspekt der Geschichts-

75 TrSk., Sz. 11, Min. 16:11-19:27. 76 TrSk., Sz. 11, Min. 16:11-19:27. 77 SzPr., Sz. 11. 78 TrSk., Sz. 11, Min. 16:11-19:27.

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schreibung im Film. Darüber hinaus präsentiert die Erzählung des Schicksals der französischen Kriegsgefangenen anhand der Fotografien, wie fragmentarisch Geschichtskonstruktion sein kann und gegebenenfalls auch sein muss. Die Seiten mit aufgeklebten Fotografien im nächsten Bild gleichen entsprechend einem „Fragment“-Archiv, in dem die subjektive Wahrnehmungswelt des Malers und Fotografen Willi S. konserviert und überliefert ist. Erneut zeigt daraufhin die Aufnahme des Bienen-Mobiles Bewegung im Stillstand. Zeit und ihre Vergänglichkeit ist für einen kurzen Moment eingefroren, in dem S. beginnt, ein Lied aus seinen Kindheitstagen zu singen. Die Kamera beobachtet ihn dabei, wie er Text und Melodie rekonstruiert, wie er versucht aus Gedanken eine Erinnerung zu formulieren. In dieser Situation und ihrer filmischen Abbildung ist Vergangenheit und Gegenwart als zeitliche Differenz endgültig aufgehoben. Vergessenheit ist nicht nur ein zeitliches, sondern auch ein lebensweltliches Phänomen. Ereignisse und Erfahrungen, die in der nachfolgenden Zeit keiner aktuellen Sinnproduktion unterliegen, haben keine Relevanz mehr und sind wahrscheinlicher vom Vergessen betroffen. Die Distanz zur Vergangenheit liegt im Scheitern der Erinnerung, weil S. das Lied seiner Kindheit nicht mehr aktualisieren kann. Die darauf folgende Texttafel greift diese Erkenntnis implizit auf, indem sie die „Lebenswelt“, auf die das Heuberg-Lied referiert, benennt: das Kindererholungsheim. Während den ersten zehn Lebensjahren S.s hatte das Heim im Lager Heuberg existiert und dennoch scheint es, dass die Erinnerung an diese Zeit, eventuell in Anbetracht der folgenden Erlebnisse wie der Zweite Weltkrieg, verschwunden ist. Die Aufnahmen des ersten Teils der Miniatur können dem connotation-mode zugeordnet werden. Die fragmentarische und spannungsgeladene Erzählung der französischen Kriegsgefangenen zeigt die problematische Interpretation von historischen Spuren, die „gescheiterte“ Erinnerung S. verweist auf die Unmöglichkeit einer Rekonstruktion von Vergangenheit. Der zweite Teil der Miniatur (Sz. 38) zeigt zunächst Landschaftsaufnahmen und heruntergekommen wirkende Mehrfamilienhäuser. Der wirtschaftliche, soziale und demographische Abstieg in der Gemeinde wurde bereits an mehreren Stellen im Film thematisiert.79 Die sanierungsbedürftigen Gebäude und die trist wirkende Gesamtstimmung der Filmbilder visualisieren nun diese fortschreitenden Veränderungen. Der Bezug auf Vergangenheit scheint fast gänzlich zugunsten der Darstellung der aktuellen Situation aufgegeben zu sein. Zugleich können diese Bilder auch im trace-mode gelesen werden. Ihr Baustil verortet die Gebäude in den 1970er bis 1980er Jahre und erinnert damit an die einstige bauliche Expansion im Dorf. In diesem Augenblick kehrt der Film aber über eine Ansicht

79 SzPr., Sz. 15, 31 u. 37.

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des alten Wohnhauses zu Willi S. zurück. Wie im ersten Teil der Miniatur zeigt die Bildebene einen alten Mann, der sich mit seinen Fotografien und gesammelten Unterlagen beschäftigt. Auf der Tonebene dagegen tritt eine jüngere Sprecherstimme auf, die – wie man annehmen muss – die Gedanken Willi S.s wiedergibt. Der aktuelle und historische Bezug der Worte und Bilder treten plötzlich gleichzeitig auf beziehungsweise sind nicht mehr logisch und zeitlich zu trennen. Zunächst datiert S. seine Überlegungen, allerdings im grammatikalischen Präsens, auf „das Jahr 1919“. Anschließend beschreibt er die desolate Situation des Truppenlagers und wie die Einrichtung des Kindererholungsheims dies durch eine „neue soziale Nutzung“ bis 1933 geändert habe. Dann springt er in der Vergangenheit zurück ins Jahr 1920, verwendet aber das Verb erneut in der Gegenwartsform. Die „leer stehenden Gebäude“ könnten sich auf die Truppengebäude nach dem Ersten Weltkrieg ebenso beziehen, wie auf die Mehrfamilienhäuser der Gegenwart. Im nächsten Satz kehrt S. allerdings wieder in die Gegenwart zurück und verweist rückblickend auf die „Quelle“ seiner Gedanken, denn „[...] So wurden [die Gebäude] 1920 einmal in der Zeitung ‚Der Heuberg’ beschrieben“. 80An dieser Stelle werden die Überlegungen aus dem „Off“ durch eine aktuelle Aussage im „On“ unterbrochen. Wie aus dem Sinnzusammenhang gerissen zeigt S. eine Abbildung der Lagerkapelle und stellt fest, dass er nicht weiß, „wem sie geweiht ist“.81 Wie bereits in 4.2.2 erläutert, vermischen sich an dieser Stelle die religiöse, institutionelle und ideologische „Nutzung“ des Truppenlagers. Die gesprochenen Überlegungen S.s werden daraufhin fortgesetzt und greifen die Frage nach der „richtigen“ Nutzung des Truppenlagers wieder auf. S. setzt in seinen Gedanken die Truppenreduzierungen und ihre Folgen von 1919 und der Gegenwart gleich und plädiert für eine neue Lösung, die der jungen Generation eine Zukunft bieten kann. Während die Bildebene ausschließlich aktuelle Aufnahmen von der Ankunft des Verteidigungsministers in der Albkaserne zeigt, verknüpfen die gesprochenen Gedanken unmittelbar die Nachkriegszeit der 1920er Jahre, die Gegenwart von 2011 und die Zukunft.82 Damit erhalten die aktuellen Bilder eine zeitliche Dimension, die nicht zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet. Am historischen, aktuellen und zukünftigen Ort „Lager Heuberg“ finden mit der Ankunft des Ministers Begegnungen und Entscheidungen statt, die so bereits geschehen sind und sich in der Zukunft unter Umständen immer wieder ereignen werden. Aufgrund der wechselnden Tempi in der Wiedergabe von S.s Gedanken, kann die „zeitreisenhafte“ Schilde-

80 TrSk., Sz. 38, Min. 83:10-83:46. 81 TrSk., Sz. 38, Min. 83:53-84:10. 82 TrSk., Sz. 38, Min. 84:22-85:21.

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rung in der Vergangenheit dem emulation-mode zugeordnet werden. Die Vermischung mit den aktuellen Bildern des Ministers verschiebt den Modus der Filmbilder jedoch schließlich in den Bereich des Faktischen. Aufgrund der fehlenden zeitlichen Distanz und dem geringem Grad der Konstruktion können sie nicht „Geschichte“ sein. Folglich sind sie trotz, beziehungsweise gerade aufgrund ihrer Aktualität als Archiv-Bilder zu verstehen. Miniatur 3: Briefe des Mädchens Eva W. (Sz. 5 u. 25) Eine ebenfalls zweigeteilte Miniatur (Sz. 5 u. 25) stellt die Erzählung des Mädchens Eva W. dar, die 1941 einige Wochen zu Gast bei der Försterfamilie des Truppenübungsplatzes verbrachte. Die Narration basiert auf Briefen des Mädchens an ihre Familie, die von einem Sprecher gelesen werden, wobei die Briefe durch die Filmautoren zum Teil stark zusammengefasst und gekürzt wurden. In Szene 5 beschreiben die Briefe zunächst die alltäglichen Aktivitäten des Mädchens, ihre Vorlieben beim Essen und Spielen. Schließlich wird aber klar, dass das Mädchen sich nicht nur auf dem Truppenübungsplatz, sondern in unmittelbarer Nähe der Baracken und einem „Russenfriedhof“ befinden muss. Die kindliche Beschreibung des Lagers und des Friedhofs lassen das Lager Heuberg zu einer Art „Abenteuerspielplatz“ werden, auf dem sich das Mädchen bewegen kann, ohne sich der aktuellen noch der vergangenen Brisanz ihres Aufenthaltsorts bewusst zu sein.83 Auf der Bildebene zeigt der Film vor allem aktuelle Bilder des Truppenübungsplatzes und des Lagers Heuberg. Die Darstellungen, wie der Blick über die Lagergebäude hinweg Richtung Dorf, scheinen die Schilderungen des Mädchens zu illustrieren.84 Im zweiten Teil der Miniatur (Sz. 25) kehrt der Film zu Eva W. zurück. Nach einer Außenansicht des ehemaligen Oberförstereihauses folgt eine Beobachtung der Ausbildung und Schießübungen von jungen Bundeswehr-Soldaten. Auf der Tonebene tritt hier ein gelesener Brief von Eva hinzu, der erneut aus der kindlichen Perspektive die Erlebnisse auf dem Truppenübungsplatz schildert. Unvermittelt erzählt sie daraufhin, dass sie nun das Gefangenenlager kennen gelernt und wie sie die französischen Kriegsgefangenen und deren Behandlung bisher erlebt habe. Auch den Ausbruch der russischen Kriegsgefangenen kann sie beschreiben und bewertet diesen aus ihrer Perspektive als „schlimm“. Ihre Beteuerung „alles sehr genau [zu] sehen“ kann im Zusammenhang einer kritischen Geschichtsdarstellung zum einen als Hinweis auf den relativen Wahrheitsgehalt von historischen Dokumenten gelten, da für Evas Briefe als sogenannte Ego-Dokumente ein hoher Quellenwert ange-

83 TrSk., Sz. 5. 84 SzPr., Sz. 5.

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nommen werden kann.85 Zum anderen betont die kindliche Ausdrucksweise auch die Subjektivität und den Fragmentcharakter der Quelle. Evas Briefe zeigen aber nicht nur „ihre Welt“ des Lager Heubergs im Jahr 1941, sondern stellen auch mehrere Bezugspunkte zu anderen parallelen Lebenswelten her, wie die der Soldaten sowie der russischen und französischen Kriegsgefangenen. Paradoxerweise lassen gerade diese vielen Verweise die reale Person Eva W. fingiert wirken. Tatsächlich ist eine klare Grenzziehung zwischen real und erfunden kaum möglich. Die Briefe des Mädchens sind zwar archivarisch überliefert, wurden aber durch Kürzungen und die Sprecherin stark verfremdet. Das Verhältnis von Fiktion und Faktizität wird in dieser Miniatur indirekt zum Gegenstand der Narration. Darüber hinaus aktualisiert sich die Erzählung Evas in den Bildern der gegenwärtigen realen Welt. Das historische Försterhaus gehört zur Gegenwart der Welt Evas. Die Instruktionen an die Bundeswehr-Soldaten, wie man eine Person idealerweise mit einer Schusswaffe verletzt oder tötet,86 referieren wiederrum auf die vergangene Welt der Soldaten auf dem Truppenübungsplatz, die „aufgeboten [waren], die Russen zu suchen“.87 Zeiten und Räume überlagern sich folglich im Moment der Filmbilder. Diese bewegen sich in ihrem Modus zwischen trace- und connotation-mode. Zum einen tauchen Eva, ihr ehemaliges Wohnhaus und der Truppenübungsplatz als ihr ehemaliger „Spielplatz“ als überlieferte, zeugenhafte Spuren aus der Vergangenheit in der Gegenwart auf. Zum anderen zeigt der hohe Konstruktionscharakter dieser Miniatur und die verschwommene Grenze zwischen Fakt und Fiktion auch Merkmale des connotation-mode. In der parallelen Erzählung von Eva, dem Russenfriedhof, den Kriegsgefangenen und den Bundeswehrsoldaten werden räumliche und kausale Korrespondenzen, aber auch Widersprüche und der Fragmentcharakter ihrer Überlieferung wahrnehmbar. Miniatur 4: Vater Paul und Filmemacher Eduard Stürmer in Kasachstan und Deutschland (Sz. 32) Die Erzählung der Familie Stürmer stellt einen besonderen Abschnitt im Film da. Die verwendeten Filmmaterialien sind die einzigen, die nicht im Rahmen der Dreharbeiten in den Jahren 2011 und 2012 entstanden sind. Sie entsprechen aber auch nicht den Archivbildern, die in konventionellen TV-Dokumentationen verwendet werden. Die Aufnahmen sind zwar Bilder der Vergangenheit, aber keine „historischen“ Filmbilder, die in Filmarchiven gefunden werden können. Es

85 TrSk., Sz. 25, Min. 45:08-46:42. 86 TrSk., Sz. 25, Min. 46:51-48:18. 87 TrSk., Sz. 25, Min. 45:08-46:42.

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handelt sich um Privataufnahmen des Vaters aus dem Jahr 1992 und des Sohns aus den Jahren 2008 und 2010, wobei letztere bereits im Hinblick auf eine spätere dokumentarfilmische Verwendung entstanden sind. In konventionellen Geschichtsdokumentationen werden historische Filmaufnahmen häufig zur vermeintlich authentischen Rekonstruktion von Vergangenheit eingesetzt. Vor allem Ereignisse und Phasen der jüngeren Zeitgeschichte, wie beispielsweise der Fall der Berliner Mauer und die nationalsozialistische Diktatur, haben sich mit historischen Aufnahmen in das mediale Gedächtnis der Gesellschaft eingeprägt. Die Privataufnahmen der Familie Stürmer scheinen dagegen zunächst weniger „historisch“, da sie keine allgemeinen Aussagen treffen können (z. B. „So war die Lebenssituation für deutsch-russische Familien in Russland in den frühen 1990er Jahren“). Ihre (mikro-)geschichtliche Aussagekraft ist jedoch theoretisch betrachtet deshalb nicht geringer. Die Aufnahmen der Familie Stürmer sensibilisieren dafür, wie Filmaufnahmen zur Authentifizierung oder als historische Quelle eingesetzt werden können und gegebenenfalls welche Sehgewohnheiten beim Publikum bereits bestehen. Die Szene 32 schließt inhaltlich unmittelbar an die Aussage des Oberleutnant Marcus K. der vorangegangenen Szene zur Situation von Migranten russischer Abstammung in der Region an. Der Kommentar aus dem „Off“, gesprochen vom Kameramann Eduard Stürmer,88 und die Texttafeln erklären die Zeit der Entstehung und ihren Kontext. Die Anordnung der Filmbilder versetzt sie zunächst in den archive-mode. Sie bilden einen Ausschnitt der vergangenen Wirklichkeit ab. Bemerkenswert ist aber, dass an dieser Stelle zum ersten und einzigen Mal ein direkter Kommentar eines Filmemachers aus der Ich-Perspektive erfolgt („Und das ist mein Vater, Paul Stürmer.“).89 Zugleich ist der „Kommentator“ Teil der Szene, tauscht dann mit seinem Vater die Position hinter der Kamera und wird schließlich von diesem direkt angesprochen („Eduard!“).90 Damit wird das Verhältnis von Filmendem und Gefilmtem sowie die Rolle der Kamera unmittelbar herausgestellt. Die Subjektivität der Kameraführung ist insbesondere dann evident, wenn die Person hinter der Kamera in direkte Interaktion mit dem „Objekt“ vor sich tritt, wie in dem Moment, als Paul Stürmer eine Hand nach einem Hund ausstreckt und dadurch selbst vor der Kamera zu sehen ist.91 Solche „Gesten“ können als klassische Authentifizierungsstrategien – als „truth claims“ – ver-

88 Wie aus dem Abspann hervorgeht ist Eduard Stürmer als Dokumentarfilmstudent Teil des Produktionsteams des Films. 89 TrSk., Sz. 32, Min. 66:53-67:11. 90 TrSk., Sz. 32, Min. 70:30-70:32. 91 SzPr., Sz. 32.

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standen werden: Der Filmende ist wirklich anwesend, erlebt die Szene tatsächlich und hat sie selbst gestaltet. Darüber hinaus evozieren die Aufnahmen von Paul und Eduard Stürmer auch einen Austausch zwischen Film, Filmemacher und Publikum im performativen Modus. Die Szene zeigt nicht nur die Entstehung des Materials und ihre Subjektivität. Die Integration des eigenen Bezugspunktes zur Erzählung des Films – nämlich der russische Migrationshintergrund eines Teammitglieds – macht den Film zu einer stark persönlichen Narration und konfrontiert das Publikum damit, dass die Auswahl des Themas, die Dreharbeiten und die Montage unter Umständen aus einer voreingenommenen Motivation entstanden sein könnten. Das Publikum wird damit zum „Mitwisser“ der Beweggründe der Filmemacher und muss sich entscheiden, ob er den Film trotzdem als authentisch, objektiv oder wissenschaftlich beurteilen kann und will. Schließlich wird durch den „performativen“ Eingriff des Kameramanns Eduard Stürmer eine klare Trennung zwischen „vor“ und „hinter“ der Kamera, „innerhalb“ und „außerhalb“ der Narration sowie „subjektiv“ und „objektiv“ unmöglich. Damit lassen sich die Filmbilder dieser Miniatur auch dem connotationmode zuordnen. Sie versuchen zwar nicht, eine historische Erfahrungswelt durch Assoziationen zu vermitteln, aber sie reflektieren den Entstehungsprozess der Szene und damit den Hintergrund und Motivationszusammenhang des gesamten Films. Damit drücken die Filmbilder ihre Beziehung zur Vergangenheit und der daraus abgeleiteten Konstruktion von „Geschichte“ aus. Miniatur 5: Vor- und Abspann (Sz. 1-3 u. 41) Wie in Kapitel 3.4 herausgearbeitet, können gerade der Vor- und Abspann eine zentrale Rolle für die Narration und Rezeption eines Films einnehmen. Hierzu sollen die Szenen 1 bis 3 und 41 betrachtet werden. Der Film bezeichnet sich selbst weder als Dokumentar- noch als Spielfilm. Die erste Szene besteht aus einer Texttafel, die einen Ausschnitt aus „Traurige Tropen“ des Ethnologen Claude Lévi-Strauss zitiert. Die ersten 37 Sekunden ist das Publikum damit konfrontiert, einen inhaltlich komplexen und aus seinem Kontext herausgerissenen Text zu lesen.92 Betrachtet man den Text näher, fällt auf, dass er ein filmbildliches Phänomen beschreibt, dass in den theoretischen Überlegungen zu Zeit und Raum bereits erörtert wurde: „Jede Landschaft stellt sich zunächst als riesige Unordnung dar, die uns die Freiheit lässt, den Sinn auszuwählen, den wir ihm am liebsten geben möchten. [...] dann verschmelzen plötzlich Zeit und Raum; die lebendige Vielfalt des Augenblicks stellt die Zeitalter nebeneinander und verewigt

92 TrSk., Sz. 1.

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sie.“93 Der Text deutet auf die Aktualisierung von Vergangenheit in der Gegenwart – auf „Geschichte“ – hin, wie sie von Deleuze und Benjamin verstanden wurde. Außerdem sensibilisiert er dafür, dass die Geschichte keine Rekonstruktion einer wirklichen Vergangenheit ist, sondern eine mögliche, je nach er Auswahl der Quellen und der Bedeutungszuschreibung. Das Publikum erhält demnach eine Lektüreanweisung, die stark selbstreflexiv ist: Die Filmemacher vermitteln über den Text von Claude Lévi-Strauss ihren Begriff von Geschichte und geben damit einen Hinweis, welche Art der Auseinandersetzung des Rezipierenden mit dem Film sie intendieren. In der zweiten Szene wird während der Dauer von über zwei Minuten eine Schafherde und ihr Schäfer gezeigt, wobei die Kameraeinstellung sich nicht verändert. Dazu liest ein Sprecher eine Zusammenfassung der Geschichte des Ortes Stetten a.k.M. und des Heubergs. Der Entstehungskontext des Textes könnte den Zuschauer erst am Ende klar werden („Boden hat ewiges Leben!“)94, wovon je nach Vorwissen des Publikums über den Nationalsozialismus aber nicht notwendigerweise auszugehen ist. Inhalt und Formulierungen des Textes „Etwas über Land und Leute des ‚Heubergs’ und über die Geschichte des Ortes Stetten am Kalten Markt“ lassen einen tendenziell dokumentarischen Film annehmen („Für unsere Betrachtung kommt die stille Hardt um Stetten in Betracht, um Stetten am kalten Markt.“).95 Darüber hinaus werden keine Beteiligten des Films genannt, sondern lediglich der Titel „Ortung“ eingeblendet.96 Im Laufe der ersten drei Minuten ist das Publikum folglich zum Lesen, Beobachten und Hören angehalten. Damit wird gleich zu Beginn des Films darauf hingewiesen, dass die Bild-, Text- und Tonebene eine jeweilige Aufmerksamkeit und kritische Beurteilung verlangen. Der Abspann des Films greift die Anweisungen des Vorspanns auf. Er nennt in der Reihenfolge ihres Auftretens im Film alle Text- und Bilddokumente, ihren Entstehungszeitraum und -ort, Urheber sowie Auffindungsort. Damit entsteht eine Art rückwirkende Lektüreanweisung: Das Publikum wird am Ende des Films über den Kontext der Dokumente informiert, deren Interpretation ihm dahin weitestgehend selbst überlassen wurde. So kann beispielsweise an dieser Stelle retrospektiv die Erkenntnis entstehen, ob ein Filmbild, eine Person oder ein Handlungsstrang „real“ oder erfunden ist. Die Montage des Abspanns, der abwechselnd mit dem Zug einer Fastnachtsgesellschaft eingeblendet wird, kann darüber hinaus die Zuschauer motivieren, die Aufmerksamkeit zu halten.

93 TrSk., Sz. 1. 94 TrSk., Sz. 2, Min. 00:42-03:12. 95 Ebd. 96 TrSk., Sz. 3.

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4.3.4 Fazit der Analyse Mithilfe der theoretischen Konzepte in Kapitel 3 wurde eine Anzahl von Merkmalen und entsprechende Methoden von kritischer Geschichtsschreibung im Film definiert. Ihre Anwendbarkeit wurde im vierten Kapitel am Film Ortung überprüft. Dabei hat die Untersuchung der Chronologie und des Aufbaus des Films gezeigt, dass die Montage durch zahlreiche Zeitsprünge, wechselnde und nicht eindeutige Datierungshinweise geprägt ist. Die Geschichte des Orts Stetten a.k.M. und des Truppenübungsplatzes wurde nicht linear erörtert, sondern mithilfe von thematischen Verknüpfungen anachronistisch konstruiert. Im Gegensatz zu Zeit stellt Raum eine konstantere Größe der historischen Verortung dar. Wiederholt tauchen dieselben zivilen, religiösen oder militärischen Bereiche auf. Sie bilden dabei nicht nur geographische, sondern auch soziale und topologische Kategorien. Bei der Untersuchung der Themenblöcke (4.4.2) hat sich gezeigt, dass Raum ein wiederkehrendes Motiv ist, das historische und aktuelle Ereignisse sowie Lebenswelten verknüpft und in Beziehung zueinander stellen kann. Auch abstrakte Konzepte, wie Rassenhass, Ideologie und Religion, konnten im Film mithilfe von sowohl gegenwärtigen als auch vergangenen Bezugspunkten dargestellt werden. Bemerkenswert ist vor allem, dass der Film die Themen Erinnerung, Gedächtnis und Geschichtsschreibung zum Gegenstand der Narration macht. Diese Aspekte werden aber nicht nur dargestellt, sondern problematisieren sich in ihrer (filmischen) Spezifik selbst. Alle Themenblöcke zeichnen sich durch fragmentarische und diskontinuierliche Montage aus. Sie durchlaufen im Film eine Entwicklung, wechseln Zeiten und Räume und erhalten damit eine multiperspektivischen Charakter. So wird zum Beispiel Rassenhass nicht allein als Ausdruck der nationalsozialistischen Ideologie, sondern als ein wiederkehrendes und nicht notwendiger Weise mit der „Phase“ 1933 bis 1945 verbundenes Phänomen dargestellt. Darüber hinaus erschließen die verschiedenen Themen auch unterschiedliche Betrachtungsweisen von Vergangenheit. Die Geschichte des Orts Stetten a.k.M. wird von ökonomischen, sozialen und wissenschaftlichen Standpunkten aus beleuchtet. Die Untersuchung der Miniaturen hat gezeigt, dass die historische Beziehung der Filmbilder zur Vergangenheit vom archive-mode bis zum connotation-mode reicht. Damit weisen sie unterschiedliche Stufen von Konstruktion auf. „Reine“ Archiv-Bilder, die lediglich als historische Referenten eingesetzt werden, sind jedoch in der Minderzahl. Der Großteil der Filmbilder unterliegt einer deutlichen Manipulation in Form von Kürzungen, autonomer Bild- oder Tonverwendung oder Parallelmontage. Die Narration der Vergangenheit ist damit stark konzipiert und entspricht damit grundsätzlich dem Konstruktionscharakter von Geschichtsschreibung. Dadurch ergeben sich zum einen anachronistische Erzählstrukturen,

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zum anderen kausale, temporale, lokale oder emotionale Verknüpfungen, die beim Publikum assoziativ hervorgerufen werden können. Vereinzelt treten außerdem filmbildliche Darstellungen der Beziehung von Gegenwart und Vergangenheit auf, die nicht auf Sprache angewiesen sind. Beispiele für das „dialektische Zeit-Bild“ lassen sich vor allem in Miniatur 2 finden. Hier wird „Geschichte“ als Aktualisierung von Vergangenheit in der Gegenwart besonders evident. Die Miniaturen zeigen darüber hinaus wiederholt selbstreferentielle und selbstreflexive Merkmale. Insbesondere der Vor- und Abspann sowie die Miniatur 2 und 4 können die Zuschauer zur Auseinandersetzung mit dem Film, seinen Produktionsbedingungen und dem Einfluss der Filmemacher motivieren. Darüber hinaus zeigt die Miniatur 4 performative Merkmale, indem die Grenzen zwischen Filmemacher und Protagonisten sowie persönliche und professionelle Intentionen aufgehoben werden. Durch die Selbstthematisierung nimmt das Filmteam eine bewusst provozierende Haltung ein und konfrontiert das Publikum mit den persönlichen Hintergründen des gesamten Projekts. Nach einer konventionellen Gattungszuordnung wäre Ortung als Dokumentarfilm zu bewerten. Da diese allerdings im Anbetracht verschwindender Grenzen zwischen faktischen und fiktiven Bildern im Film problematisch ist, habe ich den Film nach seinem semiopragmatischen Status untersucht. Dabei konnte ich feststellen, dass dokumentarisierende Lektüreanweisungen dominieren. Dementsprechend könnte man Ortung einem jedoch hier nicht weiter definierten Ensemble von dokumentarisierenden Filmen zuordnen. Die Mehrzahl der Filmbilder entspricht einem aktuellen Wirklichkeitsbezug. Fiktivisierende Elemente und der Einsatz von imaginären Bildern sind im Film verhalten. Nachgestellte Szenen oder Reenactments sind überhaupt nicht vorhanden. Lediglich in Miniatur 3 führt die Verfremdung und Montage des zugrundeliegenden Textdokuments dazu, dass eine Grenze zwischen Fakt und Fiktion nicht mehr klar gezogen werden kann. Selbstreferentielle, selbstreflexive und performative Elemente lassen damit die Zuordnung einzelner Miniaturen zum historiophotischen Modus zu. Dabei wird offensichtlich, dass der jeweilige Modus unterschiedlich stark in Filmbildern ausgeprägt ist oder nur punktuell auftritt. Ortung kann daher graduell als historiophotischer Film – also als kritische Geschichtsschreibung im Film – bewertet werden.

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S CHLUSS Bilder und Film haben in den letzten Jahrzehnten die Wahrnehmung von Vergangenheit und ihre Bedeutungszuschreibung nachhaltig geprägt. „Geschichte“ scheint omnipräsent, in Zeitschriften, Dokumentationen oder Infotainmentsendungen zu sein. Der Vorwurf der wissenschaftlichen Seite, dass diese unterhaltenden oder populärwissenschaftlichen Darstellungen zu oberflächig oder unwissenschaftlich seien, hält sich hartnäckig. Der Grund hierfür liegt aber nicht nur an der vermeintlich ausschließlich mangelhaften Qualität der journalistischen Arbeiten, sondern auch an den grundsätzlich unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung mit Geschichte durch Journalisten und Historiker. Zwar sind Letztere durchaus in Wissens- und Zeitgeschichtsredaktionen von Print, Funk und Fernsehen in beratender Funktion tätig. Die Arbeitsweisen der Wissenschaftler entsprechen aber oft noch weitestgehend der konventionellen Geschichtsschreibung, die an vielen Universitäten lange Zeit gelehrt wurde. Anstatt die medialen und wissenschaftlichen Kompetenzen zu verbinden, verteidigen beide Seiten ihre Art der Herangehensweise. In der Vergangenheit fehlten vor allem umfassende Erfahrungen im interdisziplinären Austausch zwischen Kunst, Journalismus und Wissenschaft. Die Impulse des „iconic turns“ haben jedoch in den letzten Jahren zu einer interdisziplinären Öffnung der Ausbildung von Historikern geführt. Projekte, wie „Die Quellen sprechen“ 1 des Bayerischen Rundfunks und des Instituts für Zeitgeschichte oder „memory loops“2 des Bayrischen Rundfunks und der Stadt München, zeigen, dass ein gewisser Wandel in Richtung künstlerisch-wissenschaftlicher Zusammenarbeit zu verzeichnen ist. Vor allem im Hörfunk werden zunehmend kreative Modi erprobt, um Ton für kritische Geschichtsschreibung zu verwenden. Im Bereich Fernsehen haben beispielsweise die Autorinnen Eva Gruberová und Martina Gawazim mit dem WDRDokumentarfilm „Geboren im KZ“ gezeigt, wie die Konstruktion und Genese von Geschichte in einem Film deutlich gemacht werden kann. Auch das Filmprojekt Ortung hat die Verbindung einer künstlerischen Verwendung von Film und geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen erprobt. Innerhalb des Projektteams unterschieden sich zwar Herangehensweisen, Interessen und Motive, aber nicht notwendigerweise zwischen Film- und Geschichtsstudenten, sondern gerade innerhalb der jeweiligen Disziplinen. Rückblickend beurteilt, traten Meinungsdifferenzen nicht auf, weil die Arbeitsweisen von Filmemacher und Historikern prinzipiell verschieden waren. Vielmehr waren es

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http://die-quellen-sprechen.de

2

http://www.memoryloops.net

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grundlegende Auffassungen von Vergangenheit, ihrer vermeintlichen Rekonstruktion und Bedeutung in Filmbildern. Eine gemeinsame Vorstellung von „Geschichte“ musste entwickelt werden, um erfolgreich zusammenarbeiten zu können. Nicht zuletzt bin ich überzeugt, dass gerade die Einflussnahme von sieben „Filmemacher“ dazu geführt hat, dass der Film Ortung verschiedenartige Bereiche aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Die Dreharbeiten des Films folgten keinem zuvor definierten Konzept, sondern ergaben sich aus persönlichen Intentionen, Interessen, Zufällen und Kompromissen. Dabei konnten in der Postproduktion viele Themenkomplexe und Perspektiven aus pragmatischen Gründen nicht mehr berücksichtigt werden. Die Erfahrung der Entstehung eines solchen historiophotischen Projekts hat gezeigt, wie sehr Geschichtsschreibung nur eine mögliche, spezielle Interpretation von Vergangenheit ist. Das für den Schnitt zur Verfügung stehende Material von 120 Stunden Filmaufnahmen, zahlreichen Akten und 17 Interviews kann nur einen Bruchteil der Vergangenheit des Orts Stetten am kalten Markt abdecken. Der endgültige Film – eine 92-minütige „Essenz“ aus dieser Materialsammlung – ist wiederum eine winzige und stark manipulierte Auswahl. Gerade Filme und ihr Entstehungsprozess können daher dafür sensibilisieren, wie selektiv Geschichtsschreibung ist und unter welchen Bedingungen sie arbeitet. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass die Auseinandersetzung mit dem Medium Film und seinen Möglichkeiten gerade zur kritischen Reflexion von Historiographie anregen kann. Wie Robert Rosenstone feststellte, bietet Historiophotie nicht nur die Chance, Geschichte in Filmbildern darzustellen, sondern die Natur unserer Beziehung zu Vergangenheit grundsätzlich zu hinterfragen. Dementsprechend widmen sich meine Überlegungen nicht nur der Frage, wie Filme als Darstellungsmittel für Geschichte verwendet werden können, sondern auch grundlegenden, geschichtstheoretischen Überlegungen zu den Bedingungen einer zeitgemäßen Geschichtswissenschaft. Dabei hat die Beschäftigung mit Konzepten der film- und geschichtswissenschaftlichen Theorie meine Beurteilung des Umgangs mit „Geschichte“ – unabhängig ob textuell oder filmisch – beeinflusst. Es hat sich gezeigt, dass die intensive theoretische Auseinandersetzung maßgeblich für die Entwicklung einer gewinnbringenden Analyse war. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass eine kritische und wissenschaftlich fundierte Nutzung von Film zur Vermittlung und Reflexion von Vergangenheit sowohl in der Filmbranche als auch in der Geschichtswissenschaft kaum zu finden ist. Bis auf Ausnahmen, wie beispielsweise die Filme von Claude Lanzmann, sind es meist unbekannte „Dokumentarfilme“, die alternative Darstellungsweisen von Geschichte im Film erproben. Ein Genre des kritischen Geschichtsfilms kann man aus Mangel an Beispielen kaum bestimmen. Trotz der

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zunehmenden Medialisierung in der Wissenschaft hält sich die Annahme, dass das Medium Film keine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte zulässt. Filmbilder werden in der Regel mehr nach ihrem künstlerischen, weniger nach ihrem wissenschaftlichen Potential bewertet. Dagegen dominieren Text und Sprache vor allem in der Geschichtswissenschaft die Forschungs- und Publikationspraxis. Ziel dieser war es deshalb, Argumente zu finden, warum Film auch als adäquates Mittel der kritischen Geschichtsschreibung berücksichtigt werden kann. Darüber hinaus sollte geprüft werden, welchen spezifischen Beitrag Film zum wissenschaftlichen Diskurs bieten kann. In einem ersten Schritt verfolgte ich zunächst die grundsätzliche Frage, welche Anforderungen Geschichte und Geschichtsschreibung der Gegenwart mit sich bringen, verfolgt. In einem zweiten Kapitel untersuchte ich dann vergleichend Problemfelder von textueller und filmischer Geschichtsschreibung. Daraus ließen sich Merkmale einer Theorie der filmischen Geschichtsschreibung ableiten, deren spezifisches Potential herausgearbeitet wurde. Daran anschließend habe ich im dritten Kapitel anhand verschiedener Ansätze aus der Geschichtsphilosophie, Filmtheorie und Rezeptionstheorie Methoden einer kritischen Geschichtsschreibung definiert. Im letzten Abschnitt habe ich diese schließlich am Beispiel des Films Ortung auf ihre Anwendbarkeit überprüft. Die Frage, was kritische Geschichtsschreibung überhaupt sei und welcher Geschichtsbegriff den Überlegungen zu Grunde liege, spielte eine maßgebliche Rolle. Die gegenwärtige Historiographie ist stark von den Erkenntnissen des „linguistic turn“ geprägt. Danach ist Geschichtsschreibung immer an die Konventionen und formalen, disziplinären oder sozio-kulturellen Bedingungen ihrer Zeit gebunden. Um die Möglichkeiten einer Historiophotie diskutieren zu können, musste zunächst ein aktueller – also ein „postmodern“ geprägter – Geschichtsbegriff als Basis der Untersuchung definiert werden. Die Einflüsse der Postmoderne – oder auch reflexiven Radikal-Moderne – haben Pluralität, die Abkehr von universalen Wahrheits- und Wirklichkeitsansprüchen und den „großen Erzählungen“ gefordert. Damit verbunden sind eine Öffnung gegenüber alternativen und unter Umständen auch konkurrierenden Erzählweisen sowie eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Ausschließlichkeitsforderungen. Diese Prämissen haben auch die Regeln der Geschichtswissenschaft neu geordnet. Vor allem die Anerkennung einer außersprachlichen Wirklichkeit bedeutete den Verlust des historischen Referenten, der verlässlich hinter dem Geschriebenen auf eine wirkliche Vergangenheit zugreifen könnte. Was Hans-Jürgen Goertz als „unsichere Geschichte“3, Christoph Conrad und Martina Kessel als „Geschichte

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Goertz: Unsichere Geschichte.

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ohne Zentrum“4 und Reinhart Koselleck als „Vetorecht der Quellen“5 bezeichnen, verweist auf das zentrale geschichtswissenschaftliche Problem in der „Postmoderne“: eine verlässliche, endgültige und absolute Aussage über Vergangenheit kann nicht getroffen werden. Hayden White und andere Vertreter der „narrative theory“ haben darüber hinaus festgestellt, dass Geschichtsschreibung als Narration immer auch fiktivisierende Elemente enthält und damit eine normative Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion selbst in der Historiographie nicht mehr haltbar ist. An die Stelle des historischen Referenten ist der Begriff der Referentialität getreten. Postmoderne Geschichte ist demnach als eine Relationsmessung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, als eine retrospektive und partikulare Konstruktion der Genese der Gegenwart zu verstehen. Dabei erhebt sie keinen Anspruch auf die Abbildung von absoluter Realität. Auch Film kann als eine Form der Geschichtsschreibung, als Historiophotie, anerkannt werden. Es hält sich jedoch der Vorwurf, dass Filme den Standards von textueller Geschichtsschreibung nicht gerecht werden können. Dagegen haben unter anderen Robert Rosenstone und Hayden White überzeugend argumentiert, dass Film als selbstständige Diskursform mit eigenen Regeln betrachtet werden muss. Historiophotie kann eine Alternative zur konventionellen Historiographie darstellen, wenn man ihre audio-visuellen Fähigkeiten zur Konstruktion von Geschichte anerkennt. Denn gerade die nonverbale Dimension von Filmbildern bietet die Chance, Bereiche, die Texten und Sprache verschlossen bleiben, zu erschließen und assoziativ und evokativ auszudrücken, was jenseits der Grenze des Sagbaren liegt. Die Möglichkeiten der filmischen Darstellung von Geschichte geben Anlass, die Praxis der Geschichtsschreibung grundsätzlich zu überdenken. Allerdings fehlen der Historiophotie bisher eigene Regeln und Kriterien. Um diese zu erforschen, habe ich zunächst die Berührungspunkte von textueller und filmischer Geschichtsschreibung herausgearbeitet. Das zentrale gemeinsame Problemfeld ist der filmische/textuelle Bezug zur gegenwärtigen wie zur vergangenen „Wirklichkeit“. Die Untersuchungen zur Wirklichkeitskonstruktion im Film von unter anderen Joachim Paech und Margit Tröhler haben gezeigt, dass weder Film noch Text eine Verbindung zu einer „wahren Realität“ haben. Narrationen – gleich welcher filmischen oder historiographischen Gattung – können nie auf vergangene Referenten unmittelbar zugreifen. Sie müssen sich zwangsweise fiktionali-

4

Conrad/Kessel: Geschichte ohne Zentrum.

5

Koselleck, Reinhart: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Franfurt a.M. 1989, S. 206.

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sierender Elemente bedienen, um Bedeutung zu generieren. Folglich gibt es keine fiktionsfreie Diskursform und eine normative Unterscheidung nach Fiktionalität und Faktizität ist nicht sinnvoll. Begreift man Geschichtsschreibung als „Fiktion des Faktischen“ (Koselleck) und Film als „Fiktion des Wirklichen“ (Paech) wird klar, dass filmische Geschichtsschreibung der textuellen grundsätzlich nicht nachsteht. Analog zur Referentialität kann Fiktionalität als gradueller Begriff definiert werden. In Anlehnung an Thomas Pavel, Lubomír Doležel und Umberto Eco hat Tröhler herausgearbeitet, dass Dokumentarfilm mögliche Welten konstruieren kann, die nicht nach Fakt und Fiktion, sondern nach ihren Möglichkeiten bewertet werden können. Denn der Wahrheitsgehalt von Darstellungen steht immer in Relation zum Wahrheitsbegriff der Bezugswelt. Während Tröhler nur die Existenz von multiplen und partikularen „Wahrheiten“ als filmische Bezugspunkte herausstellt, hat Linda Williams die Aufgabe des „neuen“ Dokumentarfilms definiert: er soll Ideologien und das Bewusstsein über konkurrierende Wahrheiten enthüllen. Diese Aufgabe ist rein verbal nicht zu leisten. Entsprechend des „anti-language approach“ können alternative Narrationsformen im Film die Darstellung von Phänomenen jenseits der verbalen Ausdrucksweisen ermöglichen. Hayden White, Nancy Partner und Jeanne-Marie Gagnebin haben aufgezeigt, dass parahistorische und unkonventionelle Darstellungen gerade die Anforderungen von „Nicht-Geschichten“ erfüllen können. Die Überlegungen der Vertreter der „narrative theory“ und der Filmtheorie haben überzeugend das Potential von Film zur Darstellung von Geschichte dargelegt. Wesentlicher ist jedoch die Beantwortung der Frage, welche tatsächlichen Möglichkeiten Film zur kritischen Auseinandersetzung mit Vergangenheit und ihrer Konstruktion in der Gegenwart bietet. Dafür habe ich zunächst anhand der Überlegungen zum Begriff der Geschichte in der Postmoderne und mithilfe der Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung von Frank Rexroth eine eigene Definition von Historiophotie aufgestellt. Diese ist als eine produktive Konstruktion von Vergangenheit zu verstehen, welche die angewandten Methoden und das Verhältnis der eigenen Gegenwart zur untersuchten Vergangenheit einer selbstkritischen Reflexion unterzieht. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass filmische ebenso wie textuelle Geschichtsschreibung nur durch Kommunikation eine austauschende Praxis sein kann. Demnach muss auch der Kommunikationszusammenhang von Filmen und ihre Rezeptionspraxis berücksichtigt werden. Die Filmbildkategorien von Olaf Berg haben sich als eine wichtige und notwendige Alternative zur konventionellen Beurteilung von Bildern und ihrem Bezug zur Vergangenheit erwiesen. Film lässt sich demnach nicht nur als dokumentarische Quelle oder als Darstellungsmittel bewerten. Vielmehr muss aner-

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kannt werden, dass sich in Filmbildern das Verhältnis ihrer Gegenwart zur Vergangenheit und damit verbunden ihr Konstruktionscharakter manifestiert. Filmbilder operieren in unterschiedlichen Modi, dem archive-, emulation-, traceoder connotation-mode, und zeigen damit auf visuelle, akustische und/oder verbaler Weise, wie das Verhältnis von Orten, Ereignissen oder Personen (vor und hinter der Kamera) zur Vergangenheit geprägt ist. Damit treffen sie immer auch eine Aussage über das ihnen zugrundeliegende Verständnis von Geschichte. Der gezielte Einsatz von Bildern, vor allem im trace- und connotation-mode, kann Aufschluss über die Möglichkeiten von Geschichtskonstruktionen, ihre Grenzen und die selbstbezügliche Auseinandersetzung damit geben. Mit seinen Kategorien beweist Berg, dass kritische Geschichtsschreibung im Film nicht nur möglich ist, sondern mit spezifisch filmbildlichen Mitteln operiert. Dabei zeigt er sogar, dass Erkenntnisse über Erinnerung, Emotionen oder Trauma auf diese Weise ausschließlich in Filmbildern umsetzbar sind. Bergs Theorie schärft das Bewusstsein dafür, dass Filme grundsätzlich als eigene Diskursform berücksichtigt werden müssen und dass Kategorisierungen analog zu schriftlichen Quellen das reflexive und assoziative Potential von Filmbildern vernachlässigen. Während Berg lediglich das Verhältnis zu Vergangenheit in Filmbildern untersucht, haben Gilles Deleuze und Walter Benjamin in ihren Theorien des „ZeitBilds“ beziehungsweise des „dialektischen Bilds“ die These aufgestellt, das Geschichte unmittelbar und nonverbal in Filmbildern evident werden kann: als Aktualisierung von Vergangenheit in der Gegenwart. Ihre Theorien stimmen in der Auffassung überein, dass ein bildlicher Bruch mit zeit-räumlichen Kontinuitäten zu einer „diskontinuierlichen Öffnung“ (Deleuze) oder „Dialektik im Stillstand“ (Benjamin) führt, die Geschichte in diesem Moment wahrnehmbar werden lässt. Durch den autonomen und vermischten Einsatz von imaginären und realen Bildern und Tönen wenden sich solche Filmbilder auch gegen die Auffassung eines linearen und determinierten Verlaufs von Vergangenheit. Darüber hinaus stellen sie heraus, wie Geschichte als gegenwärtige Konstruktion der Vergangenheit verstanden werden kann. Der changierende Austausch zwischen Vergangenheit und Gegenwart im „dialektischen Zeit-Bild“ macht darüber hinaus bewusst, dass Geschichtsschreibung als Aneignungspraxis, die sich in permanentem Wandel befindet, verstanden werden kann. Die Erkenntnisse der Geschichtstheoretiker Goertz, Koselleck und White werden vom filmtheoretischen Ansatz von Deleuze bestätigt: filmische wie textuelle Konstruktionen von Geschichte müssen die historische Referentialität ihres Untersuchungsgegenstands, nicht einen fixierten Referenten, ermitteln. Unter der Berücksichtigung, dass Film kein starres Produkt, sondern Gegenstand und Akteur eines kommunikativen Austauschs zwischen Filmemacher und

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Publikum ist, wurden die Möglichkeiten zur Selbstbezüglichkeit und Rezeptionsanleitungen untersucht. Mithilfe der Überlegungen von Frank Thomas Meyer und Bill Nichols hat sich herausgestellt, dass die Begriffe Selbstreferentialität, Selbstreflexion und Performanz unterscheidbare und wesentliche Kriterien für Historiophotie sein können. Selbstreferentialität stellt den Konstruktionscharakter von Filmen, ihre Manipulation oder den Einfluss der Filmemacher heraus. Selbstreflexion dagegen beinhaltet die Infragestellung der eigenen Methoden oder Motive und – auf einer metareflexiven Ebene – der Evidenz von Filmbildern. Unter „performativen“ Filmbildern verstehe ich jene, die eine gewisse Autonomie des Publikums schaffen können. Dies geschieht durch eine provokative und offensichtliche Evokation der Rezipierenden. Sie bleiben nicht passive Empfänger von Informationen, sondern nehmen aktiv an der Auseinandersetzung mit dem Dargestellten teil. Folglich muss Film auch als soziale Praxis verstanden werden. Diese Auffassung wurde bei der Untersuchung der Wirklichkeitsbedingungen von Produktion und Rezeption bestätigt. Eva Hohenberger, Joachim Paech und Manfred Hattendorf haben mit dem Produktions- und Rezeptionszyklus gezeigt, dass die Wirklichkeit eines Films zwischen Filmemacher, Protagonisten und Rezipierenden, unter den Bedingungen vor, während und nach der Produktion und Rezeption, ausgehandelt wird. Die Theorie der Semio-Pragmatik hat diese Argumentation weiter untermauert. Roger Odin hat überzeugend gezeigt, dass Lektüreanweisungen innerhalb und außerhalb des Films die Rezeption beeinflussen können. Besonders gewinnbringend war außerdem Odins graduelle Unterscheidung von Lektüremodi. Treten widersprüchliche, hybride oder diskontinuierliche Lektüreanweisungen in einem Film auf, kann das Publikum keinen eindeutigen Lektüremodus befolgen und wird damit zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Film, den Intentionen der Filmemacher und den eigenen Rezeptionsgewohnheiten angeregt. Nicht zuletzt bietet das Konzept der SemioPragmatik eine alternative Gattungszuweisung nach Lektüre-Ensembles. Die unterschiedlichen Theorien und Überlegungen haben eine gute Basis zur Entwicklung des Methodenkatalogs dargestellt. Bemerkenswert war hierbei, wie deutlich sich methodische Parallelen zwischen den verschiedenen Konzepten herausarbeiten ließen. Dementsprechend war der Umfang der aufgestellten Methoden zwar nicht groß, dafür aber, wie sich in der Analyse bestätigt hat, durchaus kompatibel. Die Entwicklung weiterer Methoden scheint daher erfolgversprechend. Die Analyse im Allgemeinen lässt sich als durchaus zufriedenstellend beschreiben. Mithilfe des Szenenprotokolls, der Transkription des Films und der Kategorisierung der Materialtypen war es möglich einen schematischen Überblick von der Art der Filmbilder, der Erzählstruktur, der Chronologie und den inhaltlichen Schwerpunkten und ihren (Dis)kontinuitäten zu erlangen. Dies er-

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leichterte es auch, die einzelnen Themenblöcke und die Bestimmung der Miniaturen herauszuarbeiten. Die Analyse der Themenschwerpunkte hat gezeigt, welche unterschiedlichen Perspektiven der Film einnimmt. Obwohl alle Bereiche nur fragmentarisch behandelt werden, zeigt Ortung, dass ein multiperspektivischer Blick auf Vergangenheit und Geschichte nicht nur möglich ist, sondern dass die filmische Umsetzung auch die kritische Auseinandersetzung mit den Themen begünstigt. Die Untersuchung der Miniaturen hat sich vor allem auf die Abfolge der einzelnen Filmbilder und ihre mögliche Bedeutung konzentriert. Dabei konnten alle in 3.5 entwickelten Methoden, einige sogar wiederholt, festgestellt werden. Besonders auffällig war, dass Geschichte und Geschichtsschreibung selbst zum Thema und im Film Teil der Narration wurden. Darüber hinaus gab Ortung auf einer Metaebene Impulse zur Reflexion und Infragestellung des Umgangs mit Geschichte. Dass die Rezeption eines Films selbst für die Filmemacher ein dynamischer Prozess ist, habe ich selbst erfahren können. Bei Vorführungen im Rahmen unterschiedlicher Veranstaltungen und nicht zuletzt beim wiederholten „analytischen Lesen“ des Films habe ich festgestellt, dass Rezeption als sozialer Prozess zu betrachten ist. Zum einen habe ich je nach Publikum durch Gespräche von unterschiedlichen Interpretationen erfahren. Außerdem hat sich mein eigener Blick auf dokumentarisierende Filmbilder verändert. Umso intensiver ich mich mit Ortung beschäftige, desto mehr war ich in der Lage, als Rezipientin immer wieder Bedeutung aus den Filmbildern zu gewinnen, die mir während der Dreharbeiten und der Postproduktion nicht zugänglich war. Die Überlegungen zu Differenzen und Gemeinsamkeiten von textueller und filmischer Geschichtsschreibung und den Möglichkeiten einer kritischen Historiophotie als Alternative zur konventionellen Historiographie haben gezeigt, dass wohl gerade die scharfe Trennung dieser Formen der Geschichtsschreibung Ursache für die fehlende Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Herangehensweise ist. Im Rahmen dieses Textes konnten nur die spezifisch filmischen Methoden erarbeitet und bewertet werden. Geschichtsschreibung muss, beziehungsweise sollte, sich jedoch nicht nur auf ein Medium beschränken. Für mich ist das Projekt Ortung nicht mit der Produktion des Films abgeschlossen. Ich erachte diesen schriftlichen Beitrag als einen Teil davon. Weder Bild, Ton oder Text – allein oder kombiniert – können alle Dimensionen von Geschichte erfassen. Mit transmedialen Darstellungen könnte schließlich zumindest die Multidimensionalität von Geschichte aufgezeigt und ein Bewusstsein für alternative Geschichtsschreibung in der „Postmoderne“ geschaffen werden.

Quellen, Literatur und Abbildungen

I. Q UELLEN 1. Filme Ortung (D 2012), Regie: Kathrina Edinger, Eduard Stürmer, Marco Kugel, Johannes Friedl, Nina Mirza, Helena Körner, Serpil Turhan. Der Baader Meinhof Komplex (D 2008), Regie: Uli Edel. The Halfmoon Files (D 2007), Regie: Philip Scheffner. Der Untergang (D 2004), Regie: Oliver Hirschbiegel. Hitlers Helfer I & II (D 1996), Regie: Guido Knopp, Sebastian Dehnhardt, Christian Deick, Andreas Christoph Schmidt. Forrest Gump (USA 1994), Regie: Robert Zemeckis. JFK (USA 1991), Regie: Oliver Stone. Shoah (F 1985), Regie: Claude Lanzmann. Far from Poland (USA 1984), Regie: Jill Godmillow. Sans Soleil (F 1983), Regie: Chris Marker. Zelig (USA 1983), Regie: Woody Allen. Die Patriotin (D 1979), Regie: Alexander Kluge. La Jetée (F 1962), Regie: Chris Marker. 2. Literatur Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985. Clair, Johannes: Vier Tage im November. Mein Kampfeinsatz in Afghanistan, Berlin 2012. Eichinger, Bernd/Fest, Joachim: Der Untergang. Das Filmbuch, Reinbek 2004. Eichinger, Katja: Der Baader-Meinhof-Komplex. Das Buch zum Film, Hamburg 2008.

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Knopp, Guido: Hitlers Helfer, München 1998. Lanzmann, Claude: „Parler pour les morts“ entretien avec Guy Herlich, in: Le monde des débats, 5(2000), S. 15. Lévi-Strauss, Claude: Traurige Truppen, dt. v. Eva Moldenhauer, Berlin 2012. Müller, Herta: Atemschaukel, München 2009. Müller, Herta: Herztier, Reinbek 1993. Safran Foer, Jonathan: Unglaublich nah & extrem laut, Köln 2005. Sartre, Jean-Paul: Der Ekel, Reinbek 51963. Spiegelman, Art: The Complete Maus: A Survivor’s Tale, New York 1994. 3. Berichterstattung/Presse (online und gedruckt) Gemeinde Stetten a.k.M./Standortkommandantur Truppenübungsplatz Heuberg] (Hg).: Stetten am kalten Markt. Profil eines optimierten Bundeswehrstandortes. Stationierung, Ausbildung, Üben und Schiessen an einem Standort, Stetten a.k.M. 2007, URL: http://www.stettenakm.de/fileadmin/ Dateien/Dateien/standortprofil_stetten_akm.pdf [Stand: 11.08.2014] Jung, Volker: Truppenbesuch: Verteidigungsminister in den Standorten Sigmaringen und Stetten, URL: http://www.deutschesheer.de Stand 25.11.13. 4. Quellen zur Geschichte von Stetten am kalten Markt/ Truppenübungsplatz „Heuberg“ 100 Jahre Garnison Stetten a.k.M. Truppenübungsplatz Heuberg. 50 Jahre Bundeswehrdienstleistungs-zentrum. 50 Jahre Truppenübungsplatzfeuerwehr, hg. v. Bundeswehr Garnison Stetten a.k.M., Stetten a.k.M. 2010. Jeuck, Erika/Schaffer, Wolfgang (Hg.): 1200 Jahre Stetten am kalten Markt. 799-1999. Geschichte der Gemeinde und ihre Ortsteile, im Auftrag der Gemeinde Stetten am kalten Markt, Ulm 1999. Kienle, Markus: Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt, Ulm/Münster 1998. 5. Internetseiten Jahresbericht 2011 der Gerda Henkel Stiftung, URL: http://www.gerda-henkelstiftung.de/content.php?nav_id=352&language=de&nav_id=352 [Stand: 28.03.2013].

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III. A BBILDUNGEN

UND

T ABELLEN

Abbildung 1: Karte des Truppenübungsplatzes 1916; Quelle: Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg. Abbildung 2: Russische Kriegsgefangene auf dem Truppenübungsplatz Heuberg; Quelle: Bildbroschüre „Leben und Treiben der Kriegsgefangenen“ der Kommandantur des Kriegsgefangenenlagers Heuberg, 1917. Abbildung 3: Kinder des Kindererholungsheims Heuberg; Quelle: Geschichtsund Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg. Abbildung 4: Wachmannschaft des Konzentrationslager Heuberg, 1933; Quelle: Geschichts- und Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg.

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Abbildung 5: Französische Kriegsgefangene bei Lackierarbeiten, 1941; Quelle: Privatbesitz Willi S./Geschichtsund Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg. Abbildung 6: Ehemaliges Försterhaus auf dem Truppenübungsplatz Heuberg; Quelle: Standbild aus Filmmaterial Ortung. Abbildung 7: Willi S. notiert Erinnerungen auf seinem Computer; Quelle: Standbild aus Filmmaterial Ortung. Abbildung 8: Russische Kommandatura in Stetten a.k.M; Quelle: Geschichtsund Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg. Abbildung 9: „Haine“ (dt.: Hass), Blick von Stetten auf den Truppenübungsplatz; Quelle: Standbild aus Filmmaterial Ortung. Abbildung 10: Marcus K. als Beobachter einer Manöverübung; Quelle: Standbild aus Filmmaterial Ortung. Abbildung 11 : Bildkategorien nach Olaf Berg; Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 12: Montagefolge von Standbildern aus der Traumszene in Chris Markers La Jetée; Quelle: Eigene Darstellung, Einzelbilder aus La Jetée (F, 1964). Abbildung 13: Schematische Darstellung Zeit-Bild und dialektisches Bild; Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 14: Produktions- und Rezeptionszyklus; Quelle: Eigene Darstellung. Tabelle 1: Montage-Beispiel für Bewegungs-Bild; Quelle: Eigene Darstellung.

Anhang

I. T RANSKRIPT O RTUNG (2012) Szene

Timecode

Transkript (OT On/Off + Text)

1

00:02-00:39

2

00:42-03:12

Jede Landschaft stellt sich zunächst als riesige Unordnung dar, die uns die Freiheit lässt den Sinn auszuwählen, den wir ihm am liebsten geben möchten. Wenn sich im selben Augenblick im Felsen zwei Ammonshörner mit ungleich komplizierten Windungen erraten lassen, die auf ihre Weise von einem Abstand von einigen 10.000 Jahren zeugen: dann verschmelzen plötzlich Zeit und Raum; die lebendige Vielfalt des Augenblicks stellt die Zeitalter nebeneinander und verewigt sie. Tristes Tropiques, Claude Lévi-Strauss, 1955 An der südwestlichen Ecke des deutschen Vaterlandes liegt ein Fleckchen Erde, wo sich, wie der Badener zwischen Mannheim und Konstanz meint, die Füchse und Hasen einander gute Nacht sagen. Der Heuberg. Eine Landschaft, für deren schöne, herbe Eigenart auch einmal Maler und Sänger erstehen müssten. Wo die Bienenorgel zur Zeit des hohen Sommers über Thymian und Heidekraut summt, wo seltene Gebirgs- und Steppenpflanzen gedeihen und die ungeheure Weite des Horizonts in Sonnenauf- und Untergängen prunkt wie nirgends sonst. Wo aber auch, wie überall von den Höhen her in diesem Landstrich Badens, die höchsten Alpenfirne an den Himmel zeichnen eine wahrhaft

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03:03-03:08 03:39-05:11

überwältigende Schau der steinalten Schöpfung aus dem Dunkel ins Licht. Viel weiß man nicht vom Innenleben der Bauern hier oben, aber zu ahnen ist es, dass sie wohl viel heimliches, ihnen fast unbewusstes Brauchtum haben. Der Himmel ist über ihnen weit gespannt, von keiner Seite geschützt, weil sie selber auf der Höhe wohnen, ausgeliefert. Die alten Römerstraßen blieben in allen Zeiten für Heere gangbar. Die Ritterfehden von Burg zu Burg, von Landschaft zu Landschaft, waren oft grausamer und blutiger als ein großer Krieg. Nichts jedoch kam den Trubeln des dreißigjährigen Krieges gleich. Die Horden, von berittenen Heerscharen abgesprengt, fanden das einsamste Bauerngehöft so sicher wie das stillste Kloster. Sie brandschatzten die bewährten, tapferen Städte und die mutig verteidigten Dörfer. Dann kamen die Franzosenkriege, der spanische Erbfolgekrieg. Und ihre Soldaten hausten nicht minder grauenvoll. Das Bauernland ächzte inmitten seiner blutgetränkten zerstampften Äcker und verbrannten Wälder, aber es starb nicht. Boden hat ewiges Leben! Der Heuberg ist groß. Für unsere Betrachtung kommt die stille Hardt um Stetten in Betracht, um Stetten am kalten Markt. Ortung Truppenübungsplatz Heuberg, Haus Oberförsterei, 08. August 1941 Liebe Mutter und lieber Vater! Und Helga und Roswitha! Gestern und heute ist der heißeste Tag. Man kann es kaum aushalten vor Hitze. Nun will ich berichten wie ich den Tag anfange und aufhöre: Wenn ich am Morgen aufgestanden bin, dann wasche ich mich zuerst und bringe mein Zimmer in Ordnung. Bald darauf gehe ich zum Frühstück hinunter. Danach gehe ich mit Helmut nach Stetten zum Einkaufen. Wenn ich nicht einkaufen muss, gehe ich in den Garten zum Spielen. Bei Regenwetter spielen wir im Wohnzimmer. Um ein Uhr essen wir zu Mittag.

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06:57-07:20

8

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Heute gab es Fleischknödel, Kartoffeln und Bohnen. Das schmeckte mir. Nach dem Essen helfe ich Frau S. beim Abwasch. Dann spielen wir wieder unten im Garten. Ich spiele mit Maja. Sie hat eine goldige Katze und ein Rad. Wir spielen immer bis Frau S. zum Nachtessen ruft. Dann gehe ich zu Bett. Von meinem Zimmer aus kann ich zu den Soldaten in ihre Schlafstuben hineinsehen. Das Lager sieht aus wie eine kleine Stadt. Man sieht ringsum Lager. Sonst nichts. Bei uns in der Nähe im Wald gibt es einen Russenfriedhof! Da war ich schon ganz allein mit Maja drinnen. Es ist schwer interessant. Jetzt ist es mir nicht mehr langweilig! Wie geht es meinen Puppen? Wie geht es Vater im Geschäft? Ich denke immer ans Geschäft, dass ich da viel nötiger bin als hier. Schreibt mir! Die herzlichsten Grüße sendet euch Eva! „Und mancher Entschluss zum Fluchtversuch nach dem Lande der Freiheit, der Schweiz, mag gefasst worden sein. Dank der Aufmerksamkeit der Wachmannschaften hier und an der Grenze enden derartige Versuche aber fast immer mit der Rückkehr zu dem sicheren Hort des Lagers, das ihnen das kostbare Gut des Lebens sichert in dieser eisernen, totstarrenden Zeit.“ Aus: Leben und Treiben der Kriegsgefangenen, Kommandantur des Kriegsgefangenenlagers Heuberg, 1917 „Blick vom Gefangenenlager nach dem Truppenlager und nach Stetten“ Leben und Treiben der Kriegsgefangenen.

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Im Dezember 1914 wird ein Kriegsgefangenenlager auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes Heuberg eingerichtet. Dort befinden sich bis zu 15.000 Kriegsgefangene französischer und russischer Herkunft. Zur gleichen Zeit sind im Truppenlager etwa 5000 Soldaten des XIV. Badischen Armeekorps stationiert. Der Musketier Albert V. wird im November 1914 eingezogen und bereitet sich hier auf seinen Einsatz an der deutsch-russischen Front vor. Heuberg, 24. November 1914 Meine Lieben! Da ich bis jetzt noch nichts bekommen habe, bin ich in der Lage zu fragen, ob ihr noch am Leben seid oder nicht. Alle meine Kameraden erhalten bereits jeden Tag Post. Nur ich stehe immer mit leeren Händen da. Wir haben bisher noch keine Leibwäsche erhalten. Daher seid so gut und schickt mir eine Kappe und Fingerhandschuhe, Unterhosen und ein Unterleibchen. Und ein paar Kniewärmer, aber so bald wie möglich. Es grüßt euch, Albert. „Appell einer Russenkompagnie“ Heuberg, 3. Dezember 1914 Liebe Mutter und Schwester! Endlich komme ich dazu, euch zu schreiben und mich für die Pakete zu bedanken. Also besten Dank. Ihr müsst die Pakete besser verpacken. Die Birnen waren ganz breit gedrückt. Ich bin immer noch gesund. Was ich auch von euch hoffe. Das Essen wird immer schlechter. Die ersten zwei Wochen war es gut. Es gab mittags immer Suppe und Gemüse und Fleisch. Jetzt bekommen wir nur noch Gemüse und Fleisch und manchmal so schlecht gekocht, dass man es kaum essen kann. So viel dürre Wurst müsst ihr mir nicht schicken. Schickt mir lieber Landjäger. Sie sind besser zum Aufbewahren. Morgen, Freitag, werden wir vereidigt. Am zehnten Dezember sollen wir feldgrau eingekleidet werden. Ich komme voraussichtlich an Weihnachten auf Urlaub. Komme am 24. nachts. Wann genau

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weiß ich nicht. Komme in feldgrau. Grüßt Euch alle, auf Wiedersehen, Albert. „Russen beim Essenfassen“ „Russen beim Waschen“ Augustowo, 19. Februar 1915 Meine Lieben! Endlich komme ich dazu, euch zu schreiben. Habe sonst keine Zeit dazu. Es geht alle Tage drauf und drauf. Meine Erlebnisse bis jetzt: In Gutschen ausgeladen marschierten wir bis Blimballen von mittags bis nachts, wo wir dann vier Tage Ruhe hatten. Dann ging es aber los: Am Achten Marsch gegen den Feind. Kamen in einen Wald, wo wir Stunden im Schnee standen. Kalte Füße, dann ging es zurück ins Quartier. Den Neunten wieder vor, aber die Russen rissen aus. Am 13. fingen wir eine russische Bagage ab. Am 14. ins erste Gefecht bei Regen. Am 15. schreckliches Infanteriefeuer. Immer noch nass. Im zweiten Gefecht bekam Wilhelm Marx eine Kugel durch das Kochgeschirr und zwei sausten haarscharf am Kopf vorbei. Am 18. wieder hierher. Ich habe schon einen ordentlichen Bart im Gesicht. Unsere Armee hat bis jetzt 60.000 Gefangene gemacht. Seid nicht böse, wenn ich so lange nicht schreibe. Schreibe jedes Mal, wenn ich Zeit habe. Wie geht es euch? Seid ihr alle gesund? So Gott will, auf Wiedersehen. Euer Albert. „Inneres einer Russenbaracke “ „Junge russische Kriegsgefangene“ Schützengraben bei Kolno in Russland, 24. Mai 1915 Geehrte Frau V.! Will es nicht unterlassen Ihnen mein Beileid zu dem Verlust Ihres Sohnes Albert auszusprechen. War ich doch auch längere Zeit sein Lehrer und ich weiß, was für ein Mensch mit ihm dahingegangen ist. Gestern, am ersten Pfingstfeiertag, habe ich die Stätte noch einmal besucht, wo er mit drei Kameraden ruht. Das Grab ist mit Steinen eingefasst und es

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blühen kleine Sträucher darauf. Das Herz dreht sich einem um, wenn man die guten alten Bekannten ruhen sieht. Aber geehrte Frau V. – beruhigen Sie sich – denn er ist von allem erlöst und es schlafen ja so viele in seiner Nähe von seinen Kameraden. Wir, die das Glück hatten bis jetzt mit dem Leben davon zu kommen, haben gestern bei den Hügeln der Kameraden inmitten des Herrn Pfarrers die Kriegserklärung Italiens vernommen. Dieses Judasvolk scheut sich nicht seine Bundesgenossen anzugreifen. Ein Schauer und Hass durchzieht die Seele. Jedoch weiß von uns jeder, was es für uns bedeutet und so erneuert sich der Schwur auszuhalten. Zu kämpfen bis wir dort liegen wie unsere Kameraden zu unseren Füßen. Zertreten wie ein Vieh sollte jeder Italiener werden, der einem Deutschen in die Hände fällt. Und koste es, was es wolle. Mit diesem Gedanken im Herzen schieden wir von der Stätte der toten Kameraden. So sah unser Pfingstfest aus und heute, wo ich wieder einsam am Schützengrabenrand sitze, kann ich nicht umhin, Ihnen ein Schreiben zu senden, damit Sie sehen, dass Ihr Sohn nicht verlassen und vergessen in fremder Erde liegt. Ergebenst, Willi H. „Russen beim Kartenspiel“ „Operationssaal des Gefangenen-Lagers“ „Russischer Gottesdienst im Freien“ „Beim Anlegen eines Grabs auf dem GefangenenFriedhof“ „Denkmal für den Gefangenen-Friedhof“ Stetten a.k.M. Spezialia Landratsamt Stockach II. Aufenthaltsrecht und Armenwesen III. Enteignung V. Forstwesen VI. Gemeindeverwaltung ½ Stetten a.k.M. Spezialia Landratsamt Stockach

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XVIII. Medizinalwesen 2/3/5/7 XIX. Militär- und Kriegssachen. XX. Naturereignisse und Unglücksfälle XXI. Orden und Auszeichnungen

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Stetten a.k.M. Spezialia Landratsamt Stockach XXII. Polizei 6/7/9 XXIII. Post und Telegrafenwesen XXVII. Staatsorganisation 5/6 Guck! Film einlegen. Drehen bis der Film kommt. Ruhig halten. Funktioniert heute noch. Und das ist, glaube ich... Das ist die Blende. Mit der habe ich viel gemacht. Aber es ist schwer, heute jemanden zu finden, der Schwarzweißfilme – Rollfilme, das hat Rollfilme geheißen – entwickelt. In Sigmaringen gibt es jemanden, der das noch macht. Also privat. 1940, als Paris eingenommen worden ist im Juni, 20. Juni glaube ich, da haben wir Kriegsgefangene aus Frankreich bekommen. Ich habe dann als 17jähriger zehn Kriegsgefangene zum Beaufsichtigen bekommen. Da war eine Baracke – sagen wir, das ist eine Baracke – und wir haben die Fenster in der Baracke gestrichen. Es gibt schöne Bilder davon. Meinen Fotoapparat mitgenommen. Und wenn der Wachposten – der Wachposten war immer dabei wenn der um die Baracke herumgelaufen ist, habe ich darüber Bilder gemacht. Wenn der dann wieder kam, war ich schon fertig. Und dann haben sie versucht in die Schweiz zu fliehen. Ich habe gesagt: „Ihr kommt wieder.“ Sind alle wieder gekommen. Ich bin noch 1941 Soldat geworden, da waren für mich der Truppenübungsplatz oder die Kriegsgefangenen erledigt. Weithin über Berg, Berg und Tal, Berg und Tal, grüßt der erste Sonnenstrahl, zweite Sonnenstrahl. Ich komme... das ist... Ja, niemals möchte ich fort. Das Heuberglied.

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„O Heuberg, du mein Sehnsuchtsland, das leuchtend mir vor Augen stand, so nah am Himmel wohnt man dort, ja, niemals möchte ich fort.“ Der Heuberg-Spielmann, Kinderheim Heuberg, 1932 Nach seiner militärischen Nutzung (1914 bis 1919) steht der Truppenübungsplatz Heuberg mit allen Gebäuden dem Verein „Kindererholungsfürsorge Heuberg e.V.“ zur Verfügung. Anfang April 1933 wird das Kinderheim geschlossen. Stetten am kalten Markt, 10. Juli 1933 An den Herrn Kreisvorsitzenden S., Konstanz. Wie allerorts bekannt, befindet sich in dem ehemaligen Truppenlager Heuberg seit Mitte März ein Konzentrationslager für Württemberg. Dasselbe ist durchschnittlich mit circa 1500 Häftlingen belegt. Neuerdings hat auch das Land Baden circa 150 Häftlinge eingeliefert. Nachdem der Truppenübungsplatz und das Lager selbst größtenteils auf Badischem Gebiet liegt, hätte man annehmen dürfen, dass die Geschäftsleute von Stetten in der Lieferung von Lebensmitteln in erster Linie berücksichtigt würden, zumal ein großer Teil sehr viel Grund und Boden durch die Errichtung des Übungsplatzes verloren hatte. Nur mit großer Mühe konnte man es wenigstens durchsetzen, dass die Bäcker und Metzger einigermaßen berücksichtigt worden sind. Obwohl wir hier vier Bäcker haben, liefern heute zwei Bäcker aus Württemberg mehr als alle vier hier am Platze. Ebenso ist es bei den Metzgern. Alle anderen Lebensmittel werden restlos aus Württemberg bezogen. Wir vertreten den Standpunkt, dass die Gemeinde das Recht hat, Anspruch auf Belieferung des Lagers zu erheben. Sollte dieses trotzdem nicht möglich sein, so wäre die andere Frage aufzuwerfen, ob wir Badener auch den Standpunkt vertreten wollen, nämlich unsere

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badischen Truppen, die in nichtbadischen Garnisonen untergebracht sind, nur von Badenern beliefern zu lassen. Dies wäre in kurzen Umrissen der Stand der Sache und ich möchte dringend bitten alles zu versuchen, um dieses Unrecht gutzumachen. Einer näheren Antwort Ihrerseits sehe ich gerne entgegen. Truppenübungsplatz Heuberg 26.10.2011 Auf weitere 100 Jahre ... Regionale Rohstoffe – ein Stück Heimat für unsere Zukunft. Beste Handwerksqualität aus Tradition. Backhaus Mahl seit 1914 Vom Arbeitsschweiß zum Himmelreich! Der Gemeinderat beschäftigt sich seit vielen Jahren, seit dem Jahr 2000, mit dem Thema Schulentwicklung. Wie geht es insgesamt weiter? Welcher Schulraumbedarf ist gegeben? Und wir haben extreme Schrumpfungen zu verzeichnen. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Die letzten Geburtsjahrgänge bewegen sich mittlerweile unter 30 Kinder pro Jahrgang. Und deshalb schlagen wir Ihnen vor, dass die Förderschule noch in diesem Schuljahr in der Europastraße verbleiben soll. Dann aber ab dem Schuljahr 2012/13 am Schulzentrum oder in weiteren Gebäuden untergebracht werden soll, weil sich die Zahl eben derart drastisch reduziert. Und wir wollen und wir wollen versuchen, das Gebäude Europastraße 10 zu veräußern und würden dies gerne ausschreiben, weil wir im Moment einfach auf zu vielen Liegenschaften sitzen. Wir müssen schauen, dass wir diese veräußert bringen. Ich denke, das ist das Wesentliche. Der Gemeinderat hat die entsprechende Vorlage. Gibt es hierzu Wortmeldungen? Dieses ist nicht der Fall. Wer zustimmen möchte gibt bitte Handzeichen. Dankeschön. Gegenstimme keine. Enthaltung ebenfalls. Eine Enthaltung. Dann ist es so beschlossen.

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Unterstützungspersonal Standortältester Militärgeschichtliche Sammlung. Lager Heuberg Man hat einen Kriterienkatalog erstellt, was so ein Truppenübungsplatz erfüllen sollte. Ich nenne mal nur drei Stück, die für Stetten nicht passend waren. Er sollte möglichst in keiner Höhenlage liegen, er sollte über einen Eisenbahnanschluss verfügen und er sollte möglichst kreisrund anlegbar sein. Das einzige, was wir bis heute geschafft haben, ist kreisrund. Wir haben nämlich eine Ringstraße, die ist 27 Kilometer lang, die geht um den Platz herum, die ist soldatensicher, also er kommt immer wieder dort an, wo er rein ist. Außer sie drehen um, das ist manchmal ein Problem, denn die Rückseiten sehen immer anders aus wie man rein gefahren ist. Aber die Höhenlage draußen auf dem Platz, knapp 1000 Meter überm Meeresspiegel: da ist alles geredet. Und den Eisenbahnanschluss haben wir bis heute nicht. Der liegt immer noch im Tal unten, in Storzingen. Hier war ganz klar zu dieser Zeit der fiskalische Aspekt schon ausschlaggebend. Weil hier konnte man günstig die Ländereien erwerben. Eine starke Truppe. Garnison francaise Am 9. September meldete ich mich krank und kam um acht Uhr in das Revier. Oben auf der Treppe sprangen zwei Scharführer daher und riefen: „Wo ist L.?“ Ein Gefangener antwortete: „Hier liegt er im Bett, er ist krank.“ „Wir werden ihm die Krankheit austreiben.“ Die Tür wurde aufgerissen: „Jude raus. Sie haben fünf Tage strengen Arrest vom Lagerkommandanten, weil Sie sich gestern nicht waschen lassen wollten.“ L. antwortete: „Ich kann nicht aufstehen, ich bin schwer krank, ich habe Fieber.“ Scharführer: „Bei uns gibt es keine Kranken.“ Jeder packte einen Fuß und sie zogen L. aus dem

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Bett, wobei der ganze Körper mit dem Kopf auf den Boden aufschlug. Dann zogen sie den Körper aus dem Zimmer die Treppe hinab, wobei immer der Kopf von einer Stufe auf die nächste herabfiel. Unten angekommen rief einer der Scharführer: „Jetzt ist die Sau auch noch verreckt.“ In der Tat, L. war tot. Bericht von Richard H. aus einem Artikel in der Zeitung „Der neue Tag“, Ausgabe vom 17. September 1946 Und dann erklären sich auch diese Bilder. Die Stettener sind immer der Meinung, schwarz Gekleidete ist SS. Das stimmt ja gar nicht: das ist Landespolizei, die mit der Bewachung beauftragt waren. Und die braun Gekleideten, das ist SA. Die hat man denen als Hilfspolizisten zur Seite gestellt, weil damit hat Göring als preußischer Innenminister es legalisiert, dass die SA Waffen trägt. Die SA hat dann zwar zwei Monate später den Laden hier übernommen, die Landespolizei raus gedrängt, aber nichtsdestotrotz ist das Ding von der Landespolizei, also von keiner Parteiformation, wie Dachau, eingerichtet worden. Deswegen taucht es in der Geschichte nicht auf. Weil es gab viele solche Lager. Und in diesem Bereich war hier das Konzentrationslager untergebracht. Es existierte bis Dezember '33 und wurde dann nach Ulm auf den Oberen Kuhberg verlegt. Und einer der prominentesten Häftlinge – im Juli '33 haben wir etwa 3700 Häftlinge gehabt – war der spätere SPD-Parteivorsitzende Dr. Kurt Schumacher. Der hat hier seine zehnjährige Konzentrationslager-Karriere begonnen. Der ist erst '43 entlassen worden. Und dann noch viele viele andere. Konzentrationslager im Land Baden-Württemberg Erläuterung: Außenkommando von Natzweiler, Außenkommando von Dachau, Außenkommando von Schirmeck, Außenkommando von Buchen-

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wald, Außenkommando von Sachsenhausen. KZ-Heuberg-Kuhberg-Welzheim-Kislau-Ankenbuk. Arbeitserziehungslager, SS-Abfertigungslager, Strafanstalten. Dann kam die deutsche Wehrmacht. Die haben den Platz wieder eingerichtet... Der Bereichsposten ist ja erst später zur Kapelle geworden. Das ist, als die Franzosen hier drin waren. Da war hier oben ein riesiges Spritlager. Existiert auch nicht mehr. Also, dann fahren wir mal zur Kapelle, dann ins Gebäude 70 und die Kinderheilstätte und dann sehen wir weiter. Was nun kommt, ist die Wahrheit. Ich habe keinen Grund etwas zu verschweigen oder gar wegzulassen. Und auch nicht zu faseln. Die ersten Einheiten der 999 wurden 1942 aufgestellt in Südfrankreich, in Nimes. Erst später wurde der Heuberg als Standort gewählt. Wer waren nun die Rekruten dieser Einheit? Wer nicht an den glorreichen Endsieg glaubte, wer einen ausländischen Sender abhörte und das Erlauschte anderen im Vertrauen mitteilte, der war reif für die Bewährung bei 999. Den Hamsterern, Schwarzschlächtern und Warenschiebern war 999 sicher. Versteckte und verstockte Kommunisten und SPD-Leute konnten bei 999 geheilt werden. Ungläubige, die die Lehren der Nazis nicht glaubten und ein ungläubiges Leben führten, konnten Vergebung und letzte Ölung finden. In Zuchthäusern und Gefängnissen wurde den Insassen nahegelegt, dass sie sich durch freiwillige Meldung zum Militär und Frontbewährung von all ihrer Schuld reinwaschen konnten. Kurz und gut: Wer nicht williger Gefolgsmann Hitlers war und es sich in irgendeiner Form anmerken ließ, wer verschrieben oder verpfiffen wurde, zu Recht oder zu Unrecht, der landete früher oder später bei den 999ern auf dem Heuberg und musste dort seine Sünden als Soldat bei dem berüchtigten Bewährungshaufen abbüßen. Genau so erging es auch mir!

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Waffe sicher, Magazin entleeren. Was sage ich die ganze Zeit? Ihr macht das, was man euch sagt. Wir haben gesagt: Magazin entleeren! Von irgendwelchen Ladetätigkeiten oder sonst was war hier nicht die Rede. Wenn ihr so was auf der Schießbahn macht! Umgang mit scharfer Munition. Reißt euch zusammen! Waffen ablegen. Auf dem Heuberg war ich mehrere Male Augenzeuge von Erschießungen. Wenn ein Todeskandidat erschossen wurde, so mussten von jeder Kompanie einige Mann als Zuschauer zum Richtplatz gehen. An einem schon vorbestimmten Platz sammelten sich die Ehrengäste. Dort angekommen wurde so anmarschiert, dass wir direkt vor dem Schießstand standen und alle Mann alles sehen konnten. Der Verurteilte wurde nun vor den Schießstand geführt. Dort wurden ihm die Fesseln abgenommen. Die vier Bewacher führten nun den armen Kerl nach vorne, wo ein vierkantiger Pfahl in einem vorgerichteten Loch steckte. Dort wurden normalerweise die Ziele aufgesteckt für das MG-Schießen. Vorne am Pfahl wurden mit einer Binde dem Mann die Augen verbunden, wenn er es nicht ablehnte. Ich habe beide Fälle gesehen. Zum Schluss wurde dem auf den Tod Wartenden ein etwa fünf Zentimeter großer, runder, schwarzer Fleck auf die Herzgegend geheftet. Sobald die Schüsse verhallt waren, kam der Befehl: Ganze Abteilung – Kehrt! Bewährungs[...] [...]schisten[...] 999 Den erschossenen und gefallenen Antifaschisten der Bewährungsbataillone 999. Man muss das ja aus der Warte betrachten, dass diese Anlagen ja erbaut worden sind – auf französischer Seite die Maginot-Linie, auf deutscher Seite der Westwall – um sich jeweils gegen den sogenannten – naja – Erzfeind in irgendeiner Art und Weise zu schützen. Allein diese Denkweise, dass

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der Franzose mal ein Erzfeind war oder, auf französischer Seite, der Boche, der Deutsche, ein Erzfeind und die dann zu solchen monumentalen Bauten geführt hat, das ist ja schon unheimlich geschichtswürdig und erhaltenswert. Nur komischer Weise auf französischer Seite, die machen es, erhalten jetzt seit einigen Jahren vermehrt die Bunker, machen dort Museen rein, bauen ganze Bunker so auf, wie die Besatzung darin gelebt hat. Und bei uns auf Westwall-Seite geht man her und will sie alle sprengen. Und ganz krass ist das für mich geworden – ich war im Juni 14 Tage in der Normandie – weil die in der Normandie im Landungsabschnitt seit 2004 ein total neues Museumskonzept entwickelt haben. Und dort passiert genau das, was man nicht vermutet hat. Nach dem Krieg hat man ja die Grundstücke, wo Teile des Atlantikwalls – Bunkeranlagen, Geschützstellungen – erbaut worden sind, wieder an die Besitzer zurückgegeben und weil das früher Wiese war, hat man sie wieder zugeschüttet. Und genau heute wird das wieder ausgegraben. Und dann kommen die Sachen raus. Und dann werden die wieder erhalten. Und dann kommen in Frankreich in der Normandie ganze Busladungen aus ganz Europa, die dort hin gekarrt werden, und sehr viele junge Leute, um das mal mitzukriegen. Auch was Krieg für ein Wahnsinn sein kann, was dort gemacht wurde. Aber man muss es einfach erhalten und den Leuten zeigen. Und es ist für mich in Deutschland einfach nicht nachvollziehbar, wie wir mit unserer Geschichte umgehen. Diese zwölf Jahre des 1000-jährigen Reiches, die werden uns noch die nächsten 1000 Jahre verfolgen, weil wir uns einfach nicht von dem lösen können. Wir können uns nicht lösen, wir diskutieren es einfach nicht aus, sondern es wird als ein Stück des deutschen Geschichtstums halt hingenommen, aber man will nicht darüber reden. Und deswegen öffnen wir auch allen Braunen Tür und Tor. Weil wir nicht dagegen

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halten können. In meiner Sammlung war noch nicht ein einziger Brauner. Wissen Sie weshalb da keiner reinkommt? Weil er genau mit dem konfrontiert wird, was er nicht hören möchte. Das passt ja in sein Bild nicht rein. Also wieso machen wir das dann nicht? Wieso macht man das nicht und jagt die Leute da rein und zwingt sie. Truppenübungsplatz Heuberg, Haus Oberförsterei, 20. August 1941 Liebe Mutter und Lieber Vater! Und Helga und Roswitha! Die Karte von Vater habe ich erhalten. Vielen Dank! Denkt Euch nur gestern fuhren wir im Auto durch den Wald und über den Übungsplatz! Es hat natürlich sehr geschaukelt und gewackelt. Das fand ich sehr schön! Euch wäre es vielleicht schlecht geworden! In dem Wagen saßen drinnen Helmut und Fredi und ich und gelenkt hat es Herr S. Wir waren eine ganze Stunde unterwegs, und als wir heimkamen, konnten wir schon essen. Jetzt weiß ich, wo das Gefangenenlager ist! Es ist gleich hinter dem Hause und es ist mit Stacheldraht eingezäunt. Die Franzosen haben zum Schlafen Baracken. Wenn einer nicht kapiert, wird er furchtbar angeschrien. Frau S. hat gesagt, die könnten eigentlich prima deutsch sprechen - sie täten nur, als ob sie nichts verstünden. In dem Wachhaus steht immer ein Soldat mit dem Gewehr. Ich kann alles sehr genau sehen. Wenn die französischen Gefangenen zum Essen gehen, dann muss immer einer sagen: „Appen“, oder so ähnlich! Was heißt denn das? Jetzt essen wir, denn es wird meistens 1 Uhr bis man isst. Es grüßt und küsst, Eva! P.S. Gestern Abend, am 19. August 1941 nachts, sind 54 Russen durchgegangen. Das ist schlimm! Herr S. hat gesagt, dass dieser Wachmann sicher geschlafen hätte. Nun sind alle aufgeboten, die Russen zu suchen. Nochmals die besten Grüße, Eva.

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Und verschaffen Sie sich ruhig noch ein bisschen Platz, damit Sie sich hier nicht zu Tode drücken. Ich weiß, Sie haben sich lieb! Aber hier dürfen wir uns auch ein bisschen Platz verschaffen. Okay, dann Waffen runter, wenn jeder seinen Stand hat. Dann geht es weiter. Wenn wir zielen, zielen wir wohin? Auf der Scheibe? Bravo-Zone! Warum Bravo-Zone? Weil das der Oberkörper ist. Jawohl! Legaler Bereich: Herz, Lunge, Nieren, Leber, Bauch, alles Wichtige hier oben drin. Und was ist das Allerwichtigste? Größtmögliche Trefferfläche an meinem Körper. Hier, Beine sind okay, aber immer noch Hohlräume. Kopf ist sehr klein...blöd. Alles klar. Dann gehen wir jetzt auch langsam durch. Ich mache es einmal vor und dann machen wir es unter Anleitung nochmal. Das Kommando lautet dann: Ein Ziel Feuer! Ich gehe rein in mein Schießgestell. Schaue erst mal, wo ist mein Feind? Aha, da ist er. Visier ihn an. Wenn ich ihn habe, sehe dann das Ziel ist sicher, schieße nur auf das, was du wirklich treffen willst. Jawohl, will ich. Jetzt gehe in den Abzug rein. Bäm. Klick. Bäm. Das „Klick“ heißt, ich lasse den Abzug nicht ganz los. Dann macht irgendwann die Waffe „Klick“ und dann bin ich wieder schussbereit. Nicht ganz loslassen, weil sonst machen Sie was für einen Schießfehler? Sonst kommen Sie leicht ins Reißen. Dann sieht das so aus. Und dann fangen Sie an zu reißen und treffen nicht mehr so gut. Also: Bäm, Klick, Bäm. Bahnhof Storzingen Ultras Krupp 1934 Truppenübungsplatz Heuberg, 18. August 1941 Am Montag, den 18 August 1941, treffen 1200 kriegsgefangene Sowjetrussen ein und werden in den hierfür vorbereiteten Stallbaracken im neuen Lager untergebracht. Sie sind vorerst nicht für den Arbeitseinsatz bestimmt. Eine Verwendung, wie

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bisher üblich bei den französischen Kriegsgefangenen, zum Beispiel einzeln bei der Heeresstandortverwaltung, dem Heeresverpflegungsamt, der Gärtnerei, der Malerwerkstatt, usw., ist ausgeschlossen. Die sowjetrussischen Kriegsgefangenen dürfen unter keinen Umständen mit anderen Kriegsgefangenen zusammenkommen. Sie sind daher in streng isolierten Baracken unterzubringen und auf der Arbeitsstelle dürfen keine anderen Kriegsgefangenen, keine deutschen Zivilpersonen und ebenso keine ausländischen Zivilarbeiter beschäftigt sein. Es sind besonders energische Wachleute für die Russen bereitzustellen. Es ist äußerste Zurückhaltung und schärfste Wachsamkeit geboten. Mit heimtückischem Verhalten, insbesondere der Kriegsgefangenen asiatischer Herkunft, ist zu rechnen. Daher rücksichtsloses und energisches Durchgreifen bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit. Restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes. Der Sowjetrusse ist ein unter das Tier gesunkener Mensch. Dementsprechend erfolgt seine Verwendung und seine Behandlung! Gezeichnet S. Kommandantur Truppenübungsplatz Heuberg. Vermerk: Kopie geht an den Bürgermeister von Stetten mit der Bitte um Kenntnisnahme und Belehrung der Bevölkerung über das Verbot des Verkehrs mit den Sowjetrussen. An die Schwäbische Zeitung, 5. März 1995 Wie ich gestern in der SBZ las, möchten Sie Notizen über das Kriegsende im hiesigen Umkreis haben. Dazu könnte ich vom Kriegsende in Stetten und im Lager Heuberg berichten. Ich bin in Stetten geboren und war damals 15 Jahre alt und habe die bösen Geschehnisse leider noch zu gut im Kopf, die mich nachts bei Schlaflosigkeit heute noch beunruhigen. Es kann sein, dass einige Angaben nicht ganz stimmen. Doch es ist schwierig, diese Ereignisse genau zu recherchieren. Hauptübel war die

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extreme Misshandlung russischer Kriegsgefangener – weniger anderer Gefangener. Diesbezüglich weitere Details, sofern gewünscht. Zum Beispiel die Bereitstellung italienischer Soldaten zum Abtransport nach Russland, um dort die riesigen Verluste auszugleichen; sogar Mussolini kam zu Besuch. Petain-Truppen mit ihren blauen Uniformen waren hier ebenfalls stationiert. Dazu Wlassow-Truppen, die zwischen die Fronten geraten waren und - last but not least – die Zusammenstellung des 999er Strafbataillons, von denen weit über 50 Personen draußen bei der bekannten Dreitrittenkapelle durch Genickschuss erledigt wurden. Nun zum Kriegsende selbst: Einige wenige Tage vor dem Herannahen der Franzosen, zogen deutsche Truppen und die Wlassow-Truppen Richtung Sigmaringen ab. Meist erfolgte der Abzug noch mit Pferdegespannen. Leider versuchte eine kleine halsstarrige Gruppe deutscher Soldaten noch auf die anrückenden Franzosen zu schießen. Bei der unnötigen kurzen Schießerei wurden einige Franzosen getötet und verwundet. Zu weit links. Okay, das sollte nicht passieren. Platz der Gruppe (Vor Schießen) A: Norden ist in dieser Richtung. Der Sandkasten zeigt den Bereich, in dem wir uns jetzt aufhalten werden. Wir selbst befinden uns hier unten im PAT Stetten (Anm.: PAT = Provincial Advisory Team = kleine, zivil-militärische, regionale Beraterteams). Hier finden wir auch die Fahrzeuge, mit denen wir verlegt werden. Die Fahrzeugeinteilung selbst ist Sache vom Gruppenführer. Wir haben zusätzlich noch im Gelände die Log Pluto, diese Straße, die Log Blitz, Querstraße von Norden nach Süden verlaufend. B: Krieg ich eine Karte, oder...sonst skizziere ich es mir. A: Skizziere es dir. Dann oben noch die Ortschaft

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Kabaratt. Zusätzlich dann hier noch die Log Andromeda, verlaufend von West nach Ost. Und die Log Donner. B: Pluto, Donner... A: Pluto, Blitz, Donner, Andromeda. B: Zur Feindlage: Die Zivilbevölkerung ist nach eigenen Kräften soweit positiv eingestellt. Das Spektrum der Angriffe reicht von einfachen IEDAngriffen (Anm: improvised explosive device) bis zu komplexen Hinterhalten. Darauf ist also einzustellen. Und Angriff mit Handwaffen. Nochmal zum Auftrag hier an der Karte: Log Blitz, Log Pluto, Log Andromeda und Log Donner. Das Gepäck auf die Fahrzeuge. Einfach hinten drauf. Die Waffen einladen. Einladen! So, alles klar? Noch Fragen? Unklarheiten? Fahrer: Beleuchtungsstufe zwei! Ich glaube, man unterschätzt ein Stück weit, wie wichtig die Akzeptanz ist vor Ort für diese Entscheidung. Man wird schon in Berlin sehr stark drauf schauen. Ich sage auch nochmal: Der Thomas de Mazière wird auch eine Entscheidung davon abhängig machen, wie zukunftssicher ist ein Standort? Und ich werde es auch nächste Woche, wenn ich wieder in Berlin bin, noch mal symbolisieren, wie stark hier auch die Gemeinde zur Bundeswehr steht. Und ich glaube.... Das, was Stetten am kalten Markt verloren hat, 2000 Menschen von den Franzosen. Es sind Zivile weggezogen, achthundert an der Zahl. Soviel kann Sigmaringen und Mengen nie verlieren, wie das, was wir bereits verloren haben. Auch die Sigmaringer, wenn sie Bundeswehr ernsthaft wollen, dann müssen sie gucken, dass Stetten, Meßstetten, gute Perspektiven hat. Die wirtschaftliche Situation bei uns ist wirklich auch dramatisch. Wir haben das immer wieder auf die Reihe gekriegt mit entsprechenden Einsparungen, aber jetzt darf nichts mehr passieren. Deshalb bin ich dankbar, Herr B., dass

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Sie engagiert kämpfen. Stetten ist ein guter Standort und deshalb lohnt es sich auch dafür zu kämpfen. Also, ich wünsche euch viel Spaß! Helmut, leg los! Fleisch auf den Grill. Und dann wollen wir schauen, dass wir nachher auch was essen. Also viel Spaß und viel Vergnügen. Viele wissen hier nicht, dass der Stettener Truppenübungsplatz mit den vielen Kasernen den Russen 1945 zur Sammlung ihrer Volksangehörigen zur Verfügung gestellt wurde. Die „Russische Kommandantura“ befand sich im damaligen Hotel Schuler mit großem Sowjetstern und Posten davor. Verwandte von mir arbeiteten bei ihnen und meinten, dass es eigentlich gutmütige und freigiebige Menschen gewesen seien. Übrigens gibt es bei der Dreitrittenkapelle noch einen intakten russischfranzösischen Gefangenenfriedhof vom 1. Weltkrieg. Es sind auch während des 1. Weltkriegs viele an Hunger und entsprechenden Seuchen gestorben. Sicher sind nicht alle dort begraben. Wo allerdings die vielen verstorbenen russischen Soldaten des 2. Weltkriegs geblieben sind, weiß niemand. Dies als kleine Übersicht. P.S. Kurz nach der Kapitulation war auch der braune Spuk schnell vorbei. Gar manche braune Durchhalteparteibonzen wandten sich dann der „Schwarzen Linie“ zu. Da draußen waren große Wohnblocks gestanden. Sieben, acht Stück in der Europastraße. Ein Hochhaus sieht man noch. Das waren mal drei. Da haben Franzosen drin gewohnt. Da waren Wohnungen drin, Zweiraumwohnungen, bis hoch zu Sieben-, Achtraum – über zwei Etagen – Wohnungen, wo die Offiziere zum Beispiel drin gewohnt haben. Und das war beeindruckend für die Stettener. Das kannten die ja bisher nicht. Dann auch die Bäcker haben sich sehr schnell umgestellt. Der Franzose will halt zweimal am Tag sein Baguette, morgens und abends. Der will das auch am Sonntag. Das ha-

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ben die sehr schnell kapiert. Deswegen konnten sie in Stetten zum Beispiel auch mit Franc bezahlen. Weil die sind ja in Franc entlohnt worden in der Anfangszeit. Aber es passierte Folgendes: Zu dieser Zeit hat Deutschland sehr viele Asylanten hier aufgenommen und gekriegt. Dann kamen sehr viele Übersiedler aus Russland. Da hat der Gemeinderat die Panik gekriegt. Dann hat man die Gebäude abgerissen. Ja, abgerissen! Auch die zwei Hochhäuser. Wurde alles damit begründet, kann man nicht mehr sanieren...Stimmt ja gar nicht. Nein, man wollte keine Asylanten, weil die Landkreise haben eine bestimmte Anzahl an Asylanten zugewiesen gekriegt, die mussten die aufnehmen. Wenn die jetzt gewusst haben, hier ist ja Platz, alle nach Stetten. Nur das Leben holt einen ja immer wieder ein. Das ist ja das an der Geschichte. Geschichte wiederholt sich immer irgendwo in bestimmten Phasen wieder. Jetzt kam das Zentrum für Kampfmittelbeseitigung 2005. Die kamen aus ganz Deutschland. Die brauchten Wohnraum. Die haben ihre Familien unterbringen wollen. Jetzt ist in Stetten aber nichts mehr gewesen. Die Gebäude sind weg. Wo sind sie hingezogen? Da, wo es Wohnraum gab: Ebingen, Sigmaringen, Balingen. Wieder nicht davon profitiert, weil man einfach vorschnell entschieden hat. Man hätte diese Gebäude, ein Teil davon, ohne weiteres umbauen können. Man hätte das dem Landratsamt auch verkaufen können, dass man da keinen aufnehmen will, sondern dass man die für das Militär berücksichtigen will. Jetzt ist alles weg. Und das ist halt die dörfliche Prägung. Im Dorf wird so egoistisch gedacht. Keinen anderen reinlassen. Die Franzosen mussten sie reinlassen. Die waren Besatzer. Da ging nichts dran vorbei. Man hat sich dann arrangiert und man hat sich dran gewöhnt. Und als sie wegzogen, da hat man festgestellt: Oh, da geht ja ein Stück Kultur flöten. Da gehen ja Freunde, ja! Und bei den Asylanten hat

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man gesagt: Bloß keinen reinlassen! Alles Verbrecher. Die klauen...Vorurteile, wie man sie halt so hat. Und dann holt das Leben einen wieder ein. So einfach ist das. Faszinierend. Sigmaringen 2008/2010, Aufnahmen von Eduard Stürmer Und das ist mein Vater, Paul Stürmer. Wir kamen 1992 von Kasachstan nach Deutschland. In Kasachstan hat mein Vater deutsche Philologie studiert. In seiner Freizeit fotografierte und filmte er. Jetzt repariert er Waschmaschinen und betreibt eine kleine Wäscherei. Mein Vater sagt, dass er bereits viele russische Worte vergessen hat. Dass es ihm leichte fällt auch Deutsch zu sprechen und zu denken, obwohl er das Deutsche nicht so gut beherrsche wie das Russische. Bim, komm mal her. Kasachstan, 1992 Videoaufnahmen von Paul Stürmer Eduard! Festsetzung neuer Sachbezugswert ab 01.01.2012 BW-Angehörige (Soldaten/BwDLZ Mitarbeiter) Gäste (Handwerker) [...] Ich hatte eben schon im kleinen Gespräch gesagt, im Vergleich zu früher ist das sehr wenig, was wir heutzutage an Diensttuern hier in der Liegenschaft haben. Wenn Sie sich überlegen, dass unsere Gesamtkaserne größer ist, als die Grundfläche von Stetten und wir jetzt mit zehn Personen in diesem Areal hier heute Dienst tun müssen, den wir auch nicht einfach abschaffen können, diesen Wachdienst, denn es kann immer dazu kommen, dass irgendjemand hier in diese Kaserne rein muss, irgendetwas holt, irgendetwas ausfällt, ein technischer Defekt stattfindet, ganz egal was, dann brauchen

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wir Sie als Diensttuer, um hier die Stellung zu halten. Aber noch keine 25 Jahre her, da waren zu diesen Jahreszeiten, zu diesen besonderen Festtagen und ich will jetzt mal Sylvester da mit einnehmen, weil das auch ein sehr unbeliebter Dienst ist an Sylvester, deutlich mehr als 50 Personen in einer Kaserne im Wachdienst, im Bereitschaftsdienst, als UVD (Anm: Unteroffizier vom Dienst), als GVD (Anm: Gefreiter vom Dienst) – das ist heute nicht mehr so. Trotzdem ist es natürlich nicht schön, dass Sie heute am Heiligen Abend Dienst tun müssen. Da möchte man eigentlich viel lieber mit seiner Familie, mit seiner Frau, mit seiner Freundin, mit seinen Kindern, wenn man schon welche hat, zusammen sein, sich reich beschenken lassen. Das ist natürlich Ihnen heute nicht so sehr gegeben, aber ich hoffe Sie werden damit zurechtkommen. Wir als Uniformträger und da schließe ich mal unsere Bundeswehr-Feuerwehr mit ein – sie trägt halt auch eine Uniform, wenn auch keine fleckgetarnte – kennen dieses Schicksal zu ungünstigen Zeitpunkten Dienst schieben zu müssen. Ich hoffe Sie können damit gut umgehen und werden sich die Zeit nicht allzu langweilig werden lassen. Ich hoffe und wünsche Ihnen natürlich auch, dass es zu keinerlei irgendwie gearteten Zwischenfällen kommt, außer vielleicht einem technischen Fehlalarm, da können wir mit leben. Genießen Sie, auch wenn es vielleicht als Diensttuer nicht ganz so einfach ist, ein bisschen die Besinnlichkeit am Heiligen Abend mit dem Blick auf die beiden Weihnachtsfeiertage, die Sie dann ja auch frei haben. Und bringen Sie die nötige Gelassenheit auf jetzt nicht so ein wenig – wie soll ich es mal sagen – sich zu ärgern, dass gerade Sie heute diesen Dienst hier tun. Der Dienst geht vorbei, 24 Stunden sind auch irgendwann mal schnell hinter sich gelassen und dann können Sie nach Hause fahren und im Kreise Ihrer Familie Weihnachten verbringen. So, das möchte ich Ihnen

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eigentlich mit auf den Weg geben. Wir werden uns jetzt vorne an den schön gedeckten Tisch verlegen und gemeinsam das ich denke mal wiederum super leckere Essen, was die Küche für uns vorbereitet hat, genießen. Und auch die haben ja das Pech und müssen heute Dienst tun. Wenn auch nur zeitlich begrenzt, die fahren nachher nach Hause, aber sie haben für uns gekocht. Und dafür meinen herzlichen Dank an die Belegschaft der Küche! Mit wie viel Mann – mit wie vielen Damen und Herren – sind Sie im Dienst heute? Zu dritt! Zu dritt. Liebe Gemeinde, liebe Schwester und Brüder, einen langen Weg sind wir gegangen. Vieles haben wir noch nicht überwunden und doch hoffen wir, dass es besser wird. Aber wir dürfen guten Mutes und voller Hoffnung sein, dass wir einen neuen, weiten Weg gehen können und wagen und dass wir nicht allein sind dabei. Weil Gott uns mit seinem Licht leuchten und vorausgehen wird auf diesem Weg des Lebens. Welche Umwege sind wir gegangen? Welchen Widerständen mussten wir uns stellen oder ausweichen? Wo sind wir eigentlich aus einer Sklaverei frei geworden? Aus einer Gefangenschaft und wollten dann doch lieber wieder zurück in ein altes Verhalten? Was hatten wir nicht schon alles überwunden gedacht. In unserem Land, auch an Rassenhass und Ausländerfeindlichkeit. Und dann diese Anschläge, die aufgedeckt wurden und uns wieder zurückgeworfen haben um Jahre. Wir sind noch lange nicht so weit wie wir gerne wollten und sollten. Ich behaupte, es ist noch lange nicht in den Köpfen unserer Menschen hier angekommen. Vielleicht in der Großstadt ein bisschen eher, aber auch dort ist es nicht leicht. Und es wird ein wichtiger Weg in die Zukunft für unser Land sein. Da werden noch viele Menschen auf der Wanderung durch die Wüsten ihres Lebens zu uns kommen und Heimat suchen. Und da wir kein wachsendes Volk mehr sind brauchen wir diese

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Menschen auch. Es ist oft schon mal gesagt worden, aber es muss bei uns noch ankommen. Dass wir auch darauf angewiesen sind. Das sind keine unerwünschten Gäste mehr, sondern schon längst Mitbürgerinnen und -bürger. Das wird noch viele Fragen aufwerfen, auch noch in Zukunft, ich weiß, an die Sprache, an die Integration. Es wird nicht einfach. „Es war eine andere Zeit. Früher waren hier zwei Tanzlokale – Dancingbar Kenia und Barcarole und jetzt nichts mehr. Dann kam die Safari Lodge. Das ist der Überrest.“ Interview mit Margarita F., Besitzerin der Safari Lodge, 28. September 2011 Wir schreiben das Jahr 1919. Es war das Ende des ersten Weltkriegs. Die Gebäude des Truppenlagers standen leer und nutzlos da. Nach vielen Verhandlungen wurde auf dem Heuberg ein Kindererholungsheim eingerichtet. So war die Schleifung des Truppenübungsplatzes und der Gebäude verhindert und das Lager als Kinderheim wurde einer neuen sozialen Nutzung zugeführt. Die leer stehenden Gebäude gleichen einer Geisterstadt. So wurden sie 1920 einmal in der Zeitung „Der Heuberg“ beschrieben. Auf dem Truppenübungsplatz gibt es eine Kapelle. Bloß, weiß ich im Moment nicht wem sie geweiht ist. Die Lagerkapelle. Das Truppenlager einer sinnvollen nutzbringenden Verwendung zuzuführen, das war doch der Grundgedanke von 1919. In absehbarer Zeit steht doch der Gedanke genauso zutage wie 1919. Man kann doch davon ausgehen, dass die Truppenreduzierung weiter fortschreitet, dass nur noch Truppen die Gebäude benutzen, die zu Schießübungen für ein paar Tage kommen und im Turnus bleibende Gäste der Truppenunterkünfte sind. Es liegt doch nahe umzudenken, eine Lösung zu finden, damit der Marktflecken in seiner jetzigen Form erhalten werden kann.

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Wie viele junge Menschen stehen vor Problemen, aus denen sie sich nicht mehr zu helfen wissen? Die Arbeitslosigkeit treibt diese junge Generation weiter an den Rand der Ausweglosigkeit. Dem gegenüber zu treten, Abhilfe zu schaffen, ein Projekt zu starten, dass dieser Generation Hilfe bringt. Diese Abhängigkeit ist halt schon weit über ein Jahrhundert gewachsen. Stetten war bisher, bis das Militär kam, ein auf der Schwäbischen Alb gelegenes Bauerndorf. Was können Sie heute mit Landwirtschaft anfangen? Was hat Stetten hier an Wirtschaftsunternehmen zu bieten, wo Arbeitnehmer und Bevölkerung hier hoch käme, wenn das Militär nicht da wäre? Das Militär ist seit über einem Jahrhundert der Arbeitgeber hier oben und wenn der wegfällt, dann beginnt hier – ich sag es ganz einfach – ein Dornröschenschlaf. Das ist wieder ein Rückfall in die Urzeit. Bilddokumente: „Heuberg 1914-1917. Leben und Treiben der Kriegsgefangenen“, Fotograf unbekannt, herausgegeben von der Kommandantur des Truppenübungsplatzes Heuberg, Stetten am kalten Markt 1917, Kopie im Besitz des Geschichts- und Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg Französische Kriegsgefangene bei Malerarbeiten im Lager Heuberg 1940, von Willi S. (1923), Stetten am kalten Markt 1940, Kopie im Besitz des Geschichts- und Museumsverein Stetten a.k.M./ Heuberg Kindererholungsheim Heuberg, Fotograf unbekannt, Kindererholungsheim Heuberg, 1920-1933, Kopie im Besitz des Geschichts- und Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg Wachmannschaft des KZ Heuberg, Fotograf unbekannt, Stetten am kalten Markt 1933, Kopie im Besitz des Geschichts- und Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg Karte der Konzentrationslager im Land Baden-

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Württemberg, in: Schätzle, Julius: Stationen zur Hölle, ORT 1980. Videoaufnahmen von Paul Stürmer 2008/2010, von Eduard Stürmer, private Videoaufnahmen, Sigmaringen 2008/2010 Videoaufnahmen in Kasachstan 1992, von Paul Stürmer, private Videoaufnahmen, Kasachstan 1992 Textdokumente: Lévi-Strauss, Claude: Traurige Truppen, dt. v. Eva Moldenhauer, 1978 „Etwas über Land und Leute des ‚Heubergs’ und über die Geschichte des Ortes Stetten am Kalten Markt“, in: Oberstabszahlmeister [...] K.: Standortchronik vom Truppenübungsplatz Heuberg mit kommunaler Geschichte des Standorts, Stetten am kalten Markt 1941, Bundesarchiv, Abteilung Militärachiv Freiburg, Msg 2/21 Briefe von Eva W. (1926-1995), in: Briefe an ihre Eltern und Schwestern über ihren Aufenthalt bie der Oberförsterfamilie des Truppenübungsplatzes S., August 1941, Tagebucharchiv Emmendingen, Sig. 199. Briefe von Albert V. (1894-1915), in: Briefe an seine Familie, vom Truppenübungsplatz Heuberg und von der deutsch-russischen Front, November 1914- Februar 1915, Tagebucharchiv Emmendingen, Sig. 1305. Brief von Willy H. (unbekannt), Brief an Maria Katharina V., von der deutsch-russischen Front, Mai 1915, Tagebucharchiv Emmendingen, Sig. 1305. Heuberg-Lied, abgedruckt in: o.A.: Der HeubergsSpielmann, Kinderheim Heuberg 1932. Brief von Bürgermeister B. (unbekannt) an den Kreisvorsitzenden [...] S., über die Versorgung des Konzentrationslagers Heuberg, Stetten am kalten Markt 1933, Gemeindearchiv Stetten am kalten Markt, 9/126a

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Bericht von Richard H. (unbekannt), Bericht über Zeit im Konzentrationslager Heuberg, in: „Der neue Tag“, Ausgabe vom 17. September 1946. Tagebuch von Egon S. (1908-1989), Erinnerungen an die Zeit bei der Strafdivision 999, unveröffentlicht, zur Verfügung gestellt von Werner S., Albkaserne Stetten am kalten Markt. Leserbrief von Moritz B. (unbekannt), ein Leserbrief an die Schwäbische Zeitung, Sigmaringen 1995. Notizen von Willi S. (1923), über die Lage Stetten am kalten Markt und das Kinderheim Heuberg, Notizen für die Zeitschrift „MILImus“ des Geschichtsund Museumsverein Stetten a.k.M./Heuberg

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II. S ZENENPROTOKOLL Das folgende Szenenprotokoll analysiert die Bild- und Tonebenen des Films Ortung, in dem es diese parallel inhaltlich einordnet und nach dem jeweiligen Materialtypus kategorisiert. Erklärung der Abkürzungen: S: Sprecher o. UT.: ohne Untertitel m. UT.: mit Untertitel /: kein Ton M: Materialtyp A: Typ „Vorgefundene Materialien“ B: Typ „Geschaffene Materialien“ C: Typ „Hybride Materialien“

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Film Vera Cuntz-Leng Harry Potter que(e)r Eine Filmsaga im Spannungsfeld von Queer Reading, Slash-Fandom und Fantasyfilmgenre November 2015, ca. 560 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 54,99 €, ISBN 978-3-8376-3137-1

Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch 2014, 458 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.) Kulinarisches Kino Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film 2013, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2217-1

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Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.) Spuren eines Dritten Kinos Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema

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Christian Pischel Die Orchestrierung der Empfindungen Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 1990er Jahre 2013, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2426-7

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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