Comics: Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums [1. Aufl.] 9783839411193

Ende des 19. Jahrhunderts erreichten Comics in billig gedruckten Zeitungsbeilagen ein Massenpublikum in den USA und schu

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Comics: Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums [1. Aufl.]
 9783839411193

Table of contents :
INHALT
Birth of a Notion. Comics als populärkulturelles Medium
Was ist ein Cartoon? Psychosemiotische Überlegungen im Anschluss an Scott McCloud
Intermedialität in Comics. Neil Gaimans The Sandman
Great, Mad, New. Populärkultur, serielle Ästhetik und der frühe amerikanische Zeitungscomic
Einbruch der Zeit. Zu einem Zwischenraum und einem Textkasten in Frank Kings Gasoline Alley
Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics
Enthauptung. Independent Comics und ihre Unabhängigkeit von bürgerlichen Kunstbegriffen
Was ist ein Comic-Autor? Autorinszenierung in autobiografischen Comics und Selbstporträts
Genealogie der autobiografischen Graphic Novel. Zur feldsoziologischen Analyse intermedialer Strategien gegen ästhetische Normalisierungen
Comics als Literatur. Zur Etablierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton seit 2003
Literatur-Comics zwischen Adaptation und kreativer Transformation
Acquefacques, Oubapo & Co. Medienreflexive Strategien in der aktuellen französischen bande dessinée
Manga – Comics aus einer anderen Welt?
Autorinnen und Autoren

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Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva, Daniel Stein (Hg.) Comics

2009-07-10 12-19-40 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2215121816182|(S.

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Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva, Daniel Stein (Hg.) Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums

2009-07-10 12-19-40 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2215121816182|(S.

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Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Vorderseite: © Anjin Anhut; Rückseite: Ben Shahn »Greenwich Village (New York City)«, 1935, Harvard Art Museum, Fogg Art Museum, Gift of Bernarda Bryson Shahn, P1970.2771, © Imaging Department President and Fellows of Harvard College Lektorat & Satz: Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva, Daniel Stein Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1119-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-07-10 12-19-41 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2215121816182|(S.

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INHALT

Birth of a Notion. Comics als populärkulturelles Medium DANIEL STEIN, STEPHAN DITSCHKE & KATERINA KROUCHEVA 7 Was ist ein Cartoon? Psychosemiotische Überlegungen im Anschluss an Scott McCloud STEPHAN PACKARD 29 Intermedialität in Comics. Neil Gaimans The Sandman STEPHANIE HOPPELER, LUKAS ETTER & GABRIELE RIPPL 53 Great, Mad, New. Populärkultur, serielle Ästhetik und der frühe amerikanische Zeitungscomic FRANK KELLETER & DANIEL STEIN 81 Einbruch der Zeit. Zu einem Zwischenraum und einem Textkasten in Frank Kings Gasoline Alley ANDREAS PLATTHAUS 119 Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics STEPHAN DITSCHKE & ANJIN ANHUT 131

Enthauptung. Independent Comics und ihre Unabhängigkeit von bürgerlichen Kunstbegriffen OLE FRAHM 179 Was ist ein Comic-Autor? Autorinszenierung in autobiografischen Comics und Selbstporträts DANIEL STEIN 201 Genealogie der autobiografischen Graphic Novel. Zur feldsoziologischen Analyse intermedialer Strategien gegen ästhetische Normalisierungen THOMAS BECKER 239 Comics als Literatur. Zur Etablierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton seit 2003 STEPHAN DITSCHKE 265 Literatur-Comics zwischen Adaptation und kreativer Transformation MONIKA SCHMITZ-EMANS 281 Acquefacques, Oubapo & Co. Medienreflexive Strategien in der aktuellen französischen bande dessinée ROLF LOHSE 309 Manga – Comics aus einer anderen Welt? JENS R. NIELSEN 335 Autorinnen und Autoren 359

Birth of a Notion. Comics als populärkulturelles Medium DANIEL STEIN, STEPHAN DITSCHKE & KATERINA KROUCHEVA

Der vorliegende Sammelband erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Comics in einer Übergangsphase befindet. Wir sind an einer Art Schnittstelle angelangt zwischen den eher vereinzelten und eklektischen Ansätzen früherer Dekaden und einer sich immer stärker formierenden und selbstbewusst im Wissenschaftssystem positionierenden Comic-Forschung. So bemerkte Ole Frahm 2002 zwar durchaus richtig: »Eine Comicwissenschaft existiert nicht. Obwohl Comics als Teil der Kultur des 20. Jahrhunderts zunehmend akzeptiert sind, wird ihnen keineswegs ein gleichberechtigter Platz neben Literatur, bildender Kunst oder sogar Film eingeräumt.«1 Doch hat sich in den wenigen Jahren, die seit dieser Einschätzung vergangen sind, Einiges getan: Stephan Packard2, Jakob F. Dittmar3 und Martin Schüwer4 haben umfassende Theorien zur Informationsvermittlung und Narration im Comic-Medium vorgelegt, und auch im angloamerikanischen Raum, in dem die wissenschaftliche Auseinandersetzung stärker als hierzulande etabliert ist, sind deutsche Forscher auf gutem Weg, sich bemerkbar zu machen.5 Schüwer spricht für Deutschland immerhin 1

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Ole Frahm: »Weird Signs. Zur parodistischen Ästhetik der Comics«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Schmidt 2002, S. 201-216, hier S. 201. Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen: Wallstein 2006. Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz: UVK 2008. Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008. Vgl. Mark Berninger/Gideon Haberkorn/Jochen Ecke (Hg.): Comics as a Nexus of Cultures, Jefferson: McFarland, im Druck; Jörn Ahrens/Arno Meteling (Hg.): Comics and the City. Urban Space in Print, Picture, and Sequence, London, New York: Continuum, im Druck. In den USA ist es v.a. die University Press of Mississippi, die sich der Förderung der Comic-For-

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Daniel Stein, Stephan Ditschke & Katerina Kroucheva von einer Comic-Wissenschaft »in Keimform«, von »Inseln der Aktivität […] am Rande der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen«6. Ein Ziel dieser Publikation ist es, bestehende Forschungsansätze in der deutschen Comic-Forschung mit einer Reihe von literatur-, medien-, und kulturwissenschaftlichen Perspektiven zusammenzuführen und damit zur interdisziplinären Vernetzung des Feldes beizutragen.7 Dabei profitieren wir von einem Sinneswandel in der Literaturwissenschaft, insbesondere von ihrer kulturwissenschaftlichen Neuorientierung, die in den letzten Jahrzehnten an Fahrt gewonnen hat und im Zuge derer populärkulturelle Medien wie Comics von gesteigertem Interesse für intermedial und interdisziplinär angelegte Untersuchungen geworden sind.8 So sprachen Michael Hein, Michael Hüners und Torsten Michaelsen in der Einleitung ihres wichtigen Sammelbandes Ästhetik des Comic (2002) noch von einer »zurückhaltende[n] Behandlung des Comic durch Literatur- und Kunstwissenschaft«,9 doch von dieser Zurückhaltung ist unserer Meinung nach immer weniger zu spüren.10 Nach Hein, Hüners’ und Michaelsens Ästhetik des Comic, Stefanie Diekmanns und Matthias Schneiders Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit (2005),11 Frank Leinens und Guido schung verschreiben hat. Vgl. Jeet Heer/Kent Worcester (Hg.): A Comics Studies Reader, Jackson: University Press of Mississippi 2009. 6 M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 12f. 7 Vgl. dazu auch Arno Meteling/André Suhr: »Schrift-/Bilder. Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zum Comic«, in: Thomas Düllo u.a. (Hg.): Kursbuch Kulturwissenschaft, Münster: Lit 2000, 277-295, insbes. S. 277-278. 8 Zwei Publikationen, die Comics kulturgeschichtlich und kulturtheoretisch einordnen und als Impulsgeber für literatur- und kulturwissenschaftliche Analysen dienen können, sind M. Thomas Inge: Comics as Culture, Jackson: University Press of Mississippi 1990; Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Kopenhagen: Museum Tusculanum 2000. Zur Relevanz intermedialer und interdisziplinärer Perspektiven in der Literatur- und Kulturwissenschaft vgl. Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002. 9 Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Schmidt 2002, S. 9-15, hier S. 11. 10 Vgl. auch Andreas Platthaus: »In der Kunstgeschichte scheint deshalb für den Comic ebenso wenig Platz zu sein wie in der Literaturgeschichte – zu Recht, denn er hat ein neues Genre geschaffen, dem mit den traditionellen Methoden nicht beizukommen ist«. A. Platthaus: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte, Frankfurt/Main, Leipzig: Insel 2000, S. 9. 11 Stefanie Diekmann/Matthias Schneider (Hg.): Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit, Berlin: SuKuLTuR 2005.

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Comics als populärkulturelles Medium Rings’ Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten. Romanistische Begegnungen mit der Neunten Kunst (2007)12 und dem text+kritik-Sonderband Comics, Mangas, Graphic Novels von Heinz Ludwig Arnold und Andreas C. Knigge (2009)13 erscheint mit der vorliegenden Publikation immerhin der fünfte deutschsprachige Sammelband über Comics innerhalb weniger Jahre. Auch tragen Ausstellungen zu Themen wie »Comics Made in Germany – 60 Jahre Comics aus Deutschland« (24. Januar bis 24. Mai 2008, Kurator Bernd DolleWeinkauff) und die kürzlich vom Bielefelder Museum Huelsmann präsentierte Sammlung von Originalzeichnungen und historischen Comic-Beilagen amerikanischer Zeitungen (»Jahrhundert der Comics«, 7. November 2008 bis 5. April 2009) oder die vom Jüdischen Museum Frankfurt präsentierte Ausstellung zum Comic als Medium jüdischer Erinnerung (»Superman und Golem«, 18. Dezember 2008 bis 22. März 2009) dazu bei, Comics im öffentlichen und akademischen Bewusstsein zu verankern.14 Mit den erwähnten Publikationen löst sich die deutschsprachige Comic-Forschung endgültig vom evaluativen Diskurs über das Medium, in dem sie in den 1950er Jahren ihre Anfänge genommen hat. Hat das stets exemplarisch angeführte Seduction of the Innocent von Fredric Wertham (1954) noch bürgerliche Werte gegen den ›Einfall‹ typisch-populärkultureller Narrationselemente wie Sex und Gewalt verteidigt,15 wurde der wertende Diskurs in den 1960er und 1970er Jahren unter anderem Vorzeichen fortgeführt: Man kritisierte einerseits die reflexhafte bürgerliche Abwertung des Mediums als solchem, andererseits jedoch die Verwendung der Mittel des Comics, die bislang v.a. »zur Unterwerfung [der Leser] unter die herrschenden Verhältnisse«16 genutzt worden seien. Trotz oder wegen

12 Frank Leinen/Guido Rings (Hg.): Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten. Romanistische Begegnungen mit der neunten Kunst, München: Meidenbauer 2007. 13 Heinz L. Arnold/Andreas C. Knigge (Hg.): Comics, Mangas, Graphic Novels, München: edition text+kritik 2009. 14 Vgl. dazu die Ausstellungskataloge von Bernd Dolle-Weinkauff (Hg.): Comics Made in Germany. Eine Ausstellung der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main und des Instituts für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Wiesbaden: Harrassowitz 2008; Alexander Braun: Jahrhundert der Comics. Die Zeitungs-Strip-Jahre, Bielefeld: Museum Huelsmann 2008; Raphael Gross/Erik Riedel (Hg.): Superman und Golem. Der Comic als Medium jüdischer Erinnerung, Frankfurt/Main: Jüdisches Museum 2008. 15 Vgl. Leslie A. Fiedler: »Cross the Border – Close the Gap«, in: Playboy (1969), H. 12, S. 151, 230, 252-254, 256-258. 16 Karl Riha: zok roar wumm. Geschichte der Comics-Literatur, Steinbach: Anabas 1970, S. 24.

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Daniel Stein, Stephan Ditschke & Katerina Kroucheva dieser unter dem Einfluss der Kritischen Theorie entstandenen Ansätze, die v.a. soziologischer und pädagogischer Provenienz waren,17 entstanden in den 1970er Jahren erste rein deskriptive, systematische Forschungsbeiträge, die im Feld der Wissenschaft gleichsam eine Gegenbewegung zur gesellschaftskritischen Comic-Forschung vollzogen und zumeist strukturalistisch orientiert waren.18 Angekündigt und begleitet wurde die systematische Neuausrichtung der Comic-Forschung von wissenschaftlichen und von an ein breiteres Publikum gerichteten Veröffentlichungen zur historischen Entwicklung des Mediums.19 Eingeläutet wurde sie jedoch durch die theoretischen Arbeiten von zwei US-amerikanischen Comic-Künstlern: Mit den Mitteln des Comics führten sowohl Will Eisner mit Comics & Sequential Art (1985) als auch Scott McCloud mit Understanding Comics (1993) Produktionsprinzipien und Rezeptionsweisen von Comics vor.20 An die von ihnen eröffneten Perspektiven schließt nicht nur die gesamte systematische Comic-Forschung an, die Informationsvermittlung und Narration zwischen Text und Bild in den Blick nimmt, zudem bilden insbesondere die Ausführungen von McCloud den Hintergrund der meisten Beiträge im vorliegenden Band. 17 Vgl. z.B. Dagmar v. Dœtinchem/Klaus Hartung: Zum Thema Gewalt in Superhelden-Comics, Berlin: Basis 1974; Ulrike Drechsel/Jörg Funhoff/Michael Hoffmann: Massenzeichenware. Die gesellschaftliche und ideologische Funktion der Comics, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975. Wie Norbert Groeben zeigt, kulminieren selbst deskriptiv ausgerichtete Arbeiten dieser Zeit in normativen Aussagen, so etwa Jutta Wermkes Wozu Comics gut sind. Unterschiedliche Meinungen zur Beurteilung des Mediums und seiner Verwendung im Deutschunterricht, Kronberg/Taunus: Scriptor 1973. Vgl. N. Groeben: »Mythos contra Erklärung. Dimensionen eines psychologischen Konflikts«, in: Jutta Wermke (Hg.): Comics und Religion. Eine interdisziplinäre Diskussion, München: Fink 1976, S. 137-167, hier S. 139f. 18 Vgl. z.B. Wolfgang K. Hünigs rein deskriptiven strukturalistischen Analyseansatz in Strukturen des Comic Strip. Ansätze einer textlinguistisch-semiotischen Analyse narrativer Comics, Hildesheim/New York: Olms 1974; Ulrich Krafft: Comics lesen. Untersuchungen zur Textualität von Comics, Stuttgart: Klett-Cotta 1978. Auch Dietrich Grünewalds Revision der pädagogischen und didaktischen Comic-Forschung hat – entgegen dem Eindruck, den der Titel erweckt – die systemkritischen Altlasten hinter sich gelassen. Vgl. D. Grünewald: Comics. Kitsch oder Kunst? Die Bildgeschichte in Analyse und Unterricht. Ein Handbuch zur Comic-Didaktik, Weinheim, Basel: Beltz 1982. 19 Vgl. z.B. Bernd Dolle-Weinkauf: Comics. Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945, Weinheim, Basel: Beltz 1990; Andreas C. Knigge: Comics. Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer, Reinbek/ Hamburg: Rowohlt 1996. 20 W. Eisner: Comics & Sequential Art, Tamarac: Poorhouse 1985; S. McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, Northampton: Tundra 1993.

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Comics als populärkulturelles Medium Die Autoren, die hier versammelt sind, verfolgen keine einheitliche Herangehensweise und legen ihren Beiträgen keine gemeinsame Definition von Comics zugrunde, doch greifen sie allesamt, wenn auch auf unterschiedliche Weise, auf ein Verständnis des Comics als populärkulturelles Medium zurück. Wir haben bewusst darauf verzichtet, eine einheitliche Sicht auf den Untersuchungsgegenstand anzumahnen, denn wir sind der Auffassung, dass eine große thematische Breite und methodische Vielfalt zu den Stärken der Comic-Forschung gehören. So konzedieren Jeet Heer und Kent Worcester für den angloamerikanischen Kontext: While the best of the new comics scholarship is eclectic, in approach and foci, it consistently returns to certain core themes: the history and genealogy of comics, the inner workings of comics, the social significance of comics, and the close scrutiny and evaluation of comics.21

Die hier genannten Ansätze – Genealogie, Formalästhetik, Sozialgeschichte und Einzelanalyse – finden sich auch in den Beiträgen dieses Bandes wieder. Ob der diagnostizierten thematischen Breite und methodischen Vielfalt scheint es uns aber erst einmal angebracht, einige Worte zu den Begrifflichkeiten zu verlieren, die im Laufe des Bandes immer wieder auftauchen werden und die gerade für Leser, die keine ›Comic-Spezialisten‹ sind, der Klärung bedürfen. Werden wir konkret und greifen als Beispiel einen Comic von Art Spiegelman auf, an dem sich unser Comic-Verständnis fassbar machen lässt. Es handelt sich um die Einleitung zum kürzlich neu aufgelegten Breakdowns, einer Sammlung von kurzen, experimentellen Comic-Geschichten, die ursprünglich 1978 erschienen war und Spiegelmans frühe Arbeiten in konzentrierter Form vorstellte.22 Wie so oft bei Spiegelman treffen wir auf eine autobiografische Erzählung, die ihre Kraft nicht nur aus der Lebensgeschichte des Autors, sondern auch aus der Beschäftigung mit dem Comic als Medium zwischen Populärkultur und Avantgarde schöpft. Daraus ergeben sich erste Fragen bezüglich der Begriffe, mit denen wir einen solchen Comic bezeichnen. Zur Auswahl stehen »autobiografischer Comic« (auch wenn es sich nicht um eine linear erzählte lange Autobiografie, sondern um autobiografisch geprägte Episoden handelt), »Autorencomic« (in Abgrenzung von arbeitsteilig hergestellten und massenhaft produzierten Seriencomics) und »Independent Comic« (auch »Underground Comic«) als Gegenbegriff zum »Mainstream« mit Betonung auf der Unabhängigkeit von den Vertriebs21 J. Heer/K. Worcester: Introduction, in: Dies. (Hg.): A Comics Studies Reader, S. xi-xv, hier S. xi. 22 Art Spiegelman: Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@˜§!, London: Viking 2008.

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Daniel Stein, Stephan Ditschke & Katerina Kroucheva strukturen und der kommerziellen Marktausrichtung großer ComicVerlage wie DC und Marvel. Wir denken, dass diese Begriffe wichtig sind, weil sie das Comic-Feld vorsortieren und ein Klassifikationssystem bereitstellen, welches für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Comics hilfreich ist. Darüber hinaus sind wir aber auch der Ansicht, dass die Begriffe im Sinne von Pierre Bourdieu, Michel Foucault und Stephen Greenblatt als Ausprägungen spezifischer Diskurse und sozialer Dispositionen sowie als Ergebnis von Verhandlungen zwischen Produzenten und Rezipienten verstanden werden müssen. Comics sind darüber hinaus eine Ausdrucksform, die nicht unabhängig von ihrer materiellen und medialen Beschaffenheit betrachtet werden kann.23 Weder Comic-Verfilmungen noch Zeichentrickfilme sind wirklich Comics, denn sie sind weder sequentiell in dem Sinn, dass sie klar trennbare Einzelbilder präsentieren, deren Leerstellen der Rezipient in der eigenen Imagination auffüllen muss, noch bimedial, d.h. allein aus geschriebenen Wörtern und gezeichneten Bildern bestehend. Und auch wenn für experimentelle Comics wie Batman: Arkham Asylum (1989) von Grant Morrison und Dave McKean oder Bill Sienkiewicz’ Moby Dick-Adaptation (1990) eine Reihe von Materialen verwendet wurde, z.B. Buntstifte, Stempel, Stoff und Fotos, ist die Geschichte der Comics weitgehend durch die Kombination aus Tinte, Papier und Druckfarbe bestimmt. Es sind deshalb auch ausschließlich Printcomics, die im Fokus dieses Sammelbands stehen und die sowohl die Geschichte des Mediums von seinen Anfangstagen gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis heute als auch die thematisierten Kulturkreise (v.a. USA, Frankreich, Japan) abdecken. Die Auswahl dieser Kulturkreise erklärt sich u.a. aus der Tatsache, dass wir es hier mit besonders ausgeprägten und global einflussreichen Comic-Traditionen zu tun haben, die von großer historischer Relevanz für die Entwicklung des Mediums Comic waren und diese immer noch stark beeinflussen. Mithin findet die deutsche Comic-Tradition in diesem Band weniger Aufmerksamkeit, obwohl Wilhelm Buschs Bilderpossen immer wieder als Vorläufer der Comics genannt werden und sich die Werke von Anke Feuchtenberger, Ralf König, Walter Moers, Volker Reiche, Uli Oesterle, Markus ›Mawil‹ Witzel und anderen sich nicht hinter 23 Zur Medialität von Comics vgl. u.a. Wolfgang J. Fuchs/Reinhold C. Reitberger: Das große Buch der Comics. Anatomie eines Massenmediums, Dreieich: MeCo 1982. Zur Bedeutung der Materialität intermedialer Artefakte über den Textfokus semiotischer Ansätze hinaus vgl. Gabriele Rippl: »TextBild-Beziehungen zwischen Semiotik und Medientheorie. Ein Verortungsvorschlag«, in: Renate Brosch (Hg.): IkonoPhilologie, Berlin: Trafo 2004, S. 4360; dies.: Beschreibungs-Kunst. Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte (1880-2000), München: Fink 2005.

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Comics als populärkulturelles Medium der Konkurrenz aus dem Ausland verstecken müssen.24 Auch osteuropäische, italienische, spanische und lateinamerikanische Comics verdienen intensive wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die wir ihnen hier aus Platzgründen nicht schenken können. Als Lektüre zur Einführung empfehlen wir Maurice Horns The World Encyclopedia of Comics,25 The Essential Guide to World Comics von Tim Pilcher und Brad Brooks26 sowie den Sammelband Comics as a Nexus of Cultures von Mark Berninger, Gideon Haberkorn und Jochen Ecke, der Beiträge zu deutschen, englischen, US-amerikanischen, kanadischen, portugiesischen, türkischen, indischen und japanischen Comics enthält. Ohne normativen Definitionen Vorschub leisten zu wollen, möchten wir nun auf vier grundlegende Elemente verweisen, die sich für unsere Vorstellung vom Comic als populärkulturellem Medium als besonders einflussreich erwiesen haben. Erstens: In der Regel finden wir in Comics eine Verschränkung von geschriebenen und/oder gezeichneten Worten und bewegungslosen, gezeichneten Bildern, die über das Vorhandensein von Bildunterschriften oder erzählender Prosa hinausgeht und in der Sprechblase ihre typische, vielerorts als hybrid bezeichnete Darstellungsform gefunden hat.27 Andreas Platthaus spricht in diesem Zusammenhang von dem Anspruch, »mit Worten und Bildern gleichzeitig und gleichwertig zu erzählen«.28 Zweitens: Wir begegnen in vielen Fällen einem Erzählen in Sequenzen, d.h. in einer Abfolge von »Panels« (also von gerahmten Einzelbildern), die durch »Gutter« (weiße Leerstellen zwischen den gerahmten Einzelbildern) getrennt sind. Diese Einschränkungen bedeuten nicht, dass Einzelbilder oder sprachlose Comics aus der Medienbezeichnung »Comics« herausfallen;29 es sind aber meist Sonderfälle, mit denen wir es hier zu tun haben, z.B. die wortlosen Bilderromane (u.a. Passion eines Menschen), die der Belgier Frans Masereel als Holzschnitte um 1920 produzierte und die inzwischen im

24 Zur Geschichte der Comics in Deutschland vgl. B. Dolle-Weinkauff: Comics. 25 Maurice Horn (Hg.): The World Encyclopedia of Comics, Philadelphia: Chelsea House 1999. 26 Tim Pilcher/Brad Brooks: The Essential Guide to World Comics, London: Collins & Brown 2005. 27 Ein wachsender und zunehmend wichtiger Bereich des Comic-Felds sind sogenannte Webcomics, zumeist digital produzierte, im Internet präsentierte Comics, die neben den bekannten Merkmalen des Mediums auch neue Dimensionen aufweisen, z.B. Interaktions- und Animationstechniken. Vgl. Scott McCloud: Reinventing Comics. How Imagination and Technology Are Revolutionizing an Art Form, New York: HarperCollins 2000. 28 A. Platthaus: Im Comic vereint, S. 8. 29 Einzelbilder haben ihre eigene Bezeichnung: Cartoons. Comics ohne Dialoge und Text werden als pantomimische Comics bezeichnet.

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Daniel Stein, Stephan Ditschke & Katerina Kroucheva weitesten Sinne auch als Comics gelesen werden. Drittens: Wir verstehen Comics als serielles Medium, denn sowohl Zeitungscomics als auch comic books erzählen in den allermeisten Fällen episodische Geschichten oder Variationen einer sich wiederholenden Grundhandlung. Wir gehen so weit, dass wir auch für Comics, die an sich nicht seriell sind, also z.B. Autorencomics wie Chris Wares Jimmy Corrigan (2000), Alison Bechdels Fun Home (2006) oder Spiegelmans Breakdowns, einen seriellen Kontext reklamieren. Denn auch diese Comics erscheinen vor dem Hintergrund serieller Erzählund Publikationsformen, die diese Autoren in ihren Werken aufgreifen und die im Rezeptionsakt mitgelesen werden. Wie wir in Breakdowns lesen können, ist es gerade die serielle Ästhetik der Superheldenhefte, Horrorcomics und des Mad Magazine, die Spiegelman als Kind faszinierten und seinen Wunsch erweckten, Comic-Autor zu werden. Viertens: Comics sind durch kulturelle Praktiken bestimmt, d.h. bestimmte Artefakte werden als Comics rezipiert und auch in diesem Bewusstsein kreiert, weil sie Familienähnlichkeiten mit anderen als Comics wahrgenommenen Artefakten aufweisen.30 Neben formalästhetischen Prinzipien, die in den Beiträgen von Stephan Packard zu einer psychosemiotischen Theorie der Rezeption von Comics und von Stephanie Hoppeler/Lukas Etter/Gabriele Rippl zu einem intermedialen Modell ausgebaut werden, sind es bestimmte Publikationsformen, die Comics in ihrer Entwicklung mitgeprägt haben und die sich auch in der Korpuswahl der Beiträge dieses Bandes widerspiegeln. In den USA erschienen Comics ursprünglich als Zeitungsbeilage (Sunday supplement) bzw. Teil einer Zeitungsseite (daily strip) (vgl. dazu die Beiträge von Frank Kelleter/Daniel Stein, Andreas Platthaus), später als unabhängige Publikationen in Heftform (comic book), von denen die Serien der Superhelden sicherlich die langlebigsten und einflussreichsten sind (vgl. dazu Stephan Ditschke/Anjin Anhut) und deren gattungsinhärenten Charakteristika seit den 1960er Jahren von Underground Comics, Graphic Novels und Autorencomics differenziert werden (vgl. Thomas Becker, Ole Frahm). In Europa ist das Album, insbesondere die französische und belgische bande dessinée, die dominante Erscheinungsform (vgl. Rolf Lohse und Monika Schmitz-Emans); in Japan (und seit einiger Zeit auch in Europa) sind es Manga, die die Regale der Buchläden und Comic-Geschäfte füllen (vgl. Jens R. Nielsen). Gemein ist diesen Comic-Formen, dass sie durch die modernen Massenmedien ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts möglich wurden, innerhalb des Feldes der Populärkultur entstanden und durch diese Ursprünge bis heute beeinflusst sind. Das be-

30 Zum Problem der Definition von Comics vgl. Aaron Meskin: »Defining Comics?«, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 65 (2007), S. 369-379.

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Comics als populärkulturelles Medium deutet nicht, dass wir Comics generell und immer dem Bereich der Populärkultur zurechnen; es soll auch nicht heißen, dass alle Comics massenhaft produziert werden. Aber es sollte klar sein, dass australische Bodenmalerei, der Teppich von Bayeux und die Werke von William Hogarth, Rodolphe Töpffer und Wilhelm Busch von uns nicht in eine ungebrochene Entwicklungslinie mit den Comics gestellt werden, die in den folgenden Beiträgen untersucht werden.31 Die genannten Gemeinsamkeiten der kulturkreisspezifischen Comic-Felder bilden jedoch einen allgemeinen Rahmen des Umgangs mit Comics: Ohne zu berücksichtigen, dass Comics einem genuin heteronomen Bereich der Kulturproduktion entwachsen sind, lässt sich etwa die Entwicklung des Mediums und die damit einhergehende Ausdifferenzierung des Comic-Feldes kaum verstehen. Doch zurück zu Spiegelmans Breakdowns. Eine mediale Eigenheit der Comics, die hier besonders deutlich eingesetzt wird, ist ihre Tendenz zur starken Reduktion auf ikonische und indexikalische Zeichen, über die sie Bedeutung kommunizieren und intermediale Deutungsspielräume eröffnen. Nehmen wir ein einziges Panel der Spiegelmanschen Geschichte, das die Bildunterschrift »Birth of a Notion« trägt und sich als Ausgangspunkt für eine dichte Beschreibung des Intermedialen im Comic anbietet (Abb. 1).32

Abb. 1. Art Spiegelman, »Birth of a Notion«, in: Ders.: Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@˜§!, o.S.

31 Vgl. dazu auch Walter Kühnel: »Amerikanische Comicbooks und das Problem einer Analyse populärkultureller Phänomene«, in: Amerikastudien/ American Studies 19 (1974), S. 58-87, hier S. 59. 32 Zur Methode der dichten Beschreibung vgl. Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures (1973), New York: Basic 2000.

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Daniel Stein, Stephan Ditschke & Katerina Kroucheva Der rechteckige Rahmen ist hier kaum zu sehen; er existiert nur im Negativ, denn das Bild ist mit einem kaum sichtbaren Schatten in der Größe anderer Panels auf der Seite hinterlegt. Das Spiel mit den Konventionen des Mediums, hier das Aufrufen der Rahmenkonvention bei gleichzeitigem Abweichen von diesem Darstellungsmodus, zieht sich als grundlegende Dynamik und zentrales Strukturprinzip durch die Geschichte der Comics. Es findet sich in den ersten amerikanischen Zeitungscomics, z.B. von Richard Felton Outcault (vgl. den Beitrag von Frank Kelleter/Daniel Stein), aber auch als medienreflexives Moment in den französischen bandes dessinées von MarcAntoine Mathieu (vgl. den Beitrag von Rolf Lohse). Zudem fällt insbesondere die Ko-Präsenz von Bild- und Schriftzeichen auf, aus denen sich dieses Panel zusammensetzt. Mehr noch: Es fällt auf, dass Bild- und Schriftzeichen nicht nur nebeneinander stehen, sondern auf verschiedene Weisen ineinandergreifen und interagieren. So befindet sich der Schriftzug »Mouse« direkt vor den Augen der schwarzen Figur, die aus der rund eingerahmten Bildmitte heraus schaut und deren Kopf durch das Panel im Panel von ihrem Rumpf abgetrennt wird. Der Schriftzug ist über diese Figur gelegt und befindet sich somit auf einer höher angelegten bzw. weiter vorne liegenden grafischen Ebene. Er richtet sich an den Leser, für den er Teile des Gesichts der Figur verdeckt. Für die Figur selbst erscheint er spiegelverkehrt. Nun scheint diese Figur, auf deren Darstellung noch einzugehen ist, überrascht oder sogar schockiert. Ihr stehen die Haare zu Berge, sie hat die Augen weit aufgerissen, den Mund weit geöffnet. Es ist möglich, dass sie das Wort »Mouse« gedacht, ausgesprochen oder vielleicht auch nur gehört hat. Doch wie erklären sich die zwei eiförmigen schwarzen Objekte, die sich über dem Kopf der Figur befinden und die wohl gerade erst dort erschienen sind (die Bewegungslinien deuten darauf hin)? Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Intermedialität dieses Bildes entschlüsseln. Sie ist unserer Meinung nach dreifach kodiert. Wir haben es erstens mit einer bildinhärenten Intermedialität zu tun, die sich aus der Interaktion von Bild- und Schriftzeichen ergibt. Zweitens liegt eine mediengeschichtlich konnotierte intermediale Reflexivität vor, die sich aus expliziten und impliziten Verweisen auf frühere Comics und andere Medien speist. Drittens muss der Blick auf die Ebene der kulturellen Interdiskursivität bzw. Intermedialität33 gelegt werden, also auf die aufgerufenen 33 Zur Theorie der kulturellen Intermedialität vgl. Daniel Stein: »From TextCentered Intermediality to Cultural Intermediality; or, How to Make Intermedia Studies more Cultural«, in: Frank Kelleter/Daniel Stein (Hg.): American Studies as Media Studies, Heidelberg: Winter 2008, S. 181-190. Zur Intermedialitätstheorie allgemein vgl. Erik Hedling/Ulla-Britta Lagerroth (Hg.): Cultural Functions of Intermedial Exploration, Amsterdam, New York: Ro-

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Comics als populärkulturelles Medium bzw. assoziierten Medien und die Diskurse, die diese Medien formen und übermitteln. Diese drei Ebenen spielen in allen Beiträgen dieses Bandes eine Rolle, wenn auch auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Gewichtung. In Spiegelmans Breakdowns manifestiert sich bildinhärente Intermedialität im Beziehungsgeflecht von Bild- und Schriftzeichen. Es handelt sich bei den zwei eiförmigen Objekten um cartoonhaft dargestellte Mausohren, eine Annahme, die durch den Schriftzug »Mouse« unterstrichen wird. Dass diese Ohren genau in dem ausgedehnten Moment erscheinen, den das Panel einfängt, erkennen wir nicht nur durch die schon genannten Bewegungslinien, die das Panel von einer statischen Momentaufnahme unterscheiden und es mit einer narrativen und zeitlichen Komponente aufladen, sondern auch durch die Bildunterschrift, die von der Geburt einer Idee, »Birth of a Notion«, spricht. Doch wem ist diese Idee zuzurechnen? Der schwarzen Figur im Bild, deren frei schwebende Ohren eine Anspielung auf die in Comics häufig verwendete, über dem Kopf schwebende Glühbirne, das Zeichen für die plötzliche Erkenntnis, sein könnten? Oder dem Zeichner des Bildes, dessen auf den vorhergehenden Seiten erzählte Lebensgeschichte durch dieses Panel zwar unterbrochen, dessen autobiografischer Anspruch aber durch den Zusatz »Harpur College. Binghampton, NY. 1971« sogar noch unterstrichen wird? Diese Fragen führen uns in den Bereich der mediengeschichtlich konnotierten intermedialen Reflexivität. Dem Leser wird Spiegelmans einflussreichstes Werk, die zweibändige Holocaust-Erzählung Maus (1986, 1991), ein Begriff sein, und wer im Kontext der Comics nicht gleich an Disneys Mickey Mouse denkt, wird durch den »Mouse«-Schriftzug an die Figur erinnert.34 Nun wirft das Panel

dopi 2002; Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke 2002; Silke Horstkotte/Karin Leonhard (Hg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2006; Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, München: Fink 2008. Zur spezifischen Intermedialität von Comics vgl. M. Schüwer: Wie Comics erzählen. Ein hilfreicher und in der Comic-Forschung unseres Wissens noch nicht berücksichtigter Ansatz ist Peter Wagners Theorie der Ikonotexte. Vgl. P. Wagner: Reading Iconotexts. From Swift to the French Revolution, London: Reaktion 1995; vgl. auch ders. (Hg.): Icons – Texts – Iconotexts. Essays on Ekphrasis and Intermediality, Berlin, New York: de Gruyter 1996. 34 Vgl. auch Spiegelmans Lithografie Mickey, Maus + Mouse, die drei Mäuse zeigt: Mickey Mouse, eine menschliche Figur mit Maus-Maske und eine realistisch gezeichnete Maus, die dieser Mensch in der Hand hält. Abgebildet und erläutert in Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale, München: Fink 2006, S. 19-21.

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Daniel Stein, Stephan Ditschke & Katerina Kroucheva neben dieser doppelten Assoziation – Holocaust/Maus und Mickey Mouse – noch einen dritten Interpretationsstrang auf: die Bildunterschrift »Birth of a Notion« kann als Anspielung auf David Ward Griffiths The Birth of a Nation (1915) gelesen werden, den ersten Hollywood-Blockbuster, mit dem für viele Kritiker das moderne Kino begründet wurde. Das ist nicht einfach nur ein cleveres Wortspiel, denn innerhalb der bildinhärenten Intermedialität des Panels entsprechen sich Bildunterschrift und Ikonografie: Das Bild greift nämlich nicht nur die Porträtperspektive der klassischen Malerei auf, sondern erinnert auch an das Schlussbild eines Cartoon-Vorspanns, auf dem Hauptfigur, Titel und der Name des Filmstudios zu sehen sind (z.B. Mickey Mouse oder die Looney Tunes der Warner Brothers; vgl. dazu auch den Beitrag von Ole Frahm in diesem Band). Zudem ist die schwarze Figur zweifelsohne ikonografisch aufgeladen. Sie repräsentiert eine allseits bekannte Figur der amerikanischen Populärkultur, derer sich auch Griffith bedient, um die Unterjochung der befreiten Sklaven nach dem Bürgerkrieg und den Wiederaufstieg des Südens als eigentliche Geburtsstunde der amerikanischen Nation zu inszenieren: den black coon aus den Minstrel Shows und ihren Ablegern, dessen aufgerissene Augen, weiße Zähne, dicke Lippen, gekräuseltes Haar und runde Kopfform in unzähligen Theaterstücken, Prosatexten, Zeitungsartikeln, Werbekampagnen und Filmen sowie auf Postkarten und Postern illustriert wurden. Damit wird das Geflecht der Assoziationen enorm kompliziert, denn nun muss man fragen, wie sich Verweise auf den Holocaust/Maus, Mickey Mouse, Griffiths Birth of a Nation und die Coon-Figur miteinander vereinbaren und plausibel deuten lassen. Beginnen wir den Versuch einer Antwort mit der Beobachtung, dass sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten feststellen lässt. Erstens erkennen wir in der Wahl der porträtierten Figur eine Selbstverortung Spiegelmans in der Geschichte der Comics, eine Bekenntnis zu den funny animal strips der Tageszeitungen und Wochenendausgaben sowie zu den späteren funny animal cartoons im Fernsehen. Beides sind einflussreiche verwandte Comic-Gattungen in unterschiedlichen Medien, aus deren Pfaden Maus wie auch Breakdowns heraustreten, ohne sie zu verleugnen. Zweitens finden wir die bereits genannten Verweise in Bild und Schrift auf ein schwarzes komisches Stereotyp, die sich bis in die Ursprünge amerikanischer Comics zurückverfolgen lassen. In Richard F. Outcaults Yellow Kid, dem vielleicht wichtigsten frühen Comic, findet die Coon-Figur leitmotivische Verwendung; in Birth of a Nation dient sie der rassistisch-populistischen Darstellung afroamerikanischer Charaktere. Durch den orange-gelben Hintergrund (auf der Schwarz-Weiß-Abbildung leider nicht erkennbar) ruft Spiegelmans Bild zusätzlich David Selznicks Verfilmung von Gone with the Wind (1939; Margaret Mit-

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Comics als populärkulturelles Medium chells Roman erschien 1936) in Erinnerung, einen Film, dessen Farbgebung – der rötliche, schwere Himmel über Tara – in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch eine populärkulturelle Südstaatenästhetik evoziert, die das 19. Jahrhundert melodramatisch und nostalgisch verklärt. Drittens ist dem Panel ein jüdischer Subtext eingeschrieben, denn neben Spiegelmans jüdischer Abstammung und seiner autobiografischen Erzählung über den Holocaust in Maus wird auch die Rolle jüdischer Schauspieler und Bühnenkünstler in der Geschichte der amerikanischen Populärkultur betont: Dass Al Jolsons Auftritte in blackface mit schwarzer Schminke im Gesicht und mit weißen Handschuhen an den Händen, z.B. im ersten Tonfilm der amerikanischen Filmgeschichte, dem Jazz Singer (1927), einen ikonografischen Hintergrund der Mickey Mouse bilden, legt Ole Frahm in seinem Beitrag zu den amerikanischen Independent Comics in diesem Band dar.35 Spiegelman selbst thematisiert dies schon eine Seite später (vgl. Abb. 2). In vielerlei Hinsicht rücken diese Beobachtungen die dritte Ebene ins Blickfeld, von der wir oben gesprochen haben. Kulturelle Interdiskursivität bzw. Intermedialität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das oben abgebildete einzelne Panel (Abb. 1) eine Vielzahl von sozialen Rahmenbedingungen und politischen Kontexten sowie Diskurse, Bildtraditionen und Darstellungsmodi in unterschiedlichen Medien aufruft, die sich Abb. 2. Mickey Mouse als bis weit in die Geschichte der amerika»Al Jolson with big ears«, nischen Populärkultur verfolgen lassen in: Art Spiegelman: und an der Entstehung der Comics – und Breakdowns. zwar nicht nur den Comics von SpiegelPortrait of the Artist as a man, sondern dem Medium als solchem Young %@˜§!, o.S. und wahrscheinlich sogar der US-amerikanischen Populärkultur insgesamt – maßgeblich beteiligt waren. Ohne die Rolle jüdischer Akteure zu verstehen, die sich im Spannungsfeld zwischen love and theft, zwischen liebevoller Huldigung

35 Vgl. auch John Strausbaugh: Black Like You. Blackface, Whiteface, Insult & Imitation in American Popular Culture, New York: Penguin 2006, S. 140.

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Daniel Stein, Stephan Ditschke & Katerina Kroucheva und rücksichtsloser Enteignung afroamerikanischer Kulturformen bewegten, liest man Comics ahistorisch und fernab ihrer kulturspezifischen Kontexte, wie Frank Kelleter und Daniel Stein in ihrem Beitrag zeigen.36 Das ist zumindest eine der Botschaften dieses Panels. Eine weitere Botschaft, die ebenfalls aus der Perspektive kultureller Interdiskursivität bzw. Intermedialität resultiert, betrifft die Komplexität populärkultureller Artefakte. Denn Populärkultur kann Vieles: Sie kann eine ganze Bevölkerungsgruppe denunzieren und dabei gleichzeitig ein neues Medium etablieren, wie es Griffiths Film tut; sie kann ihre Ursprünge maskieren und dabei eine immense globale Wirkung entfalten, wie es Mickey Mouse tut; und sie kann sich selbstreflexiv mit Vorgängen der kulturellen Verschmelzung und Hybridisierung auseinandersetzen, wie es Spiegelman und andere Comic-Zeichner in ihren Werken tun. Das hier aus heuristischen Zwecken ausgewählte Einzelbild aus Breakdowns ist so konzipiert, dass es isoliert, also plakativ und emblematisch, gelesen werden kann. Es steht aber auch im narrativen Zusammenhang mit einer Reihe weiterer Einzelbilder, die Spiegelman in seine Erzählung einwirft, und mit der eigentlichen Erzählung, in der das blackface-Emblem in einen historischen Zusammenhang mit dem Underground Comic Funny Animals und Maus erscheint. Denn die Coon-Figur, deren Geistesblitz der Leser Zeuge wird, ist auch ein Spiegelman in Verkleidung – der Comic-Autor als blackface artist – dessen Lebensgeschichte in dieser Erzählung effektreich inszeniert wird. Dies führt uns zum Abschluss dieses propädeutischen Exkurses zu einer dreifachen Einschätzung, die wir den Beiträgen dieses Sammelbands voran stellen wollen. Erstens sollte deutlich geworden sein, dass normative Vorstellungen von Comics als ›billiger‹ und gegenüber der sogenannten Bildungskultur minderwertiger Unterhaltungsform wenig hilfreich sind, wenn es darum geht, die Geschichte und die Spielarten dieses Mediums zu beschreiben und zu verstehen. Zweitens ist es im Fall von Comics sinnvoll, den Forschungsfokus von ›Originalkunstwerken‹ und von ›Künstlergenies‹ auf populärkulturelle Praktiken und Dynamiken zu verschieben. Drittens sollte einleuchten, dass Comics als interdiskursives, intermediales und populärkulturelles Medium ein reichhaltiges Forschungsfeld für Literatur-, Medien- und Kulturwissen36 Vgl. dazu auch Paul Buhle (Hg.): Jews and American Comics. An Illustrated History of an American Art Form, New York, London: New Press 2008; Eric Lott: Love and Theft. Blackface Minstrelsy and the American Working Class, New York: Oxford University Press 1993; Michael Rogin: Blackface, White Noise. Jewish Immigrants in the Hollywood Melting Pot, Berkeley: University of California Press 1996; Simcha Weinstein: Up, up, and oy vey! How Jewish History, Culture, and Values Shaped the Comic Book Superhero, Baltimore: Leviathan 2006.

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Comics als populärkulturelles Medium schaftler darstellen und darüber hinaus reizvolle Anknüpfungspunkte für kunsthistorische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen bieten.

Vorstellung der Beiträge Die in diesem Sammelband vereinten Beiträge beruhen zu großen Teilen auf Vorträgen, die 2008 im Rahmen der Ringvorlesung »Bild/Schrift: Intermediales Erzählen im Comic« an der Georg-August-Universität Göttingen gehalten wurden. Ausgerichtet und organisiert wurde diese Ringvorlesung vom Göttinger Zentrum für komparatistische Studien, vertreten durch Katerina Kroucheva und Stephan Ditschke. Der Band beginnt mit Stephan Packards grundlegender Frage »Was ist ein Cartoon?«, auf die der Autor mit einer Theorie des Comics als Medium zwischen Bild- und Schriftzeichen antwortet. Ausgehend von der psychoanalytischen Symboltheorie Jacques Lacans und dem semiotischen Ansatz Charles S. Peirce’ entwickelt Packard Scott McClouds Comic-Theorie weiter, indem er eine Systematik psychosemiotischer Zugangsformen zum Comic expliziert. Diese Systematik zeigt eine Reihe bisher untertheoretisierter Analysemöglichkeiten von Figuren, Panels, Seiten und Sequenzen, die Packard an der Donald Duck-Episode An Eye for Detail von Don Rosa und dem Titelbild von Hergés Tintin et les Picaros beispielhaft vorführt. Geht es Packard in erster Linie um die Kodifikation und Dekodierung des Comics als Zeichensystem, legen Stephanie Hoppeler, Lukas Etter und Gabriele Rippl das Hauptaugenmerk auf einen Theoriebereich, der gerade erst im Begriff ist, sich in der Comic-Forschung zu etablieren: der intermedialen Narratologie und ihrer Bedeutung für die Bestimmung von Erzählformen des Comics. Die Autoren stellen ein fünfgliedriges Modell von Text-Bild-Beziehungen vor, durch das sich unterschiedliche Intermedialitätsgrade und narrative Potentiale klassifizieren lassen und das in der exemplarischen Analyse von Neil Gaimans Sandman zur Anwendung kommt. Der Beitrag von Frank Kelleter und Daniel Stein beginnt bei den Anfängen des modernen Comics: Comic Strips in den US-amerikanischen Zeitungen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Zeichnern wie Richard Felton Outcault, Lyonel Feininger, Winsor McCay und George Herriman. Die Autoren zeigen, dass die Entstehung und Ausdifferenzierung neuer Medien immer eine formalästhetische und kulturhistorische Komponente haben und dass die serielle Ästhetik der frühen Zeitungscomics in den USA die Basis für die Fortschreibung und Abwandlung späterer Comics ist. Der Fokus des Beitrags liegt also auch auf der Frage, weshalb sich

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Daniel Stein, Stephan Ditschke & Katerina Kroucheva Comics als populäres, allgemeinverständliches Medium etablieren konnten. Die Antwort, so die Autoren, findet sich, wenn man die ersten modernen Comics in ihrem soziokulturellen Kontext verortet und ein pragmatisches Konzept populärkultureller Geschichtlichkeit zugrunde legt. Nach diesem Konzept stellt das Zeichnen von Comics eine kulturelle Praxis dar, die sich in ästhetischen Momenten und selbstreferentiellen Knotenpunkten verdichtet, welche sich nicht nur auf den Bereich der Comics beschränken, sondern (amerikanische) Populärkultur insgesamt als ein Entwicklungssystem produktiver Handlungen auszeichnen. Andreas Platthaus widmet seine Aufmerksamkeit einem Phänomen, durch das der Comic Strip den Lesern amerikanischer Tagesund Wochenendzeitungen eine dauerhafte Identifikationsfläche bietet: dem Erzählen in ›Echtzeit‹. Platthaus beschreibt in seiner Analyse von Frank Kings langlebigem Gasoline Alley, wie die Zeit in die Comics kam, d.h. wie und warum Kings Entscheidung, seine Figuren mit den Lesern altern zu lassen, die Gattung der Zeitungscomics revolutionierte. Was King durch diesen Kunstgriff erreichte, gelang mit den Superheldencomics durch die Erschaffung fiktionaler Universen, die als mythologische Systeme funktionieren, wie Stephan Ditschke und Anjin Anhut darlegen. Als quasi-mythische Mächte fungieren die Figuren amerikanischer Superheldenuniversen z.B. der Verlage Marvel und DC Comics als legitimierende Instanzen in jeweils aktuellen Debatten um Werte und Normen in der amerikanischen Gesellschaft, die in den Comic-Heften zur Disposition gestellt werden. Ole Frahm plädiert in seinem Beitrag für eine Geschichtsschreibung der Comics, die keine teleologische Vorstellung steter Entwicklung impliziert, sondern Phänomene wie serielle Parodierungen und Überbietungen in den Blick nimmt. Frahm argumentiert, dass durch die Darstellung von Sexualpraktiken, Enthauptungen und Kastrationen in Tijuana Bibles, Disney-Parodien und Independent Comics (u.a. von Bill Elder, Robert Crumb und Julie Doucet) eine dem Medium schon immer inhärente selbstreflexive Qualität markiert wird und die damit proklamierte Unabhängigkeit von bürgerlichen Kunstbegriffen zu selbstreflexiven und parodistischen Strukturen führt, durch die die Vorstellung eines autonomen Kunstwerks, eines genialischen Zeichners und einer Existenz künstlerischer Avantgarde immer wieder in Frage gestellt wird. Daniel Stein greift Frahms Überlegungen zum Spannungsverhältnis zwischen der seriellen Reproduzierbarkeit von Comics und der Markierung von Autorschaftsansprüchen auf und stellt eine in der Comic-Forschung bisher weitgehend unbeachtete Frage: »Was ist ein Comic-Autor?« Von der Annahme ausgehend, dass es sich bei autobiografischen Erzählungen und Selbstporträts von Comic-

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Comics als populärkulturelles Medium Autoren um kulturelle Praktiken der Selbstinszenierung in einem kulturellen Feld handelt, das keine festen Autorbegriffe und Autortheorien bereitstellt, untersucht Stein eine historische Entwicklungslinie, die nicht erst mit den Underground Comics der 1970er Jahre (Robert Crumb) und den Autorencomics der 1980er Jahre (Art Spiegelman) beginnt, sondern bis in die Ursprünge US-amerikanischer Comics anfangs des 20. Jahrhunderts, vertreten u.a. durch Lyonel Feininger, George Herriman, Ernie Bushmiller, Fontaine Fox, Rex Mason und Chester Gould, zurückreicht. Wie Frahm und Stein verfolgt auch Thomas Becker ein historisches Erkenntnisinteresse. Er argumentiert, dass die Entwicklungsgeschichte der autobiografisch geprägten Graphic Novel durch den Konflikt zwischen den Vereinnahmungsstrategien eines Massenmarktes und den Gegenstrategien (relativ) autonomer Produktion geprägt ist, der weniger durch diskursanalytische Methoden als durch feldanalytische Analysen strategischer Positionierungen und Gegenpositionierungen zu erschließen ist. Becker legt dar, wie sich die Entwicklung autobiografischer Graphic Novels in Schüben von den Underground Comics (Robert Crumb) bis zu den Autorencomics der Gegenwart (Art Spiegelman, Chris Ware) vollzieht und dabei von einer Dynamik ästhetischer Normalisierung und alternativer Emanzipierung angetrieben wird. Anders als bei Becker steht bei Stephan Ditschke ein diskursanalytisches Interesse im Vordergrund. Ditschke untersucht die deutsche Rezeption von Comics in den Feuilletons meinungsführender überregionaler Zeitungen seit 2003 und stellt fest, dass sich die Diskussion zu großen Teilen an die wertende Verwendung etablierter Literaturbegriffe anschließt und dass diese Begriffe die Auseinandersetzung deutscher Kritiker mit dem Medium Comic weitgehend bestimmen. Einer ganz speziellen Form der Comic-Literatur wendet sich Monika Schmitz-Emans zu: den Comic-Adaptationen literarischer Texte. Schmitz-Emans legt nach einer Reihe theoretischer Vorüberlegungen am Beispiel der Comics von Dino Battaglia und Marc-Antoine Mathieu dar, welchen Adaptationsprozessen der Medienwechsel von Literatur zum Comic unterliegt, welche ästhetischen Funktionen solche Adaptationen – z.B. von Poe- und Hoffmann-Geschichten oder Kafka-Texten – erfüllen können und wie sie zum Anschluss des Comic-Feldes an das literarische Feld beitragen. Das Werk des französischen Comic-Autors Marc-Antoine Mathieu steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Rolf Lohse. Lohse untersucht die Funktionen medienreflexiver Elemente für die narrative Gestaltung zeitgenössischer französischer bandes dessinées. Dabei zeigt er, wie im Rahmen des aktuellen Trends hin zu betont medienreflexiven Werken die Grenzen etablierter medialer Comic-

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Daniel Stein, Stephan Ditschke & Katerina Kroucheva Codes überschritten und so das Repertoire von Darstellungs- und Erzählmöglichkeiten erweitert wird. Die Comic-Gattung, die neben der bande dessinée die auch in Deutschland kommerziell erfolgreichsten Publikationen stellt, sind die japanischen Manga. In Japan sind sie längst Teil der Alltagskultur, und auch in Europa und den USA wächst ihr Anteil an der Gesamtzahl publizierter Comics stetig an. Diesem Phänomen trägt Jens R. Nielsens Beitrag Rechnung. Nielsen begründet nicht nur den Erfolg der Manga aus den Produktions- und Rezeptionsbedingungen in Japan, sondern zeigt außerdem grundlegende Unterschiede zwischen Comics westlicher und östlicher Prägung (u.a. Werke von Naoko Takeuchi, Yumiko Oshima, Riyoko Ikeda, Kazuo Koike/Gôseki Kojima) auf narratologischer Ebene auf. Diese gleichsam inter- wie transkulturelle Perspektivierung schließt den Kreis zu den US-amerikanischen Comics, mit denen unsere einleitenden Gedanken zum Comic als populärkulturellem Medium begonnen haben. Unser Dank gebührt dem Zentrum für komparatistische Studien der Georg-August-Universität Göttingen und seinem Direktor Prof. Dr. Heinrich Detering sowie Prof. Dr. Frank Kelleter aus der Abteilung Nordamerikastudien für die institutionelle und finanzielle Unterstützung. Möglich geworden ist die Publikation dieses Bandes jedoch erst durch den Druckkostenzuschuss der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Des Weiteren danken wir all denen, deren Beiträge in diesem Band versammelt sind, denen, die mit ihren Vorträgen zum Gelingen der Ringvorlesung »Bild/Schrift: Intermediales Erzählen im Comic« beigetragen haben, sowie Anne Clausen für die organisatorische Hilfe und technische Betreuung. Zu guter Letzt möchten wir unsere Begeisterung für Anjin Anhuts Cover-Illustration ausdrücken, die er eigens für diesen Band entworfen hat und die nicht besser hätte werden können.

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Was ist ein Cartoon? Psychosemiotische Überlegungen im Anschluss an Scott McCloud STEPHAN PACKARD

»What is the secret of the icon we call – the cartoon?«1 Mit dieser Frage rückt Scott McCloud eine besondere Sorte Zeichen in den Mittelpunkt seiner richtungsweisenden Abhandlung Understanding Comics, die heute wohl der meistzitierte Grundlagentext der Comic-Forschung sein dürfte. Zwar kommen Cartoons2 weder nur in Comics vor, denn sie finden sich auch in Einbildzeichnungen und in Zeichentrickfilmen; noch kommen sie (jedenfalls in ihrer reinen Form) in allen Comics vor, denn manche Comics entfernen sich mit einem realistischen Bildstil sehr weit vom Cartoon, bis sie in Fotoromane übergehen. In jener Familienähnlichkeit der vielen Comics, die den Comic prototypisch bestimmt,3 spielen sie je1 2

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Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, New York: HarperCollins 2004, S. 29. Der Terminus wird hier in dem Sinn gebraucht, in dem ihn Scott McCloud neu eingeführt hat. Andere etablierte Bedeutungen im Englischen und Deutschen verstehen unter dem Cartoon ausschließlich Einbildwitze oder aber ausschließlich Animationen, die dadurch gerade von Comics abgegrenzt werden. Vgl. u.a. Maurice Horn (Hg.): The World Encyclopedia of Comics, 2. Aufl., Philadelphia: Chelsea House 1998, S. 852; sowie Robert Gernhardt: »Was das alles ist. Was das alles soll. Wo das alles hinwill. Wo das alles herkommt. Ein Nachklapp«, in: Ders.: Vom Schönen, Guten, Baren. Bildergeschichten und Bildgedichte, München: Diana 2001, S. 613-683, hier S. 613. Daran lässt sich auch die Verschränkung der beiden Mechanismen beobachten, die erst gemeinsam Gattungen bzw. Kunstformen ergeben: Würde sich die deskriptive Feststellung der Gemeinsamkeiten zwischen den vielen Texten, die mehr oder weniger Comics sind, auf eine Familienähnlichkeit beschränken, kommt im einzelnen Text außerdem ein immanent gesetzter Bezug auf einen rigideren prototypischen Begriff vom Comic hinzu, dem er sich architextuell zuschreibt. Gerade im Bereich neuer und aktueller Medi-

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Stephan Packard doch eine überragende Rolle. Und dies nicht nur, weil sie eben doch am häufigsten und prominentesten Comic-Figuren darstellen und weil eben doch die weit überwiegende Mehrzahl der Comics Cartoons einsetzen, sondern noch mehr, weil dieser besondere Zeichentyp die Rezeption von Comics wesentlich steuert und seine Untersuchung weitreichende Einsichten in die Funktionsweise und die textuellen Strukturen von Comics ermöglicht. Auf den folgenden Seiten will ich einige der Zugänge aufzeigen, die eine Erforschung des Cartoons für die Analyse von Figuren, Panels, Seiten und Sequenzen im Comic eröffnet. Als theoretische Grundlage dient dabei ein psychosemiotischer Ansatz, der die Lektüre von Comics als semiotischen Vorgang in den triadischen Begriffen Charles Sanders Peirce’ beschreiben und ihren Antrieb im Rahmen von Jacques Lacans Psychoanalyse erklären soll.4 Cartoons gehören zu den bildlichen ikonischen Darstellungen, die sich auf ihren Gegenstand durch visuelle Ähnlichkeit beziehen. Aber sie verformen ihr Objekt: Sie lassen eine große Anzahl von Details fort und übertreiben andere. McCloud lokalisiert sie auf einer Skala, die von der Fotografie bis zum ultimativ reduzierten Smiley reicht, knapp vor letzterem und damit vor dessen völliger Auflösung von Individualität (Abb. 1). In Cartoons ist so die historische Wurzel der Comics im Zeichnen und in der Karikatur tradiert, die Freiheit des Zeichners, jene seither konventionalisierte Spielart ikonischer Ähnlichkeit zu frustrieren, die wir von der Fotografie gelernt haben; und es lässt sich in der Ästhetik des Cartoons sogar eine Nähe zur ursprünglichen, längst überkommenen Wortbedeutung

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en, in denen die Genrebildung häufig dem konventionellen Verständnis der abstrakten medialen Form vorausgeht, ist die Doppelung dieses Vorgangs von besonderer Bedeutung. Vgl. dazu Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil 1982, hier insbes. S. 16ff.; Aage Hansen-Löve: »Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst. Am Beispiel der russischen Moderne«, in: Mathias Mertens (Hg.): Forschungsüberblick »Intermedialität«. Kommentierungen und Bibliographie, Hannover: Revonnah 2000, S. 27-83; Alexander Kolerus: »Aufgaben der Medienanalyse. Grundriß eines Interpretationsmodells«, in: Medienobservationen (2002), URL: http://www.medienobservationen.uni-m uenchen.de/artikel/theorie/Mamo.html, Datum des Zugriffs: 28.3.2009. Für eine ausführliche theoretische Grundlegung vgl. Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen: Wallstein 2006, v.a. Kap. 1; zum Cartoon im Kontext einer systematischen Semiotik des Comics v.a. Kap. 4. Zur Komplementarität von semiotischer und psychosemiologischer Theoriebildung vgl. Stephan Packard: »Wherefore Psychosemiotics?«, in: Trans. Revue de littérature générale et comparée 6 (2008), URL: http://trans.univ-paris3.fr/spip.php?article271, Datum des Zugriffs: 28.3.2009.

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Was ist ein Cartoon? von ›Comic‹ als ›komische‹ Kunstform feststellen, insofern die Abweichung des Cartoons von dem Gegenstand, den er bezeichnet, zum Lachen reizen kann.

Abb. 1. Scott McCloud: Understanding Comics, S. 29.

Sie kann aber auch grotesk, erschreckend, heroisch oder reflektierend wirken. Die schwierigsten Fragen wirft ihre Wirkung dort auf, wo sie dem geübten Comic-Leser überhaupt nicht mehr bewusst wird: Das ist der Fall, wenn in der Mitte einer Asterix-Lektüre die Knollennasen die Plausibilität der Akteure in ihrer fiktiven Welt nicht mehr einschränken, oder wenn die disproportionalen Muskeln, verlängerten Beine und überbreiten Schultern der Superhelden den Blick auf die Geschichte, die über sie erzählt wird, nicht mehr verstellen.5 Dass Carl Barks’ Uncle Scrooge sich selbst bekanntermaßen »the richest man in the world«6 nennt und Barks ihn im Titel des ersten Hefts seiner eigenen Comic-Serie als »Only a Poor Old Man« einführt,7 ihn andererseits aber im Titel eines seiner Ölgemälde 22 Jahre später als »Only a Poor Old Duck«8 beschreibt, führt die Zweiseitigkeit des Comic-Zeichens vor, die die Qualitäten des Cartoons als Bezeichnendes im Comic von seinem Bezeichneten trennt. Denn der Signifikant zeigt Dagobert Duck als eine Ente; sein Signifikat ist ein Mensch namens Dagobert Duck.

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Comics müssen nicht erzählen; die meisten Comics sind jedoch narrativ. Der Einfachheit halber gehen die folgenden Ausführungen von Comic-Erzählungen aus, sie lassen sich aber leicht auf nicht-narrative Comics übertragen. Vgl. u.a. S. Packard: Anatomie des Comics, Kap. 8. Z.B. in Carl Barks: »A Financial Fable«/»The Cyclone Money Crib«, in: Walt Disney’s Comics and Stories (1951), H. 126, hier S. 11. Carl Barks: »Only a Poor Old Man«, in: Walt Disney’s Uncle Scrooge (1952), H. 1. (= Four Colour, H. 386.) Carl Barks: Only a Poor Old Duck, Öl auf Leinwand, 1974.

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Stephan Packard Wenn der Comic-Text den Leser doch wieder auf die Devianz des Cartoons stößt, wird die Lektüre irritiert; Realitätsdurchbrechungen und explizite Autoreflexionen stellen sich ein. Das demonstriert etwa Don Rosa in seiner Geschichte An Eye for Detail, in der Donald die erstaunliche Fähigkeit beweist, seine identisch aussehenden Neffen an kleinsten Unterschieden auseinanderzuhalten.

Abb. 2. Don Rosa: »Scharfblick schützt vor Schaden nicht«, S. 3.

Als er dazu einmal auf Tricks Ohrform hinweist, überzeugt das Onkel und Neffen zunächst. Erst aus dem Off, als ihre eigenen Cartoons nicht mehr zu sehen sind, fragen sie zwei Panels später zögerlich, mit bezeichnender Vagheit nach (Abb. 2): »Ohr?« – »Ach, egal!« Haben sie als Enten überhaupt sichtbare Ohrmuscheln? Nach diesem Übergriff der histoire auf die Gestalt des discours fällt dann auch auf, dass die völlige Verwechselbarkeit der Neffen selbst einerseits zur Ästhetik der Comic-Zeichnung, andererseits zur fiktiven Realität der erzählten Geschichte gehören könnte. Und während sich die Figuren nur mit einem deutlichen Unbehagen und auffälliger Inexplizitheit auf ihre Entenhaftigkeit besinnen, die für den Leser sichtbar ist, erscheint keines der Details, an denen Donald seine Neffen unterscheidet, in den Zeichnungen. Während Comics eine offensichtlich visuelle Kunstform sind, bleibt der Anblick vieler Elemente, die in ihnen gezeichnet werden, dennoch ganz oder teilweise verborgen: Wir sehen zwar die Gegenstände, von denen der Comic erzählt, aber nicht unbedingt, wie sie aussehen; auch insofern handelt es sich beim Comic um eine ›invisible art‹.9 Die Zeichengestalt der Erzählung und die Gestalt des Erzählten treten auseinander,10

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Scott McClouds Understanding Comics trägt diesen Untertitel, der sich bei McCloud jedoch v.a. auf die Füllung der Lücken zwischen Panels bezieht. 10 Martin Schüwer hat diesen Zusammenhang kürzlich ausführlich und mit bewundernswerter Klarheit dargestellt: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008, hier insbes. S. 17-26. Er plädiert jedoch dafür, die Möglichkeit solcher Übergriffe zwischen histoire und discours statt

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Was ist ein Cartoon? und der ikonische Verweischarakter des Zeichens wird im Bild durch eine Gegenbewegung ergänzt, die Ähnlichkeit suspendiert. Um diese Division zu verstehen, bedarf es eines triadischen Zeichenentwurfs, der die strukturalistische Trennung von Signifikant und Signifikat durch ihre pragmatische Verknüpfung erklärt. Damit stellen sich für die Untersuchung des besonderen Zeichens Cartoon eine Reihe von Fragen: Wie ist es überhaupt möglich, dass ein ikonisches Zeichen eine solche Dimension der Unähnlichkeit integriert? Welche besondere Qualität erhalten Comics durch die Verwendung von Cartoons, wie strukturieren sie das vorhandene Zeichenmaterial und die Syntagmen im Panel, in der Sequenz und auf der Comic-Seite? McClouds Ausführungen geben darauf nur unzureichend Antwort, wie er selbst betont: So führt er ins Feld, dass die vereinfachte Darstellung schneller wiedererkennbar sei, durch die Reduktion an individuellen Besonderheiten mehr Rezipienten zur Identifikation einlade, die Unterscheidung zwischen cartoonisierten Figuren und realistischeren Umgebungen erleichtere und den Sympathievorschuss vergleichsweise einfacher Kindergesichter evoziere.11 Schließt man sich diesen Einschätzungen an, kann dadurch zwar teilweise erklärt werden, weshalb Cartoons eingesetzt werden, nicht aber, wieso sie funktionieren und was ihr Einsatz für den Comic weiterhin bedeutet. Zur Klärung von Möglichkeitsbedingungen und Wirkungen des Cartoons soll im Folgenden seine semiotische Motivation zunächst als ein Wechselspiel zwischen einer ästhetischen Indexikalität und einer dadurch modifizierten Imaginarität beschrieben werden. Im Anschluss werden einige auf dem Cartoon basierende Ansätze für die Analyse von Comic-Figuren, Panels und Makropanels vorgestellt.

1. Indexikalität und Imaginarität des Cartoons Es lohnt sich, Charles Sanders Peirce’ bekannte Typologie der Zeichen gezielt auf die Funktionsweise der Cartoons zu befragen. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Erstheit, Zweitheit und Drittheit ist zunächst über die Zahl der an Relationen beteiligten als Störungen als integrale Bestandteile einer Comic-Narration zu begreifen und sie gerade als Spezifikum der Kunstform zu verstehen. Demgegenüber ließe sich einwenden, dass sich vergleichbare Elemente auch in rein sprachlichen und schriftlichen Narrationen finden, und dass sie in weiten Teilen der Comic-Produktion nur sehr selten vorkommen und die narrative Lektüre dann stören; Schüwers Analysen konzentrieren sich auf avancierte und Autorencomics. Für die folgende Argumentation ändert diese letztlich graduell verschiedene Einschätzung jedoch nur wenig. 11 Vgl. S. McCloud: Understanding Comics, S. 38.

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Stephan Packard Elemente definiert und lässt sich geometrisch vergegenwärtigen: Der beziehungslosen Erstheit entspricht dann ein einzelner Punkt, der Zweitheit, die zwei Elemente in eine rigide Beziehung setzt, eine Strecke, und die Drittheit lässt sich durch ein Dreieck oder einen dreistrahligen (›Mercedes‹-) Stern darstellen. Jede dieser Formen ist als Verbindung so vieler Elemente zu lesen, wie die jeweilige Relation miteinander verknüpft. Während die Kombination mehrerer Erstheiten oder Zweitheiten die Zahl der Elemente nicht erhöht – übereinandergelegte Punkte bleiben Punkte, aneinandergehängte Strecken ergeben nur längere Strecken –, ergibt die Kombination zweier Drittheiten eine Relation mit vier Elementen (zwei Sterne, die an einem Strahl verbunden werden, haben vier freie Strahlen). So kann einerseits die Ontologie auf drei Klassen beschränkt bleiben, und andererseits eröffnet die Kategorie der Drittheit Anschlussmöglichkeiten zu komplexeren Verbindungen. Unvermittelte Qualitäten, die gleichsam unabhängig von anderen Phänomenen aufscheinen, sind demnach Erstheiten; sie unterliegen keiner Repräsentation und sind nicht Gegenstand einer Sinneswahrnehmung,12 sondern reine sinnliche Qualität, nach Peirce’ Beispiel etwa ein ungefähres Gefühl von Rot beim Aufwachen, das keinem roten Gegenstand, keiner Vorstellung von der wahrnehmenden Instanz und keiner Differenz zu anderen Farbwahrnehmungen verpflichtet ist;13 oder der Anblick, als Adam zum ersten Mal die Augen öffnet, der noch nicht in Adam, Welt und Blick auseinanderfällt.14 Da jede Beschreibung Erstheit bereits in eine Bezeichnungsrelation setzt, kann keine Beschreibung ihr tatsächlich gerecht werden;15 sie kann in keiner Semiose rein bezeichnet, sondern nur durch spätere Abstraktion isoliert und bewusst werden,16 durch die Induktion über viele Fälle, in denen sie auftritt.17

12 Vgl. Charles S. Peirce: »A Guess at the Riddle«, in: Ders.: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Bd. 6: 1886-1890, hg. v. Nathan Houser u.a., Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 2000, S. 165-210, hier S. 170f. 13 Vgl. Charles S. Peirce: Collected Papers, Bd. 2, hg. v. Charles Hartshorne u. Paul Weiss, 3. Aufl., Cambridge: Belknap of Harvard University Press 1965, 2. 254-263. 14 Vgl. C.S. Peirce: »A Guess at the Riddle«, S. 171. 15 Ebd. 16 Vgl. Charles S. Peirce: »On a New List of Categories«, in: Ders.: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Bd. 2: 1867-1871, hg. v. Edward C. Moore u.a., Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1984, S. 49-59, hier insbes. Sec. 11. 17 Vgl. Charles S. Peirce: »Deduction, Induction, and Hypothesis«, in: Ders.: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Bd. 3: 1872-1878,

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Was ist ein Cartoon? Was nur existiert, indem es ohne weitere Vermittlung auf ein anderes bezogen ist, ist dagegen eine Zweitheit. Da in Zweitheit keine Abhängigkeit gegen eine weitere, dritte Instanz besteht, ist die Verbindung zwischen den beiden Elementen unaufhebbar und nicht modifizierbar; Beispiele zeichnen sich durch reine Faktizität aus: Ein plötzlicher Schrei, ein unerwarteter Schlag, die Anstößigkeit konkreter Gegenstände,18 aber auch die direkte Reaktion von Willen und Aufmerksamkeit auf eine Wahrnehmung, die zweiseitige Beziehung zwischen Willen und Sinnesinhalt.19 Auch Zweitheit kann durch eine Beschreibung, die ihre Natur vermitteln soll, nie in jener reinen Form aufgerufen werden, die Vermittlung ausschließt. Diese Form nachträglich aufzufinden, ist die Leistung der Abduktion, jener Schlussweise, die von einem Einzelding ohne die Sicherheit einer verbürgenden Regel auf ein anderes Einzelding schließt.20 Erst Drittheit führt vermittelnde Instanzen ein: Wahrnehmungssubjekte, Differenzen zwischen Zeichen, die diese erst erkennbar machen, und alle erlernten Konventionen und Gewohnheiten, die den Gebrauch von Zeichen mit Regelmäßigkeit versehen. Hierher gehört die Arbitrarität und Konvention, die die beiden Hälften des strukturalistischen Zeichens verbindet. Weitere Beispiele sind der Mord von Kain an Abel, der in Mord, Kain und Abel auseinanderfällt, sich aber nicht auf irgendeines der drei Elemente reduzieren lässt; und jede Komplexität, die mehrere Teile einem Ganzen zuordnet.21 Drittheit ermöglicht den einzigen notwendigen, sicheren Schlussstil, den der Deduktion, der von einer anzuwendenden Regel garantiert wird;22 propositionale Inhalte bedürfen für ihre Wahrheitsfähigkeit daher der Drittheit.23 In der Klassifikation der Zeichen wiederholt sich diese Trichotomie mehrmals: Sie produziert sowohl die Unterscheidung zwischen Referenz, Zeichenkörper und dem diese beiden vermittelnden Interpretanten, als auch den jeweils drei Möglichkeiten für den Bezug zum Zeichenkörper, zum Objekt und zum Interpretanten. Am häufigsten wird für die Unterscheidung von Zeichenkörpern die Dimension des Objektbezugs zitiert: Geschieht dieser durch Ähnlichkeit, eine bloße Qualität, die Zeichen und Referent zugleich zukommt, aber jedem auch dann zukäme, wenn sie dem anderen

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hg. v. Christian J.W. Kloesel u.a., Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1986, S. 323-338. Vgl. C.S. Peirce: Collected Papers, 2. 254-263. Vgl. C.S. Peirce: »A Guess at the Riddle«, S. 186. Erstmals systematisch unter dem Namen ›Hypothesis‹ von Peirce eingeführt in »Deduction, Induction, and Hypothesis«. Vgl. C.S. Peirce: »A Guess at the Riddle«, S. 177. Vgl. C.S. Peirce: »Deduction, Induction, and Hypothesis«. Vgl. C.S. Peirce: Collected Papers, 2. 254-263.

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Stephan Packard fehlte, so handelt es sich um eine Erstheit, und wir nennen das Zeichen Ikon; ist die Verbindung zwischen Zeichen und Objekt eine rigide Koppelung zwischen genau diesen zwei Phänomenen, wie zwischen Feuer und dem von ihm aufsteigenden Rauch, liegt ein Index vor, eine Spielart der Zweitheit; findet das Zeichen nur durch ein Drittes, etwa die vermittelnde Konvention einer erlernten sprachlichen Regel, zu seinem Objekt, handelt es sich um ein Symbol. Bilder gelten für gewöhnlich als ikonische Zeichen, die auf ihren Gegenstand verweisen, weil sie ähnlich aussehen, das heißt, dass der Aspekt dieses Aussehens beiden gleichermaßen, aber unabhängig voneinander zukommt. Symbole sind hingegen an Konventionen gebunden, und Sprache ist das meistzitierte Beispiel für solche Zeichensysteme, deren Verständnis von der Kenntnis der Regeln und des Vokabulars jeder einzelnen Sprache abhängig sind. Es mag daher zunächst so wirken, als würden Comics als Kombination von Schrift und Bild symbolische Sprachzeichen mit ikonischen Bildern verbinden:24 Der sprachliche Anteil kann von einer Sprache in eine andere übersetzt werden, wenn Comics Sprachgrenzen überschreiten; die ikonische Gestaltung der Bilder öffnet ästhetische Spielräume. Indexikalische Zeichen kämen demnach nicht vor. Da ikonische und symbolische Semiosen eine Unabhängigkeit des Zeichens vom Objekt implizieren – Ikons durch die Zeichen und Objekt unabhängig voneinander zukommende ähnliche Qualität, Symbole durch die zwischen Zeichen und Objekt tretende Vermittlung – werden ästhetische und poetische Effekte und die Funktionsweise von fiktionalen Erzählungen in der Forschung meist auf diese beiden Aspekte beschränkt: Ästhetik wird wegen ihrer Orientierung an der Form als generell ikonisch, Fiktion wegen ihres propositionalen Gehalts als generell symbolisch verstanden. Denn wie sollte ein indexikalischer, also realer Bezug vom Zeichen auf den Referenten hergestellt werden, wenn es das Bezeichnete nicht in derselben Realität gibt wie den Text, der es bezeichnet? Wie sollte der Rauch eines nur erzählten Feuers die Wirklichkeit der Erzählung erreichen? Aber eine solche Sichtweise greift zu kurz, und der Cartoon demonstriert dies. Denn weder Erst- noch Zweitheit treten jemals unvermittelt auf, sondern sie werden erst aus der Vermittlung abstrahiert; und umgekehrt bedarf die Einheit jeder Proposition neben ihrer symbolischen Regularität ikonischer und indexikalischer Anteile. So wird in Peirce’ Beispiel etwa die Proposition, die durch den Satz »Hesekiel liebt Hulda« ausgedrückt wird, zwar durch eine regu-

24 Vgl. dazu Anne Magnussen: »The Semiotics of C. S. Peirce as a Theoretical Framework for the Understanding of Comics«, in: Dies./Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Kopenhagen: Museum Tusculanum 2000, S. 193-207.

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Was ist ein Cartoon? läre und damit symbolische Verbindung von Zeichen hergestellt; die verbundenen Zeichen enthalten aber die allgemeine Qualität einer Liebesbeziehung als Erstheit ebenso wie den Verweis auf die faktisch existierenden Personen Hesekiel und Hulda als Zweitheiten.25 Wenn Comic-Zeichen also propositionalen Inhalt vermitteln, müssen sie außer symbolischen und ikonischen auch indexikalische Bezüge herstellen. Betrachten wir einen einzelnen Cartoon, etwa Donald in der kurzen Sequenz aus der zuvor zitierten Geschichte von Don Rosa (Abb. 2). Als Ikon zeigt sein Bild seinen Gegenstand durch visuelle Ähnlichkeit: Wie Donald aussieht, wenn er am Tisch sitzt, Unterlagen studiert und seinen Neffen betrachtet, so sähe demnach auch seine Zeichnung aus – und die Ente müsste uns verwirren, solange wir Donald als einen Menschen betrachten. Aber diese Interpretation scheitert bereits viel früher. Denn wenn der Ikon eine reine isolierte Erstheit wäre, und nicht mit Indizes zu einem Symbol und damit zu einer Proposition verbunden wäre, könnte er keinen bestimmten Gegenstand bezeichnen, sondern würde sich in der Qualität der Ähnlichkeit als reiner Möglichkeit erschöpfen: Er würde nicht auf Donald verweisen, sondern auf die Klasse aller Enten in Matrosenanzügen, die hinter einem Schreibtisch sitzen, Unterlagen studieren und dabei so ähnlich aussehen wie auf diesem Bild. Ganz anders, wenn wir den Cartoon als Symbol lesen: Dann haben wir gelernt, dieses Bild als Zeichen für Donald zu verstehen, und erkennen es ebenso wieder wie das Wort ›Donald‹ auf dem Papier. Damit ist der Bezug zur einzelnen Person in der fiktiven Welt leicht erklärt; würde sich das Zeichen jedoch auf das Symbol beschränken, und würde es nicht durch ikonische und indexikalische Inhalte gefüllt, würde es damit jede visuelle und ästhetische Qualität verlieren. Was in diesen Deutungen fehlt, ist also die ästhetische Indexikalität des Cartoons, jene Deixis auf ein faktisches Phänomen, das den Ikon ergänzen und ihn mit dem Symbol verbinden kann. Wir sind es gewohnt, diese indexikalische Lücke durch andere Schlussfolgerungen zu füllen: Durch Deduktion können wir die Regel, die wir für Donald-Bilder gelernt haben, anwenden, um zu verstehen, dass die einzelne Figur Donald gemeint ist, und so von der Drittheit des Symbols ausgehen; durch Induktion können wir an der Erstheit des Ikons anknüpfen, die Ähnlichkeit zwischen den Cartoons in jedem der drei Panels erkennen und daraus schließen, dass ein diesen Bildern gemeinsamer Bezugspunkt gemeint ist.26 Aber die be25 Vgl. Charles S. Peirce: »Short Logic« [auch »Of Reasoning in General«], in: Ders.: The Essential Peirce, Bd. 2, hg. v. Nathan Houser, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1998, S. 11-26. 26 Vgl. dazu die allgemeinen Ausführungen zur Semiologie der Objektkonstitution in Nina Ort: Objektkonstitution im Zeichenprozeß. Jacques Lacans

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Stephan Packard sondere Freiheit des Cartoons, die er in seinen Abweichungen von der Ähnlichkeitsbeziehung bloßer Ikons zelebriert, begründet einen unmittelbareren Bezug zur Zweitheit: Eine abduktive Supposition eines Einzeldings, zu dem der Cartoon als Index in einer direkten Beziehung steht. Worauf aber kann der Cartoon als Index zeigen? Zwar kann er nicht auf den fiktiven Donald verweisen; wohl aber auf Aspekte des Lesers, der in derselben Realität existiert wie Donalds Bild. »You give me life«, sagt McClouds Cartoonrepräsentant, der uns durch Understanding Comics führt, »by reading this book and by ›filling up‹ this very iconic (cartoony) form. Who I am is irrelevant. I’m just a little part of you.«27 Weil Cartoons die Darstellung von Gesichtern und Körpern reduzieren und verformen, sind ihre Elemente nicht durch eine strikte Ähnlichkeit mit ihren Referenten zu erkennen, sondern durch ihre diagrammatische28 Struktur: Das Abbild des Auges wird nicht allein als Auge erkannt, weil es einem Auge ähnelt, sondern ebensosehr, weil es zu anderen Teilbildern des Gesichts, zu Mund, Nase und Ohren, in einer ähnlichen räumlichen Beziehung steht wie das bezeichnete Auge zu anderen Gesichtsteilen. In diesem Diagramm sind einige wenige Teile aus der Realität abgebildet, während viele andere – die Textur der Wange, die Farbe der Halspartie – getilgt werden. Was bleibt, wird übersteigert dargestellt. Aber wie McCloud betont, sind die ausgewählten und übertriebenen Elemente im Cartoon typischerweise jene, die wesentliche Funktionen in der Begegnung und der Kommunikation mit anderen Menschen übernehmen: Wie wir bei einem Gesprächspartner gegenüber v.a. auf den Mund achten, der lächelt, auf die Augen, die Blickkontakt herstellen, auf expressive Augenbrauen und andere Elemente der aktiven Mimik, und zwar sowohl am Anderen als auch in der subjektiven Imagination unseres eigenen Aussehens, so ignoriert auch der Cartoon jene anderen Gesichtsteile, die in die Kommunikation nicht oder weniger eingebunden sind.29 Diese Spiegelbeziehung ist eine genuine Zweitheit: Die eigenen Augen und die Augen des Gegenübers, der eigene Mund und der Mund des Gegenübers treten in eine rigide Beziehung, die – durch physiologische und erlernte Vermittler garantiert, aber in der Erfahrung von diesen abstrahierbar – eine geradezu zwingende Wirkung annehmen können, wenn wir unwillkürlich gegen unseren Nächsten zurücklächeln, zurückgähnen oder wenigstens seinem Blick mit dem eigenen begegnen. Im Comic entstehen und vergehen Gesichtsteile sogar Psychosemiologie und Systemtheorie, Wiesbaden: Deutscher UniversitätsVerlag 1998, hier insbes. S. 125. 27 S. McCloud: Understanding Comics, S. 37. 28 Vgl. C.S. Peirce: Collected Papers, Bd. 4, 4. 418, 531. 29 Vgl. S. McCloud: Understanding Comics, S. 35.

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Was ist ein Cartoon? nach diesem Gesetz: Donald entwickelt Zähne, wenn er sie fletscht, Augenbrauen, wenn er sie hebt, und Stirnfalten, um sie zu runzeln. Der Cartoon zeichnet sich damit zunächst durch eine Ästhetik der Indexikalität aus: Seine ikonische Form wird zum Symbol ergänzt, indem er eine indexikalische Beziehung zum imitativen Körperverhalten des Rezipienten aufbaut. Donalds Bild verweist also als Erstheit auf die Klasse der Enten in Matrosenanzügen, und als Drittheit auf die konventionalisierte Figur Donald, als Zweitheit aber auf die intersubjektive Relation zum Leser, dessen Körperimagination seiner Mimik, seinen Gesten, seiner Körperhaltung gerecht werden kann. Die rigide Verknüpfung, die damit zunächst postuliert und bei McCloud v.a. durch intuitive Evidenz bewiesen werden soll, lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln erklären: Kognitionspsychologisch als ein Effekt der sogenannten ›embodied empathy‹,30 neurowissenschaftlich als Wirkung von Spiegelneuronen,31 oder in Anschluss an Gilles Deleuze’ Überlegungen zum Kino als Spielart des Bewegungsbildes, als Gesichtsbild, das Affekte und Triebe fokussiert.32 Der hier vertretene semiotische Ansatz lässt sich am besten durch einen Blick auf Jacques Lacans Psychosemiologie fortsetzen: Was in Peirce’ Begriffen als indexikalische Lücke und Möglichkeit der Abduktion von kommunikativer Körperimagination möglich, aber unbegründbar schien, findet im Zeichenbegehren der französischen Psychoanalyse einen Antrieb, der zugleich die Gliederung des restlichen Comics vom Cartoon aus verständlich macht. An die Stelle einer naiv verstandenen bloßen Ikonizität des Bildes tritt damit eine erweiterte Imaginarität des Cartoons, die die Ergänzung der bildlichen Ähnlichkeit um den appellativen Bezug zum Leser zur Regelhaftigkeit des verbürgten Codes erweitert und so die Freiheit der cartoonesken Verzerrung für Comic-Zeichnungen bewahrt. In McClouds Kapitel über den Cartoon sind Panels häufig, die zwei Gesichter im Relief einander zugewandt zeigen, in einer Kommunikation begriffen, die die Identifikation partialer Körperteile mit der intersubjektiven Beziehung zum Gegenüber verbindet: Als ei30 Einen Überblick bieten Elaine Hatfield/John T. Cacioppo/Richard L. Rapson: »Emotional contagion«, in: Current Directions in Psychological Science 2 (1993), S. 96-99. 31 Vgl. u.a. Giacomo Rizzolatti u.a.: »Premotor Cortex and the Recognition of Motor Actions«, in: Cognitive Brain Research 3 (1996), S. 131-141; ders./ Laila Craighero: »The Mirror-Neuron System«, in: Annual Review of Neuroscience 27 (2004), S. 169-192; Mirella Dapretto: »Understanding Emotions in Others. Mirror Neuron Dysfunction in Children with Autism Spectrum Disorders«, in: Nature Neuroscience 9 (2006), S. 28-30. 32 Vgl. Gilles Deleuze: L’Image mouvement. Cinéma, Bd. 1, Paris: Minuit 1983. Diesen Ansatz stellt M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 30-35, in den Vordergrund.

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Stephan Packard gene und als fremde markierte Teile der Mimik und Gestik auf beiden Seiten werden verwendet, um einerseits die Teilung der beiden Seiten und andererseits die Totalität der Subjekte auf jeder Seite zu konstituieren. Denn der Andere ist genau insofern ein Anderer, als er nicht ich und zugleich wie ich ist. Darin gleicht die dargestellte Situation dem stade du miroir, dem Spiegelstadium, das für Jacques Lacan wesentliche Teile des psychischen Apparats erklärt, indem es sie gleichsam neu setzt:33 Die Begeisterung, mit der Kleinkinder zwischen sechs und achtzehn Monaten ihr Spiegelbild entdecken, ist für ihn eine – wenn auch nur metaphorische, nicht empirisch am Kind nachweisbare – Illustration der sich entwickelnden Vorstellung vom eigenen und fremden Subjekt. Die imaginäre Kommunikation mit dem Bild des eigenen Körpers verbindet dabei die vorherige Partialerkenntnis der eigenen Körperteile im selben Augenblick zu einem Ganzen, in dem auch der Andere als Gegenüber eingeführt wird; die eigene Totalität und die Existenz des ebenso vollständigen Anderen bedingen und gestatten einander. Darauf folgt sogleich der Appell an einen weiteren, den sogenannten ›Groß-Anderen‹, typischerweise die Mutter, die dieses Verständnis sprachlich, durch einen symbolischen Code, bestätigt, der die beiden spiegelbildlich ununterscheidbaren ›Klein-Anderen‹ differenziert und dadurch auf einander verwiesene ethische und semiotische Regeln einführt. Die rigide Verknüpfung zwischen der Mimik des Cartoons und der eigenen Körperimagination des Lesers entspricht gerade der Struktur dieser psychischen Funktion der Imaginarität, in der der Anblick des kommunikativen Körpers und die regulierte Beziehung zum Mitmenschen ineinander über- und auseinander hervorgehen. McCloud demonstriert die unausweichliche indexikalische Beziehung etwa dort, wo er seinen Stellvertreter als Cartoon frontal aus der Seite herausblicken lässt und darauf hinweist, dass der Leser zurücklächelt, wenn dieser lächelt.34 So also wird unwillkürlich zurückgegähnt, wenn ein Anderer gähnt, und so spannen sich wenigstens in der Vorstellung des Rezipienten Muskelpartien an, die in der Gestik des Cartoons überzeichnet aktiv scheinen. Willkürlicher Kontrolle unterworfen, kann die spiegelbildliche Handlung freilich auch unterbleiben; dann ist das Zeichen bereits vollständige Drittheit, eingeführtes Zeichen eines fremden Körpers. Die motivierende Kraft des Index bleibt jedoch auch nach der Kombination zum Symbol erhalten, und sie kann die ikonische Ähnlichkeit zum dargestellten Gegenstand entlasten: Minimale iko33 Vgl. Jacques Lacan: »Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je«, in: Ders.: Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 93-100; sowie ders.: Le séminaire VII. L’éthique de la psychanalyse, hg. v. Jaques-Alain Miller, Paris: Seuil 1986, hier insbes. S. 27-44. 34 Vgl. S. McCloud: Understanding Comics, S. 35.

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Was ist ein Cartoon? nische und diagrammatische Cartoonzeichen rufen die intersubjektive Konstitution eines anderen Menschen auf. Da die Menschlichkeit der Comic-Figur damit bereits indexikalisch bezeichnet wird, entsteht ein Freiraum für die ikonischen Anteile der Zeichnung, anderes darzustellen. So wird der Ikon im Cartoon zu einem Spiel mit Unähnlichkeit: Während der Cartoon als Index auf den Leser als menschliches Subjekt verweist, zeigt der Ikon nur teilweise auf das Bild eines Menschen, zum anderen Teil z.B. auf das Bild einer Ente. Der dadurch eröffnete dritte Zeichenraum kann unterschiedliche Funktionen annehmen; stets jedoch geht seine Informationsvermittlung über die Dimension der Sichtbarkeit des dargestellten Gegenstands hinaus. Indessen etabliert die Imaginarität des Cartoons den primären intersubjektiven Bezug des Rezipienten zum Text; von ihrer psychischen Funktion aus ergibt sich ein Zugang zur Struktur des übrigen Comics.

2. Cartoons, Panels, Makropanels Der Cartoon kann also psychosemiotisch als ein Zeichen definiert werden, dessen ikonische Form durch einen indexikalischen Bezug zur imitativen Körperimagination des Rezipienten zum propositionalen Symbol ergänzt wird. Ausgehend von diesem Verständnis ergeben sich einige Möglichkeiten für die semiotische Analyse von Comics, die ihre interne Strukturierung, ihre ästhetischen und semantischen Möglichkeiten beleuchten können: So können das Zeichenmaterial der Comic-Figuren und die interne Strukturierung von Panels sowie von Makropanels von der Funktion des Cartoons aus betrachtet werden. Zunächst liegt eine paradigmatische Differenzierung der einzelnen Cartoonzeichen nahe. Haben sie alle gemeinsam, dass ihre Ähnlichkeit zum dargestellten menschlichen Körper durch karikierende Reduktion sowie durch den dritten Zeichenraum gestört wird, ergeben sich daraus zwei Dimensionen zu ihrer Differenzierung: Zum einen kann die Cartoonisierung, also die Reduktion auf einzelne, disproportional übersteigerte Details, verschieden weit fortgeschritten sein: McClouds Skala (Abb. 1) gibt eine grobe Orientierung. Zum anderen finden sich im dritten Zeichenraum unterschiedliche abstrakte und figürliche Abbilder. So sind etwa die Gesichtszüge von amerikanischen Abenteuer-, Krimi- und Superhelden nach Genrekonventionen meist weniger stark cartoonisiert als ihre Körper;35 amerikanische Cartoons insge-

35 Vgl. Ulrich Krafft: Comics lesen. Untersuchungen zur Textualität von Comics, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, hier insbes. S. 73-82.

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Stephan Packard samt weniger stark als in belgischen und französischen Traditionen. Wegen ihrer unterschiedlichen Zugänglichkeit für das intersubjektive Wechselverhältnis zum Rezipienten könnte man erstere auch als geschlossenere, letztere als offenere Cartoons bezeichnen. Häufig begegnen sich aber auch unterschiedliche Grade von Cartoonisierung innerhalb eines Comics: In vielen Manga heben sich Protagonisten von Antagonisten bereits durch den Grad der Cartoonisierung deutlich ab: In Katsuhiro Otomos Akira (Abb. 3) bestehen die Gesichter der jugendlichen Identifikationsfiguren aus abstrakten Kreisaugen, groben Stupsnasen und bloßen Strichmündern, während der etwas ältere Gegenspieler über ein komplex strukturiertes Gesicht mit realistischeren Augen, Hauttönungen und differenzierten Gesichtsfalten verfügt. Die Figuren werden so durch ihre Darstellung bereits für den Rezipienten geordnet, während Personen innerhalb der Diegese nicht in der Lage sind, ihre Rolle nach bloßem Augenschein zu unterscheiden.

Abb. 3. Katsushiro Otomo: Akira, Bd. 1, S. 34 (linke Seite), S. 56 (rechte Seite).

Statt Comic-Figuren zu ordnen, können Differenzen im Grad der Cartoonisierung auch Funktionswechsel bei einer Comic-Figur und Progressionen in der Sequenz markieren. So sind in amerikanischen Superheldencomics in der Regel Protagonisten und Antagonisten gleichermaßen offene Cartoons, heben sich dadurch aber von etwas realistischer gezeichneten Personen ohne übermenschliche Begabungen ab: Zum Zentrum der Handlung hin nimmt der Grad an Cartoonisierung zu. Die zivilen Geheimidentitäten der Helden und ihrer Gegenspieler sind daher weniger stark cartoonisiert. Wenn Bruce Wayne die Maske Batmans aufsetzt, wird sein Cartoon durch die vereinfachten Gesichtszüge noch offener; dasselbe aber widerfährt auch Clark Kent, wenn er – ohne diegetische Maske – als Superman auftritt, oder dem Joker, wenn sich sein Gesicht zum be-

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Was ist ein Cartoon? kannten, grotesk übersteigerten Clowngrinsen verzerrt; und zwar unabhängig davon, ob auf der Handlungsebene je nach Version Schminkzeug, eine grausame Verätzung, tiefe Schnittwunden oder die manische Grimasse eines Wahnsinnigen die Verwandlung begründen. Zur progressiven Veränderung von Cartoons gehört auch ihre Produktivität: Ihnen wachsen Augenlider, um müde herabzuhängen, Fingernägel, damit sie desinteressiert betrachtet werden können, und einzelne Haare, wenn sie gekämmt werden sollen. Aber auch die Füllung des dritten Zeichenraums, in dem Cartoons Formen zeigen, die gegen die Ähnlichkeit mit ihren Figuren verstoßen, kann die Cartoons ordnen, die in einem Comic vorkommen. So bilden Barks’ und Rosas Enten eindeutig eine Cartoongruppe innerhalb der Bevölkerung Entenhausens, die Hunde eine zweite, die (seltenen) Mäuse und Eulen eine dritte und vierte. Die Enten sind untereinander in der Lage, sich mit geringstem Aufwand so zu verkleiden, dass sie wie andere Charaktere aussehen; diese Genrekonvention der Verkleidungsfarce wird durch das verwendete Zeichenmaterial extradiegetisch unterstützt. Für Charles M. Schulz’ Peanuts hat Ricarda Strobel bereits vor zwanzig Jahren den Aufbau aller Figuren aus identischen Kopf- und Rumpfformen in Frontalund Profilperspektive beschrieben:36 Charlie, Lucy und die anderen Kinder sind auf nur minimal variierte große, runde Köpfe zurückzuführen, und bilden so eine Gruppe; von ihr heben sich Snoopy und Woodstock ab, die trotz unterschiedlicher Physiognomie auf der Handlungsebene – hier Schnauze, da Schnabel – im Cartoon mit dem gleichen nach vorne gebogenen Oval erscheinen, das ihr Gesicht abschließt. Hier gilt: Wer sprechen kann, gehört zur einen Gruppe, wer nur in Gedanken über Sprache verfügt oder in unlesbaren Vogelfußspuren kommuniziert, gehört zur anderen. Einem Dialog zwischen Snoopy und Woodstock wird damit von vornherein eine andere ontologische Qualität zugeschrieben als einem Austausch zwischen Snoopy und Charlie Brown. Indem Cartoons die erste Zuschreibung von intersubjektiver Realität zum Comic über eine kommunikative Situation motivieren, signalisieren sie jedoch nicht nur Gruppierungen im Personal der Erzählung und die unterschiedliche Entfernung zur wesentlichen Handlung, sondern sie ordnen auch die übrigen Elemente im Panel ausgehend vom Blick des Cartoons. Lacans Anwendung des im Spiegelstadium definierten psychischen Modells auf bildende Kunst unterscheidet auf einer grundlegenden Ebene ›Blickfallen‹ von 36 Vgl. Ricarda Strobel: Die Peanuts. Verbreitung und ästhetische Formen. Ein Comic-Bestseller im Medienverbund, Heidelberg: Winter 1987, hier insbes. S. 19ff. Vgl. auch Ursula Oomen: »Wort – Bild – Nachricht: Semiotische Aspekte des Comic Strip ›Peanuts‹«, in: Linguistik und Didaktik 6 (1975), H. 23, S. 233-240.

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Stephan Packard ›Blickdepots‹:37 Das Blickdepot bietet dem Auge die geometrische Ordnung einer optisch und gegenständlich geordneten, meist zentralperspektivisch arrangierten Welt. Es erfüllt eine visuelle symbolische Ordnung, die es dem Sehenden erlaubt, die Funktion des Blicks abzulegen und Auge, nur registrierende Instanz für eine durchweg zugängliche und verständliche Welt zu sein. Der Gegenstand im Blickdepot erfüllt das Begehren nach dem Objekt als Ding an sich: »Tu veux regarder? Eh bien, vois donc ça!«38 Die Blickfalle hingegen überrascht das Subjekt mit dem Blick, in dem es nicht nur sieht, sondern als blickendes stets auch spiegelbildlich erblickt werden kann: Die Stelle, von der aus gesehen wird, ist damit selbst in die optische Ordnung aufgenommen, und diese fokussiert den Moment, in dem sich die Blicke des Subjekts und die des Anderen begegnen. Während der Rezipient für das Blickdepot der Dritte und ganz Andere, der ›Groß-Andere‹ als Herr über die berechenbare Perspektive wird, sind er und ein Gegenüber im Bild bei der Blickfalle der Andere des Anderen, der ›Klein-Andere‹, und somit der indexikalischen Kraft der wechselseitigen Zuschreibung von Intersubjektivität unterworfen. Lacans stärkstes und meistzitiertes Beispiel für die Blickfalle, Holbeins Gesandte,39 präsentiert die eponymen Würdenträger neben symbolischen Insignien weltlicher Macht als perspektivisch gezeigte Gegenstände der Sichtbarkeit. Der vage Fleck in der Mitte des Gemäldes, der sich nur aus zwei besonderen Blickwinkeln durch anamorphische Verzerrung der Perspektive plötzlich als grinsender Totenschädel entpuppt, richtet dagegen den warnenden Blick eines ›memento mori‹ gegen den Betrachter. Die Verformung und die im Schädel reduzierte Gesichtsform demonstriert die vollständige indexikalische Gewalt des Cartoons, die sogleich nach symbolischer Rechtfertigung und Einordnung ruft, wie sie hier im Kontext der Sterblichkeitsmahnung geleistet wird. Diese Kraft des Blicks, der vom Cartoon ausgeht, ordnet auch Panelinhalte und Sequenzen im Comic. Dabei lässt sich zunächst zwischen lateralen Cartoons unterscheiden, die ihren Blick aufeinander richten, so dass der Rezipient in eine Beobachterposition gerät, von der aus Kommunikation erblickt wird, und frontalen Cartoons, die aus der Comic-Seite heraus auf den Betrachter blicken und ihn in die Position des Anderen bringen, der sich kommunikativ verhalten soll. Während die Blicke lateraler Cartoons in die Ebene der Comic-Bilder gerichtet sind und damit die Lektüre entlang der Sequenz antreiben, pausieren frontale 37 Vgl. Jacques Lacan: Le séminaire XI. Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, hg. v. Jaques-Alain Miller, Paris: Seuil 1973, hier insbes. S. 93-95. 38 Ebd., S. 93. 39 Hans Holbein: Die Gesandten, Öl auf Leinwand, 1533.

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Was ist ein Cartoon? Cartoons die Lektüre für gewöhnlich, sie markieren das Bild als Gegenüber des Lesers und implizieren Reflexionen; sie unterstützen auch die Setzung40 am Anfang und Ende von Sequenzen. In der eingangs besprochenen Passage von Don Rosa (Abb. 2) ist Donalds Cartoon zu Beginn und Ende der kurzen Sequenz frontal,41 in der Mitte der Sequenz lateral gezeichnet; Tricks Blick, durchwegs lateral, ist zunächst auf Donald gerichtet, den er in einen Blickwechsel zieht, und dreht sich dann in die Leserichtung.

Abb. 4. Chris Ware: Jimmy Corrigan, o.S.

Wenn frontale Cartoons überhand nehmen, kann dies die Lektüre der Sequenz irritieren, ja ganz zum Erliegen bringen. In Chris Wares Comic Jimmy Corrigan, der seine schlechte Lesbarkeit mehrfach inszeniert, werden etwa frontale Cartoons eingesetzt, um Vater und Sohn voneinander zu isolieren, die in der hier zitierten Szene an dem Versuch scheitern, Kommunikation miteinander herzustellen 40 Vgl. U. Krafft: Comics lesen, S. 136-140. 41 Während die Stellung der Pupillen dies jeweils modifiziert und im ersten Panel den Übergang zur lateralen Sequenz ankündigt, im letzten auf dem Objekt ruhend das Ende der Sequenz unterstreicht, ist die Opposition zwischen den Körpersegmenten für frontale und für laterale Enten bei Don Rosa dennoch deutlich: Lässt sich die Grenze hier auch nicht so scharf ziehen wie bei Schulz (vgl. oben), fallen die Darstellungen der Augen, Profillinien und Schnäbel dennoch in frontale und laterale Realisationen auseinander.

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Stephan Packard (Abb. 4). Dass sie jeweils in verschiedenen Panels erscheinen, unterstreicht den Effekt noch. Die dazwischen ebenso isolierten Objekte werden damit zu Blickinhalten der beiden Personen, die auf diese Flächen sehen, statt einander anzublicken. Damit ist bereits die grundlegende Opposition beschrieben, die Cartoons und Objekte nach der Differenz von Blickfalle und Blickdepot trennt. Denn wo Cartoons in Panels vorkommen, lassen sich in der Regel cartoonisierte und realistischere Darstellungen durch einen deutlich verschiedenen Grad an Offenheit unterscheiden. Damit fallen anteilig subjektive Elemente, die den Blick erwidern, und objektive Gegenstände, die sich dem Auge nur darbieten, auseinander. Diese Grenze, die in Comic-Panels um Cartoons entsteht und die McCloud bereits an Hergé demonstriert,42 hebt die Akteure vor den anderen Gegenständen der erzählten Welt hervor. In dem wiedergegebenen Beispiel (Abb. 5) sind die Gesichter von Tintin und seinen Begleitern eindeutig cartoonisiert; sie erscheinen nur als kreis- oder punktförmige Augen, Bögen ersetzen die Nasen und einfarbige Flächen die Münder. Die Umgebung ist hingegen detailreicher gezeichnet und der Zentralperspektive unterworfen. Neben der starken Differenz zwischen Figuren und Umgebung lassen sich noch einmal kleinere Unterschiede festmachen zwischen den etwas reduzierteren Objekten im Regenwald und der Pyramide im Hintergrund, die die Zentralperspektive geradezu zelebriert; sie fokussiert das Interesse als begehrtes Ding an sich,43 das dem Subjekt als Schatz der realen Welt begegnet. Eine weitere graduelle Differenz besteht zwischen der am weitesten reduzierten Mimik der Cartoons und ihren realistischeren Torsi und Gliedmaßen. Für die Objekte im Panel ergeben sich damit jenseits ihres Bezugs zu Blicklinien verschiedene Rollen: Einerseits lässt sich unterscheiden, ob sie als Objekte gezeichnet werden und damit weniger stark cartoonisiert werden als die Akteure, oder ob sie – wie hier die Kleidung der Protagonisten – an der Aktivierung der Figuren teilhaben, die sie wie Verlängerungen der eigenen Körper bewegen und damit in die spiegelbildliche Körperimagination aufnehmen. Auch das kann sich in der Progression eines Comics verändern, wenn etwa ein Gegenstand, der zunächst als nur schwach cartoonisiertes Requisit gezeichnet wurde, von einer Figur aufgenommen, manipuliert und damit zum Teil ihres Cartoons gemacht wird; es wird dann entsprechend stärker cartoonisiert. Andererseits können detaillierte Objekte Panels allein füllen, im Blick eines Cartoons als gesehene Gegenstände eingeschrieben sein oder als Teile von Panels zu dem beitragen, was

42 Vgl. S. McCloud: Understanding Comics, S. 30. 43 Vgl. J. Lacan: Le séminaire VII, S. 55ff.

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Was ist ein Cartoon? Ulrich Krafft das ›Raumzeichen‹ genannt hat, jenem gegenständlichen Hintergrund, der stets als Blickdepot fungiert und im Comic nicht anders denn als Summe von Objekten dargestellt werden kann.44 Diesem objektiven Hintergrund steht die Füllung des Panels außerhalb der Cartoons durch ›Folien‹ entgegen, durch einfarbige Flächen und abstrakte Formen, die meist Blick- oder Bewegungsrichtungen der Cartoonverformung fortschreiben. Im Beispiel gehören zu diesen Fortschreibungen der Blickfalle v.a. die ›Speedlines‹ um die Füße der Akteure, aber auch die Schweißtropfen, die um Professor Tournesols Kopf wie auf einer Fläche, also auf einer Folie und nicht in einem Raum, angeordnet sind.

Abb. 5. Hergé: Tintin et les Picaros, Titelseite.

Die vom Cartoon regierte Aufteilung der Panels in frontale und laterale Cartoons, erblickte und gesehene Objekte, Raum- und Folienzeichen konstituiert ein grobes Schema an Domänen, das in der Analyse der Panels in ihrer Sequenz wesentliche Teile der Gliederung und der Neubesetzung offenlegt: Gezeichnete Gegenstände wechseln von einer Domäne in die nächste, wenn Requisiten dem Raumzeichen entnommen und in Cartoons integriert werden; neue Cartoons oder Räume signalisieren den Übergang von einer Sequenz zu einer anderen; die Emergenz von Folienzeichen oder ihr Ver44 Vgl. U. Krafft: Comics lesen, S. 40ff.

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Stephan Packard schwinden ändert die Fokalisierung von der körperlichen Imagination der Bewegung einer Figur zur Wahrnehmung der Figur als Subjekt in einer objektiven Umwelt. Das Nebeneinander der Panels fügt sich jedoch nicht nur zu mehr oder weniger linearen Sequenzen. Über ihre Abfolge hinaus gruppieren sich Panels auf der Comic-Seite zu einem zweidimensionalen Gesamteindruck, dem sogenannten Makropanel.45 Statt Comics über die Abfolge mehrerer Bilder zu beschreiben, lassen sie sich auch als Zerteilung größerer Bilder in kleinere, aufeinander bezogene Einheiten denken. Wenn Makropanels gezielt komponiert sind, ergeben sie größere abstrakte oder figürliche Formen, die in die einzelnen Panels zerfallen. Eine abstrakte Form erfüllt z.B. die gewohnte Aufteilung eines Barks-Comics in die meist etwa gleich hohen, zwei bis drei Panels umfassenden vier Panelzeilen einer Seite in einem Duck-Comic. Figürliche Makropanels zerschneiden Elemente, wie sie auch innerhalb einzelner Panels vorkommen: So wird häufig der Hintergrund von Panels einer einzigen Szene fortlaufend gezeichnet, so dass er ohne die Panelgrenzen ein Bild ohne Wiederholungen ergäbe, und nur die Cartoons und manche Objekte erscheinen in jedem Panel neu. Die primäre Motivation solcher Bilder dürften buchstäbliche Anatomien cartoonhafter Körperdarstellungen sein, die wohl eindrücklichsten Makropanels, die mit der Panelaufteilung in Körperteile dividiert werden: Sie geben in der Struktur des Makropanels die Isolierung von Körperteilen als Partialobjekte wieder, die im Wechselverhältnis zur im Spiegelstadium erblickten Totalität des eigenen Körpers stehen. Körperumrisse werden dann zu Panelgrenzen, oder einzelne Gliedmaßen zu den cartoonisierten Gegenständen, die ein Panel ausfüllen. Die Aufforderung zur Zusammenfügung dieser Teilansichten zu einem Ganzen vollzieht im Comic eine ähnliche Bewegung wie die ›suture‹, jene ›Vernähung‹, die in der Screentheorie dem Filmbild zugeschrieben wird, dessen Körperdarstellung durch die Rahmung der Bilder abgeschnitten und durch die Montage zerschnitten wird und dennoch gerade dadurch die Konstitution eines Klein-Anderen als eines intersubjektiven Gegenübers provoziert.46 Donald Ault hat betont, dass diese Anatomie im Comic bereits deshalb stets vorliegt, weil ein mehrfach gezeichneter Körper schon durch die Aufteilung in verschiedene Perspektiven in den verschiedenen Panels zerteilt wird.47

45 Der Begriff kommt wohl erstmals bei Will Eisner vor: Comics & Sequential Art, 2. Aufl., Tamarac: Poorhouse 1985, S. 41ff. 46 Vgl. u.a. Stephen Heath: »On Suture«, in: Ders.: Questions of Cinema, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1981, S. 76-112. 47 Vgl. Donald Ault: »›Cutting Up‹ Again Part II: Lacan on Barks on Lacan«, in: Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture.

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Was ist ein Cartoon? Cartoonisierung ist der Körperdarstellung in Comics damit immer schon zueigen. Obwohl Cartoons, jedenfalls in ihren offensten Formen, nicht in allen Comics vorkommen, entspricht die Bauweise des Comic-Bildes, die Gliederung des Panels, die Verkettung von Panels zur Sequenz und die Anatomie des Makropanels in seine Einzelbilder grundlegend den Funktionen, die ihm als indexikalischem Bezug zum Rezipienten und als imaginärem Körperbild zukommen. Und in dem Maße, in dem der Cartoon dazu beitragen kann, die weiteren Strukturen des Comics zu klären, klärt deren Analyse auch die herausragende Rolle des Cartoons für die Bestimmung des Comics überhaupt.

Literatur Ault, Donald: »›Cutting Up‹ Again Part II: Lacan on Barks on Lacan«, in: Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Kopenhagen: Museum Tusculanum 2000, S. 123-140. Barks, Carl: »A Financial Fable«/»The Cyclone Money Crib«, in: Walt Disney’s Comics and Stories (1951), H. 126. Barks, Carl: »Only a Poor Old Man«, in: Walt Disney’s Uncle Scrooge (1952), H. 1. (= Four Colour, H. 386.) Dapretto, Mirella: »Understanding Emotions in Others. Mirror Neuron Dysfunction in Children with Autism Spectrum Disorders«, in: Nature Neuroscience 9 (2006), S. 28-30. Deleuze, Gilles: L’Image mouvement. Cinéma, Bd. 1, Paris: Minuit 1983. Eisner, Will: Comics & Sequential Art, 2. Aufl., Tamarac: Poorhouse 1985. Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil 1982. Gernhardt, Robert: »Was das alles ist. Was das alles soll. Wo das alles hinwill. Wo das alles herkommt. Ein Nachklapp«, in: Ders.: Vom Schönen, Guten, Baren. Bildergeschichten und Bildgedichte, München: Diana 2001, S. 613-683. Hansen-Löve, Aage: »Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst. Am Beispiel der russischen Moderne«, in: Mathias Mertens (Hg.): Forschungsüberblick ›Intermedialität‹. Kommentierungen und Bibliographie, Hannover: Revonnah 2000, S. 27-83.

Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Kopenhagen: Museum Tusculanum 2000, S. 123-140.

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Stephan Packard Hatfield, Elaine/Cacioppo, John T./Rapson, Richard L.: »Emotional contagion«, in: Current Directions in Psychological Science 2 (1993), S. 96-99. Heath, Stephen: »On Suture«, in: Ders.: Questions of Cinema, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1981, S. 76-112. Hergé: Tintin et les Picaros, Tournai: Casterman 1976. Horn, Maurice (Hg.): The World Encyclopedia of Comics, 2. Aufl., Philadelphia: Chelsea House 1998. Kolerus, Alexander: »Aufgaben der Medienanalyse. Grundriß eines Interpretationsmodells«, in: Medienobservationen (2002), URL: http://www.medienobservationen.uni-muenchen.de/artikel/the orie/Mamo.html, Datum des Zugriffs: 28.3.2009. Krafft, Ulrich: Comics lesen. Untersuchungen zur Textualität von Comics, Stuttgart: Klett-Cotta 1978. Lacan, Jacques: »Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je«, in: Ders.: Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 93-100. Lacan, Jacques: Le séminaire XI. Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, hg. v. Jaques-Alain Miller, Paris: Seuil 1973. Lacan, Jacques: Le séminaire VII. L’éthique de la psychanalyse, hg. v. Jaques-Alain Miller, Paris: Seuil 1986. Magnussen, Anne: »The Semiotics of C. S. Peirce as a Theoretical Framework for the Understanding of Comics«, in: Dies./HansChristian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Kopenhagen: Museum Tusculanum 2000, S. 193-207. McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art, New York: HarperCollins 2004. Oomen, Ursula: »Wort – Bild – Nachricht: Semiotische Aspekte des Comic Strip ›Peanuts‹«, in: Linguistik und Didaktik 6 (1975), H. 23, S. 233-240. Ort, Nina: Objektkonstitution im Zeichenprozeß. Jacques Lacans Psychosemiologie und Systemtheorie, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1998. Otomo, Katsushiro: Akira, Bd. 1, übers. v. Jürgen Seebeck, 2. Aufl., Stuttgart: Ehapa 1993. Packard, Stephan: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen: Wallstein 2006. Packard, Stephan: »Wherefore Psychosemiotics?«, in: Trans. Revue de littérature générale et comparée 6 (2008), URL: http:// trans.univ-paris3.fr/spip.php?article271, Datum des Zugriffs: 28.3.2009.

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Was ist ein Cartoon? Peirce, Charles S.: Collected Papers, Bd. 2, hg. v. Charles Hartshorne u. Paul Weiss, 3. Aufl., Cambridge: Belknap of Harvard University Press 1965. Peirce, Charles S.: »On a New List of Categories«, in: Ders.: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Bd. 2: 1867-1871, hg. v. Edward C. Moore u.a., Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1984, S. 49-59. Peirce, Charles S.: »Deduction, Induction, and Hypothesis«, in: Ders.: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Bd. 3: 1872-1878, hg. v. Christian J.W. Kloesel u.a., Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1986, S. 323-338. Peirce, Charles S.: »Short Logic« [auch »Of Reasoning in General«], in: Ders.: The Essential Peirce, Bd. 2, hg. v. Nathan Houser, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1998, S. 11-26. Peirce, Charles S.: »A Guess at the Riddle«, in: Ders.: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Bd. 6: 1886-1890, hg. v. Nathan Houser u.a., Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 2000, S. 165-210. Rizzolatti, Giacomo u.a.: »Premotor Cortex and the Recognition of Motor Actions«, in: Cognitive Brain Research 3 (1996), S. 131141. Rizzolatti, Giacomo/Craighero, Laila: »The Mirror-Neuron System«, in: Annual Review of Neuroscience 27 (2004), S. 169-192. Rosa, Don: »Scharfblick schützt vor Schaden nicht«, übers. v. Peter Daibenzeiher, in: Micky Maus (1997), H. 21, S. 13-23. (Englische Ausgabe: »An Eye for Detail«, in: Walt Disney’s Comics and Stories (1998), H. 622, S. 4-16.) Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008. Strobel, Ricarda: Die Peanuts. Verbreitung und ästhetische Formen. Ein Comic-Bestseller im Medienverbund, Heidelberg: Winter 1987. Ware, Chris: Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth, New York: Random House 2003.

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Intermedialität in Comics. Neil Gaimans The Sandman STEPHANIE HOPPELER, LUKAS ETTER & GABRIELE RIPPL

»Die Manifestation einer Idee, einer abstrakten Geschichte, in eine mediale Äußerungsform ist grundsätzlich gebunden an die Darstellungsoptionen der Trägersubstanz. Erzählmedien, wie der Roman, der Film, der Comic usw. sind demzufolge keine neutralen Übertragungswege, sondern gestalten durch ihre internen Strukturgesetze den Erzählinhalt entscheidend mit.«1

1. Einleitung In den letzten dreißig Jahren sind unzählige Comics publiziert und verkauft worden, und wenn man heute Buchläden betritt, so stellt man fest, dass sich dort große Comic-Abteilungen etabliert haben. Der veritable Kultstatus von Comics zeigt sich u.a. daran, dass »Remediationen«2 stattfinden: Comic-Figuren haben längst andere Medien der populären Kultur vereinnahmt und sind auf Postern in Sitcoms vertreten, posieren auf T-Shirts, werden als Maskottchen von Subkulturen verwendet und tauchen in Kinofilmen und Videospielen auf. Nicht zuletzt haben breit vermarktete Ereignisse wie SpiderMans Hochzeit oder der Tod von Superman und Captain America ein außerordentlich starkes Medienecho erfahren. Doch trotz ihres riesigen Erfolgs werden Comics nach wie vor als Produkte der populären Kultur stigmatisiert und marginalisiert. Die akademische Berührungsangst vor Comics hängt vermutlich damit zusammen, dass dieses Medium zur Populärkultur gerechnet wird und weder als 1 2

Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 9. Jay D. Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge, London: MIT Press 2000.

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl ›ernstzunehmende‹ Literatur noch als ›ernstzunehmende‹ bildende Kunst analysiert werden zu können scheint. Unter Forschenden fehlt offensichtlich die Bereitschaft, die Grenzen des eigenen Faches zu überschreiten und interdisziplinäre Herausforderungen anzunehmen. Genau dies ist jedoch bei der Untersuchung von intermedialen, Text und Bild kombinierenden Medien wie Comics vonnöten.3 Neuerdings haben Comics dank der zunehmenden Bedeutung der Kulturwissenschaft und ihrem Interesse an populären Ausdrucksformen eine akademische Wertschätzung erfahren, die die repetitiven, zuweilen stark formelhaften Handlungsstrukturen und stereotypen Charaktere (d.h. die Elemente, die den Wiedererkennungseffekt des Mediums garantieren) nicht in kulturpessimistischer Manier abwertet, sondern in ihrem Funktionieren zu beschreiben versucht. Seit W.J.T. Mitchells Proklamation eines pictorial turn in der westlichen Kultur4 und dem Aufstieg der Intermedialitäts-5 und Visual Culture-Forschung6 hat sich in den Geistes- und Kulturwissenschaften ein größeres Interesse an inter- und multimedialen, hoch- wie populärkulturellen Phänomenen herausgebildet, wodurch auch der Blick auf Comics an Schärfe gewonnen hat. Gerade weil Comics auf einem komplexen Zusammenspiel der beiden Primärmedien Text und Bild beruhen,7 möchten wir in unserem 3 4 5

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Vgl. Peter Schjeldahl: »Words and Pictures. Graphic Novels Come of Age«, in: The New Yorker 81 (17.10.2005), H. 32, S. 162-168. Vgl. W.J.T. Mitchell: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago: University of Chicago Press 1994. Vgl. Werner Wolf: The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality, Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1999; Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke 2002; Gabriele Rippl: Beschreibungs-Kunst. Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte (1880-2000), München: Fink 2005. Vgl. James Elkins: On Pictures and the Words That Fail Them, Cambridge: Cambridge University Press 1998; Nicholas Mirzoeff: The Visual Culture Reader, London, New York: Routledge 1998; ders.: Introduction to Visual Culture, London, New York: Routledge 1999; Mieke Bal: Looking In. The Art of Viewing, London, New York: Routledge 2004; dies.: »Visual Narrativity«, in: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London, New York: Routledge 2005, S. 629-633; Monika Schmitz-Emans/Gertrud Lehnert (Hg.): Visual Culture, Heidelberg: Synchron 2008. Es gibt natürlich Ausnahmen, d.h. Comics, die nur aus Bildern bestehen und ohne Worte auskommen, z.B. das Werk Gon (1992-2002) des japanischen Künstlers Masashi Tanaka. Der Titelheld ist ein junger Dinosaurier, dessen Abenteuer gänzlich ohne Text (Sprache, Geräuschkulisse, Onomatopetika etc.) dargestellt werden.

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Intermedialität in Comics Beitrag der Frage nachgehen, was die Intermedialitätsforschung und eine (noch zu entwickelnde) intermediale Narratologie zur Untersuchung von Comics beizutragen haben. Wichtige Vorarbeiten hierzu haben Werner Wolf8 und Martin Schüwer9 geliefert.10 Werner Wolfs Aufsatz »Das Problem der Narrativität« entwickelt ein intermediales narratologisches Modell auf kognitions- und literaturwissenschaftlicher Grundlage. Anhand dieses Modells können narrative Phänomene im Allgemeinen erfasst werden. Martin Schüwer hat mit seiner Monographie Wie Comics erzählen den Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie vorgelegt, die sich auf – wie er Comics in seinem Untertitel nennt – »grafische Literatur« bezieht. Schüwers umfassende Studie steht im Dienste der Untersuchung der intermedialen Erzählweise von Comics, dem Ineinander von Textanteilen, Materialität und Zeichengehalt grafischer Formen im Comic, d.h. einer »spezifisch visuellen, komplexen, nicht mehr rein linearen Form der Narration«.11 Unser Beitrag beschäftigt sich generell mit intermedialen Aspekten von Comics, wobei »Comic« für uns der Oberbegriff ist, unter dessen Dach mehrere Textsorten verortet sind. Neben Comic-Büchern und Comic Strips gehören insbesondere auch Graphic Novels dazu, und um eine Graphic Novel handelt es sich auch bei unserem Anwendungsbeispiel, das im zweiten Teil des vorliegenden Beitrags vorgestellt wird.

2. Definition und Geschichte Zunächst ist es wichtig, eine Definition des Begriffs »Comic« vorzunehmen und einen Blick auf die Geschichte des Mediums zu werfen. Über den eigentlichen Ursprung von Comics herrscht kein Konsens. Für einige Comic-Forscher markieren die sequentielle Höhlenmalerei oder der Teppich von Bayeux (um 1070/80) den Anfang, andere sehen in Rodolphe Töpffer (1799-1846) den Vater des Comic Strips, wieder andere nennen William Hogarth (1697-1764) oder

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Vgl. Werner Wolf: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002, S. 23104. 9 Vgl. Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008. 10 Vgl. außerdem Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen: Wallstein 2006. 11 M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 20.

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl George Cruikshank (1792-1878). Einig scheint man sich einzig darüber, dass die vermehrte Rezeption des Comic Strips im 19. Jahrhundert mit der massenhaften Verbreitung der Printmedien zur Entwicklung des Comic-Buches geführt hat, als amerikanische Verleger auf die lukrative Idee kamen, Comic Strips in Buchform zu veröffentlichen.12 Historisch betrachtet ist der Comic Strip, also die aus zumeist lediglich einer Panelzeile bestehende Episode, ein wichtiger Vorläufer der Comics, der sich bereits um 183013 von etablierten Formen der Druckgrafik, aber auch von der Karikatur abzuheben begann.14 Die Geschichte der Comic Books in den Vereinigten Staaten wird traditionell in vier Zeitalter eingeteilt. Das Golden Age (1930er bis 1950er Jahre) brachte den Prototyp des Superhelden hervor. Viele Werke lehnten sich zeitgenössischen Groschenromanen an, und Comic-Bücher erfreuten sich hoher Popularität.15 Gegen Ende der 1950er Jahre begann das Silver Age, welches bis in die frühen 1970er Jahre hinein dauerte. Während dieser Zeit hat v.a. Marvel mit Figuren wie The Fantastic Four, Spider-Man und The X-Men das Superheldengenre verändert; nach Henry Jenkins war es das Silver Age, das das Superheldengenre mehr als alle anderen Zeitalter geprägt und definiert hat.16 An amerikanischen Universitäten begann sich zur gleichen Zeit eine verhaltene akademische Auseinandersetzung mit Comics abzuzeichnen. Die Underground Comics der 1960er und 1970er Jahre, deren Genese und Etablierung pa12 Vgl. Jennifer Hayward: Consuming Pleasures. Active Audiences and Serial Fictions from Dickens to Soap Opera, Lexington: University Press of Kentucky 1997, hier v.a. S. 130; David Payne: The Reenchantment of Nineteenth-Century Fiction. Dickens, Thackeray, George Eliot, and Serialization, Basingstoke: Macmillan 2005. 13 Rodolphe Töpffers und William Hogarths Werke wurden um 1830 fertig gestellt und publiziert. 14 Vgl. Christopher S. Eklund: »Comics Studies«, in: Julian Wolfreys (Hg.): Modern North American Criticism and Theory. A Critical Guide, Edinburgh: Edinburgh University Press 2006, S. 207-213, hier S. 207. 15 Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine akademische Monografie über diese Periode samt ihren Zeichnern, Autoren und Superhero-Ikonen wie Batman oder Superman. Besonders interessant sind die zeitgenössischen Kritiker, von denen die meisten die Comic-Bücher der ersten Periode als moralisch schädlich und den Alphabetisierungstendenzen abträglich ablehnen. Vgl. Jeet Heer/Kent Worcester (Hg.): Arguing Comics. Literary Masters on a Popular Medium, Jackson: University Press of Mississippi 2004. 16 Vgl. Henry Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«, in: Confessions of an Aca-Fan. The Official Weblog of Henry Jenkins (15.3.2007), URL: http:// www.henryjenkins.org/2007/03/just_men_in_capes.html, Datum des Zugriffs: 2.5.2009.

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Intermedialität in Comics rallel zum Silver Age verlief, variierten stark in Qualität und Verbreitung und zeichnen sich durch eine Tendenz zu Tabubrüchen, die Personalunion von Zeichner und Texter sowie autobiografische Elemente aus.17 Wenig Konsens gibt es hinsichtlich der verbleibenden zwei Phasen. Während einige Kritiker betonen, wir befänden uns nach wie vor im bronzenen Zeitalter (Bronze Age), postulieren andere, dass mit der Publikation von Alan Moores und Dave Gibbons’ Watchmen bei DC Comics im Jahre 1986 längst das Modern Age (auch: Iron Age) angebrochen sei. Den beiden Zeitaltern gemein sind die Hinterfragung der Wertvorstellungen der Charaktere und die Perforation der Trennlinie zwischen Gut und Böse.18 Zahlreiche Definitionen von Comics ziehen formale Kriterien heran, wie etwa die Kombination von Text und Bild oder grafische Symbole wie die Sprechblasen. Andere Definitionen beruhen auf inhaltlichen Kriterien wie der stereotypen Repräsentation von Charakteren und dem erwartbaren Handlungsverlauf. Unsere Definition von Comics lehnt sich an Scott McCloud an und stützt sich auf das formale Faktum, dass sämtliche Publikationsformen von Comics aus Bildsequenzen bestehen, die sehr häufig auch Textelemente beinhalten.19 Diese Definition erlaubt es uns, sogenannte pantomime comics, d.h. Bildsequenzen ohne Textelemente mit einzubeziehen. Die sequentielle Natur der Panels impliziert, dass Comics narrative Werke sind, die fast immer Bilder mit Textelementen kombinieren, d.h. neben Bildern auch aus Dialogen und beschreibender Prosa bestehen. Wir betrachten Sequentialität als Definitionsmerkmal aller Comics: Sie hebt die statische Natur der einzelnen Bilder bzw. Bild-Text-Kombinationen auf und erlaubt es ihnen – unter Verwendung der sogenannten gutters – eine Geschichte zu erzählen. Im Folgenden werden die Intermedialitätsforschung und die intermediale Narratologie in groben Zügen vorgestellt. In einem zweiten Schritt wird dann anhand eines Beispiels die intermediale Erzählweise von Comics untersucht.

3. Intermedialitätsforschung und Narratologie Schaut man sich die akademische Auseinandersetzung mit Comics an, so zeigt sich, dass trotz aller Hindernisse inzwischen einige grundlegende Arbeiten vorgelegt wurden. Doch es bestehen immer 17 Z.B. die Werke von Robert Crumb; vgl. C. Eklund: »Comics Studies«, S. 209. 18 Ebd. 19 Vgl. Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, New York: HarperPerennial 1993; vgl. auch David Carrier: The Aesthetics of Comics, Pennsylvania: Pennsylvania State University Press 2000.

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl noch gravierende Forschungsdesiderata, wozu etwa die Beschränkung der meisten akademischen Publikationen auf die Interpretation einzelner Comic-Bücher und Graphic Novels oder das Fehlen eingehender Serialitäts- und Intermedialitätsstudien in diesem Bereich zählen.20 Dünn gesät sind auch Studien, welche die akademischen Werkzeuge und das wissenschaftliche Vokabular selbst weiterentwickeln, die für die Analyse dieser intermedialen Publikationsformen benötigt werden.21 Auch die Methoden, die es erlauben, Comics auf eine Weise zu untersuchen, die ihnen gerecht wird, die also nicht das eine Medium (das Bild oder den Text) über das andere stellen, müssen noch entwickelt und etabliert werden. Dazu möchten die folgenden Überlegungen zum Thema Intermedialität beitragen. Wir gehen von der Tatsache aus, dass Fragen zum intermedialen Verhältnis von Texten und Bildern zwar schon immer eine wichtige Rolle innerhalb der westlichen Kultur gespielt haben, seit der Erfindung digitaler Techniken aber besonders dringlich geworden sind. Denn die westliche Kulturgeschichte der letzten 3000 Jahre stellt sich als eine Geschichte des zähen Ringens um die Vor-

20 Vgl. Umberto Eco: »The Myth of Superman«, in: Ders.: The Role of the Reader. Explorations in the Semiotics of Texts, Indiana: Indiana University Press 1981, S. 108-124; Patrick Parsons: »Batman and His Audience«, in: Roberta F. Pearson/William Uricchio (Hg.): The Many Lives of the Batman. Critical Approaches to a Superhero and His Media, New York, London: Routledge 1991, S. 66-89; David E. Goldweber: »Mr. Punch, Dangerous Savior«, in: International Journal of Comic Art 1 (1999), H. 1, S. 157-170; Jan Baetens: »Comic Strips and Constrained Writing«, in: Image [&] Narrative. Online Magazine of the Visual Narrative (2003), Nr. 7, URL: http://www.imagea ndnarrative.be/graphicnovel/janbaetens_constrained.htm, Datum des Zugriffs: 26.1.2009; Mark Bernard/James Bucky Carter: »Alan Moore and the Graphic Novel. Confronting the Fourth Dimension«, in: ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies 1 (2004), Nr. 2., URL: http://www.english.ufl.ed u/imagetext/archives/v1_2/carter, Datum des Zugriffs: 30.1.2009; Joe Sanders: »Of Storytellers and Stories in Gaiman and Vess’s ›A Midsummer Night’s Dream‹«, in: Extrapolation. A Journal of Science Fiction and Fantasy 45 (2004), S. 237-248; Hillary Chute: »Temporality and Seriality in Spiegelman’s In the Shadow of No Towers«, in: American Periodicals 17 (2007), S. 228-244. 21 Zu nennen sind insbesondere die grundlegenden Studien von Will Eisner: Comics and Sequential Art. Principles and Practices from the Legendary Cartoonist (1985), New York, London: W.W. Norton 2008; S. McCloud: Understanding Comics; sowie die neue Studie von M. Schüwer: Wie Comics erzählen. Ein sehr guter Orientierungsartikel ist Andreas Platthaus: »Comic«, in: Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch populäre Kultur, Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, S. 142-146.

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Intermedialität in Comics herrschaft zwischen bildlichen und sprachlichen Zeichen dar.22 Allerdings wurde das Verhältnis von Wort und Bild sehr unterschiedlich konzeptualisiert. Seit der griechisch-römischen Antike wurde wiederholt die strukturelle Ähnlichkeit von Wort und Bild und damit ihr Komplementaritäts- und Analogieverhältnis betont. Die von Horaz in seiner Ars poetica festgehaltene, Simonides von Keos zugeschriebene einflussreiche ut pictura poesis-Formel besagt, dass Malerei stumme Dichtung und Dichtung redende Malerei sei.23 Die seit der Renaissance häufig anzutreffende Rede von den Schwesterkünsten und die romantische Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk sind ebenfalls Beispiele für die Vorstellung der Verwandtschaft und Übersetzbarkeit der Künste. Gegen diese Analogievorstellung setzt sich die neuere Intermedialitätsforschung entschieden ab. In der von Gotthold Ephraim Lessing ausgehenden Traditionslinie, in die sich auch Susanne K. Langer reiht,24 untersucht sie nicht mehr nur die Ähnlichkeiten, sondern gerade auch die Unterschiede zwischen verschiedenen medialen Zeichenträgern und ihren Funktionen. Ein Nebeneffekt der systematischen Intermedialitätsforschung ist, dass normative Ausrichtungen, die verschiedene Zeichenträger gegeneinander ausspielen, haltlos werden und die Trennlinie zwischen Hoch- und Populärkultur, zwischen den ›hohen‹ Künsten und den ›niedrigen‹ technischen Medien, zwischen Literatur-, Bild-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft so nivelliert wird. Für die Intermedialitätsforschung sind Literatur, Zeitungen, Oper, Popmusik, Malerei, Film, Videokunst und eben auch Comics gleichberechtigte mediale Phänomene, deren Allianzen und Konkurrenzen es in ihren jeweiligen kulturhistorischen Konstellationen und über kulturelle Grenzen hinweg zu analysieren gilt. Heute ist die Intermedialitätsforschung ein Leitbegriff der Literatur-, Bild-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft. Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Text-Bild-Beziehungen konnten wichtige Ergebnisse vorgelegt werden. Allerdings gibt es auch Bereiche, die dringend weiterer Überlegungen bedürfen, so z.B. die

22 Vgl. W.J.T. Mitchell: »Was ist ein Bild?«, in: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 17-68, hier S. 55. 23 Vgl. Beate Allert: »Horaz – Lessing – Mitchell. Ansätze zu Bild-Text-Relationen und kritische Aspekte zur weiteren Ekphrasis-Debatte«, in: Monika Schmitz-Emans/Gertrud Lehnert (Hg.): Visual Culture, Heidelberg: Synchron 2008, S. 37-48. 24 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: »Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie« (1766), in: Ders.: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, bearb. v. Albert v. Schirnding, München: Hanser 1974, S. 7-187; Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1984.

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl Entwicklung einer Methodologie, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Intermedialitätsforschung ein interdisziplinäres Gebiet ist, auf dem häufig Forscher arbeiten, die ihren Ausgangspunkt in den Philologien, nicht aber der Bild-, Theater- oder Musikwissenschaft haben oder umgekehrt. Eine solche Methodologie müsste im Falle von Text-Bild-Kombinationen nicht nur diskursanalytische, hermeneutische und narratologische Methoden berücksichtigen, sondern diese mit den in der Kunstwissenschaft von Erwin Panofsky u.a. entwickelten ikonografischen Methoden sowie mit Methoden der Semiotik verbinden.25 Im Anschluss an unsere Definition von Comics als narrative Werke müssten Überlegungen zur intermedialen Narrationsweise Berücksichtigung finden, die sich der narratologischen Herausforderung von inter- und multimedialen Gattungen stellen.26 Dass z.B. der Film ins Zentrum narratologischer Überlegungen rücken konnte, belegt, dass die traditionelle Narratologie heute die engen Grenzen narrativer Textsorten wie Roman, Erzählung und Kurzgeschichte überschritten hat. Viele Narratologen plädieren nun dafür, dass man sich auch dem Drama und der Lyrik zuwenden müsse. Und nicht nur das: Auch Grenzen zwischen Medien und Disziplinen sollten weiter aufgelöst werden, damit die Allgegenwärtigkeit des narrativen Phänomens in der zeitgenössischen Kultur untersucht werden kann.27 Das Ziel ist dabei nicht nur eine Übertragung traditioneller narratologischer Verfahren auf andere Gebiete, sondern auch und besonders die Entwicklung von neuen Konzepten und einer neuen Terminologie, welche einer intermedial ausgerichteten Erzähltheorie als Grundlagen dienen könnten. Werner Wolf hat in einem Aufsatz von 2002 das narrative Potential von Musik, Malerei und Bildserien untersucht, in dem er Resultate von Intermedialitätsstudien und literarischer Narratologie zusammenbrachte und so den Grundstein für eine neue, intermediale Narratologie legte.28 Er unterscheidet dabei genuin narrativ verwendbare Medien wie z.B. den Roman und die Erzählung, die zu den dominant verbalen Medien gehören und deshalb geringe Anteile rezipientenseitiger Narrativierung erfordern, von narrationsindizierenden Medien wie Bildserien und Poly- bzw. Monophasenbilder, die

25 Vgl. Erwin Panofsky: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: Dumont 1975. 26 Ein wiederkehrendes Problem, das im Zusammenhang mit Untersuchungen von intermedialen Phänomenen wie Comics steht, ist, dass das narratologische Fachvokabular in Verbindung mit dem Roman und verwandten narrativen Gattungen entwickelt wurde. 27 Vgl. Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002. 28 Vgl. W. Wolf: »Das Problem der Narrativität«.

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Intermedialität in Comics sich teils über intermediale Referenzen mitteilen, sowie quasi-narrativ verwendbaren Medien, z.B. Instrumentalmusik, die Geschichtenanalogien ermöglichen. Laut Wolf nimmt das narrative Potential ab, wenn das Medium einen größeren Anteil Leserbeteiligung beansprucht.29 Mit anderen Worten: Prototypisches Erzählen im Roman erfordert einen minimalen »Anteil an rezipientenseitiger Narrativierung«,30 die Instrumentalmusik einen maximalen, während der Comic Strip eine Mittelposition in dieser Skala einnimmt. Je weiter sich ein Medium vom Pol der genuin narrativen Medien entfernt, so Wolf, desto mehr Möglichkeiten zur Interpretation eröffnen sich dem Betrachter und desto größere schlussfolgernde Fähigkeiten werden von ihm erwartet (Abb. 1).

Abb.1. Werner Wolf: »Das Problem der Narrativität«, S. 96.

Obwohl narrative Strategien sowohl im Fall von Romanen und Filmen als auch von Comics wirksam werden und mithin als transmediale Phänomene betrachtet werden können,31 müssen die Besonderheiten des jeweiligen Mediums, in dem eine Idee oder Geschichte ausgedrückt wird, berücksichtigt werden.32 Das die Botschaft ver29 30 31 32

Vgl. ebd., S. 96. Ebd., S. 95. Vgl. I.O. Rajewsky: Intermedialität, S. 13. Vgl. W. Wolf: The Musicalization of Fiction; Marie-Laure Ryan (Hg.): Narrative Across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln, London: University of Nebraska Press 2004; G. Rippl: Beschreibungs-Kunst; Richard Walsh:

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl mittelnde Medium ist nie transparent oder ›unschuldig‹; vielmehr formt es die Botschaft durch seine internen strukturellen und medialen Gesetze und definiert die Art und Weise, wie die Kategorien Zeit und Ort eingesetzt werden.33 Akzeptiert man diese Medienspezifik, dann ist klar, dass weder die Terminologie noch die analytischen Kategorien traditioneller Narratologie genügen, wenn sie auf Erzählformen in anderen Medien angewendet werden, denn die Erzählbarkeit einer beliebigen Geschichte ist von den Ressourcen und den Einschränkungen eines Mediums abhängig:34 »You cannot tell the same type of story on the stage and in writing, during conversation and in a thousand-page novel, in a two-hour movie and in a TV serial that runs for many years.«35 Bis heute gibt es eine gewisse Medienblindheit, die zur Nichtbeachtung der Möglichkeiten der respektiven narrativen Medien und deren Umgang mit den grundlegenden syntaktischen Narremen geführt hat.36 Zwar werden z.B. Graphic Novels und Romane beide in Buchform publiziert, beruhen dabei aber auf unterschiedlichen Primärmedien. Während Romane symbolische Zeichensysteme einsetzen, basieren Comics auf ikonischen und symbolischen Konventionen, die vom Rezipienten als temporale Sequenzen decodiert werden müssen.37 Nach Lessing können statische Bilder Handlungen und Abläufe in der Zeit zu einem bedeutenden Moment verdichten, während die Poesie (und damit die Sprache im Allgemeinen) eine sequentielle Kunstform ist, die Handlungsverläufe darstellen kann. In Kombination mit verbalen Elementen erzählen Bildsequenzen in Comics Geschichten. Während einige Theoretiker von Comics die tragende Rolle der Bilder im Erzählvorgang betonen,38 ordnen andere das Pikto-

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»The Narrative Imagination Across Media«, in: Modern Fiction Studies 52 (2006), H. 4, S. 855-868; N. Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Vgl. N. Mahne: Transmediale Erzähltheorie; Gabriele Rippl: »English Literature and Its Other. Towards a Poetics of Intermediality«, in: Christian Emden/Gabriele Rippl (Hg.): Imagescapes. Studies in Intermediality, Oxford: Lang, im Druck. Vgl. Thomas M. Leitch: What Stories Are. Narrative Theory and Interpretation, University Park: Pennsylvania State University Press 1986. Marie-Laure Ryan: »Will New Media Produce New Narratives?«, in: Dies. (Hg.): Narrative Across Media, S. 338-359, hier S. 356. Vgl. W. Wolf: »Das Problem der Narrativität«, S. 44ff. Vgl. Hermann J. Schnackertz: Form und Funktion medialen Erzählens. Narrativität in Bildsequenz und Comicstrip, München: Fink 1980. Vgl. Thierry Groensteen: The System of Comics, übers. v. Bart Beaty/Nick Nguyen, Jackson: University Press of Mississippi 1999.

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Intermedialität in Comics riale dem geschriebenen Wort unter.39 Wie auch immer man die Beziehung von Text und Bild in Comics konzipiert, es muss betont werden, dass die Kombination von Text und Bild – das Faktum, dass »[i]mage and the dialogue give meaning to each other«40 – das zentrale Element der Erzählkunst dieser Medien ausmacht. Die Frage ist deshalb weniger, was die Unterschiede (oder Gemeinsamkeiten) zwischen Wort und Bild sind, sondern vielmehr: »What difference do the differences (and similarities) make?«, und: »Why does it matter how words and images are juxtaposed, blended, or separated?«41 Im Zusammenhang mit intermedialem Erzählen in Comics sind natürlich auch die Prozesse des Decodierens, d.h. die verschiedenen Perzeptionsweisen beider Zeichensysteme wichtig, die sowohl auf dem sequentiellen Lesen von Text sowie der Betrachtung einzelner Panels und Panelfolgen basieren. Comics werden also beim Lesen auch in ihrer ikonischen Qualität aufgenommen. Die Schrift selbst hat in Comics mehr ikonische Freiheiten als in literarischen Texten (sieht man einmal von Technopaignien, den Figurengedichten, u.ä. Phänomenen ab), um Intonation, Tonlage, Atmosphäre etc. auszudrücken. Auf diese Weise fungiert auch die geschriebene Sprache als visueller Bedeutungsträger; sie wird auf simultane und sequentielle Weise rezipiert.42 Sequentielle und simultane Arten der Rezeption erlauben es, zweidimensionale Fragmente (Panels und die Abstände dazwischen) als dreidimensionalen Raum wahrzunehmen und statische Bilder als Bewegungsabläufe zu imaginieren. Weil die Bildsequenzen mit sukzessiver Kraft ausgestattet sind, die die statische Eigenschaft des individuellen Bildes überschreitet, laden Comics dazu ein, Lessings Appell an eine klare Grenzziehung zwischen Wort und Bild zu hinterfragen.

4. Intermedialität in Neil Gaimans The Sandman Wir möchten nun am Beispiel der Graphic Novel The Sandman unsere intermedialen Überlegungen durchspielen. Graphic Novels unterscheiden sich von Comic Strips und Comic-Büchern publikationstechnisch dadurch, dass sie in groß angelegten und prestigeträchtigen Sammelausgaben oder umfangreicheren Einzelausgaben 39 Vgl. Lawrence L. Abbott: »Comic Art. Characteristics and Potentialities of a Narrative Medium«, in: Journal of Popular Culture 19 (1986), S. 155-176. 40 W. Eisner: Comics and Sequential Art, S. 59. 41 W.J.T. Mitchell: Picture Theory, S. 91. 42 Vgl. Mario Saraceni: The Language of Comics, London, Milton Park: Routledge Taylor and Francis 2003, S. 18; M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 329.

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl publiziert werden, und formal dadurch, dass die einzelnen Folgen seriell publizierter Werke meist mehr Seiten umfassen als individuelle Comic-Folgen. Sie sind zu unterteilen in solche, die sich in ihrer Form und Publikationsweise an den Roman anlehnen, wie z.B. Art Spiegelmans Maus, und solche, die sich an der seriellen Publikationsform der Comic-Bücher orientieren, z.B. Frank Millers Sin City. The Sandman ist das Produkt der Zusammenarbeit des Briten Neil Gaiman mit verschiedenen Zeichnern wie Dave McKean und Mike Dringenberg. Ursprünglich erschien die Geschichte des Herrschers über die Traumwelt monatlich während der Jahre 1988-1996. DC Comics entschied sich später, die einzelnen Hefte in einer Sammelausgabe in zehn Bänden zu veröffentlichen. Von 2006 bis 2008 wurde The Absolute Sandman, eine vierbändige Luxusausgabe mit zusätzlichem, bislang unveröffentlichtem Material herausgegeben. Die Serie ist eine abgeschlossene Geschichte über das Leben des Sandmanns, die mit den Umständen seiner Geburt einsetzt und mit seinem Tod endet.43 In Comics und seinen verschiedenen Textsorten kann Intermedialität auf verschiedenen Ebenen diskutiert werden. Wichtig sind folgende Fragen: Welche unterschiedlichen Arten von Text-BildKombinationen lassen sich auf der Ebene des Einzelpanels und der Panelfolge in The Sandman ausmachen, wie spielen die beiden Medien zusammen und wie treten sie zueinander in Konkurrenz? Um diese intermedialen Fragen im Zusammenhang mit narrativen Überlegungen zu diskutieren, greifen wir zunächst auf Scott McClouds Typologie von Text-Bild-Kombination zurück, die sieben Kategorien unterschiedet:44 (1) (2) (3) (4)

Wortspezifische Kombinationen (Bilder sind hauptsächlich für die Illustration des Textes zuständig), Bildspezifische Kombinationen (der Text dient, falls überhaupt vorhanden, hauptsächlich als ›Soundtrack‹ zum Bild), Duospezifische Kombinationen (Text und Bild vermitteln dieselbe Botschaft), Additive Kombinationen (Worte verstärken die Wirkung des Bildes und vice versa),

43 In diesem Aufsatz beziehen wir uns auf The Absolute Sandman, die 20062008 erschienene Deluxe-Version der seriell publizierten Folgen von The Sandman. 44 Weitere, weniger systematische Versuche, verschiedene Wort-Bild-Interaktionen zu klassifizieren, finden sich bei Robert C. Harvey: The Art of the Comic Book. An Aesthetic History, Jackson: University Press of Mississippi 1996, v.a. S. 3-15 und 173-191; Benoît Peeters: Case, Planche, Récit. Comment lire une bande dessinée, Tournai: Casterman 1991, insbes. S. 41ff.

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Intermedialität in Comics (5) (6) (7)

Parallele Kombinationen (Text und Bild scheinen unterschiedliche Wege zu gehen, ohne sich zu kreuzen), Montage45 (Worte werden als integraler Teil des Bildes wahrgenommen), Interdependente Kombinationen (Text und Bild vermitteln gemeinsam eine Bedeutung, die keine der Medien im Alleingang darstellen könnte).46

So logisch diese Kategorien scheinen, in der Praxis lassen sich (3), (4) und (7) kaum voneinander unterscheiden. Aus diesem Grund schlagen wir vor, diese drei verwandten Kategorien unter der Bezeichnung wechselspezifische Kombination zusammenzuschließen. Unsere Typologie umfasst also folgende fünf, in Abweichung von McCloud angeordnete Kategorien: (1) (2) (3) (4) (5)

Wortspezifische Kombinationen, Wechselspezifische Kombinationen, Montage, Parallele Kombinationen, Bildspezifische Kombinationen.

Zwischen den einzelnen Kategorien bestehen fließende Übergange, was den heuristischen Charakter der fünf Kategorien illustriert. Bevor wir diese fünf Kategorien an Beispielen diskutieren, erscheint es sinnvoll, sie auf der von Werner Wolf entworfenen transmedialen Skala anzuordnen, um zu veranschaulichen, welches narrative Potential die einzelnen Kombinationen besitzen. Wie wir gesehen haben, zeigt Wolfs Schema (Abb. 1), dass verbale und bildliche Medien sowie die Musik in unterschiedlichem Ausmaß abhängig sind von der Narrativierung des Rezipienten. Konzentrieren wir uns nun auf die den Comics zugewiesene Stelle im narrativen Kontinuum (hellgraue Fläche) und gehen davon aus, dass es sich um eine graduelle und keine stufenweise Klassifizierung handelt – schließ-

45 Die Problematik dieses Begriffs äußert sich in McClouds inkonsequenter Anwendung: In einem seiner Beispiele übernimmt die Schrift ornamentale Funktion, während sie in anderen Fällen semantische Qualitäten aufweist. Vgl. S. McCloud: Understanding Comics, S. 154. Auch Schüwer kritisiert McClouds Kategorie der Montage, hat aber seinerseits Unrecht, wenn er dessen Beispiele auf der grafischen Ebene der Interaktion angesiedelt sieht. Vgl. M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 450. Wie Abb. 3 zeigt, kann im Fall der Montage, wo Text im Bild eine ornamentale Funktion übernimmt, der Text dennoch gelesen, d.h. in seiner semantischen Funktion erfasst werden. 46 Vgl. S. McCloud: Understanding Comics, S. 152-159.

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl lich sind William Hogarths Bildserien auch schon als Comics bezeichnet worden – so ergibt sich folgendes Schema, in dem sich unsere fünf Kategorien platzieren lassen (Abb. 2).

Abb. 2. Das narrative Potential von Comics.

(A) Einzelpanels Kombination 1 – Wortspezifisch. Wortspezifische Kombinationen finden sich meist dort, wo ausdrucksstarke Bilder nicht nötig sind, da der Text in sich genügend narratives Potential vorweist. Weil erzählter Text häufig genuin narrativ ist, findet sich Kategorie (1) auf Wolfs Skala in unmittelbarer Nähe zum prototypischen Erzählen. Folglich ist bei dieser Kombination nur eine minimale Beteiligung seitens der Leser für ein umfassendes Verständnis der Erzählung notwendig. Ein Beispiel für die wortspezifische Kombination findet sich in Abb. 4 im letzten Panel (s.u.), wo der Rahmen sowie die Schrift selbst bildliche Qualitäten aufweisen, ein Bild jedoch nicht vorhanden ist. Kombination 2 – Wechselspezifisch. Bereits einen höheren Anteil an rezipientenseitiger Narrativierung bedingt die wechselspezifische Kombination, die dort vorzufinden ist, wo Bild und Text gleichermaßen Berechtigung haben und sich mit dem Tragen der Erzählung abwechseln. Je nach Einsatz kann hier das Bildmedium oder das Textmedium überwiegen, weshalb der wechselspezifischen Kombination ein flexibler Spielraum eingeräumt werden muss. Ein interessantes Beispiel für unsere neue Kombination ist die Sprechblase, oder das »desperation device«,47 wie Will Eisner den Versuch nennt, 47 W. Eisner: Comics and Sequential Art, S. 26.

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Intermedialität in Comics Ton darzustellen. Durch die Sprechblase kann dem Leser zusätzliche Information vermittelt werden; Körpersprache, Mimik und Gestik, aber auch Gemütszustand und Charakter erhalten durch Form und Inhalt der Sprechblase eine zusätzliche Bedeutung.48 Üblicherweise werden Sprechblasen in dunkler Schrift auf weißem Grund ausgeführt, sind rund oder eckig und weisen ein zum Sprecher deutendes Ventil auf. Ganz anders die Sprechblasen des Protagonisten von The Sandman, wie man Abb. 4 (s.u.) entnehmen kann: Sie sind unregelmäßig geformt, inklusive des Ventils, bestehen aus wießer Schrift auf schwarzem Grund, der seinerseits weiß umrandet ist. Diese Art und Weise der Darstellung produziert ein Moment der Synästhesie,49 in dem sie der Stimme des Sandmanns scheinbar einen düsteren Ton verleiht. Außerdem ist der Protagonist trotz seines variierenden Äußeren dank der Spezifik seiner Sprechblasen jederzeit problemlos zu identifizieren.50 Um eine Figur wiedererkennbar zu machen, kann die Sprechblase also ebenso effektiv eingesetzt werden wie ein physisches Attribut. Offensichtlich sind die Kennzeichen der individuellen Figuren so konzipiert, dass sie auf bildlicher Ebene das Wesen der individuellen Figur wiedergeben, ohne auf Text zurückzugreifen. Die hier beschriebenen Eigenschaften von Sprechblasen gelten für den Normalzustand der jeweiligen Figuren – je nach dem sind jedoch weitere Modifikationen möglich: Durch die variable Darstellung des Textes51 und der Sprechblase52 vermittelt letztere demnach 48 Vgl. M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 326, 361. 49 Die Konstruktion synästhetischer Elemente kann man v.a. in Superheldenoder Action-Comics beobachten, wo Geräusche ausgehend von kollabierenden Gebäuden, abgefeuerten Waffen, elektrischen Apparaturen etc. so gezeichnet werden, dass die Form den Ursprung des Geräusches spiegelt. 50 Dies trifft auch auf andere Figuren zu: Die Sprechblasen von Delirium (siehe Abb. 3 unten) beispielsweise sind regenbogenfarbig mit unregelmäßiger, tanzender Schrift; diejenigen von Lucifer Morningstar und Desire beinhalten jeweils eine eigene, sofort erkennbare Schriftart, wogegen diejenigen des Raben Matthew eine eigenwillige, skizzenartige Umrandung in Schwarz und Braun haben. Death, die Schwester des Sandmannes, verfügt über keine spezielle Sprechblasenform und keinen individuellen Schriftzug, ist aber anhand ihres Amuletts in Form des sogenannten Anch-Symbols erkennbar. Zur Symbolik von Deaths äußeren Eigenschaften, etwa ihrer schwarzen Kleidung, vgl. Zuleyha Cetiner-Oktem: »The Sandman as a Neomedieval Text«, in: ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies 4 (2008), Nr. 1, URL: http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v4_1/cetiner-ok tem/index.shtml, Datum des Zugriffs: 2.3.2009. 51 Fette und große Schriftzüge bedeuten hohe Lautstärke, kleinere und in ihrer Farbtiefe schwächere symbolisieren Heiserkeit oder Flüstern, während zittrige Schriftzüge auf Unsicherheit schließen lassen. Manche Künstler

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl nicht nur Inhalt durch Text, sondern auch Gemütszustand, Lautstärke, Tonlage und Betonung des Sprechers. Was über die Funktion der Sprechblasen gesagt wurde, trifft bis zu einem gewissen Grad auch auf die grafische Gestaltung der Panelrahmen zu: Sie können den grafisch oder verbal vermittelten Inhalt der Panels, d.h. alles, was sich innerhalb des Rahmens befindet, durch visuelle Effekte auf Grundlage bestehender und häufig comicspezifischer Konventionen semantisch verändern bzw. ergänzen: Ein fehlender Rahmen vermittelt das Gefühl unlimitierten Raumes; eine Wolke als Rahmen deutet auf eine Erinnerung, einen Traum oder einen Gedanken hin. Diese Beispiele zeigen, welche Interpretationsspielräume Text und Bild den Lesern eröffnen. Kombination 3 – Montage. In der Mitte, zwischen den genuin narrativen und den quasinarrativen Medien, befindet sich die Montage, unsere dritte Kategorie. McCloud verwendet diesen Begriff für die Integration von Text ins Bild. Dies ist eine weitere charakteristisch intermediale Darstellungskonvention in Comics. Anhand des folgenden Beispiels (Abb. 3), in dem das Bild an seinen Rändern von Texten überblendet und arabeskenhaft-ornamental gerahmt wird, lässt sich unsere dritte Kategorie, die Montage, veranschaulichen. Die Textelemente sind in diesem Beispiel nicht mehr vollständig lesbar und nur fragmentarisch vorhanden. Text wird zum Bildelement,53 d.h. er wird vornehmlich in seiner ikonischen Erscheinungsart wahrgenommen, also primär betrachtet anstatt gelesen.54 Es gibt Fälle, wo der Text nach wie vor in seiner semantischen Funktion wahrgenommen werden kann.55 Hier wird offenkundig, dass Comics die Grenzen zwischen Schrift und Bild in Frage zu

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greifen auf unbekannte, der Fantasie entsprungene Buchstaben zurück, um die Unverständlichkeit einer Aussage optisch darzustellen. Eiszapfen, die von einer Sprechblase hängen, weisen auf eine kühle, distanzierte Aussage hin, während Blumen eine ›blumige‹ Redeweise kennzeichnen. Schüwer weist auf das Potential von Schrift hin, zum »vollwertigen piktoralen Element« zu werden. M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 331. Dass Gaiman und McKean besonders gerne mit dieser Vermischung der Medien arbeiten, zeigen sie etwa in der Graphic Novel Wordsworth, der sie selbstironisch das Butler-Zitat »words are but pictures« voranstellen. Neil Gaiman/Dave McKean: Wordsworth. Clive Barker’s Hellraiser, Bd. 20, New York: Epic 1993, S. 3. Vgl. Jon Saklofske: »›Tales Worked in Blood and Bone‹. Words and Images as Scalpel and Suture in Graphic Narratives«, in: ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies 4 (2008), Nr. 1, URL: http:// www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v4_1/saklofske/index.shml, Datum des Zugriffs: 2.3.2009. Vgl. Fußnote 45.

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Intermedialität in Comics stellen vermögen, was die Platzierung dieser Kombination in der Mitte unseres Schemas rechtfertigt.

Abb. 3. Neil Gaiman: »Season of Mists: Chapter One«, in: Ders.: The Absolute Sandman, Bd. 2, S. 35.

Kombination 4 – Parallel. Die scheinbare Distanz von Text und Bild, die dazu beitragen kann, den Rezeptionsprozess zu intensivieren, ist das Grundelement unserer vierten Kategorie, der parallelen Kombination. Die Einordnung in Richtung der narrationsindizierenden Erzählung hat weniger mit der Nähe zur bildspezifischen Kombination zu tun, da diese Kombination weder dem Bild noch dem Text Vorrang zu geben scheint, als mit der hohen Rezeptionsleistung, welche von den Lesern durch die scheinbar divergierenden Erzählebenen gefordert wird. Wir schreiben »scheinbar divergierend«, weil Comic-Leser unweigerlich versuchen werden, Sinn herzustellen. Die Betrachtung des Einzelpanels unter Nichtbeachtung des Kontexts kann dazu führen, dass Leser den Eindruck erhalten, mit einer parallelen Kombination konfrontiert zu sein. Aber unter Miteinbezug des Kontexts können Zusammenhänge erfasst werden, die zuvor nicht ersichtlich waren. Die genuin parallele Kombination, d.h. die Zusammenführung von Bild und semantisch unpassendem Text, die auch bei eingehender Betrachtung keine Zusammenhänge preisgibt, findet sich in Comics selten. Ein Beispiel für die parallele Kombination ist die Suggestion des »leeren« Blicks: Im durchgehen-

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl den Off-Text wird eine zusammenhängende, längere Aussage gemacht, während im Panel der Fokus scheinbar unmotiviert auf Gegenstände und/oder Personen gelenkt wird, gleich der Perspektive eines Menschen, der gedankenverloren seinen Blick schweifen lässt. Kombination 5 – Bildspezifisch. Als letzte Instanz vor dem Übergang des Comic Strips zum Monophasen-Einzelbild (Abb. 1) sei unsere fünfte Kategorie genannt, die bildspezifische Kombination. Im Extremfall kann der Künstler den Text komplett, zumindest aber für Teile seines Werkes, aus den Panels verbannen. Einzelne bildspezifische Panels sind keine Ausnahme, wie Abb. 4 (s.u.) zeigt, während längere Sequenzen, die auf den Einsatz von Text verzichten, eher Seltenheitswert haben. So sind längere, nur auf Bildern basierende Erzählsequenzen in Comics häufig in Abschnitten zu finden, in denen Autoren das Mittel des Textentzugs zur Kontrastierung vorhergehender oder nachfolgender Abschnitte einsetzen. Längere textfreie Sequenzen verlangen eine höhere rezipientenseitige Narrativierung als das bildspezifische Einzelpanel. Die Strategie des Sprachentzugs hat den Effekt, dass sich die Leser der fehlenden Sprache bewusst werden und dass von ihnen oft »eine höhere Kombinations- und Deduktions-Leistung«56 verlangt wird. Im Gegensatz zu allen anderen Text-Bild-Kombinationen »muss bei Bildern […] vieles implizit und damit in relativer Unbestimmtheit bleiben«.57 Damit ist die bildspezifische Kombination die dem Monophasen-Einzelbild am nächsten verwandte Kategorie.

(B) Panelfolge Obwohl die Einordnung der verschiedenen Text-Bild-Kombinationen in unser Schema gezeigt hat, dass in Comics divergierende Anteile rezipientenseitiger Narrativierung nötig sein können, verbindet doch ein Element selbst die unterschiedlichsten Comics miteinander: das gutter.58 Im Gegensatz zum Film erzählen die einzelnen Bilder in Comics nicht nur durch nahtlose Aneinanderreihung, sondern auch durch die Lücke, die sie trennt. Dort geschieht das, was im vorhergehenden und im nachfolgenden Panel nicht erzählt, aber nahe gelegt wird. Comics lassen die Leser zwischen den Panels mit ihrer Imagination alleine, überlassen ihnen die Aufgabe, zwischen den Panels zu lesen, und machen sie in gewisser Weise zu Mitautoren. Dieses comicspezifische Charakteristikum ist die von McCloud so56 M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 320. 57 W. Wolf: »Das Problem der Narrativität«, S. 65. 58 Vgl. S. McCloud: Understanding Comics, S. 68.

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Intermedialität in Comics genannte closure.59 Er meint damit die Folgerungen und Rückschlüsse, die Leser aus den zur Verfügung gestellten Panels ziehen. Die Rezipienten müssen von den Fähigkeiten der Schlussfolgerung Gebrauch machen, um die zwischen den Panels versteckten Botschaften lesen und so »erzählerische Kohärenz«60 herstellen zu können. Schon Lessing wusste um die Wichtigkeit der Wahl des aussagekräftigsten Moments: »Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muss daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.«61 Der Künstler muss demnach erkennen, welcher Ausschnitt einer Bildfolge als Schlüsselmoment in Frage kommt. Dies ist die Voraussetzung für einen relativ kleinen Anteil rezipientenseitiger Beteiligung. Das folgende Beispiel, »Distant Mirrors: Ramadan« (Abb. 4), genügt, um fast alle behandelten Fälle von intermedialem Erzählen im Comic zu illustrieren. Man beachte die verschiedenen Formen und Umrandungen der einzelnen Panels, die z.T. islamischen ikonografischen Traditionen folgen, sowie deren Gesamtlayout, den Effekt von Farbe62 und Perspektive, die Körpersprache und Mimik der Figuren sowie die unterschiedlichen Sprechblasen. All diese Elemente tragen zur Beschreibung des Gemütszustands der Figuren und deren Charakter, der Atmosphäre des Ortes, der Geografie und des Hintergrunds bei und spielen bereits auf den weiteren Handlungsverlauf an. Die zwei ersten Panels in der linken oberen Ecke erzählen auf für Comics herkömmliche Weise – Bild und Text ergänzen sich gegenseitig und können demnach der wechselspezifischen Kombination (2) zugeordnet werden. Die Form des folgenden Panels erinnert mit ihrer Kombination von runden und eckigen Elementen an arabische Kachelkunst, was dieses Panel von allen anderen abhebt. Die Leser ahnen, dass es sich beim Inhalt des Panels um ein wichtiges Element in der Geschichte handelt. Die Tatsache, dass das Bild über keinen eigenen Text verfügt, sondern mit demjenigen aus dem nachfolgenden Panel überlagert ist, lässt auf eine bildspezifische Kombination (5) schließen. Danach wird das Auge auf den scheinbar frei im Raum platzierten Sandmann gelenkt, dessen Sprechblasen ebenfalls aus der Eingeschlossenheit des Panels befreit sind. Die Fähigkeit des Sandmanns, Grenzen zu transzendieren, wirkt 59 Ebd., S. 67. Man kann in diesem Zusammenhang auch mit Wolfgang Isers Begriff der Leerstelle arbeiten. 60 W. Wolf: »Das Problem der Narrativität«, S. 66. 61 G.E. Lessing: »Laokoon«, S. 103. 62 Im Original handelt es sich nicht um Schwarz-Weiß-Bilder, sondern um Farbbilder.

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl sich demnach auch auf das Verhalten seiner Sprechblasen aus. In den nächsten drei, fast direkt aneinander angeschlossenen Panels ist erneut die in Comics am häufigsten anzutreffende wechselspezifische Kombination (2) zu sehen, allerdings unterscheiden sie sich von den ersten Panels durch die weniger auffällige Umrandung.

Abb. 4. Neil Gaiman: »Distant Mirrors: Ramadan«, in: Ders.: The Absolute Sandman, Bd. 3, S. 353.

Im nächsten, dem Panel, das sich länglich und z.T. im Hintergrund der vorangegangenen erstreckt, sehen wir eine Bildabfolge innerhalb eines Panels: Haroum Al Raschid und Masrur entfernen sich von ihrem Standort in drei Phasen. Diese Art der Darstellung ist relativ ungewöhnlich für Comics und eher in der Malerei zu finden.63

63 Ein Beispiel aus dem Mittelalter wäre Benozzo Gozzolis Tanz Salomes und Enthauptung von Johannes dem Täufer, 1461-1462, National Gallery of

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Intermedialität in Comics Werner Wolf nennt die »Einbeziehung von mehreren, zeitlich und ggf. auch räumlich getrennten Phasen derselben Handlungsfolge in ein und dasselbe Bild«64 ein Polyphasenbild, das in seinem Schema unmittelbar neben der Bildserie und dem Comic Strip angesiedelt ist. Ebenfalls interessant ist die teilweise Überlagerung durch die vorhergehenden Panels, was dem langen Panel eine weniger wichtige Rolle einräumt. Die letzten drei Panels (unten links) sind eine wortlose Beschreibung der Reaktion des Sandmanns – also erneut eine bildspezifische Kombination (5). Ganz zuletzt, am rechten unteren Ende des Tableaus,65 erscheint eine Stimme aus dem Off – das Ventil der Sprechblase zeigt ins Leere –, um ein Schlusswort zu sprechen. Dies ist ein gutes Beispiel für die wortspezifische Kombination (1), wobei anzumerken bleibt, dass dieser Fall abgesehen vom intermedialen Kontext auch an sich als intermedial gelten kann, weil die Sprechblase mit der Eigentümlichkeit ihrer Umrandung und dem Schriftzug bildliche Qualitäten aufweist. Comics sind also ein Medium, das Text und Bild kombiniert, um Bedeutung zu generieren und Geschichten zu erzählen. Es ist daher unerlässlich, das Zusammenspiel von Text und Bild zu analysieren und diese nach ihrer jeweiligen Rolle im Erzählprozess zu befragen. Interpretationen, die lediglich auf eines der beiden Primärmedien fokussieren, sind nicht in der Lage, die komplexe Semantik und Narrativik von Comics zu erfassen. Dabei ist es natürlich ein Forschungsdesiderat, genau zu untersuchen, wie die intermedialen Relationen in einzelnen Panels und Panelfolgen zusammenhängen. Zukünftige Studien werden dies zu bearbeiten haben.

5. Zusammenfassung Comics bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten, Text und Bild miteinander zu verknüpfen, wobei Sprechblasen und Panelumrandungen zu den gebräuchlichsten Hilfsmitteln gehören. Intermediales Er-

Art, Washington DC. Ab der Renaissance wurde diese Darstellungskonvention zugunsten einer auf den Augenblick fokussierten Darstellung von Ereignissen zurückgedrängt. Vgl. W. Wolf: »Das Problem der Narrativität«, S. 56. 64 Ebd. 65 Benoît Peeters prägte diesen Begriff, der für die Comic-Seite als Ganzes steht. Der Künstler hat, so Peeters, die Panels auf einer Seite nicht nur einzeln, sondern auch in ihrer Gesamtheit zur Verfügung, um etwas zu erzählen. Leser nehmen die Seite als Ganzes sowie das individuelle Panel und die Panels in ihrer Reihenfolge wahr. Vgl. dazu B. Peeters: Case, Planche, Récit, S. 41.

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl zählen in Comics kann aber auch durch das Seiten- oder Tableaulayout, die Reihenfolge der Panels,66 Bewegungslinien,67 die Beobachterposition,68 die Körpersprache und Mimik der Figuren,69 die Darstellung von Zeit und Raum und den Einsatz von Farbe bzw. Helligkeit und Dunkelheit vorangetrieben und variiert werden.70 Der Unterwanderung von herkömmlichen Vorstellungen von Ikonizität (Bild) und Symbolbedeutung (Text) sind kaum Grenzen gesetzt. Auch Gaiman thematisiert unter Verwendung ganz unterschiedlicher Mittel nicht nur das Zusammenspiel von Schrift und Bild, sondern letztlich auch die herkömmliche Abgrenzung des Aufgabenbereichs des Texters vom Hoheitsgebiet des Zeichners und umgekehrt. Intermedialität in Comics ist jedoch nicht auf die beschriebenen Text-Bild-Kombinationen in Einzelpanels und Panelsequenzen beschränkt, die die Spezifik des intermedialen Erzählens bestimmen. In experimentellen Comics wie denen von Neil Gaiman kommt es oft zu Remediationen von Fotografie, Tinten- und Farbmalerei, Collagen und Skulpturen. Diese – wie wir sie nennen möchten – Medienzitate sind eine Form von Intermedialität auf einer höheren Ebene, quasi meta-intermediale Phänomene, und finden sich auf den Titelseiten individueller Folgen von The Sandman, aber auch in Gaimans The Tragical Comedy or Comical Tragedy of Mr. Punch (Zeichner: Dave McKean). Unser Beispiel (Abb. 5) ist die Titelseite der Geschichte »Convergence: The Hunt« aus The Sandman und zeigt eine mit Pastellkreide gemalte Puppe oder Marionette, die ein gezeichnetes Bild (das auch durch Drucktechnik entstanden sein könnte) als Botschaft in der Form eines Zettels auf der Stirn trägt und von Kerzen und Drähten 66 Wird der Blick des Lesers nicht wie gewohnt von links oben nach rechts unten gelenkt, sondern durch ungewöhnliche oder unklare Panelreihenfolgen bzw. Seitenlayouts ›verwirrt‹, so kann dies eine unterschiedliche Interpretation der Ereignisse in den Panels zur Folge haben. 67 Dies sind Indikatoren für schnelle Bewegungen; sie sind v.a. in Actioncomics zu finden. 68 Der Künstler kann die Perspektive so anpassen, dass Wichtiges betont wird oder von Panel zu Panel in einem anderen Blickwinkel erscheint. Auf diese Weise ist es möglich, wortlos auf Details aufmerksam zu machen oder bestimmte Machtverhältnisse zu betonen. 69 Bei der Interpretation von Körpersprache geht der Leser in erster Linie von seiner eigenen Erfahrung aus. Vgl. W. Eisner: Comics and Sequential Art, S. 10; Scott McCloud: Making Comics. Storytelling Secrets of Comics, Manga and Graphic Novels, New York: HarperCollins 2006, S. 104-121. 70 In mehrfarbigen Comics sind es grelle, dominante Farben, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, in Schwarz-Weiß-Comics diejenigen Schattierungen, die – ähnlich der Chiaroscuro-Darstellung – durch markante Flächen und Kontraste ins Auge stechen.

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Intermedialität in Comics auf der rechten Bildseite gesäumt ist. Durch die Kerzen und Drähte wird außerdem eine weitere Darstellungsform zitiert: die Installation. Die einzelnen medialen Bestandteile des Bildes sind für sich erkennbar, tragen aber in ihrer Kombination dazu bei, dass Intermedialität hier nicht nur auf der Ebene der Text-Bild-Verbindungen, sondern auch auf der Ebene der Bildbezüge (Malerei – Zeichnung/Siebdruck, Bild – Installation) wirksam wird.

Abb. 5. Neil Gaiman: »Convergence: The Hunt«, in: Ders.: The Absolute Sandman, Bd. 2, S. 454.

Unsere Analyse von Intermedialitätsphänomenen in Comics hat tentativen Charakter und möchte v.a. zur Diskussion über die komplexen ästhetischen Prozesse in diesem Medium anregen. Das Zusammenspiel von Text und Bild in Comics und den Beitrag der beiden kopräsenten Primärmedien zum intermedialen Erzählen gilt es weiter zu untersuchen und bestehende Typologien zu verfeinern. Die Ergebnisse werden zur Entwicklung einer tragfähigen inter- und transmedialen Narratologie wesentlich beitragen, die heute dringend vonnöten ist.

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Stephanie Hoppeler, Lukas Etter & Gabriele Rippl

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Great, Mad, New. Populärkultur, serielle Ästhetik und der frühe amerikanische Zeitungscomic FRANK KELLETER & DANIEL STEIN

1. Populärkultur als historisches System Eines der beliebtesten Spiele der Populärkulturforschung besteht in der Widerlegung falscher Ursprungsdaten. »Das gab’s doch schon bei Shakespeare!« – »Und in der Antike.« Populäre Gattungen, könnte man meinen, haben keine Geburtsstunden, sondern waren immer schon da, wo Menschen sich mit selbst geschaffenen Formen vergnügten. Auch die Mediengeschichte des modernen Comics lässt sich von geschulten Beobachtern problemlos bis in die frühe Neuzeit zurückverfolgen, wenn nicht gar ins Anthropologische entgrenzen. Wollen wir bei den ersten Höhlenmalereien beginnen? Bei altertümlichen Piktogrammen? Oder legen wir eine bestimmte Semiotik von Bild und Schrift zugrunde, die uns dann mit mittelalterlichen Druckgrafiken, vielleicht aber auch mit William Hogarth, Rodolphe Töpffer oder Wilhelm Busch einsetzen lässt? Sollen wir die erste echte Sprechblase bei Richard F. Outcault abwarten, um vom Comic zu sprechen?1

1

Anthropologisch weit ausholende Ansätze finden sich in Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, Northampton: Kitchen Sink 1993; Andreas C. Knigge: Alles über Comics. Eine Entdeckungsreise von den Höhlenbildern bis zum Manga, Hamburg: Europa 2004. Semiotische und intermediale Definitionen liefern Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen: Wallstein 2006; Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008. In der USamerikanischen Comic-Forschung gelten Richard F. Outcaults Zeitungscartoons and Comic Strips aus den 1890er Jahren als Begründer der Gattung; vgl. Bill Blackbeard: R.F. Outcault’s The Yellow Kid. A Centennial Celebration of the Kid Who Started the Comics, Northampton: Kitchen Sink 1995.

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Frank Kelleter & Daniel Stein Fragen dieser Art scheinen die Berechtigung eines historischen Begriffs von Populärkultur insgesamt in Zweifel zu ziehen. Möglicherweise lässt sich das, wonach wir fragen, wenn wir nach Populärkultur fragen, gar nicht über zeitliche Markierungen feststellen. Oder aber wir benötigen ein Konzept populärkultureller Geschichtlichkeit, das gerade nicht auf das originelle Vorhandensein bestimmter Formen abhebt. Dies ist in der Tat unsere Auffassung: Populäre Ästhetik verlangt auch in historischer Perspektive nach pragmatischen Zugriffen. Sprechen wir also von dem, was Artefakte tun (und was mit ihnen getan wird), wenn sie ein kulturelles Feld reproduzieren, das sich von anderen kulturellen Feldern, etwa dem der Bildungskultur, sichtbar abgrenzt. Sprechen wir, in einem Wort, von Populärkultur als einem Entwicklungssystem produktiver Handlungen. Sprechen wir von in Zeit und Raum lokalisierbaren – kulturell und historisch spezifischen – Praktiken, die sich selbst als Kontext für die Evolution weiterer Praxismöglichkeiten dienen.2 Wir werden deshalb explizierend und kombinativ zugleich vorgehen: Wir möchten Populärkultur in ihrer Sonderform als American popular culture, den amerikanischen Comic aber nicht als spezifische Gattung, sondern als Element einer größeren systematischen Anordnung beschreiben. Das erlaubt es, einen Aufsatz über Comics kontra-intuitiv mit etwas beginnen lassen, was auf den ersten Blick wenig mit Bild-Schrift-Sequenzen zu tun hat. Einem Jazz-Stück etwa, das seine eigene Position innerhalb der amerikanischen Populärkultur thematisiert. Sagen wir: »Word for Bird« von John Zorn, eine 74 Sekunden lange Kaskade schriller, absurd tempogesteigerter Saxophonphrasen und Trommelwirbel. Das Album, auf dem dieses Stück veröffentlicht wurde, stammt aus dem Jahr 1989; es heißt Spy vs. Spy. Wir behaupten: Im Titel, im Konzept und nicht zuletzt in der Musik dieses Albums verdichtet sich ein ästhetischer Moment, in dem zahlreiche Fäden der amerikanischen Populärkultur zusammenlaufen. Die Konvergenzen, die diesen Moment ausmachen, stellen allgemeine Einsichten zum System popular culture bereit; insbesondere verdeutlichen sie, dass die Existenz solch selbstreferentieller Knotenpunkte den generativen Regelfall dieses 2

Das theoretische Programm, das sich hinter diesen Aussagen verbirgt, ist nicht unkontrovers. Vorausgreifend auf kommende Untersuchungen sei gesagt, dass uns die systemische Produktivität menschlicher Akteure im Fall der Populärkultur durch die jeweils avancierten Modelle (Erving Goffman, Pierre Bourdieu und Bruno Latour für die Handlungstheorie, Talcott Parsons und Niklas Luhmann für die Systemtheorie) nicht hinreichend beschrieben scheint. Wir vermuten, dass die Populärkultur – verstanden als moderne und modernisierende Evolution von Praxisformen – Gestaltungs- und Identifikationsmöglichkeiten bereit stellt, die von Akteuren in anderen kulturellen Feldern nicht mit gleicher Wahrscheinlichkeit realisiert werden können.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic kulturellen Systems darstellt. So besteht eine mehr als nur zufällige Verbindung zwischen der eigenartigen Musik, die John Zorn 1989 in der Lower East Side einspielte, und der ästhetischen Praxis des amerikanischen Comics. Wollen wir diese Verwicklungen entflechten, ist zunächst bedeutsam, dass »Word for Bird« die Cover-Version eines älteren JazzStücks ist, nämlich eines gleichnamigen Titels, der 1987 von Ornette Coleman als frei improvisierte Fortführung seiner bereits 1959 veröffentlichten Nummer »Bird Food« aufgenommen wurde. Die Titel beider Stücke wiederum – »Bird Food« und »Word for Bird« – verweisen im Gestus der Hommage auf eine der zentralen Figuren des amerikanischen Jazz, den Saxofonisten Charlie Parker (genannt »Bird«). So hat es eine innere Logik, wenn John Zorn 1989 ausgerechnet diese Hommage für eine Cover-Version auswählt, gelten Parkers Bebop-Stücke der 1940er und 1950er Jahre doch als unverzichtbares Brückenglied der Jazzgeschichte. In diesen Stücken verbindet sich der Jazz der Gründergeneration eines Louis Armstrong oder Duke Ellington mit den Avantgarden der Nachkriegszeit – Avantgarden, aus denen schließlich auch Ornette Colemans Free Jazz hervorging. John Zorns Entscheidung, ein ganzes Album mit Cover-Versionen von Ornette Coleman einzuspielen – Spy vs. Spy eben – ist in dieser Konstellation programmatisch. Spy vs. Spy setzt sich hiermit als jüngste Station einer Reihe innovativer Reproduktionsschübe in Szene, und Zorn selbst empfiehlt sich als neuer Zentralakteur in der Mutationsgeschichte des Jazz: Stabilisierung durch Erneuerung. Was hat das alles mit Comics zu tun? Zunächst dies: Colemans eigenes Album The Shape of Jazz to Come von 1959 war seines Zeichens ein ästhetischer Programmtext, und das Programm betraf ein neues afroamerikanisches Musik-Verständnis, das nicht auf Wohlklang und eingängige Rezeption – nicht auf bürgerliche Respektabilität und Assimilation –, sondern auf spielerische Dissonanzen und populäre Genre-Mischungen abhob. John Zorn nimmt diese Musik dreißig Jahre später so auf, dass er sie abermals mit einem populären Genre kreuzt. Musikalisch nämlich weist »Word for Bird« überdeutliche Referenzen an die Zeichentrickfilm-Musik der 1930er bis 1950er Jahre auf, insbesondere an die Vertonungen von Warner Brothers-Cartoons durch Carl Stalling, dessen Looney Tunes von John Zorn wiederholt als Einfluss zitiert wurden.3

3

Looney übersetzt sich als »verrückt, durchgeknallt«; Tunes steht sowohl für »Melodien« als auch für Cartoons. Zorn komponierte später wiederholt Musik für Comic-Verfilmungen und Cartoons, u.a. für Ron Manns Dokumentation Comic Book Confidential (Sphinx Productions, 1988).

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Frank Kelleter & Daniel Stein Der nächste Schritt in dieser Assoziationskette erscheint auf einmal sehr viel weniger willkürlich: Die Comic-Connection nämlich, die mit John Zorns musikalischer Hommage an Carl Stalling auf formal-ästhetischer Ebene impliziert ist, wird im Titel, den Zorn für sein Ornette Coleman-Album wählt, endgültig explizit gemacht: Spy vs. Spy. Dieser Titel verweist auf eine Comic-Serie, die sich 1989, im letzten Jahr des Kalten Krieges, großer Beliebtheit erfreute: die Spy vs. Spy Comics von Antonio Prohías, die seit 1961 monatlich im Mad Magazine erschienen. Formal knüpften diese Bilderfolgen an die ersten Zeitungscomics zu Beginn des 20. Jahrhunderts an. Innerhalb einer vorgegebenen Anzahl von Panels wurde in Spy vs. Spy über Jahrzehnte hinweg die immer gleiche Geschichte mit zwei (zeitweilig drei) Protagonisten erzählt – dies allerdings in einer überraschenden Variationsbreite. Zwei Spione, schwarz und weiß, befinden sich im ständigen Kriegszustand und ersinnen zunehmend ausgeklügelte Pläne und Gegenpläne, den jeweils anderen ums Leben zu bringen; die Strips enden in der Regel mit dem Tod einer der beiden Hauptfiguren. Angesichts dieses festen Handlungsgerüstes richtet sich das Interesse des Lesers nicht auf den Ausgang des Geschehens, sondern darauf, wie die vorgegebenen und weithin bekannten Elemente in der jeweils neuen Folge kombiniert und zur Anwendung gebracht werden. Welche Überraschungen – welche Modifikationen, Modulationen, Steigerungen – sind innerhalb des limitierten Formenrahmens nach der zehnten, zwanzigsten, hundertsten Wiederholung noch möglich? Das ist die Frage, die die Serie in Atem hält, wie in der folgenden Szene – in der die ewigen Kontrahenten einmal nicht sterben, sondern sich vorübergehend in den Wahnsinn treiben (Abb. 1). Das Format, das wir hier sehen, ist eines der Grundformate populärer Serialität überhaupt. Es ist ein Format, das bereits den frühen amerikanischen Zeitungscomic bestimmte und sich bis heute in vielen Comic-Varianten durchgehalten hat. So etwa in Trey Parkers und Matt Stones Fernsehserie South Park (seit 1997), bei der jede Folge der ersten Staffeln eine Szene enthält, in der die Figur Kenny auf grausame und zunehmend bizarre Weise ums Leben kommt: »Oh my God, they killed Kenny!« In der nächsten Folge ist Kenny dann wieder dabei, wird aber auch diese nicht überleben. Als Zuschauer wartet man gespannt darauf, was wohl diesmal schief gehen wird und ob sich die Überraschung der letzten Folge noch steigern lässt. Variierende, sich gegenseitig überbietende Improvisation vorgegebener Formen ist aber genau das, was John Zorn mit Ornette Coleman anstellt. Um Colemans Jazz-Innovationen vor der anstehenden Kanonisierung und Musealisierung zu retten – um Jazz gewissermaßen als historisch dynamische, ja kulturell exzentrische Musikform am Leben zu erhalten –, spielt Zorn diesen Klas-

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic siker des Free Jazz 1989 so ein, als ob es sich um den Soundtrack zu einem Bugs Bunny-Cartoon handelt. So gesehen ist Spy vs. Spy ein stimmiger Titel für eine sich spielerisch immer wieder selbst herausfordernde serielle Ästhetik.

Abb. 1. Antonio Prohías: Spy vs. Spy, in: Maria Reidelbach: Completely Mad, S. 134.

Doch nicht nur formal-ästhetisch, auch historisch generiert dieser Moment Möglichkeiten seiner eigenen Wiederholung und Erneuerung. Eine allerletzte Assoziationsschleife deshalb: Spy vs. Spy von Antonio Prohías erschien im Mad Magazine. Diese Publikation ruft einen kulturellen Kontext auf, der für John Zorns »Word for Bird« durchaus bedeutsam ist. Mad Magazine wurde von William Gaines gegründet, dem Sohn von Max Gaines, der seinerseits als Erfinder des klassischen Comic Book-Formats gilt (d.h. der vierfarbigen Hefte, die nicht mehr als Beilagen größerer Publikationen erscheinen). Max Gaines war maßgeblich am Erfolg von DC Comics beteiligt und wurde später zum Gründer des Konkurrenzunternehmens EC Co85

Frank Kelleter & Daniel Stein mics, wo sein Sohn William zusammen mit Harvey Kurtzman im August 1952 die erste Nummer des Mad Magazine herausbrachte.4 Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als Ornette Coleman kurz davor stand, sich vom Bebop zu lösen und den Free Jazz aus der Taufe zu heben – und zu einem Zeitpunkt, als die Comic Book-Industrie auf eine existenzielle Krise zusteuerte, da Superhelden- und Horrorcomics im Kalten Krieg zur Zielscheibe einer öffentlichen Kampagne wurden, die die Profitabilität des bis dahin populärsten Unterhaltungsmediums der USA grundlegend bedrohte.5 In dieser Situation etablierte sich Mad auf dem schwankenden Comic-Markt als parodistische Zeitschrift, die einen neuen, stark absurd gefärbten Humor in das Medium einführte. Der Schlüssel zum Erfolg lag darin, dass Mad nicht nur aktuelle politische Ereignisse, sondern die amerikanische Populärkultur selbst zum satirischen Thema machte. Insbesondere in Bezug auf andere Comics betrieb Mad eine Art spielerischer Medienkritik. Art Spiegelman, von Anfang an ein Bewunderer des Magazins, erklärte später: »The message Mad had in general is, ›The media is lying to you, and we are part of the media.‹«6 So führte z.B. die vierte Ausgabe von Mad die Figur Superduperman ein: einen in blauer und roter Unterwäsche gekleideten, grotesk muskelbepackten Superhelden, der nicht etwa die Guten vor den Bösen beschützt, sondern gebrechliche Rentner, die er zufällig auf der Straße antrifft, zur Belustigung städtischer Spaziergänger zu Brei schlägt. Die Parodie, unnötig zu erwähnen, galt der erfolgreichsten aller Comic-Figuren, Superman, 1938 von Jerry Siegel und Joe Shuster für DC Comics erfunden. Wie hängt das alles zusammen? Welch konspirative Lesart führt uns von John Zorn und dem Avantgarde-Jazz der 1980er Jahre über Ornette Coleman zu Charlie Parker und dann über den Umweg

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Zum Mad Magazine vgl. Maria Reidelbach: Completely Mad. A History of the Comic Book and Magazine, Boston: Little, Brown and Company 1991. Nach der Veröffentlichung von Fredric Werthams para-sozialwissenschaftlicher Studie Seduction of the Innocent (1954) veranlasste der amerikanische Kongress eine Untersuchung über den schädlichen Einfluss der Comic-Industrie auf Jugendliche. Vgl. Fredric Wertham: Seduction of the Innocent, New York: Holt 1954; Amy Kiste Nyberg: Seal of Approval. The History of Comics Code, Jackson: University Press of Mississippi 1998; Bart Beaty: Fredric Wertham and the Critique of Mass Culture, Jackson: University Press of Mississippi 2005; David Hajdu: The Ten-Cent Plague. The Great Comic Book Scare and How It Changed America, New York: Farrar, Straus & Giroux 2008. Zit. n. National Public Radio: »Intersections: Of ›Maus‹ and Spiegelman. ›MAD‹ Inspired Comic Book Looks at the Holocaust«, in: Dass.: Arts & Entertainment (26.1.2004), URL: http://www.npr.org/templates/story/story.p hp?storyId=1611731, Datum des Zugriffs: 12.10.2008.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic von Mad Magazine zu Superman? Besagte Assoziationskette erscheint weniger zufällig – und damit bedeutsam für ein Verständnis des Systems American popular culture – wenn man sich fragt, was die genannten Namen, Personen und Orte miteinander gemein haben. Ist es z.B. ein Zufall, dass so viele Fäden in der Lower East Side zusammen laufen? Auch der eben zitierte Art Spiegelman (der erste Comic-Zeichner, der den Pulitzer-Preis erhielt) war lange Zeit im selben New Yorker Künstlermilieu der Lower East Side aktiv wie der Free Jazzer John Zorn; ebenso wurde Mad Magazine ursprünglich aus der Lower East Side heraus publiziert. Diese stadtgeografische Koinzidenz wird zur Evidenz, wenn wir uns erinnern, dass die Lower East Side das Immigrantenviertel New Yorks ist – v.a. das Viertel, in dem jüdische Einwanderer aus allen Teilen Europas im ständigen Spannungsfeld zwischen orthodox-religiöser Tradition und der kommerziellen Alltagskultur der amerikanischen Moderne lebten. Fragen wir uns vor diesem Hintergrund, was alle der bisher genannten Comic-Künstler mit John Zorn verbindet – von Jerry Siegel und Joe Shuster über Max und William Gaines und Harvey Kurtzman bis zu Art Spiegelman (und man könnte weitere Innovatoren des amerikanischen Comics nennen, von Will Eisner bis zu Stan Lee, den Erfinder von Spider-Man und Mitbegründer von Marvel Comics) – so ist die Antwort rasch gegeben: Bei all diesen Personen handelt es sich um jüdisch-amerikanische Kulturproduzenten, um Immigranten oder Kinder von Immigranten, die kanonisierte ästhetische Kompetenzen mit vernakulären Formen der amerikanischen Alltagskultur fusionierten.7 Das ist keine Besonderheit der Gattung Comic: Auch John Zorns Transposition des schwarzen Jazz Ornette Colemans steht in einer langen Tradition der Auseinandersetzung jüdisch-amerikanischer Musiker mit afroamerikanischen Musikstilen, von Al Jolson in The Jazz Singer (1927) über George Gershwin und andere Tin Pan Alley Komponisten bis hin zu Robert Allen Zimmerman, den unwahrscheinlichen Erneuerer von Blues und Country aus Duluth, Minnesota.8 In John Zorns »Word for Bird« erklingt somit eine Mat7

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Vgl. dazu auch Simcha Weinstein: Up, up, and oy vey! How Jewish History, Culture, and Values Shaped the Comic Book Superhero, Baltimore: Leviathan 2006; Paul Buhle (Hg): Jews and American Comics. An Illustrated History of an American Art Form, New York, London: New Press 2008. Zur Bedeutung des Jazz Singer für die amerikanische Populärkultur vgl. Frank Kelleter: »Schallmauern im Lichtspielhaus. Populärkultur, ›Trans-National America‹ und The Jazz Singer«, in: Ricarda Strobel/Andreas Jahn-Sudmann (Hg.): Film Transnational und Transkulturell. Europäische und amerikanische Perspektiven, München: Fink 2009, S. 107-120. Zu Bob Dylan als Wandlungskünstler vgl. Heinrich Detering: Bob Dylan, Stuttgart: Reclam 2007.

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Frank Kelleter & Daniel Stein rix kultureller Verflechtungen – in diesem Fall: produktive Interferenzen von jüdischen und afroamerikanischen Kulturstilen –, die sich für zahlreiche Erscheinungen der amerikanischen Populärkultur nachweisen lässt. Historisch ist es somit nur folgerichtig (d.h. systemintern durch hohe Wahrscheinlichkeit gedeckt), dass eine der erkenntnisschärfsten und gegenwärtig einflussreichsten Darstellungen des amerikanischen Comics von einem jüdisch-amerikanischen Autor verfasst wurde und dabei genau davon handelt, wie der amerikanische Comic – und mit ihm eine ganze Tradition amerikanischen Humors – aus der modernen Erfahrung der Immigration und Kulturflucht, der Aussiedelung und Verschleppung, erwuchs. Michael Chabons The Amazing Adventures of Kavalier and Clay, erschienen 2000, führt die Geburt des amerikanischen Comics zurück auf das produktive Aufeinandertreffen scheinbar unvereinbarer Lebenswelten in einer unerhört mobilen, vergleichsweise mischungsintensiven und sozial wie ethnisch unablässig konfliktreichen Gesellschaft. Folgerichtig ist auch, dass es sich hierbei um kein kulturwissenschaftliches Werk im klassischen Sinn handelt, sondern um einen seinerseits fiktionalen – und populären! – Text: einen Roman, der gleichwohl als Auslöser der Comics Studies-Welle des frühen 21. Jahrhundert gelten darf.9 Zusammen mit Graphic Novels wie Alan Moores und David Gibbons’ Watchmen (1986) zeichnet Chabons Amazing Adventures dafür verantwortlich, dass der Comic, v.a. in seiner amerikanischen Spielart, zu den derzeit am intensivsten erforschten Gattungen populärer Kultur gehört. Ruft man sich vor dem Hintergrund dieser Untersuchungen John Zorns musikalisches Programm einer Radical Jewish Culture ins Gedächtnis – ein kulturelles Programm, das nicht im Sinn ethnischer identity politics auftritt, sondern als geradezu irrsinnige Hybridisierung ästhetischer Formen (so wie sie bis 2007 im New Yorker Tonic Club zu begutachten war) –, dann erscheint es plötzlich alles andere als zufällig, dass John Zorn seinem Ornette Coleman-Album den Titel einer Comic-Serie aus dem Mad Magazine, Spy vs. Spy, gegeben hat. Ebenso wenig exzentrisch mutet folgender Dialog aus The Amazing Adventures of Kavalier and Clay an; die Figur Sammy sinniert hier über das wahnwitzige, und damit immer auch witzige, Formen9

Der Comic-Roman scheint sich zu einer kleinen literarischen Gattung zu entwickeln, zu der folgende Texte zählen: Jay Cantors Krazy Kat: A Novel in Five Panels (1987), Tom deHavens Trilogie Funny Papers (1985), Darby Dugan’s Depression Funnies (1996) und Dugan Under Ground (2001) sowie sein neuster Roman It’s Superman (2005), aber auch Richard Lupoffs The Comic Book Killer (1989) und Robert Rodis What They Did to Princess Paragon (1994). Der erfolgreichste Comic-Roman nach Chabons Amazing Adventures ist Jonathan Lethems The Fortress of Solitude (2003).

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic schicksal alter Mythen in der amerikanische Moderne: »Why, they’re all Jewish, superheroes. Superman, you don’t think he’s Jewish? Coming over from the old country, changing his name like that. Clark Kent, only a Jew would pick a name like that for himself.«10 Chabons Pointe ist keineswegs, dass Superman im Grunde nur ein amerikanisierter Golem ist. Chabons Pointe ist, dass die amerikanische Mutation der Golem-Figur gänzlich neue, sprichwörtlich überdrehte und durchgeknallte, fantastisch überformte, mit geringsten Mitteln immer weiter wandlungsfähige Ausdrucksmöglichkeiten generiert: »this great, mad new American art form« des amerikanischen Comics.11 Great – Mad – New: Weitere Titel- und Schlüsselbegriffe populärkultureller Selbstthematisierung drängen sich auf: Looney, zum Beispiel, oder Krazy. Inwiefern ist diese verrückte, neue, großartige Kunstform aber eigentlich American? Was wir hier exemplarisch und in aller Kürze am Beispiel jüdisch-amerikanischer Comics und Jazzmusik durchgespielt haben, ist keineswegs auf zwei ethnische Gruppen und ihre gegenseitigen ästhetischen Interferenzen beschränkt, sondern für das System popular culture insgesamt kennzeichnend. Drei der zentralen Medien amerikanischer Populärkultur – Hollywood-Film, Jazz, Comic – entstanden fast zeitgleich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, zur Zeit der New Immigration.12 Dass sie nach solch spezifischen Ursprüngen einen globalen Siegeszug antreten konnten, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass diese Filme, Musiken und Bildergeschichten entscheidend von Akteuren geprägt wurden, für die die Erfahrung der Diaspora eine moderne, urbane, auch kapitalistische Erfahrung war. Bis heute haben populärkulturelle Formate ihre oft nachhaltigsten ästhetischen Prägungen in multilingualen, multiethnischen und stark migrantischen Gesellschaften erfahren. Heterogene Rezipientengruppen erfordern nun einmal eine möglichst allgemeine, möglichst voraussetzungslose Ansprache. Unterhaltungsformate aus den USA sind deshalb oft stilbildend für die internationale Populärkultur: Um ein multiethnisches, multilinguales und multireligiöses Publikum zu erreichen, waren sie von Anfang an – also: immer schon, nicht erst seit Aufkommen des Begriffs der Globalisierung – gezwungen, ihre formalen Strukturen zu vereinfachen und zu schematisieren, und so konnten Comics ebenso wie Stummfilme von jüdischen, afroamerikanischen, asiatischen oder deutschen Immi10 Michael Chabon: The Amazing Adventures of Kavalier and Clay, New York: Random House 2000, S. 585. 11 Ebd., S. 167. 12 Der erste amerikanische Kritiker, der die gemeinsame kulturhistorische Bedeutung dieser drei Medien erkannte, war Gilbert Seldes: The Seven Lively Arts, New York: Harper & Brothers 1924.

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Frank Kelleter & Daniel Stein granten gleichermaßen kompetent rezipiert und reproduziert werden.13 Auch Antonio Prohías, der Schöpfer von Spy vs. Spy, kam 1960 als kubanischer Immigrant nach der Machtübernahme Castros in die USA. Es war nahe liegend, dass er sich in solcher Situation eines stummen und sprachlosen Mediums bediente – und damit ein globales Publikum erreichte.14 Das Besondere dieser gleichermaßen modernen wie modernisierenden Massenästhetik liegt darin, dass sie Standardisierung nicht als Trivialisierung, Verflachung oder Vorhersagbarkeit betreiben muss – und es in der Regel auch nicht tut. Ein Blick auf die interne Dynamik populärer Kultur zeigt, dass v.a. das Strukturprinzip der Serialität nahezu zwangsläufig eine Ästhetik fordert, die ihre eigene Formengeschichte beobachtet und auf diese Weise immer weitere Variationen und Selektionen realisiert. Andernfalls hätten sich die basischen Schemata auch bald erschöpft, und Überraschung – eine Grundvoraussetzung von Unterhaltung – würde ausbleiben. Populäre Serialität ist somit einfach und komplex zugleich. Populäre Serialität produziert vielfach anschlussfähige, leicht verständliche Fortsetzungen, die aber in dynamischer Weise selbst-bezüglich sind: Fortsetzungen, die sich beständig gegenseitig überbieten und auf diese Weise das System Populärkultur immer weiter ausdifferenzieren. So werden grafische Meisterwerke mit nur vier Panels, musikalische Erhabenheit in nur drei Akkorden und epische Erzählungen in zweieinhalb Minuten möglich. Der Vereinfachung der Formensprache und der Herabsetzung von Rezeptionsvoraussetzungen, so wie sie v.a. die Frühphase populärer Gattungen kennzeichnet, entspricht im System Populärkultur fast immer Komplexitätssteigerung und Flexibilisierung auf Seiten der kulturellen Nutzbarkeit und sodann auch auf Seiten der formalen Praktiken selbst.15

13 Vgl. Winfried Fluck: »The Search for an ›Artless Art‹«, in: Klaus Benesch/Ulla Haselstein (Hg.): The Power and Politics of the Aesthetic in American Culture, Heidelberg: Winter 2007, S. 29-44. Eine ähnliche Auffassung vertritt Achatz v. Müller in einer Rezension der Ausstellung »Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europäischen Kunst« (19.9.2008 bis 25.1.2009 in der Hypo Kunsthalle München). Für v. Müller ist der wichtigste Faktor im Welterfolg von Disney der »Stil reduzierter Komplexität«, der »das überall fassbare und adaptierbare zeichnerische Disney-Universum« ermöglicht. A. v. Müller: »Von Ludwig II. zu König Louie« in: Die Zeit, 18.9.2008, S. 73. 14 Die Autorsignatur unter Spy vs. Spy erscheint dann auch, dem Thema des Kalten Krieges angemessen, in international verständlichen Morsezeichen. 15 Die jüngere Literaturwissenschaft fasst das bisweilen unter Begriffe wie »Transmedialisierung«, »Evolution von Sub-Genres«, »kaskadierende Gattungshybridität« usw.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic Das hier skizzierte Verständnismodell populärer Kultur verlangt nach einer Integration historisch-kulturwissenschaftlicher und ästhetisch-praxeologischer Interessen. Im Folgenden wird es deshalb um die Beantwortung von zwei trügerisch einfachen Fragen gehen. Erstens: Warum entsteht der Comic Strip gerade in den USA und gerade zischen den 1890er und 1920er Jahren? Zweitens: Welche Möglichkeiten ästhetischer Praxis werden durch die ersten seriellen Comic Strips ins Leben gerufen?

2. Richard Felton Outcaults Yellow Kid (1895-1898) Zur Beantwortung der ersten Frage wenden wir uns Richard F. Outcaults Yellow Kid zu, der am 5. Mai 1895 in der New York World zum ersten Mal als Hauptfigur des Comic Strips Hogan’s Alley auftritt.16 Damit soll nicht bestritten werden, dass es eine Reihe von Zeichnern gab, deren Werke sich als Comic Strips oder Proto-Comics lesen lassen (z.B. Franklin M. Howarth und Michael Angelo Woolf). Dennoch stellen wir fest, dass die historiografische Initialstellung des Yellow Kid durch den immensen Erfolg und Einfluss dieser Figur begründet ist. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ein früher Strip Outcaults die komische Kreuzung eines Hundes mit einer Schlange zeigt und den Titel »Origin of 16 In der US-amerikanischen Forschung hat sich 1895 als Gründerjahr des Comics als populärkulturellem Medium etabliert, was einerseits auf die unscharfe Trennung von Zeitungscomics und Illustrationen in Witzblättern, andererseits auf anachronistische Definitionen des Comic Strips hinweist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Entstehungsgeschichte des Comic Strips verschiedene Stationen – z.B. erstes Erscheinen in einer Sonntagsbeilage, erster Auftritt der Hauptfigur, regelmäßiges Auftreten der Hauptfigur, erste Strips in Farbe – durchläuft. Es sei erwähnt, dass wir den Ausdruck Comic Strip, wie inzwischen üblich, rückwirkend gebrauchen, denn er existiert erst seit 1907 mit Bezug auf die erste durchgängig täglich erscheinende Serie Mutt and Jeff von Bud Fischer. Zuvor war von funny pages die Rede. Vgl. Andreas C. Knigge: 50 Klassiker Comics. Von Lyonel Feininger bis Art Spiegelman, Hildesheim: Gerstenberg 2004, S. 8. Zur Geschichte der Zeitungscomics vgl. auch Judith O’Sullivan: The Great American Comic Strip. One Hundred Years of Cartoon Art, Boston: Bullfinch 1990; Robert C. Harvey: The Art of the Funnies. An Aesthetic History, Jackson: University Press of Mississippi 1994; Richard Marschall: America’s Great Comic-Strip Artists. From the Yellow Kid to Peanuts, New York: Stewart, Tabori & Chang 1997; Ian Gordon: Comic Strips and Consumer Culture 1890-1945, Washington DC, London: Smithsonian Institution Press 1998; Brian Walker: The Comics before 1945, New York: Abrams 2004; Alexander Braun: Jahrhundert der Comics. Die Zeitungs-Strip-Jahre, Bielefeld: Museum Huelsmann 2008.

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Frank Kelleter & Daniel Stein a New Species« trägt (New York World, 18. Nov. 1894).17 Der Comic Strip inszeniert sich hier selbstbewusst als neue, hybride Gattung in der Evolution der Unterhaltungskultur. Das Neue an Outcaults Zeichnungen war neben der Einführung einer wiederkehrenden, d.h. seriellen, Hauptfigur die Verschmelzung von Wort und Bild – zuerst diente das gelbe Nachthemd des Yellow Kid als Textfläche, aber schon bald entstanden Sprechblasen – sowie die grafische Umsetzung des sequentiellen Erzählens durch Panels, also gerahmte und von Stegen getrennte Bilder, die von links nach rechts gelesen werden. Outcault, der 1892 aus dem Mittleren Westen nach New York gekommen war, entwickelte diese Formen im medialen Kontext der amerikanischen Zeitungskriege. Im Kampf um die Vorherrschaft der Presse hatten Verleger wie Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst Mitte der 1890er Jahre eine neue Art der Zeitungsbeilage geschaffen, die sich als besonders populär erweisen sollte: comic strip supplements. Kurze Unterhaltungsbeilagen gab es schon früher, aber originell war die Idee, durch farbige, einzig den Comic Strips gewidmete Zeitungsteile eine neue Klientel anzusprechen.18 Comics dienten also von Anfang an als Lesermagnet und Werbemittel. Sie sollten die Stammleserschaft vergrößern, indem sie auch die weniger gebildeten Arbeiter, Einwanderer mit mäßigen Englischkenntnissen sowie die Kinder dieser Zielgruppen zum regelmäßigen Kauf einer bestimmten Zeitung anregten. Hierzu präsentierten sie einen grobkörnigen Humor, der sich einer Vielzahl ethnischer Stereotypen und Sprachen bediente.19 Vor diesem Hintergrund erklären sich die Besonderheiten des Yellow Kid, wie sie in einer Szene aus McFadden’s Row of Flats vom 22. November 1896 im New York Journal zu sehen waren (Abb. 2). Im Vordergrund dieses Einzelbildes sieht man einen Straßenjungen im gelben Nachthemd, ein irisches Einwanderkind namens Mickey Dugan. Die Szenerie zeigt das Milieu der urbanen und ethnisch he-

17 B. Blackbeard: R.F. Outcault’s Yellow Kid, S. 22. 18 Sonntagsbeilagen gab es in den New Yorker Tageszeitungen ab 1889, als Pulitzer sie für seine Sunday World einführte. Ab 1894 war Pulitzers Druckabteilung in der Lage, vierfarbige Beilagen zu produzieren, was die Attraktivität der Comic Strips deutlich erhöhte. Hearsts Sunday Journal folgte zwei Jahre später mit einer eigenen bunten Sonntagsbeilage; sie trug den Titel American Humorist und präsentierte im Oktober erstmals Outcaults Yellow Kid. Vgl. N.C. Christopher Couch: »The Yellow Kid and the Comic Page«, in: Robin Varnum/Christina T. Gibbons (Hg.): The Language of Comics. Word and Image, Jackson: University Press of Mississippi 2001, S. 6074. 19 Die Zielgruppe von Comic Strips bestand allerdings nicht primär aus Analphabeten; fast 90 % der städtischen Arbeiterschaft konnte lesen. Vgl. I. Gordon: Comic Strips and Consumer Culture, S. 13.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic terogenen Arbeiterschicht New Yorks und steht damit im Kontext städtischer Romane wie Stephen Cranes Maggie: A Girl of the Streets (1893) und dem Fotojournalismus von Jacob Riis (How the Other Half Lives, 1890). Zu einigen eher realistisch gestalteten Charakteren gesellen sich komische Figuren aus der amerikanischen Populärkultur: Wir begegnen einer Gruppe von Cancan Tänzerinnen und einer stereotypisch karikierten schwarzen Figur mit dicken Lippen, aufgerissenen Augen und abstehenden Haaren, die den Lesern aus dem Minstrel Theater oder aus Illustrationen wie Kemble’s Coons (1896) von E.W. Kemble bekannt war.

Abb. 2. Richard F. Outcault: McFadden’s Row of Flats (22.11.1896), in: Bill Blackbeard: R.F. Outcault’s Yellow Kid, S. 215.

Was lässt sich noch über dieses Einzelbild sagen? Erstens, dass hier die Lebenswelt der intendierten Comic-Rezipienten selbst abgebildet wird. ›Einfache Leute‹ werden Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Konsumentengruppe zunehmend wichtig, weil sich die 93

Frank Kelleter & Daniel Stein Zugangsbedingungen zu kulturellen Artefakten in vielerlei Hinsicht verringern: technologisch-medial (durch preiswerten Farbdruck und industrielle Fertigung), finanziell (die yellow press ist auch für Arbeiter erschwinglich), narrativ (Visualisierung von Handlungszusammenhängen; Lautwörter wie zip und bam erklären sich von selbst) und intellektuell (anders als die Karikaturen und Illustrationen in Witzblättern und Magazinen wie Puck, Judge oder Life fordern Comics keine detaillierte Kenntnis politischer oder historischer Zusammenhänge).20 Zweitens erkennen wir bei Outcault visuelle und verbale Verweise auf das vernakuläre Theater Amerikas, also Vaudeville, Burleske, Zirkus, Minstrel Show: in diesem Bild durch die schwarze Minstrel-Figur und die Cancan Tänzerinnen; in einem Strip, auf den wir noch zu sprechen kommen (s.u., Abb. 3), durch den Untertitel »A Farce, a Comedy, and a Tragedy, All in One«.21 Diese Verweise markieren einen entscheidenden Moment in der Frühgeschichte des amerikanischen Comics; sie zeigen die schrittweise Abwendung von der europäischen Tradition der historisch bzw. lokal gebundenen politischen Satire und sozialkritischen Karikatur hin zum Comic Strip als Massen- und Unterhaltungsmedium, das bei aller Bezugnahme auf die Lebenswelt spezifischer Rezipienten überregional verständlich und zeitlich relativ ungebunden bleibt.22

20 Zum Verhältnis der frühen Zeitungscomics zu den politischen Karikaturen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts vgl. David Kunzle: History of the Comic Strip, Bd. 1: The Early Comic Strip, Berkeley: University of California Press 1973; ders.: History of the Comic Strip, Bd. 2: The Nineteenth Century, Berkeley: University of California Press 1990; Adam Gopnik: »Comics«, in: Kirk Varnedoe/Adam Gopnik (Hg.): High and Low. Modern Art and Popular Culture, New York: Museum of Modern Art, Abrams 1990, S. 153-228; Jane E. Brown/Richard S. West: »William Newman (1817-1870). A Victorian Cartoonist in London and New York«, in: American Periodicals 17 (2007), H. 2, S. 143-183. 21 Gopnik nennt den frühen Comic Strip »a burlesque told in narrative panels«. A. Gopnik: »Comics«, S. 154. Besonders deutlich wird der Einfluss des Vaudeville Theaters in der Sonntagsseite vom 10.1.1897, die den Yellow Kid als »stage manager of this show« mit seinen Freunden Little Boy Blue und Ole King Kole auf der Bühne zeigt. Auch die Tänzerinnen und die Minstrel-Figur treten wieder auf; ein großes Banner identifiziert die Truppe als »De Yaller Kid’s Mother Goose Vaudeville Co«. B. Blackbeard: R.F. Outcault’s Yellow Kid, S. 230. 22 Über den Einfluss der europäischen Karikatur und Illustration (Wilhelm Busch, Rodolphe Töpffer, Thomas Rowlandson, James Gilray) auf die frühen Zeitungscomics herrscht Uneinigkeit. Unserer Ansicht nach sollten die kulturell und historisch spezifischen Praktiken der amerikanischen Zeitungscomics – die yellow press als Massen- und Sensationsmedium; der

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic All dies hat ästhetische Konsequenzen. Will man ein sozial und ethnisch heterogenes Publikum langfristig als Käuferschicht binden, ist hierzu eine besondere Form der Unterhaltung erforderlich. Hilfreich sind leicht erkennbare, charismatische und – das ist besonders wichtig – wiederkehrende, d.h. serielle, Figuren, an deren Erlebnissen das Publikum Tag für Tag für einige Minuten teilhaben möchte. Zudem müssen diese Serienfiguren konkurrenzfähig sein, denn im verbissenen Kampf um Marktanteile im Zeitungssegment werden erfolglose Strips schon nach wenigen Episoden abgesetzt. Outcaults Yellow Kid ist hierfür ein ausgezeichnetes Beispiel, denn die Form des Strips wandelt sich schnell von naturalistischen Einzelbildern, die Outcault mit Details anreichert und in denen Mickey Dugan in einer fasst überquellenden Flut visueller und textlicher Informationen unterzugehen droht, zu einer Abfolge sequentiell erzählter Episoden, die auf spezifische Kontexte zunehmend verzichten und Mickey als Aushängeschild der Zeitung präsentieren. Outcaults Schwenk von der politischen Karikatur zur populärkulturellen Unterhaltung lässt sich anschaulich an seinen sequentiellen Comic Strips verfolgen. So in einer Folge vom 25. Oktober 1896, in der Mickey zum ersten Mal eine eigene Sprechblase erhält (Abb. 3).23 Es fehlen noch die Rahmen, die ein Bild vom anderen trennen, aber der Gesamteffekt ist schon da: In einer Abfolge von Bildern sehen wir, wie Mickey einen Fonografen in Betrieb setzt, der die Vorzüge des comic supplement in der Sonntagsausgabe des New York Journal anpreist. Kommuniziert Mickey anfangs noch durch Textpassagen, die wie magisch auf seinem Nachthemd erscheinen, so findet er am Ende des Strips seine Sprache in Form einer gefüllten Sprechblase: »Wait till I git dat foolish bird.« Es ist bezeichnend, dass Outcaults Comics schon früh den eigenen Status als Werbung und Trickkunst thematisieren.24 Der Papagei plappert die Hearstsche Werbepropaganda nach und stellt den Comic Strip damit als

Druck farbiger Sonntagsbeilagen; neue Zielgruppen usw. – analytisch stärker berücksichtigt werden. 23 Diese Episode erscheint ca. einen Monat vor dem oben analysierten Einzelbild; der Wandel vom Einzelbild zum Erzählen in Sequenzen folgt also keiner streng linearen Entwicklungslogik. 24 In der weiter oben besprochenen Episode aus McFadden’s Row of Flats (vgl. Abb. 2) ist links neben dem Museumseingang eine vereinfachte Zeichnung des Yellow Kid zu sehen. Hier zeigt der Strip sein mediales Selbstbewusstsein: Er portraitiert Mickey Dugan als eine populäre Ikone, die von Fans auf Häuserwände gekritzelt wird. Man kann diese Art von Graffiti als Antwort auf die kommerzielle Omnipräsenz der Figur lesen; Hearst und Pulitzer (der eine konkurrierende Serie mit der gleichen Figur in Auftrag gegeben hatte) plakatierten das Aushängeschild ihrer Beilagen überall in New York. Vgl. R.C. Harvey: The Art of the Funnies, S. 6.

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Frank Kelleter & Daniel Stein kommerzielles Massenmedium aus: »Why is the Sunday Journal’s Coloured Supplement de greatest ting on earth? [...] Dats too easy. Its a Rainbow of Colour, a dream of beauty, a wild bust of laughter, an regular hot stuff.«

Abb. 3. Richard F. Outcault: The Yellow Kid and His New Phonograph, (25.10.1896), in: Bill Blackbeard: R.F. Outcault’s Yellow Kid, S. 208.

Ironisch reflektiert Outcault den wirtschaftlichen Primärauftrag des Comics: »Listen to de woids of wisdom wot de phonograff will give yer«, steht anfangs auf dem Nachthemd des Yellow Kid, doch am Ende will der Papagei, sinnbildlich für die Comic-Figur, aus der Box – dem Fonografen bzw. dem gezeichneten Comic – ausbrechen: »I am sick of that stufft little box.« Der Wandel von der politischen Karikatur zum sequentiellen Comic Strip ist offenbar nicht allein dem individuellen Geistesblitz eines genialen Schöpfers zu verdanken. Was hier stattfindet, ist ein Zusammenspiel von wirtschaftlichen Zwängen – der Strip muss eine heterogene Leserschaft im Konkurrenzkampf attraktiver Freizeitangebote dauerhaft binden, ist sich seiner Rolle als Werbeträger dabei aber voll bewusst – und Outcaults kreativer Antwort auf diese Zwänge: Mickey Dugan, typisiert als Yellow Kid, ist die komisch-ironische Galionsfigur der Zeitung, die dem Leser sowohl als Repräsentant der eigenen Lebenswelt als auch in der Rolle des marktschreierischen Verkäufers begegnet.25 25 Zur Bedeutung von Freizeit und Konsumverhalten im Zuge der amerikanischen Industrialisierung vgl. als frühe Studie Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study in the Evolution of Institutions, New York: Macmillan 1899. Der Comic-Konsum wird bereits in der An-

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic

Abb. 4. Richard F. Outcault: The Yellow Kid’s New Phonograph Clock (14.2.1897), in: Bill Blackbeard: R.F. Outcault’s Yellow Kid, S. 240.

Bald umrahmt Outcault die einzelnen Szenen seiner Geschichten, wie eine Episode vom 14. Februar 1897 zeigt (Abb. 4). Die Rahmen sind stilbildend, weil sie das sequentielle Prinzip des Comics – also die Abfolge von Einzelbildern, deren Zwischenräume der Leser imaginativ füllen muss – nun auch formal-ästhetisch auf den Punkt bringen und das Bildgeschehen leserverträglich ordnen (d.h. die Rezeptionsvoraussetzungen erneut verringern).26 Diese ästhetische Neuerung erscheint im Artefakt selbst als Thema, denn die Einführung der Rahmen wird durch das Bild im Bild kommentiert: Man beachte das Porträt des Mädchens namens Liz links oben! Auch fangsphase durch spin-off products unterstützt, z.B. Yellow Kid-Anstecknadeln, Keksdosen und Zigarettenschachteln. Die Sekundärproduktion explodiert förmlich mit Outcaults zweiter berühmter Serienfigur Buster Brown: Schon nach kurzer Zeit gibt es Buster Brown Uhren, Schuhe, Kleidung, Musikinstrumente und Getränke. Vgl. I. Gordon: Comic Strips and Consumer Culture, S. 37-58. Heute sind es genau solche Spin-off-Waren (z.B. FilmAdaptionen, Action-Figuren und Computerspiele), die den eigentlichen Profit eines Comics ausmachen und eine unüberschaubare Zahl lebensweltlicher Anschlussmöglichkeiten für unterschiedlichste Publika bereitstellen. 26 Eine Reduktion der Textmenge ist die Folge. Outcaults Einzelbilder sind noch sehr textlastig, doch die sequentiellen Strips verzichten weitgehend auf Prosaelemente zugunsten kurzer gesprochener (d.h. in Sprechblasen gefasster oder auf Mickeys Nachhemd gedruckter) Aussagen.

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Frank Kelleter & Daniel Stein wird die gerade erst eingeführte Konvention des Bildrahmens sogleich wieder durchbrochen, indem die Tierextremitäten aus der Rahmung treten. Von Anfang an beobachtet sich das Medium somit selbst. Das Mädchen Liz wird zum Comic im Comic: Sie erschrickt über das laute Klingeln des Weckers und wird, dem Leser ähnlich, durch das neue Bildvokabular – Lautwörter wie ting/ling und whang/rang im vierten Panel sowie die Bewegungslinien um den Wecker herum – regelrecht erschüttert. Der Comic inszeniert sich hier als etwas Neues, Schockierendes, im Wortsinn: Verrücktes. Wenn der visualisierte Krach des Weckers schon ein porträtiertes Mädchen aus den Socken haut, wie soll es erst dem realen Leser ergehen, der Zeuge solch unerhörter Begebenheiten wird? Zwei folgenreiche Entwicklungen der Comic-Geschichte werden von Outcaults Strip in Gang gesetzt. Zum einen ist die Serie so erfolgreich, dass Hearst ihren Zeichner von Pulitzer abwirbt und im New York Journal einen neuen Comic Strip, das schon erwähnte McFadden’s Row of Flats, beginnen lässt. Diese Serie trägt der Popularität ihrer Hauptfigur Rechnung und nennt sich wenig später The Yellow Kid. Prompt engagiert Pulitzer George B. Luks, der für die New York World eine konkurrierende Serie mit weitgehend identischen Charakteren namens Hogan’s Alley produziert. Star dieser Serie ist natürlich ein Yellow Kid, dessen Ähnlichkeit mit Outcaults Figur frappierend ist. Dies trägt einerseits zu einer gewissen Vereinheitlichung bei, setzt die Produkte aber auch unter erhöhten Distinktions- und Innovationsdruck. Während sich der Titel eines Strips urheberrechtlich schützen lässt, gilt dies zunächst nicht für einzelne Figuren, Handlungsschemata und Schauplätze. Hier kann sich nur der frechere und unkonventionellere Strip durchsetzen, indem er den Leser wiederholt überrascht und das Unterhaltungsangebot des konkurrierenden Strips überbietet. Zum anderen motiviert Outcaults Strip eine Reihe von neuen kid strips, die im Fahrwasser des Yellow Kid um die Aufmerksamkeit der städtischen Leserschaft buhlen. Die bekannteste dieser Serien ist Rudolph Dirks’ Katzenjammer Kids, die der deutsche Einwanderer frei nach Wilhelm Buschs Max und Moritz ab Dezember 1897 für Hearsts New York Journal zeichnet. Deutsche Einwanderer sind die zentralen Figuren, was u.a. an der komischen Mixtur aus englischer und deutscher Sprache zu erkennen ist: »You stay outside mit der machine Chames, until ve get done mit der supper!« oder »A place mit such humbug iss not for ladies und chentlemen!« in »My! But the Katzenjammers Are Rich!«27 Anders als bei The Yellow Kid ist die serielle Handlung bereits sehr formelhaft (dies wird sich als zentrales Strukturprinzip der Zeitungscomics etablieren):

27 2.6.1912; B. Walker: The Comics before 1945, S. 39.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic Die Kinder Hans und Fritz stellen immer etwas an und bekommen am Ende des Strips den Hintern versohlt. Mit dem Yellow Kid und den Katzenjammer Kids werden komische Kinderfiguren als Protagonisten der Comic Strips zur Regel; schnell steigt der kid strip zum populärsten Genre des neuen Mediums auf. Weitere Genres sind die sogenannten family strips, z.B. George McManus’ Bringing Up Father (1913) und Frank Kings Gasoline Alley (1918) sowie die späteren adventure und detective strips, z.B. Harold R. Fosters Tarzan (1928/1931) und Chester Goulds Dick Tracy (1931). Das Erzählen in sequentiellen Panels, das bei Outcault die ganzseitige Darstellung komischer Situationen nie vollständig ablöste, wird mit den Katzenjammer Kids endlich zur narrativen Konvention. Mit Frederick Burr Oppers Happy Hooligan (1900), so der Konsens in der Comic-Forschung, sind alle drei Hauptmerkmale des Zeitungscomics dann vollends etabliert: das serielle Erzählen in Panels, die Darstellung von Dialogen in Form von Sprechblasen und die serielle Präsenz einer charismatischen Hauptfigur.28 Die ersten Verlagssyndikate, Hearsts International News Service (1912) und King Features (1915), ermöglichen den Druck eines Strips in einer Vielzahl von Zeitungen in verschiedenen Teilen der USA. Die Strips müssen nun überregional verständlich sein. Der Comic Strip findet dadurch eine feste Grundform, die es in Zukunft immer wieder zu erweitern und neu zu denken gilt. Die Standardisierung des visuellen und formalen Vokabulars bietet nämlich paradoxen Nährboden für neue Variationen und überraschende Anwendungen bereits etablierter Konventionen. Diese Dynamik populärer Serialität lässt sich an George Herrimans Krazy Kat (1913), dem formal und inhaltlich avanciertesten der frühen Comic Strips, aber auch schon an den visuellen und formalen Experimente von Zeichnern wie Lyonel Feininger und Winsor McCay ablesen.

3. Lyonel Feiningers The Kin-der-Kids (1906-1907) und Winsor McCays Little Nemo (1905-1914) Schon bald nach der Entstehung der ersten Comic Strips kritisierten religiöse Organisationen und Frauenvereinigungen das neue Medium als »ein Verbrechen gegen Amerikas Kinder«.29 In Reaktion

28 Vgl. R.C. Harvey: Art of the Funnies, S. 7f. 29 So der Titel eines Artikels im Ladies’ Home Journal aus dem Jahr 1909 (»A Crime Against American Children«), den Jeet Heer und Kent Worcester zitieren. J. Heer/K. Worcester: Introduction, in: Dies. (Hg.): Arguing Comics. Literary Masters on a Popular Medium, Jackson: University Press of Missis-

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Frank Kelleter & Daniel Stein auf solche Leserinterventionen stellte die Chicago Tribune 1906 einen Zeichner ein, der sich vom Klamauk und Slapstick absetzen und eine neue bürgerliche Käuferschicht erreichen sollte: Lyonel Feininger. Auf der Titelseite der Comic-Beilage der Chicago Sunday Tribune, die seine Serie The Kin-der-Kids am 29. April 1906 vorstellte, wurde der in New York geborene und in Berlin lebende Sohn deutscher Einwanderer als »the famous German artist« angekündigt. Ein Hauch alteuropäischer Legitimität lag für das neue Medium in der Luft.30 Feininger konzipierte seinen Strip als Fortsetzungsgeschichte: Die Kinder Daniel Webster, Piemouth und Strenuous Teddy entwischen Tante Jimjam, Mr. Pillsbury und Cousin Gussie; den New Yorker Hafen verlassen sie in der Familienbadewanne. Während sich frühere Strips auf abgeschlossene Einzelgeschichten beschränkten, die meist gleich endeten – die Katzenjammer Kids bekommen jedes Mal eine Tracht Prügel –, erzählt Feininger eine durchgehende, in Episoden unterteilte Handlung. Dieses Prinzip wird sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachhaltig durchsetzen, möglicherweise weil es die seriellen Rezeptionsvoraussetzungen beträchtlich erhöht: Man muss den Anfang der Geschichte kennen, um die Ereignisse zu verstehen, und verpasst wichtige Informationen, wenn man eine Episode aussetzt. Auch Feiningers Verzicht auf Bewegung und das unausgeglichene Verhältnis von Wort und Bild bleiben zunächst ohne Einfluss, da die Möglichkeit, Bewegung und Geräusche zu simulieren, zu den attraktivsten Ausdrucksformen des Mediums gehört und von anderen Zeichnern zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgreich umgesetzt wird. Wie in der Episode »How the Jimjam Relief Expedition set out« vom 24. Juni 1906 zu sehen ist, sind alle Bilder statische Momentaufnahmen; es gibt keine Lautwörter, und auch die Bewegungslinien im letzten Panel sind kaum zu sehen (Abb. 5). Etablieren wird sich allerdings die flexible Gestaltung von Größe und Form der Panels. Anstatt einer Anordnung in zwölf gleich großen, quadratischen Kästchen ist die Seite zweigeteilt; der untere Teil besteht aus zwei hohen rechteckigen Kästchen, in die Feininger den Heißluftballon platziert – der Inhalt des Bildes bestimmt hier die Größe des Panels. Außerdem sind die Ecken der Kästchen abgesippi 2004, S. vii-xxiii, hier S. x; vgl. auch Zeitungsbeiträge mit Titeln wie »Atrocities of Color Supplements«, in: Dial 40 (1.2.1906), S. 79. 30 Alle Folgen der Kin-der-Kids und Feiningers zweite Comic-Serie, Wee Willie Winkie’s World, sind enthalten in Bill Blackbeard (Hg.): The Comic Strip Art of Lyonel Feininger. The Kin-der-Kids; Wee Willie Winkie’s World, Seattle: Fantagraphics 2007. Eine sehr gute Einführung zu Feininger findet sich in Andreas Platthaus: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte, Frankfurt/Main, Leipzig: Insel 2000, S. 99-127.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic schrägt; die Bilder wirken wie aufgeklebte Fotos und weisen damit auf die künstlerische Gesamtgestaltung der Seite hin. Trotz solcher Innovationen machte das Urteil der Leser der Serie letztlich den Garaus. Die Verkaufszahlen der Chicago Sunday Tribune sanken, und die Kin-der-Kids wurden nach kurzer Laufzeit eingestellt.

Abb. 5. Lyonel Feininger: »How the Jimjam Relief Expedition set out« (25.6.1906), in: Bill Blackbeard (Hg.): The Comic Strips of Lyonel Feininger, S. 16.

Ein zweiter Zeichner, der neben Feininger versuchte, die ästhetische Palette und das narrative Vokabular des Zeitungscomics zu erweitern, war der in Michigan geborene Winsor McCay mit seinen vielen hunderten Episoden des Little Nemo in Slumberland.31 McCays Zeichnungen setzen sich von der Slapstick-Ästhetik der Katzenjammer Kids und des Happy Hooligan ab und nehmen Elemente aus

31 Neben Little Nemo in Slumberland zeichnete McCay die Serien Little Nemo in the Land of Wonderful Dreams und Little Sammy Sneeze.

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Frank Kelleter & Daniel Stein der zeitgenössischen Kunst auf. Wie bei Feiningers Kin-der-Kids handelt es sich um eine Fortsetzungsgeschichte: Little Nemo begibt sich in seinen Träumen auf eine Reise in das Reich des Königs Morpheus und erlebt dort eine Reihe von Abenteuern. Anders aber als bei den Kin-der-Kids endet jede Episode gleich, nämlich mit dem jähen Erwachen aus dem Traum. Damit ist ein zentrales Strukturprinzip des seriellen Zeitungscomics, die feste, sich täglich oder wöchentlich wiederholende Rahmenhandlung, zumindest im Ansatz vorhanden. Doch McCays Arbeiten bestechen v.a. durch ihre zeichnerische Finesse und Imaginationskraft, die Jugendstil-Elemente mit den schillernden Leuchtreklamen amerikanischer Freizeitunterhaltung – insbesondere aus Vergnügungsparks wie Coney Island – kombiniert. Zu sehen ist dies in einer frühen Episode vom 29. Oktober 1905 (Abb. 6). Ein Clown, der als »King Morpheus’ Messenger« bezeichnet wird, verleitet Nemo dazu, auf Stelzen durch eine bizarre Traumwelt zu wandeln. Wie bei Feininger variieren die Panelgrößen; sie passen sich den langen Stelzen an und werden so zu einem wichtigen grafischen Element. Die Seite tritt als Gesamtkomposition auf, in der die Sicherheit des heimischen Bettes, visualisiert durch die regelmäßigen rechteckigen Panels am Anfang und Ende der Geschichte, von der verzerrten und beängstigenden Traumwelt – den länger werdenden Panels in der Mitte – zwischenzeitlich überwältigt wird. Auch inhaltlich erreicht der Comic Strip damit eine neue Komplexität: Die clownesken Figuren aus der Welt von Coney Island agieren in der Pflanzen- und Tierwelt des Jugendstils. Diese hybride Ästhetik zieht sich wie ein roter Faden durch McCays Gesamtwerk. Wir erkennen in ihr ein Strukturprinzip des amerikanischen Comics insgesamt: die kreative Vermischung bildungskultureller und vernakulärer Einflüsse zu einem explizit kommerziellen, unbedingt fortsetzungsorientierten, in einem Wort: populärkulturellen Produkt. Feiningers Kin-der-Kids und McCays Little Nemo treiben einen diegetischen Prozess voran, der mit Outcaults Yellow Kid seinen Anfang genommen hatte: Die frühen Bildergeschichten der amerikanischen Tageszeitungen lösen sich zunehmend von realistischen und soziokulturell spezifischen Schauplätzen, um stattdessen universal rezipierbare Fantasiewelten – »self-sustaining secondary worlds«32 – zu erschaffen. Die Kin-der-Kids verlassen New York, ohne jemals dorthin zurückzukehren, und Little Nemo verliert sich im unwirklichen Land der Träume, auch wenn er am Ende immer wieder im suburbanen Kinderzimmer aufwacht. Der als Meisterwerk der frühen Zeitungscomics gehandelte Strip, George Herrimans Krazy Kat, führt viele der hier skizzierten Entwicklungen fort: Er verschiebt das

32 A. Gopnik: »Comics«, S. 153.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic Zentrum der Handlung von New York in eine surreal anmutende Landschaft im Südwesten der USA; er lotet die narrativen Möglichkeiten einer sich wiederholenden Rahmenhandlung aus; er schafft Figuren, die sich ihrer Rolle im seriellen Szenario bewusst sind; und er kombiniert die drei formalen Grundelemente der Strips (sequentielle Rahmen, Sprechblasen, serielles Erzählen) mit einer Reihe selbstreferentieller Praktiken, die für die Geschichte der Comics – und für das System popular culture insgesamt – prägend werden. Herrimans Krazy Kat zu analysieren heißt deshalb auch, unsere zweite Frage aufzugreifen: Welche Möglichkeiten ästhetischer Praxis werden durch die ersten seriellen Comic Strips ins Leben gerufen?

Abb. 6. Winsor McCay: Little Nemo in Slumberland (29.10.1905), in: Bill Blackbeard (Hg.): Winsor McCay. Little Nemo in Slumberland; Little Nemo in the Land of Wonderful Dreams, S. 11.

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4. George Herrimans Krazy Kat (1910/1913-1944) Herriman war kreolischer – also gemischt afroamerikanischer und französischer – Herkunft. Hierdurch sah er sich vor ein grundlegendes Problem gestellt: Nach der Rassenlogik seiner Zeit war er ein Schwarzer und damit nicht für eine Karriere in den Grafikabteilungen der großen Zeitungen geeignet. Um als Comic-Zeichner erfolgreich zu sein, verleugnete er seine afroamerikanischen Wurzeln zeitlebens. Das Zeichnen von Comic Strips ermöglichte ihm jedoch, die Erfahrung des »racial passing« kreativ zu bündeln und sich mit Fragen von Schein und Sein in der amerikanischen Moderne auseinander zu setzen. Wie die meisten seiner Kollegen war Herriman ein sozialer Außenseiter: Er wurde 1880 in New Orleans geboren, zog als kleiner Junge mit seinen Eltern an die Westküste nach Los Angeles und kam erst um die Jahrhundertwende ins Zentrum des Comic-Business, nach New York. Er stammte aus einfachen Verhältnissen – der Vater war Bäcker – und genoss weder eine weiterführende Schulbildung noch eine zeichnerische Ausbildung. Anfangs schlug er sich als Zeichner für die Sportseiten durch, dann entwickelte er Comic Strips. Sein erster großer Erfolg war die Serie The Dingbat Family, die er ab 1910 für William Hearsts New York Evening Journal produzierte. Von 1913 bis zu seinem Tod 1944 zeichnete er Krazy Kat. Wie entstand Krazy Kat? Den Grundstein legte Herriman am 26. Juli 1910 eher beiläufig am unteren Rand der Serie The Dingbat Family (Abb. 7). Dort krabbelt parallel zur eigentlichen Handlung eine weiß gekrakelte Maus auf eine etwas dümmlich in der Gegend sitzende Katze zu und knallt dieser Katze einen Kieselstein an den Kopf. Die Katze ist erschrocken und weiß nicht, wie ihr geschah. In den nächsten Wochen und Monaten wird die Fehde zwischen den Tieren fortgesetzt. Schon bald gibt Herriman dem Geschehen einen eigenen bottom strip. Das Katz-und-Maus-Spiel ist nunmehr formal eigenständig, auch wenn es noch keinen Titel hat. Bald bekommt die Katze auch einen Namen: »Krazy Kat« wird sie von der Maus ob ihrer Einfältigkeit und ihrer verqueren Liebe für eben diese Maus, Ignatz, getauft. Die beiden werden so populär, dass sie bald in einem eigenen daily strip mit dem Titel Krazy Kat erscheinen; ab 1916 kommen größere Zeichnungen für die Sonntagszeitungen hinzu; der Strip endet nun regelmäßig mit Ignatz’ Ziegelsteinwurf, den die Katze als ein Zeichen der Liebe interpretiert. Modern im Sinn populärer Serialität ist hier das bereits mit Bezug auf Spy vs. Spy angesprochene Prinzip von Variation und Improvisation innerhalb eines festen Handlungsgerüsts. Dieses Prinzip, einfach wie es scheint, ist un-

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic heimlich produktiv: Über mehr als drei Jahrzehnte hinweg gelingt es Herriman, aus der Reproduktion seiner Minimalhandlung einen außergewöhnlich wandlungsreichen Comic Strip zu schaffen.

Abb. 7. George Herriman: The Dingbat Family (26.7.1910), in: Ders.: The Family Upstairs, S. 11.

Aufschlussreich im Kontext dieser Entstehungsgeschichte ist Herrimans Begründung für den Strip im Strip. Der kurze Slapstick-Auftritt von Katze und Maus in der Dingbat Family sollte unverwertbarem Raum füllen: »to fill up waste space«, in Herrimans eigenen Worten.33 Damit ist die Gattungsgenese der frühen Comics prägnant formuliert: So wie sich Katze und Maus vom Unten des sonst unverwertbaren Raumes ins Oben des eigentlichen Strips drängen, so bewegt sich der Comic Strip im Zuge seiner Entwicklung vom Randbereich ins Zentrum kultureller Produktion. Gerade wegen seiner Lässlichkeit dient der Comic in der amerikanischen Moderne – bis heute – als Lieferant für die unterschiedlichsten populärkulturellen Medien, wo er beständig neue Ausdrucks- und Konsumformen ins Leben ruft.34 Auch die anthropomorphen Figuren Herrimans lassen vielfältige Anschlüsse und Projektionen zu: Sie pflegen einen spielerischen Umgang mit ihrer Identität und stellen auf diese Weise eine weite Auswahl an Deutungs- und Identifikationsmöglichkeiten bereit. So ist das Geschlecht der Titelfigur Krazy Kat nicht eindeutig bestimmbar: Das verrückte Tier ist androgyn. In Herrimans Worten: »I realized Krazy was something like a sprite, an elf. They have no sex. So that Kat can’t be a he or a she. The Kat’s a spirit – a pixie – free to butt into anything.«35 Krazy selbst ist nicht ganz sicher, welchem Geschlecht er/sie angehört. Wiederholt fragt die Katze sich, ob sie denn eine Tante oder ein Onkel sei, ein unverheiratetes Fräulein 33 Zit. n. Patrick McDonnell/Karen O’Connell/Georgia R. de Havenon: Krazy Kat. The Comic Art of George Herriman, New York: Abrams 1986, S. 52. 34 Platthaus’ Kapitel zu Krazy Kat thematisiert einige der Fragen, mit denen wir uns in diesem Abschnitt beschäftigen. Vgl. A. Platthaus: Im Comic vereint, S. 21-44, insbes. S. 23. 35 Zit. n. P. McDonnell/K. O’Connell/G.R. de Havenon: Krazy Kat, S. 54.

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Frank Kelleter & Daniel Stein oder ein Junggeselle.36 Neben ihrer Androgynität ist die Katze von ethnisch unbestimmter Herkunft: Meist ist sie schwarz (wie es viele Katzen nun einmal sind), aber manchmal wird sie weiß, wie z.B. in einem Strip vom 6. Oktober 1935.37 Im Schönheitssalon lässt sich Krazy eine weiße Fellfarbe verpassen, und ihre Körpersprache verschiebt sich damit zum Weiblichen. Erst als die jetzt weibliche Katze ihr Taschentuch mit den Initialen K.K. fallen lässt, erkennt Ignatz, um wen es sich handelt. Krazys Schlussbemerkung ist besonders bedeutsam: »L’il Tutsi-Wutsi thinks because I change my kimplection I should change my name.« Vor dem Hintergrund von Herrimans komplizierter ethnischer Identität ist dieser Satz alles andere als unschuldig; über Krazy sagt Herriman in einem Strip vom 17. Juni 1917: »We call him ›cat‹, we call him ›crazy‹ yet he is neither.«38 Auch wenn wir hier noch weit von Verkleidungshelden wie Superman und Spider-Man entfernt sind, ist die Fähigkeit zur Identitätswandlung in Herrimans Titelfigur schon zentral gesetzt. Aber v.a. sind Krazy, Ignatz und die dritte Figur im Bunde, der Hund Offissa Pupp, lustige Figuren. Ihre Namen drücken das schon aus: Die Katze ist verrückt – Krazy – und die unkonventionelle Schreibweise ihres Namens, das doppelte K, macht das auch orthografisch sichtbar. Auch der Name des Hundes folgt der Konvention der komischen Divergenz: Laute werden verschoben und Buchstaben gedoppelt. Eine Maus Ignatz zu nennen, ist an sich schon komisch; es wird durch die witzige Physiognomie des Tiers sowie durch regelmäßige Verweise auf dessen jüdische Herkunft noch verstärkt: der jüdische Einwanderer als emsiger Underdog bzw. Undermouse. Ignatz hat übergroße Ohren; seine dünnen Beinchen, der krakelige Schwanz und sein mit wenigen Tuschestrichen gezeichnetes Gesicht verkörpern endlose Energie und den unbändigen Willen, die Katze zu erwischen. Auch Krazys Physiognomie lädt unmittelbar zum Schmunzeln ein, denn die Naivität der Katze wird durch den rundlichen Körper, das dandyhafte rote Halstuch, die

36 Abgedruckt sind die Strips in der Einleitung zu Bill Blackbeard/Derya Ataker (Hg.): »Necromancy by the Blue Bean Bush«. The Complete Full Page Strips, 1933-1934, Seattle: Fantagraphics 2004, S. 16f. 37 Bill Blackbeard (Hg.): Krazy and Ignatz. The Complete Full-Page Comic Strips, 1935-1936, Seattle: Fantagraphics 2005, S. 52. Zur Rolle afroamerikanischer Elemente in Krazy Kat vgl. Eyal Amiran: »George Herriman’s Black Sentence. The Legibility of Race in Krazy Kat«, in: Mosaic 33 (2000), H. 3, S. 57-79; Jeet Heer: »The Kolors of Krazy Kat«, in: B. Blackbeard (Hg.): Krazy and Ignatz. The Complete Full-Page Comic Strips, 1935-1936, S. 815; Daniel Stein: »The Comic Modernism of George Herriman«, in: Jake Jakaitis/James Wurtz (Hg.): Visual Crossover. Reading Graphic Narrative and Sequential Art, in Vorbereitung. 38 Zit. n. P. McDonnell/K. O’Connell/G.R. de Havenon: Krazy Kat, S. 28.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic großen Augen und den einfältigen Gesichtsausdruck grafisch eindrücklich umgesetzt. Die sich stets wiederholende Handlung beschreibt im Grunde eine tragisch-komische Dreiecksbeziehung. Ignatz pfeffert der nervigen Katze regelmäßig einen Ziegelstein an den Kopf: »to crease that kat’s noodle«, nennt er das in der für Herriman typisch alliterierten und bildhaften Sprache. Die Katze fehlinterpretiert diesen Akt als Liebesbeweis, während Offissa Pupp, der Hüter von Recht und Ordnung, das Verbrechen zu verhindern sucht und Ignatz in fast jeder Episode ins Gefängnis steckt. Herriman nimmt damit zwei entscheidende Kunstgriffe vor: Zum einen verschmilzt er Geschichten und Figuren aus dem reichhaltigen Angebot der Bildungskultur mit dem vernakulären Humor des Vaudeville-Theaters: Der römische Gott Amor wird zur jüdischen Einwanderermaus Ignatz, der Liebespfeil zum banalen Ziegelstein. Solche und andere Fusionen bringen eine ungemein potente Mischung hervor, die ihrerseits zum Impulsgeber für die ästhetische Avantgarde wird. Das oft beschworene parasitäre Verhältnis der Populärkultur zur Bildungskultur kehrt sich gewissermaßen um. Zu den Fans von Herrimans Strip gehörten Gertrude Stein, Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, T.S. Eliot, H.L. Mencken, e.e. cummings, Pablo Picasso und William de Kooning.39 Zum anderen verdreht Herriman die intuitive Logik bekannter Weltzusammenhänge, dies aber mit großer Selbstverständlichkeit: Die Katze liebt die Maus wider ihre Natur, und auch die Maus sollte wohl eher flüchten als die Katze zu attackieren. In ihrer unerwarteten Plausibilität verleihen solche Verdrehtheiten dem Strip eine unbedingt moderne Facette, denn in einer mobilen Gesellschaft wie der amerikanischen kann die Einwanderermaus vom Gejagten zum Jäger werden (ganz so wie sich die jüdischen Brüder Warner mit Tonfilmen wie The Jazz Singer oder mit wild orchestrierten Cartoons

39 Cummings bekundet seine Zuneigung zu Krazy Kat 1946 im Swanee Review. Vgl. e.e. cummings: »A Foreword to Krazy«, in: George J. Firmage (Hg.): A Miscellany, New York: Argophile 1958, S. 102-106. Zur Einordnung von Herriman in die literarischen und visuellen Spielarten des amerikanischen Modernismus vgl. A. Gopnik: »The Genius of George Herriman«, in: The New York Review of Books (18.12.1986), URL: http://www.nybooks. com/articles/4918, Datum des Zugriffs: 10.4.2008. Vgl. auch M. Thomas Inge: Comics as Culture, Jackson: University Press of Mississippi 1990, S. 41-57; Thierry Groensteen: Krazy Herriman, Angoulême: CNBDI 1997; Joachim Kalka: »Mond und Ziegelstein. George Herrimans Comic-Strip Krazy Kat«, in: Ders.: Hoch unten. Das Triviale in der Hochkultur, Berlin: Berenberg 2008, S. 53-61; D. Stein: »The Comic Modernism of George Herriman«, in Vorbereitung. Eine kunstgeschichtliche Einordnung bietet Daniela Kaufmann: Der intellektuelle Witz im Comic. George Herrimans Krazy Kat, Graz: Grazer Universitätsverlag 2008.

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Frank Kelleter & Daniel Stein wie den Looney Tunes von gesellschaftlichen Außenseitern zu Schlüsselfiguren der kulturellen Produktion wandelten).

Abb. 8. George Herriman: Krazy Kat (7.7.1935), in: Bill Blackbeard (Hg.): Krazy and Ignatz. The Complete Full-Page Comic Strips, 1935-1936, S. 39.

Der Schauplatz von Krazy Kat ist Cococino County, ein kleiner und von der Welt weitgehend abgeschotteter Ort in der Wüste Arizonas.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic Dieser Schauplatz hat zwei zentrale Funktionen. Erstens dient er als visueller Hintergrund, vor dem sich die Handlung abspielt. Die Landschaft garantiert serielle Kontinuität, ist zugleich aber immer in Bewegung, folgt keinen Naturgesetzen und wirkt oft surreal, wie in der Sonntagsseite vom 7. Juli 1935 zu sehen ist (Abb. 8).40 Die Akteure – Ignatz, Krazy und die Klatschtante Mrs. Kwak Kwak – stehen auf der Stelle, während sich Szenerie und Tageszeiten beständig wandeln. Zweitens bietet Cococino County Raum für unterschiedlichste Kulturkontakte; insbesondere mexikanische und indianische Kontexte werden von Herriman wiederholt aufgerufen. Die abgebildete Episode widmet sich Krazys erster Begegnung mit einer Tortilla; es treten mexikanische Figuren wie Mrs. Marihuana Pelona auf. Der amerikanische Südwesten mit seinen Mesas und Kakteen ist in der amerikanischen Ikonografie eng mit dem Leben und Schicksal der indianischen Urbevölkerung verbunden; Herriman verziert viele seiner Strips zusätzlich mit kunstvollen Umrandungen, Töpferarbeiten, Kissen, Teppichen und farbenfrohen Steinformationen, die einer indianischen Ästhetik entlehnt sind. Daneben trägt Krazy ab und an einen Sombrero, so wie Herriman selbst. Zusammen mit dem gelegentlich afroamerikanischen Krazy, dem jüdischen Ignatz und dem wohl irischen Offissa Pupp lassen solche Bildlichkeiten ein entschieden multikulturelles Universum entstehen, ein heterogenes Identitätsgefüge, dessen Figuren dennoch in relativer Handlungsstabilität zu leben scheinen. An diesem fantastischen Ort findet Krazys demokratische Mixtur aus unzähligen Soziolekten, Dialekten und Fremdsprachen ihren Platz: Krazy spricht amerikanischen Slang und afroamerikanischen Dialekt, vermischt mit jiddischen Sprachfetzen sowie spanischen und französischen Einflüssen.41 Das Ergebnis ist eine Kreolsprache, die durch Malapropismen und Sprachspiele angereichert wird. Dazu kommen literarische Anspielungen auf Cervantes und v.a. Shakespeare: »A cheese, a cheese, my king’s-dim for a cheese!!« Dieses Sprachgemisch schafft produktive Missverständnisse und wird oft zum heimlichen Motor der seriellen Erzählproduktion. Die hybride Linguistik der Figuren ermöglicht nämlich eine Vielzahl von Variationen, mit denen Herriman die sich wiederholende Rahmenhandlung immer neu aktualisiert. Ein früher Strip vom 6 Januar 40 Zur Funktion des Horizonts als grafischem Indikator von Zeit und Raum vgl. Jens Balzer: »Der Horizont bei Herriman. Zeit und Zeichen zwischen Zeitzeichen und Zeichenzeit«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Schmidt 2002, S. 143-152. 41 Zur Sprache der verrückten Katze vgl. M.T. Inge: Comics as Culture, S. 4157; Edward A. Shannon: »›That we may mis-unda-stend each udda‹. The Rhetoric of Krazy Kat«, in: Journal of Popular Culture 29 (1995), H. 2, S. 209-222.

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Frank Kelleter & Daniel Stein 1918 erklärt Herrimans kreativen Ansatz: »Why is ›lenguage‹?«, fragt Krazy und kommt am Ende zum Schluss: »That we may mis-undastend each udder.«42 Im Schmelztiegel der amerikanischen Moderne mögen die Sprachen verschiedener ethnischer Gruppen zu Missverständnissen führen, aber für die Gestaltung populärkultureller Artefakte sind sie ein gefundenes Fressen. Mit Herriman gesprochen, haben wir es in seinen Comic Strips mit einem »Tower of Babble«, einem Turm des lustigen Geschwätzes, zu tun, nicht mit der identitätspolitischen Verhinderung menschlicher Kommunikation.43 In einer durchgängig multikulturellen und polyglotten Gesellschaft ist jedes Individuum immer auch ein Schauspieler. Auch die Welt von Krazy Kat ist eine Welt unablässiger Performanz. So ist, wie schon erwähnt, die geschlechtliche und ethnische Identität der Katze flexibel, was Verwirrung, aber auch komische Situationen produziert. Auch werden alle Eigennamen – »Krazy Kat«, »Ignatz Mouse«, »Offissa Pupp« – immer in Anführungszeichen gesetzt; die Akteure sind Figuren im Alltagstheater des Cococino County. Ein weiteres Beispiel liefert eine Episode, in der Krazy über seine schauspielerischen Fähigkeiten sinniert und Ignatz mitteilt: »Movink pitcher ectink, ›Mice‹, already gives me such play for my dremetic telents I got menegers runnink efter me – me I’m a tragedian ›Ket‹, ›Ignatzes‹, where as you aint nothink but a komedian ›Mice‹ – I could do 52 weeks in Hemlet only I don’t like the little willages.«44 Krazy wählt einen jiddischen Akzent – »Movink«; »ectink«; »runnink« –, was in Anbetracht des Erfolges von Al Jolson als Schauspieler ziemlich lustig ist.45 Der Verweis auf die klassischen Gattungen Tragödie und Komödie ist doppeldeutig: Einerseits ist Krazy eine tragische Figur, denn die Katze verkennt, dass Ignatz den Ziegelstein nicht aus Liebe, sondern aus Abneigung wirft. Anderseits ist genau dieses tragische Element der komische Kern des Strips. Und wie so häufig liefert Krazys Naivität – der Zwang, alles wörtlich zu verstehen – die Pointe. Krazy kann sich zwar vorstellen, ein Jahr lang den Hamlet zu geben, aber er mag eigentlich keine kleinen Dörfer. Das Wortspiel ergibt sich aus der Doppelbedeutung von »hamlet«: Das Wort verweist zum einen auf Shakespeares tragischen Helden, zum anderen benennt es eine Ansammlung von Gehöften, zu deutsch »Weiler«, und damit »little willages«.

42 P. McDonnell/K. O’Connell/G.R. de Havenon: Krazy Kat, S. 61. 43 Daily strip vom 17.8.1920; P. McDonnell/K. O’Connell/G.R. de Havenon: Krazy Kat, S. 90. 44 Zit. n. Neil Schmitz: Of Huck and Alice. Humorous Writing in American Literature, Minneapolis: University of Minnesota Press 1983, S. 141. 45 Zur kulturgeschichtlichen Einordnung Al Jolsons in die amerikanische Populärkultur vgl. F. Kelleter: »Schallmauern im Lichtspielhaus«.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic Wiederholt entwirft Herriman die Rahmen seiner Strips als Bühne. Er zeichnet Bühnenvorhänge, wo keine hingehören; er entlarvt den Hintergrund als Bühnenbild. Einmal reduziert er die Handlung auf ihre dramatischen Funktionen – »we plot«; »climax«; »finale«; »overture«; »rehearse« (Abb. 9). Ein anderes Mal nutzt er die Rahmen als Requisite: Die Tinte fließt von ganz oben im Bild quer durch den Strip (Abb. 10). Insbesondere das Ausbrechen der Tinte aus den Panels illustriert die ironische Selbstbeobachtung, die Herrimans Strip zum reflektiertesten unter den frühen Comics macht. In einer Episode liest Krazy den eigenen Strip in der Sonntagszeitung: »Why, gosh goodness!! There’s me in this paper. And likewise Ignatz also – Jee-wizzil.«46 Hin und wieder sprechen die Figuren Herriman direkt an; in einer späten Episode überschreitet Ignatz die Grenzen der fiktiven Welt; er spricht vom dritten Bild (»third picture«) und gibt sich so als eine Comic-Figur zu erkennen, die um ihre Figurenhaftigkeit weiß. Folgerichtig bedankt sich Ignatz bei seinem Zeichner für die Extra-Tinte: »Thanks for the extra ›ink‹, boss.«47 Einmal springen Krazy und Ignatz sogar zurück ins Tintenfass und lösen sich damit auf; ein anderes Mal wird Herriman selbst zur Comic-Figur.48 Die offensiv markierte Selbstreferentialität von Herrimans Strip – Krazy Kat als Meta-Comic – stellt den ersten Höhepunkt einer Entwicklung dar, die mit Outcaults Strichmännchen-Graffiti des Yellow Kid auf den Häuserwänden New Yorker Immigrantenviertel begonnen hatte. Die frühen amerikanischen Comic Strips entstammen einem Schmelztiegel, in dem verschiedenste kulturelle und ästhetische Einflüsse nicht nur aufeinander treffen, sondern ihr Zusammentreffen selbst zum Thema und Ziel der eigenen ästhetischen Arbeit machen. Die Heterogenität von Künstlern und Publika sowie die kommerzielle Funktion der Comics führen dabei, wie bemerkt, zur raschen Etablierung konventioneller ästhetischer Formen: dem sequentiellen Erzählen in Panels, der gleichberechtigten Kombination von Wort und Bild und der endlosen Variation einer komischen Grundsituation innerhalb einer festen Rahmenhandlung. Die Spannung zwischen Reproduktion und Fortsetzung, Invarianz und Innovation, die diese Formen in Atem hält, kann als das zentrale Strukturprinzip der Ästhetik populärer Serialität, ja, vielleicht des historischen Systems der amerikanischen Populärkultur insgesamt identifiziert werden. 46 16.4.1922; P. McDonnell/K. O’Connell/G.R. de Havenon: Krazy Kat, S. 169. 47 13.9.1940; ebd., S. 101. 48 7.3.1919; vgl. ebd., S. 89. Ein Selbstportrait für das Judge Magazin (21.10.1922) zeigt Herriman als Comic-Figur, die sich, umringt und unterstützt von Ignatz, Krazy und weiteren Figuren aus dem Krazy Kat-Strip, den Kopf über die nächste Episode zerbricht. Vgl. ebd., S. 24.

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Frank Kelleter & Daniel Stein

Abb. 9. George Herriman: Krazy Kat (25.1.1942), in: Bill Blackbeard (Hg.): Krazy and Ignatz. »A Ragout of Raspberries«, 1941-1942, S. 69.

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Der frühe amerikanische Zeitungscomic

Abb. 10. George Herriman: Krazy Kat (5.11.1939), in: Bill Blackbeard (Hg.): Krazy and Ignatz. »A Brick Stuffed with Moom-Bims«, 1939-1940, S. 56.

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Frank Kelleter & Daniel Stein

5. Schlussbemerkung Der populärkulturelle Reichtum der USA verdankt sich genau jener außergewöhnlichen ethnischen und sozialen Vielfalt, die für Kolonial- und Einwanderungskulturen typisch ist. Dieser populärkulturelle Reichtum bringt die Modernität der ihn tragenden Gesellschaft zum Ausdruck; er basiert auf dem einzigartig ausdifferenzierten Konflikt zwischen traditionsorientierten und post-traditionalistischen Praktiken kultureller Reproduktion. Dies hilft erklären, weshalb ästhetische Neuerungen in der modernen Populärkultur oft als formale Verschmelzungen auftreten, die von Minderheiten und nicht-elitären Gruppen im Austausch mit einer urbanen oder kommerziellen Mainstream-Kultur getragen werden. Man denke an die Rolle weiblicher Autorinnen für die Entstehung des sentimentalen Romans im 18. Jahrhundert, man denke an Ragtime im späten 19. Jahrhundert als urbane Erneuerung der Musiktradition afroamerikanischer Sklaven, man denke eben an die Bedeutung jüdischer Immigranten für die Geschichte des amerikanischen Comics – oder an Rock ’n’ Roll im Spannungsfeld zwischen Jugendbewegung und Unterhaltungsware. All dies ist keine »Volkskultur« mehr, keine gruppenexpressive Ästhetik, auch nicht in der kulturanthropologisch reputierlichen Form karnevalesker folk culture oder neo-romantischer Popularkultur. All dies ist tatsächlich Populärkultur, popular culture, verstanden als moderne, industrialisierte, schamlos kommerzielle, aber damit auch einzigartig flexible und erfindungsreiche Kultur der Hybridisierung, Komikalisierung, Trashifizierung: »this great, mad, new American art form« – eine potenziell global wirksame, wundersam einfache und oft wundersam komische Ästhetik.

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Einbruch der Zeit. Zu einem Zwischenraum und einem Textkasten in Frank Kings Gasoline Alley ANDREAS PLATTHAUS

Dass Raum für Comics eine bedeutende Rolle spielt, ist leicht zu verstehen: Jede Abfolge von Bildern benötigt ein Arrangement, und die Anschaulichkeit der einzelnen Panels und Seiten begründet zugleich auch ihre Begrenztheit. Wo man sich bei Belletristik nur in den seltensten Fällen (zum Beispiel der Konkreten Poesie) Gedanken über das Ausmaß der Fläche macht, auf der erzählt wird, tut man es bei Comics andauernd – es ist ihr gleichsam narratives Prinzip, dass sie einer bestimmten Ökonomie unterliegen, mit der es die Bilder zu gestalten gilt. Schließlich können Comics anders als geschriebene Literatur kein Erzählkontinuum suggerieren, weil nach jedem Panel ein Abbruch erfolgt, eine Lücke zum nächsten Einzelbild, die vom Leser gefüllt werden muss. So wird in den Zwischenräumen die Raumfrage immer neu gestellt, und es zeugte von der Unvertrautheit mit den neuen Bedingungen des eigenen Schaffens, dass die meisten frühen Comic-Zeichner der amerikanischen Zeitungsstrips an der Wende von neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert ihre Panels unmittelbar aneinander grenzen ließen, um diesen Übergang zu verschleiern. Gerade durch diese Gedrängtheit der Seitenarchitektur wurde die prekäre Frage des Raums spürbar. Anders verhält es sich in den Comics mit der Zeit. Ihre Wahrnehmung unterscheidet sich nicht wesentlich bei geschriebener und gezeichneter Literatur. Sie wird in beiden Fällen wahrnehmbar durch den Ablauf des Lesens und durch Beschreibung. Letztere indes hat beim Comic Elemente hervorgebracht, die, dem Genre gemäß, grafische sind und der Belletristik nicht zur Verfügung stehen. Deren Entwicklung jedoch brauchte – es mag banal klingen – Zeit. Erst wachsende Erfahrung und Souveränität im Umgang mit der eigenen Form ermöglichte Lösungen, die dann vor allem darin

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Andreas Platthaus bestanden, dass der Zeitverlauf paradoxerweise räumlich spürbar wurde. Ein markanter Einbruch der Zeit in die Geschichte des Comics erfolgte am Dienstag, den 20. September 1921. Sie suchte sich dazu den Raum zwischen dem ersten und dem zweiten Panel einer Folge des Zeitungscomics Gasoline Alley1 und folgende Gestalt aus: In den Zwischenraum der beiden Einzelbilder wurde am oberen Rand ein kleiner Textkasten eingezeichnet, aus dem ein Pfeil nach unten ragte. In dem Kästchen konnte man lesen, wie massiv die Intervention der Zeit ausfiel: »This space indicates elapse of 3 hours« (Abb. 1).

Abb. 1. Frank King: Gasoline Alley (20.9.1921), in: Ders.: Walt & Skeezix, o.S.

Der englische Begriff »elapse« hat seine etymologische Wurzel in der griechischen »Ellipse«. Beides bezeichnet eine bewusste Auslassung. Das Interessante an der Gasoline Alley-Folge vom 20. September 1921 ist nun, dass dieser Verzicht gegenständlich wird – in der Distanz zwischen den beiden Bildern. Denn auch Frank King, Autor und Zeichner der Serie, pflegte damals noch in der üblichen Manier der Frühzeit der Comics seine Panels unmittelbar aneinander zu zeichnen, obwohl es mittlerweile längst Kollegen gegeben hatte – darunter etwa den bedeutendsten Pionier des Comic Strips, Winsor McCay, oder auch den nur kurz, nämlich in den Jahren 1906/07, als Comic-Zeichner aktiven Lyonel Feininger –, die konsequent Zwischenräume verwendeten. Das tat King auch, aber nur in den ganzseitigen Sonntagsfolgen von Gasoline Alley, bei denen das gewaltige Format eine großzügige Seitenarchitektur verlangte. In den von Montag bis Samstag laufenden Werktagsfolgen, die jeweils aus einem über die Breite der Zeitung laufenden Streifen bestanden, aber benutzte King keine Abstände zwischen den Bildern, und das hatte

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Die Folge ist unter dem entsprechenden Datum nachgedruckt in Frank King: Walt & Skeezix. 1921 & 1922, hg. v. Chris Ware, Montreal: Drawn & Quarterly 2005. Die mittlerweile bis zum vierten Band gelangte Gesamtausgabe der Gasoline Alley-Werktags-Episoden seit 1921 darf aus rechtlichen Gründen nicht den ursprünglichen Titel tragen.

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Zu Frank Kings Gasoline Alley auch einen guten inhaltlichen Grund: Die in seinen Strips geschilderten Ereignisse waren zwar als separate Momentaufnahmen gezeichnet, bildeten aber in ihrer Abfolge ein erzähltes Kontinuum, das sich selbst auch in engstem zeitlichen Rahmen bewegte. Bildlich gesprochen schilderte uns Frank King in den Anfangsjahren von Gasoline Alley einen Handlungsfluss, der als ununterbrochen gedacht werden muss, auch wenn jede einzelne Folge der Serie im Regelfall aus vier Bildern bestand. Doch das Gesamtgeschehen der jeweiligen Episode umfasste eine Dauer, die King selbst sich als annähernd identisch mit dem Zeitraum vorgestellt hat, den seine Leser für die Lektüre benötigten. Bestenfalls wurde in den einzelnen Folgen ein Zeitraum von einigen Minuten erzählt; immer aber war es eine unmittelbare Abfolge, die den Gegenstand des täglichen Geschehens bildete. Bis zum 20. September 1921. Um die Bedeutung des aus heutiger Sicht unscheinbaren Einbruchs der Zeit an jenem Tag einschätzen zu können, muss man sich der Rolle von Gasoline Alley in der Geschichte des Comics bewusst sein.2 Die Serie entstand mehr oder minder zufällig, denn als der 1883 geborene Frank King im Jahr 1914 für die Tageszeitung The Chicago Tribune eine neue gezeichnete Rubrik konzipierte, nannte er sie noch The Rectangle. In dieses Rechteck, das nichts anderes bezeichnete als die ganze Zeitungsseite, die King jeden Sonntag zu füllen hatte, zeichnete er keine fortlaufende Handlung, sondern ein Arrangement von schwarz-weiß gestalteten Einzelszenen humoristischen Inhalts, die jeweils ein frei gewähltes Motto illustrierten. Es war also eine gezeichnete Witzseite, die King da produzierte, kein Comic Strip, obwohl er selbst schon seit fünf Jahren Comics für die Tribune zeichnete und das auch weiter tat: Kurz nach der Einführung von The Rectangle begann er etwa 1915 für die Zeitung eine weitere neue Serie namens Bobby Make-Believe, die von den Abenteuern eines kleinen Jungen erzählten, die sich nach dem Vorbild von Winsor McCays Little Nemo in Slumberland überwiegend in dessen eigener Phantasie abspielten. King war aber auch regelmäßig als editorial cartoonist tätig, zeichnete also Illustrationen und Karikaturen, die Artikeln beigegeben waren, und eine ähnliche Funktion erfüllte auch The Rectangle: Die Zeichnungen der Seite nahmen zwar nicht unmittelbar Bezug auf Texte, dienten aber als Auflockerung der Sonntagsausgabe. Deshalb erschienen die einzel2

Erste Überblicke dazu bieten Donald Phelps: Reading the Funnies. Essays on Comic Strips, Seattle: Fantagraphics 2001, S. 197-211; Maurice Horn (Hg.): 100 Years of American Newspaper Comics. An Illustrated Encyclopedia, New York: Gramercy 1996, S. 130f.; Karal A. Marling: »Walt Wallet Lives!«, in: John Carlin/Paul Karasik/Brian Walker (Hg.): Masters of American Comics. New Haven: Yale University Press 2005, S. 211-215 sowie die Vorworte von Jeet Heer in F. King: Walt & Skeezix.

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Andreas Platthaus nen Seiten auch nicht an einem festen Platz – und schon gar nicht im sonntäglichen farbigen Comic-Teil der Tribune –, sondern wurden je nach Bedarf eingesetzt. So schmückte The Rectangle z.B. am 24. November 1918 die erste Seite des Automobilteils der Zeitung.3 Dessen Bedeutung kann gar nicht überschätzt werden. Mit dem Modell T des Herstellers Ford war das Auto zwar noch nicht zum Massenphänomen nach heutigem Maßstab geworden, doch der günstige Preis dieses Kraftwagens hatte erstmals größeren Bevölkerungskreisen in Amerika ermöglicht, sich ein Auto zu kaufen. Motorisierte Gefährte waren damals indes anfällig, und ihre Fahrer deshalb häufig dazu gezwungen, Reparaturen selbst vorzunehmen. Es bildeten sich im privaten Umfeld Freundeskreise zum entsprechenden Erfahrungsaustausch, die nicht selten auch gemeinsam kleine Werkstätten betrieben, deren Ausstattung sich eine Einzelperson gar nicht hätte leisten können. Daraus entwickelten sich Nachbarschaftstreffpunkte, die vor allem am Sonntag, dem einzigen freien Tag der Woche, zu regelrechten Kommunikationsbörsen wurden. Umso interessanter war es für Zeitungen, dieses Publikum zu erreichen. Für die immer weiter wachsende, nahezu ausschließlich männliche Zielgruppe der Autofahrer und -bastler entwickelten die Pressehäuser deshalb neue Beilagen, die Ausflugstipps und Reiseschilderungen mit praktischen Ratschlägen für den Umgang mit Kraftwagen kombinierten. Als King seine Beilagen-Titelseite vom 24. November 1918 zeichnete, überlegte er sich als spezielle Zugabe für die automobilinteressierte Leserschaft eine kleine Sektion innerhalb von The Rectangle, die sich einer Gruppe von Figuren widmen sollte, die das taten, was auch das anvisierte Publikum vollzog: Sie trafen sich am freien Sonntag, um gemeinsam an ihren Autos zu basteln und dabei über Gott und die Welt zu sprechen. In der Folge vom 24. November sieht man einen Hinterhof, in dem insgesamt neun Männer mit der Reparatur von zwei Wagen beschäftigt sind und dabei munter miteinander plaudern (Abb. 2). Ganz links im Bild befindet sich der einzige namentlich genannte Akteur: ein Herr, den die anderen »Doc« rufen, und das Geschehen in dem vor Figuren und Sprechblasen überbordenden Panel wird auch in einer Textzeile am Fuß der Seite zusammengefasst, die »Doc’s car won’t start« lautet. Damit schien die frisch etablierte Serie in The Rectangle einen eindeutigen Protagonisten zu haben. Doch der eigentliche Titel der neuen Sektion findet sich oben links in dem Einzelbild, und er lautet Sunday Morning in Gasoline Alley. Auf der Witzseite war damit eine ComicSerie etabliert.

3

Die Folge vom 24. November 1918 ist nachgedruckt in F. King: Walt & Skeezix, S. 25.

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Zu Frank Kings Gasoline Alley

Abb. 2. Frank King: The Rectangle (24.11.1918), in: Ders.: Walt & Skeezix, o.S.

Mit deren Titel waren zwei entscheidende Setzungen vollzogen: Der Ort der Handlung war als »Gasoline Alley« bezeichnet und die Zeit der Handlung explizit auf jenen Moment festgelegt, in dem die Leser mutmaßlich The Rectangle betrachten würden. Frank King etablierte damit etwas, was es zuvor im Comic nicht gegeben hatte: die Gleichzeitigkeit von erzähltem Geschehen und Lektüre. Woche für Woche berichtete er nun weiter von den kleinen Ereignissen in der Gasoline Alley, und jedes Mal war seit der letzten Episode auch genau eine Woche vergangen; es wurde also nie über größere Strecken

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Andreas Platthaus erzählt, sondern die Einzelbilder hielten von Beginn an jeweils einen konkreten Moment des aktuellen Tages fest. Im Laufe der nächsten Monate wurden weitere feste Figuren eingeführt, sodass das Personal von Sunday Morning in Gasoline Alley sich schließlich auf vier Männer konzentrierte: Doc, Avery, Bill und Walt – alles Autonarren, wie auch Frank King selbst einer war, der dieses Quartett nach Vorbildern aus seinem eigenen Familien- und Bekanntenkreis gestaltet hatte. Und drei von den Herren bekamen auch Frauen zur Seite gestellt: Doc war mit Hazel verheiratet, Bill mit Amy, Avery mit Emily. Nur Walt kannte keine andere Liebe als die zu seinem Wagen. Dafür bekam er als einziger auch einen Nachnamen: Wallet. Die kleine Serie auf der Rectangle-Seite erfreute sich bald solcher Beliebtheit bei den Lesern, dass die Chicago Tribune King anbot, sie täglich in der Zeitung zu publizieren. Am 24. August 1919 erschien die erste eigenständige Folge, die natürlich nun nicht mehr Sunday Morning in Gasoline Alley heißen konnte, denn King behielt sein Konzept der Einheit von erzählter Zeit und Lesezeit bei: Jede Episode war weiterhin an genau dem Tag angesiedelt, an dem sie erschien. Das war unausgesprochen auch bei den anderen Comic Strips so, doch King machte daraus das zentrale narrative Gestaltungsprinzip seiner Geschichte. In der imaginären Welt der nie namentlich erwähnten Kleinstadt irgendwo im mittleren Westen, die Doc und seine Freunde bevölkerten, war nur ein Element höchst konkret: der Zeitablauf. Man feierte dort die wichtigen amerikanischen Festtage wie Weihnachten, Unabhängigkeitstag oder Erntedankfest, und natürlich ging man am Wahltag auch dort wählen. So konnte es nicht überraschen, dass auch der 14. Februar 1921 ein besonderes Datum für das Personal von Gasoline Alley war: Valentinstag. Erstaunlicherweise widmete sich King jedoch an diesem Tag der Liebe desjenigen seiner vier männlichen Protagonisten, der bislang als Einzelgänger konzipiert war: Walt Wallet. Der war allerdings im Laufe von nunmehr anderthalb Jahren Laufzeit des Strips zum heimlichen Helden von Gasoline Alley geworden, und wenn man sich die Figur ansieht, ist auch klar, warum. Walt ist der mit Abstand am gefälligsten gezeichnete Akteur, groß, rundlich, das Gesicht reduziert auf wenige Linien – der Inbegriff einer Cartoon-Figur. Seine Mitstreiter dagegen wiesen noch die aus den Zeiten der wöchentlichen Witzseite stammenden eher karikaturesken Gestaltungsmerkmale auf, die sie im Tagesgeschäft eines Comic-Zeichners eher umständlich zu skizzieren machten. Doc etwa trug stets Zylinder und Brille, Avery hatte ein zerknautschtes Gesicht mit Schnauzbart, Bill ein ausdrucksvoll vorstehendes Unterkinn, und alle drei waren schlaksige Gestalten. Walt Wallet dagegen war wie aus dem Musterbuch einer künftigen Comic-Ästhetik entnommen, die heute als ligne claire bezeichnet wird. Der Über-

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Zu Frank Kings Gasoline Alley gang der Position des zentralen Protagonisten von Doc auf den einzigen Junggesellen geschah schleichend, aber 1921 waren die Rollen bereits klar verteilt. An jenem 14. Februar 1921 entdeckte Walt ein Findelkind vor seiner Haustür, ein Neugeborenes, das seine Mutter ausgesetzt und dem ihr angeblich unbekannten Mann deshalb überlassen hatte, weil sie ihn als gutherzig einschätzte. Der sollte sich alsbald entscheiden, das Kind an Sohnesstatt anzunehmen, und damit veränderte sich Gasoline Alley entscheidend. Von wem die Initiative für diese Entwicklung ausgegangen war, ist umstritten; meist wird Joseph Medill Patterson, dem legendären Verleger der New York Daily News, die Gasoline Alley mittlerweile auch abdruckte, das Verdienst an der Einführung des Babys zugesprochen. Patterson war der Cousin des Tribune-Verlegers Robert McCormick, der daraufhin seinen Zeichner angewiesen haben soll, das Findelkind einzubauen – angeblich, um damit auch Leserinnen für die Serie zu begeistern. Tatsächlich aber hatte King schon im Jahr zuvor für Nachwuchs in Gasoline Alley gesorgt, als Avery und Emily ein Kind bekamen, das sich etliche Wochen zum Mittelpunkt des Seriengeschehens entwickelte und bereits zahlreiche Gags vorwegnahm, die dann von Februar 1921 an noch einmal mit Walt durchgespielt wurden. King wird bemerkt haben, was für ein erzählerisches Potential ihm ein Kleinkind bescherte, und im Haushalt eines Junggesellen, der überdies die gutmütigste Figur des Strips war, versprach das noch mehr Amüsement. So hat man von Averys Sohn im Laufe der Zeit nicht mehr viel gehört; King konzentrierte sich ganz auf das Familienleben im Hause Wallet. Wollte der Zeichner sein Konzept der Echtzeiterzählung jedoch nicht aufgeben, war er fortan dazu gezwungen, den kleinen Jungen aufwachsen zu lassen, denn wie hätte er den am Leben seiner Leser ausgerichteten Zeitablauf in der Serie wahren können, wenn ein Baby nicht größer wurde? Erst dieser Zwang begründete den Rang von Gasoline Alley in der Comic-Geschichte: Die Serie machte Epoche, weil King sich als erster Zeichner der Herausforderung stellte, ein ganzes Leben zu erzählen, und er tat es mit einer Akribie, die bis heute ihresgleichen sucht. Der Junge wurde von Walt bald Skeezix getauft, und solange King zeichnete, also bis in die späten fünfziger Jahre hinein, können wir ihn Tag für Tag älter werden sehen. Als King 1969 starb, war Skeezix Wallet achtundvierzig Jahre alt und hatte längst selbst eine Familie. Doch viel faszinierender noch als die Betrachtung der Figurenbiografie als große Erzählung ist die Mikroebene, die Veränderung von Skeezix in engen Zeiträumen, v.a. natürlich als Kind. Es ist relativ leicht, die Publikationsdaten einzelner Folgen von Gasoline Alley aus den zwanziger und dreißiger Jahren einzuschätzen:

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Andreas Platthaus aufgrund des jeweiligen Aussehens von Skeezix, der eine prototypische amerikanische Kindheit erlebte, Schule und Ausbildung durchlief und 1942 natürlich auch als Soldat in den Zweiten Weltkrieg zog, wo er an der Pazifikfront in einer Reparatureinheit diente – eine subtile Referenz an den Ursprung der Serie. Noch während des Krieges heiratete er seine Jugendfreundin Nina, mit der er später zwei Kinder hatte, deren Leben King dann gleichfalls dokumentierte, ehe er die Serie in andere Hände gab, als er selbst die Siebzig weit überschritten hatte. Von seinen Nachfolgern, Dick Moores, Bill Perry und Jim Scancarelli, wurde das streng chronologische Erzählprinzip zumindest teilweise außer Kraft gesetzt, weil man den Lesern nicht das ansonsten ja unausweichliche Sterben der älteren Protagonisten zumuten wollte – ein Problem, dem King durch den eigenen Rückzug entgangen war. So geisterte Walt Wallet als mutmaßlich weit über Hundertjähriger noch in den neunziger Jahren äußerst vital durch einzelne Folgen, während man bei den jüngeren Generationen den Alterungsprozess relativ streng beibehielt, was dazu führte, dass der 1945 geborene Sohn von Skeezix in den sechziger Jahren in den Vietnamkrieg zog. Aber auch wenn Gasoline Alley nicht mehr die gleiche chronologische Konsequenz aufwies wie in den Anfangsjahren der Serie, bleibt sie in der Comic-Geschichte ein einmaliges Experiment. Gerade jedoch, weil der Zeitablauf eine so prägende Rolle in Gasoline Alley spielt, war es überraschend, dass Frank King eine solche Innovation wie die Zeitschiene vom 20. September 1921 überhaupt einführte. Aber er unterlag ja dem selbsterhobenen Anspruch, Zeit realistisch vergehen zu lassen, und das zwang ihn in jener Folge zu dem nie zuvor in seiner Serie gesehenen Zeitsprung von den im Textkasten erwähnten drei Stunden. Denn King erzählte an diesem Tag einen Gag, der auf der üblichen Angeberei von Männern beruht, wenn es ums Fischen und Jagen geht, und dazu war es nötig, weit mehr Zeit vergehen zu lassen als die üblichen paar Minuten, die King einzelnen Folgen zugestand. Es war in jenen frühen Jahren des Strips sogar durchaus üblich, dass nur ein einziger Moment festgehalten wurde, also eine ganze Tagesepisode aus nur einem Bild bestand, in dem dann im Regelfall eine große Konversationsszene gezeigt wurde – ganz wie in der ersten Folge von Gasoline Alley als Teil von The Rectangle. Doch diese Momentaufnahmen wurden immer seltener, weil King zunehmend komplexer erzählte und der Dialogwitz in seiner Bedeutung gegenüber dem eigentlichen Geschehen in den Hintergrund trat. Es galt immer mehr, eine Familiensaga zu erzählen, und wollte King seinen Anspruch der Wirklichkeitstreue aufrechterhalten, dann konnte er das nicht als Abfolge von täglichen Skurrilitäten tun. Die Herausforderung bestand vielmehr in der Schilderung von alltäglichen Begebenheiten, und

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Zu Frank Kings Gasoline Alley Kings große Kunst besteht darin, dass er eine Poesie des Alltags entwickelte, die es zuvor im Comic mit dessen auf Pointen konzentrierten Erzählweisen nicht gegeben hatte. Gasoline Alley wurde so zum amerikanischen Idyll, das seinen Reiz daraus bezog, wie die Serie die jeweiligen Zeitläufte porträtierte. Wer die Kulturgeschichte der Vereinigten Staaten von 1921 an kennenlernen will, ist gut beraten, Kings Comic Strip zu lesen, denn darin werden wie unter dem Mikroskop noch die kleinsten gesellschaftlichen Veränderungen sichtbar. Über diese erzählerische Leistung aber vergaßen die Leser und die Interpreten die ästhetischen Errungenschaften, die King dem Comic schenkte. Der am 20. September 1921 eingeführte ›Zeitraum‹ (der ein einmaliges Experiment blieb, und auch mit schlichten Zwischenräumen in den Werktagsfolgen ließ der konservative King sich noch jahrelang Zeit) ist dafür nur ein Beispiel, wobei hier allerdings noch einmal betont werden muss, dass es nicht bemerkenswert ist, dass King sich hier von den unmittelbar aneinander grenzenden Panels verabschiedet, was er selbst ja in seinen großzügig präsentierten Sonntagsfolgen schon von Beginn an getan hatte, sondern dass diese grafische Modifikation explizit begründet wird: King erklärt seinen Lesern mit dem Einschub der kleinen Texttafel, was er tut. Auch wenn dieser Kunstgriff zweifellos witzig gemeint war, bleibt er ein bemerkenswerter Sonderfall in der jahrzehntelangen Geschichte von Gasoline Alley, denn das selbstreflexive Spiel mit dem eigenen Genre, wie es etwa George Herriman oder George McManus zur gleichen Zeit betrieben, war Kings Sache nicht. Es lenkte zu sehr vom realistischen Erzählen ab, dem er sich verschrieben hatte, und deshalb darf man den sichtbaren Einbruch der Zeit in seine Serie in jeder Hinsicht als einen Einschnitt betrachten. Er erfolgt in gewisser Weise paraliptisch: als Verweis auf etwas Ausgelassenes.4 Der Textkasten mit dem Verweis auf die ausgesparten drei Stunden macht sie gerade erst bewusst. Die unausgesprochene Konvention, dass Übergänge zwischen Bildern Zeitverlauf markieren, wird explizit gemacht. In den Sonntagsfolgen von Gasoline Alley hat sich King jeglichen Hinweis dieser Art gespart, da sie – wie gesagt – von Beginn an Zwischenräume aufwiesen,. Er hätte eine Strategie konterkariert, die gerade diesen Comic Strip aus der Masse seines Genres hervorragen lässt: die in einzelnen Folgen von King gewählte synthetische Erzählweise. Normalerweise ist ein Comic analytisch zu lesen, weil er die Handlung in Einzelbilder zerlegt. In einigen Sonntagsseiten aber dreht King dieses Verfahren um und fordert dazu auf, die Einzelbilder wieder zusammenzufügen, um zu

4

Vgl. zur rhetorischen Figur der Paralipse Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg: Buske 1991, S. 59.

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Andreas Platthaus verstehen, was erzählt wird. Die berühmtesten Beispiele für dieses Verfahren erschienen 1934: am 25. März, 15. April und 22. April.5

Abb. 3. Frank King: Gasoline Alley (25.3.1934), in: Ders.: Sundays with Walt & Skeezix, o.S.

5

Sie sind unter den jeweiligen Daten abgedruckt in Frank King: Sundays with Walt & Skeezix. 1921 through 1934, hg. v. Peter Maresca, Palo Alto: Sunday Press 2007. Das in ihnen zur Vollendung gebrachte erzählerische Verfahren geht aber mindestens bis ins Jahr 1930 zurück. Vgl. die Folge vom 24. August 1930 im selben Buch.

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Zu Frank Kings Gasoline Alley Skeezix war dreizehn Jahre alt. Gemeinsam mit seinen Freunden Whimpy und Trixie erkundete er in der ersten Folge die Baugrube für ein neues Haus, und die drei Kinder nutzten sie als Abenteuerspielplatz (Abb. 3). Natürlich störte sie niemand dabei, denn die Episode war wie alle tagesaktuell, spielte sich somit an dem konkreten Sonntag ab, und deshalb war kein Arbeiter auf der Baustelle zugange. Wie bei allen seinen Sonntagsseiten bis weit in die dreißiger Jahre hinein zeichnete Frank King die Folge im strikten Raster von zwölf quadratischen Einzelbildern, die in vier Reihen à drei Bildern angeordnet sind. Das Besondere an allen drei genannten Folgen des Jahres 1934 ist jedoch, dass in jedem Panel nur ein Ausschnitt der Baugrube zu sehen ist, in dem die Kinder agieren, die ganze Seite aber wie ein Puzzle diese Detailansichten zur Gesamtansicht des Handlungsortes ergänzt. Obwohl auf allen Einzelbildern also jeweils die Protagonisten agieren, ist doch ein einziger Hintergrund zu sehen, in dem zwölf Mal Skeezix auftritt. Nie zuvor ist die grundlegende Frage von Raum und Zeit im Comic so radikal gestellt worden, wie in dieser Gasoline Alley-Sonntagsfolge vom 25. März 1934. Die Seite als solche definiert die Ausdehnung des Handlungsortes, und dabei spielt die Aufteilung in Bilder gar keine Rolle. Die Räume zwischen den Bildern sind vernachlässigbare Aussparungen im Hinblick auf den Raum; Kings Feder überspielt sie, indem er einfach jenseits weiterzeichnet und dadurch sein Gesamtbild schafft. Doch in diesem synoptischen Motiv herrscht keine Synchronizität: Wo der Raum als unteilbares Ganzes erscheint, ist die Zeit weiterhin fragmentiert, weil in jedem Panel die Figuren bei ihrem Weg durch die Baugrube begleitet werden. In zeitlicher Hinsicht behalten die Zwischenräume also ihre Bedeutung. King trieb dieses Spiel am 15. und 22. April fort, ohne es jedoch auszuweiten. Denn er ließ an diesen beiden Sonntagen Skeezix noch einmal zur Baustelle zurückkehren. Am 15. April war mittlerweile das Fundament für das Haus gelegt, und an zwei Außenwänden waren die Stützbalken hochgezogen – ein Baufortschritt, der exakt dem entsprach, was in einer dreiwöchigen Frist zu erwarten war. Und eine Woche später sind Außenwände und Dach, beide jeweils in amerikanischer Holzbauweise, bereits ausgeführt, doch es fehlen noch die Fenster. Durch diesen Rohbau bewegt sich Skeezix, und das grafische Verfahren ist wieder das Gleiche wie am 25. März: Sämtliche zwölf Bilder ergänzen sich zur Gesamtansicht des Handlungsortes, und der Protagonist bewegt sich durch alle hindurch: Diese Bewegung bringt die Zeit in den stillgestellten Ort, und es ist bemerkenswert, dass King keine anderen Zeitindikatoren einsetzt als eben seine Figuren. Es wäre ja denkbar gewesen, auf einzelnen Bildern Uhren ins Spiel zu bringen, die den Verlauf der Zeit angezeigt hätten, oder den Sonnenstand zu variieren. Doch King

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Andreas Platthaus lässt allein seine handelnden Personen diese Funktion erfüllen, weil ja auch ansonsten in der Serie primär sie es sind, die durch ihre körperliche Veränderung das Verstreichen der Zeit signalisieren. Der einzige andere Indikator ist der Jahresverlauf mit seinen wiederkehrenden Jahreszeiten und Festtagen, der aber an einem einzelnen Tag nicht zur Geltung kommen kann. Frank King war sich der Bedeutung von Raum und Zeit deutlicher bewusst als andere Comic-Zeichner, weil nur er in Echtzeit erzählte und weil er überdies eine strenge Form der Bildaufteilung (vier gleich große Panels im Tages-Strip, zwölf in den Sonntagsfolgen) gewählt hatte, die er nur in seltenen Fällen aufgab. Aus dieser scheinbaren Selbstbeschränkung erwuchs ein Werk, das die Möglichkeiten des Erzählens mit Comics so tief auslotete wie kaum eine andere Serie. Die Komplexität des Geschehens, die es erfordert, ganze Jahrgänge zu lesen, um der Handlung zu folgen, hat die Rezeption dieses Comic Strips immer wieder behindert. Doch er bietet auch in einzelnen Episoden Entdeckungen, die unser Verständnis sowohl vom erzählerischen wie grafischen Potential seines Genres erhöhen.

Literatur Horn, Maurice (Hg.): 100 Years of American Newspaper Comics. An Illustrated Encyclopedia, New York: Gramercy 1996. King, Frank: Walt & Skeezix. 1921 & 1922, hg. v. Chris Ware, Montreal: Drawn & Quarterly 2005. King, Frank: Sundays with Walt & Skeezix. 1921 through 1934, hg. v. Peter Maresca, Palo Alto: Sunday Press 2007. Marling, Karal A.: »Walt Wallet Lives!«, in: John Carlin/Paul Karasik/Brian Walker (Hg.): Masters of American Comics. New Haven: Yale University Press 2005, S. 211-215. Phelps, Donald: Reading the Funnies. Essays on Comic Strips, Seattle: Fantagraphics 2001. Plett, Heinrich F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg: Buske 1991.

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Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics STEPHAN DITSCHKE & ANJIN ANHUT

250.263 Mal wurde der erfolgreichste Comic des Veröffentlichungszeitraums 2007/2008 in US-Comic-Shops verkauft. Es ist – kaum anders denkbar für das Geburtsland der Comic Books – ein Superheldencomic, das erste Heft der Reihe Secret Invasion aus dem Verlag Marvel Comics.1 Trotz dieser auf den ersten Blick hohen Zahl sinken die Verkaufszahlen der Superheldencomics in den USA,2 nicht aber die Aufmerksamkeit für die Superhelden. Dies liegt v.a. an den seit Spider-Man (2002) äußerst erfolgreichen Filmadaptationen von Superheldencomics, von denen Christopher Nolans Batman-Adaptation The Dark Knight (2008) in den USA den bislang erfolgreichsten Filmstart aller Zeiten hingelegt hat.3 Etwas fesselt die Rezipienten offenbar noch immer an Erzählungen aus dem Superheldengenre, dem ersten später auch in anderen Medien realisierten Genre, das sich im Comic herausgebildet hat und mit dem noch immer das Medium als solches assoziiert wird.4

1

2 3

4

Vgl. Christian Endres/Stefan Pannor: »Der US-Comic-Markt 2008«, in: Burkhard Ihme (Hg.): COMIC!-Jahrbuch 2009, Stuttgart: Interessenverband Comic e.V. 2008, S. 130-141, hier S. 138. Vgl. ebd., S. 137. Vgl. Box Office: »All-Time 1st Weekend« (27.6.2009), URL: http://boxof fice.com/numbers/numbers.php?report=weekend-1, Datum des Zugriffs: 27.6.2009. Legt man die inflationsbereinigten Daten zugrunde, liegt The Dark Knight äußerst knapp hinter einer anderen Comic-Verfilmung, nämlich Spider-Man 3 (2007). Vgl. Thomas Hausmanninger: Superman. Eine Comic-Serie und ihr Ethos, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 54. Superheldencomics fungieren darüber hinaus als starker interner Bezugspunkt von dem aus sich das ComicFeld strukturiert. So stellt Brian Michael Bendis pointiert heraus: »In comics, if it don’t have a cape or claws or, like, really giant, perfect spherical, chronic back-pain-inducing breasts, it’s alternative.« Zit. n. Henry Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«, in: Confessions of an Aca-Fan. The Official

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut Es ist müßig, darüber zu spekulieren, warum genau der Comic die erste Heimstätte für Superheldenerzählungen wurde. So behauptet z.B. Peter Coogan in seinem Buch Superhero: »Comics are the natural home for the superhero genre because of the way they can seamlessly combine intense action, ordinary daily life, and fantastic images«5 – eine Annahme, die vermutlich zu weit geht. Mit Sicherheit hat es aber etwas mit der Möglichkeit zur bildlichen Darstellung zu tun, dass das wenig intellektualistische Medium Comic Ende der 1930er Jahre geeignet schien, die zeichenhaften Körper der Superhelden und ihre actionlastigen Geschichten in Szene zu setzen und gleichzeitig die primäre Zielgruppe zu erreichen.6 Heute bietet auch die moderne Animationstechnik die Möglichkeit zur filmischen Umsetzung,7 sodass Figuren und Geschichten entweder direkt übernommen werden oder Orientierungspunkte für filmisch realisierte Superheldenerzählungen bilden. Eine inhaltsorientierte Analyse des Superheldengenres sollte deshalb auch auf filmische Narrationen übertragbar sein. Während das Superheldengenre bislang v.a. Gegenstand gesellschaftskritischer ›Forschung‹ war oder seine Entwicklung unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten chronologisch rekonstruiert wurde,8 möchten wir in diesem Aufsatz unter Herausarbeitung seiner klassifikatorischen Merkmale sowie häufig auftretender Gestaltungsweisen von Superheldenfiguren und -erzählungen den ›narrativen Kern‹ des Genres bestimmen. Es wird sich zeigen, dass diese grundlegenden Strukturen Superheldenerzählungen als Gegenstand

5 6 7 8

Weblog of Henry Jenkins (15.3.2007), URL: http://www.henryjenkins.org/2 007/03/just_men_in_capes.html, Datum des Zugriffs: 6.6.2009. Peter Coogan: Superhero. The Secret Origin of a Genre, Austin: Monkeybrain 2006, S. 174. Vgl. Andreas Platthaus: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte, Frankfurt/Main, Leipzig (1998): Insel 2000, S. 156f. Auch Coogan fragt: »What made the change?«, um zu betonen: »Technology played an important role«. P. Coogan: Superhero, S. 2. Gesellschaftskritische Problematisierungen des Superheldengenres finden sich v.a. in der früheren Comic-Forschung, etwa bei Oswald Wiener: »der geist der superhelden«, in: Hans D. Zimmermann (Hg.): Comic Strips. Der Geist der Superhelden, Berlin: Gebr. Mann 1970, S. 93-101; Dagmar von Dœtinchem/Klaus Hartung: Zum Thema Gewalt in Superhelden-Comics, Berlin: Basis 1974. Chronologische Rekonstruktionen der Entwicklung des Genres bzw. einzelner Superhelden unter verschiedenen kulturwissenschaftlichen Fragestellungen finden sich z.B. bei Th. Hausmanninger: Superman; Thomas Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden. Das Gesellschaftsbild amerikanischer Superheldencomics von 1938 bis 1998, Meitingen: Corian 1999; Will Brooker: Batman Unmasked. Analyzing a Cultural Icon, New York, London: Continuum 2000; P. Coogan: Superhero; Lars Banhold: Batman. Konstruktion eines Helden, Bochum: Bachmann 2008.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics gesellschaftskritischer Zugänge zum Medium Comic prädestinieren, ihre Erarbeitung hingegen eine systematische Rekonstruktion der Genreentwicklung ermöglicht. Unsere Zugangsweise zu Erzählungen aus dem Superheldengenre orientiert sich v.a. an Jurij M. Lotmans Entwurf einer topologischen Semantik. In seinem semiotischen Modell nimmt Lotman an, dass zur Interpretation von ›Kunstwerken‹ ein auf binären Oppositionen basierendes semantisches Raummodell zu bilden ist: In einem ersten Schritt werden alle räumlichen Oppositionen rekonstruiert, die sich aus dem betreffenden Kulturprodukt ableiten lassen.9 Hat man auf diese Weise ein Modell konstruiert, das aus voneinander aufgrund bestimmter Merkmale unterscheidbaren Räumen besteht, folgt eine weitergehende Semantisierung: Von den räumlichen Eigenschaften der »gegebene[n] Gesamtheit von Objekten«10 eines semantischen Bereichs (z.B. von der Opposition »Land – Stadt«) wird auf Begriffe abstrahiert, »die nicht an sich räumlicher Natur sind«.11 Es handelt sich dabei zumeist um Wertungsbegriffe (z.B. bei der binären Opposition »gut – schlecht«) oder Termini, die eine wertende Konnotation tragen (z.B. »natürlich – künstlich«).12 9

Es ließe sich an dieser Stelle skeptisch einwenden, dass keineswegs alle räumlichen Oppositionen explizit formuliert werden. Aus diesem Grund muss bereits ein großer Teil dieser basalen Analyse auf (hermeneutischen) Interpretationen basieren. 10 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte (1972), übers. v. Rolf-Dietrich Keil, 4. Aufl., München: Fink 1993, S. 312. 11 Ebd., S. 313. 12 Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 4. Aufl., München: Beck 2003, S. 141. Lotmans Methodik der Interpretation von Kulturprodukten weist – wie die meisten dezidiert semiotischen Ansätze – eine Lücke auf: Offensichtlich liegt Lotmans Ansatz zur Interpretation von »sekundären modellbildenden Systeme[n]« ein in hohem Maße kodebasiertes Modell des Sprachverstehens zugrunde. J.M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 22. So wird davon ausgegangen, dass sich ohne Weiteres eine Abstraktion von räumlichen Eigenschaften eines Gegenstandes auf andere, äquivalente semantische Bereiche vornehmen ließe. Deshalb gibt Lotman auch keine weiteren Regeln an, die den Schluss auf vermeintliche Äquivalenzen legitimieren bzw. anleiten würden. Solche Äquivalenzbildungen scheinen dort intuitiv plausibel, wo eine intensionale Opposition von Begriffen wie »Leben« und »Tod« o.ä. vorliegt. Zumeist muss aber auf übergeordnete Oppositionen von den Begriffen, die im Text vorkommen, erst geschlossen werden. Dabei treten ohne zusätzliche Schlussregeln bei Oppositionsbildungen besonders dann Probleme auf, wenn die syntagmatische Struktur einer Narration keine ›Suchanweisung‹ für die richtige Opposition bietet. Notwendig sind mithin »semantische Regeln«, mit deren Hilfe sich »relevante Korrelation[en] zwischen Zeichen und anderen Gegenständen« erschließen lassen. Charles W. Morris: »Grundla-

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut Die Handlung einer Narration resultiert nun daraus, dass eine Figur einen Weg durch einen oder mehrere Räume zurücklegt. Wenn die Figur dabei eine Grenze zwischen zwei voneinander differenzierten semantischen Räumen überquert, lässt sich Lotman zufolge von einem Sujet sprechen.13 Durch eine sujethafte Narration kann die klassifikatorische Ordnung, die sich in den oppositionellen Räumen abbildet, entweder bestätigt oder überwunden werden. Im ersten Fall kann die Grenzüberschreitung als »restitutiv« bezeichnet werden – sie wird vollzogen, scheitert aber oder wird wieder rückgängig gemacht –, im zweiten Fall als »revolutionär«.14 Es soll im Folgenden die Frage beantwortet werden, aus welchen zentralen narrativen »sinntragende[n] Elemente[n]«15 sich welche wiederkehrenden Sujets ableiten lassen – und mithilfe welcher narrativen Struktur bestimmte gesellschaftliche, politische oder moralische Ordnungen in Superheldenerzählungen bestätig bzw. angegriffen werden. Da die Protagonisten der Erzählungen Superhelden sind und dieser Umstand Implikationen für den Verlauf der Erzählungen trägt, gehen wir zunächst auf die wesentlichen Eigenschaften der Superhelden und damit des Superheldengenres ein.

1. Was das Superheldengenre ausmacht Superheldencomics sind nur eine mediale Form von vielen, in denen sich das Superheldengenre realisiert. Von anderen Comics unterscheiden sie sich nicht wesentlich durch die Wahl formaler narrati-

gen der Zeichentheorie« (1938), in: Ders.: Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik der Zeichentheorie, übers. v. Roland Posner, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1988, S. 15-88, hier S. 42. Eine übergeordnete Theorie des regelgeleiteten Schließens zur Interpretation von Kulturprodukten, wie sie z.B. Fotis Jannidis im Anschluss an die Theorie inferenzbasierter Kommunikation von Sperber/Wilson und Levinson skizziert hat, kann an dieser Stelle nicht entwickelt werden, weshalb die Begrifflichkeiten, die Lotman im Rahmen seines topologisches Modells entwickelt, lediglich als Orientierungspunkte zur Interpretation von Superheldenerzählungen genutzt werden sollen. Vgl. Fotis Jannidis: »Analytische Hermeneutik. Eine vorläufige Skizze«, in: Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn: mentis 2006, S. 131-144. 13 Vgl. Jurij M. Lotman: »Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen« (1969), in: Ders.: Aufsätze zur Methodologie der Literatur und Kultur, hg. u. übers. v. Karl Eimermacher, Kronberg/Taunus: Scriptor 1974, 338377, hier S. 370f. 14 Vgl. M. Martínez/M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 142. 15 J.M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 17.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics ver oder medialer Aspekte, was den sogenannten Graphic Novels häufig zugeschrieben wird.16 Möchte man bestimmen, was das Besondere der Superheldencomics ist, muss man deshalb den Blick auf inhaltliche Aspekte des Genres und somit auf die besonderen Inhaltselemente von Erzählungen um Superhelden17 lenken. Der Kern einer Bestimmung des Superheldengenres wird bereits durch seine Bezeichnung impliziert: Die handlungstragenden Figuren des Genres sind ›Superhelden‹. Diese wiederum sind durch die Kombination der beiden in ihrer Bezeichnung angezeigten Eigenschaften von anderen Figuren unterschieden: Erstens handeln sie ›heldenhaft‹, retten also anderen das Leben, stellen ihre Grundversorgung sicher, bekämpfen die Feinde der Gesellschaft – kurz: sichern die existenziellen Bedürfnisse anderer. Zweitens sind die Protagonisten von Narrationen, die dem Genre zuzuordnen sind, ›super‹, wobei sich das Konfix »super-« nicht auf ihre Heldenhaftigkeit bezieht, sondern auf herausragende Fähigkeiten der Figuren, die normale Personen in ihrem Umfeld nicht oder nicht in diesem Maße haben. Systematisch lassen sich die beiden Bedingungen wie folgt ausformulieren: (I)

Mindestens ein Protagonist der Erzählung (i) verfügt in Relation zur ihn umgebenden Umwelt über herausragende Fähigkeiten und (ii) handelt ›heldenhaft‹. D.h. er handelt in akuten Notsituationen intentional so, dass (a) die existenziellen Bedürfnisse anderer gesichert sind. (b.1) Dabei handelt die Figur ohne Rücksicht auf ihre eigenen existenziellen Bedürfnisse, (b.2) nicht zum Zweck der Maximierung des eigenen Nutzens und (b.3) hält es rationalerweise für möglich, dass ihr Eingreifen etwas gegen die Notsituation bewirkt.

Ein Held, wie er unter (ii) bestimmt wird, hilft also nicht nur anderen, er sieht auch von seinen eigenen existenziellen Bedürfnissen ab, was in den meisten Fällen bedeutet, dass er ein Risiko auf sich nimmt. Dies macht er zudem nicht, um monetäre Gewinne zu erzielen o.Ä., auch ordnet er die Situation, in der sein Eingreifen not16 Vgl. etwa Brigitte Preissler: »Ein Genre macht ernst«, in: Die Welt, 19.2.2005; Thomas Lindemann: »Leben in dunklen Strichen«, in: Die Welt, 9.12.2007. 17 »Protagonist«, »Superheld« usw. werden im Folgenden als grammatische Genera verwendet und schließen – soweit nicht anders markiert – Protagonistinnen, Superheldinnen usw. mit ein.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut wendig ist, einem genussvollen Zeitvertreib vor. Helden handeln darüber hinaus weder feige noch töricht, obwohl sie für andere Risiken auf sich nehmen,18 sondern im aristotelischen Sinne mutig.19 Die Bedingung dafür ist, dass sie rationalerweise davon ausgehen, wenn auch nicht sicher sein können, ihr Eingreifen könnte an der Notsituation tatsächlich etwas ändern. Die Bedingung (i) schließt aus, dass solche Figuren als Superhelden gelten, die lediglich heldenhaft handeln, aber nicht über herausragende Fähigkeiten verfügen, etwa Menschen, die mit ihrem mutigem Eingreifen verhindern, dass jemand ausgeraubt oder getötet wird, freiwillige humanitäre Helfer in Kriegsgebieten usw. Trotzdem ist sie ›unscharf‹ formuliert, um auch eine Figur wie Batman, die das Genre maßgeblich geprägt hat, mit einzuschließen: Als herausragende Fähigkeiten können sowohl typische Superkräfte wie etwa jene gelten, über die Superman verfügt (die Fähigkeit, zu fliegen, Röntgen- und Hitzeblick usw.), aber auch übermäßige, einem Menschen theoretisch mögliche Fähigkeiten. So hat Batman seine Körperkraft, seine Kampftechniken und sein technisches Know-how durch Studien und langes Training an die Grenzen des Menschenmöglichen gebracht. Um zu bestimmen, was als herausragende Fähigkeit gilt, muss man zudem stets auf andere, ›normale‹ Figuren aus dem Kontext des potentiellen Superhelden blicken: Auf seinem Heimatplaneten Krypton hätte Superman nicht aufgrund seiner angeborenen Fähigkeiten als Superheld gelten können, da erstens alle Bewohner des Planeten die gleichen Fähigkeiten hatten und diese Fähigkeiten zweitens dazu notwendig waren, um unter den natürlichen Bedingungen leben zu können, die auf Krypton herrschten.20

18 Heldenhaftes Handeln bedarf also einer Entscheidung dafür, anderen zu helfen. Diese Entscheidung zieht häufig Risiken für den Helden nach sich: »Risks, however, emerge only as a component of decision and action. They do not exist by themselves [im Gegensatz zur Gefahr, SD/AA]. If you refrain from action you run no risk.« Niklas Luhmann: »Familarity, Confidence, Trust: Problems and Alternatives«, in: Diego Gambetta (Hg.): Trust. Making and Breaking Cooperative Relations, Cambridge: Blackwater 1988, S. 94-107, hier S. 100. Auf die in der Entwicklung der Superheldencomics wichtige Frage, ob die Superwesen ein Risiko eingehen, das auf sich zu nehmen sie als Helden auszeichnet, oder ob sie lediglich einer Gefahr für sich selbst ausgesetzt sind, kommen wir in Abschnitt 4.3 zurück. 19 Vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, 5. Aufl., München: dtv 2002, S. 170f. (Buch III, Kap. 12). 20 Vgl. die Erklärung von Supermans Kräften in der ersten Ausgabe des Superman-Heftes von 1939. Wiederabdruck als Jerry Siegel/Joe Shuster: »Scientific Explanation of Superman’s Strength--!«, in: The Superman Chronicles (2001), H. 1, S. 201.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics Auch wenn die Bedingungen (i) und (ii) beide erfüllt sind, ist jedoch noch nicht gewährleistet, dass Erzählungen eindeutig dem Superheldengenre zugeordnet werden können. Ein Beispiel, das Peter Coogan in seinem Buch Superhero. The Secret Origin of a Genre hierfür nennt, ist die TV-Serie Buffy the Vampire Slayer, in der die Protagonistin sowohl herausragende ›Superfähigkeiten‹ hat als auch heldenhaft im o.g. Sinne handelt.21 Beide Bedingungen sind erfüllt, trotzdem würde man Buffy the Vampire Slayer dem Vampirgenre zuordnen. Um Erzählungen sicher dem Superheldengenre zuzuordnen, müsste also mindestens eine weitere Bedingung hinzugefügt werden, die es erlaubt, Fälle wie Buffy the Vampire Slayer aus dem Genre auszuschließen. Blickt man auf solche Narrationen, die häufig als typische Vertreter des Superheldengenres angeführt werden, so stellt man jedoch fest, dass außer den beiden angeführten Bedingungen, die auf jeden Fall für eine Genrezuordnung erfüllt sein müssen, sich lediglich Elemente von Superheldenerzählungen ausmachen lassen, die den Status von Konventionen haben. Als solche treffen sie keineswegs auf alle Vertreter des Superheldengenres zu. Hierzu zählen z.B. die Doppelidentitäten: Bruce Wayne trägt bei Nacht ein Superheldenkostüm, um seine wahre Identität nicht preisgeben zu müssen; Superman nimmt die Tarnidentität des »durch und durch bürgerlichen«22 Clark Kent an, um ein normales Leben unter Menschen führen zu können. Weitere Konventionen sind die Kostüme der Superhelden, die als ikonische Repräsentation ihre Superheldenidentität anzeigen,23 außerdem der Umstand, dass ihre zumeist selbst auferlegte moralische Verpflichtung zum Heldentum in einem traumatischen Erlebnis begründet ist.24 Als Konventionen erlauben es diese häufig auftretenden Merkmale aber, Erzählungen mit höherer Wahrscheinlichkeit dem Superheldengenre zuzuordnen. Die Bestimmung des Superheldengenrebegriffs unter (I) kann also wie folgt spezifiziert werden:

21 22 23 24

Vgl. P. Coogan: Superhero, S.48f. Th. Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden, S. 22. Vgl. P. Coogan: Superhero, S. 33. Die Figur Bruce Wayne hat z.B. eine derartige traumatische Erfahrung machen müssen, die ihn motiviert hat, Batman zu werden: In der ersten Ausgabe von Batman (1940) erfährt der Leser, dass der Superheld deshalb Verbrecher jagt, weil er als Junge miterleben musste, wie seine Eltern bei einem Raubmord erschossen wurden. Er schwört daraufhin »by the spirits of my parents to avenge their deaths by spending the rest of my life warring on all criminals«. Bill Finger/Bob Kane: »The Legend of the Batman – Who He Is and How He Came to Be!«, in: The Batman Chronicles (2005), H. 1, S. 138f., hier S. 139.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut (II)

Eine Erzählung gehört mit höherer Wahrscheinlichkeit zum Superheldengenre, wenn der Protagonist zusätzlich zu den unter (I) angeführten Bedingungen eine oder mehrere der folgenden Konventionen erfüllt:25 (iii) Dass der Protagonist heldenhaft im Sinne von (ii) handelt, ist in einem prägenden, häufig traumatischen Erlebnis begründet. (iv) Der Protagonist verfügt neben der Superheldenidentität über eine zweite, die es ihm erlaubt, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren.26 (v) Der Superheld trägt bei der Ausübung seiner Taten ein Kostüm. (Bei vielen Superhelden verweist dieses ikonisch auf ihre Superheldenidentität.)27 (vi) Gibt es mehrere Protagonisten, welche die Bedingungen unter (I) erfüllen, bilden sie häufig ein Team, in dem sie gemeinsam heldenhaft handeln.28

Die Kostüm-Konvention ist von den genannten die stärkste, insofern bestimmte Formen von Kostümen – der bekannte »Bodysuit«29 mit »Strumpfhosen«30 – eindeutig auf das Superheldengenre verweisen.31 Trotz eines solchen Verweisungszusammenhangs ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es sich lediglich um einen z.B. travesti25 Die Liste der Konventionen ließe sich erweitern. Aufgelistet werden hier lediglich die u.E. wichtigsten. 26 Das Beispiel der Marvel-Superhelden Fantastic Four verdeutlicht, dass diese Konvention nicht immer zutrifft: Die vier Wissenschaftler wurden im Weltall einer unbekannten Strahlung ausgesetzt und erlangen so ihre Superkräfte. Zurück auf der Erde nehmen sie zwar ›Superheldennamen‹ an, ihre ursprüngliche Identität und ihre richtigen Namen sind aber allen bekannt. 27 Eine ähnliche Funktion erfüllt der Name, den der Superheld trägt, vgl. P. Coogan: Superhero, S. 33. 28 Hierzu zählen wir auch Teams aus einem Superhelden und seinem jüngeren ›Sidekick‹, z.B. Batman und Robin. 29 Sabine Horst: »Lasst doch einfach alles raus!«, in: Die Zeit, 10.7.2008. 30 Frank Miller/Nina Rehfeld: »Die Griechen hatten Götter, wir haben Superhelden«, in: Spiegel online (13.8.2008), URL: http://www.spiegel.de/kultur/ literatur/0,1518,571473-2,00.html, Datum des Zugriffs: 13.8.2008. 31 Einige Superhelden tragen jedoch kein Kostüm, so etwa Hulk. Um der Genre-Konvention und damit den Erwartungen der Leser an einen Superheldencomic trotzdem gerecht zu werden, entschied sich Stan Lee zu einer anderen Form, die Figur von Wesen ohne Superkräfte zu unterscheiden: »I couldn’t for the life of me find a reason for our newest monster [Hulk, SD/AA] to outfit him in a costume. Still, the readers would expect something colorful about him. Then it hit me. Instead of a colorful costume, I’d give him colorful skin«. Stan Lee/George Mair: Excelsior! The Amazing Life of Stan Lee, New York: Fireside 2002, S. 122.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics tischen Bezug32 auf das Genre handelt, die betreffende Erzählung selbst aber einem anderen Genre zuzuordnen ist.33 Wie bei den meisten Genres kennzeichnen die zwei Kategorien von Merkmalen unter (I) und (II) im Fall des Superheldengenres eine Menge von Narrationen, die durch die genannten »Genresignale«34 miteinander verknüpft sind. Dabei treffen die Merkmale unter (I) auf alle Superheldenerzählungen zu, jedoch auch auf Erzählungen, die eher anderen Genres zuzuordnen sind. Letzteres gilt ebenfalls für die Merkmale unter (II), die darüber hinaus nicht auf alle Vertreter des Superheldengenres zutreffen.35 Der Begriff des Superheldengenres umfasst mithin eine Menge von Narrationen, die aufgrund von Familienähnlichkeiten zueinander in Beziehung gesetzt werden können: Sie bilden – mit Wittgenstein gesprochen – ein »kompliziertes Netz«36 bzw. einen »Faden […, in dem] viele Fasern einander übergreifen«,37 ohne dass sich alle ›Fasern‹ überschneiden.38 Dabei sind die Denotata des Begriffs der Superheldengenreerzählung zwar nur lose miteinander verknüpft, aufgrund der Bedingungen unter (I) jedoch enger als die Denotata von Begriffen wie »Kunst« oder »Literatur«: Letztere können so über Familienähnlichkeiten verknüpft sein, dass zwei ihrer Denotata keine der Merkmale teilen, die sie jeweils als Kunst oder Literatur kennzeichnen.

32 »Travestitisch« sei hier im Sinne Genettes als satirische Transformation eines vorgängigen Hypotextes verstanden. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (1982), übers. v. Wolfgang Bayer/Dieter Hornig, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 44. 33 So z.B. am Anfang von Chris Wares Jimmy Corrigan, wenn im Hintergrund gezeigt wird, wie ein als Superheld verkleideter Mann von einem Hochhaus springt, dabei jedoch stirbt. Der Fokus liegt dabei so wenig auf dem Tod des Mannes, dass die für den weiteren Handlungsverlauf in keiner Weise relevante Hintergrundhandlung wie ein Mittel zur polemischen Positionierung von Wares Comic in Opposition zum Superheldengenre wirkt. Vgl. Chris Ware: Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth, New York: Pantheon 2000, o.S. 34 Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München: Beck 1981, S. 133. 35 Sie sollten deshalb auch nicht als Teil einer bloßen Prototypendefinition (wie z.B. in Th. Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden, S. 11) oder einer Äquivalenzdefinition in Anschlag gebracht werden. 36 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Ders.: Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 225-618, hier S. 277f. (§ 66). 37 Ebd., S. 278 (§ 67). 38 Eine präzise Rekonstruktion des Familienähnlichkeitsbegriffs findet sich bei Tadeusz Pawáowski: Begriffsbildung und Definition, übers. v. Georg Grzyb, Berlin, New York: de Gruyter 1980, S. 202.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut Durch die Begriffsstruktur der Familienähnlichkeit ist trotz der unter (II) angegebenen Konventionen noch immer nicht ausgeschlossen, dass die oben genannte Serie Buffy the Vampire Slayer dem Superheldengenre zugeordnet werden kann. Es bietet sich deshalb an, die ›weiche‹ Bestimmung des Genres durch eine zusätzliche Bedingung zu ergänzen:39 (III) Eine Narration lässt sich dann mit höherer Wahrscheinlichkeit dem Superheldengenre zuordnen, wenn sie aufgrund ihrer Eigenschaften nicht eher als Vertreter eines anderen Genres angesehen werden kann.40 Zwar erlaubt auch Bedingung (III) keine eindeutige Genrezuordnung, ermöglicht es jedoch, z.B. Buffy als Vertreter des Horrorgenres bzw. des diesem untergeordneten Vampirgenres zu kategorisieren: Die Erzählungen der Serie und ihre Sujets sind Vertretern dieser Genres deutlich ähnlicher als Erzählungen aus dem Superheldengenre. Gleichzeitig belässt Bedingung (III) die Bestimmung des Superheldengenres so vage, dass sie auch Cross-Genre-Narrationen noch umfasst, etwa die Geschichten der Hellboy-Comics und -Filme.41

39 Die Bedingung (III) scheint (in einer je angepassten Form) im Allgemeinen Teil der partiellen, also vagen Definition spezifischer Genres zu sein, die durch Familienähnlichkeiten strukturiert sind. Vgl. zum Begriff der partiellen Definition ebd., S. 125-156. 40 Peter Coogan geht bei seiner Bestimmung des Superheldengenrebegriffs ähnlich vor. Er stellt die Bedingung auf, dass der mutmaßliche Superheld »cannot be easily placed into another genre«. P. Coogan: Superhero, S. 40. 41 Hellboy spielt eigentlich in einer Welt, die dem Horrorgenre entwachsen ist, wird aber in die Nähe des Superheldengenres gerückt. Dies liegt vermutlich in erster Linie am ›verlegerischen Peritext‹ (Genette): Der Publikationskontext, in dem sich Hellboy im Verlag Dark Horse Comics befindet, besteht zu einem großen Teil aus Superheldencomics. Ein weiterer Grund der Zuordnung der Hellboy-Erzählungen zum Superheldengenre besteht aber sicherlich darin, dass die mit Superkräften ausgestatteten, heldenhaft handelnden Wesen der Hellboy-Welt ein Team von Helfern bilden, das über eigene, uniforme Kostüme verfügt. So konstatiert etwa Michael Kohler in der Frankfurter Rundschau, ohne Argumente für diese These anzuführen und trotz des auf das Genre der Fantastik verweisenden Titels seiner Filmrezension zu Hellboy – Die goldene Armee (2008): » Nirgendwo anders als in einem Superhelden-Comic hätte die Hellboy-Figur das Licht der Welt erblicken können«. Michael Kohler: »Geschöpfe des Trollmarkts«, in: Frankfurter Rundschau, 16.10.2008. Ähnlich äußert sich Sabine Horst in »Lasst doch einfach alles raus!«.

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2. Zentrale narrative Elemente von Superheldenerzählungen Bereits der Begriff des Superhelden impliziert mehrere zentrale Elemente, die eine wichtige Rolle in Superheldenerzählungen einnehmen. (1) Ausgangspunkt der Erzählungen um Superhelden ist »der alltag, ein problemlos geordnetes dahinleben, an dem sich immer wieder erweist, daß die welt gut ist, so wie sie ist.«42 (2) Der Superheld ist zwar Teil der etablierten gesellschaftlichen Ordnung, gleichzeitig aber von den ›normalen‹ Bewohnern der fiktionalen Welt durch seine Superkräfte verschieden, und er wirkt in seinem Anderssein nicht selten »unheimlich und numinos-bedrohlich«.43 Dies führt in den meisten Fällen dazu, dass er nur aufgrund seiner zweiten Identität am sozialen Leben partizipieren kann: »This great strength of yours«, schärft Adoptivvater Jonathan Kent dem heranwachsenden Superman ein, »you’ve got to hide it from people or they’ll be scared of you«.44 Zur Tarnung erfüllt der Superheld deshalb als Clark Kent »the ultimate assimilationist fantasy«.45 Gleichzeitig ist Superman notwendig, um die bestehende Ordnung der fiktionalen Welt aufrechtzuerhalten, »to assist humanity«.46 (3) Das dritte zentrale Handlungselement von Superheldenerzählungen ist mithin ein Problem für die Ordnung, das ihr Bestehen bedroht, aber von ihren Verteidigern – der Polizei, dem Militär usw. – nicht kontrolliert werden kann. Es kann u.a. in Form von Naturkatastrophen, Verbrechen oder in Gestalt eines Superschurken auftreten, der nur vom betreffenden Superhelden besiegt werden kann. All diese Formen der Bedrohung und Gefährdung wenden sich gegen etablierte Lebensformen, Werte- bzw. Gesellschaftsordnungen oder gegen die Existenz selbst und überschreiten dabei Gesetze, Regeln, Normen sowie Eigentums- und Körpergrenzen. Dank seiner besonderen Fähigkeiten ist der Superheld jedoch in der Lage, den Störungen der Ordnung entgegenzuwirken.

42 O. Wiener: »der geist der superhelden«, S. 95. 43 Demosthenes Savramis: »Der moderne Mensch zwischen Tarzan und Superman«, in: Jutta Wermke (Hg.): Comics und Religion. Eine interdisziplinäre Diskussion, München: Fink 1976, S. 110-120, hier S. 115. 44 Jerry Siegel/Joe Shuster: »Origin of Superman«, in: The Superman Chronicles (2001), H. 1, S. 195f., hier S. 195. (Zuerst erschienen in Superman [1939], H. 1.) 45 Jules Feiffer: »The Minsk Theory of Krypton«, in: New York Times Magazine, 29.12.1996. 46 Ebd.

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Abb. 1. Stan Lee/John Romita Sr.: »In den Klauen von Kingpin!«, S. 99.

Verdeutlichen lässt sich diese Struktur am Beispiel des ersten Aufeinandertreffens von Spider-Man und dem Kingpin, einem Gangsterboss:47 Der Zeitungsherausgeber Jonah Jameson – Peter Parkers herablassender Arbeitgeber und Verächter von Spider-Mans Taten – droht, die Verbrecherorganisation des Kingpin zu enttarnen, die

47 Vgl. Stan Lee/John Romita Sr.: »In den Klauen von Kingpin!«, in: SpiderMan. Die besten Geschichten!, übers. v. Michael Strittmatter, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2004, S. 99-118; dies.: »Er stirbt als Held!«, in: SpiderMan. Die besten Geschichten!, S. 119-138. (Zuerst erschienen in The Amazing Spider-Man 1 [1967], H. 51f.)

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics New York mit einer »Verbrechenswelle«48 heimsucht. Dieser kidnappt Jameson, um ihn einzuschüchtern. Es liegt mithin ein Konflikt eines Vertreters der bestehenden Ordnung (Jameson) mit einer Instanz vor, die diese Ordnung bedroht (Kingpin). Dass beide Instanzen verschiedenen ›Räumen‹ angehören, drückt nicht zuletzt die typische Bezeichnung aus, die Jameson für Kingpin und Konsorten wählt: »Unterwelt rottet sich zusammen«,49 heißt es in einem Artikel, den der Herausgeber des Daily Bugle verfasst hat. Kingpin hingegen, Verkörperung der Unterwelt, zerschlägt mit einem Modell der Stadt symbolisch die bestehende Ordnung (Abb. 1). Jameson ist dem Kingpin unterlegen, außerdem besteht keine Möglichkeit, von der Polizei gefunden zu werden. Doch Spider-Man, der entgegen Kingpins Annahme wieder aktiv ist, entdeckt die Entführung. Im Kampf unterliegt der Superheld Kingpin zunächst: Es gelingt dem Verbrecher, Spider-Man zu überlisten und mit Betäubungsgas aus einer in der Krawattennadel versteckten Patrone auszuschalten.50 Um Jameson und Spider-Man unauffällig und ohne Blutvergießen loszuwerden, lässt der Gangster beide in einen Wassertank sperren, der anschließend geflutet wird. Spider-Man besinnt sich jedoch auf seine Fähigkeiten: Zunächst bedient er sich seiner »Spinnenkraft«,51 um die Fesseln zu sprengen. Anschließend erzeugt er mithilfe seiner selbstgebauten ›Netzdüsen‹52 einen wasserdichten Kokon, unter dem Jameson und er selbst weiterhin Luft bekommen. Als der Tank schließlich geöffnet wird, kann er Kingpins Schergen überwältigen, das Verbrechersyndikat zerschlagen und den Gangsterboss in die Flucht schlagen. Zwar bleibt Kingpin, der nun »neu planen«53 will, eine latente Bedrohung, trotzdem ist die angegriffene Ordnung erst einmal wiederhergestellt. Auch der Konflikt des Vigilanten Spider-Man mit der bestehenden Ordnung, u.a. mit Instanzen der Polizei und mit Jameson, bleibt bestehen, da Spi-

48 S. Lee/J. Romita Sr.: »In den Klauen von Kingpin!«, S. 107. 49 Ebd., S. 100. 50 Dass der Superheld im Kampf gegen seinen Gegner zunächst versagt, ist eine für Superheldenerzählungen sehr typische Form des retardierenden Moments. Vgl. auch O. Wiener: »der geist der superhelden«, S. 100. Auch die Überlistung des Superhelden ist ein häufig auftretendes Handlungselement: Zwar zeichnen sich manche Superhelden wie der frühe Batman gerade dadurch aus, dass sie nicht nur auf körperliche Kräfte zurückgreifen, sondern auch Detektivarbeit leisten, trotzdem ist in vielen Fällen »die intelligenz [...] dem super-schurken überlassen, sie ist sein kennzeichen und seine waffe«. Ebd., S. 97. 51 S. Lee/J. Romita Sr.: »Er stirbt als Held!«, S. 133. 52 Am Anfang der Entwicklung von Spider-Man konnte er noch kein organisches Netz erzeugen, wie er es z.B. in den Filmen vermag. 53 S. Lee/J. Romita Sr.: »Er stirbt als Held!«, S. 134.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut der-Man dem vor Angst erstarrten Zeitungsherausgeber Gewalt androhen musste, um ihn zur Flucht zu bewegen. Obwohl er als Spider-Man nicht in der bestehenden Ordnung akzeptiert ist, steht der Superheld zu seinem Grundsatz »Aus großer Kraft folgt große Verantwortung«:54 »Ich würde immer wieder so handeln... ganz sicher! Ich bin ihm [Jameson, SD/AA] wahrscheinlich zu ähnlich. Er ist ein zwanghafter Miesmacher-Trottel! Ich bin ein zwanghafter Superhelden-Trottel!«55

3. Räume und Konflikte Alle drei Figuren – Jameson, der Kingpin und Spider-Man – gehören, um mit Lotman zu sprechen, jeweils eigenen semantischen Räumen an (Abb. 2), die gesellschaftsstrukturelle, politische, moralische, ideologische o.Ä. Konnotationen tragen: der etablierten Ordnung (A), der ›Unterwelt‹ (B), in der das Problem für die etablierte Ordnung seinen Ursprung hat, sowie einer Art ›Anderwelt‹ des Superhelden (C). Alle drei Bereiche sind im geschilderten Beispiel Teil eines sie umfassenden gesellschaftlichen Bezugsraums (H).56 Die Bewegungen der Figuren entsprechen hier zunächst dem in Superheldengeschichten üblichen narrativen Muster, das sich im sogenannten Golden Age of Comic Books herausgebildet hat (1938 bis Mitte der 1950er Jahre):57 Die Instanzen, die hier den der etablierten Ordnung gleichsam aufgepfropften Raum der Unterwelt (B) repräsentieren, dringen in den Raum der bestehenden Ordnung (A) ein und stören dessen innere Struktur durch ihre kriminellen Aktivitäten massiv. Verdeutlicht wird dieser Zustand auf der splash page der Episode »In den Klauen von Kingpin!« (Abb. 1): Kingpin als Instanz von (B) nimmt die Transformation des semantischen Raums (A) nach den Prinzipien von Raum (B) vorweg, indem er ein Modell von New York zerstört. Möglich scheint die Umsetzung seiner Pläne, weil Spider-Man Kingpins Wissen nach seine Superheldenaktivitäten eingestellt hat: »Ohne Spider-Man gehört die Stadt mir!!«, triumphiert der Verbrecherboss.

54 Stan Lee/Steve Ditko: »Spider-Man!«, in: Spider-Man. Die besten Geschichten!, übers. v. Michael Strittmatter, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2004, S. 8-18, hier S. 18. (Zuerst erschienen in Amazing Fantasy [1962], H. 15.) 55 S. Lee/J. Romita Sr.: »Er stirbt als Held!«, S. 138. 56 Anders verhält es sich bei Geschichten um außerirdische Invasoren u.Ä. 57 Vgl. P. Coogan: Superhero, S. 193.

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Abb. 2. Semantische Räume in Superheldennarrationen (Grafik: A. Anhut)

Doch Spider-Man, der im vorangegangenen Heft gesehen hat, dass sein Eingreifen notwenig ist, um die etablierte Ordnung (A) aufrecht zu erhalten,58 dringt nun ebenfalls in den Raum der etablierten Ordnung ein, um sie wiederherzustellen. Dieses Standardschema wird in der Beispielgeschichte jedoch erweitert: Um den Kopf hinter den Angriffen auf die Ordnung ausfindig zu machen, muss SpiderMan in den Raum der Unterwelt (B) eindringen, wobei er entdeckt, dass der Kingpin sich Jamesons bemächtigt und aus Raum (A) in den Raum der Unterwelt (B) entführt hat. Die darauf folgende Auseinandersetzung – bestehend aus einem ersten Höhepunkt (Kampf von Spider-Man und Kingpin), einem retardierenden Moment (Spider-Man und Jameson im Wassertank) sowie dem Finale (SpiderMan zerschlägt Kingpins Organisation) – führt zur Störung des inneren Raumgefüges der Unterwelt, sodass deren Elemente die etablierte Ordnung nicht mehr gefährden können. Da der Kingpin entkommen kann, bleiben alle Elemente der verschiedenen Räume jedoch erhalten und der Ausgangszustand vor dem Angriff der Unterwelt ist wiederhergestellt.59

58 Vgl. Stan Lee/John Romita Sr.: »Nie mehr Spider-Man!«, in: Spider-Man. Die besten Geschichten!, übers. v. Michael Strittmatter, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2004, S. 79-98, S. 93f. (Zuerst erschienen in The Amazing SpiderMan 1 [1967], H. 50.) 59 In Superheldenerzählungen werden zwar fast immer die Zustände vor dem Konflikt der Räume (A) und (B) durch den Superhelden wiederhergestellt,

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut Neben den drei im Kern unterschiedlichen Räumen lassen sich in vielen Superheldenerzählungen zusätzlich Überlappungsbereiche ausmachen. Diese liegen immer dann vor, wenn die Elemente, die den einzelnen Räumen angehören, gleichzeitig Teil eines anderen Raums sind. Zum Zeitpunkt der Beispielgeschichte besteht ein (noch sehr schmaler) Überlappungsbereich (E) zwischen dem Raum des Superhelden Spider-Man und dem Raum der etablierten Ordnung. Dieser ist dadurch entstanden, dass der Superheld gelegentlich auch als Peter Parker seine Kräfte anwenden musste.60 Später wird der Überlappungsbereich (E) größer, da z.B. seine Freundin Mary Jane, Teil der etablierten Ordnung, von seiner zweiten Identität weiß. Der Überlappungsbereich zwischen allen drei Räumen (G) wird z.B. dann narrativ gefüllt, wenn der Grüne Kobold entdeckt, dass Peter Parker und Spider-Man dieselbe Person sind – wodurch alle Menschen in Parkers sozialem Umfeld potentiell gefährdet sind.61 Bereich (D) wird dann zur Beschreibung von Superheldenerzählungen gemäß dem entwickelten Schema notwendig, wenn das Problem für die bestehende Ordnung von dieser selbst hervorgebracht wurde. Ein Beispiel hierfür ist die rassistische Diskriminierung von Farbigen in den USA, die 1970 in Green Lantern problematisiert wurde.62 Der Bereich (F) erlaubt es, ein für Superheldengeschichten besonders in den 1980er Jahren wichtig gewordenes Thema in das Schema einzuordnen: In einigen Fällen ist der Superheld an der Genese eines Feindes mitschuldig, so etwa Batman, ohne dessen Einwirken aus dem Kleinkriminellen Red Hood nicht der Joker geaber selbst die Superheldenserie um den häufig als »Erlösergestalt« analysierten Superman entwirft keine futuristische ›Heilszeit‹. Demosthenes Savramis: »Der moderne Mensch zwischen Tarzan und Superman«, S. 119. Vgl. auch Karl-Heinz Ohlig: »Comics und religiöse Mythen«, in: Jutta Wermke (Hg.): Comics und Religion. Eine interdisziplinäre Diskussion, München: Fink 1976, S. 121-136, hier S. 126f. 60 So etwa in S. Lee/J. Romita Sr.: »Nie mehr Spider-Man!«, S. 93f. 61 Vgl. Stan Lee/John Romita Sr.: »Kobold, so grün, so grün...!«, in: SpiderMan. Die besten Geschichten!, übers. v. Michael Strittmatter, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2004, S. 39-58, hier S. 53f. (Zuerst erschienen in The Amazing Spider-Man 1 [1966], H. 39.) 62 Vgl. Dennis O’Neil/Neal Adams: Green Lantern (1970), H. 76. An dieser Ausgabe von Green Lantern wird häufig der Beginn der ›sozialen Kehre‹ in den Superheldencomics festgemacht: Die Themen werden in zunehmendem Maße sozialkritisch, sprich: Die thematisierten Probleme für die etablierte Ordnung sind immer häufiger dem Überlappungsraum (D) zuzuordnen – in den Erzählungen geht es um soziale Ungerechtigkeit, Drogenkonsum u.Ä. Vgl. z.B. Stan Lee/Gil Kane: The Amazing Spider-Man 1 (1971), H. 96-98, die aufgrund des Themas Drogenkonsum kein Comics Code Authority-Siegel von der Comics Magazine Association of America erhielten.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics worden wäre.63 Dieser Teil der Handlung des Comics Batman: The Killing Joke, von dem in Rückblenden berichtet wird,64 ist im semantischen Überlappungsbereich (F) situiert, ebenso wie der zentrale aktuelle Konflikt der Erzählung: Batman und der Joker gestehen sich ein, dass sie mehr Charaktereigenschaften und Einstellungen gemein haben, als sie dachten; die Handlung konstituiert einen semantischen Raum (F), den Raum der gemeinsamen Eigenschaften der Figuren. Am Ende der Erzählung kehren beide jedoch wieder in ihren je eigenen Raum zurück: Zwar scheint auch Batman die Welt für einen »black, awful joke«65 zu halten, er leitet im Gegensatz zum Joker daraus aber keinen moralischen Nihilismus ab, sondern folgt Commissioner Gordons Aufforderung, bei seiner Jagd nach dem Joker, »by the book«66 vorzugehen.67 Alan Moores Watchmen geht darüber noch hinaus: Mit Ozymandias gibt es eine Figur, die in der Struktur der Geschichte dem Raum (F) zur Gänze zuzuordnen ist. Um einen Atomkrieg zu verhindern, und damit auch, dass er lediglich »der klügste Mann auf

63 Vgl. Alan Moore/Brian Bolland: Batman: The Killing Joke, New York: DC 1988, o.S. 64 Deutlich wird hier das Prinzip der retrospective continuity (›retcon‹): Ausgehend von bisher nicht ausgefüllten Lücken der Geschichte in ongoing series – hier die Entstehung des Jokers – wird die betreffende Comic-Tradition neu interpretiert, während sie gleichzeitig den Spielraum der Neuinterpretation durch die den Lesern bekannten, vorangegangenen Geschichten einer Serie begrenzt. Vgl. Don D. Guttenplan: »An Inky, Well-Paneled Place. Comics and the Cold War«, in: The Nation (10.9.2008), URL: http:// www.thenation.com/doc/20080929/guttenplan/print, Datum des Zugriffs: 6.6.2009. 65 A. Moore/B. Bolland: Batman: The Killing Joke, o.S. 66 Ebd. 67 Viele Superhelden haben ›Erzfeinde‹, die fast immer auch kriminell aktiv sind und damit den o.g. Standardkonflikt in Superheldenerzählungen entstehen lassen. Häufig sind diese ›Superschurken‹ aber in besonderem Maße auf den betreffenden Superhelden fixiert, woraus gelegentlich Konflikte entstehen, die kaum noch die etablierte Ordnung gefährden, sondern sich fast nur noch zwischen Superheld und Superschurke abspielen (so z.B. der doppelte persönliche Konflikt beider Teile der Mensch-Symbiont-Verbindung Eddie Brock/Venom mit Spider-Man). Fast immer sind jedoch bei Konflikten zwischen Erzfeind und Superheld auch die Prinzipien der etablierten Ordnung (A) bzw. einzelne ihrer Instanzen gefährdet: In Batman: The Killing Joke entführt der Joker Commissioner Gordon zwar auch in den Raum (B), um ihn in den Wahnsinn zu treiben, v.a. jedoch, um Batman in eine Falle zu locken; während des Gewaltmarsches von Doomsday wird Superman zwar zum zentralen Ziel der künstlich erschaffenen Lebensform, doch würde der Superheld nicht eingreifen, würde Doomsday sich andere Ziele suchen, und zwar aus dem Raum der etablierten Ordnung (A).

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut dem Aschehaufen«68 ist, täuscht Ozymandias den Angriff einer außerirdischen Macht auf die Erde vor. Dabei wird halb New York vernichtet, doch die Welt solidarisiert sich anschließend und der Konflikt zwischen den West- und Ostmächten wird beigelegt. Mithilfe verschiedener narrativer Mittel werden die Konsequenzen dieser von einer klassisch-utilitaristischen Ethik geleiteten Handlung Ozymandias’ zwischen der oben entwickelten Konzeption heldenhaften Handelns (die dem semantischen Raum [C] zuzuordnen ist) und unmoralischen Handlungsweisen, wie sie für (B) typisch sind, verortet. Gleichzeitig gibt es keine Überschneidungspunkte von Ozymandias’ Position mit Raum (A), der etablierten Ordnung, nicht zuletzt, weil seine Handlung gegen diese Ordnung selbst gerichtet ist und auf die Konstitution einer besseren zielt. Ozymandias dringt also in den Raum (A) ein und verändert ihn dabei, wodurch die oppositionelle klassifikatorische Ordnung der Räume (A) und (F) überwunden wird; es liegt mit Watchmen eine der wenigen ›revolutionären‹ Narrationen des Superheldengenres im Sinne Lotmans vor. Wie wir in Abschnitt 4.3 skizzieren werden, findet sich in Watchmen nicht nur ein ›revolutionäres‹ Sujet, die inzwischen kanonisierte Miniserie revolutionierte überdies gemeinsam mit einigen anderen Superheldencomics das Genre selbst und bildete einen vielbeachteten Höhepunkt in dessen selbstreflexiver Wende Mitte der 1980er Jahre.69

4. Konfliktmuster Mithilfe des vorgestellten Raummodells lassen sich die dominanten Konfliktmuster von Superheldenerzählungen herausarbeiten. Diese hängen von mehreren Faktoren ab: (1) Da die meisten Superheldenerzählungen durch ihren Protagonisten, den Superhelden, perspektiviert sind, beeinflussen die Eigenschaften und Einstellungen der Figur, welchen Verlauf die Handlung nimmt und wie die Oppositionen zwischen den verschiedenen Räumen inhaltlich gefüllt werden. (2) Superheldencomics fungieren fast immer »als Widerspiegelung einer gesellschaftlichen Situation«70 der Realität. Sie referieren zwar 68 Alan Moore/Dave Gibbons: Watchmen, übers. v. Uwe Anton, Hamburg: Carlsen 2000, Kap. 11, S. 19. 69 So wurde Watchmen z.B. als einzige ›Graphic Novel‹ in die Roman-Bestenliste der TIME aufgenommen. Vgl. Andrew Arnold: »All-TIME Graphic Novels«, in: TIME (o.D.), URL: http://www.time.com/time/2005/100books/0,2 4459,graphic_novels,00.html, Datum des Zugriffs: 9.6.2009. 70 Umberto Eco: »Der Mythos von Superman«, in: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur (1964), übers. v. Max Looser, Frankfurt/Main: S. Fischer 1984, S. 187-222, hier S. 206.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics unterschiedlich stark auf tatsächliche soziokulturelle Ereignisse und Strukturen, trotzdem kommen die »in den Comic Books dargestellten ›Wirklichkeiten‹ [...] der Realität doch sehr nahe«71 – einerseits hinsichtlich zugrunde liegender gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Strukturen, andererseits hinsichtlich spezifischer Ereignisse wie dem Vietnam-Krieg,72 Aktionen der Black Panther-Bewegung73 oder der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der USA.74 Superheldenerzählungen bestätigen meistens die Ordnung des Raums (A) im o.g. Sinne restitutiv, während diese Ordnung besonders durch die dominanten Einstellungen der primären Comic-Leserschaft der jeweiligen Zeit beeinflusst scheint.75 Außerdem ist (3) die Entwicklungsstufe des Genres ein relevanter Faktor dafür, welche Konfliktmuster zu einem bestimmten Zeitpunkt dominant sind. Die Entwicklung hängt zwar immer von kontextuellen Faktoren des jeweiligen Produktionsbereichs narrativer Kulturgüter ab (u.a. im Sinne des zweiten genannten Faktors für die Herausbildung von Konfliktmustern), sie nimmt aber bei vielen Genres einen ähnlichen Verlauf.76 – Im Folgenden werden wir zu-

71 Th. Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden, S. 9. 72 Vgl. z.B. Stan Lee/John Romita Sr.: The Amazing Spider-Man 1 (1972), H. 109. 73 Vgl. Frank Robins/Irv Novick: Batman 1 (1971), H. 230. 74 Vgl. Mark Waid/Barry Kitson: The Amazing Spider-Man 1 (2009), H. 583. 75 Diese These können wir im aktuellen Rahmen nicht detailliert belegen. Insbesondere der Umstand, dass sich die o.g. kultur- und sozialkritischen Wissenschaftler der 68er-Generation geradezu in die systemaffirmativen Superheldenerzählungen des Golden und Silver Age ›verbissen‹ haben, spricht jedoch dafür, ebenso die Ergebnisse von Thomas Siecks nicht-evaluativer Studie Der Zeitgeist der Superhelden. Sieck stellt z.B. den Wandel der Marvel-Comics heraus, der einsetzte, nachdem festgestellt wurde, dass die älteren Leser eine eher regierungskritische Position bzgl. des VietnamKriegs vertraten. Darüber hinaus ist vielfach belegt, dass sich die Produzenten von Superheldenerzählungen an Wünschen orientierten, die in Leserbriefen, Fanzines und auf ähnlichem Wege geäußert wurden. So berichtet etwa Stan Lee über Leserbriefe zur ersten Ausgabe der Fantastic Four, in denen sinngemäß gedroht wurde: »[I]f you don’t give them colorful costumes, we won’t buy the next issue.« Stan Lee zit. n. P. Coogan: Superhero, S. 43. Mit der dritten Ausgabe der Serie wurden dann tatsächlich die noch immer aktuellen Uniformen des Superheldenteams eingeführt. Im Fall des zweiten Robin, Jason Todd, haben die Leser sich sogar per Telefonabstimmung für seinen Tod ausgesprochen. Vgl. Dennis O’Neil: Introduction, in: Marv Wolfman/George Pérez/Jim Aparo: Batman: A Lonely Place of Dying (1989), New York: DC 1990, o.S. 76 Thomas Schatz spricht in seiner Analyse von Hollywood-Genres von »generic evolution«. Th. Schatz: Hollywood Genres. Formulas, Filmmaking, and the Studio System, Philadelphia: Temple University Press 1981, S. 36.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut nächst auf den Einfluss der verschiedenen Typen von Superhelden auf die Herausbildung bestimmter Konfliktmuster in Erzählungen des Genres eingehen, anschließend skizzieren wir die zentralen Konflikte im Laufe der Genreentwicklung unter Bezug auf die jeweiligen soziokulturellen Umstände der Comic-Produktion.

4.1 Typen von Superhelden Zur Kategorisierung von Superhelden sind ganz unterschiedliche Ansätze denkbar: Es ließe sich etwa eine Einteilung der Flut an Figuren aufgrund ihrer Kräfte vornehmen, was ihre Rückführung auf bestimmte kulturelle Muster ermöglichte, insbesondere auf die antike Mythologie.77 Weiterhin ließe sich eine Differenzierung nach Alter, Geschlecht u.ä. Kategorien vornehmen. Besonders bei der Untersuchung der Wirkung auf die jeweilige Leserschaft von Superheldencomics wäre ein solcher Zugang plausibel. Für den hier gewählten narratologischen Zugang erscheint eine andere Einteilung sinnvoll. Welche Konnotation der Raum des Superhelden (C) im vorgestellten Modell trägt, welche semantische Nähe er zu anderen Räumen aufweist, in welchem Maße es zu Überlappungen zwischen den verschiedenen Räumen kommt und welche Grenzen der Superheld überschreitet ist v.a. von zwei Aspekten der Figur beeinflusst: der dominanten ›Grundorientierung‹ des Helden und der Art und Weise, auf welche die Superkräfte erworben wurden (Abb. 3). Beide Faktoren sind zumeist in der origin story des Superhelden begründet.78 Insgesamt lassen sich drei Grundorientierungen der Superheldentypen ausmachen, die wir hier vereinfachend als »Beschützer«, »Rächer und Jäger« sowie »Zweifler« bezeichnen wollen – drei Rollen, die sich auch in der grafischen Realisierung der Figurenkonzepte zeigen, wie in Abb. 3 zu sehen ist.

77 Peter Coogan stellt »two paradigms of superherodom« heraus: »the superpowered superhero and the non-superpowered superhero«, als deren typische Vertreter er Superman und Batman anführt. P. Coogan: Superhero, S. 9. Diese Einteilung der Superhelden anhand der Art ihrer Kräfte trägt jedoch kaum Implikationen und hilft wenig bei der Analyse von Superheldennarrationen. 78 Im Folgenden werden wir nicht detailliert auf jeden der zwölf Typen eingehen, da dies den Rahmen des Aufsatzes sprengen würde, sondern nur die wesentlichen Konfliktlinien beschreiben, die aus den verschiedenen Kategorien resultieren.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics

Abb. 3. Typen von Superhelden (Montage: A. Anhut).79

79 Namen der Figuren und Quellen der Abbildungen: (1) Superman [Mark Waid/Leinil F. Yu: Superman: Birthright (2004), H. 12], (2) Iron Man [Larry Lieber/Don Heck: Tales Of Suspense (1963), H. 39], (3) Flash [Darwyn Cooke: DC: The New Frontier (2004), H. 6], (4) Captain America [Joe Simon/Jack Kirby: Captain America Comics (1941), H. 1], (5) Hellboy [John Byrne/Mike Mignola: Hellboy: Seed Of Destruction, Milwaukie: Dark Horse 1994, o.S.], (6) Batman [Brian Azzarello/Eduardo Risso: Batman 1 (2004), H. 621], (7) Daredevil [Brian M. Bendis/Alex Maleev: Daredevil 2 (2001), H. 26], (8) Spawn [Todd McFarlane/Greg Capullo: Spawn (1996), H. 53], (9) Beast [Roy Thomas/Sal Buscema: The X-Men (1966), H. 66], (10) Night Owl [A. Moore/D. Gibbons: Watchmen, Kap. 7, S. 20], (11) Spider-Man [Roger Stern/John Byrne: The Amazing Spider-Man 1 (1980), H. 206], (12) Wolverine [Chris Claremont/Frank Miller: Wolverine Limited Series (1982), H. 3].

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut Zwischen den drei Typen gibt es zwar immer Überschneidungen, eine der Grundorientierungen ist jedoch die wichtigste für Handlungsweise und Motivation des Superhelden: Die Gruppe der Beschützer sieht es als ihre Pflicht an, den Raum (A) gegen die Kräfte aus Raum (B) zu verteidigen und Unheil zu verhindern, was Captain Americas Schild symbolisch vor Augen führt (Abb. 3, 4). Auch die Rächer/Jäger und Zweifler beschützen den Raum (A). Sie handeln aber nicht nur heldenhaft, um zu beschützen, sondern machen meistens gezielt Jagd auf die Instanzen des Raums (B), um diese zu bestrafen. Damit wollen sie das telos ihrer Existenz überwinden (Hellboy [Abb. 3, 5] ist ein Bote der Apokalypse; Spawns Bestimmung ist es, die Truppen der Hölle zu führen) oder sich für etwas rächen, was ihnen widerfahren ist (Batman für die Ermordung seiner Eltern, Daredevil für die seines Vaters) – und nicht selten genießen sie ihre Taten deshalb. So erfährt Daredevil – dessen ›Revier‹ bezeichnenderweise der New Yorker Stadtteil Hell’s Kitchen ist – eine Form der Befriedigung durch die Furcht, die den Mörder seines Vaters packt, als der blinde Superheld ihn verfolgt: »Ich jagte den Fixer um drei Blocks. [...] Ich roch Sweeneys salzigen Schweiß. Den Urin, den seine Blase nicht mehr hielt. Es war, als sei ich in ihm.«80 Die Vertreter der Rächer und Jäger repräsentieren nicht wie die Beschützer das Gute, sondern die Heimsuchung des Bösen. Dies wirkt sich auch auf die Wahl ihres Kostüms aus: Statt der hellen, oft in kontrastreichen Primär- und Sekundärfarben gehaltenen Kostüme der Beschützer tragen sie dunkle Kostüme und wählen negativ konnotierte Symbolisierungen ihrer Grundausrichtung: Batmans Zeichen ist die Fledermaus, »a creature of the night, black, terrible«81 (Abb. 3, 6); Matt Murdock wird durch ein rotes Teufelskostüm zu Daredevil (Abb. 3, 7); Spawns Maske deutet einen zornigen Gesichtsausdruck an (Abb. 3, 8). Bei ihren Taten wenden die Rächer und Jäger Methoden an, die jenen der Instanzen aus Raum (B) z.T. sehr nahe kommen, aber entweder in wichtigen Punkten von diesen verschieden bleiben (Batmans Regel, niemals zu töten) und/oder von anderen Zielvorstellungen geleitet sind und dementsprechend zu anderen Resultaten führen (Spawn tötet zwar, verteidigt damit jedoch bewusst den Raum [A], statt ihn anzugreifen) – obwohl die Rächer und Jäger dem Raum (B) recht nahe sind, gehören sie ihm doch nicht an. Trotzdem geraten sie angesichts der oft gewaltsamen Methoden leichter mit den Exekutivorganen der etablierten Ordnung in Konflikt als die

80 Jeph Loeb/Tim Sale: »Mann ohne Furcht«, in: Dies.: Daredevil: Gelb, Bd. 1, übers. v. Reinhard Schweizer, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2001, S. 2750, hier S. 38f. (Zuerst erschienen als Daredevil: Yellow [2001], H. 2.) 81 B. Finger/B. Kane: »The Legend of the Batman«, S. 139.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics anderen Typen von Superhelden. Dies ist u.a. darin begründet, dass sie sich nicht nur aufgrund einer Notsituation, sondern bewusst über die Regeln des Raums (A) hinwegsetzen, denn – wie Daredevil, dessen Alter Ego Matt Murdock als Anwalt arbeitet, bemerkt – »das Gesetz war nicht immer dasselbe wie Gerechtigkeit«.82 Die Gruppe der Zweifler wurde in den 1960er Jahren von Marvel in das Superheldengenre eingeführt. Alle ihre Vertreter haben einen Identitätskonflikt, der mit ihren Superkräften oder der origin story zusammenhängt und zu Konflikten zwischen den Räumen (A) und (C) führt. Nicht zuletzt haben die Verkaufserfolge von Spider-Man dazu geführt, dass die Figur (Abb. 3, 11) zu einem Standardmodell des Zweiflers avancierte und viele spätere Superhelden SpiderMan/Peter Parker und seinen inneren Konflikten nachempfunden wurden. So hat z.B. Invincible – Hauptfigur des gleichnamigen und vielgelobten »perfekten, modernen Comics«83 von Robert Kirkman – Zweifel, die sowohl seine Superheldenaktivitäten als auch seine Partizipation an der Welt der ›normalen Menschen‹ betreffen und denen von Spider-Man gleichkommen:84 Einerseits gefällt es Marc Grayson, wie andere Teenager leben, auch er möchte seine Freunde treffen und eine Beziehung führen, wobei ihm das Gefühl der Verpflichtung zum heldenhaften Handeln im Weg steht. Andererseits weiß er um seine Verantwortung als Invincible – und genießt es zudem, seine Fähigkeiten nutzen zu können. An der Figur Invincible lässt sich darüber hinaus ein typischer Wechsel der Grundorientierung illustrieren: Je erwachsener er wird, mit umso höherer Sicherheit wählt Invincible die Rolle des Beschützers und überwindet seine Zweifel. Dass er der mächtigste Superheld auf der Erde ist, bestärkt ihn zusätzlich in seiner Wahl.85 Mit diesem Wandel ändern sich auch die Geschichten um die Figur: Das Leben als Marc Grayson wird immer seltener thematisiert, während seine Superheldenaktivitäten immer häufiger werden und globalere Dimensionen annehmen. Auch die verschiedenen Weisen, auf welche die Superhelden ihre Kräfte erworben haben (Abb. 3, vertikale Achse), ziehen bestimmte Konflikte nach sich: Mit Superkräften geboren zu sein, impliziert eine deutliche Differenz des Raums (C) und damit des Su82 Jeph Loeb/Tim Sale: »Die Zeit der Champions«, in: Dies.: Daredevil: Gelb, Bd. 1, übers. v. Reinhard Schweizer, Nettetal-Kaldenkirchen: Panini 2001, S. 3-26, hier S. 25. (Zuerst erschienen als Daredevil: Yellow [2001], H. 1.) 83 Jörg Böckem: »Super, dieser Typ!«, in: Spiegel online (18.9.2007), URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,druck-505803,00.htm, Datum des Zugriffs: 27.5.2009. 84 So zu sehen im Film Spider-Man 2 (2004) und in S. Lee/J. Romita Sr.: »Nie mehr Spider-Man!«, S. 85f. 85 Vgl. z.B. Robert Kirkman/Ryan Ottley: Invincible (2007), H. 41, o.S.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut perhelden zu den ›Normalsterblichen‹ und ihrer Welt (A): Superman (Abb. 3, 1) hat nicht ohne Grund einen Rückzugsort in der Arktis, die ›Festung der Einsamkeit‹, obwohl er sich für die Werte des Raums (A) der meisten Superman-Geschichten – »truth, justice and the American way«86 – entschieden hat; Hellboy (Abb. 3, 5) wird von den Menschen nicht akzeptiert, weil sein natürliches Erscheinungsbild ihnen trotz seiner guten Taten Angst einjagt; in den X-Men-Geschichten führen die Unterschiede zu geradezu rassistischen Ausgrenzungen der Mutanten. Diese werden entweder Superhelden, die es sich zur Aufgabe machen, die Menschen trotzdem deren Vorbehalte zu beschützen, oder agieren gegen den Raum (A), um die schwächeren Menschen zu unterwerfen oder eine Verfolgung der ausgegrenzten Mutanten im Voraus zu vereiteln, so z.B. Magneto. Eine weitere Gruppe Superhelden ist selbst für ihre Kräfte verantwortlich: Iron-Man (Abb. 3, 2) wurde zu einem »Self-Made Superhero«,87 indem er sich eine Rüstung anfertigte, die ihn nicht nur schützt, sondern stärker und schneller macht, über Waffen verfügt und ihm erlaubt, zu fliegen; Batman (Abb. 3, 6) »trains his body to physical perfection«88 und »becomes a master scientist«.89 Die Wahl, ein Superheld zu werden, geht in den meisten Fällen mit einem besonderen Willen einher, die selbst gewählte Mission auch zu erfüllen (der Zweifler Night Owl aus Watchmen [Abb. 3, 10] ist eine Ausnahme). Dies kann zur Wahl rigoroser Methoden führen, um die eigenen Ziele zu erreichen, woraus wiederum Konflikte mit den Regeln und Instanzen des Raums (A) resultieren. Die Superhelden, bei denen ein »eigenartiger zufall«90 die Entwicklung ihrer Kräfte nach sich gezogen hat, hadern häufig mit ihrer neuen Identität, deren Kräfte sie befähigen, den Raum der etablierten Ordnung (A) zu beschützen: Peter Parker/Spider-Man (Abb. 3, 11) erhält seine Kräfte durch den zufälligen Biss einer radioaktiv verseuchten Spinne. Zunächst setzt er seine Kräfte ein, um bei Schaukämpfen Geld zu gewinnen. Als er vom Veranstalter der Kämpfe um seinen Gewinn betrogen wird und dieser anschließend ausgeraubt wird, lässt Spider-Man den Dieb entkommen. Später tötet der Dieb Peter Parkers Onkel, sodass Parker erst am Ende seiner origin story »auf tragische Weise zur Erkenntnis«91 kommt: »Aus 86 Karin Kukkonen: Neue Perspektiven auf Superhelden. Polyphonie in Alan Moores Watchmen, Marburg: Tectum 2008, S. 35. 87 »Iron Man (Tony Stark)« (o.V.), in: Marvel Universe. The Definitive Online Source for Marvel Superhero Bios (2009), URL: http://www.marvel.com/uni verse/Iron_Man_(Anthony_Stark), Datum des Zugriffs: 30.5.2009. 88 B. Finger/B. Kane: »The Legend of the Batman«, S. 139. 89 Ebd. 90 O. Wiener: »der geist der superhelden«, S. 94. 91 S. Lee/S. Ditko: »Spider-Man!«, S. 18.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics großer Kraft folgt große Verantwortung!«92 Ergebnis des Versäumnisses, den Dieb rechtzeitig festzusetzen, ist ein innerer Konflikt Spider-Mans, der seinem Handeln stets mit zugrunde liegt: »SpiderMan is seeking revenge on himself.«93 Gleichzeitig führt der zufällige Erwerb seiner Kräfte zu Problemen, seine beiden Identitäten, mit denen er jeweils unterschiedlichen Räumen angehört, miteinander zu vereinen. Dabei resultieren aus dem Wunsch, gleichzeitig der Verpflichtung zum heldenhaften Handeln nachzukommen und das Sozialleben eines ›normalen Menschen‹ zu führen, noch stärkere Konflikte als beim Spider-Man nachempfundenen Superhelden Invincible, dessen Kräfte angeboren sind. Daredevils Kräfte hingegen ermöglichen ihm erst, wie oben geschildert den inneren Konflikt zu überwinden und als Anwalt Matt Murdock das Gesetz walten zu lassen, als Daredevil jedoch jene zu bestrafen, die juristisch nicht belangt werden können (Abb. 3, 7). Die letzte Gruppe der Superhelden hat ihre Superkräfte verliehen bekommen: Steve Rogers ist durch ein Experiment der US-Armee zu Captain America geworden (Abb. 3, 4); Al Simmons wurde vom Höllenfürsten Malebolgia zum Hellspawn gemacht (Abb. 3, 8); James ›Logan‹ Howlett hat seine zweite Identität Wolverine angenommen, nachdem er im Rahmen des Weapon X-SupersoldatenProgramms für Experimente missbraucht und seine Knochen mit dem fiktiven Metall Adamantium überzogen wurden.94 Die Eingriffe einer fremden Macht konstituieren in den genannten Fällen den Raum des Superhelden (C), wodurch entweder ein besonders affirmatives oder oppositionelles Verhältnis zwischen diesem und dem Raum der fremden Macht besteht: Am Anfang der Entwicklung von Captain America unterscheiden sich beide Räume, hier (A) und (C), lediglich durch den Umstand, dass die Figur ein Superheld ist.95 Die Werte, die er repräsentiert, entsprechen denen der etablierten Ordnung (A), was sein Kostüm in den Farben und dem Muster der USamerikanischen Flagge verdeutlicht: Es macht ihn zum »living symbol«,96 was auch in den Comics selbst reflektiert wird. Die frühen 92 Ebd. 93 Danny Fingeroth: Superman on the Couch. What Superheroes Really Tell Us about Ourselves and Our Society, New York, London: Continuum 2004, S. 75. 94 Vgl. Barry Windsor-Smith: Marvel Comics Present 1 (1991), H. 72-83. Im Film X-Men Origins: Wolverine (2009) willigt Logan hingegen in das Experiment ein. 95 Von den 1970er Jahren an kommt es auch zu Konflikten mit das US-Regierung, die Steve Rogers mehrmals dazu bewegen, die Captain America-Identität aufzugeben. Vgl. z.B. Steve Englehart/Sal Buscema: Captain America 1 (1974), H. 180. 96 Stan Lee/Jim Steranko: Captain America 1 (1969), H. 113, S. 15.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut Erzählungen um Captain America sind mithin durchweg restitutiv: Er verteidigt die bestehende Ordnung und kämpft gegen ihre Feinde, u.a. gegen Hitler.97 Spawn und Wolverine wenden sich gegen ihre Schöpfer: In Spawn liegt nicht nur ein Konflikt vor, der sich in den Räumen (B) und (C) abspielt, Spawn versucht zudem, das Eindringen der Vertreter der Hölle in Raum (A) zu verhindern; die Weapon X-Storyline um Wolverine betrifft Raum (A) hingegen nur indirekt: Indem Wolverine den Verantwortlichen für seine Misshandlungen tötet, setzt er sich zwar über die moralischen Normen der etablierten Ordnung hinweg, ihre Normen bilden im Rahmen der Narration jedoch nur einen indirekten Bezugspunkt für die Beurteilung seiner Handlungen, da die etablierte Ordnung von seinen Handlungen nicht betroffen ist.

4.2 Die ›mythische Legitimation‹ der Superhelden Wie bereits dargestellt wurde, haben die meisten Superheldengeschichten restitutive Sujets, die von der Wiederherstellung der etablierten Ordnung erzählen, in der sich die »gesellschaftliche [...] Situation«98 der Zeit widerspiegelt. Dieses im Golden Age der Comic Books entwickelt Standardschema der Handlung von Superheldencomics (in Abschnitt 3 anhand der Spider-Man-Geschichte verdeutlicht) ist noch immer das am häufigsten auftretende Narrationsmuster; die Superhelden gehen »mit dem Geist der Zeit, doch sie hinterfragen diesen Zeitgeist selten«.99 Das Standardschema bildet deshalb den Hintergrund der folgenden Ausführungen. Die aus seinem Sujet ableitbare Makroproposition lautet, vereinfacht formuliert: »Sicherheit für alle«.100 Es wird jedoch nicht nur eine Bestätigung des Raums (A) auf der narrativen Ebene vorgenommen, diese Bestätigung erfährt darüber hinaus eine narrationsinterne Begründung in mehrerlei Hinsicht: Begründet werden einerseits die Struktur des Raums (A), andererseits die Handlungen und Handlungsmodi der Superhelden. Auf inhaltlicher Ebene sind es moralische, politische, ökonomische oder gesellschaftliche Konstrukte, die erhalten und durch die Handlungen der Superhelden bestätigt werden. Da diese Konstrukte aufgrund der Struktur der Superheldenerzählungen die (in ihrer All97

So zu sehen bereits auf dem Cover der ersten Ausgabe der Serie. Vgl. Joe Simon/Jack Kirby: Captain America Comics. 98 Karin Kukkonen: Neue Perspektiven auf Superhelden, S. 34. 99 Ebd. 100 Ulrike Drechsel/Jörg Funhoff/Michael Hoffmann: Massenzeichenware. Die gesellschaftliche und ideologische Funktion der Comics, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 80.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics gemeinheit unspezifische) Konnotation tragen, moralisch richtig zu sein, haben die Begründungen dieser Konstrukte meistens die Funktion von Rechtfertigungen. Ihre Rechtfertigungsfunktion erfüllen sie dabei ganz unabhängig davon, wie sich die »Bestätigung eines Modells«101 der Moral, der Gesellschaft, des politischen oder ökonomischen Systems und die Art der Handlungen des Helden argumentativ tatsächlich rechtfertigen lassen. Und darum soll es im Folgenden auch nicht gehen: Während die ideologiekritisch ausgerichtete Comicforschung der 1950er bis 1970er Jahre zumeist auf Grundlage psychologistischer Methoden zu dem Ergebnis kam, dass Comics eine »eskapistisch-befriedigende«102 Wirkung auf ihre Leser hätten und deshalb abzulehnen oder zumindest kritisch zu rezipieren wären, soll im Folgenden lediglich skizziert werden, welche narrativen Mechanismen den Status von Handlungen, ihrer Modi und ihrer Resultate begründen und dadurch gerechtfertigt erscheinen lassen. Wie diese scheinbare Rechtfertigung tatsächlich zu bewerten ist, ist nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen. Dass wir herausarbeiten, welche Anknüpfungspunkte Superheldenerzählungen Argumentationsstrategien wie den genannten bieten, ermöglicht jedoch ein Verständnis eben dieser evaluativen Rezeption des Genres. Wie kommt es nun zur Begründung der o.g. Konstrukte? Durch spezifische narrative Mittel und Strukturen werden insbesondere zwei Aspekte narrativ ›legitimiert‹: erstens das, was die etablierte Ordnung repräsentiert; zweitens die Wahl und Art der Handlungen des Superhelden. (1.1) Da Superheldencomics zumeist seriell angelegt sind, wird das, was der Raum (A) repräsentiert, wieder und wieder durch das Eingreifen des Superhelden bestätigt. Umberto Eco spricht in seinem berühmten Aufsatz »Der Mythos von Superman« deshalb vom »Wiederholungsschema«103 der Superheldencomics:104 Ähnlich wie typische Mythenerzählungen erzählen Superheldengeschichten von der »Erfahrung des schutzlosen Ausgeliefertseins an die Kontingenzen einer nicht beherrschten Umwelt«,105 in

101 Ebd., S. 206. 102 Norbert Groeben: »Mythos contra Erklärung. Dimensionen eines psychologischen Konflikts«, in: Jutta Wermke (Hg.): Comics und Religion. Eine interdisziplinäre Diskussion, München: Fink 1976, S. 137-167, hier S. 139. 103 U. Eco: »Der Mythos von Superman«, S. 206. 104 Es geht hier – wie bereits angedeutet – nicht um die wiederholte Rezeption des Standardschemas durch die Leser der Serie. Vielmehr beziehen wir uns mit Ecos Begriff auf die Wiederholung von Sujets im Rahmen der sie umfassenden ›großen Erzählung‹, der Serie. Durch die ständige Wiederholung des Standardschemas erhält dieses innerhalb der narrativen Struktur der Serie eine besondere Signifikanz. 105 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981, S. 78.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut diesem Fall bedingt durch den Umstand, dass der ›Existenzraum‹ (H) der Instanzen von Raum (A) ebenfalls die Bedrohung durch die Instanzen des Raums (B) beinhaltet, also auch Verbrecher, Naturkatastrophen usw. Der Superheld löst diese Probleme durch sein Eingreifen, und ebenso wie in Mythenerzählungen gilt: »[T]he unintelligible – randomness – is reduced to the intelligible – a pattern«.106 Auch in Mythenerzählungen wird von der Strukturierung und Ordnung einer fiktionalen Welt erzählt,107 was natürlich insbesondere für Ursprungsmythen gilt: »Zuerst nun war das Chaos«,108 heißt es am Anfang von Hesiods Theogonie; aus dem Chaos entsteht die Welt, und mit ihr werden die verschiedenen Räume zu »Zuständen, Revieren, Territorien«109 semantisiert. Es liegt also in Superheldencomics eine ähnliche Struktur wie im Mythos vor, zumal auch in Mythenerzählungen oppositionelle Strukturen wie die Räume (A) und (B) in Superheldengeschichten in Einklang miteinander gebracht, mindestens jedoch durch den Protagonisten unterworfen oder überwunden werden (so. z.B. die Anderwelten, mit denen Odysseus während seiner Irrfahrt konfrontiert ist): »Die Grundstruktur des Mythos besteht in der Vermittlung logischer Widersprüche analog der binären Opposition in der Sprache«.110 Durch die ständige Wiederholung dieser Auflösung von Konflikten zwischen den Räumen (A) und (B), indem also wie in den immer wieder transformierten oder nachgeahmten Mythenerzählungen stets derselbe »Elementargedanke«111 bestätigt wird und es zur ständig wiederholten Durchsetzung einer moralischen o.ä. Ordnung kommt, verwandeln auch Superheldenserien »Geschichte in Na-

106 Pierre Maranda: »The Dialectic of Metaphor. An Anthropological Essay on Hermeneutics«, in: Susan R. Suleiman/Inge Crosman (Hg.): The Reader in the Text. Essays on Audience and Interpretation, Princeton: Princeton University Press 1980, S. 183-204, hier S. 192. 107 Vgl. Michael Neumann: »Metamorphosen der Sage. Eine literaturanthropologische Skizze«, in: Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn: mentis 2006, S. 193-216, hier S. 204. 108 Hesiod: Theogonie, hg. u. übers. v. Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 1999, S. 13 (V. 116). 109 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 38. 110 So Christoph Jammes Rekonstruktion der zentralen These von Claude Lévi-Strauss’ Mythentheorie. Vgl. Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 120. 111 Joseph Campbell: »Schöpferische Mythologie« (1968), übers. v. Hans U. Möring, in: Wilfried Barner/Anke Detken/Jörg Wesche (Hg.): Mythentheorie, Stuttgart: Reclam 2003, S. 164-174, hier S. 172.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics tur«112 und bestätigt die einzelne Superheldenerzählung »als Wiederholung die Ewigkeit des Tatsächlichen«113 in der fiktionalen Welt. Durch den narrativen Modus des Äußerungszusammenhangs gelingt es Superheldengeschichten ebenso wie Mythenerzählungen »intentionale Rechtfertigungen von ihrer Intentionalität zu entkleiden«114 – und mithin lassen sie sich mit weitestgehend beliebigen Werten verbinden.115 Durchgesetzt wird die jeweilige Ordnung von Figuren, deren Bezügen auf mythologische Figuren sich die Forschung bereits häufig gewidmet hat:116 Wie die mythischen Figuren sind die Superhelden durch ihre besonderen Fähigkeiten eine prinzipiell von den Instanzen des Raums (A) verschiedene Größe, und ihre Geschichten erzählen dementsprechend auch hinsichtlich der Hauptfiguren, nicht nur hinsichtlich der ›unbeherrschten Kräfte‹ des Raums (B), »von dem ›Stärkeren‹ und seiner Macht«.117 (1.2) Dass es der Superheld ist, der die etablierte Ordnung bestätigt, legitimiert diese zusätzlich, denn die Wahl seiner Handlungen und ihrer Modi wird in den Superheldenerzählungen auf eine besondere Weise begründet: (2) Die ›Legitimation‹ der Handlungen von Superhelden basiert natürlich nicht nur auf dem bloßen Vorhandensein ihrer besonderen Fähigkeiten. Vielmehr ist sie auf den Umständen basiert, die mit dem Erwerb der Fähigkeiten einhergingen oder zu den Superkräften geführt haben: Die origin stories erzählen zwar vom Erwerb der Superkräfte, begründen aber v.a. die Motivation der Figuren, ein Leben als Superheld zu führen, ebenso wie die Entstehungsgeschichten 112 Barthes weist darauf hin, dass dies eine der zentralen Funktionen von Mythen ist. Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, übers. v. Helmut Scheffel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1964, S. 113. 113 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt/Main: S. Fischer 1969, S. 33. 114 N. Groeben: »Mythos contra Erklärung«, S. 152. 115 Vgl. ebd., S. 153. 116 Vgl. exemplarisch Don LoCicero: Superheroes and Gods. A Comparative Study from Babylonia to Batman, Jefferson, London: McFarland 2008. Systematische Zugänge zur Untersuchung von Superheldenerzählungen als Mythenerzählungen finden sich z.B. bei U. Eco: »Der Mythos von Superman«; Ole Frahm: »Wer ist Superman? Mythos und Materialität einer populären Figur«, in: Stefanie Diekmann/Matthias Schneider (Hg.): Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit, Berlin: SuKuLTuR 2005, S. 145-158; Hannes Fricke: »Batmans Metamorphosen als intermedialer Superheld in Comic, Prosa und Film: Das Überleben der mythischen Figur, die Urszene – und der Joker«, in: IASLonline (7.4.2009), URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3071, Datum des Zugriffs: 10.5.2009. 117 Walter Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, 2. Aufl., Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 44.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut vieler Superschurken berichten, wie diese zu Instanzen des Raums (B) geworden sind: Bruce Wayne etwa wurde zu Batman, weil er mitansehen musste, wie seine Eltern getötet wurden. Angesichts dieser Erfahrung scheint er in seinem Handeln in besonderem Maße gerechtfertigt zu sein. Jeff Brenzel weist in seinem Aufsatz »Why Are Superheroes Good?« jedoch darauf hin, dass origin stories wie jene von Batman »more as signs or interpretations of character than as explanations«118 dafür fungieren, dass Superhelden gut handeln. Noch weniger angemessen ist es, von der schicksalhaften Erfahrung der Figur darauf zu schließen, dass sie gut handelt und die richtige Ordnung bzw. die richtigen Konstrukte im o.g. Sinne mit ihrem Handeln bestätigt. Es liegt vielmehr ein Begründungszusammenhang vor, den wir »mythische Setzung« nennen möchten: Auch Mythentexte zeigen nicht in Form einer argumentativ entwickelten Theorie auf, warum etwas auf eine bestimmte Art und Weise ist. Es wird vielmehr ein begründendes Ereignis gesetzt, von dem aus die Handlungen der Mythenerzählungen ihren Lauf nehmen:119 Die vorgenommenen Setzungen des Philoktet-Dramas von Sophokles sind z.B. erstens der Umstand, dass Philoktet von einer Schlange gebissen wurde und wegen seiner übel riechenden Wunde mit seinem Bogen auf der Insel Lemnos ausgesetzt wurde, zweitens die Prophezeiung, dass der Krieg gegen Troja nur mit dem Bogen des Philoktet gewonnen werden könne. Von diesen beiden nicht weiter begründeten oder erklärten Prämissen geht die Handlung von Sophokles’ Drama und der nachfolgenden Rezeption aus. Auch die Entwicklung zum Superhelden wurde (zumindest in der Anfangszeit des Genres) nicht genauer geschildert: »[D]ie Figuren sind einfach plötzlich da; oder ihre Entwicklung wird in einem Vorspann zur gesamten Serie in Form einer Legende geschildert (Superman, Batman, Spider-Man).«120 Der Schicksalsschlag, den die meisten der späteren Superhelden in ihrer origin story erleiden müssen, fungiert als Erklärung dafür, warum die Entscheidung getroffen wurde, heldenhaft im o.g. Sinne zu handeln. Gleichzeitig fungiert diese Erklärung der origin story, auf die bei fast allen Superhelden im Laufe ihrer Serien im118 Jeff Brenzel: »Why Are Superheroes Good? Comics and the Ring of Gyges«, in: Tom Morris/Matt Morris (Hg.): Superheroes and Philosophy. Truth, Justice and the Socratic Way, Chicago, La Salle: Open Court 2005, S. 147-160, hier S. 153. 119 Vgl. H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 297f. 120 Hartwig Frankenberg: »Mythos als eine narrative Kategorie von Texten«, in: Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten (Hg.): Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979, Berlin: Schmidt 1983, S. 250261, hier S. 257f.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics mer wieder verwiesen wird, als Legitimation ihrer Handlungen und lässt diese in mehrfacher Weise gerechtfertigt erscheinen: So bewirkt die von der Erzählinstanz vorgenommene wiederholte Betonung seines Schicksalsschlags, dass Batmans Taten im Kontext der fiktionalen Welt durch das Leid, das er erfahren musste, in höherem Maße gerechtfertigt wirken als die der übrigen Figuren – abgesehen vielleicht vom ersten Robin, Dick Grayson, dessen Eltern ebenfalls von Verbrechern getötet wurden.121 Zwar führt Batman eine »personal vendetta«,122 um Rache für den Tod seiner Eltern zu nehmen, doch lässt der allgemeine Anspruch, »warring on all crime«,123 vermuten, dass er außerdem anderen Leid ersparen möchte – zumindest besteht eine Spannung zwischen dem gesetzten Ziel, Rache für den Tod der Eltern, und dem gewählten Mittel, um das Ziel zu erreichen, einen Krieg gegen das Verbrechen insgesamt zu führen. Zweitens dient sein Handeln einem höheren Ziel als der Durchsetzung des Gesetzes, nämlich der Realisierung »eine[r] neuen Ethik«:124 Wie in der oben erwähnten origin story der Figur Daredevil wird den unpersönlichen juristischen Regeln ein moralischer Gerechtigkeitsbegriff übergeordnet, der im Fall von Daredevil und Batman zudem durch das Schicksal der Hauptfigur affektiv aufgeladen ist. Nur das Wirksamwerden der ›neuen Ethik‹ führt in Superheldenerzählungen dazu, dass die Ordnung des Raums (A) wiederhergestellt ist. Den Vertretern des Gesetzes gelingt diese Aufgabe nicht, wodurch die Superhelden zu Repräsentanten der einzigen »überhaupt [...] tragfähigen Moral«125 werden. Dementsprechend ist Batman besonders zu Beginn der Serie auch »outside of the realm of ideology, the controlling force of the State«126 zu verorten und wirkt auf einer höheren Ebene gerechtfertigt. Diese legitimatorische narrative Begründung, die sich aus den origin stories der Superhelden und der oppositionellen Raumkons-

121 Erst später in der Entwicklung von Superheldenserien, insbesondere im Iron Age der 1980er Jahre wurden die origin stories darüber hinaus zur radikalen Neuinterpretation der jeweiligen Superheldenfigur genutzt. So wird etwa Batman in hohem Maße ›vermenschlicht‹, seine Emotionen werden nachvollziehbarer und seine Kräfte relativiert. Vgl. etwa Frank Miller/David Mazzucchelli: Batman: Year One (1987), New York: DC 1988. 122 W. Brooker: Batman Unmasked, S. 53. 123 B. Finger/B. Kane: »The Legend of the Batman«, S. 139. 124 U. Eco: »Der Mythos von Superman«, S. 216. 125 Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008, S. 502. 126 Jamie A. Hughes: »›Who Watches the Watchmen?‹ Ideology and ›Real World‹ Superheroes«, in: Journal of Popular Culture 39 (2006), S. 546557, hier S. 546.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut tellation ableiten lässt, wurde im Laufe der Entwicklung des Superheldengenres umgedeutet, verstärkt jedoch seit den 1980er Jahren, insbesondere durch den Einfluss von Frank Millers Batman: The Dark Knight Returns (1986) sowie Alan Moores Watchmen (1986f.) und Batman: The Killing Joke (1988). So zeigt z.B. Martin Schüwers detaillierte narratologische Analyse der Konfrontation von Batman und Two Face in Millers Batman: The Dark Knight Returns,127 dass als Hauptmovens des Superhelden »die eigene Besessenheit«128 angeführt wird – und diese vermag kaum mehr, eine legitimatorische Funktion zu erfüllen.129

4.3 Ausblick: Dominante Konfliktlinien im Laufe der Genreentwicklung Viele wissenschaftlich ausgerichtete Betrachtungen, besonders aber solche, die ein breiteres Publikum avisieren, beschreiben die chronologische Entwicklung des Superheldengenres ohne einen systematischen Bezugsrahmen. Eine Ausnahme bildet Peter Coogans bereits erwähnte Dissertation Superhero. Coogan geht bei seiner Rekonstruktion von Thomas Schatz’ Modell der ›evolutionären Genreentwicklung‹ aus: »A genre’s progression from transparency to opacity – from straightforward storytelling to self-conscious formalism«130 – scheint der Normalfall zu sein. Erstens wird also im Laufe der Genre-Entwicklung sowohl quantitativ als auch qualitativ in zunehmendem Maße transformatorisch Bezug auf die Genre-Regeln genommen (im Sinne von Genettes Parodie, Travestie bzw. Transposition).131 Zweitens wird in zunehmendem Maße genrereflexiv erzählt. Schatz differenziert – v.a. aus heuristischen Gründen – unterschiedliche Stufen der Zunahme an Selbstreferentialität:

127 Frank Miller: Batman: The Dark Knight Returns, New York: DC 1986, Kap. 1, S. 47. 128 M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 504. 129 Gleichzeitig finden sich in der späteren Entwicklung des Batman-Handlungsraums Darstellungen, die Batmans Eingreifen umso relevanter wirken lassen: Im Gegensatz zu den frühen Comics, in denen Gotham City noch nicht als von Korruption gebeutelter Moloch präsentiert wird, scheint Batmans Eingreifen notwendig zu sein, weil die Gesetzesorgane selbst zu einem großen Teil dem Einfluss aus Raum (B) erlegen oder diesem Raum zuzuordnen sind. Deutlich wird dies z.B. an der Neuausrichtung der Figur Batman in F. Miller/D. Mazzucchelli: Batman: Year One. 130 Th. Schatz: Hollywood Genres, S. 38. 131 Vgl. G. Genette: Palimpseste, S. 44.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics A form passes through an experimental stage, during which its conventions are isolated and established, a classic stage, in which the conventions reach their ›equilibrium‹ and are mutually understood by artists and audience, an age of refinement, during which certain formal and stylistic details embellish the form, and finally a baroque (or ›mannerist‹ or ›self-reflexive‹) stage, when the form and its embellishments are accented to the point where they are the ›substance‹ or ›content‹ of the work.132

Diese vier Stufen lassen sich, wie Coogan herausgearbeitet hat, ebenso in der Entwicklung des Superheldencomics ausmachen: Das sogenannte Golden Age of Comic Books (1938 bis Mitte der 1950er Jahre) entspricht Schatz’ experimental stage, das Silver Age (Mitte der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre) der classic stage, das age of refinement entspricht dem Bronze Age (Anfang der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre) und Schatz’ baroque stage dem Iron Age (Anfang der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre). Coogan erweitert Schatz’ Schema richtigerweise um die »reconstructive stage«,133 was notwendig ist, um das Renaissance Age der Entwicklung des Superheldengenres zu beschreiben (Anfang der 1990er bis nach der Jahrtausendwende). In diesem, so Coogan, »the conventions of the genre are reestablished«.134 Coogan stellt im Rahmen seiner Ausführungen zum letzten angeführten Zeitalter in Aussicht, dass Genreentwicklungen zyklisch verlaufen würden und mit der reconstructive stage ein neuer Zyklus begänne.135 Diesen letzten Schritt möchten wir nicht mitgehen. Vielmehr nehmen wir einen systematischen Zusammenhang der Entwicklung von Genres und der Ausdifferenzierung eines Feldes im Sinne Bourdieus an: Wie oben bereits erwähnt wurde, geht Coogan in seiner Darstellung der Genreentwicklung nicht darauf ein, dass einer Entwicklungsstufe vorangegangene Formen der Realisierung des Genres nicht verschwinden, sondern höchstens an Relevanz für das jeweilige Feld verlieren; wahrgenommen werden zwar v.a. Traditionsbrüche, trotzdem werden Erzählformen der verschiedenen Comic Book-›Zeitalter‹ weiterhin von Comic-Produzenten angewandt oder bleiben als (bewusste oder unbewusste) Bezugspunkte der Produktion und Rezeption präsent. Kurz: Aufmerksamkeit bekommen weniger bestehende, sondern neue Positionen, die im sich entwickelnden Feld eingenommen werden, da innovative Variation auch in populärkulturell geprägten Feldern einen der wichtigsten Wert-

132 Th. Schatz: Hollywood Genres, S. 37f. Schatz selbst orientiert sich bei der Bezeichnung der verschiedenen Stufen der Genreentwicklung an Henri Focillon: Life of Forms in Art, New York: Wittenborn 1942. 133 P. Coogan: Superhero, S. 194. 134 Ebd., S. 220. 135 Ebd., S. 197.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut maßstäbe von Produzenten wie auch Konsumenten darstellt.136 Schatz lässt exemplarisch den Filmkritiker Robert Warshow zu Wort kommen, der feststellt: »Variation is absolutely necessary to keep the type from becoming sterile; we do not want to see the same movie over and over again, only the same form.«137 Auch der Populärkulturforscher Henry Jenkins betont die Relevanz der Variation für die Bindung der Rezipienten an Comic-Serien um Superhelden: »[T]here is a continual need to generate diversity within the superhero genre to retain the interest of long standing readers and to capture the interest of new ones.«138 Im Laufe der Ausdifferenzierung des Feldes der Superheldenerzählungen139 werden also ausgehend von früheren Realisierungen des Genres neue Narrationen kreiert140 – und zwar nicht nur um neue Figuren, auch hinsichtlich einer Figur vollzieht sich nach und nach »a shift away from focusing primarily on building up continuity within the fictional universe and towards the development of

136 Ein Feld der kulturellen Produktion sei mit Bourdieu als ein nach spezifischen Regeln strukturierter wandelbarer sozialer Raum verstanden, in dem Produzenten von ästhetischen Werken unterschiedliche Positionen besetzen können. Jede Position ist durch die Relationen zwischen den im Feld insgesamt bestehenden Positionen objektiv bestimmt. Ob ein Produzent eine bestimmte distinkte Position einnehmen oder weiterhin besetzen kann, resultiert in Folge einer relevanten Äußerung (Werk, Rede, nicht sprachliche Handlung etc.) (a) aus den im Feld wirkenden Kräften, die sich wiederum aus den Relation zwischen den verschiedenen Positionen ergeben, und (b) aus den Konkurrenz- und Definitionskämpfen der Akteure, die sich als Abfolge aufeinander beziehbarer spezifischer Äußerungen realisieren. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (1992), übers. v. Bernd Schwibs/Achim Russer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 365. 137 Robert Warshow zit. n. Th. Schatz: Hollywood Genres, S. 36. 138 H. Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«. 139 Zu untersuchen wäre die Frage, ob der mediale Produktionsbereich der Superheldencomics ein eigenes Subfeld bildet oder ob ein mehrere Formen medialer Realisierung umfassendes Feld der Produktion vorliegt. Für Letzteres spricht erstens, dass die meisten Superheldenfilme auf Comics basieren, und zweitens, dass im Diskurs über Superheldenfilme fast immer auf Comics Bezug genommen wird. So wurde etwa Christopher Nolans The Dark Knight u.a. deshalb so positiv von der Filmkritik aufgenommen, weil er eine Innovation innerhalb des Genres darstellt. Vgl. z.B. Jerome Charyn: »Amerikas Totenmaske« (2000), übers. v. Eike Schönfeld, in: Die Zeit, 14.8.2008. 140 Vgl. Michael Chabon: »Secret Skin. An Essay in Unitard Theory«, in: The New Yorker online (10.3.2008), URL: http://www.newyorker.com/reporti ng/2008/03/10/080310fa_fact_chabon?currentPage=all, Datum des Zugriffs: 6.6.2009.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics multiple and contradictory versions of the same characters«.141 Dies spricht ebenfalls dafür, dass Genreentwicklung nicht zyklisch erfolgt. Vielmehr werden im Laufe der oben dargestellten ›Evolution‹ eines Genres immer neue, zusätzliche Positionen eingenommen, einerseits solche, die zu den bisher bestehenden antagonistisch ausgerichtet sind, andererseits solche, die etablierte Positionen lediglich variieren – und Letzteres ist im v.a. heteronom strukturierten Feld der Superheldenerzählungen der Normalfall.142 Wir nehmen an, dass – wie im Folgenden skizziert wird – durch den ›Angriff‹ des Verlags Image Comics auf den Comic Code bis Mitte der 1990er Jahre einer der letzten großen Schritte in der Ausdifferenzierung des Feldes der Superheldenerzählungen gemacht wurde. Statt eines neuen Zyklus, so macht die Entwicklung des Genres seit Ende der 1990er Jahre deutlich, liegt vor den Rezipienten von Superheldennarrationen u.E. aber ein ›pluralistisches Zeitalter‹.143 In diesem gibt es zwar ›Moden‹ und ›Trends‹, diese wechseln sich jedoch erstens schneller ab als die vorangegangenen Ages, zweitens existieren häufig mehrere Trends nebeneinander und drittens bleiben die zuvor entwickelten narrativen Muster weiterhin präsent. Warshows Rede von der ›Form‹ des Genres, welche die Ausgangsbasis und den Hintergrund von Variationen bildet, bezieht sich u.E. erstens auf die zentralen Elemente des Genres (in unserem Modell die etablierte Ordnung (A), der Raum der Ordnungsbedrohung (B) sowie Raum (C), die ›Anderwelt‹ des Superhelden), insbesondere auf jenes Element, das dem Superheldengenre seinen Namen gibt: die Figur des Superhelden. Zweitens zielt Warshows Äußerung auf das jeweilige Standardhandlungsschema eines Genres, das wir oben für das der Superheldennarrationen herausgearbeitet haben und das den Hintergrund aller im Folgenden skizzierten Schemata bildet. Dabei lässt sich der Wechsel dominanter Schemata nicht an einzelnen Comics festmachen, was z.B. Coogan versucht.144 Er ist fließend, und »genre formulas are continually repositioned in relation to social, cultural, and economic contexts of production and reception«.145 141 H. Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«. 142 Hierdurch soll nicht impliziert werden, dass antagonistische Positionierungen im Feld der Superheldenerzählungen zwangsläufig auf Autonomie zielen. 143 Gestützt wird diese Einschätzung auch durch Jenkins Ausführungen zum gegenwärtigen Comic-Feld, die sich insbes. auf das Prinzip der Serialität in Superheldencomics beziehen: »Today, comics have entered a period where principles of multiplicity are felt at least as powerfully as those of continuity.« H. Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«. 144 P. Coogan: Superhero, S. 209. 145 H. Jenkins: »Just Men in Capes? (Part One)«.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut Einzig der Beginn des Golden Age of Comic Books lässt sich klar datieren: Das Erscheinen Supermans in der ersten Ausgabe der Action Comics (1938) hat überhaupt erst dazu geführt, dass sich Comic-Hefte, und zwar in erster Linie Superheldencomics, etablieren konnten. Im Golden Age haben die Superheldengeschichten ein experimentelles Stadium durchlaufen, in dessen Entwicklung sich schon schnell das Superheldengenre herausgebildet hat – nicht zuletzt aufgrund des Verkaufserfolgs der Superman-Hefte und der damit verbundenen Vielzahl an nachahmenden Transformationen des Figurenkonzepts. Ihren Ausgangspunkt haben die Superhelden am Anfang dieser Entwicklung bei anderen Genres genommen, v.a. in den Abenteuergeschichten der Pulp-Hefte.146 Darüber hinaus wurden die Geschichten um Superman auf einem frühen Coverentwurf von Jerry Siegel und Joe Shuster 1933 als »Science Fiction Story in Cartoons«147 beschrieben, während sich die Einflüsse des Suspenseund Krimi- bzw. Detektivgenres insbesondere in den frühen Batman-Comics erkennen lassen.148 Neben der Konstellation der Elemente, die das Superheldengenre ausmachen, sowie der o.g. Genrekonventionen hat sich das bereits vorgestellte narrative Standardschema im Golden Age etabliert. Zunächst bildeten Kinder und Jugendliche die primäre Zielgruppe der Comic Books. Das war vermutlich der Grund dafür, dass die etablierte Ordnung nicht nur implizit durch die narrative Struktur, sondern auch explizit bestätigt wurde: So finden sich in den ersten Jahren der Superheldencomics häufig Lehrsätze, die z.T. in die Handlung eingebunden sind (so erklärt etwa Batman einigen Jugendlichen, dass Glücksspiel keine Beschäftigung für Heranwach-

146 Vgl. P. Coogan: Superhero, S. 126-164. 147 Andreas C. Knigge: Alles über Comics. Eine Entdeckungsreise von den Höhlenbildern bis zum Manga, Hamburg: Europa 2004, S. 189. 148 Es lassen sich Einflüsse allgemeiner Art ausmachen, aber auch Parallelen zu einzelnen Werken, z.B. zu Robert Lewis Stevensons Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde in Bill Finger/Bob Kane: »Wolf, the Crime Master«, in: The Batman Chronicles (2006), H. 2, S. 59-71. (Zuerst erschienen in Batman 1 [1940], H. 2.) Henry Jenkins weist darauf hin, dass das Superheldengenre trotz der Autonomisierung von anderen Genres durch Herausbildung eigener Merkmale und Konventionen stets von anderen Genres beeinflusst wurde. Anknüpfungspunkte für Cross-Genre-Narrationen wurden auch bewusst genutzt und geschaffen, um im ›Kampf‹ populärkultureller Genretraditionen um Konsumenten eine möglichst breite Leserschaft ansprechen zu können. Vgl. Henry Jenkins: »Just Men in Tights? (Part Two)«, in: Confessions of an Aca-Fan. The Official Weblog of Henry Jenkins (16.3.2007), URL: http://henryjenkins.org/2007/03/just_men_in_ tights_part_two.html, Datum des Zugriffs: 6.6.2009.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics sende ist),149 z.T. aber auch direkt an die Leser gerichtet werden (»It depends on YOU and YOU and YOU«).150 Mit dem Zweiten Weltkrieg kommt es zur Ausweitung der Erzählräume über die fiktiven Städte hinaus, in denen die Superhelden normalerweise operieren (Metropolis, Gotham City usw.): Das Standardmuster findet Anwendung auf einer globalen Ebene; die Superhelden ziehen in den Krieg, jedoch ohne dass das narrative Schema als solches verändert wird. Mit dem Silver Age (Mitte der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre) wird die classic stage der Genreentwicklung erreicht: Nachdem typische Vertreter für Genrekonventionen und -merkmale im Golden Age entwickelt worden waren, wurden diese nun stärker variiert. Auf dem Cover einer Superman-Ausgabe von 1968 wird reflektiert, was nach dem Zweiten Weltkrieges tatsächlich zu gelten schien: »They don’t need Superman anymore... I’m through, finished«.151 Angesichts der Überwindung einer globalen Bedrohung schienen andere Konflikte unbedeutender, was ein Grund für den Einbruch der Leserzahlen nach Ende des Krieges war. Verursacht u.a. durch den in der McCarthy-Ära eingeführten Comic Code, ein Regelwerk zur freiwilligen Selbstkontrolle der Comic-Verlage, wich man auf weniger stark auf die Wirklichkeit bezogene Geschichten um Superhelden und eine grelle Pop-Art-Ästhetik aus. Den inhaltlichen Kern der Erzählungen bildete trotzdem weiterhin das ›ernsthafte‹ Standardschema. Die Form seiner Realisierung bewirkt jedoch – mit Susan Sontag gesprochen – »a seriousness that fails«.152 Auch bei vielen Superheldencomics, die um 1960 erschienen sind, ist das Misslingen des ›ernsthaft‹ gemeinten Äußerungsaktes Will Brooker zufolge als nicht-intentional anzusehen, sodass sie als »›pure‹ camp«153 gelten können. Eine Überwindung der ökonomischen Krise der Superheldencomics war vermutlich überhaupt erst einige Jahre später möglich, als Marvel Comics mit Ben Grimm/The Thing von den Fantastic Four (1961) und Peter Parker/Spider-Man (1962), also den zweifelnden Superhelden,154 eine bis heute dominante Erweiterung des Standardschemas einführte: Neben den Konflikt zwischen den Räumen 149 Vgl. Bill Finger/Bob Kane: »The Case of the City of Terror«, in: The Batman Chronicles (2006), H. 2, S. 126-139, hier S. 135. (Zuerst erschienen in Detective Comics [1940], H. 43.) 150 Whitney Ellsworth/Jerry Robinson: »The Batman Says«, in: The Batman Chronicles (2006), H. 2, S. 207. (Zuerst erschienen in Batman 1 [1940], H. 3.) 151 Otto Binder/Ross Andru: Action Comics 1 (1968), H. 368, Titelseite. (Titelzeichnung von Carmine Infantino.) 152 W. Brooker: Batman Unmasked, S. 221. 153 Ebd., S. 222. 154 Vgl. Abschnitt 4.1.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut (A) und (B), der durch den Superhelden gelöst wird, tritt ein Konflikt zwischen den Instanzen der Räume (A) und (C), weil Superhelden wie Spider-Man – wie oben bereits dargestellt wurde – ihre beiden Identitäten nur schwer miteinander vereinen können und unter der Ausgrenzung durch die Instanzen des Raums (A) leiden: So ist etwa The Thing durch seine neue, deformierte Gestalt sozial isoliert, wodurch Raum (A) ihm einerseits als beschützenswertes Sinnbild seines alten Lebens erscheint, andererseits immer wieder Ursache seiner inneren Konflikte ist. Gegen diese die Leser begeisternde Erweiterung des Standardschemas konnten die Comic-Produzenten mit Superhelden der ersten Generation nur anfangs noch antreten, wenig später schon machten sich die ›Zweifler‹ einerseits in Form von stetig sinkenden Verkaufszahlen der DC-Serien bemerkbar,155 andererseits in den Erzählungen um die ›altgewordenen Helden‹ selbst. So lief Ende der 1960er Jahre nicht nur ein einsamer Captain America (übrigens eine Figur aus dem Marvel-Universum) durch die Straßen und führte kritische Selbstgespräche: I’m like a dinosaur – in the cro-magnon age! An anachronism – who’s out-lived his time! This is the day of the anti-hero – the age of the rebel – and the dissenter! It isn’t hip – to defend the establishment! – Only to tear it down! And, in a world rife with injustice, greed, and endless war – who’s to say the rebels are wrong? But I’ve never learned to play by today’s new rules! I’ve spent a lifetime defending the flag – and the law! Perhaps – I should have battled less – and questioned more!156

Im age of refinement, das Coogan mit dem Bronze Age identifiziert (Anfang der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre), wird in zunehmendem Maße selbstreferentiell erzählt. Im Bronze Age beginnt, was im darauf folgenden Iron Age auf die Spitze getrieben wird: die Hinterfragung von Genrekonventionen und Erzählmustern, insbesondere des Standardschemas. Die Probleme für den Raum (A) werden in zunehmendem Maße als dessen eigenes Produkt markiert, sodass Raum (D) ein zentraler Ort der Handlung wird.157 Dabei stellt die Bekämpfung von Drogenmissbrauch, Rassismus, Armut usw. die Superhelden häufig vor die Frage, in welchem der Räume (A) und (B) sie die Ursache des Übels zu suchen haben. Bei Iron Man führt dies schließlich dazu, dass er trotz der bislang eindeutig systemaffirmativen Ausrichtung seiner Handlungen nicht gegen Studentenproteste anlässlich des Vietnam-Kriegs vorgehen kann – und sich so indirekt gegen die etablierte Ordnung stellt;158 bislang waren 155 156 157 158

A.C. Knigge: Alles über Comics, S. 269. Stan Lee/Gene Colan: Captain America 1 (1970), H. 122, S. 3. Vgl. Abschnitt 3. Vgl. Gary Friedrich/George Tuska: Iron Man 1 (1972), H. 45.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics Batmans Gegner entweder geisteskrank oder gehörten der Unterschicht bzw. einer als dekadent und aristokratisch dargestellten Oberschicht an, nun entstammen sie auch der bürgerlichen Mittelschicht.159 Während im Bronze Age die Ordnung des Raums (A) hinterfragt wurde, gingen die Comic-Produzenten im Iron Age (Anfang der 1980 bis Anfang der 1990er Jahre) darüber noch hinaus: Nun wurden auch der bislang unangetastete Heldenstatus und die Legitimationsbasis der Superhelden problematisiert. Als paradigmatische Superheldenerzählungen des Iron Age gelten die bereits genannten Comics Watchmen, Batman: The Killing Joke und Batman: The Dark Knight Returns,160 in denen Superhelden nicht mehr nur dem Raum (C) zugeordnet wird, sondern – wie der schon erwähnte Ozymandias aus Watchmen – dem bipolaren Feld (F); was Daniel Kothenschulte Nolans The Dark Knight (2008) bescheinigt – »Dieser ›schwarze Ritter‹ ist so fragwürdig wie die Gesellschaft, für die er steht«161 – ist also bereits in den 1980er Jahren entwickelt worden. Coogan sieht es als eine Konsequenz dieser Problematisierung der Figuren an, dass nicht nur Rorschach aus Watchmen, der letzte Held der Erzählung mit unanfechtbaren Idealen, am Ende stirbt, sondern außerdem Superman 1992 von Doomsday getötet wird.162 Trotz und wegen der Erschütterung der eigenen Grundfesten erreichte das Superheldengenre nach der baroque stage die reconstructive stage. Dabei kam es zu mehreren Weiterentwicklungen. Erstens wurden Superheldengeschichten immer häufiger für die Zielgruppe männlicher Jugendlicher und Erwachsener konzipiert, nicht mehr für Kinder, so auch das gesamte frühe Programm des 1992 neu gegründeten Verlags Image Comics: Es kam zu einer massiven Zunahme expliziter und sexualisierter Gewaltdarstellungen; der Raum (F) wurde zum normalen ›Ort des Superhelden‹ – jedoch ohne dass die Narrationen dadurch wie Moores Watchmen durch die Figur Ozymandias genrereferentiell aufgeladen wurden. In den Mittelpunkt rückte im Rahmen dieser Neuausrichtung des Genres der Konflikt zwischen Superschurken und Superhelden, während die Auseinandersetzung der Räume (A) und (B) zunehmend in den Hin159 Vgl. Th. Sieck: Der Zeitgeist der Superhelden, S. 78. 160 Die Comic-Autoren Alan Moore und Frank Miller gelten als die wichtigsten Produzenten des Iron Age und als die ersten, die das Genre von einer autonomen Position aus bearbeitet haben. 161 Daniel Kothenschulte: »Das Land mit der eisernen Maske«, in: Frankfurter Rundschau, 20.8.2008. 162 Vgl. P. Coogan: Superhero, S. 217. Supermans Tod hat ebenso wie der von Captain America (2007) außerdem den Sinn, Leser zu gewinnen und die Figur gleichzeitig zu aktualisieren, also der Entwicklung des soziokulturellen und intertextuellen Kontextes anzupassen.

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Stephan Ditschke & Anjin Anhut tergrund geriet; in ihren Kämpfen befinden sich die Protagonisten zwar in Gefahr, jedoch häufig nicht, weil sie für andere ein Risiko auf sich nehmen – in vielen Fällen erfüllen ihre Taten die o.g. Definition heldenhaften Handelns kaum mehr. Die beiden anderen großen amerikanischen Comic-Verlage, insbesondere Marvel, passten sich dem Erzählmuster der Image-Comics an, sodass knapp bekleidete Frauen, männliche Muskelberge und überdimensionierte futuristische Schusswaffen die Superheldencomics dominierten. Reflektiert wurde dieser Wandel in der 1996 erschienenen DCMiniserie Kingdome Come.163 Die Geschichte von Autor Mark Waid, die Alex Ross mit fotorealistischen Bildern umgesetzt hat, spielt in einer Zukunft, in der Superhelden ähnlich jenen der Image-Generation die Welt als Arena für ihre Kämpfe gegeneinander nutzen, während ihre Vorgänger, Superman, Wonder Woman, Green Lantern usw., nicht mehr aktiv sind: »Sie haben die Menschen sich selbst überlassen.« Präsent sind die alten Helden nur noch in der Erinnerung und durch die Kostüme der Kellner in den Planet Krypton-Restaurants. Die neuen, »selbsternannten ›Helden‹« sind zwar »inspiriert von den Legenden« über ihre Vorgänger, »aber nicht... von deren Moral«. Da es keine Superschurken mehr gibt, kämpfen sie gegeneinander, und zwar schon »nicht mehr aus Langeweile, sondern aus Übermut« – weshalb ihre Handlungen auch nicht mehr als heldenhaft im Sinne unserer Definition anzusehen sind. Angesichts der stetigen Verwüstung des Raums (A) durch die »Metamenschen« kehren die gealterten Superhelden zurück, um die Ordnung wiederherzustellen; zwei Generationen von Superhelden – und damit verschiedene Zeitalter und Verlage – werden als Antagonisten präsentiert. Die ›neuen Helden‹ sind dabei karikaturesk und clownshaft dargestellt, was gerade durch den Kontrast zu den ›alten Helden‹ wie eine polemische Abwertung erscheint (Abb. 4). Ohne es zu wollen, leiten Superman und seine Helfer durch ihr Eingreifen zunächst eine Katastrophe ein, besinnen sich dann aber ihrer eigentlichen Aufgabe als Beschützer der etablierten Ordnung (A) und entscheiden sich schließlich, zusammen »mit den Menschen auf das gemeinsame Wohl hinzuarbeiten«. In Kingdome Come wird der Handlungsraum des Superheldengenres rekonstruiert und dadurch das Standardschema überhaupt wieder möglich: Raum (A) wird als relevanter Bezugspunkt der Superheldenhandlungen reinstalliert. Dabei kämpfen zunächst beide Generationen von Superhelden gegeneinander (von denen die neue Generation Raum [B], die alte Raum [C] zugeordnet wird). Als die

163 Alle Zitate dieses und des folgenden Absatzes aus Mark Waid/Alex Ross: Kingdome Come. Die Apokalypse (1996), übers. v. Uwe Anton, 2. Aufl., Hamburg: Carlsen 1998, o.S.

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Zur narrativen Struktur von Superheldencomics Menschen – genauer: die den gesamten Raum (A) umfassende Institution der Vereinten Nationen – mit Atomwaffen in den Kampf eingreifen, richtet sich Superman – als erster Superheld überhaupt die repräsentative Instanz des Raums (C) – gegen die Menschen und Raum (A). Er wird jedoch daran erinnert, was ihn eigentlich ausmacht: »Von all deinen Kräften... war die größte immer dein instinktives Wissen... was Recht und Unrecht ist.« – Am Ende von Kingdome Come wird mithin sogar das Prinzip der ›mythischen Legitimation‹ wieder in Kraft gesetzt, das zuvor in Gestalt der Metamenschen dekonstruiert worden war.

Abb. 4. Mark Waid/Alex Ross: Kingdome Come, o.S.

An das Renaissance Age schließt sich u.E. ein pluralistisches Zeitalter an: Tatsächlich ist das Standardschema wieder dominant, zumeist erweitert um den typischen Konflikt der Zweifler unter den Superhelden. Es finden sich aber außerdem sozialkritische und genrereferentielle Erzählungen, sei es in Spawn, Spider-Man, next171

Stephan Ditschke & Anjin Anhut wave oder The Boys, es tauchen Superheldenfiguren und -konflikte auf, wie sie in den 1990er Jahren verbreitet waren (z.B. beim Marvel-Imprint MAX) – und es gibt Serien wie Invincible, die sämtliche zuvor entwickelten Narrationsformen und -elemente des Genres verbinden. Darüber hinaus bedienen sich viele Comic-Autoren des »genre mixing as a way of complicating and expanding the genre’s potential meanings«,164 nicht zuletzt in den außerhalb der continuity des Superhelden-Universums spielenden Elseworlds-Geschichten (DC-Imprint seit 1989). Trotz der Bandbreite des Genres dominieren zwar die auf dem Standardschema aufbauenden Narrationen, doch ebenso wenig wie sich »[d]as Gesellschaftsbild der Comics«165 ausmachen lässt, gibt es noch das Gesellschaftsbild der Superheldencomics.

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Enthauptung. Independent Comics und ihre Unabhängigkeit von bürgerlichen Kunstbegriffen OLE FRAHM

In seinem Essay »Mutantenkosmos. Von Mickey Mouse zu Explomaus« stellt Christian Gasser ein hegelianisches Modell der ComicGeschichte vor.1 Sie soll in drei Schritten verlaufen sein, um bei der »deutschsprachigen Comic-Avantgarde« anzukommen. In den ersten Jahren habe es an sich avantgardistische Tendenzen gegeben. Bei Serien wie den Kin-der-Kids von Lyonel Feininger oder Little Nemo von Winsor McCay »bildeten Popularität und Qualität (noch) keinen Widerspruch«.2 Dann jedoch sei der Comic 1912 mit der Syndikalisierung zu einem stereotypenabhängigen Massenmedium geworden. So bedeutend Figuren wie Popeye, Snoopy und Superman gewesen seien, der »Raum und das Bewusstsein für eine Avantgarde innerhalb dieser Comic-Welten [...] waren verschüttet«.3 Das Problem hebe sich schließlich in den sechziger Jahren auf, in denen der Comic durch die Independent Comics »endlich erwachsen« werde.4 Abgesehen davon, dass Comics wie Krazy Kat, die Gasser selbstredend zur Avantgarde zählt, erst in der Zeit der Syndikalisierung groß wurden und Comics überhaupt im ganzen 20. Jahrhundert auch von Erwachsenen gelesen wurden,5 darf das Bild eines

1

2 3 4

5

Christian Gasser: »Mutantenkosmos. Von Mickey Mouse zu Explomaus«, in: Ders. (Hg.): Mutanten. Die deutschsprachige Comic-Avantgarde der 90er Jahre, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1999, S. 5-18. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd. Das »Erwachsenwerden« des Comics in den sechziger Jahren bzw., wie es jüngst bei Jakob F. Dittmar heißt, »die Erschließung erwachsener Leserkreise«, ist in Texten über die Geschichte der Comics ein oft abgeschriebener Mythos. Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz: UVK 2008, S. 182. Vgl. beispielsweise Art Spiegelman: »Those Dirty Little Comics«, in Bob Adelman (Hg.): Tijuana Bibles, New York: Simon & Shuster 1997, S. 5-10.

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Ole Frahm dialektischen Werdegangs der Comics selbst in Frage gestellt werden – nicht nur, weil es zu offensichtlich den gewählten Gegenstand rechtfertigt, sondern weil es Begriffe reproduziert, die kaum die flüchtige Form populärer Unterhaltung fassen. Der Begriff der Avantgarde bildet ein Gegenbild zum Stereotypen. Mühelos lassen sich die Begriffe »Original« und »Werk« als Gegenbilder zu »Reproduktion« und »Serie« präzisieren. Versammeln sich Avantgarde, Original und Werk im künstlerischen Genie, das aufgerichtet und hoch erhobenen Hauptes die Comics als Kunst verteidigen mag, zerstreuen sich die Massen in stereotyp Reproduziertem, erfreuen sich an der seriellen Kastration, die dem Ursprung zwischen Bild und Schrift eingeschrieben ist. Während Gasser also in kaum zufälliger Abgrenzung von den Serien Popeye, Peanuts und Superman die bürgerliche Kunstkritik am Comic fortzuschreiben versucht, bleibt die Frage, ob sich der Begriff der Avantgarde, der kleinen hervorstechenden künstlerischen Vorhut, überhaupt auf Comics anwenden lässt. Eines der entscheidenden Kriterien für Kunst ist deren Selbstreflexivität. Sie wird oftmals an den Underground Comics bewundert, wie sie in der alternative culture der sechziger Jahre entstehen. Zeichnungen, wie sie in Zap, Wimmen’s Comix oder Bijou Funnies erschienen, stellen weniger dar, als dass sie Zeichnungen versammeln, in denen sich das Sag- und Zeigbare im Bruch aller möglichen Tabus reflektiert. Das könnte erklären, warum Gasser meint, der Comic käme durch diese Arbeiten zu seinem Recht als popkulturelle Kunst. Doch entleihen gerade diese Comics ihre Selbstreflexivität den parodistischen Stereotypien, wie sie in der Geschichte der Comics so zahllos zu finden sind. Lassen sich Comics dennoch als Kunst bestimmen? Kurator Gasser gesteht seine Hilflosigkeit ein, wenn er behauptet: »Gewisse Werke sind Kunst, die meisten nicht. So einfach ist das.«6 So fangen die Probleme an. Wer definiert, was Kunst hier meint? Und was für »Werke« überhaupt? Sind es die Zeichnungen oder Reproduktionen, manche Folgen einer Serie oder alle? Und warum müssen Comics überhaupt als Kunst begriffen werden? Warum können sie nicht als Comics gelesen werden?7

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Spiegelman zitiert eine Umfrage von 1938, der zufolge 70 % aller amerikanischen Erwachsenen Comics lesen. Ebd., S. 9. Chr. Gasser: »Mutantenkosmos«, S. 16. Eine Frage, die auch Armin Schreiber in seinem Buch Kunst: Comics. Corben, Druillet, Moebius. Ortung eines künstlerischen Mediums, Hamburg, Thurn: Dreibein/Edition Kunst der Comics 1989 nicht beantwortet und die selbst Hans-Christian Kossak ratlos zurücklässt. Vgl. Hans-Christian Kossak: Hypnose und die Kunst des Comics, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme 1999, S. 71ff. Auch Kaspar Königs Vorschlag, Robert Crumbs Arbeiten als Volkskunst zu lesen, löst die Frage nicht. Kaspar König: Vorwort, in: Alfred

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Independent Comics und bürgerliche Kunstbegriffe Bei Christian Gasser liegt der Fall offen zu Tage: Er schreibt die Einleitung für den Katalog Mutanten. Die deutschsprachige ComicAvantgarde, die – sofern Comics keine Avantgarde wären – ihres Aufhängers verlustig gegangen wäre, der die Aufmerksamkeit gegenüber der Ausstellung sicherstellen sollte. Avantgarde hat aller Posthistoire zum Trotz ihren Glanz nicht verloren. Was Avantgarde ist, ist neu, was neu ist, bleibt interessant. In einer warenförmigen Gesellschaft eine einfache und seit zweihundert Jahren halbwegs verlässliche Gleichung. Gerade die Rede von der Avantgarde verschleiert den warenförmigen Charakter der gezeichneten Streifen. Deren Produktion und ihre Verhältnisse hatten selten etwas mit Kunstförmigkeit, sondern immer etwas mit Warenförmigkeit zu tun. Ihre bloße Existenz verdankt sich bekanntlich diesem Faktum. Hätte das Yellow Kid die Boulevardzeitung New York World nicht besser verkauft, hätte die Zeichnung des Kindes aus dem Ghetto keinen Mehrwert für den Besitzer der Zeitung, Joseph Pulitzer, produziert, hätte sich niemand für die gezeichnete Serie als Form des Erzählens in Bildern weiter interessiert. Richard Felton Outcaults Seiten waren, so fortschrittlich sie in semiotischer Hinsicht erscheinen mögen,8 keine Avantgarde, sondern nah am Markt, zumindest etwas über zwei Jahre, dann ließ das Interesse an dieser Serie nach – lang genug, um die neue Produktionsweise serieller Zeichnung zu etablieren. Dass sich diese Produktionsweise auf den Arbeitstag ausdehnt, benötigte nicht weniger als elf Jahre. Ab 1907 erschienen die ungleichen Mutt und Jeff zwischen Sportergebnissen und Rätseln. Die fiktiven Figuren setzten auf reale Pferde, und wenn diese ihr Rennen verloren, wie es meist der Fall war, verloren auch sie, gewannen aber in ihrem erheiternden Unglück die Gunst der Leser. Der Genuss der Lektüre erfüllte sich nicht im einzelnen Strip, der einzelnen gekonnten Zeichnung Bud Fishers, sondern durch deren Wiederholung, der Vervielfältigung der Figuren, in der die Vermassung des Individuums in den modernen Städten selbst ihren Ausdruck suchte. In zwei Strips vervielfältigt Fisher Mutt und Jeff auf zwei Parteiversammlungen in je einem einzigen Panel und reflektiert

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M. Fischer (Hg.): Robert Crumb. Yeah, but is it Art?, Köln: Museum Ludwig 2004, S. 5-10, hier S. 10. Demgegenüber instruktiv ist Kathrin HoffmannCurtius’ Lektüre zum Begriff des Genies im Comic. Vgl. Kathrin HoffmannCurtius: »Unikat und Plagiat! Die Meistererzählung im Comic«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Schmidt 2002, S. 153-169. Vgl. Jens Balzer: »Welches Bild? Welche Bewegung? Über einige Bezüge zwischen Chronofotografie und frühen Comics«, in: Harro Segeberg (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, München: Fink 1996, S. 279-293.

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Ole Frahm nicht nur das Parteigängertum, die Typisierung durch Parteienbildung wie die Durchschnittlichkeit seiner Figuren, sondern auch ihre serielle Produktion, in der diese immer schon nicht einmalig sind, sondern mehrmalig, ausschließlich reproduziert erschienen.9 Comics zeichnet aus, nachgezeichnet werden zu können. Die Notwendigkeit der Reproduzierbarkeit verwischt konstitutiv die Autorschaft. Schon früh überantwortete Bud Fisher seinen erfolgreichen Strip an Assistenten. Ab 1932 fälschte Al Smith Fishers Signatur, bis er nach 22 Jahren die Einmaligkeit und Originalität seiner Zeichnung durch das wiederholte Ereignis seiner eigenen Signatur beglaubigte. Outcaults und Fishers Comics sind vor den modernen Avantgarden entstanden und, wie Jens Balzer nachgewiesen hat, wirbeln in ihrer Semiotik das Verhältnis von Schrift und Bild so durcheinander, wie es sich die Dadaisten in ihren kühnsten Experimenten nicht erträumten.10 Fisher hatte keine kunsthistorische Programmatik – im Gegensatz zu Marcel Duchamp als er das englische Wort »Mutt«, Trottel, auf das Pissoir malte. Vielmehr war Bud Fisher mit seinen komischen Figuren einer der ersten Stars seiner Zunft mit Millioneneinkommen, eine celebrity wie Charlie Chaplin. Seine Strips erschienen in der Reproduktion, das Original spielte keine Rolle. Erst in der Verteilung über die ganzen USA, nicht zuletzt im Zeichentrickfilm, gewann Mutt and Jeff seinen Ruhm. Das Einzelwerk tritt hinter der Serie zurück. Daher war es nicht von Bedeutung, dass Fisher diesen Strip selbst gezeichnet hat, sein einmal etablierter Markenname reichte aus. Das Werkkorpus mag ein wenig unübersichtlich sein, aber das Genie Fishers lag zuallererst in der Vermarktung seines Strips: Er war nicht Autor, sondern Produzent. Comics waren insofern der zeitgemäße Ausdruck einer Gesellschaft, in der sich die vom Bürgertum gebildeten Begriffe der Kunst längst aufgelöst hatten, die gleichwohl noch heute den Diskurs über Kunst wie über Comics zentrieren. Allerdings wurden Comics erst seit den sechziger Jahren, seit den Underground und den Independent Comics mit den Begriffen bürgerlicher Ästhetik belegt.11 Warum? Nicht zuletzt drückt sich 9

Bill Blackbeard/Martin Williams (Hg.): The Smithsonian Collection of Newspaper Comics, Washington DC, New York: Abrams 1977, S. 77. 10 Jens Balzer: »Zeit des Comics, Zeit der Kultur«, Vortragstyposkript, gehalten im Rahmen der Ringvorlesung »Perspektiven der Comicforschung« an der Universität Hamburg, Arbeitsstelle für Graphische Literatur, Sommersemester 1992. 11 Gilbert Seldes’ Preisung von George Herrimans Krazy Kat in seinem Buch The Seven Lively Arts erhebt auf den Kunstbegriff keinen Anspruch. Vgl. Gilbert Seldes: The Seven Lively Arts, New York: Harper & Brothers 1924, S. 231-245.

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Independent Comics und bürgerliche Kunstbegriffe darin die Veränderung in der politischen Ökonomie der jeweiligen Gesellschaften aus. Comics waren das fordistische Bildmedium. Die serielle Produktion, das Fließband und die Trennung von Arbeit und Freizeit haben unübersehbar ihre Spuren in ihrer Ästhetik hinterlassen. In der Krise des Fordismus verändert sich die soziale Herkunft der Comic-Produzenten, ihre Leserschaften ebenso wie die Produktions- und Distributionsbedingungen. Wenn Gilbert Shelton behauptet, »underground comics are more like art and less like comics«,12 zeugt dies von dem Drang nach Anerkennung innerhalb einer politischen Ökonomie, die sich über einen Kunstbegriff herstellt, der Avantgarde, Original, Werk und Genie einschließt.13 Dieses Idiom zu kritisieren, bedeutet einerseits, eine andere Geschichtsschreibung der Comics zu etablieren. Sie hat keine Teleologie, deren kontinuierliche Entwicklung durch ›große weiße Männer‹ vorangetrieben wurde – George Herriman bildet auch in dieser Hinsicht die Ausnahme von der Regel. Es handelt sich bei der Geschichte der Comics vielmehr um eine serielle Parodie, eine Geschichte der Überbietungen, die immer die Wiederholungen der Comics – Schrift und Bild, Bild und Bild, der Figuren, Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat – mit all ihren Unterbrechungen und Differenzen wiederholen. Andererseits wird eine solche Geschichtsschreibung die selbstreflexive Struktur der Comics in den Augenschein nehmen, die in den Independent Comics selbst reflexiv wird. In ihnen, das wäre die zu verfolgende These, wird etwas offensichtlich, was immer schon die Comics konstituierte, nun aber als originäre Qualität von selbsternannten Künstlern ausgezeichnet wird. Diese Selbstreflexivität ließ die Independent Comics von der Tradition unabhängig erscheinen, wodurch sie in die Nähe der autonomen Künste gerückt werden konnten. Doch die Comics machen sich in ihrer parodistischen Struktur über jede Vorstellung der Autonomie lustig, indem sie ihre Zeichen sichtbar auf andere Zeichen beziehen, die nie unabhängig sind. Die Projektion einer Avantgarde, eines Originals oder der Figur des Künstlers auf die Produktion der Comics stellt insofern den eher hilflosen Versuch dar, die materielle Zerstreuung der Zeichen, ihre Wiederholbarkeit und Vervielfältigung, in den Griff zu kriegen, im Begriff zu zentrieren und so etwas aufzurichten, das sich hohe Kultur nennen kann. Das so Erhöhte wird aber immer wieder Panel für Panel, Zeichen für Zeichen abgeschnitten, verteilt und entzieht sich auf diese Weise der Kontrolle. Die Abbildung der Comics auf die Begriffe bürgerlicher Ästhetik

12 Zit. n. Patrick Rosenkranz: Rebel Visions. The Underground Comix Revolution. 1963-1975, Seattle: Fantagraphics 2002, S. 4. 13 Vgl. ebd., wo Robert Crumb, Art Spiegelman und S. Clay Wilson als »avant garde of the era« bezeichnet werden.

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Ole Frahm bleibt eine männliche Fantasie, die der unübersehbaren Bilderflut Herr zu werden versucht. Aber die Comics und ihre Bilder vervielfältigen sich unkontrollierbar, im Zweifelsfall unter dem Ladentisch. Und selbst wenn sie dort die phallischen Fantasien zu bestätigen scheinen, im Pornografischen, bezweifeln ihre Produkte das Prinzip des Originals, des genialischen Zeichners und erst recht der Avantgarde: Die Tijuana Bibles, die in bestimmten Gegenden der USA schlicht fuck books hießen, waren achtseitige Comics, in denen das verdrängte Sexuelle der Massenkultur in der Zeit der Depression wiederkehrte.14 Ihre Zeichner sind meist anonym geblieben, ihre Zeichnungen von Mutt und Jeff, von Popeye und Mickey Mouse waren roh, fast unbeholfen und legten wenig Wert auf anatomische Genauigkeit.15 Donald, bekanntlich ein Enterich ohne Hose und Glied, hat in den acht Bildern einer Geschichte manchmal einen Penis, manchmal nicht – ganz nach Bedarf. Wie die Comic-Figuren kopiert sind, eine Überschreitung des Rechts, kopieren ihre Stellungen mit den angezeichneten Geschlechtsteilen den Geschlechtsakt und stellen ihn in seiner Künstlichkeit aus. In der Parodie der Comic-Figuren wird das Sexuelle – als biologische Tatsache parodiert – unauthentisch. Mickey, die wohl bekannteste Figur ihrer Zeit, mit einem Penis zu zeichnen ist schon deshalb komisch, weil Walt Disney von vornherein das Copyright dieser Figur geschützt hat und alle nicht von seiner Firma produzierten Kopien rechtlich verfolgte. Dabei lässt sich Mickey Mouse ebenso als Plagiat von seinem direkten Vorgänger Oswald the Lucky Rabbit betrachten, für den Disneys ehemaliger Kompagnon Charles Mintz die Rechte hielt. Oswald wiederum ähnelt mit seinen schwarzen Ohren, dem maskenhaft weißen Gesicht und den großen Augen Felix the Cat, um dessen Vaterschaft Pat Sullivan und Otto Messmer konkurrierten. »It’s all in the ears«, merkt John Updike an: Felix’ Ohren sind spitze Dreiecke, Oswalds Ovale, Mickeys Kreise.16 Nachdem sich Mintz und Disney in New York getrennt hatten, brauchte der junge Unternehmer eine neue Figur. Der Konzern hat sich dafür die Geschichte untrüglicher Vaterschaft ausgedacht. Disney soll das künstliche Nagetier auf der Reise nach Los Angeles im Nachtzug ersonnen haben, inspiriert von dem Rollen der kreisrunden Räder. Disneys Frau Lilian gab dem Kind den Namen Mickey. Diese wundersame Zeugung wird allerdings von hartnäckigen Gerüchten umrankt, der bei Disney ange14 Vgl. A. Spiegelman: »Those Dirty Little Comics«, S. 6f. 15 Vgl. Bob Adelman (Hg.): Tijuana Bibles, New York: Erotic Print Society 1997, S. 41. 16 John Updike: »To The Art of Mickey Mouse, edited by Craig Yoe and Janet Morra-Yoe«, in: Ders.: More Matter. Essays and Criticism, London: Hamilton 1999, S. 202-210, hier S. 202.

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Independent Comics und bürgerliche Kunstbegriffe stellte Ub Iworks könnte Anrecht auf die Vaterschaft erheben.17 Tatsächlich setzte sich die quirlige Figur letztlich nur durch, weil sie von vielen verschiedenen Zeichnern ökonomisch reproduziert werden konnte, nicht zuletzt von Floyd Gottfredson, der den Mickey Mouse-Strip 46 Jahre über der Signatur Walt Disneys veröffentlichte. Die von George Herriman in Krazy Kat auf den Kopf gestellte Natur zwischen den domestizierten Tieren Hund, Katze und Maus kommt auch in Gottfredsons Folgen nicht wieder auf die Füße, wenn die Maus – unterstützt von einer ängstlichen Ente und einem trotteligen Hund – die viel größere Katze zu Fall bringt. Allerdings bändigt die Disney-Produktion die geschlechtliche Unentschiedenheit, die sexuelle Ambivalenz der Krazy Kat und führt sie mit Minnie Mouse in die heterosexuelle Matrix zurück. Dies explizieren die Tijuana Bibles in ihrem derben Humor, wenn Mickey und Minnie in Missionarsstellung gezeigt werden (Abb. 1).

Abb. 1. Mickey Mouse and Donald Duck, in: Bob Adelman (Hg.): Tijuana Bibles, S. 41.

Die Fremdheit einer Zeugung von Comic-Figuren durch einen Geschlechtsakt lässt sich Donalds entsetztem Gesicht ablesen, als er die Mäuse überrascht. Nur in männlichen Fantasien wird die zweidimensionale Figur gezeugt. Deshalb ist es komisch, Mickey mit ei17 Vgl. Bob Levin: The Pirates and the Mouse. Disney’s War Against the Counterculture, Seattle: Fantagraphics 2003, S. 67f.; J. Updike, »To The Art of Mickey Mouse«, S. 202.

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Ole Frahm nem Penis zu zeichnen, und konsequent, dass dieser eher wie ein Dildo wirkt. Mickey Mouse hat kein biologisches Geschlecht und nimmt nur eines für diese parodistische Überschreitung an. Innerhalb der Geschichte wird die Männlichkeit durch gekränkte Ehre scheinbar wiederhergestellt, wenn sich Ente und Maus als »little shrimp« und »dwarfed rat« beschimpfen. Minnie schlichtet den lächerlichen Streit unter Figuren der Oberfläche, indem sie Donald in die Küche bittet. Die im ersten Panel dieser ›Bibel‹ von Mickey Donald gegenüber ausgesprochene Einladung Minnies zum Dinner vorbeizuschauen, verwandelt sich in eine Einladung zum Analverkehr auf dem Küchentisch. Das Vergnügen an der doppelten Überschreitung zeugungsloser Reproduktion fasst Minnies Antwort zusammen: »Tee-Hee, Donald, that tickles so good –.« Im letzten Panel bleibt Mickey auf Donalds Verabschiedung – »I haven’t any hard feelings no more« – mit einem Fragezeichen zurück, wie es in den Strips von Gottfredson immer dann erscheint, wenn die detektivische Maus vor ein Rätsel gestellt wird. Hier bleibt es ungelöst. Aus dem »duck egg«, das Donald ankündigt, in Minnies »ass hole« zu legen, wird kein Kücken schlüpfen – und dass Minnie in eben dieser Situation Mickey zum Verwechseln ähnlich wird, löst sich ebenso wenig auf. Explizitheit und ausgestellte Künstlichkeit, Rohheit und Reflexion der Figuren als Oberflächen, Schlüpfrigkeit und genussvolle Überschreitung bilden ästhetische Merkmale der Tijuana Bibles, die in den Independent Comics als deren »precondition«18 wiederkehren. Die Konkurrenz zwischen Mickey und Donald in dieser Szene ist historisch. Ab Mitte der dreißiger Jahre beginnt die cholerische Ente die braver werdende Maus an Beliebtheit zu überflügeln. Die Maus Mickey, in der »viel schwarzes Blut fließt«,19 ist zum weißen allAmerican guy geworden. Sie darf nicht mehr ihre Hüfte zu heißen Jazz-Rhythmen schwingen, um Minnie zu bezirzen, während Donalds Wutausbrüche sich zunehmend zerstörerisch gegen alle Zumutungen der Moderne wenden. Dieses ganz kapitalistische Verhältnis zwischen den Stars thematisiert Bill Elders Parodie Mickey Rodent, die im Januar 1955 in MAD erschienen ist. Mickey rächt sich an Donald, indem er ihn in einen Zookäfig lenkt und einsperrt, wo er schließlich von realistisch gezeichneten Menschen zwischen anderen Enten entdeckt wird (Abb. 2). Die Parodie macht sich über die unausgesprochenen Voraussetzungen des Disneyschen Universums lustig, oder, wie Harvey Kurtzman, Herausgeber von MAD und Autor dieser sieben Seiten, es formulierte: über das Verlogene. Zum einen werden die Figuren wört-

18 A. Spiegelman: »Those Dirty Little Comics«, S. 5. 19 J. Updike, »To The Art of Mickey Mouse«, S. 205.

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Independent Comics und bürgerliche Kunstbegriffe lich genommen. Mickey wird zum »rodent«, einem unrasierten Nagetier, Donald heißt Darnold und muss sich als Duck – eine für Comics typisch doppeldeutige Phrase – ständig ducken: »Darnold duck!« Zuerst gilt die Warnung einem Baseball, das zweite Mal trifft eine Bowlingkugel den inzwischen behosten Hintern, das dritte Mal meint Duck wirklich den Nachnamen und er wirft sich umsonst in den Dreck, um zuletzt von einem »Duck Pin«, einem Entenkegel niedergeworfen zu werden.

Abb. 2. Bill Elder: Mickey Rodent, in: Grant Geissman (Hg.): MAD about the Fifties, o.S.

Ebenso renitent ist der Scherz über die Materialität von »Walt Dizzy’s« Signatur, mit der die ersten fünf Seiten unterzeichnet werden (wenn sie nicht grad an einer Wäscheleine trocknet, weil Darnold in der Pfütze liegt, in der sie sonst gestanden hätte): »I see his signed cartoons everywhere«, sagt Darnold, in diesem Falle »at the little swimming hole over there by Walt Dizzy’s signature«. Später platziert Elder seinen Namen in ein Panel, und Darnold schließt: »I knew the style of this drawing was different.« Der Stil ist aber gerade nicht unterschieden. Elders Zeichnungen sind zum Verwechseln denen des Disney-Konzerns ähnlich. Die Konturierung Donalds macht der von Carl Barks alle Ehre, und so wird kaum zufällig auch dessen Parodie einer Fernsehshow aus dem Jahr 1948 zitiert, in der die Neffen ohne Hände, dann ohne Füße Dreirad fahren – und Donald schließlich – nachdem er unglaubliche Leistungen vollbracht hat – die Geste der Neffen ohne Kopf wiederholt: »Look! No head!«,

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Ole Frahm ruft er im letzten Panel. Über die Quizshow kopflos geworden regrediert der Erwachsene zum Kind.20 »No hands... No head«, wiederholt Darnold beim Schwimmen im See. Kurtzman versteht Parodie auch als Mimikry. Die Mimikry schmiegt sich so an die möglichen Vorlagen an, dass sie diese nicht ausschließlich verhöhnt, sondern immer auch begleitender Gesang, para odia wird. MAD ist nichts heilig, aber die interessanten Momente unter Disneys Signatur werden zitierend gerettet. Ohne Hände, ohne Kopf, Wiederholung ohne Original, sondern durch Differenzen.21 »Beware of imitations!«, warnt MAD an anderer Stelle und macht sich eben darüber lustig, dass sie kopiert werden, wie sie andere kopieren.22 Hier gibt es kein Außerhalb, das allen Scherzen ein Ende machen könnte. Neben der weit unterschätzten Wirkung auf René Goscinny, der Kurtzman und seine Zeichner in den fünfziger Jahren in New York traf und dessen parodistisches Konzept in verschiedenen Serien weiterentwickelte, ist zu betonen, dass sich kaum ein Zeichner von Underground Comics findet, der nicht MAD als entscheidende Lektüre angegeben hat.23 Unübersehbar ist dies bei den Air Pirate Funnies, den Adaptationen von Mickey Mouse, die zum ersten Mal 1971 erschienen (Abb. 3).24 Im Zitat der sexuellen Explizitheit der Tijuana Bibles reflektieren diese Comics mit allen Figuren des Disney-Konzerns offensiv das Potential der Figuren, das von den Rechteinhabern nicht ausgeschöpft wurde. Die politische Forderung der Luftpiraten – »Die Linie gehört uns!« – artikuliert das Recht der Parodie als Konstitutionsbedingung der Comics, weil sie selbst parodistisch zu lesen ist: Die Linie gehört ihnen nur insofern, als sie allen gehören kann. Mi-

20 Carl Barks: »The Crazy Quiz Show«, In: Walt Disney’s Comics and Stories (1948), H. 99. (Wiederabdruck in: Leonard Clark/Geoffrey Blum (Hg.): The Carl Barks Library of Walt Disney’s Comics and Stories in Color, Bd. 14, Prescott: Gladstone o.J., o.S. 21 Elder zitiert – wissentlich oder nicht, das sei dahingestellt – auch die Tijuana Bibles: Das Entenei hat bei ihm Füße und wird von Darnold auf Seite 6 zertrampelt; in dem Moment, in dem Darnold den anderen Stil Elders erkennt, haben er und Mickey wie in den Tijuana Bibles fünf Finger, was in MAD, nicht aber dort thematisiert wird. 22 Grant Geissman (Hg.): MAD about the Fifties, New York: MAD 2005, o.S. 23 Vgl. Paul Buhle (Hg.): Jews and American Comics. An Illustrated History of an American Art Form, New York, London: New Press 2008, S. 65; Mark J. Estren: A History of Underground Comics, San Francisco: Straight Arrow 1974, S. 37f. 24 Vgl. eher anekdotisch B. Levin: The Pirates and the Mouse; P. Rosenkranz: Rebel Visions, S. 197-204; zeitgenössisch M.J. Estren: A History of Underground Comics, S. 260, und Michael Hüners: »Die Linie gehört uns!«, in: Frankfurter Rundschau, 13.11.2003, S. 30.

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Independent Comics und bürgerliche Kunstbegriffe ckey Mouse ist nicht der Besitz des Disney-Konzerns, seine runde Kontur gehört niemandem. Deshalb ist die exakte Kopie der Figuren Voraussetzung des parodistischen Verfahrens – völlige Mimikry.

Abb. 3. Dan O’Neill: Air Pirate Funnies, in: Bob Levin: The Pirates and the Mouse, S. 205.

Vor Gericht konnte sich diese Rechtsauffassung allerdings nicht durchsetzen. Doch nachdem Dan O’Neill den ersten Prozess verloren hatte und zu 190.000 Dollar Strafe verurteilt war, gründete er im Ton der Zeit die MLF, die Mouse Liberation Front, in deren ersten Communiqué Mickeys Fall von ihm selbst erzählt wird: »The court says the air pirates ›with great precision and accuracy‹ took too much of the original when effecting their parody. ›Some‹ says the

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Ole Frahm court is ok.« Minnie mit fünf Fingern an der Hand ergänzt: »No one, including the court is sure how much is ›some.‹«25 O’Neill lud mit diesem Statement weitere Zeichner ein, Mickey Mouse zu zeichnen – diese Vervielfältigung führte schließlich zum günstigeren Vergleich. Obwohl O’Neill den Kampf um die Linie juristisch nicht gewinnen konnte, weil dieser Kampf sich nicht auch gesellschaftlich vervielfältigte, explizierte seine Praxis die politischen Implikationen der Comic-Ästhetik und konnte sichtbar machen, dass sie sich mit der rechtlichen Situation kapitalistischer Ökonomie nicht vertragen. Es ist kaum zufällig, dass sich der Streit um das Eigentum der Kontur an Mickey Mouse entzündete – und nicht an Donald Duck oder Uncle Scrooge. Zum einen war Carl Barks für viele im underground Vorbild,26 zum anderen aus einem Grund, den John Updike beiläufig erwähnt: »Mickey remains one of the Thirties proletariat, not uncomfortable in the cartoon-rickety, cheerfully verminous crash-pads of the counterculture.«27 Dieses vom Disney-Konzern selbst verdrängte, verlauste Erbe, mit dem Mickey Mouse Krazy Kat beerbte, die Katze, die sich noch den Stinktieren gegenüber als einzige gesellschaftliche Kraft gastfreundlich erwies, wird von den Piraten geborgen.28 Für das Proletariat sind die Eigentumsverhältnisse nicht geklärt, und bekanntlich hat es diese in meist knapp bemessenen historischen Momenten auf den Kopf gestellt oder, genauer, die herrschenden Eigentumsverhältnisse in jedem Sinne enthauptet und eine ganz andere Verteilung – auch der Macht selbst – vorstellbar gemacht. An dieses Erbe erinnern manche Comics durch ihre Figuren, und es verbindet ihre Produktionsweise mit dem Showgeschäft, für dessen Eigentumsverhältnisse John Strausbaugh feststellt: »When it comes to showbusiness, who’s on first is often a very good question indeed.«29 Strausbaugh plädiert dafür, die Geschichte des blackface – Weiße malen sich das Gesicht schwarz an und agieren auf der Bühne als Schwarze – nicht wie in

25 Ebd., S. 181. 26 Vgl. Donald Ault: »Preludium: Crumb, Barks, and Noomin: Re-Considering the Aesthetics of Underground Comics«, in: ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies 1 (2004), Nr. 2, URL: http://www.english.ufl.edu/imagete xt/archives/v1_2/intro.shtml, Datum des Zugriffs: 14.2.2009. 27 J. Updike, »To The Art of Mickey Mouse«, S. 209. 28 Im letzten Panel der Sonntagsseite vom 5.5.1918 liest Krazy Kat zwei Stinktieren vor, die zuvor niemand von der Gesellschaft Coconinos aufnehmen wollte. Der Erzähler kommentiert: »And so, ›charity‹, to whom mammon erects super-temples, finds sanctuary in the heart of the proletariat.« Zit. n. Patrick McDonnell/Karen O’Connell/Georgia Riley de Havenon (Hg), Krazy Kat. The Comic Art of George Herriman, New York: Abrams 1986, S. 132. 29 John Strausbaugh: Black Like You. Blackface, Whiteface, Insult & Imitation in American Popular Culture, New York: Penguin 2006, S. 140.

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Independent Comics und bürgerliche Kunstbegriffe den letzten vierzig Jahren zu eindimensional zu lesen, also wie im zitierten Fall von Abott und Costello als Diebstahl afroamerikanischer Kultur, oder wie in vielen anderen Fällen als deren Lächerlichmachen, sondern das Hybride, die oft nicht mehr durch behauptete Herkunft zu trennende Mischung zu würdigen, die im blackface entsteht. Für ihn ist die – durch den ersten Tonfilm bekannte – Figur Al Jolsons als blackface in The Jazz Singer »a one-man melting pot«.30 Art Spiegelman berichtet, wie Anfang der siebziger Jahre Mickey als Entmenschlichung der Afroamerikaner im Zitat von Jolsons Darstellung aufgefasst wurde, weil sie mit ihren weißen Handschuhen und ihrem Auftreten blackface reinszeniert.31 Jolson, entgegnet Strausbaugh dieser Interpretation, assimiliert sich durch die schwarze Maske an die amerikanische Gesellschaft, eine Assimilation, in der es gerade nicht um das Original, sondern um perfekte Imitation geht. Dass diese ihr Original durch die Maske lächerlich mache, lässt Strausbaugh nicht gelten: »If anything, there’s only self-mockery in it.«32 Im Comic wird diese »Imitation aus Liebe«33 formalisiert, das blackface tritt in Mickeys Figur in die Struktur des Comics selbst ein, die Parodie ist nicht verhöhnend, sondern strukturell. Die formal ermöglichte Selbstironie mag in Floyd Gottfredsons Strips kaum sichtbar sein, in den Tijuana Bibles und MAD kommt sie umso mehr zur Geltung. Und anders als im blackface, wo die schwarze Maskierung des weißen Gesichts immer zwei Bilder ermöglicht, das maskierte und das demaskierte,34 bleibt der ComicFigur nur eines, in dem Maske und Gesicht ununterscheidbar werden: Sie kennt kein Original, sondern nur eine »endlose Kette der Ersetzungen«.35 Diese Vervielfältigungen der Maske sind nicht nur, wie Disney erkannte, geschäftsschädigend, sie machen dizzy, wenn sie einem nicht sogar unheimlich werden, weil Gegenwart und Originalität jeder Identität unterminiert werden. Hinter den Masken der Comic-

30 Ebd., S. 216. 31 Art Spiegelman: Porträt des Künstlers als junger %@˜§!, übers. v. Jens Balzer/Heinz Emigholz, Frankfurt/Main: S. Fischer 2008, o.S. 32 J. Strausbaugh: Black Like You, S. 218. 33 Ebd. 34 Vgl. Eric Lott: Love and Theft. Blackface Minstrelsy and the American Working Class; New York: Oxford University Press 1995, S. 20f.; Wolfgang Hagen: Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/ USA, München: Fink 2005, S. 212. 35 Sarah Kofman: Derrida lesen, Wien: Passagen 1988, S. 72. In einem kurzen Essay von 1941 liest Walter J. Ong Mickey Mouse deshalb als »artificial secularism«. W.J. Ong: »Mickey Mouse and Americanism«, in: Jeet Heer/Kent Worcester: Arguing Comics. Literary Masters on a Popular Medium, Jackson: University Press of Mississippi 2004, S. 94-98, hier S. 96.

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Ole Frahm Figuren finden sich keine Gesichter, keine wahre Identität, sondern die Wiederholungen der Maske sind die Identität selbst.36 Der Disney-Konzern versuchte, diese Unheimlichkeit durch die Verbürgerlichung Mickeys zu bannen, aber die Entleerung des abgetrennten Kopfes, mit dem Mickey schon früh die Kinobesucher begrüßte und der bis heute ikonisch ist,37 beweist sich in ihren vielen möglichen Verwendungen und Entwendungen, von den Tijuana Bibles bis zuletzt 2007 durch das palästinensische Al-Aqsa-TV. In der Kindersendung Pioniere der Zukunft war Farfur das Maskottchen, was übersetzt zwar Schmetterling bedeutet, aber unübersehbar die Maus Mickey der Disney World zitierte. In der Anrufsendung vermittelte Farfur mit piepsiger Stimme das politische Programm der Hamas, bis die Figur nach internationalen Protesten und dem Putsch der Hamas im Gaza-Streifen in der letzten Folge von einem Israeli ermordet wurde oder in der Diktion der Sendung »den Märtyrertod starb«.38 Die Entleerung des Mickey Mouse passierte nicht plötzlich oder im Laufe der Jahre, Mickey konstituiert sich vielmehr entleert im Zitat der parodistischen Maske, dem blackface, die im Zeugungsmythos Disneys unerwähnt bleibt, aber in den frühen Filmen unübersehbar ist. Mickey lässt sich nicht demaskieren, nur remaskieren. Der Erfolg des entleerten Stereotyps in einer Periode sozialer Verunsicherung, wie sie sich auch für die Entstehung des blackface nachweisen lässt,39 zeugt von einer sozialen Signatur, in der die bürgerliche Identität und ihre Werte keine Rolle mehr spielen. Das lässt die Maus unmenschlich, tierisch, nicht zuletzt unheimlich erscheinen. Wie erklärt sich diese Unheimlichkeit? Eric Lott sieht im blackface immer auch Kastrationsangst mitwirken: »Because of the power of the black penis in white American psychic life, the pleasure min-

36 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992, S. 34. 37 Nicht zuletzt, weil er von Alfred E. Neumann in MAD parodiert wurde. 38 Vgl. Itamar Marcus/Barbara Crook: »Hamas Mickey Mouse Creator. Islamic Rule Will Benefit Christians and Jews«, in: Palestinian Media Watch (14.5.2007), URL: http://www.pmw.org.il/bulletins_may2007.htm, Datum des Zugriffs: 15.2.2009; Norbert Jessen: »Hamas-Mickymaus stirbt den Märtyrertod«, in: Welt online (5.7.2007), URL: http://www.welt.de/politik/ar ticle1000718/Hamas_Mickymaus_stirbt_den_Maertyrertod.html, Datum des Zugriffs: 15.2.2009. Eine ganz andere Entwendung ist Horst Rosenthals Mickey in Gurs, eine 15-seitige Bildgeschichte, die dieser im Lager Gurs anfertigte. Vgl. dazu Ole Frahm: »Mäuse, Mickey und MAUS. Zur Ästhetik von Art Spiegelmans Darstellung des Holocaust«, in: Raphael Gross/Erik Riedel (Hg.): Superman und Golem. Der Comic als Medium jüdischer Erinnerung, Frankfurt/Main: Jüdisches Museum 2008, S. 42-47. 39 Vgl. J. Strausbaugh: Black Like You, S. 81-98; E. Lott: Love and Theft, Kap. 1.

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Independent Comics und bürgerliche Kunstbegriffe strelsy’s largely white and male audiences derived from their investment in ›blackness‹ always carried a threat of castration.«40 Auch in der Lektüre Sigmund Freuds von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann wird das Unheimliche – hier der Verlust der Augen – als Kastrationsangst identifiziert. Sarah Kofman kritisiert daran, dass »Kastrationsangst als letztes Signifikat« zum Verständnis des Unheimlichen zu kurz greife, denn die »Dissemination schreibt die Kastration dem Ursprung ein«, auch weil sie »nicht auf den Vater zurückgeht«.41 Das Unheimliche ist in die unkontrollierbare Materialität des Zeichens, wie sie im Comic auftritt, eingeschrieben. Die entleerte Materialität der Signifikanten lässt sich auf kein letztes Signifikat zurückführen, sondern muss in ihrer Zerstreuung, ihrem datierten Erscheinen gelesen werden, was die Kastrationsangst nicht mindert. Die entleerte Materialität, die Maske der Mickey Mouse, ist unheimlich. Aus dieser Perspektive könnte als Paradox der Independent Comics erscheinen, dass sie diese Unabhängigkeit vom Vater einerseits inszenieren, in ihren Zeichenketten das Proletarische der Maus wiederkehrt und ihre Dissemination realisieren, indem sie sich die Linie aneignen und zerstreuen, andererseits aber sich als Väter ihrer Comics inszenieren und darin eine ganz andere Abhängigkeit instituieren.42 Vielleicht zeugt dieses Paradox von der Notwendigkeit, in dem historischen Moment, in dem die selbstreflexive Praxis als Entkoppelung vom Vater sichtbar wird, die Figur des Vaters mit noch größerer Insistenz wiederherzustellen, um das freigesetzte Unheimliche der Zeichen gleich wieder zu bannen. Die Kastration, die der Trennung vom Vater vorausgeht und die den Comic in seinen aufgeteilten Zeichen strukturiert, wird durch die Behauptung des Künstlers, ganz unabhängig über die Zeichen zu herrschen, sie avanciert einzusetzen und ein eigenes Werk mit ihnen zu erstellen, wird in dieser Geste, mit der die Comics zugleich zur Kunst erklärt werden können, erfolgreich verdrängt. Dieses Verdrängte kehrt in den vielen Bildern der Underground Comics v.a. in Form von Enthauptungen zurück. Wurden diese Bilder zuallererst als Tabubruch verstanden, sind sie Reflexionen der Angst vor einer Kastration, die im Comic als Spaltung von Text und Bild, Bild und Bild, aber besonders durch die Zerstückelung der Figuren vorausgesetzt ist.43 Robert Crumbs Comics haben seit ihrem 40 E. Lott: Love and Theft, S. 9. 41 S. Kofman: Derrida lesen, S. 73f. 42 Donald Ault führt die Möglichkeit, dass die Underground Comics als Kunst verstanden werden, darauf zurück, dass sich die Zeichner auf Carl Barks, Basil Wolverton und Harvey Kurtzman bezogen, die wie sie und anders als in der comic book industry alles selbst machten. Vgl. D. Ault: »Preludium«. 43 Vgl. D. Ault: »Preludium«; ders.: »›Cutting Up‹ Again Part II. Lacan on Barks on Lacan«, in: Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics

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Ole Frahm Erscheinen eher zu unproduktiven Polarisierungen als zu analytischen Betrachtungen verführt. Dabei zeichnet die Comics, die unter seinem Namen erschienen sind, eine Ambivalenz aus, die jede Polarisierung destabilisiert. Wenn er in dem vierseitigen The Adventures of R. Crumb Himself von 1973 sich selbst als Figur zeichnet, die in ein allegorisches Abenteuer gerät, in dem ihn Polizist, Richter und Politiker so verprügeln, dass er schließlich per Kastration durch eine Nonne zum Soldaten Christi werden soll, dann scheint damit eine klare ideologische Aussage einherzugehen, zumal deren Haus mit einem Hakenkreuz gekennzeichnet wird (Abb. 4).44 Auch R. Crumbs schnelle Reaktion auf die Gefahr – mit dem Beil, das ihn entmannen sollte, köpft er die Nonne – passt in ein Schema, das den Widerstand gegen die Obrigkeiten mit der eigenen Männlichkeit verbindet. Aber nicht erst der letzte Kommentar – »So I’m a male chauvinist pig... Nobody’s perfect« – macht die schlichte Inszenierung deutlich. Crumb behauptet, sich selbst darzustellen, um allegorisch davon zu erzählen, wie die Leser – Kritiker wie Fans – glauben, dass er wirklich ist. Doch natürlich sind Robert Crumb und R. Crumb nicht identisch, was so offensichtlich ist, dass es leicht übersehen werden kann. R. Crumb ist ein Stereotyp, die drohende Kastration und das Köpfen der Nonne sind Klischees, die sich mit dem Bild des chauvinistischen Künstlers verbinden. Deshalb muss er beim Werfen des Kopfes auf die allegorischen Figuren auch »This gives me a hard-on!« denken. Im Enthaupten der Frau, der Medusa, ist die Gefahr der Kastration nicht nur gebannt, sie ermächtigt den Zeichner auch, andere mit seinen Werken zu blenden. Während die Blendung in der Identität von R. und Robert Crumb besteht, bleiben diese so deutlich getrennt wie der Kopf vom Körper.45

& Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Kopenhagen: Museum Tusculanum 2000, S. 123-140. Die Trennung von Text und Bild als provokante Technik analysiert Frank L. Cioffi: »Disturbing Comics. The Disjunction of Word and Image in the Comics of Andzej Mleczko, Ben Katchor, R. Crumb and Art Spiegelman«, in: Robin Varnum/Christina T. Gibbons (Hg.): The Language of Comics. Word and Image, Jackson: University Press of Mississippi 2001, S. 97-122, zu Crumb vgl. S. 111-116. 44 Erstveröffentlichung 1973 in dem Heft Tales from the Leather Nun. 45 Anders wird das Verhältnis von Crumb zu seiner Figur im Katalog der Ausstellung im Museum Ludwig verstanden: »Stets spürt man, wie ›nahe‹ Crumb seinen Figuren ist, mehr noch – und das macht das Besondere seiner Arbeiten aus – wie sehr er sich mit ihnen identifiziert.« Er wolle »bei allem Tun sich selbst finden«. In: A.M. Fischer (Hg.): Robert Crumb. Yeah, but is it Art?, S. 16, 19. Auch Elmar Klages liest in Crumbs Abenteuern »eine Subjektivierung«. E. Klages: »Robert Crumb«, in: Marcus Czerwionka (Hg.): Lexikon der Comics (18. Erg.-Lieferung), Wimmelsbach: Corian 1996, S. 56.

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Abb. 4. The Adventures of R. Crumb Himself, in: Robert Boyd/Gary Groth (Hg.): Robert Crumb: The Complete Crumb Comics, Bd. 9: R. Crumb versus the Sisterhood!, S. 93.

Die Abenteuer sind keine autobiografische Geschichte, wie sie 1973 nach der Veröffentlichung von Justin Greens Binkey Brown durchaus beliebt war, sondern deren Parodie. Die Comic-Figur ist immer schon potentiell enthauptet, wie die Figur R. Crumb auf der zweiten Seite, als ein Stiefel seinen körperlosen Kopf trifft. Im Material werden die Trennungen, die ursprüngliche Kastration als Voraussetzung des Comics, lesbar. Dass die Enthauptung kurzzeitig den Phallus wieder aufzurichten scheint, ändert nichts daran, dass dieser im Comic endlos ersetzt werden muss, niemals präsent, sondern immer abgetrennt bleibt. Der Zeichner richtet sich an der Enthauptung der Frau wieder auf, weil er selbst in der Zeichnung immer schon enthauptet ist. »No head!«, nur Masken. Die Enthauptung ist kein Einzelfall. Bei Crumb selbst, aber auch bei anderen Zeichnern des Underground kehrt dieses Bild der 195

Ole Frahm selbstreflexiven Produktion von Comics wieder.46 Am eindrücklichsten hat die Kanadierin Julie Doucet das Motiv im dritten Heft ihrer Serie Dirty Plotte aufgenommen.47 Die dreiseitige Geschichte Le Striptease du Lecteur kündigt sich wie eine Talkshow an – »my guest this month is Steve. Steve says: ›my body belongs to you‹« –, daneben das Nacktfoto eines Mannes vor einer Jalousie, auf dem eben dieser Satz, signiert von Steve, auf Französisch steht. Die Figur, die schon auf dem Cover des Hefts als Doucets Maske erkennbar wird,48 erfüllt die durch das Foto angedeutete Projektion sicher anders, denn der Besitz des Körpers wird nicht sexuell ausgedeutet. Vielmehr nimmt diese Figur eine Axt in die Hand und erschlägt den Leser.49 Die Trennung des Kopfes vom Körper findet zwischen zwei Panels statt, denn dem ›Striptease‹ schaut der auf einen Stuhl gestellte Kopf mit seinen verdrehten, toten Augen zu, die männliche Medusa, die durch die Kastration nicht gebannt, sondern vervielfältigt wird: Mit verschiedenen Messern öffnet Doucet die Haut und kastriert den Enthaupteten schließlich (Abb. 5). Auf diesem Panel ist Steves Kopf nicht mehr zu sehen und auch Julies Kopf bleibt vom Panelrand zur Hälfte abgeschnitten, nur ihr lachender Mund, ihre Nase und ihr Ohrring sind zu sehen. Die Kastration geht mit einer lachenden Enthauptung einher. Das Panel ist aus der Perspektive von Steves Kopf auf dem Stuhl gezeichnet. Die Leser sehen mit seinen toten Augen, ihr Blick wird Bild für Bild abgeschnitten und zerstreut, und sie werden ihn nicht wieder zentrieren können. Die Perspektive plädiert dafür, statt sich vor der Kastration zu ängstigen, sie durch die sich vervielfältigende Lust zu genießen, sich den Blick immer wieder abschneiden zu lassen und ihn so ohne Wiederkehr zu zerstreuen.

46 Vgl. Robert Boyd/Gary Groth (Hg.): Robert Crumb. The Complete Crumb Comics, Bd. 9: Crumb versus the Sisterhood!, Seattle: Fantagraphics 1992, S. 51-57; Art Spiegelman: »Villie Vetback Visits the City«, in: Bijou Funnies (1972), H. 7; wenn nicht gleich die Kastration gezeigt wird: S. Clay Wilson: »Head First«, in: Zap Comics (1968), H. 2; Rory Hayes: »Prick Sick«, in: Cunt Comics (1969), H. 1. Die Kastrationsfantasie findet sich auch in den Tijuana Bibles. Vgl. B. Adelman: Tijuana Bibles, S. 115. 47 Julie Doucet: Dirty Plotte (1992), H. 3. 48 Vgl. dazu ausführlich: Jens Balzer/Ole Frahm: »Immer Ärger mit der Identität. Frau, Subjekt, Blick und Bohème in den Comics von Julie Doucet«, in: kritische berichte (1993), H. 4, S. 50-62, hier S. 56f. Der Untertitel des Heftes »Me, Myself and I« zitiert auch die Geschichte »The Many Faces of R. Crumb«, die von »Me, Myself and I« präsentiert wird. Vgl. R. Boyd/G. Groth (Hg.): Robert Crumb, Bd. 9, S. 21-22. 49 Zum Motiv der Axt und des Schädelspaltens durch die Comic-Lektüre vgl. Ole Frahm: »Axt, Pfeife, Strich. Zur Poetik des Comic«, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur (2007), H. 68, S. 73-84.

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Independent Comics und bürgerliche Kunstbegriffe

Abb. 5. Julie Doucet: Dirty Plotte, H. 3, o.S.

In dem letzten Panel ist Doucets Kopf anders geschnitten. Selbstvergessen und verschämt, zwei Finger am lächelnden Mund, schreibt sie mit dem blutigen Penis als Pinsel »FIN« an die Wand. Doch mit diesem Ende hebt die Dissemination erst an, und so ist es durch die Geste, aber auch tatsächlich in Anführungszeichen gesetzt. Insofern beendet auch diese Geste nicht den Diskurs, der Comics mit den Begriffen bürgerlicher Kunst systematisiert. Doucet hat auf einer Kunsthochschule gelernt und produziert die Zeichnungen allein, ihre Comics galten Anfang der neunziger Jahre als Avantgarde. Diese Projektionen werden nicht ausgeschlossen, sie werden aber im Material abgeschnitten und zerstreut. Dirty Plotte spielt mit den Stereotypen auf der Oberfläche der Serie, ein Spiel, das sich durch keinen einheitlichen Sinn kontrollieren lässt. Diesem Spiel geht die Enthauptung voraus. Und es hilft der männlichen Figur – Zeichner oder Leser – keine Drohung, auch diese Geste macht Doucet lächerlich. In einem Interlude des Heftes sieht eine Figur auf einer Straße, dass sie gelesen wird, bleibt stehen und holt ihren Penis aus der Hose: »This is my Penis! His name is Pete. He’s my friend, okay? So don’t ever hurt him!« Dass es sich hier nicht um eine Bitte, sondern um eine Drohung handelt, verdeutlicht das letzte Panel, in dem die Figur drohend die Faust erhebt: »Or else, look out!« Doch der Bildausschnitt hat Pete faktisch schon abgeschnitten und durch den Namen der Zeichnerin ersetzt. Comics beziehen nicht zuletzt aus solchen Schnitten ihre Komik, die vervielfältigt wird durch die Figur Doucets, die mit ihrer Zeichenmappe im 197

Ole Frahm ersten Panel dieser Unterbrechung aus dem Bild geht. Sie ist mit ihren Zeichnungen immer schon weiter, keine Gewaltfantasie wird die Kastration verhindern können, weil noch die Drohung nur unter ihrer Bedingung erscheint. Mehrdeutigkeit, Reflexion der Produktion von Sinn, Spiel mit der Position des Betrachters – zweifellos erfüllt Doucet wie viele Underground Comics Kriterien, die aus dem bürgerlichen Kunstdiskurs abgeleitet werden. Doch können alle einen solchen Diskurs zentrierenden Begriffe sich am Material nicht behaupten, so sehr eine Vereinnahmung und Zentrierung der Comics in den gegenwärtigen Verhältnissen nicht nur möglich ist, sondern sich fast zwanghaft wiederholt. Die parodistischen Maskierungen, ihre fortgesetzten Enthauptungen und abgeschnittenen Schwänze, wie sie in den Independent Comics auf die Oberfläche drängen, rufen, unabhängig davon und wie verschoben auch immer, eine andere Möglichkeit in Erinnerung, eine andere Geschichte. Es ist nicht zuletzt eine Geschichte des Proletariats, der Frauen, der Tiere.

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Was ist ein Comic-Autor? Autorinszenierung in autobiografischen Comics und Selbstporträts DANIEL STEIN

1. Zum Begriff des Comic-Autors »Was ist ein Autor?«, fragte der französische Historiker Michel Foucault Ende der 1960er Jahre in einem viel zitierten Aufsatz zur Funktion von Autordiskursen in unterschiedlichen historischen Kontexten.1 Kurz zuvor hatte sein Landsmann Roland Barthes den »Tod des Autors« ausgerufen und sich gegen die Versuchung gewandt, dem Autor literarischer Texte allzu große Bedeutung in der Interpretationsarbeit zuzumessen.2 Auch wenn diese beiden Publikationen heute weniger wegen ihres wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs, sondern eher als historische Demarkationspunkte und Ausgangsbasis für neuere Theorien literarischer Autorschaft gelesen werden, so machen sie eines doch sehr deutlich: Wer sich mit der Analyse und Interpretation literarischer Texte beschäftigt, wird sich mit Fragen der Autorschaft kritisch auseinander setzen müssen.3 Vom wissenschaftlichen Interesse an diesen Fragen einmal abgesehen, ist es in der Tat genau jene von Barthes kritisierte ›Präsenz‹ von Autorfiguren in literarischen Texten, die sich im Lektüreakt immer wieder als rezeptionsleitend erweist. Die Herausgeber eines einschlägigen Sammelbands sprechen in diesem Zusammenhang von der gängigen »Forderung des Publikums an den Autor, ei-

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Michel Foucault: »Qu’est-ce qu’un auteur?« (1969), in: Dits et écrits 19541988, Bd. 1: 1954-1969, Paris: Gallimard 1994, S. 789-821. Roland Barthes: »La mort de l’auteur« (1968), in: Œvres complètes, Bd. 2: 1966-1973, Paris: Seuil 1984, S. 82-112. Zur Vertiefung dieser Aussagen vgl. Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Niemeyer 1999; Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002.

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Daniel Stein nen ›lebendigen‹ Autor zu präsentieren«.4 Ist es bloß ein Zufall, möchte man dann auch fragen, dass gerade zu dem Zeitpunkt, an dem Barthes seine Gedanken zum Tod des Autors verschriftlicht, amerikanische Leser von Superheldencomics und Donald Duck-Heften nach den Autoren dieser Texte forscht und auf diese Weise den Grundstein für einen Diskurs über den Comic-Autor legt?5 Man mag ebenfalls fragen, ob hinter diesem Interesse nicht mehr als nur der Wunsch von Fans nach der Huldigung ›genialer‹ Autorfiguren steht. So ist zu vermuten, dass dieser Wunsch mit dem Bedürfnis von Autoren korrespondiert, sich als Autoren im »theatralen Raum« der comics culture zu inszenieren, also in einem Teilbereich der Populärkultur, in dem serielle Produktions- und Vermarktungspraktiken traditionelle Vorstellungen der Autorschaft komplizieren und differenzieren.6 Diesen Annahmen will der vorliegende Beitrag nachgehen und in Anlehnung an Foucault und Barthes folgende Fragen beantworten: Was ist ein Comic-Autor? Und wie lassen sich Autorrollen und ihre historische Entwicklung in einem kulturellen Feld beschreiben, das wir allgemein (und oft unreflektiert) Populärkultur nennen? Da die historischen Bedingungen, in denen Comics in den USA entste4

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Susi Frank u.a., Vorwort, in: Dies. u.a. (Hg.): Mystifikation – Autorschaft – Original, Tübingen: Narr 2001, S. 7-21, hier S. 11. Barthes favorisierte ein Konzept von Intertextualitätsbeziehungen, die den Autor weitgehend entmachten und den Text für den Leser zur Interpretation ohne Rückbindung an eine Schöpferfigur freigeben. Carl Barks’ prominenter Autorstatus geht auf Fanbriefe in den 1950er und 1960er Jahren zurück; die frühen Disney-Comics wurden unter dem Namen des Verlags, und nicht unter dem des jeweiligen Autors, veröffentlicht. Die Entstehungsgeschichte des Batman wurde intensiv in Fan-Publikationen verhandelt, und zwar nicht nur von Amateur-Historikern und Hobby-Biografen, sondern auch von Autoren wie Bob Kane und Bill Finger. Vgl. Bill Schelly: The Golden Age of Comic Fandom, Seattle: Hamster 1999, S. 101, 115; Will Brooker: Batman Unmasked. Analysing a Cultural Icon, London, New York: Continuum 2000, S. 249-307. Vgl. Gunter E. Grimm und Christian Schärf: »Texte, Autoren und Publikum bilden einen ›theatralen Raum‹, in dem bestimmte Dispositionen der kulturellen Öffentlichkeit durchgespielt und fortentwickelt werden. Die jeweilige Inszenierung von Autorschaft wird – in einer komplexen Dynamik aus Begründungs- und Zweckmotivationen – von poetologischen, psychologischen, ideologischen, ökonomischen und medialen Faktoren gesteuert.« G.E. Grimm/Chr. Schärf: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 7-11, hier S. 7f. Zu den Strukturen der amerikanischen comics culture, insbesondere der Vernetzung und wechselseitigen Interaktion von Autoren und Fans vgl. Matthew Pustz: Comic Book Culture. Fanboys and True Believers, Jackson: University Press of Mississippi 1999.

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Was ist ein Comic-Autor? hen und unter denen Comic-Autoren arbeiten, kulturspezifisch sind, und da für eine kulturübergreifende Analyse mehr Forschungsarbeit notwendig wäre, als hier geleistet werden kann, konzentriere ich mich im Folgenden auf amerikanische Comics.7 Ein erstes Problem sind die Begrifflichkeiten. Ist es in der Literaturwissenschaft gängige Praxis, von Autoren zu sprechen, und ist es in der Kunstwissenschaft üblich, die Werke von Künstlern zu begutachten, finden sich in der Comic-Forschung keine klaren Bezeichnungen für die Personen, die an der Entstehung und Herstellung von Comics beteiligt sind. Mit dem Künstlerbegriff tut man sich dort immer noch schwer; man benutzt ihn, wenn überhaupt, meist aus Interesse an Distinktionsgewinnen – für den behandelten Künstler sowie für den behandelnden Kritiker.8 Wenn Kritiker von Gilbert Seldes bis Todd Hignite von den »Meistern der Comics« sprechen, dann tun sie dies zwar in unterschiedlichen Kontexten, aber meist doch, um Comics als ein Medium im Kulturbetrieb zu etablieren, das sich nicht länger hinter etablierten Kunstformen verstecken muss (und eigentlich auch nie musste). So charakterisiert Seldes George Herriman als »our great master of the fantastic« und spricht von Krazy Kat als »masterpiece«,9 Robert Crumb nennt Herriman den »Leonardo da Vinci of the cartoon world«10 und John Carlin, Paul Karasik und Brian Walkers Comic-Anthologie trägt den Titel Masters of American Comics.11 Besonders deutlich zeigt sich der Künstlerdiskurs dann bei Hignite; er spricht wiederholt von »artists«, »visions« und »individual creator«.12 7

Die frankophone Comic-Tradition wird in mehreren Beiträgen in diesem Band verhandelt; wenn dort andere Autorrollen und -konzepte als in den USA zum Tragen kommen, dann liegt dies außerhalb des bearbeitbaren Forschungsgegenstands. Vgl. auch Bart Beaty: Unpopular Culture. Transforming the European Comic Book in the 1990s, Toronto: University of Toronto Press 2007; Thierry Groensteen: »Les petites cases du moi. L’autobiographie en bande dessinée«, in: 9e Art (1996), H. 1, S. 58-69. 8 Das führt immer wieder zu Abgrenzungsängsten bei Vertretern bildungskultureller Kunstvorstellungen. Vgl. dazu Jeet Heer/Kent Worcester (Hg.): Arguing Comics. Literary Masters on a Popular Medium, Jackson: University Press of Mississippi 2004. 9 Gilbert Seldes: The Seven Lively Arts, New York: Harper & Brothers 1924, S. 232. 10 Robert Crumb, Interview mit Lisa Eisner und Román Alonso: »An Eye for the Ladies«, in: New York Times, 30.3.2003, URL: http://query.nytimes.com/ gst/fullpage.html?res=9F03E7DE1530F933A05750C0A9659C8B63, Datum des Zugriffs: 23.5.2009. 11 John Carlin/Paul Karasik/Brian Walker (Hg.): Masters of American Comics, New Haven: Yale University Press 2005. 12 Todd Hignite: In the Studio. Visits with Contemporary Cartoonists, New Haven: Yale University Press 2006, S. 1-3. Zum verwandten Geniebegriff im

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Daniel Stein Davon abgesehen, dass die Comic-Forschung schlecht bedient wäre, wenn sie sich fremder Begrifflichkeiten ohne kritische Distanz annähme, wird man zu dem Schluss kommen müssen, dass ein gewisses Maß an Begriffsbestimmung unerlässlich ist, wenn eine verkürzte Sichtweise auf den Forschungsgegenstand vermieden werden soll. So erweist sich der fast unweigerlich normativ aufgeladene Begriff des Künstlers als irreführend, weil dazu verleitet, Formen der kollektiven Autorschaft zu verwischen, den Einfluss von Redakteuren und Lesern zu unterschätzen, marktökonomische Faktoren zu marginalisieren und die zentrale Rolle von Copyright- und Trademark-Rechten zu überdecken.13 Der Begriff des Comic-Zeichners ist letztlich ebenso problematisch, weil er vornehmlich auf das Bildästhetische verweist und dabei das geschriebene Wort im Comic vernachlässigt. Wie einige der interviewten Akteure in Martin Sheridans Comics and Their Creators berichten, fällt die Entwicklung von Handlungsszenarien und Dialogen in einen Aufgabenbereich, der sich von der Zeichenarbeit unterscheidet und in vielen Fällen von unterschiedlichen Personen bedient wird.14 Ein prominentes Beispiel sind Jerry Siegel (Text) und Joe Shuster (Zeichnungen), die arbeitsteilig für die Konstruktion des Superman verantwortlich waren; im Bereich der Graphic Novels ist Alan Moore zu nennen, der mit unterschiedlichen Zeichnern arbeitet, die seine Geschichten grafisch umsetzen, z.B. Dave Gibbons (Watchmen), David Lloyd (V for Vendetta), Brian Bolland (Batman: The Killing Joke) und Kevin Kontext der Comics vgl. Kathrin Hoffmann-Curtius: »Unikat und Plagiat. Die Meistererzählung im Comic«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Schmidt 2002, S. 153-169. 13 Die Regelung von Urheberansprüchen hat sich in der Geschichte des Comics aufgrund der für viele seiner Gattungen typischen seriellen Erzählform als besonders schwierig erwiesen. Vgl. Mark D. Winchester: »Litigation and Early Comic Strips. The Lawsuits of Outcault, Dirks and Fisher«, in: Inks 2 (1995), H. 2, S. 16-25; Jane M. Gaines: Contested Culture. The Image, the Voice, and the Law, Berkeley: University of California Press 1991, insbes. das Kapitel »Superman, Television, and the Protective Strength of the Trademark«, S. 208-227. Zu Demografie und Habitus von Comic-Lesern vgl. M. Pustz: Comic Book Culture; Jeffrey A. Brown: Black Superheroes, Milestone Comics, and Their Fans, Jackson: University Press of Mississippi 2001. 14 Vgl. Martin Sheridan: Comics and Their Creators. Life Stories of American Cartoonists, Westport: Hyperion 1977. Batman-Redakteur Dennis O’Neil benennt die im Produktionsprozess der Superheldencomics involvierten Akteure: »editor, writer, penciller, inker, letterist, colorist«. Roberta E. Pearson/William Uricchio: »Notes from the Batcave. An Interview with Dennis O’Neil«, in: Dies. (Hg.): The Many Lives of the Batman. Critical Approaches to a Superhero and His Media, New York, London: Routledge 1991, S. 1832, hier S. 25.

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Was ist ein Comic-Autor? O’Neill (The League of Extraordinary Gentlemen).15 Letztlich ist auch die Bezeichnung Comic-Autor, auf die ich im Verlauf dieses Beitrags immer wieder zurückkommen werde, erst einmal nicht trennscharf, weil der Autorbegriff für comicspezifische Phänomene erst noch operationalisiert werden muss. Zunächst ist Foucaults These, dass Autorbegriffe auf kulturellen Bedürfnissen und damit auch auf historisch spezifischen Diskursen basieren, einleuchtend.16 Die Zeitungscomics des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erschienen als populäre Form der Unterhaltung, und ihre ›Autoren‹, d.h. ihre Zeichner und Schreiber, konnten sich anfangs auf keine etablierten Institutionen und keine Tradition der Comic-Ästhetik berufen. Stattdessen waren es das Gutdünken ihrer Herausgeber und die Publikumsresonanz, die in der Regel über die Fortdauer eines Strips sowie über die Handlungsentwicklung serieller Erzählungen entschieden. Sie stellten die Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Autorrollen, die den Comic-Autor von Schriftstellern und Künstlern der klassischen Moderne unterscheiden.17 Mit den Superheldencomics, die ab den späten 1930er Jahren in Form von comic books ein Massenpublikum erreichen, entstehen neue rechtliche Voraussetzungen (Trademark), aber auch neue Autorrollen (verstärkt kollektive und anonyme Autorschaft), gegen die sich später die Verfasser von Underground Co15 Andreas Platthaus benutzt für Moore die übliche Bezeichnung »Szenarist«, was einerseits die Funktion Moores als Entwickler von Handlungssequenzen und Textsegmenten illustriert, andererseits aber nicht klar werden lässt, wie groß und wie geartet Moores Beteiligung an der Comic-Erzählung eigentlich ist. Vgl. Andreas Platthaus: »›Sprechen wir über mich‹. Die Rückkehr des autobiografischen Elements in den Comic«, in: Stefanie Diekmann/Matthias Schneider (Hg.): Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit, Berlin: SuKuLTuR 2005, S. 193-207, hier S. 194. 16 Foucault geht davon aus, dass Autorbegriffe die kulturellen Bedürfnisse ihrer Zeit erfüllen und dass dem Autornamen eine Klassifikationsfunktion (»fonction classificatoire«) zukommt. Vgl. dazu auch Dirk Niefanger: »Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer)«, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 521-539. 17 Der Versuch, Comic-Autoren in der Moderne zu verorten, darf die Unterschiede zwischen literarischer und bildästhetischer Avantgarde einerseits und dem Comic als populärkulturelles Artefakt andererseits nicht wegwischen. Vgl. Adam Gopnik: »Comics«, in: Kirk Varnedoe/Adam Gopnik (Hg.): High and Low. Modern Art and Popular Culture, New York: Museum of Modern Art, Abrams 1990, S. 153-230; Daniel Stein: »The Comic Modernism of George Herriman«, in: Jake Jakaitis/James Wurtz (Hg.): Visual Crossover. Reading Graphic Narrative and Sequential Art, in Vorbereitung.

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Daniel Stein mics und Autorencomics durch explizite Bezüge auf ihren Autorstatus wenden werden. Um der Geschichte der Autorschaft im Feld der Comics nachzugehen, werde ich mich auf Autorinszenierungen in Selbstporträts und autobiografischen Comics konzentrieren. Der Begriff der Autorinszenierung hat mit der Publikation des gleichnamigen Sammelbands von Christine Künzel und Jörg Schönert18 an Prominenz gewonnen und ist für die Beschreibung historischer Formen der Comic-Autorschaft besser geeignet als verwandte Begriffe, die in der Literaturwissenschaft ebenso gebräuchlich sind, z.B. »SchriftstellerInszenierung« (Gunter E. Grimm/Christian Schärf)19 oder »Selbstpoetik« (Ralph Köhnen).20 Im Kontext der Comics bietet sich der Begriff der Autorinszenierung an, weil er ein offenes Verständnis auktorialer Tätigkeiten vertritt (Comic-Autoren sind keine Schriftsteller im eng literarischen Sinn), weil er weniger eine Poetik der Identität als eine Poetik der Selbstdarstellung in Bild und Schrift im öffentlichen Raum im Blick hat und weil er konkreten Formen der Selbstdarstellung Vorrang vor diskurstheoretischen Abstraktionen gibt.21 Mit Ausnahme autobiografischer Comics, auf die noch einzugehen sein wird und die ich im Folgenden als eine besondere Form der sequentiellen Selbstporträtierung lesen werde, sind es Selbstporträts in Form verschiedener Paratexte, z.B. Klappentexte, Nachwörter, Titelblätter von Sonntagszeitungen und eigens angefertigte Illustrationen für Zeitschriften und Magazine, die Comic-Autoren ein öffentliches Forum bieten, indem sie (oft implizite) ästhetisch-kulturelle Beobachtungen mit (oft expliziten) Strategien der Selbstinszenierung als Autorfigur verbinden.22 Wie Christine Künzel und Dirk Niefanger in ihren jeweiligen Untersuchungen anmerken, unter-

18 Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 19 Vgl. G.E. Grimm/Chr. Schärf (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen. 20 Vgl. Ralph Köhnen, (Hg.): Selbstpoetik 1800-2000. Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling, Frankfurt/Main, New York: Lang 2001. 21 Vgl. Chr. Künzel: Einleitung, in: Chr. Künzel/J. Schönert, Autorinszenierungen, S. 9-23, hier S. 9f. 22 Zur Theorie der Paratexte vgl. Gérard Genette: Seuils, Paris: Seuil 1987; zur Einführung in Theorie und Geschichte des Selbstporträts vgl. Omar Calabrese: Die Geschichte des Selbstporträts, übers. v. Elisabeth Wünsche-Werdehausen, München: Hirmer 2006. Calabrese formuliert drei Bedingungen, die ein Bild erfüllen muss, um als Selbstporträt zu gelten: (1) es »müssen Verweise auf die grammatischen Kategorien ›Ich – hier – jetzt‹ enthalten sein«; (2) es »sollte auch eine gewisse Selbstbezüglichkeit des Autors zum Ausdruck kommen«; (3) ein Selbstporträt »muß die Absicht zur Kommunikation zum Ausdruck bringen«. Ebd. S. 30.

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Was ist ein Comic-Autor? scheiden sich paratextuelle Selbstinszenierungen von Autoren sowohl vom literarischen Primärtext, zu dem sie nicht gehören, dem sie aber ›anhängen‹, als auch von den Diskursen über diesen Text, von denen sie sich durch die privilegierte Stellung des Autors als Urheber fiktionaler Texte abheben. Selbstinszenierungen von Autoren, seien sie verbaler, visueller oder performativer Natur, erheben einen besonderen Deutungsanspruch über den Autor selbst wie auch über sein Werk.23 In der Geschichte der amerikanischen Populärkultur wurden Comic-Autoren lange als Produzenten standardisierter Massenunterhaltung gehandelt, die keine künstlerischen Werke schafften, sondern Waren zum schnellen Konsum herstellten. Diese Zuschreibung hat kreative Formen der Selbstdarstellung motiviert, durch die Comic-Autoren wiederholt eigene Vorstellungen von Autorschaft markierten. Autorinszenierung bedeutet in diesem Sinn also »Mitarbeit an der Kultur als sozialer Praxis«.24 Aufgrund der Ubiquität von Selbstporträts im Feld der Comics ist es angebracht, nicht von einer »quantité négligeable im Umkreis der Texte«, sondern von einem integralen Bestandteil des Literatursystems zu sprechen und die notwendige »Erweiterung des Rezeptionshorizonts von Literatur«25 einzufordern. Was untersucht werden soll, sind die »Repertoire[s] der Selbstdarstellung« amerikanischer Comic-Autoren, also die »Zeichenreservoirs«, aus denen sie schöpfen, und die »kulturell codierte[n] Zeichenensemble[s]«, derer sie sich bedienen, um Autorschaft zu markieren und bestimmte Autorrollen zu inszenieren.26 Ich werde in einem ersten Schritt Beispiele autobiografischer Comics von Robert Crumb (»The Many Faces of R. Crumb«, 1972; »The Confessions of R. Crumb«, 1972) und Art Spiegelman (Maus, 1986, 1991; In the Shadow of No Towers, 2004; Breakdowns, 1978, 2008) untersuchen, also Werke von zwei Autoren, die sich im Kontext der Underground und Independent Comics verorten.27 In einem

23 Vgl. Chr. Künzel: Einleitung, S. 10; Dirk Niefanger: »Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur«, in: Johannes G. Pankau (Hg.): Pop-Pop-Populär. Popliteratur und Jugendkultur, Oldenburg: Aschenbeck & Isensee 2004, S. 85-101, hier S. 88. 24 R. Köhnen: »Selbstpoetik 1800/1900/2000. Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling«, in: R. Köhnen: Selbstpoetik 1800-2000, S. 7-18, hier S. 10. 25 G.E. Grimm/Chr. Schärf: Einleitung, S. 7-9. 26 Chr. Künzel: Einleitung, S. 11; R. Köhnen: »Selbstpoetik«, S. 9; D. Niefanger: »Provokative Posen«, S. 87. 27 Ole Frahm und Michael Hein unterscheiden die Underground Comics der 1960er und 1970er Jahre von amerikanischen Independent Comics der 1980er und 1990er Jahre und dem europäischen Autorencomic, sehen aber in den autobiografischen Erzählmodi, die sich in diesen Formen der

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Daniel Stein zweiten Schritt möchte ich zeigen, dass autobiografische Comics eine Vorgeschichte haben: Selbstporträts und Autorinszenierungen im Feld der Zeitungscomics von kulturschaffenden Akteuren wie Lyonel Feininger, George Herriman, Fontaine Fox, Rex Mason und Chester Gould, deren Einfluss sich über die Hochphase der Underground Comics hinaus verfolgen lässt (z.B. in den Arbeiten von Bill Watterson) und sich auch auf Konstruktionen von Autorschaft im Bereich der Superheldenhefte auswirkt (z.B. Brian Bollands Nachwort von 2008 zur Neuauflage von Batman: The Killing Joke, 1988). In einem dritten Schritt wird es darum gehen, diese Texte und Autoren in einen historischen Entwicklungszusammenhang zu stellen, der auf Veränderungen im Selbstverständnis sowie in der kulturellen Wahrnehmung von Comic-Zeichnern eingeht und seinen vielleicht komplexesten Ausdruck in Art Spiegelmans metareflexiver Zeichnung »Comics as a Medium of Self Expression« (1981) findet.

2. Autobiografische Comics Beginnen will ich diesen Abschnitt mit den autobiografischen Underground Comics von Robert Crumb.28 Ein gutes Beispiel ist eine zweiseitige Geschichte mit dem bedeutungsschwangeren Titel »The Many Faces of R. Crumb«, erschienen 1972 in einem Heft der XYZ Comics (Abb. 1).29 grafischen Literatur beobachten lassen, Verwandtschaften. Vgl. O. Frahm/ M. Hein: »Art Spiegelman«, in: Reddition (1993), H. 22, S. 4-13. 28 Eine erste, wenn auch mit Blick auf fiktionale Erzählstrategien und kommerzielle Motive zu kurz greifende Definition des Autobiografischen in Comics liefern die Verfasser des Vorworts zur 22. Ausgabe der Zeitschrift Reddition (1993): »Dabei ist nicht nur die getreue Wiedergabe des Selbsterlebten und -erfahrenen im Comic gemeint, sondern es sind auch jene individuell gestalteten Arbeiten angesprochen, in denen auf indirekte Weise Ansichten des eigenen Ichs über das Leben und Miteinanderleben zum Ausdruck kommen. Dreh- und Angelpunkt ist der unabhängige Autor, der nicht in die arbeitsteiligen Prozesse zur fließbandähnlichen Erstellung von Massenware eingebunden ist, sondern frei seine Ausdrucks- und Gestaltungsmittel wählen kann und von kommerziellen Erwägungen weitgehend unberührt bleibt«. Ebd. o.S. 29 Es existieren neben autobiografischen Comic-Erzählungen mehrere Einzelbilder, auf denen sich Crumb präsentiert; sie reichen von eher konventionellen Darstellungen bis hin zu ausgeflippten Selbstkarikaturen (z.B. mit drittem Auge auf der Stirn oder als Charlie Chaplin-Figur). Da dieser Beitrag das Ziel hat, einen Überblick über die Facetten und Entwicklungslinien von Autorinszenierungen im Comic zu geben, und da das autobiografische Erzählelement der Underground Comics ein besonderes Identitätsmerkmal dieser Texte darstellt, muss auf eine Analyse der ebenfalls interessanten

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Was ist ein Comic-Autor?

Abb. 1. Robert Crumb: »The Many Faces of R. Crumb« (1972), in: John Carlin/Paul Karasik/Brian Walker (Hg.): Masters of American Comics, S. 124f.

Der Leser wird hier mit einer Autorfigur konfrontiert, die sich weigert, auf eine bestimmte Rolle festgelegt zu werden. Crumb scheint zweierlei zu verfolgen. Er präsentiert eine ironisch-satirische Sicht auf bildungskulturelle Autorkonzepte und Geniediskurse, inszeniert sich aber selbst als genialen Autor, der spielerisch in verschiedene Autorrollen schlüpft und seine Wandlungsfähigkeit vor seinem Publikum ausbreitet. Diese doppelte Perspektive beginnt schon mit der Überschrift – bzw. mit dem Konvolut von Text- und Bildbausteinen, die dem eigentlichen Comic vorangestellt sind. Fangen wir mit der Cartoon-Figur oben links an. Es handelt sich um eine vereinfachte Version der weiter unten dargestellten Autorfigur R. Crumb. Beide Figuren tragen eine runde Brille sowie ein Kragenhemd mit Knopf. Die runde Kopfform und die stacheligen Haare der Cartoonfigur lassen sie unschwer als ikonische Reduktion erkennen, womit klar wird, dass auch die Figur R. Crumb nur Einzelbilder vorerst verzichtet werden. Die Rolle von Harvey Pekar und seiner Heftserie American Splendor (ab 1976) soll dabei nicht übersehen werden, denn es ist diese Publikation, die erstmals ausschließlich autobiografische Comics druckt und somit einen ersten Knotenpunkt des Autobiografischen in der Comic-Geschichte darstellt. Auf die Bedeutung einzelner Publikationen, z.B. Zap Comics (ab 1967) oder Weirdo (ab 1981), kann ich aus Platzgründen nicht eingehen. Auch die autobiografischen Comics von Justin Green und Aline Kominsky-Crumb müssen aus diesem Grund ausgeklammert werden.

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Daniel Stein als Reduktion des Autors verstanden werden kann. Es handelt sich also eben gerade nicht um die »getreue Wiedergabe des Selbsterlebten und -erfahrenen«, von der die Herausgeber der Zeitschrift Reddition sprechen, sondern um einen spielerischeren Umgang mit dem Autobiografischen, eine Selbstinszenierung des Autors mit den Mitteln der grafischen Literatur. Die leuchtende Glühbirne, die nach dem Bildvokabular des Comics eine zündende Idee signalisieren soll, verschafft diesem Selbstporträt die erste ironische Note. Sie verweist auf eine simple Form des grafischen Erzählens, die sich kaum mit den provokanten Themen der Underground Comics vereinbaren lässt.30 Der gewitzte Autor, der sich hier inszeniert, kokettiert zudem mit seinem tollen Aussehen und seiner schöpferischen Imaginationskraft und umgibt sich zugleich mit einem hämischen Chorus aus Werbesprache und übertriebener Selbstbeweihräucherung. Seine Firma heißt »Me, Myself & I«, und der Anspruch auf Vielseitigkeit, den der Titel »The Many Faces of R. Crumb« verspricht, wird durch die Ankündigung »An inside look at the complex personality of the great me!!!« zusätzlich annonciert. Der Autor wird hier zum Label und verpasst der reißerischen Leseradressierung, die regelmäßig die Titelseiten der Superheldencomics von DC und Marvel schmückte, einen Seitenhieb.31 Denn R. Crumb ist natürlich ein Antiheld, ein Gegenentwurf zu den muskelbepackten Protagonisten der DC- und Marvel-Universen.32 Dass die Cartoonfigur mit der einen Hand auf sich selbst zeigt und so auf ihre Selbstverliebtheit – und eben indirekt auch auf die ihres Schöpfers – hinweist, dass sie außerdem die andere Hand besitzergreifend auf das erste Panel des eigentlichen Comics legt (in dem sich ein ›hart‹ arbeitender selbstverliebter Crumb an seinen eigenen »sick cartoons« ergötzt und sich als Underground-Version des Onan zum Leiden eines unschuldigen Passanten geriert), kann nicht weiter überraschen. Der kreative Autor, so wird hier augenzwinkernd gezeigt, schöpft seine gestalterische Kraft aus der sexuellen Beschäftigung mit sich selbst; künstlerische und sexuelle Potenz gehen hier Hand in Hand.33 30 Diese Ironie und Crumbs satirischer Umgang mit den Medien (auch Comics) sind ohne Harvey Kurtzmans und William Gaines’ MAD Magazine (ab 1952) undenkbar. 31 Vgl. D. Niefanger: »Der Autor und sein Label«, insbes. S. 521-527. 32 Auch hier stellt Mad den Kontext, denn dort erschienen schon Jahre vor Crumb Parodien auf Superman (als Superduperman, 1952) und Batman (als Bats-Man, 1965). 33 Das »augenzwinkernde […] Insistieren auf der ›Herrschaft des Phallus‹« und »die im kulturellen Gedächtnis tief verankerte Idee […], wonach männliche Potenz und kreatives Potenzial metaphorisch gleichzusetzen sind«, stellen den kunsthistorischen Kontext für Crumbs Geschichte. Ulrich Pfiste-

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Was ist ein Comic-Autor? In den folgenden Panels schlüpft Crumb in immer neue Autorrollen, die alle ironisch überzeichnet sind aber letztlich nicht völlig abwegig erscheinen. Vom Autor als »long-suffering patient artistsaint« ist hier die Rede, vom »fascist creep«, »pationate revolutionary«, »booshwah businessman cartoonist« sowie vom »gregarious clowner«, »media superstar, monumental egotist«, »lovable hay-seed« und »sex-crazed fiend and pervert« – und die verbale und visuelle Präsentation kontroverser Persönlichkeitsentwürfe geht noch weiter. Erst die Panels 17 und 18 bringen eine Art Erlösung; die Erzählerfigur stellt die Frage aller Fragen: »The enigmatic, elusive man of mystery, who is this Crumb?« Diese Frage formuliert von Autor- wie von Leserseite den Wunsch nach Erkenntnis – hier Selbsterfahrung, da das Interesse am Leben eines Anderen –, endet aber mit der lapidaren Feststellung, dass sich die Beschaffenheit der Autorpersönlichkeit nicht endgültig festlegen lasse: »It all depends on the mood I’m in!!« Crumb ist hier ganz der postmoderne Autor, der sich als Medienfigur inszeniert, multiple Formen der Autorschaft für sich beansprucht und diesen Anspruch selbstreflexiv zur Schau trägt. In einem zweiten kurzen Comic Strip Crumbs, der 1972 in The People’s Comics erschien, reklamiert der Titel eine Verwandtschaft mit den antiken Bekenntnissen des Augustinus von Hippo und der modernen Autobiografie Jean-Jacques Rousseaus: »The Confessions of R. Crumb« (Abb. 2). Dem prätentiösen Titel steht ein Werbeslogan voran: »The great man tells all!!« Des Weiteren treffen wir hier erneut auf die Cartoonfigur, die uns aus dem vorangegangenen Comic bekannt ist. In dem zweiten Comic erfüllt sie die Aufgabe, den Anspruch auf autobiografische Authentizität zu relativieren: »My life’s an open book! … up to a point!« Der Autor, der sich hier inszeniert, ist sich seiner Macht als Autoritätsfigur bewusst – nur er kann letztlich autoritativ über sein eigenes Leben sprechen – und macht klar, wer die finale Kontrolle über seine Bekenntnisse beansprucht: kein Priester, und auch nicht der Leser, sondern nur der Autor, dem wir aber nicht wirklich trauen können. Doch Crumb nutzt die Gattung der Autobiografie nicht nur, um sich über ihren Enthüllungsgestus lustig zu machen und seine Autorität als Comic-Autor zu markieren. Im ersten Panel entwirft er eine Szene, der wir noch des Öfteren begegnen werden: der Autor am Zeichentisch, leere Blätter vor sich, die Zeichenutensilien in der Hand und auf dem Beistelltisch. Der so ins Leben gerufene Autor beharrt augenscheinlich auf seiner Integrität: »Notice: R. Crumb does not sell out!«, proklamiert ein Hinweisschild, dessen zentrale

rer/Valeska v. Rosen, Vorwort, in: U. Pfisterer/V. v. Rosen (Hg.): Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart: Reclam 2005, S. 11-23, hier S. 12.

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Daniel Stein Platzierung im Blickfeld des Betrachters dem Insistieren auf künstlerische Selbstverwirklichung einen faden Beigeschmack verleiht – seine Seele nicht an den kulturindustriellen Mammon zu verkaufen, gehört schließlich zum Grundverständnis der Underground Comics.

Abb. 2. Robert Crumb: »The Confessions of R. Crumb« (1972), in: Mark J. Estren: A History of Underground Comics, S. 284.

Statt sich kommerziell anzubiedern, will R. Crumb seinen Fantasien Ausdruck in »twisted perverted drawings«, also in verdrehten und perversen/pervertierten Zeichnungen, verleihen. Nun wissen wir bereits, dass die Selbstdarstellung im Comic auf einer Reihe zeicherischer und narrativer Gestern fußt und nicht als Offenlegung der ›wirklichen‹ Persönlichkeit des empirischen Autors verstanden werden darf.34 Der Comic wird zur Leinwand, auf der sich die Autorfi34 In der Literaturtheorie gilt der Rückschluss auf die Autorintention seit den 1950er Jahren als unzulässig. Vgl. William K. Wimsatt/Monroe C. Beardsley: »The Intentional Fallacy«, in: William K. Wimsatt: The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry, Lexington: University of Kentucky Press 1954, S. 318.

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Was ist ein Comic-Autor? gur austoben kann. Das wird dadurch klar, dass die Erzählerfigur tatsächlich einen ziemlich perversen Comic zeichnet, allerdings nicht einen über Sex- und Drogenfantasien, wie man es hätte erwarten können, sondern den Comic, den wir in der Hand halten. Hier vermischen sich zwei Erzählebenen (sie sind »twisted«/»perverted«), denn anstatt den Comic auf das vor ihm liegende Blatt zu zeichnen, projiziert ihn die Crumb-Figur direkt vor die Augen des Lesers auf eine übergeordnete diegetische Ebene. Pervers ist Folgendes: Weil ihr nichts Kreatives einfällt, singt die Crumb-Figur ein Loblied auf die Meinungsfreiheit, die in dieser Form nur im »land of my people, the good ol’ USA« anzutreffen sei. Der patriotische Diskurs, der hier vordergründig präsentiert wird, ist in Wirklichkeit eine beißende Satire (was bringt die Meinungsfreiheit, wenn man nichts Kritisches zu sagen hat?). Crumb setzt ikonische Referenzen: die amerikanische Flagge, die an das James Montgomery Flagg Poster »Uncle Sam Wants You« erinnernde Gestik seines Erzählers und die Mickey Maus-Ohren als Seitenhieb auf den Kulturimperialismus des Disney-Konzerns. Er inszeniert sich hier u.a. als Satiriker, der die Leitfigur des eigenen Mediums, Mickey Maus, lustvoll missbraucht und sich auf diese Weise als Gesellschaftskritiker anbietet. In den 1980er Jahren findet eine Wandlung von der eher konfrontativen Gesellschaftskritik der Underground Comics zu einer persönlicheren und nachdenklicheren Form der Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Geschichte statt. Der bekannteste amerikanische Comic-Autor in diesem Zusammenhang ist sicherlich Art Spiegelman, dessen zweibändige Holocaust-Erzählung Maus den Übergang zwischen den Underground Comics und den im Literaturbetrieb immer stärker wahrgenommenen autobiografischen Autorencomics markiert. Zu Maus ist schon viel gesagt und geschrieben worden, z.B. über die Genese der Erzählung, die zunächst teilweise und in Rohform im Comic-Magazin Raw veröffentlicht wurde und dann in ausgearbeiteter Form als Maus: A Survivor’s Tale (Bd. 1: My Father Bleeds History, 1986; Bd. 2: And Here My Troubles Began, 1991) großen Zuspruch fand. Doch bezüglich der Frage der Autorinszenierung besteht ein relatives Deutungsvakuum.35 Es ist aus 35 Die Sekundärliteratur zu Maus ist zu umfangreich, um hier auch nur annähernd diskutiert zu werden; als erste Annäherung sind hilfreich: Rick Iadonisi: »Bleeding History and Owning His [Father’s] Story. Maus and Collaborative Autobiography«, in: CEA Critic 57 (1994), H. 1, S. 45-56; Thomas Doherty: »Art Spiegelman’s Maus. Graphic Art and the Holocaust«, in: American Literature 68 (1996), H. 1, S. 69-84; Deborah R. Geis: Considering Maus. Approaches to Art Spiegelman’s »Survivor’s Tale« of the Holocaust, Tuscaloosa: University of Alabama Press 2003; Jeanne Ewert: »Art Spiegelman’s Maus and the Graphic Narrative«, in: Marie-Laure Ryan (Hg.): Narrative Across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln, London: Univer-

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Daniel Stein diesem Grund angebracht, sich die verschiedenen Formen der Selbstinszenierung Spiegelmans näher anzuschauen und den Blick dabei auf andere Publikationen auszuweiten: auf das 2004 erschienene Buch zu den Anschlägen des 11. September, In the Shadow of No Towers, und auf seine erste Buchpublikation, den Sammelband Breakdowns (1978), der letztes Jahr mit einiger langen Einleitung und einem Nachwort neu aufgelegt wurde.

Abb. 3. Art Spiegelman: Maus, Bd. 2: And Here My Troubles Began, S. 41.

sity of Nebraska Press 2004, S. 178-193; Hillary Chute: »History and Graphic Representation in Maus«, in: Twentieth-Century Literature 52 (2006), H. 2, S. 199-230. Besonders empfehlenswert ist Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale, München: Fink 2006.

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Was ist ein Comic-Autor? In Maus finden sich unterschiedliche Formen der Selbstporträtierung. Zum einen agiert Spiegelman auf der Figurenebene als »Artie« (Abb. 3), zum anderen schmückt eine Zeichnung, die Spiegelman am Zeichentisch bei der Arbeit am zweiten Teil von Maus porträtiert, den Innenbandeinschlag der 1991 im Pantheon-Verlag erschienenen Gesamtausgabe (siehe Abb. 4 unten). Diese Szene aus Maus verdeutlicht den Bruch – aber auch die Kontinuitäten – zwischen den Underground Comics von Robert Crumb und den Autorencomics von Spiegelman. Zwar sitzt die Erzählerfigur Artie wie der R. Crumb aus den »Confessions« am Zeichentisch und beichtet seinen Lesern von seinen Ängsten, und zwar könnte man argumentieren, dass die Maus-Maske etwas mit den vielen Gesichtern des R. Crumb zu tun habe. Doch es ist zum einen eine andere Thematik, mit der der Leser konfrontiert wird, zum anderen auch eine andere Vorstellung von Autorschaft, die dieser Comic kommuniziert. Arties Maske, das wissen Leser des ersten Bandes, signalisiert seine jüdische Herkunft und muss aus diesem Grund mit dem Judenstern, den seine Eltern in dem von den Nazis besetzten Polen tragen mussten, assoziiert werden. Für die Erzählerfigur Artie, die in New York lebt und es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Geschichte des Vaters in Form eines Comics festzuhalten, ist die Maske aber weder mit der historischen Bedeutung des Judensterns im Holocaust, noch mit der kokettierenden Mannigfaltigkeit der Crumbschen Bilderpossen gleichzusetzen. Für Artie, der gleichzeitig autobiografische Erzählerfigur, Vermittler der Geschichte des Vaters, Figur in der erzählten Geschichte und stand-in für den empirischen Autor Art Spiegelman ist, konstituiert die Maske ein ambivalentes Verhältnis zur Geschichte des Vaters sowie zu seiner eigenen Funktion als Autor, der sich dieser Geschichte bemächtigt, Autobiografisches mit Biografischem vermischt und die Ikonografie des Holocaust durch die Verwendung von Tiermasken verfremdet, um eine eigene Sicht auf das Sujet zu etablieren.36 Dieser Eindruck wird dadurch intensiviert, dass die ersten drei Panels durch ihre Profilschau das Maskenhafte der Erzählperspektive entlarven, während das vierte Panel es durch die En-Face-Perspektive verdeckt. Hier bedient sich Spiegelman der Konventionen der Porträtkunst, nach denen die Profilansicht eine individuelle, das

36 Zur Bedeutung der Masken und ihrer inhärenten Ambivalenz vgl. O. Frahm: Genealogie des Holocaust, S. 19-90, insbesondere S. 43. Ebenfalls verwiesen sei hier auf Frahms Ausführungen zu Spiegelmans vier Autorsignaturen (vgl. ebd. S. 102-113) sowie auf seine Analyse einer Spiegelmanschen Lithografie mit dem Titel Mickey, Maus + Mouse, an der sich Spiegelmans Selbstinszenierungstechniken ablesen lassen (vgl. ebd. S. 19-21).

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Daniel Stein En-Face-Porträt eine typisierte Form der Darstellung kodiert.37 Die Gegenüberstellung biografischer und autobiografischer Erzählstränge – »Vladek started working as a tinman in Auschwitz in the spring of 1944 … I started working on this page at the very end of February 1987«38 – und die darin angelegte Frage nach der Subjektivität historischer Erfahrung und historiografischer Aufarbeitung von traumatischen Ereignissen untermauern diese Auffassung. Das letzte Panel auf der Seite setzt schließlich einen Kontrapunkt zum Erfolg des ersten Bandes, indem es vor dem Erzähler und seiner Arbeitsstätte einen Berg abgemagerter Leichen aus den Konzentrationslagern der Nazis aufhäuft, der die Schuldgefühle des Autors Spiegelman versinnbildlicht und auf den in der Kritik hin und wieder geäußerten Vorwurf antwortet, er habe seinen Erfolg auf dem Rücken der ermordeten Juden erzielt. Artie bewegt sich in zwei Zeiten und an zwei Orten sowie auf zwei Erzählebenen. Auf der Ebene der Geschichte verortet er sich in Auschwitz – Wachturm und Stacheldraht vor dem Fenster und die Toten vor dem Zeichentisch heben das hervor –, doch er kann Gegenwart und Vergangenheit, Auschwitz und New York nicht trennen: »Alright Mr. Spiegelman … We’re ready to shoot!« ruft ein Kameramann aus dem Off und evoziert damit die Exekutionskommandos der Nazis ebenso wie das ›mörderische‹ Interesse der amerikanischen Medien an Spiegelmans Arbeit. Der Autor inszeniert sich in dieser Passage als Künstler, der nicht aus Geltungssucht oder persönlichem Interesse seine Geschichte erzählt, sondern gar nicht anders kann, als sich den traumatischen Erlebnissen des Vaters zu stellen, autobiografisch zu erzählen und dabei über den eigenen Schaffensprozess zu reflektieren. Für den Innenbandeinschlag der Gesamtausgabe von Maus greift Spiegelman einige dieser Themen auf, fügt ihnen aber einige weitere Elemente hinzu, die ich kurz auf ihre Implikationen hinsichtlich der durch sie inszenierten Autorrolle erläutern möchte (Abb. 4). Zeichentisch und Maske sind in diesem Selbstporträt ebenfalls enthalten, und auch der Ausblick aus dem Fenster ähnelt der soeben diskutierten Sicht aus Arties Fenster. Weil das Selbstporträt nur ein Einzelbild ist und dem Leser in komprimierter Form das komplexe Thema der Erzählung präsentieren soll, fügt Spiegelman einen Nazisoldaten in Uniform mit Hakenkreuz (natürlich als Katze) sowie Rauch aus den Gaskammern des Konzentrationslagers hinzu. Genauso wichtig scheinen mir jedoch die Bildtexte über der 37 Vgl. O. Calabrese: Die Geschichte des Selbstporträts, S. 127, 132ff. 38 Die Formulierung »this page« ist doppelt kodiert, denn sie bezeichnet sowohl die Seite, an der Artie gerade zeichnet, als auch das Ergebnis der Zeichenarbeit des Autors Art Spiegelman, nämlich die Seite, die wir gerade lesen.

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Was ist ein Comic-Autor? Schulter des Autors: das Raw-Poster und das Cover des ersten Maus-Bandes.

Abb. 4. Art Spiegelman: Maus. A Survivor’s Tale, Innenbandeinschlag.

Hier wird im Zeitraffer die Entstehungsgeschichte von Maus erzählt (die Maus im Sträflingsanzug auf dem Poster lässt keinen Zweifel daran, dass hier die Ursprünge der Erzählung liegen), gleichzeitig aber auch eine bestimmte Autorrolle konstruiert. Denn Spiegelman – als Artie – scheint sich den Kopf zu zerbrechen, um einen Comic zu schaffen, der sich qualitativ von den funny animal-Strips früherer Jahre sowie von den Abenteuern der Disney-Figuren abhebt und sich damit vom Unterhaltungsauftrag dieser Gattung distanziert, ohne ihn ganz zu verleugnen (die Protagonisten sind immer noch Mäuse). Der Inhalt des Comics ist dem Autor ins Gesicht geschrieben, und die Geschichte scheint lebensbedrohliche Ausmaße anzunehmen. Nicht von ungefähr zielt der Soldat über Zeit- und Raumgrenzen hinweg auf Arties Kopf. Der Text, der dieses Selbstporträt 217

Daniel Stein begleitet, tut sein Übriges. Wenn von »acclaimed magazine« und »avantgarde comics« die Rede ist, von Zeichnungen, die in »museums and galleries here and abroad« ausgestellt wurden, und von verschiedenen »Honors« und »Awards«, die dem Autor zuteil wurden, dann wird deutlich, welches Autorkonzept der Vermarktungsstrategie zugrunde liegt: Es ist der Comic-Autor als renommierter Künstler, dessen ernsthafte und tiefschürfende Werke sich in intellektuellen Kreisen großer Beliebtheit erfreuen und den Qualitätsansprüchen solch prestigeträchtiger Institutionen wie der Guggenheim Stiftung und dem National Book Critics Circle genügen. Verlassen wir Spiegelmans Holocaust-Erzählung und wenden uns dem vor kurzem neu aufgelegten Sammelband Breakdowns (den er als »memoir of a memoirist« bezeichnet)39 und den darin enthaltenen Selbstporträts zu. Spiegelman stellt seinen Comics aus den 1970er Jahren eine autobiografische Erzählung voran, der die Publikation ihren neuen Untertitel Portrait of the Artist as a Young %@˜§!40 verdankt und die die Autorfigur Spiegelman vielfach inszeniert, z.B. als erratischen und von psychischen Qualen getriebenen Autor, der seine Werke (hier: Maus) nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten (»pretty«), sondern als Ergebnisse eines traumatischen Seelenstrips in Form eines mental unpacking verstanden haben will (Abb. 5).41 Hier geschieht etwas, was Spiegelmans Darstellung seiner Autorrolle von den Selbstinszenierungen eines Robert Crumb unterscheidet. Man kann daran eine Entwicklung von der Underground Comics zu den autobiografischen Autorencomics ab den 1980er Jahren festmachen. Erblickt der Leser bei Crumb den Autor in einer Reihe von Posen, die in der Regel ironisch und/oder satirisch präsentiert werden, ist dies bei Spiegelman nicht der Fall. Er inszeniert

39 Zit. n. T. Hignite: In the Studio, S. 57. 40 Spiegelmans Untertitel lässt sich nicht allein durch Sprachzeichen abbilden; zwischen dem @-Zeichen und dem Ausrufezeichen stehen im Original zwei visuelle Marker, ein Kringel und ein Stern, die die Verschränkung von Schrift und Bild im Comic-Medium signalisieren und hier nicht adäquat reproduziert werden können. Vgl. dazu auch Andreas C. Knigge: »Die Geschichte eines Kringels«, in: Comixene (2008), H. 104, S. 64-66. 41 Breakdowns enthält eine weitere autobiografische Passage. Es handelt sich um die letzte Seite des Bandes, auf der Spiegelman sein Leben in sechs einfachen Panels zusammenfasst, die ihn erst als Baby, dann als Kind, Teenager, jungen Mann und strauchelnde Slapstick-Figur zeigen, die auf einer Bananenschale ausrutscht und am Ende verstirbt (er nennt das Ganze »Synopsis«). Vgl. A.C. Knigge: »Die Geschichte eines Kringels«, S. 64-66. Was Knigge nicht thematisiert ist der intertextuelle Referenzcharakter des Werks: Spiegelmans Homage an Crumbs zwölfpaneligen Minicomic »Cradle to Grave« aus Mystic Funnies 3 (2002).

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Was ist ein Comic-Autor? den Holocaust und das seelische Trauma der Überlebenden und ihrer Nachkommen ohne ironisch-satirisches Auffangnetz – doch auch er inszeniert sie, und hält dem Ausspruch Adornos, dass es nach Auschwitz barbarisch sei, Gedichte zu schreiben, die kreativselbstreflexiven Möglichkeiten des Comic-Mediums entgegen.42

Abb. 5. Art Spiegelman: Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@˜§!, o.S.

Die Entwicklung von Underground Comics zu autobiografischen Autorencomics hat jedoch eine Vorgeschichte: Autorinszenierungen in Selbstporträts von Zeitungscartoonisten. Wie ich im nächsten Abschnitt darlegen werde, ist Bart Beatys Auffassung, dass die europäischen Comic-Autobiografien der Gegenwart zum ersten Mal in der Geschichte des Mediums Autorfiguren gebären, irreführend.43

3. Selbstporträts von Zeitungscartoonisten Die kausale Verbindung zwischen den Autorencomics der 1980er Jahre bis heute und den Zeitungscomics aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich an Spiegelmans In the Shadow of No

42 Vgl. Theodor W. Adorno: »Kulturkritik und Gesellschaft« (1951), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 11-30, hier S. 30. Vgl. auch Art Spiegelman/Claudia Dreyfus: »›If there can be no art about the Holocaust, there may at least be comics‹«, in: The Progressive 53 (1989), H. 11, S. 34-37, hier S. 35. 43 Beaty erkennt die Vorreiterrolle der Underground Comics, lässt aber die Selbstporträts von Zeitungscartoonisten außer Acht. Vgl. B. Beaty: Unpopular Culture, S. 144f.

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Daniel Stein Towers festmachen. Im Nachwort zu dieser Publikation erklärt Spiegelman seine Vorliebe für die frühen Zeitungscomics; in den Strips selbst bindet er Serienfiguren wie Frederick Burr Oppers Happy Hooligan, George Herrimans Ignatz und Richard Outcaults Yellow Kid in die Handlung ein, wie in Abb. 6 zu erkennen ist. Am Ende des Buches druckt er Sonntagsseiten des frühen 20. Jahrhunderts sogar originalgetreu ab (u.a. Episoden und Einzelbilder aus Richard Outcaults Hogan’s Alley, Lyonel Feiningers The Kin-der-Kids, Winsor McCays Little Nemo und George McManus’ Bringing Up Father).44 Welche weitere Verbindung besteht nun zwischen der Abbildung aus In the Shadow of No Towers und den amerikanischen Zeitungscomics? Die Abbildung porträtiert einen am Zeichentisch sitzenden und die Maus-Maske tragenden Spiegelman, der, erschöpft durch das Grauen der Terroranschläge und die Folgen, eingenickt ist. Das New York Journal, das er in der Hand hält, zeigt eine Comic-Seite, die von Spiegelman hätte stammen könnte. Die Figuren, die eigentlich in diese Zeitung gehören, haben sich aus ihr heraus gestohlen und sich mit grimmigem Gesichtsausdruck auf der Tischplatte versammelt; unter ihnen sind Ignatz Mouse, Happy Hooligan und Mickey Dugan. Zugang zu dieser Verschiebung von Erzählebenen – sowie von Medien und Epochen – bekommen wir durch die vier daneben platzierten Panels, die den Titel »Notes of a Heartbroken Narcissist« tragen und das Spiegelmansche Comic-Verständnis erklären: Es sind »issues of self-representation«, die für den Autor, der sich selbstironisch als »our hero«, bezeichnet, den Reiz des Erzählens im Comic-Medium ausmachen. Ohne eine autobiografische Erzählebene, d.h. ohne sich selbst explizit in seine Comics einzuschreiben (der Autor als Narzisst), scheint es Spiegelman nicht möglich, sich mit Themen wie dem Holocaust und dem Massenmord des 11. September auseinanderzusetzen. Auch der Umkehrschluss liegt nahe: Geschichte und eigenes Leben können für diesen Autor nicht ohne Bezug auf Comics erzählt werden.

44 Rudolph Dirks’ Katzenjammer Kids Hans und Fritz, die in der hier abgebildeten Szene nicht zu sehen sind, fungieren als Leitfiguren in der Erzählung; sie tragen wiederholt die beiden Türme des World Trade Center auf ihren Köpfen. Zu Spiegelmans Präsentationstechniken traumatischer Erfahrung sowie seiner Kritik an der Mediatisierung der Terroranschläge vgl. Christina Meyer: »›After all, disaster is my muse‹. Art Spiegelman’s In the Shadow of No Towers«, in: Frank Kelleter/Daniel Stein (Hg.): American Studies as Media Studies, Heidelberg: Winter 2008, S. 107-117. Spiegelman beschäftigte sich schon zu Raw-Zeiten mit frühen Zeitungscomics; z.B. druckte er Strips von McCay und Herriman und festigte damit ihren Status als Comic-Klassiker.

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Was ist ein Comic-Autor?

Abb. 6. Art Spiegelman: In the Shadow of No Towers, o.S.

Ich habe den Auszug aus In the Shadow of No Towers auch deswegen ausgewählt, weil er auf Spiegelmans Vorläufer deutet. So verweist die Darstellung des Autors am Zeichentisch nicht nur auf die bereits besprochenen Werke von Robert Crumb, sondern ebenfalls auf einen Topos aus dem Zeichenrepertoire von Comic-Autoren, der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Selbstporträts amerikanischer Zeitungscartoonisten zieht. Spiegelman hatte sich dieses Topos’ schon in früheren Strips bedient, z.B. in seiner surrealen Gestaltung des Zeichenstudios in der Kurzgeschichte »Real Dreams. ›A Hand Job‹« (1975). Man beachte die Lampe, das verzerrte Fenster und die an Picasso erinnernden kubistischen Formen (Abb. 7).45

45 Picasso spielt ein große Rolle in Breakdowns; neben der angeführten Szene ist die Kurzgeschichte »Ace Hole: Midget Detective« (1974) zu nennen. Die

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Daniel Stein

Abb. 7. Art Spiegelman: »Real Dream: ›A Hand Job‹« (1975), in: Art Spiegelman: Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@˜§!, o.S.

Das erste Panel zeigt den Autor in seinem Studio, wie er sich über seinen Zeichentisch lehnt und auf ein fast leeres Blatt Zeichenpapier starrt.46 Das letzte Panel des Strips (hier nicht zu sehen) zitiert die sich immer wiederholende Schlussszene aus Winsor McCays Little Nemo und macht aus der Autorsignatur »Art Spiegelman« das Zwitterkonstrukt »Winsor McSpiegelman«. Und auch wenn es Figuren früherer Künstler und nicht seine eigenen Figuren sind, mit denen er sich in In the Shadow of No Towers umringt (vgl. Abb. 6), die Verwandtschaft zu den Selbstporträts von Fontaine Fox und George Herriman ist nicht zu übersehen (Abb. 8a-b). Den Druck, sich immer wieder etwas Originelles in einem engen, vorgegebenen Rahmen auszudenken, verspüren sowohl Spiegelman als auch Fox und Herriman, obwohl sie in unterschiedliche Produktionsprozesse eingebunden sind: Spiegelman in die Gestaltung von autobiografischen Comics, die neue bildästhetische und narrative Wege beschreiten wollen (das Blatt ist nicht vorgerastert) und die er selbst oder in den Publikationen von Freunden veröffentlicht; Fox und Herriman als Zeitungscartoonisten, die über Jahre hinweg täglich oder wöchentlich neue Strips einer laufenden Serie in einem festen Erzählrahmen – zwölf Panels bei Fox, vier bei Herriman – produzieren müssen, ohne ihre Leser zu langweilen. Was in Fox’ und Herrimans Selbstdarstellungen mehr oder weniger deutlich karikiert wird, sind die Autormodelle des poeta vates (der Autor, der nicht auf die Inspiration der Götter, sondern auf Ideen seiner eigenen Figuren

weibliche Hauptfigur Greta ist nicht nur eine Version der mysteriös verführerischen Dame aus Raymond Chandlers Romanen, sondern auch eine zum Comic gewordene Version von Picassos Porträts der Dora Maar. Zudem erscheint der Geist Picassos dem bewusstlosen Ace. 46 Das Auge, das den Zeichner vom Blatt aus anblickt, lässt mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu: Vielleicht personifiziert es, was man im Englischen writer’s block nennt; vielleicht thematisiert es die Rolle von Kunst als Spiegel der Künstlerseele; vielleicht evoziert es die Macht der Kunst, auf ihre Schöpfer rückzuwirken.

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Was ist ein Comic-Autor? wartet) und des poeta faber (der Autor als Handwerker, der aus dem kompetenten Umgang mit den Regeln seines Handwerks neue rhetorische und zeichnerische Objekte schafft).47

Abb. 8a. Fontaine Fox: »All you have to do is fill in the blank spaces!« (11.2.1928), in: Brian Walker: The Comics before 1945, S. 69.

Abb. 8b. George Herriman, Judge Magazine (21.10.1922), in: Patrick McDonnell/Karen O’Connell/Georgia Riley de Havenon: Krazy Kat. The Comic Art of George Herriman, S. 24.

47 Vgl. Fotis Jannidis u.a.: »Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven«, in: Ders. u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors, S. 3-35, hier S. 4f.

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Daniel Stein Herriman zeigt ein Motiv, das sich bei Spiegelman wieder finden wird: das Schlüpfen der Serienfiguren aus der Diegese des eigentlichen Comics in die Lebenswelt des Cartoonisten, die hier natürlich auch als Comic dargestellt ist. Die Vermischung von Erzähl- und Darstellungsebenen ist vielleicht der bekannteste Topos in den Selbstporträts von Comic-Autoren. Er ist der Konstruktion des Autors als Schöpferfigur dienlich – die Figuren ›leben‹ in der Vorstellung des Autors, sie sind ein Teil von ihm, werden durch sein künstlerisches Talent animiert und können sogar Autorität über ihre fiktionalen Geschichten einfordern. Zu finden ist dieser Topos auch in Ernie Bushmillers Selbstporträt, in dem er die Figuren aus dem Fritzi Ritz-Strip um einen Gag bittet (Abb. 9a).

Abb. 9a. Ernie Bushmiller: Fritzi Ritz, »Well – who’s got a gag for me today?« (o.D.), in: Martin Sheridan: Comics and Their Creators, S. 172.

Dieses Selbstporträt ist in der Genese von Autorinszenierungen besonders wichtig, weil Spiegelman es später zitieren wird und damit sowohl Kontinuitäten als auch Brüche in der Selbstpräsentation und kulturellen Position von Comic-Autoren markiert (Abb. 9b). Um Kontinuität zu signalisieren und um eine gattungsgeschichtliche Entwicklung zu skizzieren, die sich nicht nur anhand der Comics dieser Autoren, sondern auch anhand ihrer Selbstporträts nachvollziehen lässt, wählt Spiegelman den gleichen Bildausschnitt und die gleiche Anordnung der Figuren. Doch anstatt alle Figuren aus Fritzi Ritz mit seinen eigenen Figuren zu ersetzen, übernimmt er Bushmillers Nancy und stellt sie damit auf eine Ebene mit dem Vater Vladek, dem Detektiv Ace Hole und der femme fatale Greta.

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Was ist ein Comic-Autor?

Abb. 9b. Art Spiegelman: »Well … who’s got a gag for me today?« (1974), in: Art Spiegelman: Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@˜§!, o.S.

Den Bruch benennt die neue Bedeutung, die die zitierte Frage »Who’s got a gag for me today?« im Kontext des veränderten Selbstverständnisses annimmt, das Spiegelmans Comics auszeichnet: selbstbewusstes Arbeiten in einem Medium, das sich modernen Kunstbegriffen nicht verweigert (die kubistische Greta), sich seiner Herkunft als Massenunterhaltung nicht schämt (Fritzi Ritz), die Vorgaben der Genre-Literatur kreativ nutzt (»Ace Hole« als Ass im Ärmel sowie der hard-boiled detective als »Asshole«) und zudem geeignet ist, sich mit Themen wie dem Holocaust angemessen auseinanderzusetzen (Vladek). Nun könnte man meinen, wir hätten es hier mit einer wenig repräsentativen Auswahl von Beispielen zu tun, die falsche Entwicklungslinien suggeriert und sich bei näherem Hinsehen nicht halten ließe. Diesen Vorwurf entkräften die Selbstporträts von Chester Gould und Rex Mason (Abb. 10a-b).48 Die beiden Strips zeigen letztlich ein und dieselbe Situation – allerdings zugeschnitten auf die betreffende Serienfigur und die Rezeption der einzelnen Strips: den Austritt der Figuren aus ihrer angestammten diegetischen Welt. Dick Tracy fordert dem hard-boiled-Krimi gemäß mehr Action, weniger Sprechblasen und attraktivere Frauenfiguren; Tarzan macht seinem Ruf als edlem Wilden alle Ehre. 48 Diese Auswahl muss aus Platzgründen unvollständig bleiben; auch die Selbstporträts von Alfred Andriola, Milton Caniff, Al Capp, Billy DeBeck, Rudolph Dirks, Will Eisner, Bud Fisher, Dudley Fisher, Ham Fisher, Milt Gross, Jimmy Hatlo, Fred Lasswell, Winsor McCay, George McManus, E.C. Segar, Cliff Sterrett, Jimmy Swinnerton, J.R. Williams, Chic Young und einigen anderen müssten in einer umfassenderen Untersuchung berücksichtigt werden.

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Abb. 10a. Chester Gould: Dick Tracy (1942), in: Martin Sheridan: Comics and Their Creators, S. 121.

Abb. 10b. Rex Mason: Tarzan (o.D.), in: Martin Sheridan: Comics and Their Creators, S. 236.

Der Underground-Zeichner John Pound treibt das Spiel dann auf die Spitze: Er scheut sich der Ästhetik der Underground Comics entsprechend nicht davor, seine an Bugs Bunny aus den Looney Tunes angelehnte Figur zum grausamen Monster werden zu lassen, das seinen Schöpfer gnadenlos niedermetzelt und damit den von Barthes postulierten Tod des Autors effektvoll in Szene setzt (Abb. 11).49

49 Pounds Strip treibt den Prozess der diegetischen Verschiebung auf die Spitze. Nicht nur, dass die Hasenfigur aus ihrem Medium, dem Strip im

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Was ist ein Comic-Autor?

Abb. 11. John Pound: Death Rattle 1 (1972), in: Mark J. Estren: A History of Underground Comics, S. 157.

Strip, heraustritt und sich dadurch auf eine Erzählebene begibt, in der sie eigentlich nicht existieren kann. Sie tötet auch ihren Autor (»I’ve killed my cartoonist«) und freut sich auf ein Leben in Freiheit (»no longer will I be exploited by a lousy two-bit comic-book artist! … I’m free!«) – die außerhalb des Mediums, dessen Existenz sie verdankt, natürlich unmöglich ist. Bill Watterson zitiert diesen Topos in einer seiner ersten Zeichnungen von Calvin & Hobbes für die Ausgabe vom 1. März 1986 des Cleveland Plain Dealer sowie in späteren Cartoons.

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4. Comics als selbstexpressives Medium Ein interessanter Aspekt der Comic-Geschichte ist, dass im Bereich der Superheldencomics Selbstporträts und autobiografische Referenzen anscheinend die Ausnahme sind. Über die Gründe muss ich spekulieren: Möglicherweise ist neben der arbeitsteiligen Produktion der Serien in erster Linie das Problem dafür verantwortlich, dass die gesteigerte Diskrepanz zwischen der fiktionalen Welt und der Welt des empirischen Autors zu groß ist, als dass sich Autoren offensichtlich in die Comics einschreiben oder Figuren aus der Welt der Comics in ein Selbstporträt einbauen könnten. So scheinen Jack Kirbys Selbstinszenierung als erfolgreicher Comic-Zeichner bei der Arbeit (in Forever People 4, Aug. 1971) und Brian Bollands Nachwort zu Batman: The Killing Joke, in dem er sich als Comic-Figur an den Leser wendet und sein Verhältnis zu Batman erklärt, eher die Ausnahme denn die Regel zu sein.50 Dennoch denke ich, dass sich aus der historischen Entwicklung der Selbstporträts von Comic-Autoren Rückschlüsse auf die Gattungsgenese amerikanischer Comics insgesamt ziehen lassen. Ich wende mich zu diesem Zweck einer letzten Auswahl von Selbstporträts zu: Lyonel Feiningers Selbstinszenierung als Marionettenspieler auf dem Titelblatt der Chicago Sunday Tribune vom 29. April 1906 und Art Spiegelmans »Comics as a Medium of Self Expression« (1981).51 Beginnen wir mit Feiningers großformatigem Selbstporträt, das die Leser der Chicago Tribune auf das New Comic Supplement aufmerksam machen sollte (Abb. 12). Die Tribune sah sich im Kampf um die städtischen Zeitungsleser dazu veranlasst, sich durch eine bunte Comic-Beilage von anderen Massenzeitungen abzusetzen bzw. zu den Zeitungen aufzuschließen, die eine solche Beilage schon anboten. Sie zielte auf eine bestimmte Lesergruppe ab: auf deutsche Einwanderer und deutschstämmige Amerikaner, die von

50 Zwei Beispiele, auf die ich erst kurz vor der Drucklegung des Sammelbands gestoßen bin und die ich aus diesem Grund nicht im Detail analysieren kann, sind das Heft 5 aus der Real Fact Comics-Serie von DC Comics (Nov.Dez. 1946), das den Titel »The True Story of Batman and Robin!« trägt und Bob Kane am Zeichentisch sowie im Dialog mit seinen Figuren präsentiert, und das Heft 10 der Fantastic Four-Serie von Stan Lee und Jack Kirby (Jan. 1963), das die beiden Autoren bei der Entwicklung eines neuen Superbösewichts zeigt. 51 Martin Sheridan druckt eine Zeichnung ab, die Jerry Siegel (mit Schreibmaschine) und Joe Shuster (mit Zeichenfeder) zeigt, zwischen ihnen Superman. Es ist nicht klar, ob es sich um ein Porträt oder ein Selbstporträt handelt; was deutlich wird, ist der Versuch, arbeitsteilige Formen der Produktion von Superheldencomics mit dem Diskurs des Autors als Schöpfer in Einklang zu bringen. Vgl. M. Sheridan: Comics and Their Creators, S. 233.

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Was ist ein Comic-Autor? der deutschen Herkunft Feiningers angesprochen werden sollten, sowie auf Leser, die mit den rüpelhaften Streichen der Katzenjammer Kids oder den burlesken Eskapaden des Happy Hooligan nichts anfangen konnten. Die Ankündigung »The famous German artist exhibiting the characters he will create« schreibt Feininger Künstlerstatus zu. Er wird der Tribune zufolge nicht nur Figuren zeichnen, die massenhaft gedruckt werden, sondern Charaktere erschaffen (»will create«), die er in der Tribune wie in einem Museum ausstellen wird (»exhibit«).

Abb. 12. Lyonel Feininger: Titelblatt des Comic Supplement der Chicago Tribune (29.4.1906), in: Bill Blackbeard (Hg.): The Comic Strip Art of Lyonel Feininger, S. 7.

Feininger präsentiert sich als Marionettenspieler, der seine Figuren einem Publikum vorführt, ohne sich selbst auf die Ebene dieser Fi-

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Daniel Stein guren zu begeben.52 Hier findet auf den ersten Blick kein Austausch zwischen Autor und Figuren wie bei Ernie Bushmiller, George Herriman, Rex Mason, Chester Gould und John Pound statt. Es kann kaum Zweifel aufkommen, wer die Figuren beherrscht. Mit dieser Inszenierung macht Feininger eine Aussage, die neben der visuellen Darstellung der Künstlerfigur (man beachte den Anzug und die Brille) auch den Kontext der Aufführung kommuniziert: Er präsentiert seine Figuren auf einer öffentlichen Bühne (dem comic supplement), ohne sich jedoch auf die wenig angesehene Ebene des Vaudeville-Theaters u.ä. Spektakel begeben zu wollen. Die Künstlerfigur macht klar, welches Publikum sie ansprechen will, nämlich eines, in dem sie sich spiegeln kann, d.h. das ebenfalls arriviert, gebildet und gut gekleidet ist. Aber ohne eine selbstreflexiv-komische Komponente will auch dieses Selbstporträt nicht auskommen: Das Preisschild an Feiningers Ohr mit der Aufschrift »your Uncle Feininger« ironisiert genau die auktoriale Distanz, den das Selbstporträt vordergründig behauptet. Es siedelt Feininger dann doch auf der Ebene seiner Figuren an, wenn auch in deutlich subtilerer Form, als das bei späteren Selbstporträts der Fall ist. Auch markiert es den ökonomischen Kontext und die Produktionsbedingungen der Strips. Was bei Crumb plakativ deklariert wird (»this artist will not sell out«), weil die Underground Comics sich gegen eine etablierte ComicTradition wenden, ist hier nur angedeutet (dieser Zeichner ist, einer Spielpuppe gleich, zu kaufen), da Feininger auf keine alternative Leserschaft, auf keine Counterculture gegen den Mainstream zählen kann. Der Zeichenkünstler wird zu einer Art Märchenonkel, von dem wir nicht genau wissen, ob er sich als Onkel seiner Figuren oder etwa als Onkel der Leser – und damit des Kinderpublikums, das durch die lustigen Figuren der Kin-der-Kids, z.B. Piemouth, Daniel Webster, Strenuous Teddy, Mysterious Pete und Sherlock Bones angesprochen werden soll – versteht.53 Typisch für die frühen Zeitungscomics sehen wir hier eine Autorfigur, die mehr sein soll als nur ein Produzent von populärkultureller Massenware, aber 52 Für Andreas Platthaus ist dieses Selbstporträt »eine selbstbewusste Darstellung als Drahtzieher« und »ein bis dahin im Comic unbekanntes selbstreferentielles Element«. A. Platthaus: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte, Frankfurt/Main, Leipzig: Insel 2000, S. 116. 53 Für letzteres sprechen die karikierten Autoritätsfiguren Antie Jim-Jam und Mr. Pillsbury, die die Kids im Laufe der Erzählung jagen werden und zur Einhaltung gesellschaftlicher Regeln zwingen wollen. Auch die Figurenkonstellation – freche Kinder als Marionetten an der linken Hand, humorlose Autoritätsfiguren an der rechten – spricht für diese Lesart. Das Preisschild deutet dagegen auf eine Leseradressierung hin, denn das deiktische »your« wendet sich wohl direkt an den Leser.

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Was ist ein Comic-Autor? (noch) nicht ohne wenn und aber als autonome Künstlerfigur inszeniert wird. Die historische Entwicklung von Autorinszenierungen, die mit Feininger beginnt und sich mit den Underground Comics von Robert Crumb und anderen fortsetzt, erreicht Anfang der 1980er Jahre mit Spiegelmans »Comics as a Medium of Self Expression«54 einen neuen Komplexitätsgrad (Abb. 13).

Abb. 13. Art Spiegelman, »Comics as a Medium of Self Expression« (1981), in: John Carlin/Paul Karasik/Brian Walker (Hg.): Masters of American Comics, S. 290.

Der Titel macht den metareflexiven Anspruch des Bildes deutlich; er wird (leicht abgeändert) in der Sprechblase der Dame im schräg eingesetzten Panel in der Mitte ausgesprochen und auch gleich wieder unterwandert: »Comics as a medium for self expression? Oh John, you’re such a fool!« Hier ist zu erkennen, dass Spiegelman die kre54 Es war nicht festzustellen, ob das Bild veröffentlicht wurde; Carlin, Karasik und Walker, die es in Masters of American Comics abdrucken, vermerken nur, dass es sich im Privatbesitz von Spiegelman befindet. Der Schriftzug »Raw« am rechten unteren Bildrand deutet zumindest auf den comicgeschichtlichen Kontext hin.

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Daniel Stein ativen und expressiven Möglichkeiten des Comic-Mediums nicht einfach postuliert, sondern kritisch befragt. Er tut dies durch die komplexe Anordnung von Erzählebenen, durch die Verwendung unterschiedlicher Zeichenstile und durch Verweise auf die Selbstporträts von William Hogarth (er evoziert Self-Portrait, das den Maler sitzend mit Pinsel und Palette vor einer Leinwand zeigt) und Norman Rockwell (er spielt auf Triple Autoportrait an, das Rockwell in der Rückenansicht zeigt, sein Gesicht aber im Spiegel und auf der Leinwand abbildet). Die komplexe Anordnung von Erzählebenen umfasst das Zimmer, in dem der Maler steht, die Bilder auf der Staffelei bzw. im Rahmen an der Wand hinter ihm und das Comic-Panel, dass er sich vor das Gesicht hält – auch das Fenster in der Dachschräge evoziert durch seine Streben die Rasterung eines Sonntagsstrips. Bei genauem Hinschauen fällt auf, dass diese Ebenen miteinander verschränkt sind, auch wenn sie geometrisch unterschiedlich ausgerichtete Flächen abbilden. Das Bild auf der Staffelei entpuppt sich mit Ausnahme von Spiegelmans Signatur als weißes Blatt, vor dem der Arm des Malers erscheint, auf dem wiederum eine beleibte Dame sitzt; in der Hand hält der Maler eine Ausgabe des Raw-Magazins. Das leere Blatt und das vom Comic überdeckte Gesicht des mit Fliege und Beret dargestellten Malers signalisieren den kunstgeschichtlichen Hintergrund, vor dem sich das Medium Comic präsentieren muss.55 Die Dame und das Magazin erscheinen auf zwei Ebenen und erfüllen eine Doppelfunktion. Sie zeigen auf der einen Seite die Reduktionsprozesse, die der Comic-Zeichner in der Umwandlung seiner Erlebnisse zur cartoonhaften Darstellung vornimmt: Das Bild um den Comic herum ist in Farbe, der Comic aber in Schwarz-Weiß; zudem verzichtet der Comic auf Schatten und verlässt sich auf klare, dicke Tuschestriche. Auf der anderen Seite demonstrieren sie die Komplexität des Mediums, indem sie aufzeigen, dass jeder Selbstausdruck, jede Selbstinszenierung immer auch auf gattungsinhärente Vorgaben, hier z.B. die Noir-Ästhetik und visuelle Konventionen wie die Sprechblase, aber auch Publikationsformen wie selbst verlegte Magazine, reagieren muss. Es ist zudem nicht einmal sicher, ob die Figur hinter dem Comic Art Spiegelman darstellen soll; die Signatur auf dem leeren Blatt scheint das anzuzeigen, aber man könnte durchaus annehmen, dass der tatsächliche Zeichner (d.h. der empirische Autor) des Bildes einfach nur die weiße Fläche gewählt hat, um seinen Namen einzutragen.

55 Das Atelier in der Großstadt ist mit all den Utensilien ausgestattet, die ein Künstler zur Ausübung seiner Kunst benötigt (Staffel, Palette, Farben). Die eigentlich moderne Kunst, so suggeriert zumindest der Bilderrahmen hinter der Künstlerfigur, spielt sich jedoch im Comic Strip ab.

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Was ist ein Comic-Autor? Es könnte sich also um das Porträt einer imaginären Figur handeln, was sich auch dadurch untermauern ließe, dass der Schriftzug »Raw« als Künstlersignatur gelten könnte. In diesem Sinn wäre der Autor des Bildes entweder das Autoren- und Herausgeberkollektiv des Magazins oder, auf einer abstrakteren Ebene, das Kunstverständnis, das dem Magazin zugrunde liegt. Was lässt sich nun aus diesen Beobachtungen schließen? In Anbetracht der komplizierten Materiallage ist es angebracht, die nun folgenden Schlussfolgerungen als einen Versuch zu verstehen, die Selbstporträts von Comic-Autoren in einen Entwicklungszusammenhang zu stellen und dabei die Bereiche der Comic-Forschung und der literarischen Autortheorie produktiv zu vereinen. Als Ergebnis lässt sich Folgendes festhalten: (1) Selbstporträts und Selbstinszenierungen von Comic-Autoren treten nicht erst in den Underground Comics der 1960er und 1970er Jahre oder in den autobiografischen Comics der 1990er Jahre auf, sondern prägen von Beginn an die Selbstdarstellung im theatralen Raum der amerikanischen Populärkultur. Neben dem soeben analysierten Marionettenspiel Feiningers ist in diesem Zusammenhang auch auf Richard Outcault zu verweisen, den viele als den Vater der amerikanischen Comics feiern. Auch er zeichnete Porträts von sich selbst mit seinen Figuren, z.B. für das Magazin Bookman (1902-1903), wo er sich von seinen Figuren umringt zeigt, und in einer Zeichnung mit dem Titel »The Evolution of the Comic Picture and the Comic Artist«, auf dem die Leser des San Francisco Call am 12.11.1905 einen gut gekleideten Zeichner vor einem leeren Bilderrahmen erkennen konnten, auf dessen Rücken ein grinsender Mickey Dugan reitet. Es wird schnell klar, dass aus der ›toten‹ Kunst (der leere Bilderrahmen) lebendige Populärkultur geworden ist (der zappelige Mickey), die man sowohl als Zeichner als auch als Leser nicht mehr so leicht loswird.56 (2) Es existiert ein Topos im Zeichenrepertoire von Comic-Autoren, der sich durch die Geschichte der Selbstporträts verfolgen lässt und der auf eine gesteigerte Selbstreflexivität sowie ein verstärktes Gattungsbewusstsein hindeutet: der Künstler am Zeichentisch vor dem leeren Blatt Papier, umringt oder bedrängt von seinen Figuren. (3) Der serielle Erzählmodus der Comics drückt sich auch in der Vielzahl von Selbstporträts und autobiografischen Erzählungen aus, die oftmals von einem einzigen Akteur existieren (z.B. Robert Crumb, Art Spiegelman). (4) Das generische Selbstverständnis der Akteure hat Einfluss auf die Gestaltung der Selbstporträts: Zeitungscartoonisten zeichnen Einzelbilder; Autoren/Zeichner von Superhelden-

56 Beide Zeichnungen sind abgedruckt in Bill Blackbeard: R.F. Outcault’s The Yellow Kid. A Centennial Celebration of the Kid Who Started the Comics, Northampton: Kitchen Sink 1995, S. 135.

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Daniel Stein comics porträtieren sich nur selten selbst; die Autoren autobiografischer Comics setzen sich narrativ mit Fragen der Selbstinszenierung auseinander. Dieser kurze Versuch einer Schlussfolgerung soll als Ausgangsbasis für weitere Untersuchungen zum Thema der Selbstporträtierung als Form der Autorinszenierung im Comic dienen. Es soll nämlich an dieser Stelle nicht übersehen werden, dass es eine Reihe von Arbeiten gibt, die das hier vorgelegte Schema zwar bestätigen aber durch ihre Vielfalt eine weiterführende Auseinandersetzung mit den Formen und Funktionen von Autorinszenierungen im Bereich der Comics notwendig machen. Zu denken wäre etwa an Steve Ditkos verstörendes Selbstporträt, das ihn mit Eisenmaske, Joint und Namen auf der Stirn zeigt, oder an die Arbeiten von Charles Burns, Gary Panter, Chris Ware, Daniel Clowes, Jamie Hernandez, Seth, Adam Warren, Mike Mignola und Joe Sacco, von den mannigfaltigen Selbstporträts und autobiografischen Erzählungen französischer und belgischer Autoren wie Robert Merhottein (Merho), Enki Bilal, Lewis Trondheim, Marc-Antoine Mathieu und Marjane Satrapi ganz zu schweigen.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel. Zur feldsoziologischen Analyse intermedialer Strategien gegen ästhetische Normalisierungen THOMAS BECKER

Auch wenn das Label »Graphic Novel« nicht erst von Will Eisner erfunden wurde, so erhielt er doch durch dessen 1978 erschienenen Comic A Contract with God and Other Tenement Stories die Bedeutung eines Adelstitels für anspruchsvolle und komplex strukturierte Comics.1 Gleichwohl gibt es nicht wenige Comic-Theoretiker, die gegenüber dieser Bezeichnung einige Reserven hegen und stattdessen den Begriff »Autorencomics« bevorzugen. Sind etwa George Herrimans Krazy Kat oder Winsor McCays Little Nemo, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind, als »Graphic Novel« zu bezeichnen, nur weil sich Comic-Theoretiker einig sind, dass es sich dabei um Pioniere des anspruchsvoll gezeichneten Comic Strips handelt?2 1

2

Stephen Weiner: The Rise of the Graphic Novel. Faster Than a Speeding Bullet, New York: Nantier Beall Minoustchine 2003, S. 17-20. Eisner schrieb das Vorwort zu dieser Monografie. Vgl. ebd., S. ix. Deren Bewertung als herausragende Produktionen der Comic-Geschichte setzt früh ein. So behauptet schon die erste größere Monografie zu Comics von 1947, dass Herriman in seinen Comic Strips Kunst und Poesie zusammenbringe. Vgl. Coulton Waugh: The Comics, New York: Luna 1974, S. 58. Einer der letzten größeren Ausstellungskataloge zur Comic-Geschichte nennt Winsor McCays Comics eine Pionierleistung, die nicht nur im ComicBereich das waren, was etwa Louis Armstrong für den Jazz war, sondern dass sich alle anspruchsvollen Comic-Autoren von Herriman bis Spiegelman auf ihn beziehen. Vgl. John Carlin: »Masters of American Comics. An Art History of Twentieth-Century American Comic Strips and Books«, in: John Carlin/Paul Karasik/Brian Walker (Hg.): Masters of American Comics, New Haven: Yale University Press 2005, S. 24-173, hier S. 25. (Ausstellungskatalog des Museum of Contemporary Art (MOCA) und Hammer Museum, Los Angeles.)

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Thomas Becker Den Begriff »Graphic Novel« für Herrimans Tagesstrips zu verwenden, wäre indes verfehlt, wenn man Stephen Weiners Definition von »Graphic Novels« als »book-length comic books that are meant to be read as one story«3 zugrunde legt. Ein zweiter, aber wesentlich gewichtigerer Grund für die Vorbehalte gegenüber dem Begriff der Graphic Novel liegt darin, dass die Großverlage, die es ablehnten, Eisners Comic zu vertreiben, sich recht eilfertig dieser Titulierung für längere Erzählungen innerhalb der Mainstream-Produktion bemächtigt haben, um ihre industriell produzierte Massenware aufzuwerten.4 Damit scheint der Begriff »Graphic Novel« für die spezifische Kennzeichnung von Autorencomics untauglich zu werden. Stephen Weiners Monografie hat an dieser Abnutzung keinen unwichtigen Anteil, da sie das Label »Graphic Novel« längeren Erzählungen des Mainstreams wie der Independent-Produktion gleichermaßen zuschlägt, wie die oben angeführte generalisierende Definition schon vermuten lässt.5 Überblickt man einmal die Galerie jener komplex strukturierten Comics, die als anspruchsvolle Graphic Novels gefeiert werden, fällt in der Tat auf, dass es von Art Spiegelman bis Chris Ware, von Marjane Satrapi bis Julie Doucet, von David B. bis Lewis Trondheim ein dafür bevorzugtes Genre gibt: die Autobiografie oder zumindest die autobiografische Fiktion. Die New York Times und die Washington Post in den USA, The Guardian und The Independent in England feierten Chris Wares Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth und Marjane Satrapis Persepolis als eine neue Form der Literatur am Beginn des 21. Jahrhunderts.6 Auch wenn die autobiografische Graphic Novel gattungstheoretisch gesehen als eine Untergruppe des Autorencomics klassifiziert werden kann, so ist doch ihre historische Entstehung eng mit der ersten sich gegen den Massenmarkt abzeichnenden Autonomisierung von Comic-Produktion am Ende der 1960er Jahre verbunden. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts produzierten Zeitungsstrips wie etwa Krazy Kat von George Herriman, Little Nemo von Winsor McCay, The Kin-der-Kids von Lionel Feininger oder auch die Comics von Milton Caniff, die allesamt von Comic-Theoretikern 3 4

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S. Weiner: The Rise of the Graphic Novel, S. xi. So etwa Alan Moore im Interview mit Barry Kavanagh: »The Alan Moore Interview«, in: blather.net (17.10.2000), URL: http://www.blather.net/article s/amoore/northampton.html, Datum des Zugriffs: 05.01.2009. Zur Zuordnung des Mainstreams siehe das Kapitel »Opening the Gates. The Comics Field Grows« und das daran anschließende Kapitel »The New Heroes. Would You Let This Man Marry Your Sister?«, in: S. Weiner: The Rise of the Graphic Novel, S. 25-28, 29-34. Thierry Groensteen: Un objet culturel non identifié, Paris: L’An 2 2006, S. 76.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel zum Kanon der historischen Entstehungsgeschichte der Autorencomics gezählt werden,7 sind als Ausnahmen gegenüber dem Mainstream anzusehen und bildeten keinen sich vom Massenmarkt abgrenzenden, dauerhaft sich reproduzierenden Markt (relativ) autonomer Produktion. Nach Pierre Bourdieu kann man erst dann von einer Autonomisierung reden, wenn dem Massenmarkt ein solcher Markt der symbolischen Güter gegenübersteht, auf dem die Anforderung der Innovation der Profitorientierung überwiegt.8 Die herausragenden Produktionen vor den 1960er Jahren waren hingegen allesamt noch abhängig von Großsyndikaten. Diese von Intellektuellen und Akteuren legitimer Kunst spätestens seit den 1960er Jahren geschätzte Ausnahmen sind daher keineswegs schon als Ausdruck von autonomen Produktionsbedingungen anzusehen: So tauchten auch in der Jazz- oder Rockmusik lange vor der Entstehung einer Independent-Szene Produktionen auf, die der herrschenden Nachfrage weniger entsprachen und den Kreislauf zwischen Konsumtion und Massenproduktion durchbrachen. Schon Umberto Eco hielt weitsichtig zu Beginn der 1960er Jahre fest, dass es low brow-Produkte [gebe], dazu bestimmt, von einem riesigen Publikum gelesen zu werden, die eine beträchtliche strukturelle Originalität aufweisen und die Grenzen des Zirkels von Produktionen und Konsumption, in den sie eingebettet sind, zu sprengen vermögen, so daß sie uns wie Kunstwerke von eigentümlichem Wert erscheinen. (Dies ist der Fall bei den Peanuts von Charles M. Schulz oder beim Jazz, der aus der ›Unterhaltungsmusik‹ in den Bordellen von New Orleans hervorgegangen ist.)9

Ein zeitgenössisches Beispiel für dieses Phänomen stellen die japanischen Animeproduktionen dar: Einige wenige Produktionen wie etwa die von Hayao Miyasaki (Spirited Away [2001], Goldener Bär 2002, Oscar 2003) oder von Momuro Oshii (Ghost in the Shell, Teil II [2004], nominiert für den Wettbewerb in Cannes) sind mit ihren komplizierteren Erzählstrukturen vereinzelte Leuchttürme innerhalb eines Ozeans von massenhaften Animes, die auf billige und schnell rezipierbare Unterhaltung zielen. Eine sich über mehrere Generationen hinweg erhaltende Independent-Produktion existiert

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Vgl. dazu J. Carlin: »Masters of American Comics«, S. 25f. Zur Ausdifferenzierung der beiden Pole bzw. der Dichotomie zwischen symbolischem Markt und Massenproduktion eines Feldes vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. Bernd Schwips/Achim Russer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 227-279. Umberto Eco: »Massenkultur und ›Kultur-Niveaus‹«, in: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, übers. v. Max Looser, Frankfurt/Main: S. Fischer 1984, S. 37-58, hier S. 53.

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Thomas Becker in diesem durch Konsumhaltung bestimmten Bereich (noch) nicht, wiewohl Ghost in the Shell sich auch unter Intellektuellen außerhalb Japans einer gewissen Wertschätzung erfreut. Seit dem Underground der 1960er Jahre hat sich in den USA hingegen ein Pol des symbolischen Marktes der Comic-Produktion nun schon bis hin zur dritten Generation durchgehalten. Die rasche Vereinnahmung des Begriffs »Graphic Novel« durch den Mainstream schreibt sich in eine Strategie der Normalisierung ein, die der französische Comic-Theoretiker Bruno Lecigne einst mit dem Verdikt der ›confusion des langages‹ von avantgardistischem Jargon und Massenmarkt zu fassen versuchte.10 Allerdings sollte man diese Verwechslung der Diskursmodi nicht nur als rein sprachliches Ereignis, sondern von einer Feldanalyse der Strategien her verstehen:11 Indem die durch Eisner zum Adelstitel komplexer Erzählcomics erhobene Bezeichnung »Graphic Novel« von Großverlagen für längere Erzählungen in massenhaft aufgelegten Science Fiction- und Fantasy-Comics übernommen wurde, überlagern sich nicht nur die Sprache der symbolischen Produktion und die Sprache des auf Konsum angelegten Mainstreams. Die (freilich weiche und mit vielen Übergängen gespickte) Grenze zwischen diesen beiden Märkten im Comic-Feld wird damit verschleiert, was immer zugunsten des auf Ausweitung seiner Profitchancen hin agierenden, entdifferenzierenden Massenmarktes ausfällt. Es handelt sich bei der ›confusion des langages‹ daher um eine Strategie kultureller Normalisierung. Die Auseinandersetzung um den alternativen Zeichner Lewis Trondheim in Frankreich, der Pressekritiker radikal und polemisch bis hin zur Verweigerung von Interviews attackiert, stellt kein bloßes Publicity-Spiel der Aufmerksamkeitsgewinnung dar, sondern zielt auch darauf ab, die Differenz zwischen symbolischer Produktion und Mainstream im Bewusstsein der journalistischen Berichterstattung über die bande dessinée zu verankern, damit sich innerhalb des journalistischen Diskurses der Massenmarkt von jenem der kenntnisreichen Theoretiker abzuheben beginnt. Mit anderen Worten: Die Attacke ist als eine ernst gemeinte soziale Gegenstrategie anzusehen, die der Bedrohung alternativer Produktionsweisen durch die vom Massenmarkt betriebene Verwechslung der Diskurs10 Bruno Lecigne: »De la confusion des langages«, in: L’Éprouvette 3 (2007), S. 4-62, hier S. 42, 50. (Ursprünglich in der Zeitschrift Controverse am 1. Mai 1985 erschienen.) 11 Zur Kritik an Diskursanalyse und Intertextualität aus der Perspektive der Feldsoziologie vgl. Pierre Bourdieu: »Für eine Wissenschaft von den kulturellen Werken«, in: Ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, übers. v. Hella Beister, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 55-74, hier S. 56-59.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel modi einen wirksamen Riegel vorschieben möchte. Je klarer sich der Massenmarkt und der Pol der Autorencomics unterscheiden, desto stärker ist die Autonomie des letzteren. Diese Scheidung aber wird immer wieder durch Strategien der Vereinnahmung unterlaufen. Es scheint fast schon eine Ironie der Geschichte zu sein, dass Comics nicht mehr wie noch bis in die 1980er Jahre hinein aus den Schulen verbannt werden, weil man sie verdächtigte, das Erlernen des Lesens zu behindern. Inzwischen werden sie als probates Mittel geschätzt, die computergebeutelten Schüler wieder zum Lesen zu animieren. Dies stellt jedoch keineswegs eine Legitimierung ihrer Ästhetik dar: Die Comics werden als Mittel zum Zweck einer legitimen Bildung in der Schule und nicht als Gegenstand einer ästhetischen Betrachtung geschätzt, die selbst schon (mit Noten bedachte) Legitimität beanspruchen dürfte. Damit wird die durch Ausschluss aus der legitimen Kultur eintrainierte Scham des jugendlichen Comic-Lesers gegenüber seiner Lektüre zwar reduziert, zugleich aber auf niedrigerem Niveau erhalten. Diese Normalisierung wird durch den Mainstream gestützt, der seinen Ausschluss aus der legitimen Kultur mit dem nach literarischer Autorität klingenden Label »Graphic Novel« zu verdecken versucht: Eine solche unausgesprochene Kollaboration zwischen industrieller Massenproduktion und legitimer Kultur beschneidet die Scham gegenüber illegitimer Kultur um ihren möglichen Umschlag in Protest gegen die durch legitime Kultur eintrainierte Hierarchie. Das Genre der autobiografischen Fiktion im Comic tauchte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehäuft auf und setzte damit nicht nur eine gegenüber dem Mainstream sich herausbildende Autonomisierung der Produktionsbedingungen voraus.12 Es waren autobiografische Motive insbesondere bei Robert Crumb, innerhalb derer erst die spezifischen Erzählweisen ausgebildet wurden, welche sich zugleich auch als Strategien gegen die vereinnahmenden Normalisierungen des Massenmarktes formierten. Ende der 1960er Jahre entstand eine Handwerksproduktion von Underground Comics, die einen weit gestreuten Lesermarkt erreichte, weil sich in den USA eine zuvor sich selbst als Underground titulierende, von Universitäten ausgehende weltweit agierende Gegenpresse mit

12 Erwin Dejasse: »Les nouveaux territoires de l’intimes«, in: Bande d’auteurs (2005), Artpress-Sonderheft 26, S. 26-30, hier S. 26: Die Autobiografie »apparaît [...] comme l’archétype de la création dite indépendante«. Auch Thierry Groensteen sieht im autobiografischen Comic v.a. ein Produkt alternativer Herstellungsweisen, d.i. des Marktes symbolischer Güter. Vgl. Thierry Groensteen: »Les petites cases du Moi. L’autobiographie en bande dessinée«, in: 9e Art (1996), H. 1, S. 58-69, hier S. 59.

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Thomas Becker eigenen Lizenzverträgen etabliert hatte.13 Die handwerkliche Produktionsweise war im Gegensatz zur industriellen durch geringe Arbeitsteilung geprägt, in der die Autoren auch über die Verwendung der Materialien wie Papierart und der benutzten Druckmethoden bestimmen konnten. Die Produktionsweise der Underground Comics kannte indes nicht die habituelle Disziplin des handwerklichen Produzenten. Zeitverschwenderisch und spielerisch wie bei den hoch anerkannten Künstlern legitimer Kultur wurde im Underground nicht auf Termin hin produziert, Serien erschienen nicht regelmäßig, wurden nach wenigen Ausgaben eingestellt oder unter anderem Namen weitergeführt.14 Die nachfolgenden Generationen der Autorencomics hörten nach und nach auf, Fortsetzungsserien zu produzieren und konzentrieren sich mehr auf das anspruchsvolle Einzelwerk des Albums, das sich nicht nur auf die standardisierten kartonierten und kolorierten 48 Seiten beschränkte.15 Auch habituell setzten sich also die Produzenten der Autorencomics vom Massenmarkt seit den späten 1960er Jahren deutlich ab, was für McCay, Herriman und Caniff noch nicht gilt. Auf die Frage, welchen Künstler er besonders bewundere, nannte Robert Crumb Picasso – aber nicht etwa wegen seines Werks, sondern wegen seines unkonventionellen Lebensstils.16 Technisch gesehen kam der handwerklichen Produktionsweise der Offset-Druck entgegen, was auch erklärt, dass der Posterdruck17 für Rockmusik und die ersten Underground-Generationen der Comics intermediale Allianzen mit einer spezifischen Underground-Ästhetik bilden konnten. Robert Crumb zeichnete z.B. das Album Cheap Thrills von Janis Joplin, Rick Griffin die Rockposter für Grateful Dead und Jimi Hendrix sowie das Coverlogo für die Zeitschrift Rolling Stone.18 Die reziproke Stützung alternativer Musik- und Bildproduzenten sollte die gegenüber dem Massenmarkt

13 Vgl. Wolfgang J. Fuchs/Reinhold C. Reitberger: Comics. Anatomie eines Massenmediums, Reinbek/Hamburg: Rowohlt 1973, S. 275. Es handelte sich dabei um einen Zusammenschluss mehrerer Zeitungen zum UPS, dem Underground Press Syndicate. Vgl. auch Marjorie Alessandrini: Robert Crumb, Paris: Michel 1974, S. 19f. 14 Mark J. Estren: A History of Underground Comics, San Francisco: Straight Arrow 1974, S. 20. 15 Zur Veränderung der Publikationsstrategien nach 1960 vgl. Jean-Christoph Menu: Plates-bandes, Paris: L’Association 2005, S. 26f. 16 Vgl. Interview mit Jean-Pierre Mercier in: National Center for Comics and Image (Hg.): Le Monde selon Crumb, Angoulême: CNBDI 1992, S. 32. 17 Zum Zusammenhang von Posterdruck und Comics vgl. M.J. Estren: A History of Underground Comics, S. 75f. 18 Vgl. Dez Skinn: The Underground Revolution, London: Chrysalis 2004, S. 37.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel schwache ökonomische Position der Independent-Produktionen stärken. Dies beeinflusste möglicherweise auch die Übernahme und Benennung einer zuerst vom Satiremagazin Mad erfundenen Produktionsweise durch den Underground: Das Zusammenkommen von verschiedenen Underground-Zeichnern, die sich gegenseitig persiflierten, wurde wie das Zusammentreffen von Jazzmusikern, die sich auf der Bühne zur freien Improvisation jenseits ihrer Zugehörigkeit zu festen Combos zusammenfinden, Jam Sessions genannt.19 Die ersten Comic-Produktionen der französischen Independent-Szene kamen mit Unterstützung der Rockzeitschrift Rock & Folk auf den Weg. Dieses Magazin brachte zu Beginn der 1970er Jahre Themen der Protestgeneration wie z.B. Interviews mit Marcuse und über 72 Seiten Underground Comics zusammen. Dieselbe Synthese von Comics und Kritiken zur Rockmusik folgte in Paris kurze Zeit später mit der Ausgabe der alternativen Comic-Zeitschrift Métal hurlant (1975ff.).20 Personell überschnitten sich die Mitarbeiter bei Rock & Folk und Métal hurlant. Vorbild war der amerikanische Underground, mit dem direkte Kontakte unterhalten wurden.21 Der Chefredakteur Philippe Paringaux von Rock & Folk hielt zum Habitus der damaligen Comic-Zeichner fest: »Les dessinateurs de BD adulte de cette époque-là étaient trés proche du rock, et dans l’attitude et dans l’esprit.«22 Wo immer die alternative Produktion daher nicht nur eine politische Opposition gegen die disziplinierende Herrschaftsstruktur legitimer Ästhetik aufzubauen versuchte, indem sie mit subversiven Gewalt- und Sexualitätsdarstellungen Tabus in Frage stellte, sondern zugleich auch den gegenüber dem schulischen Markt weniger legitimen Mainstream attackierte, war ihre Produktion auf die Bildung einer eigenständigen, intermedialen23 Ästhetik der Gegenkultur angelegt. So bemerkte etwa Jean Giraud alias Moebius zu seinem 1975 im Produktionsmodus einer surrealistischen écriture automatique verfassten Comic Arzach, der als einer der wichtigsten Werke der alternativen Comic-Produktion gilt: Quand j’ai fait Arzach, mon modèle était le free-jazz. C’est-à-dire: on expose un thème et puis, d’un coup, sur ce thème, on part dans quelque chose qui est

19 Zu Jam Sessions vgl. M.J. Estren: A History of Underground Comics, S. 222f. 20 Vgl. dazu T. Groensteen: Un objet culturel non identifié, S. 83f. 21 Die Zeichner von Métal hurlant trafen sich mit Robert Crumb und Spain Rodriguez. Vgl. Gilles Poussin/Christian Marmonier: Métal hurlant. La Machine à rêver. 1975–1987, Paris: Denoël 2005, S. 22, 37. 22 Ebd., S. 31. 23 Unter »Intermedialität« verstehe ich mit Irina Rajewsky »die Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene«. I.O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke 2002, S. 12.

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Thomas Becker presque hors de soi, hors des sentiers battus, même hors de la matière, de la raison.24

Eine über die Mediengrenzen hinweg sich formierende Ästhetik ersetzte zwar zunächst eine institutionell mangelnde Unterstützung der Autonomisierung von Gegenkulturen, bot aber auch der auf Konsum hin besser organisierten Mainstream-Industrie immer wieder offene Flanken der Normalisierung. So hält Bourdieu etwa fest: Aber da es keine Institution gibt, die […] ›sekundäre‹ Künste [wie etwa Film, Jazz, Comics, Fotografie, TB] methodisch und systematisch als konstitutive Bestandteile der legitimen Kultur auswiese, erfaßt die Mehrzahl der Individuen sie einzig im Konsum. Die geschulte Kenntnis der Geschichte dieser Künste und die Vertrautheit mit den technischen oder theoretischen Regeln […] bilden hier selten eine Einheit, da man sich in diesen Fällen nicht verpflichtet fühlt, jenes Ensemble an Kenntnissen sich anzueignen, zu bewahren und zu überliefern, die zu den unverzichtbaren Vorbedingungen […] des gelehrten Genießens gehören. 25

Freilich muss man zur Analyse Bourdieus von 1965 einschränkend hinzufügen, dass er zu dieser Zeit noch nicht die intermedialen Strategien einer Gegenkultur kennen konnte. Gerade diese ließen erst Kritiker und Zeitschriften entstehen, die sich um eben das zunehmende Verständnis der Geschichte, technischer Regeln und Verfahrensweisen schulisch geringer legitimierter Künste bemühten. Insbesondere Jazz und Film dürften längst nicht mehr als eindeutig sekundäre Künste der mittleren Position zwischen populärer Ästhetik und legitimer Kultur gelten. In Die feinen Unterschiede von 1979 werden zumindest Jazz und Film als Künste auf dem Weg zur legitimen Kultur angeführt, deren herausragende Werke zum Kanon unter Intellektuellen mit höchstem kulturellem Kapital gehören.26 24 G. Poussin/Chr. Marmonier (Hg.): Métal hurlant, S. 34. 25 Pierre Bourdieu: »Die gesellschaftliche Definition der Photographie«, in: Ders. u.a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, übers. v. Udo Rennert, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006, S. 85-110, hier S. 106. 26 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftliche Urteilskraft, übers. v. Bernd Schwips/Achim Russer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, S. 38. Eine entsprechende Erwähnung des Comics fehlt hier bei Bourdieu. Geht man davon aus, dass Werke wie Art Spiegelmans Maus und Crumbs Comic Strips als herausragende Werke des Comic-Feldes unter Intellektuellen bekannt sind und inzwischen sich auch zunehmend Museen der Geschichte der Comics annehmen, dann darf angenommen werden, dass der Comic ebenfalls eine Kunstform auf dem Weg zur legitimen Kultur ist, die bisher allerdings insbesondere in Deutschland noch nicht die gleiche institutionelle Stützung wie Film, Jazz und Fotografie erfahren hat.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel Obwohl die unterschiedlichen Produktionsweisen als Ausgangspunkt von zwei verschiedenen Märkten vor den späten 1960er Jahren noch nicht vorhanden war, zielt die Verwechslung von Massenmarktdiskurs und innovativem Jargon nicht erst seit der Entstehung des Underground auf die vereinnahmende Normalisierung der innovativen Ausnahmen. Schon zu Beginn der 1960er Jahre existierten in den USA collegeinterne Comic Strips, die die Superhelden der Massenmarktproduktionen parodierten und sich dabei an Harvey Kurtzmans Mad orientierten.27 Um als anspruchsvollere Comics durchzugehen, reagierten insbesondere die Massenproduktionen des Marvel-Verlags mit einer veränderten Erzählstruktur, bei der (heute bevorzugt von Hollywood übernommene) Superhelden wie etwa Hulk, Silver Surfer und Daredevil im Mittelpunkt standen, die im Gegensatz zu Superman Zweifel und Gewissensnöte an den Tag legten. Entsprechend dieses durchaus erfolgreichen Strebens nach Anerkennung durch Leser mit höherem kulturellem Kapital veröffentlichte Marvel auch als erster Comic-Verlag die Namen der Zeichner und Szenaristen.28 Angesichts der aktuell vermehrten Umsetzung von Marvel-Helden in ökonomisch einträgliche Spielfilme scheint diese Normalisierungsstrategie bis heute ihre profitablen Effekte zu zeitigen. Auf der Folie der anderen Produktionsweise des Underground entstand mit Robert Crumbs Cartoons am Ende der 1960er Jahre die reflexive Karikatur, welche die ersten grundlegenden Elemente einer autobiografischen Erzählweise entwickelte. Diese Art der reflexiven Karikatur witterte inmitten ihrer Kritik an der legitimen Kultur zugleich auch schon die Gefahr der Normalisierung. Da sich die ästhetischen Produktionen der Underground Comics zum Mainstream nicht nur wie der Handwerksbetrieb zum industriellen Großbetrieb, sondern auch wie Länder der Dritten Welt zu Industrienationen verhielten, konnte von den Underground-Zeichnern die aus der legitimen Kultur ausgeschlossene soziale Lage des Comics auf die politische Thematik einer antikolonialen Haltung reflexiv projiziert werden – allerdings nicht immer unter Zustimmung der diskriminierten Gruppen. (Crumbs gezeichnete Kritik am Rassismus gegenüber Schwarzen wurde von diesen nicht immer positiv 27 Vgl. D. Skinn: The Underground Revolution, S. 34. Gilbert Shelton, besser bekannt durch seinen Comic Freak Brothers (1971ff.), gab schon 1961 in Studentenzeitungen wie Bachanal und The Texas Rangers mit Wonder Wart-Hog eine Parodie auf die amerikanischen Superhelden heraus. Die Parodie wurde dann 1967 (Zap, H. 4) im Rahmen der Underground-Bewegung auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Wonder Wart-Hog erschien hier als sadistisches und übertrieben patriotisches Riesenwarzenschwein mit kleinem Phallus. 28 Vgl. W.J. Fuchs/R.C. Reitberger: Comics, S. 144.

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Thomas Becker bewertet.)29 Diese soziale Homologie zu dominierten Positionen drückte sich oftmals in Form bewusster Anleihen bei einer arte povera aus, die sich bis heute als bevorzugtes Stilmittel der autobiografischen Graphic Novel erhalten hat: schlichtes Schwarz-Weiß, das an den einfachen Holzdruck erinnert. Der Umsetzung seines Comics Fritz the Cat in einen Animationsfilm warf Crumb vor, dass die Farbe die kraftvolle Vulgarität seiner Figur geglättet habe.30 Aber wo sich diese politische Sensibilisierung des Comics für dominierte soziale Positionen mit einem Angriff auf legitime Formen des Geschmacks verbündete, welcher sich im Übertritt von sexuellen und zivilisatorischen Tabus am besten inszenieren ließ, konnte ein solcher mitunter noch für etwas anderes als für bloße Provokation stehen: Er problematisierte die bei Kolonialisierten immer wieder zu beobachtende Scham gegenüber einer dominierenden Kultur wie sie der des Comic-Lesers gegenüber legitimer Kultur homolog ist. Robert Crumb inszenierte sexuelle Tabubrüche daher nicht nur ausschließlich als Attacke gegen legitime Kultur, sondern reflektierte in seinen autobiografisch motivierten Comic-Geschichten die Scham vor der herrschenden Kultur der Legitimität als gemeinsame Grundlage von Rebellion und Anpassung zugleich. Damit war die Normalisierung nicht mehr nur Gegenstand einer karikierenden Kritik wie noch in den studentischen Parodien der superheroes. Vielmehr wurde die ambivalente soziale Triebstruktur gegenüber den Produktionen der Unterhaltungsindustrie innerhalb der kritischen Opposition des Underground als Potenz der Normalisierung offengelegt: Einerseits fühlte sich der Underground vom illegitimen Markt einer Unterhaltungsindustrie angezogen, um daraus seinen avantgardistischen Distinktionsgewinn gegenüber anerkannter Kultur zu ziehen. Andererseits aber sah er sich zugleich in Opposition zum Mainstream, um seine andere Produktionsweise zu bewahren (ohne dafür schon in den 1960er Jahren über eine institutionelle Stützung durch Galerien und Museen wie die Pop Art zu verfügen). Diese Ambivalenz einer sozialen Triebstruktur zwischen Anziehung, Abhängigkeit und Ablehnung des illegitimen Massenmarkts lässt sich in Crumbs autobiografisch motivierten Tabubrüchen in Homologie zu einer ambivalenten sexuellen Triebstruktur decodieren. Wenn Crumb in einem Panel eine Frau zeichnet, die einen Mann mit einem versteckten Messer zu seiner Kastration erwartet (Abb. 1), dann ist dies nicht nur die Kritik an weiblichen Ressentiments, sondern auch das sichtbare Eingeständnis eines Ressentiments des männlichen Comic-Autors gegenüber Frauen.

29 Vgl. M. Alessandrini: Robert Crumb, S. 75. 30 Vgl. ebd., S. 37.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel

Abb. 1. Marjorie Alessandrini: Robert Crumb, S. 44.

Ressentiments sind unterdrücke Rachegefühle, wie Max Scheler in der Tradition Nietzsches festhält.31 Ganz sicherlich spielen diese in Crumbs Comics über das sexuelle Verhältnis von Mann und Frau eine Rolle: Er ging so weit zu behaupten, dass jeder Mann lüge, der sich die misogynen Züge seiner Psyche nicht eingestehe;32 die Frauenbewegung warf ihm Sexismus vor. Aber die gehemmten Racheimpulse gegenüber Frauen kommen in Crumbs autobiografisch motivierten Comic-Geschichten nicht einfach zum Ausdruck, sondern werden in einer reflexiven Wendung gezeigt, in der die Kollaboration seiner Autorschaft mit der von ihr durch Tabubruch attackierten dominierenden sexuellen Position (von Frauen) in einer gleichzeitigen Scham für eben diese Regelbrüche ausdrücklich wird. Die meisten Frauenfiguren Crumbs schwanken daher ambivalent zwischen dominanten, mit Kastration drohenden Sexualobjekten und beschützenden Mutterfiguren. Die impulsive, für Emanzipation kämpfende Figur Leonore Goldberg trägt Minirock und Lederstiefel wie der urban gesinnte Typ einer selbstbewussten Frau der 1960er Jahre, zeigt aber zugleich die für Crumbs mütterliches Frauenideal be-

31 Max Scheler: »Das Ressentiment im Aufbau der Moralen«, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3: Vom Umsturz der Werte, 4. Aufl., Bern: Francke 1955, S. 32-147, hier S. 38 u. insbes. S. 51f. 32 Interview mit Jean-Pierre Mercier in National Center for Comics and Image (Hg.): Le Monde selon Crumb, S. 28f.

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Thomas Becker rühmt gewordenen weichen Körperformen eines etwas fülligen Körperbaus (Abb. 2).

Abb. 2. Marjorie Alessandrini: Robert Crumb, S. 41.

Michel Foucault mag in Sexualität und Wahrheit darauf hingewiesen haben, dass der Diskurs vom unterdrückten Sex selbst zur Figur der Machtproduktion gehört, aber dies war seiner eigenen Aussage nach nur ein einzelnes, wenn auch sehr ›heißes‹ Beispiel für das Funktionieren von Subjektivierungstechniken mittels nicht-repressiver Wissensdiskurse.33 Im Falle der sexuellen Tabubrüche in der reflexiven Karikatur Crumbs haben wir es ebenfalls mit einer Offenlegung von Subjektivierungen zu tun: Diese sind jedoch kein Beispiel für die wissenschaftlich motivierte Normalisierung des Sexes, sondern ein Beispiel für die ästhetische Normalisierung durch kulturelle Legitimität, die dann aber ebenfalls über die Frage der im Laufe der sexuellen Revolution der 1970er Jahre aufkommenden sexuellen Tabubrüche der Bildmedien hinausgeht. Art Spiegelman bestand angesichts des Karikaturenstreits in einer Diskussion mit dem Autor der Comic-Reportage Palestine, Joe Sacco, der die Mohammed-Karikaturen als Diskriminierung bezeichnete, auf das 33 Vgl. das Vorwort zur deutschen Ausgabe in Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, übers. v. Ulrich Raulff/Walter Seitter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 8.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel Recht der Beleidigung für Karikaturisten.34 Das Plädoyer für ein Recht auf Beleidigung mag etwas übertrieben klingen, führt uns aber geradewegs ins Zentrum einer Genealogie der autobiografischen Graphic Novel, deren symbolische Sprache sich erst im Kampf gegen ästhetische Normalisierung moderner Subjektivität bilden konnte. Die direkte Beleidigung ist genuiner Bestandteil der in postmodernen Gesellschaften überholten Tradition der klassischen, irreflexiven Karikatur. Die zeitgenössische, ›klassische‹ Zeitungskarikatur verfolgt keine reflexive Kritik, da sie das für postindustrielle Gesellschaften inzwischen überholte Prinzip der Karikatur aus dem 19. Jahrhundert fortsetzt, die nur den Missbrauch oder die Verleugnung von Macht durch offizielle Autoritäten karikiert, dabei aber nicht zugleich die Kollaboration des scheinbar ohnmächtigen Akteurs ins Visier nimmt; sie ist irreflexiv. Die autobiografisch motivierten Comics von Crumb gehen dagegen mit dem Recht auf Beleidigung reflexiv um: Je betonter er in ihnen die Attacke auf eine Unterdrückung dunkler Triebe zum Ausdruck brachte, desto stärker konnte gerade die ästhetische Normalisierung durch die eigene Autorschaft thematisiert werden. So zeichnet Crumb einen kurzen Comic Strip, in dem die Figur des Autors in einer Großstadt einer Frau auflauert, sie tötet und anschließend verspeist. Im letzten Panel wendet sich die Figur des kannibalischen Autors an den Leser mit den Worten, man solle sich nicht aufregen, es handele sich ja schließlich nur um einen Comic. In dieser reflexiven Karikierung von gering legitimierter Autorschaft legt er sogleich die spezifisch ästhetische Normalisierungsfunktion des Comics offen, der in seinen provozierenden Tabubrüchen gegen die political correctness deswegen weiter gehen kann als andere Medien, weil er weniger ernst genommen wird. Wenn der kenianische Karikaturist Gado indes unter großem Applaus seiner Leser in Afrika Robert Mugabe als Pavian zeichnet und damit beleidigt, ist dies etwas anderes, als wenn die Darstellung von einem weißen Zeichner ins Werk gesetzt würde.35 Die gesamte Tradition des von Weißen getragenen wissenschaftlichen Rassismus im 19. Jahrhundert hat die schwarze ›Rasse‹ stets mit Affen gleichgesetzt. Bei einem weißen Autor würde stets eine rassistische Beleidigung mitschwingen, während ein schwarzer Karikaturist gegen diese Gefahr gefeit ist, da er für alle seine Rezipienten er34 Vgl. Art Spiegelman/Joe Sacco/Sam Graham-Felsen: »Only Pictures?«, in: The Nation (20.2.2006), URL: http://www.thenation.com/doc/20060306/in terview, Datum des Zugriffs: 4.1.2009. 35 Erschienen in der kenianischen Zeitung Daily Nation (2003). Vgl. dazu den Artikel von Michael Bitala: »Der Diktator schrumpft zum Pavian«, in: Süddeutsche Zeitung, 11./12.8.2007, S. 7.

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Thomas Becker kennbar auf die Beleidigung des Machthabers, nicht aber auf die eigene soziale Gruppe der Schwarzafrikaner zielt. Die Beleidigung hat hier ihren irreflexiven und direkten Angriffspunkt gegen Repression. Auch wenn die heutige Zeitungskarikatur postindustrieller Gesellschaften demgegenüber aufgrund ihrer Irreflexivität oftmals wirkungslos geworden ist, gilt keineswegs der Umkehrschluss, dass die reflexive Kritik auch gegenüber autoritären Regimen anwendbar wäre, da dies auf Verhöhnung der Opfer hinausliefe. Die reflexive Karikatur entfaltet allein in einer postmodernen Demokratie der Subjektivierung ihre kritische Kraft. Insofern stellt die reflexive Karikatur Crumbs auch ein historisch neuartiges Anspruchsniveau für das Zusammenspiel von ästhetischer Innovation und politischer Kritik dar, die genuin normalisierenden Subjektivierungstechniken der Macht gilt, an denen eben auch kritische Underground-Bewegungen ihren Anteil haben. Die daraus resultierende Ambivalenz im Umgang mit der narrativen Behandlung der eigenen Subjektivität stellt eine Technik der Abkühlung eines Identifikationsangebots innerhalb interner Fokalisierung dar. »Abkühlung« bezieht sich nicht auf die Theorie Marshall McLuhans über kalte und heiße Medien, sondern auf den Anspruch einer literarischen Avantgarde der Moderne, möglichst Einfühlung zu verhindern. Die Abkühlung innerhalb der internen Fokalisierung ist selbstredend genauso wenig eine Erfindung des Comics wie die Autobiografie. Der Anspruch einer Vermeidung von Einfühlung taucht schon bei Goethe auf und wird bei Flaubert mit dem Leitprogramm einer impassibilité des Erzählers versehen.36 Aber der Abkühlung der internen Fokalisierung durch ambivalente Erzählweisen des gezeichneten Bildes kommt eine eigene ästhetische Qualität zu, die den Comic von der parasitären Partizipation an der heißesten, weil auf stärkste Identifikation hinauslaufenden filmischen Fiktion wie am geschriebenen Roman gleichermaßen befreit. Die Entwicklung dieser Abkühlungstechnik in autobiografischen Comics konnte nicht ohne die homologe Entwicklung einer spezifisch intermedial geprägten Wahrnehmung der internen Fokalisierung auf der Rezipientenseite einhergehen, wie sie erst ab den 1960er Jahren möglich war. Zwar ist die subjektive Kamera, die einem Identifikationsangebot am stärksten entsprechen kann, schon lange vor ihrer Verwendung im Kino als eine innovative Einzelleistung in einem Tagesstrip von Winsor McCay aus dem Jahre 1905 36 Vgl. dazu Norbert Chr. Wolf: »Ästhetische Objektivität. Goethes und Flauberts Konzept des Stils«, in: Poetica 34 (2002), S. 125-169, hier insbes. S. 161f., 168f., wobei zu bemerken ist, dass die dort dargestellten Formen der Distanzierung und Objektivierung nicht identisch sind mit den hier beschriebenen Techniken.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel nachweisbar (Abb. 3).37 Die subjektive Kamera wird aber später mit dem durch Kino und Fernsehen geprägten Blick zu einem intermedial verbreiteten Standard des Comic-Massenmarktes: Scott McCloud zufolge setzen erst die Manga der 1960er Jahre eine subjektive Kamera zur Darstellung motorisierter Fahrten ein, die später, Ende der 1980er Jahre, in amerikanischen Comics auftaucht und schließlich in den 1990er Jahren zum allgemeinen Standard wurde.38

Abb. 3. Winsor McCay: Comic Strip (1905), in: CinémAction, S. 164.

Durch seinen jeweils unterschiedlichen historischen und sozialen Standort innerhalb der Intermedialität erhält also das Identifikationsangebot der internen Fokalisierung einen anderen symbolischen Wert: Da McCays subjektive Kamera avant la lettre nicht durch das Kino vermittelt sein kann, dürfte sie sich eher den Anregungen seines Landsmannes Edgar Allan Poe verdanken. Bei McCay geht es um die Sichtweise eines Vampirs, der im Grab liegend von unten der Zeremonie seiner eigenen Beerdigung zusieht, so wie auch in Poes The Premature Burial das Erlebnis, lebendig im Grab eingeschlossen zu sein, aus der Perspektive einer internen Fokalisierung geschildert wird. McCays Comic Strip hat daher sicherlich zu seiner Zeit auf die für den Comic gegenüber Poes Erzählung direktere und heißere Wirkung einer Identifikation mittels bildlicher Präsenz gezielt, die für unsere heutige, durch Kino und Fernsehen geprägte Wahrnehmung jedoch längst banalisiert wurde. Wie stark McCay auf die bildliche Präsenz zielte, wird daran deutlich, dass er nicht nur ein Pionier des Zeichentrickfilms lange vor Walt Disney war, dessen ökonomische Haltung zum Medium ihn allerdings abschreckte. Bei seinem öffentlich vorgeführten Zeichentrickfilm Ger37 Neben McCays subjektiver Kamera avant la lettre tauchen im frühen Comic auch noch andere Techniken auf, die den Film vorwegnehmen. Vgl. Yves Frémion: »Dessinateurs à la caméra«, in: Gilles Ciment (Hg.): Cinéma et bande dessinée, Condé-sur-Noireau: Corlet 1990, S. 163-167, hier S. 164f. 38 Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, übers. v. Heinrich Anders, Hamburg: Carlsen 2001, S. 122.

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Thomas Becker tie the Dinosaur simulierte er eine Kommunikation mit den animierten Figuren, um die Präsenz einer lebendigen Bilderzählung noch zu steigern. Die interne Fokalisierung hat daher in der aktuellen Bilderzählung der Comics einen anderen Wert: Sie ist gegenüber dem Film kühler und distanzierter, weil zu den Bewegungen der Gedanken des Lesers sich nie ein synchron hierzu bewegtes Bild und eine gleichzeitige Offstimme einstellen kann. Die filmische Erzählung kommt unserem Bewusstseinsstrom wesentlich näher. Gerade dies eröffnet dem Comic-Autor im Zeitalter der bewegten Bilder, aber auch für das Genre der Autobiografie die Möglichkeit, die Gefahr einer kitschigen Einfühlung zu vermeiden. Chris Ware hielt in einem Interview fest, dass im Comic die eigene Erzählperspektive durch die Festlegung des Bildes immer auch in die Schilderung einer dritten Person abgleiten könne.39 Dieser rein formale, aber sehr nützliche Hinweis allein würde indes nicht ausreichen, um die spezifische Möglichkeit der kalten Beschreibung im Comic zu charakterisieren, weil das Abgleiten in die dritte Person für den Film ebenso zutreffen kann. Da sich aber das Comic-Bild nicht zeitlich synchron mit dem Gedankenstrom des Beobachters bewegen kann, ist eben diese auch im Kino mögliche Doppelung von interner Fokalisierung und gleichzeitig distanzierendem Gesehenwerden des Erzählers wesentlich stärker auf Objektivierung ausgerichtet als im Film. Dem Comic kommt aufgrund seiner gegenüber den elektronischen Medien technischen Rückständigkeit erst das Potential zu, innerhalb der subjektivierenden Erzählperspektive einer autobiografischen Schilderung den kühleren und distanzierteren Ton anzuschlagen. Die subjektive Kamera des Films ist selbstredend nicht die einzige Form einer heißen internen Fokalisierung, welche ein starkes Identifikationsangebot abgibt. In einer geschriebenen autobiografischen Erzählung kann die interne Fokalisierung durch eine lang ausgebreitete Dominanz der auktorialen Erzählperspektive ein äußerst resistentes Identifikationsangebot gegenüber Objektivierungen aufstellen, das auch bei längeren Spielfilmen genutzt wird. Die Erzählung einer längeren autobiografischen Graphic Novel verbindet daher konsequent die ambivalente Erzählweise mit der visuellen Reizminderung der grafischen Abstraktion zum Bollwerk gegen eine mögliche Einfühlung. Die häufig verwendete Technik der arte povera in der Graphic Novel ist insofern nicht nur durch politische Abgrenzung gegenüber dem Massenmarkt motiviert: Ihre gegenüber

39 Zit. n. Thierry Smolderen: »Roman graphique et nouvelles formes d’énonciation littéraire«, in: Bandes d’auteurs (2005), Artpress-Sonderheft 26, S. 74-80, hier S. 77. (Diese Bemerkung Wares stammt ursprünglich aus einem Interview mit Gary Groth in The Comics Journal [1997], H. 200.)

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel dem Fernsehen und den bunten Abenteuercomics zurückhaltende und reizärmere Ästhetik einer schematischen Grafik im Stil des Clair-obscure oder der ligne claire40 kommt der Tendenz einer Abkühlung auch in visuellem Sinne entgegen. Nur aufgrund dieser sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausbildenden gedoppelten intermedialen Distinktion gegenüber dem Film und geschriebener Literatur konnte sich der Eigenwert der autobiografischen Graphic Novel ausbilden. Damit aber wird nicht nur deutlich, warum Crumb ein wichtiger Meilenstein für jene nach ihm kommenden autobiografischen Erzählweisen in Comics geworden ist, sondern auch, dass es in der Tat einen ausgezeichneten Bezug der Graphic Novel zum Genre der Autobiografie gibt. Die Synthese der ambivalenten Erzählweise und eines schematisch-grafischen Zeichenstils bei gleichzeitiger Ablösung von schockierenden Darstellungen in einer längeren Bildgeschichte hat Art Spiegelman mit seinem Holocaustcomic Maus als erster vollzogen. Spiegelman hatte früh nicht nur in Kurtzmans Satiremagazinen publiziert, sondern auch zusammen mit Crumb in der Szene der Underground Comics gearbeitet. Zudem war seine Zeitschrift Raw ein wichtiges Bindeglied für eine neue avantgardistische Generation, da er in ihr seit den 1980er Jahren die wichtigsten avantgardistischen Zeichner Europas, Amerikas und Japans versammelte, nachdem der ehemalige Underground längst zusammengebrochen war. Die reflexive Sichtbarmachung einer kulturellen Schamgrenze für den Comic-Leser gegenüber legitimer Kultur wie sie Crumb mittels des Bruchs sexueller Tabus inszenieren konnte, hatte sich im Laufe der 1970er Jahre längst verbraucht. Es mag Jean-Claude Forests Barbarella von 1964 der historische Rang zukommen, noch vor Crumb die kulturelle Ablehnung leichter Unterhaltung seitens der legitimen Kultur mit erotischen Zeichnungen zu attackieren.41 Aber die von weiblichen Zeichnerinnen immer wieder geäußerte Kritik an seither wesentlich stärker pornografisch ausgerichteten Comics wird von männlichen Journalisten heutzutage mit dem Hinweis auf die leichte Unterhaltung als ureigenes Merkmal der 40 Die ligne claire kommt z.B. insbesondere in den Graphic Novels von Chris Ware zum Einsatz. Darunter versteht man die von Hergé zuerst in Tintin erfundene Technik, alle Effekte auszuschließen, die eine scharfkantige grafische Umrisslinie von Gegenständen und Personen diffus machen würden, wie etwa das Zeichnen von Wolken, Nebel, Schlagschatten etc. In einem solchen Fall betont eine durch die Umrisslinie exakt eingegrenzte Farbfläche die abstrakte, auf das Notwendigste beschränkte Kühle trotz Verwendung von Farbe. 41 Zum Ekel der Vertreter der legitimen Kunst gegenüber leichter Unterhaltung vgl. Pierre Bourdieu: »Der Ekel vor dem ›Leichten‹«, in: Ders.: Die feinen Unterschiede, S. 757-760.

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Thomas Becker Massenmedien quittiert, die sich dafür nicht auch noch an der Hochkultur zu orientieren brauche.42 Indem mit dieser Argumentation die Durchbrechung sexueller Schamgrenzen als das avantgardistische Mittel der Überwindung eines kulturellen Schamgefühls gegenüber leichter Unterhaltung schlechthin dargestellt wird, bleibt gerade die auf dem schulischen Markt eintrainierte Hierarchie legitimer Kultur unangetastet. In diesem Diskurs lässt sich somit eine Normalisierung kultureller Legitimität durch subversive Erotik beobachten: Indem das Lied der Befreiung von einer Legitimitätsvorstellung durch den Sex gesungen wird, hält man zugleich die Anerkennung einer herrschenden Kultur aufrecht. Die Prophetie einer Befreiung des unterdrückten Sexes wird jedoch, wie bereits bei Crumb gezeigt, trotz Ähnlichkeit zu der von Foucault analysierten Normalisierung nicht im Namen seriöser Diskurse des Wissens, sondern im Namen einer gerade von seriöser Moral befreiten Unterhaltung proklamiert. Maus löste die ambivalente Erzählweise vom provozierenden Schock gegenüber legitimer Kultur, um der normalisierenden Abnutzung der Underground-Ästhetik zu entgehen. Unmissverständlich bemerkte Spiegelman lange vor dem 1986 einsetzenden Hype um Maus, nach der Veröffentlichung erster Kapitel in seiner Zeitschrift Raw: »I didn’t intend it [Maus, TB] to shock. And that’s why I said that this work is different than some of the earlier work.«43 Die ambivalente Erzählweise von Maus wurde von einigen Kritikern und Zeichnern hingegen zunächst missverstanden. So kritisierte Harvey Pekar, selbst als Szenarist des autobiografischen Comics American Splendor bekannt, dass Spiegelmans unvorteilhafte Schilderung seines Vaters Vladek nur darauf hinauslaufe, sich selbst als das eigentliche Opfer des Holocaust zu stilisieren.44 Wenn Vladek schon vor seiner Traumatisierung durch Auschwitz als auf ökonomischen

42 Vgl. das Manifest der Comic-Autorinnen zum Protest gegen Pornografie, zu finden in: L’Éprouvette 3 (2007), S. 63 (ursprünglich erschienen in Le Monde 27./28 Januar 1985). Von den Kritikern des Manifests wurde immer wieder übersehen, dass es nicht gegen erotische Darstellungen gerichtet war, sondern gegen die Darstellung von Frauen, die keine andere Rolle in der Erzählung einnehmen, denn als Gegenstand der Pornografie zu fungieren. Es sollte auch nicht übersehen werden, dass Crumbs Tabubrüche keineswegs nur als reflexive Karikaturen, sondern auch als Möglichkeit gedacht waren, zu ›easy money‹ zu kommen. Reaktionen in der Debatte: L’Éprouvette 3 (2007), S. 64-66. 43 Art Spiegelman u.a.: »Jewish Mice, Bubblegum Cards, Comics Art, & Raw Possibilities«, in: The Comics Journal (1981), H. 65, S. 98-125, hier S. 105. 44 Harvey Pekar: »Comics and Genre Literature«, in: The Comics Journal (1989), H. 130, S. 127-133. Zudem in seinem Leserbrief zu finden in: The Comics Journal (1989), H. 133, S. 29f.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel Vorteil disponierte Person dargestellt wird, so deswegen, weil Spiegelman auf eine rein identifikatorische Charakterisierung seines Vaters als Opfer des Holocaust verzichtet. Eine unmittelbar auf Einfühlung laufende Darstellung hätte wohl zu dem geführt, was Spiegelman selbst als »Holokitsch«45 bezeichnete. Die schematisch-abstrakte Darstellung von Juden mit Mausmasken, die nicht einmal Pupillen zeigen, kommt dieser Abkühlungstechnik entgegen. Die ersten Entwürfe für Maus hatten in ihrer Physiognomie noch wesentlich deutlichere Charakterzüge, während in der endgültigen Fassung durch die grafische Gleichbehandlung aller agierenden Personen mit Tiermasken jede unmittelbare Identifikation unterlaufen wird. Bei Maus liegt also eine konsequente Engführung der beiden Techniken abgekühlter interner Fokalisierung für die autobiografische längere Erzählung einer Graphic Novel vor. Was nun den intermedialen Zusammenhang von Film und Graphic Novel anbetrifft, so hat Art Spiegelman jedes Angebot einer Verfilmung von Maus abgelehnt. Sicherlich nicht wegen eines Bilderverbots gegenüber der Shoa, da dieses durch seinen Comic schon umgangen wurde, sondern weil die Übersetzung des stehenden Comic-Bilds in einen Film die Abkühlungstechnik eminent eingeschränkt und es zu jenem von ihm stets kritisierten Holokitsch der Einfühlung geführt hätte. Durch ihre Emanzipation von der filmischen Erzählung konnte die autobiografische Graphic Novel seither jedoch sogar einen aktiven Einfluss auf die bewegten Bilder des Trickfilms ausüben. Ari Folmans in Spielfilmlänge produzierter Animationsfilm Waltz with Bashir (2008) übernimmt die ambivalente Erzählweise der Graphic Novel. Gerade weil es sich um bewegte Bilder handelt, entzieht der grafische Effekt der Zeichnung seinen Reportagen und Interviews zum ersten Libanonkrieg die direkte Wirkung, indem er ambivalent zwischen Dokumentation und autobiografischer Fiktion schwankt. Die gegenüber fortschrittlicher Tricktechnik etwas holprig wirkenden Bilder lassen nicht nur dem Zuschauer mehr Zeit zum Nachdenken und drängen damit nicht sogleich auf Identifikation. Was man in einer zeichnerischen Reportage berichten kann, scheint für einen der interviewten israelischen Soldaten in Folmans Film selbst keine so starke Festlegung zu sein wie in einer real gefilmten Dokumentation und bringt damit gerade wichtige Bekenntnisse hervor: »Du darfst mich zitieren, solange du mich nur zeichnest«, sagt einer der ehemaligen Kriegskameraden. Gäbe es aber nicht unsere durch den Dokumentarfilm geprägte Wahrnehmung, so wäre diese Wirkung nicht durch einen Animati-

45 Art Spiegelman/Claudia Dreyfus: »›If there can be no art about the Holocaust, there may at least be comic strips‹«, in: The Progressive 53 (1989), H. 11, S. 34-37, hier S. 35.

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Thomas Becker onsfilm erreichbar. Ein stark auf Grafik hin orientierter Trickfilm, der die Hand des Zeichners nicht in computergenerierter Perfektion untergehen lässt,46 kann nämlich in den Fantasy-Storys japanischer Animes wiederum auf extreme Identifikation hin wirken. Die zeichnerische Umsetzung rechnet mit der medialen Prägung unserer Wahrnehmung, die eine gezeichnete Reportage gegenüber einem Dokumentarfilm sogleich als technisch mangelhaft identifiziert und somit weniger auf Identifikation und Festlegung drängt, während der Fantasy-Film die stehenden Bilder der grafischen Kinderbuchästhetik in lebendiger wirkende Animationen umsetzt. Hat sich die Graphic Novel vom Film durch die Entwicklung einer Abkühlungstechnik emanzipiert, so kann die durch sie eingeübte ästhetische Wahrnehmung nun offensichtlich ihren Einfluss umgekehrt auf den gezeichneten Film aktiv ausüben. Der Comic hat seine Emanzipation vom Film und geschriebener Literatur keineswegs von Anfang an vollzogen. Sie ist in der Tat eng an die Entwicklung einer autobiografischen Graphic Novel am Ende des 20. Jahrhunderts gebunden, auch wenn damit nicht behauptet werden soll, dass deren komplexe und anspruchsvolle Sprache ausschließlich autobiografisch ist; sie besitzt jedoch eine ihr genuin zugehörende formale Ausdrucksweise im Zusammenspiel grafischer Abstraktion und ambivalenter Erzähltechniken, welche die Wirkungsabsicht der Einfühlung verwirft. Die Genealogie der Graphic Novel setzt daher in der Tat weder mit Rodolphe Töpffers von Goethe als Karikaturenroman bezeichneten längeren Bildgeschichten im 19. Jahrhundert noch mit McCays Little Nemo in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern erst mit Crumbs reflexiver Karikatur am Ende der 1960er Jahre ein. Von Genealogie im Sinne Foucaults muss man sprechen, weil Crumbs Comics selbst zwar keine längere Autobiografie umgesetzt haben, wohl aber sein gesamtes Werk mit autobiografischer Reflexivität angereichert ist, die

46 Diese Perfektion lässt sich auch als der apparatfreie Aspekt des filmischen Mediums bezeichnen. Vgl. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1.2, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1980, S. 471-508, hier S. 495, § XI: »Das Theater kennt prinzipiell die Stelle, von der aus das Geschehen nicht ohne weiteres als illusionär zu durchschauen ist. Der Aufnahmeszene im Film gegenüber gibt es diese Stelle nicht. […] Im Filmatelier ist die Apparatur derart tief in die Wirklichkeit eingedrungen, daß deren reiner, vom Fremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einer besonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch den eigens eingestellten photographischen Aspekt und ihrer Montierung mit anderen Aufnahmen von der gleichen Art ist. Der apparatfreie Aspekt der Realität […] und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit [ist hier] zur blauen Blume im Land der Technik [geworden].«

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel im Kampf um die Autonomisierung des Comics erst die Entwicklung einer symbolischen Sprache der abgekühlten internen Fokalisierung ermöglichte.47 Auch wenn sich Art Spiegelman der im Underground entwickelten Erzähltechniken als erster in Reinform für seine längere autobiografische Graphic Novel Maus bedient hat, so darf jedoch nicht übersehen werden, dass die von Literaturkritikern und Vertretern der legitimen Kunst immer wieder behauptete Aussage, Maus stelle eine Ausnahme der Comic-Produktion dar,48 aus einer mangelnden Kenntnis der Geschichte des für Literaturkritiker illegitimen ComicFeldes resultiert. Die in Maus angewandte Erzähltechnik ist aus einem sozialen Kampf um die sich autonomisierende Produktionsweise des Underground gegen kulturelle Normalisierung hervorgegangen und kann daher nicht als voraussetzungslose Ausnahme der Comic-Produktion angesehen werden. Die autobiografische Graphic Novel ist dabei ein Ausdruck eines neuen sozialen Grenzphänomens, das aus der Perspektive der Kritiker legitimer Literatur leicht zu übersehen ist: Sie grenzt sich gegen die legitime Kultur und deren schulisch abgesicherte Autonomie ab, ohne auf den Anspruch einer kollektiven Autonomisierung unter den besonderen Bedingungen einer intermedialen Ästhetik der Gegenkultur zu verzichten. Robert Williams, der zusammen mit anderen ComicZeichnern in den 1960er Jahren in Crumbs Comic-Magazin Zap ein Paradigma der ersten Underground Comics setzte, bemerkt dazu: »When I got to meet Zap artists, for the first time in my life I had run across spirits who went through the same thing I did. They could draw but were denied any standing in art schools.«49 Der Comic-

47 Vgl. Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« (1971), übers. v. Michael Bischoff, in: Ders.: Dits et écrits. Schriften, Bd. 2, hg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 166-191, hier S. 180: »Die wirkliche Historie [Nietzsches] verkehrt das übliche Verhältnis zwischen dem Eintritt des Ereignisses und der kontinuierlichen Notwendigkeit. Eine ganze Tradition (theologischer und rationalistischer) Geschichtsschreibung versucht das einzelne Ereignis in einem idealen Kontinuum aufzulösen – entweder in einer teleologischen Entwicklung oder in einer natürlichen Kausalkette. Die ›wirkliche‹ Historie dagegen lässt das Ereignis wieder in seiner Einzigartigkeit hervortreten. Unter Ereignis ist dabei nicht eine Entscheidung, ein Vertrag, eine Regierungszeit oder eine Schlacht zu verstehen, sondern die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses«. 48 So etwa Ethan Mordden, der Maus in einer Literaturkritik als »the first masterpiece in comic-book history« nennt. Ethan Mordden: »Kat and Maus«, in: The New Yorker 68 (6.4.1992), H. 17, S. 90-96. 49 Robert Williams: »Underground(s)«, in: ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies 1 (2004), Nr. 1, URL: http://www.english.ufl.edu/imagetext/archive s/v1_1/williams, Datum des Zugriffs: 5.1.2009.

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Thomas Becker Historiker Joseph Witek zählt mehrere Versuche auf, wie Kunsthistoriker und Literaturkritiker der legitimen, schulisch abgesicherten Kultur die komplexe Erzählstruktur von Maus dagegen nur unter Ablehnung seines Comic-Status anerkennen: Most notable was the New York Times Book Review, which began its November 3, 1991 issue with the rather perplexing line, »Art Spiegelman doesn’t draw comics.« Then the Village Voice wrote, in a review of a Museum of Modern Art exhibition of materials from the writing of Maus II, »that Spiegelman is an original, a hybrid artist who has genuinely created a new form. […] But Maus is not exactly a comic book, either; comics are for kids.« These categorical assertions are no doubt news to Art Spiegelman himself, who, though he has labored for years to expand the definition of what a comic book is and what it means to ›draw comics‹, has never suggested that he was doing anything else.50

Comic-Kritiker und -Theoretiker, die rein semiotisch-formal und damit unhistorisch verfahren oder in ihrer historischen Darstellung die Geschichte der Comics als Kontinuität von George Herriman bis Chris Ware fassen, ohne den Einschnitt eines Kampfes um andere Produktionsbedingungen seit den 1960er Jahre zu sehen, kollaborieren allerdings trotz all ihrer subtilen Kenntnis der Comic-Geschichte unbewusst mit dieser verkennenden Anerkennung seitens der legitimen Kultur. Maus stellt trotz seiner gegenüber anderen Graphic Novels höheren Konsekration weder eine Ausnahme innerhalb der Entwicklung eines Subfeldes symbolischer Produktion noch das Ergebnis einer reinen Kontinuität von Feininger, McCay, Herriman bis hin zu Spiegelman dar. Wenn Spiegelman und andere Underground-Autoren sich auf die Anfänge der amerikanischen Comic-Tradition berufen, so muss dies vielmehr als eine Strategie künstlerischer Produktion angesehen werden. Laut Bourdieu erlaubt erst ein in der Feldgeschichte spät entstehender Markt symbolischer Produktion den Autoren, externe Sichtweisen auszuschließen, indem sie die für ihre Zeichenpraxis und Erziehung des Auges geeigneten Verfahrensweisen aus der Geschichte vor dieser Autonomisierung selektieren: Die relative Autonomie des Feldes verwirklicht sich zunehmend in Werken, die ihre formalen Eigenschaften und ihren Wert der Struktur und damit der Geschichte des Feldes verdanken, und also werden auch zunehmend die Interpretationen disqualifiziert, die meinen, sie dürften von dem, was in der Welt geschieht, direkt auf das ›kurzschließen‹, was in diesem Feld geschieht.51 50 Joseph Witek: »Imagetext, or, Why Art Spiegelman Doesn’t Draw Comics«, in: ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies 1 (2004), Nr. 1, URL: http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v1_1/witek, Datum des Zugriffs: 6.1.2009. 51 P. Bourdieu: »Für eine Wissenschaft von den kulturellen Werken«, S. 71.

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Genealogie der autobiografischen Graphic Novel Da folglich der Grund zur Praxis der Selektion in einem Bruch innerhalb der Feldgeschichte liegt, hat die diskursive Konstruktion einer kontinuierlichen Geschichte immer einen paradoxen Effekt auf die Autonomisierung des Feldes: Einerseits dient sie der Selektionspraxis der Künstler, die den Sinn für die eigene Geschichte und damit die Autonomie stärkt, andererseits verschleiert sie jedoch zugleich den Bruch innerhalb der eigenen Feldkämpfe, mit dem Autonomisierungstendenzen erst in Gang gebracht wurden. Daraus resultiert im Falle des Comic-Feldes eine schwache Autonomie des Subfeldes symbolischer Produktion, da sich eine Arbeitsteilung von Theoretikern des Diskurses und praktisch arbeitenden Künstlern noch nicht so stark ausdifferenziert hat wie in Feldern legitimer Kunst. Comic-Theorie schwankt daher immer noch zwischen einer Fankultur, welche die Konstruktion einer lang andauernden historischen Kontinuität unter Beweis zu stellen versucht, und der Theorie, die sich besonders besorgt um die legitime Anerkennung ihres Forschungsgegenstandes von der historischen Darstellung abgrenzt, indem sie in übertriebener Adaptation seriös klingender Gelehrsamkeit52 den Comic als semiotisches Zeichensystem jenseits jeglicher sozialer und historischer Kämpfe analysiert, als ginge es um den transzendentalen Comic an sich.53 Damit aber können beide Diskursarten ausgerechnet ihre historische Stellung innerhalb der Kämpfe der eigenen Feldgeschichte nicht mehr erfassen und verlieren an Schlagkraft gegen die immer wieder drohende entdifferenzierende Normalisierung eines durch akademische Institutionen bisher nur gering gestützten Comic-Feldes. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die Entwicklung der autobiografischen Graphic Novel selbst Effekt eines ästhetischen Emanzipationsprozesses gegenkultureller Produktion darstellt, der die soziale und semiotischformale Differenz zwischen symbolischem Markt und Mainstream des Comic-Feldes im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertieft hat.

52 Zu diesem Feldeffekt gering legitimierter Künste vgl. P. Bourdieu: »Die gesellschaftliche Definition der Photographie«, S. 108. 53 Ein gutes Beispiel ist hier der Comic-Künstler Scott McCloud, der mit seinem Buch Comics richtig lesen einerseits sehr wertvolle empirische Beobachtungen zur Verfahrensweise und Herstellung von Comics macht, andererseits aber nicht der Versuchung widerstehen kann, Comics bis auf die Hieroglyphen Ägyptens zurückzuführen und zugleich ein semiotisches System des Bildes aufzustellen, das dann von Mickey Mouse bis Manet Gültigkeit besitzen soll.

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Comics als Literatur. Zur Etablierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton seit 20031 STEPHAN DITSCHKE

Comics hatten es in Deutschland nie leicht. Noch 2005 diagnostiziert Tilman Krause, Autor der Welt-Kolumne »Krauses Klartext«, mit einer kulturpessimistischen Träne im Auge: »Wir sind an dem Punkt angekommen, wo 500 Jahre Wortkultur in Deutschland sich in Comic-Blasen auflösen.«2 Ähnliches war immer wieder zu lesen: Comics wurden lange Zeit fast ausschließlich als genuin triviale, massenkulturelle oder ideologisch verbrämte Kulturprodukte wahrgenommen. Doch Krause hat nicht nur einen in starkem Maße hochkulturell präfigurierten Blick auf das Medium Comic, er hinkt auch dessen allgemeiner Wahrnehmung in der publizistischen Öffentlichkeit hinterher: Spätestens seit ein Trend zum autobiografischen Erzählen mit den Mitteln des Comics ausgemacht wurde, stößt die ›neunte Kunst‹ nicht mehr pauschal auf Ablehnung – und federführend bei der Bekanntmachung des Umstandes, dass der Comic endlich erwachsen geworden sei, war ebenfalls die feuilletonistische Kulturkritik. Als ein wichtiger Wegbereiter dieser Entwicklung kann der große kommerzielle Erfolg der Filmadaptation Spider-Man (2002) gelten, durch den das Superheldengenre eine verstärkte Aufmerksamkeit erlangte, die sich bis heute gehalten hat.3 Superheldengeschichten geraten dabei zumeist als Spiegel der zeitgenössischen soziokulturellen und politischen Verfasstheit von Gesellschaften in den Blick,

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2 3

Der vorliegende Aufsatz ist die erweiterte Fassung eines Artikels, der im Juni 2009 in der Zeitschrift Reddition erschienen ist: Stephan Ditschke: »Comics als Literatur. Zur Etablierung des Comics im Feuilleton seit 2003«, in: Reddition (2009), H. 49/50, S. 92-98. Tilman Krause: »Intellektuelle Spießer«, in: Die Welt, 28.5.2005. Vgl. z.B. »Aus der Schmuddelecke in die Beletage« (o.V.), in: buchreport express (20.5.2009), H. 21, S. 14.

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Stephan Ditschke insofern sie »vom Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Masse, von politischer Unterdrückung, Arbeitsbeziehungen, ökologischen Katastrophen«4 erzählen. Es finden jedoch v.a. Berichte über die Filmadaptationen ihren Weg in die Feuilletons. Die Comic-Serien, die den Verfilmungen zugrunde liegen, werden ansonsten fast immer nur dann erwähnt, wenn es um die aktuelle Marktlage einer spezifischen Serie oder im Comic-Segment allgemein geht.5 Trotzdem ist auch die Anzahl der Rezensionen einzelner ComicBände in den Feuilletons der meinungsführenden überregionalen Zeitungen6 in Deutschland stark angestiegen, wenn auch nicht die Zahl der Besprechungen von Superheldencomics.7 Zwar gab es

4 5 6

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Sabine Horst: »Lasst doch einfach alles raus!«, in: Die Zeit, 10.7.2008. Vgl. exemplarisch hierzu Stefan Pannor: »Sinkende Auflage: Spider-Man opfert seine Ehe«, in: Die Welt, 4.1.2008. Hierzu zähle ich Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau, Die Welt, die tageszeitung sowie die Neue Zürcher Zeitung. Letztere werde ich berücksichtigen, weil es sich bei der Neuen Zürcher Zeitung um eine deutschsprachige Tageszeitung mit internationalem Renommee handelt. Nicht aufgenommen habe ich z.B. die Bild, die keinen eigens feuilletonistisch ausgerichteten Zeitungsteil hat. Verleger Dirk Rehm (Reprodukt) hält im Interview mit der Buchbranchenzeitschrift buchreport fest: »[V]on der Aufmerksamkeit, die die Superheldenverfilmungen derzeit haben, profitiert unser Programm – das eher eine Nähe zur Belletristik aufweist – natürlich nicht«. D. Rehm: »Der Buchhandel ist nur schwer zu erobern«, in: buchreport online (23.7.2008), URL: http:// www.buchreport.de/nachrichten/verlage/verlage_nachricht/datum/2008/0 7/23/der-buchhandel-ist-nur-schwer-zu-erobern.htm, Datum des Zugriffs: 26.7.2008. Ich glaube, dass es zwar keine hinreichenden Belege für einen direkten Zusammenhang zwischen Verfilmungen von Superheldencomics und dem Verkaufserfolg von als literarisch gehandelten Comics gibt, wohl aber ein Zusammenhang von Superheldenfilmen und der Aufmerksamkeit für das Medium Comic im Allgemeinen besteht. Zudem scheint die Positionierung z.B. von Comic-Biografien als ›literarisch‹ oppositionell zur Konjunktur des genuin populärkulturellen Superheldengenres zu erfolgen. So formuliert etwa Christian Weiß unter dem Titel »Der Tod der Superhelden«: »Neue Helden im Comic-Universum. Statt Superman und Hulk heißen sie nun Johnny Cash und Che Guevara. [...] Sie retten nicht mehr die Welt, sondern erzählen ihre eigene Geschichte«. Christian Weiß: »Der Tod der Superhelden«, in: stern.de (21.7.2008), URL: http://www.stern.de/unterhaltung/ buecher/631402.html, Datum des Zugriffs: 22.7.2008. Solche u.ä. Äußerungen geben zumindest Grund zur Vermutung, dass die Aufmerksamkeit der Kulturjournalisten für Comics umfassender ist und den Bereich der Filmadaptationen mit einschließt. Sie legen außerdem nahe, dass der erste Schritt einer Positionierung bestimmter Comics als ›literarisch‹ (und damit im literarischen Feld) in der Abgrenzung zu einem als heteronom bestimmten Gegenstand des Ursprungsfeldes, hier also aus dem Feld der Comic-

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Comics als Literatur auch zuvor immer wieder vereinzelte Rezensionen von Comics in den Feuilletons, 2003/2004 lässt sich jedoch ein Einschnitt beobachten: Beginnend mit der Veröffentlichung der deutschsprachigen Übersetzung von Marjane Satrapis Persepolis (Edition Moderne 2004f.) und Craig Thompsons Blankets (Speed 2004), vermutlich außerdem durch die Publikation von Joe Saccos Palästina (Zweitausendeins 2004) und flix’ held (Carlsen 2003) wurde der Diskurs über Comics in mehrfacher Weise an den Diskurs über Literatur angeschlossen.8 Die Anzahl der Rezensionen von Comics in den Feuilletons wuchs dadurch vor ungefähr fünf Jahren zunächst sprungartig an und blieb anschließend bis heute konstant. Aber weshalb und in welcher Weise war es möglich, den Diskurs über Comics an den feuilletonistischen Diskurs über Literatur anzuschließen?9

1. Die Rede über Literatur Es gibt insbesondere in der Literaturwissenschaft eine Vielzahl von Bemühungen, den Begriff »Literatur« zu definieren.10 Zumeist wird dabei versucht, eine Reihe von Merkmalen anzugeben, aufgrund derer sich verbale Äußerungen, fast immer Texte, als Literatur klassifizieren lassen. Dass die Debatte um die richtige Definition des Begriffs »Literatur« andauert, seit überhaupt von Literatur gesprochen wird, ist ein Indiz dafür, dass es entweder keine richtige Definition von »Literatur« gibt, diese äußerst schwer zu finden ist oder nur sehr allgemein ausfallen kann. Voraussetzung für den Anschluss des Diskurses über Comics an den Diskurs über Literatur ist jedoch die Tatsache, dass die Verwendung des Begriffs »Literatur« im literaturkritischen Diskurs fast

produktion bestand. Vgl. hierzu auch Brigitte Preissler: »Ein Genre macht ernst«, in: Die Welt, 19.2.2005. 8 Im Rahmen einer Rückschau zum Comic-Salon in Erlangen 2004 finden die vier zeitnah erschienenen Bände gemeinsam in der F.A.Z. eine besondere Beachtung. Vgl. Marc Degens: »Zugkraft auf neuen Gleisen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.6.2004. 9 Weil es hier um die Mechanismen der feuilletonistischen Literarisierung von Comics geht, beschränke ich mich zur Beantwortung dieser Frage auf den Zeitraum 2003/2004 von bis Anfang 2009, beginnend mit der starken quantitativen Zunahme an Comic-Rezensionen in besagten Feuilletons. Wollte man Kontinuitäten und Brüche in der Rede über Comics belegen, müsste man natürlich einen größeren Zeitraum betrachten. 10 Die aktuelle Debatte lässt sich nachvollziehen anhand von Jürn Gottschalk/Tilman Köppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, Paderborn: mentis 2006.

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Stephan Ditschke immer auch eine wertende ist: Was als Literatur und damit als gut oder schlecht, gelungen oder misslungen gilt, wird in der literaturkritischen Praxis ausgehandelt. Zwar berufen sich auch Literaturkritiker implizit oder explizit immer auf bestimmte Kriterien, um einem Werk zu- oder abzusprechen, dass es sich bei ihm um Literatur handele, die Praxis zeigt jedoch, wie ›weich‹ diese Kriterien sind: Häufig sehen Kritiker ganz unterschiedliche Kriterien erfüllt, und die Merkmale, die ihrer Meinung nach dazu führen, dass es sich bei einem Werk um Literatur handelt, weichen voneinander ab oder widersprechen sich gar. Der zumindest implizit ununterbrochen geführte Diskurs über die Frage, was Literatur ist, erlaubt deshalb, ganz unterschiedliche Dinge als »Literatur« zu bezeichnen: Inzwischen ist die Rede von ›literarischem Rap‹, Ausschnitte aus Zeitungsartikeln können als Literatur verstanden werden11 – und Comics ebenso. Ob sich die Bezeichnung dieser Gegenstände als Literatur durchsetzt, ist – mit Pierre Bourdieu gesprochen – das Ergebnis von »Definitionskämpfen«,12 deren Voraussetzung (und auch wiederum Ergebnis) die besagte Unschärfe des Begriffs »Literatur« ist.

2. Wegbereiter der Wahrnehmung von Comics als Literatur Da es sich bei Comics um eine hybride, intermediale Kunstform handelt, lässt sich der Diskurs über Comics an mehrere andere anschließen. Je nach Perspektive wird der Fokus mehr auf die Nähe zur bildenden Kunst, zur Literatur oder zum Film gelegt.13 In den überregionalen Zeitungen werden Comics besonders dann in die Nähe der bildenden Kunst gerückt, wenn es um ihren Einfluss14 oder Blick15 auf die bildende Kunst, Modedesign u.Ä. oder um den

11 So bereits Peter Handkes Gedicht »Bei uns zu Gast«, in: Ders.: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969, S. 39. 12 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. Bernd Schwibs/Achim Russer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 353. 13 So betrachtet z.B. der Regisseur Christian Petzold in seiner Kolumne in der Filmzeitschrift Cargo Comics v.a. durch die Brille eines Filmschaffenden. 14 Vgl. z.B. Adrienne Braun: »Umpf, piffpaff, pong. Die Staatsgalerie Stuttgart untersucht den Einfluss von Cartoons und Comics auf die zeitgenössische Kunst«, in: Süddeutsche Zeitung, 9.12.2004. 15 Vgl. z.B. »Cartoons im Louvre« (o.V.), in: Der Spiegel (19.1.2009), H. 4, S. 118.

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Comics als Literatur Verkauf von Originalzeichnungen geht: »Tim ist teuer«,16 heißt es dann, und es wird gefragt: »Warum kosten Comics mehr als ein paar Peanuts?«17 Wie kam es jedoch zum Anschluss an den Diskurs über Literatur, der sich seit 2003/2004 verstärkt vollzieht? Neben der Tatsache, dass Populärkultur im Allgemeinen schon seit Längerem nicht mehr als verrucht, sondern als schick gilt, lassen sich mehrere Faktoren als Wegbereiter dafür anführen, dass von Comics als Literatur oder in ähnlicher Weise wie über Literatur gesprochen wird: Erstens wurden Comics nach der Jahrtausendwende häufiger und umfassender als zuvor in Literatur thematisiert, und zwar von Autoren, die bereits im literarischen Feld etabliert waren. Während bislang v.a. der umgekehrte Weg eingeschlagen wurde, mit den Mitteln des Comics also ›literarische Stoffe‹ adaptiert wurden, werteten z.B. die mit Comics aufgewachsenen Autoren Michael Chabon (Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay, Kiepenheuer & Witsch 2002) und Jonathan Lethem (besonders in Die Festung der Einsamkeit, Tropen 2004) das Medium auf, indem sie nicht nur von der sozialen Wirksamkeit von Comics erzählten, sondern sie durch ihre Einbindung in Romane, die von den Kritikern als Literatur gehandelt wurden, gleichsam adelten.18 Die Aufmerksamkeit der Literaturkritiker zieht außerdem die Einbindung von Comic-Elementen in erzählender Literatur auf sich – etwa in Thomas von Steinaeckers Romanen Wallner beginnt zu fliegen (Frankfurter Verlagsanstalt 2007) und Geister (ebd. 2008) oder María Cecilia Barbettas Änderungsschneiderei Los Milagros (S. Fischer 2008).19 Eine ähnliche Wirkung hat es, wenn Belletristik-Autoren sich dem Medium zuwenden und beginnen, Comics zu schreiben (etwa Fred Vargas’ Das Zeichen des Widders [Aufbau 2008] und Jonathan Lethems Neufassung von Omega the Unknown [Marvel 2008]).

16 Andreas Platthaus: »Tim ist teuer«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.4.2008. 17 Kai Biermann: »Warum kosten Comics mehr als ein paar Peanuts?«, in: ZEITmagazin Leben (20.9.2007), H. 39, S. 56. 18 Ein früheres Beispiel ist Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (Viking 1973), ein jüngeres Junot Díaz’ Roman Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao (S. Fischer 2009), der ebenso wie Chabons Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay den Pulitzer-Preis gewonnen hat. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. 19 Barbetta thematisiert Superheldencomics in ihrem Roman, außerdem bindet sie neben vielen anderen Bildern, die mit Comics nichts zu tun haben, das Cover eines Wonder Woman-Hefts ein – und genau dieses Bild findet Beachtung in der Literaturkritik. Vgl. Verena Auffermann: »Das Matriarchat an der Macht«, in: Literaturen (2008), H. 12, S. 34f.

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Stephan Ditschke Die letztgenannte Entwicklung verweist bereits auf einen zweiten wichtigen Faktor: Noch immer vereinzelt, aber insgesamt in zunehmendem Maße publizieren deutsche Publikumsverlage wie S. Fischer, Kiepenheuer & Witsch und Aufbau Comics. Da diese breit aufgestellten Verlage oftmals über engere und wesentlich mehr Pressekontakte verfügen als Comic-Verlage, werden in der Folge mehr Journalisten auf die betreffenden Comics aufmerksam. Zudem sind in diesen Fällen Comics in das literarische Programm der Verlage eingebunden, wodurch die journalistische Wahrnehmung ebenfalls beeinflusst wird. Ein dritter Faktor, der den Blick auf Comics als Literatur beeinflusst hat, sind die Comic-Bibliotheken, die F.A.Z. und Bild im Jahr 2005 herauszugeben begonnen haben, vermutlich angeregt durch den großen Verkaufserfolg der SZ-Bibliothek. Insbesondere die F.A.Z. zielte mit dem Namen der Sammlung, Klassiker der Comic-Literatur, auf eine Positionierung der vertretenen Comics als Literatur. Gestützt wird diese Positionierung auch durch die Presseinformation zur Reihe, in der es heißt: »Längst haben sich Comics und Mangas zu einer ernstzunehmenden Kunstform entwickelt«,20 und die F.A.Z. werde den Lesern die »Meilensteine der Comic-Literatur«21 präsentieren. Ein weiterer wichtiger Wegbereiter der Wahrnehmung von Comics als Literatur ist der Umstand, dass immer mehr Comics längere abgeschlossene und für sich stehende Erzählungen sind und nicht mehr als Teil einer Serie publiziert werden. Dies erlaubt den leichteren Anschluss an die literaturkritische Praxis, in deren Augen sich Literatur typischerweise in abgeschlossenen Werken realisiert. Zwar erscheinen besonders in den USA viele der als ›Graphic Novels‹ gehandelten Comics noch immer zunächst in Heftform oder – häufig bedingt durch den langwierigen Produktionsprozess der Künstler – in mehreren kürzeren Bänden. In anderssprachigen Lizenzausgaben werden diese jedoch meistens zusammengefasst und so der Werkcharakter des betreffenden Comics betont.

3. Wie Comics zu Literatur gemacht werden Nimmt man die meinungsführenden überregionalen Zeitungen für den Zeitraum von Ende 2003 bis Anfang 2009 in den Blick, so fällt 20 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH: »F.A.Z.-Bibliothek Meilensteine der Comic-Literatur«, in: faz.net (2.5.2005), URL: http://www.faz.net/s/Rub 73A1F344BDB442A0AAEE9CC28AD52D60/Doc~EADF2F2BC8A6A49B6A 3C6CA6284791F58~ATpl~Ecommon~Scontent.html, Datum des Zugriffs: 8.2.2009. 21 Ebd.

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Comics als Literatur schnell auf, dass jene Artikel, die sich mit Comics beschäftigen, fast immer auf den Literaturseiten der betreffenden Zeitung platziert sind, wahrscheinlich bedingt durch die Buchform. Bereits der Publikationsort der Comic-Kritiken lenkt die Wahrnehmung des Zeitungslesers: Wenn Comics auf der Literaturseite besprochen werden, umgeben von Literatur-Rezensionen, dann – so wird nahegelegt – muss es sich bei Comics ebenfalls um eine Form von Literatur handeln. Zum Anschluss an den literarischen Diskurs kommt es aber natürlich nicht nur durch den Publikationsort, sondern v.a. durch die inhaltliche Ausrichtung der Rezensionen. Allgemein lässt sich festhalten, dass besprochene Comics fast ausschließlich positiv beurteilt werden; die Zuschreibung von Literarizität – so scheint es – geht bei Comics anders als bei ›normaler Literatur‹ mit einer positiven Beurteilung einher. Dies kann als Anzeichen dafür gewertet werden, dass Comics noch nicht völlig im Feuilleton etabliert sind: Nur die für würdig befundenen Ausnahmen finden Beachtung – und solche Bände, die wie die o.g. Comics Persepolis und Blankets zu Bestsellern werden oder Preise und sonstige Würdigungen erhalten, die sonst nur belletristischer Literatur zugesprochen werden.22 Ihren Ausdruck findet die Wahrnehmung von Comics als Literatur zunächst einmal in der expliziten Zuschreibung von Literarizität, in der Rede von »literarischen Comics«.23 Implizit geschieht dies zudem, wenn ein Zusammenhang des betreffenden Comics mit einer literarischen Gattung hergestellt wird, also z.B. von Jeffrey Browns Comics als »Comic-Romanen«24 oder von Persepolis als einer Ansammlung von »Kurzgeschichten«25 gesprochen wird. Solche Befunde gehen häufig mit der Aussage einher, dass die besprochenen Bände »untypisch für das Comic-Genre«26 seien. So würde man z.B. nur am Anfang der Lektüre von flix’ held merken, dass es sich dabei um einen Comic handelt, »dann wird er zum Roman«.27 Mit solchen u.ä. Feststellungen wird nahegelegt, dass es sich bei den betreffenden Comics nicht ausschließlich um massen22 So hat z.B. Art Spiegelman 1992 mit Maus (zuerst Rowohlt 1989, 1992) den Pulitzer-Preis gewonnen, Chris Ware für Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth 2001 den renommierten First Book Award des Guardian erhalten und Alison Bechdels Fun Home wurde als erster Comic vom Time Magazine im Jahr 2006 zum Buch des Jahres gewählt. 23 B. Preissler: »Ein Genre macht ernst«. 24 Christian Gasser: »Aufrichtig, einfach, unmittelbar«, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.2.2005. 25 Hilal Sezgin: »Kleines Plus«, in: Frankfurter Rundschau, 8.6.2005. 26 Dirk Feitz: »Männerphantasien in Tusche«, in: Süddeutsche Zeitung, 2.6.2004. 27 Konrad Heidkamp: »Büchertisch«, in: Die Zeit, 8.1.2004.

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Stephan Ditschke kulturelle Produkte handelt, die der Unterhaltung dienen: Als Literatur gehandelten Comics gelingt nach Ansicht ihrer Rezensenten der »Spagat zwischen alternativer Szene und Mainstream«,28 sie »lassen sich zudem als Aufstand gegen die Übermacht der bunt kostümierten Helden begreifen, die in den USA seit Jahrzehnten den Markt dominieren«29 – um erneut mit Bourdieu zu sprechen: Die Comic-Kritik konstruiert ein autonomes Feld der Comic-Kunstproduktion (E-Kultur), das dem heteronomen Feld des Comic-Mainstreams gegenübersteht (U-Kultur),30 denn – so Brigitte Preissler – »immer öfter zeigt der ›Comic‹, daß er auch ein ›Earnest‹ sein kann«.31 Wenn die ›literarischen Comics‹ nicht dem autonomen Teilfeld der Comic-Produktion zugerechnet werden, so werden sie also zumindest als Spagat zwischen beiden angesehen – womit vom Feld der Comic-Produktion eine ähnliche Struktur behauptet wird, wie sie auch das Feld der literarischen Produktion aufweist. (Inwieweit dies auf das Feld der Comic-Produktion tatsächlich zutrifft, sei dahingestellt.) Eine strukturelle Homologie der beiden Bereiche künstlerischer Produktion suggeriert auch der Vergleich von ComicKünstlern mit Autoren belletristischer Texte, etwa von Will Eisner mit Dickens, Flaubert und Dostoevskij32 oder von Line Hoven mit Julia Franck.33 Die Comics der betreffenden Künstler werden so in die Nähe der literarischen Texte genannter Autoren gerückt.34 Einen ähnlichen Effekt zeitigt die Tatsache, dass es sich bei Comics um ein erzählendes Medium handelt. Hierdurch greifen bei der kritischen Beurteilung narrativer Aspekte dieselben Kriterien wie bei erzählender Literatur und es wird auf dieselben Metaphern für Erzählweisen zurückgegriffen: So beschreibt Christian Gasser Daniel Clowes’ Ice Haven (Pantheon 2005) als »ungemein dichten neuen Roman«,35 und er erkennt in Gipis Comic 5 Songs (Avant

28 Christian Gasser: »Entwicklungslinien«, in: Neue Zürcher Zeitung, 31.1.2006. 29 Christoph Haas: »Das Ich unter der Löwenmaske«, in: Süddeutsche Zeitung, 24./25.11.2007. 30 Vgl. P. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 344. 31 B. Preissler: »Ein Genre macht ernst«. 32 Dietmar Dath: »Mit der Zeichnerhand die Lüge töten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.2005. 33 Thomas Lindemann: »Leben in dunklen Strichen«, in: Die Welt, 9.12.2007. 34 Die Nähe zur belletristischen ›Hochliteratur‹ wird auch durch Essaysammlungen wie die folgende hervorgehoben: Jeet Heer/Kent Worcester (Hg.): Arguing Comics. Literary Masters on a Popular Medium, Jackson: University Press of Mississippi 2004. 35 Christian Gasser: »Kaleidoskop des Mittelmaßes«, in: Neue Zürcher Zeitung, 27.10.2005.

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Comics als Literatur 2007) »dank seiner konzisen Erzählweise und der glaubhaften Charakterisierung seiner Figuren eine hohe inhaltliche Dichte und Vielschichtigkeit«;36 Matthias Nass betont aus vergleichbaren Gründen die »Wahrheit der Schilderung«37 in Satrapis Persepolis. Zum Bezug auf die grafischen Elemente besprochener Comics kommt es oft nur, um solche Einschätzungen zu bekräftigen; selten bildet die Problematisierung des zeichnerischen Stils den Ausgangsoder Mittelpunkt einer feuilletonistischen Beschäftigung mit Comics – und fast nie die Frage danach, welche Funktion das genuine narrative Mittel des Comics trägt, die Panelstruktur. Letzteres mag auch darin begründet liegen, dass für illustrierende Abbildungen auf den Zeitungsseiten nicht immer Platz ist. Gleichzeitig zeigen aber z.B. Andreas Platthaus’ Rezensionen, dass nur eine adäquate Form der Beschreibung gefunden werden müsste.38 Vorraussetzung dafür, dass Comics die Beachtung der Rezensenten finden, ist stets, dass sie eine (längere) Geschichte erzählen. Der zentrale inhaltliche Anschlusspunkt an Literatur ist jedoch die Beschäftigung der Comic-Künstler mit ›ernsthaften‹ Themen – und zwar gerade solchen, die Comics nach Meinung der Rezensenten besser behandeln können als belletristische Literatur. Es haben sich besonders zwei Genres durchsetzen können: die Autobiografie und Comics mit wissensvermittelnder, »politisch-gesellschaftlicher Ausrichtung«39. Vorreiter bei der Publikation von Vertretern beider Genres war der Verlag Reprodukt. Andere Verlage, darunter auch der Branchenriese Carlsen, orientierten sich nach dem Erfolg von Persepolis, einem Comic, der auch in der Presse als Verbindung beider Genres wahrgenommen wurde, in dieser Richtung: »Obwohl Persepolis autobiographisch-literarisch angelegt ist, bewähren sich darin durch den scharfen Blick auf den Iran die Sachbuchqualitäten des Comics.«40 Ähnlich ausgerichtet sind Comic-Reportagen wie Guy Delisles Pjöngjang (Reprodukt 2007) oder Joe Saccos Palästina, in denen Wissen über andere Kulturkreise durch das subjektive Erleben der Comic-Schaffenden vermittelt wird. Aus verwandten Gründen – weil sie Geschichtswissen vermitteln – finden auch Mangas wie Keiji Nakasawas Barfuß durch Hiroshima (Carlsen 2004f.) oder Osamu Tezukas Adolf (Carlsen 2005f.) sowie Jason Lutes’ Berlin-Reihe (Carlsen 2003, 2008) Beachtung. Die Wirksamkeit von »Comics als Me36 Christian Gasser: »Krieg ohne Helden«, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.3.2007. 37 Matthias Nass: »Rebellin unterm Kopftuch«, in: Die Zeit, 29.4.2004. 38 Ein gutes Beispiel hierfür ist Andreas Platthaus: »Der Befreiungsschlag«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.5.2007. 39 B. Preissler: »Ein Genre macht ernst«. 40 Ebd.

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Stephan Ditschke dium der Volksbildung«41 bescheinigt Thomas Lindemann auch gezeichneten Biografien, hier Elvis (Ehapa 2007), und im Fall von Martin Luther King (Carlsen 2008) sieht er eine Leistung erbracht, »die manchem Buch und mancher TV-Dokumentation nicht gelingt«.42 Ein anderer anschlussfähiger Themenkomplex, für den der Comic »als Spiegel der Erfahrung funktioniert«,43 scheint die Problematisierung von Krankheiten zu sein, so etwa von Epilepsie (Die heilige Krankheit von David B., Edition Moderne 2006f.), HIV (Frederik Peeters’ Blaue Pillen, Reprodukt 2006) oder Depression (Paul Hornschemeiers Komm zurück, Mutter, Carlsen 2007). – Das Feld der autobiografischen und kritisch-wissensvermittelnden Comic-Erzählungen hat sich ausdifferenziert. Nicht zuletzt aufgrund der stark angewachsenen Zahl von Comics, die diese Merkmale erfüllen, lässt sich mit Christoph Haas folgern: »Allein mit der Zurschaustellung des Intimen werden autobiographische Comics in Zukunft kein Aufsehen mehr erregen können«,44 sodass ›Comic-Romanen‹, die gleichzeitig narrative Konventionen der Genres und des Comics im Allgemeinen brechen, eine immer größere Bedeutung zukommen wird. Während zum einen Comics als Literatur bewertet werden, wird das Verhältnis von Comics und Literatur zum anderen auch theoretisch hinterfragt. Auch bei dieser dank ihres scheinbar deskriptiven Charakters noch weitaus wirksameren Form, den Diskurs über Comics an jenen über Literatur anzuschließen, sind deskriptive und evaluative Äußerungen nicht selten ineinander verwoben. So konstatiert Michael Schleicher noch mit Rodolphe Töpffer: »Es ist möglich, Geschichten in Kapiteln, Zeilen und Worten zu schreiben: das nennen wir dann Literatur im eigentlichen Sinn. Es ist möglich, Geschichten in einer Abfolge von Szenen zu schreiben, die graphisch dargestellt werden: das ist dann graphische Literatur.«45 Matthias Heine geht weiter und stellt die These auf, »dass im Comic grundsätzlich alle Formen möglich sind, die auch in der Literatur existieren«.46 Cordula Gerndt hält in ihrer Rezension von Persepolis bereits fest, dass »ein durch und durch schwarzes Bild mehr als tausend Worte«47 sagen könne, während Matthias Nass diesbezüglich meint, Satrapi hätte mit Persepolis »ein neues literarisches Genre begrün-

41 Thomas Lindemann: »Zehn Gesichter des Königs«, in: Die Welt, 16.8.2007. 42 Thomas Lindemann: »Blitzlichter ins Leben eines Revolutionärs«, in: Die Welt, 3.4.2008. 43 Th. Lindemann: »Leben in dunklen Strichen«. 44 Chr. Haas: »Das Ich unter der Löwenmaske«. 45 Michael Schleicher: »Das Grauen in den Augen«, in: Die Welt, 16.7.2005. 46 Matthias Heine: »Gegen Schwarzweißbilder!«, in: Die Welt, 12.6.2004. 47 Cordula Gerndt: »Unter dem Schleier: Ich«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.9.2006.

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Comics als Literatur det«.48 Peter Rudkowski hingegen bemüht im medialen Kampf um die Aufmerksamkeit der Leser gar das schon häufig beschworene Ende der Literatur – durch die Comics: »Wer seine literarische Aufmerksamkeit über Genregrenzen hinausschweifen lässt, wird wohl gemerkt haben in den vergangenen Jahren: Das geschriebene Wort allein macht’s nicht mehr.«49

4. Das Label »Graphic Novel« Eine besondere Bedeutung bei der Literarisierung von Comics durch das Feuilleton kommt dem Label »Graphic Novel« zu, das bis 2003/2004 in deutschsprachigen Zeitungen nur äußerst selten verwendet wurde. Üblicherweise wird Will Eisners A Contract with God (Baronet 1978) als erste ›moderne Graphic Novel‹ gehandelt, Eisner selbst als »Erfinder der grafischen Literatur«.50 Grund hierfür ist das Zusammenwirken mehrerer Umstände: So erschien der Comic nicht zunächst als Heft oder Zeitungsstrip, sondern gleich in Buchform. Außerdem bezeichnete der berühmte Comic-Künstler selbst sein Werk als »Graphic Novel«.51 Am wichtigsten war jedoch vermutlich, dass die zeitgleich zum Hardcover veröffentlichte Paperbackausgabe des insbesondere in der Branche viel beachteten Comics das Label auf dem Cover trug. Populär wurde die Bezeichnung »Graphic Novel«, als Art Spiegelman 1992 für Maus mit dem Pulitzer-Preis bedacht wurde. Während der Begriff zunächst eingeführt wurde, um zu betonen, dass der betreffende Comic ähnlich umfangreich wie ein Roman ist und eine abgeschlossene Geschichte erzählt, hat sich die Verwendung des Terminus »Graphic Novel« schnell gewandelt. Gerade im deutschsprachigen Raum wird er normalerweise benutzt, um die Literarizität eines Comics zu behaupten und darauf hinzuweisen, dass es sich bei den erzählten Geschichten um solche mit ernsthaftem Anspruch handelt. Inzwischen haben aber sowohl Feuilletonisten als auch Verlage die Verwendung des Labels ausgeweitet, vermutlich weil das Publikum darauf anspricht und dank der Bezeichnung »Graphic Novel« leichter für Comics zu begeistern ist: 48 M. Nass: »Rebellin unterm Kopftuch«. 49 Peter Rutkowski: »Kniff Bumm Bäng«, in: Frankfurter Rundschau, 14.10.2008. Charles McGrath stellt mit ähnlichem Duktus im New York Times Magazine die folgende These auf: »Comic books are what novels used to be – an accessible vernacular form with mass appeal«, Charles McGrath: »Not Funnies«, in: The New York Times Magazine, 11.7.2004. 50 Holger Kreitling: »Revolution ist machbar«, in: Die Welt, 5.1.2006. 51 Dokumentiert etwa in Jon B. Cooke/Will Eisner: »A Spirited Relationship«, in: Comic Book Artist (1999), H. 4, S. 100-102.

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Stephan Ditschke »Die Graphic Novel, der ernste Comic-Roman für Erwachsene, ist so populär und gut wie nie«,52 resümiert Thomas Lindemann. »Graphic Novel« ist – wie Jason Lutes auch für die amerikanische ComicLandschaft konstatiert – »ein nützlicher Marketingbegriff, den manche Verleger benutzen, um Comics an ein bestimmtes Publikum zu verkaufen«.53 Aus diesem Grund werden immer häufiger auch solche Comics mit dem Label versehen, die zum Zeitpunkt ihrer Ersterscheinung nicht als Graphic Novel galten. Populärstes Beispiel für diese Praxis ist Alan Moores Watchmen, das zuerst in Heftform publiziert wurde und keineswegs als Graphic Novel galt. Aber auch deutsche Comic-Künstler werden dank der Verbreitung des Begriffs zu Verfassern von Graphic Novels ›geadelt‹, so etwa Ralf König auf der Internetseite www.graphic-novel.info.54 Die Verwendung des Begriffs ist auf diese Weise so uneinheitlich geworden, dass er sich als Genrebezeichnung kaum noch eignet.55 Der Verbreitung des Labels »Graphic Novel« dient auch die erwähnte Internetseite, das Blog www.graphic-novel.info. Eingerichtet unter der Federführung von Reprodukt informieren Comic-Verlage hier über aktuelle Rezensionen und werben gleichzeitig für Neuerscheinungen. Es ist zu vermuten, dass die auch in der Buchbranchenpresse angekündigte Internetseite nicht zuletzt konzipiert wurde, damit der Buchhandel aufgrund der allgemeinen Informationen zum Thema Graphic Novels und der hier gebündelt einsehbaren medialen Reaktionen auf neue Veröffentlichungen diese ebenfalls stärker wahrnimmt und die betreffenden Comics vielleicht sogar an prominenterer Stelle in den Buchhandlungen präsentiert oder in höherer Stückzahl einkauft. Dieselbe Strategie wird mit dem Informations- und Werbeflyer unter dem Titel Was sind Graphic Novels? (2008) verfolgt, der kurz vor der Frankfurter Buchmesse für den Buch- und Fachhandel konzipiert wurde: Die von Sascha Hommer gestaltete Vorderseite präsentiert den Versuch einer Definition von »Graphic Novel« (Comics, die sich auch an Erwachsene richten und häufig Comic-Konventionen brechen), auf der Rückseite findet sich Werbung für Comics aus dem Avant Verlag, von Carlsen, der Edition 52, S. Fischer und Reprodukt nebst Vertriebsinformationen. All diese Bemühungen um eine Neu-Etikettierung ernsthafter, längerer Comics haben dazu geführt, dass Graphic Novels nicht nur

52 Th. Lindemann: »Leben in dunklen Strichen«. 53 Brigitte Preissler/Jason Lutes: »Es geht auch ohne Hakenkreuze«, in: Die Welt, 24.10.2008. 54 Christian Maiwald: »Ralf König«, in: Graphic Novel-News (4.2.2009), URL: http://www.graphic-novel.info/?p=1083, Datum des Zugriffs: 19.2.2009. 55 Allerdings ist eine Äquivalenzdefinition des Begriffs »Graphic Novel« prinzipiell nur schwer denkbar.

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Comics als Literatur als das »gute Absatzzahlen verheißende Genre der Zukunft«56 gehandelt werden: »Als Graphic Novels sind Comics Kunst geworden«,57 meint Sabine Horst, und Thomas Lindemann präzisiert: »Die gezeichneten Romane sind nun Literatur.«58

5. »Der gezeichnete Roman erobert den Kulturbetrieb«? 59 Ein kurzer Ausblick Wie dargestellt wurde, führen verschiedene diskursive Verfahren zur Etablierung von Comics als Literatur im deutschsprachigen Feuilleton. Der Diskurs über Comics findet dabei vor dem Hintergrund ihrer allgemein angewachsenen Akzeptanz statt, die Ausdruck in Positionierungshandlungen findet und durch diese wiederum befördert wird: So leistet nicht nur die Comic-Rezeption in ›hochliterarischen‹ Werken ihrer Akzeptanz Vorschub, sondern insbesondere die Veröffentlichung in ›hochliterarisch‹-belletristischen Programmen von Publikumsverlagen sowie die Editionen von F.A.Z. und Bild, in deren Rahmen ›Klassiker‹ gekürt werden, also bestimmten Comics ein Status zugewiesen wird, von dem ausgehend sich das Medium als solches legitimieren lässt. Der Diskurs über Comics wird auf dieser Grundlage mit verschiedenen Diskursstrategien und paratextuellen Signalen an jenen über Literatur angeschlossen. Comics wird einerseits explizit Literarizität zugeschrieben, andererseits werden sie implizit als literarisch markiert: Hier spielen nicht nur der Publikationsort eines Artikels über Comics – etwa auf der Literaturseite einer Zeitung – eine Rolle, sondern auch die Zuordnung von Attributen, die normalerweise mit literarischen oder ›hochliterarischen‹ Texten assoziiert sind. So werden Comic-Erzählungen als »Roman« oder als »Kurzgeschichte« kategorisiert, der Fokus einer Rezension häufig auf abstraktere narrative Verfahren und weniger auf die Bildsprache eines Comics gelegt, außerdem auf Wertmaßstäbe und Begrifflichkeiten rekurriert, die auch der Beurteilung von belletristischen Texten zugrunde liegen. Nicht zuletzt werden Comics ›Lücken‹ im literarischen Feld zugewiesen und damit Genres wie die Comic-Autobiografie oder die ComicReportage in Relation zu belletristischer Literatur im Feld der literarischen Produktion positioniert.

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Frank Schäfer: »Lumpereien des Lebens«, in: die tageszeitung, 16.7.2008. S. Horst: »Lasst doch einfach alles raus!« Thomas Lindemann: »Papa ist schwul, Papa ist tot«, in: Die Welt, 1.3.2008. Stefan Pannor: »Der gezeichnete Roman erobert den Kulturbetrieb«, in: Die Welt, 5.5.2009.

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Stephan Ditschke Die Etablierung der Comics im deutschsprachigen Feuilleton ist sicherlich noch nicht abgeschlossen. Aber auch der Buchhandel reagiert inzwischen auf die breitere Akzeptanz des Mediums und versteckt insbesondere Graphic Novels nicht länger in den häufig nur schwer auszumachenden, bislang auf eine jugendliche Kundschaft ausgerichteten Comic-Ecken:60 »In das schwierige Geschäft mit der sog. Neunten Kunst kommt Bewegung.«61 Und auch wenn im Fall von ›literarischen Comics‹ ebenso wie bei ›Hochliteratur‹ keine unbegrenzte Steigerung der Buchverkäufe möglich scheint, ist es nicht unwahrscheinlich, dass in einiger Zeit auch für den deutschsprachigen Comic-Markt konstatiert werden kann, was Charles McGrath bereits 2004 zu den gestiegenen Verkaufszahlen ›literarischer Comics‹ auf dem nordamerikanischen Markt bemerkte: »These are not top best-seller figures, exactly, but they are sales that any publisher would be happy with«.62 Es ist deshalb zu vermuten, dass sich die fortschreitende Etablierung der Comics als Literatur in der Presse und die Positionierung im Buchhandel gegenseitig stützen werden, sodass die eingeschlagene Entwicklung noch nicht an ihrem Ende ist.

Literatur Auffermann, Verena: »Das Matriarchat an der Macht«, in: Literaturen (2008), H. 12, S. 34f. »Aus der Schmuddelecke in die Beletage« (o.V.), in: buchreport express (20.5.2009), H. 21, S. 14. Biermann, Kai: »Warum kosten Comics mehr als ein paar Peanuts?«, in: ZEITmagazin Leben (20.9.2007), H. 39, S. 56. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. Bernd Schwibs/Achim Russer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Braun, Adrienne: »Umpf, piffpaff, pong. Die Staatsgalerie Stuttgart untersucht den Einfluss von Cartoons und Comics auf die zeitgenössische Kunst«, in: Süddeutsche Zeitung, 9.12.2004. »Cartoons im Louvre« (o.V.), in: Der Spiegel (19.1.2009), H. 4, S. 118. Cooke, Jon B./Eisner, Will: »A Spirited Relationship«, in: Comic Book Artist (1999), H. 4, S. 100-102. Dath, Dietmar: »Mit der Zeichnerhand die Lüge töten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.2005.

60 Vgl. ebd. 61 »Aus der Schmuddelecke in die Beletage« (o.V.). 62 Ch. McGrath: »Not Funnies«.

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Comics als Literatur Degens, Marc: »Zugkraft auf neuen Gleisen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.6.2004. Ditschke, Stephan: »Comics als Literatur. Zur Etablierung des Comics im Feuilleton seit 2003«, in: Reddition (2009), H. 49/50, S. 92-98. Feitz, Dirk: »Männerphantasien in Tusche«, in: Süddeutsche Zeitung, 2.6.2004. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH: »F.A.Z.-Bibliothek Meilensteine der Comic-Literatur«, in: faz.net (2.5.2005), URL: http://www. faz.net/s/Rub73A1F344BDB442A0AAEE9CC28AD52D60/Doc~ EADF2F2BC8A6A49B6A3C6CA6284791F58~ATpl~Ecommon~S content.html, Datum des Zugriffs: 8.2.2009. Gasser, Christian: »Aufrichtig, einfach, unmittelbar«, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.2.2005. Gasser, Christian: »Kaleidoskop des Mittelmaßes«, in: Neue Zürcher Zeitung, 27.10.2005. Gasser, Christian: »Entwicklungslinien«, in: Neue Zürcher Zeitung, 31.1.2006. Gasser, Christian: »Krieg ohne Helden«, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.3.2007. Gerndt, Cordula: »Unter dem Schleier: Ich«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.9.2006. Gottschalk, Jürn/Köppe, Tilman (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, Paderborn: mentis 2006. Haas, Christoph: »Das Ich unter der Löwenmaske«, in: Süddeutsche Zeitung, 24./25.11.2007. Handke, Peter: »Bei uns zu Gast«, in: Ders.: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969, S. 39. Heer, Jeet/Worcester, Kent (Hg.): Arguing Comics. Literary Masters on a Popular Medium, Jackson: University Press of Mississippi 2004. Heidkamp, Konrad: »Büchertisch«, in: Die Zeit, 8.1.2004. Heine, Matthias: »Gegen Schwarzweißbilder!«, in: Die Welt, 12.6.2004. Horst, Sabine: »Lasst doch einfach alles raus!«, in: Die Zeit, 10.7.2008. Krause, Tilman: »Intellektuelle Spießer«, in: Die Welt, 28.5.2005. Kreitling, Holger: »Revolution ist machbar«, in: Die Welt, 5.1.2006. Lindemann, Thomas: »Zehn Gesichter des Königs«, in: Die Welt, 16.8.2007. Lindemann, Thomas: »Leben in dunklen Strichen«, in: Die Welt, 9.12.2007. Lindemann, Thomas: »Papa ist schwul, Papa ist tot«, in: Die Welt, 1.3.2008.

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Stephan Ditschke Lindemann, Thomas: »Blitzlichter ins Leben eines Revolutionärs«, in: Die Welt, 3.4.2008. Maiwald, Christian: »Ralf König«, in: Graphic Novel-News (4.2.2009), URL: http://www.graphic-novel.info/?p=1083, Datum des Zugriffs: 19.2.2009. McGrath, Charles: »Not Funnies«, in: The New York Times Magazine, 11.7.2004. Nass, Matthias: »Rebellin unterm Kopftuch«, in: Die Zeit, 29.4.2004. Pannor, Stefan: »Sinkende Auflage: Spider-Man opfert seine Ehe«, in: Die Welt, 4.1.2008. Pannor, Stefan: »Der gezeichnete Roman erobert den Kulturbetrieb«, in: Die Welt, 5.5.2009. Platthaus, Andreas: »Der Befreiungsschlag«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.5.2007. Platthaus, Andreas: »Tim ist teuer«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.4.2008. Preissler, Brigitte: »Ein Genre macht ernst«, in: Die Welt, 19.2.2005. Preissler, Brigitte/Lutes, Jason: »Es geht auch ohne Hakenkreuze«, in: Die Welt, 24.10.2008. Rehm, Dirk: »Der Buchhandel ist nur schwer zu erobern«, in: buchreport online (23.7.2008), URL: http://www.buchreport.de/nach richten/verlage/verlage_nachricht/datum/2008/07/23/der-bu chhandel-ist-nur-schwer-zu-erobern.htm, Datum des Zugriffs: 26.7.2008. Rutkowski, Peter: »Kniff Bumm Bäng«, in: Frankfurter Rundschau, 14.10.2008. Schäfer, Frank: »Lumpereien des Lebens«, in: die tageszeitung, 16.7.2008. Schleicher, Michael: »Das Grauen in den Augen«, in: Die Welt, 16.7.2005. Sezgin, Hilal: »Kleines Plus«, in: Frankfurter Rundschau, 8.6.2005. Weiß, Christian: »Der Tod der Superhelden«, in: stern.de (21.7.2008), URL: http://www.stern.de/unterhaltung/buecher/ 631402.html, Datum des Zugriffs: 22.7.2008.

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Literatur-Comics zwischen Adaptation und kreativer Transformation MONIKA SCHMITZ-EMANS

Der Begriff der Hybridität ist vor einiger Zeit zu einem kulturtheoretischen Kern- und Schlüsselbegriff avanciert und wird auf eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene bezogen. Er entstammt dem landwirtschaftlichen und gartenbaulichen Bereich; von »Hybridisierung« spricht man hier, wenn durch Aufpfropfung einer Pflanze auf eine andersartige eine neue Variante erzeugt wird.1 Als »hybrid« bezeichnet wird dementsprechend, was aus Verschiedenartigem zusammengesetzt, respektive von heterogener Herkunft ist und durch Prozesse der Kreuzung oder Durchmischung entstand. Da der Comic aus Text- und Bildanteilen zusammengesetzt ist, könnte man ihn als hybride Gattung bezeichnen. Immerhin bringt dieser Begriff zum Ausdruck, dass hier nicht einfach zweierlei addiert wird, sondern etwas Neues entsteht. Neben dieser aus dem biologischen Diskurs stammenden Metapher wäre an eine weitere zu denken, um die Spezifik des Comics als einer (nicht bloß additiven) Text-Bild-Kunst zu charakterisieren: In die lebhafte Diskussion, die im Zusammenhang mit dem vielfach proklamierten iconic turn über die Beziehung zwischen Sprachlichkeit und Bildlichkeit geführt worden ist, hat W.J.T. Mitchell sich mit seinem Konzept des Bild-Textes in einer Form eingeschaltet, die durch den Comic in hohem Maße plausibilisiert wird.2 Jedem Text inhäriert für Mitchell eine bildliche, jeder visuellen Darstellung eine sprachliche Dimension, und so gelte es nicht, angeblich reine Bilder

1 2

Vgl. Arne Klawitter/Michael Ostheimer: Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 203. Vgl. die Abhandlungen, die in einem rezenten Sammelband wiederveröffentlicht wurden: W.J.T. Mitchell: Bildtheorie, hg. u. mit einem Nachwort von Gustav Frank, übers. v. Heinz Jatho, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. Mitchell vertritt die Überzeugung, »daß wir einen großen Teil unserer Welt aus dem Dialog zwischen sprachlichen und bildlichen Darstellungen erschaffen […]«. Ebd., S. 77, vgl. auch S. 152.

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Monika Schmitz-Emans mit angeblich reinen Texten zu vergleichen, sondern die Verschränkung von bildlicher und sprachlicher Dimension in ihren verschiedenen Spielformen nachzuvollziehen. Eine solche Auffassung des Text-Bild-Verbundes lenkt die Aufmerksamkeit des Comic-Lesers darauf, dass der Text-Anteil in Comic-Erzählungen stets auch über seine visuelle Präsentation semantisiert ist. Dies ist evident bei Schriftzügen, die durch Farbe und Form beispielsweise Lautstärke, Dynamik oder Emotionen ausdrücken, aber auch die Platzierung von Textelementen und die Farbe, mit der sie unterlegt sind, sind nie bedeutungsindifferent. Die Bild-Elemente des Comics wiederum nähern sich der Schrift besonders offenkundig dort, wo sie einer starken Codifizierung unterliegen, korrespondieren aber im Übrigen schon in ihrer Sequentialität mit jener von sprachlichen Erzählungen (von denen sie ja auch durchdrungen sind, kommentiert oder zusammengehalten werden). Mitchell unterscheidet darüber hinaus zwischen ›vernähten‹ (bruchlosen und daher unauffälligen) Text-Bild-Kombinationen sowie spannungsvollen oder sogar brüchigen. Er tendiert dazu, den Comic unter den ›vernähten‹ Formen zu lokalisieren, hat dabei aber offenbar nur konventionelle, nicht medienreflexiv erzählende Comics im Blick; es geht ihm ja auch nur um eine generalisierende Einordnung dieser Form von Text-Bild-Artefakt. Demgegenüber lohnt es sich aber, Bildgeschichten in Comic-Form gerade auch auf die Inszenierung von Spannungen und Brüchen zwischen bildlicher und textueller Ebene hin zu betrachten. Eine für die Untersuchung von Comics besonders fruchtbare Frage lautet: Wie wird Sprache zeichnerisch inszeniert? Gibt es doch eine Vielzahl von Möglichkeiten, um Ausrufe, Reden, Gedanken, Erzählungen und andere verbale Äußerungsformen darzustellen und durch ihre Visualisierung zu interpretieren.3 Nicht alle dienen dazu, Lesbarkeit herzustellen; nicht immer werden die Bilder durch die Worte verständlicher. Im Gegenteil können die grafischen Mittel auch so eingesetzt werden, dass das Sprachliche sich tendenziell im Grafischen ›aufzulösen‹ scheint. Umgekehrt können die verbalen Bestandteile der Bildgeschichte sich auch gegenüber den Bildern in den Vordergrund schieben, sie ›überschreiben‹ – ganz abgesehen davon, dass sie und die Art, wie sie gestaltet sind, natürlich unsere Aufnahme und Deutung der Bildelemente steuern. Will Eisner und Scott McCloud haben auf die Breite des Spektrums an

3

Im Medium der Schrift durchkreuzen sich visuelle und sprachliche Darstellungsformen; Mitchell spricht bezogen auf die Schrift von einer »Vernähung des Visuellen und des Verbalen«. Ebd., S. 153.

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Literatur-Comics Text-Bild-Arrangements im Comic hingewiesen und an Beispielen auch mögliche Spannungsbezüge erörtert.4 Der Comic demonstriert zwar vielfach die ›Vernähung‹ von Text und Bild besonders nachdrücklich. Manche Comics aber trennen, um im Bild zu bleiben, die Vernähung von bildlicher und sprachlicher Darstellungsebene auch wieder auf, stellen ihre Selbstverständlichkeit zumindest in Frage. (Inwiefern der Comic ohne Textbestandteile überhaupt noch ein Comic oder lediglich ein ›sprachloser‹ Comic ist, ist eine sich in diesem Zusammenhang stellende Frage.) Es ist zudem alles andere als selbstverständlich, dass in Bildgeschichten, die wie der Comic aus verbalen und grafischen Komponenten bestehen, Worte und Bilder dasselbe bedeuten wollen. Manchmal arbeitet die eine Darstellungsebene der anderen auch hinsichtlich der Bedeutung entgegen. Comics zu literarischen Vorlagen sind zur Beobachtung der Vielschichtigkeit von Text-Bild-Bezügen zweifellos besonders ergiebig, denn hier umfasst die textliche Dimension nicht allein den in die Bilderzählung integrierten Text. Zu berücksichtigen ist vielmehr auch der Text im ›Hintergrund‹, der literarische Ausgangs- oder Hypotext.5

1. Literatur-Comics Der Begriff »Literatur-Comic« ist zwar nicht von definitorischer Schärfe, bezieht sich aber doch auf ein recht klar bestimmbares Gegenstandsgebiet. Er sei im Folgenden für solche Comic-Erzählungen verwendet, die sich auf ihnen vorangehende literarische Texte beziehen, von diesen also in dem Sinn bedingt sind, wie in der Intertextualitätstheorie Gérard Genettes der Hypertext vom Hypotext bedingt und geprägt ist. Wie es vielfältige Spielformen der Intertextualität in der Welt literarischer Texte gibt, so auch in der der Comics, die sich auf Literarisches beziehen.6 Die Arten der Bezugnahme von Comics auf literarische Texte changieren zwischen ganz offenkundiger Nacherzählung und verdeckter Anspielung. Die Beziehung des Comics zu seinem literarischen Vorgängertext kann in einem brei4

5 6

Vgl. z.B. W. Eisner: Graphic Storytelling & Visual Narrative (1996), 5. Aufl., Tamarac: Poorhouse 2001; S. McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, Northampton: Kitchen Sink 1993. Zu den Begriffen »Hypotext« und »Hypertext« vgl. Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil 1982. Im Folgenden ausgeklammert, an dieser Stelle zumindest aber erwähnt seien solche Comics, die auf literarischen Vorlagen beruhen und selbst bekannt wurden, während die Vorlagen weitgehend in Vergessenheit gerieten, wie etwa die Tarzan-Geschichten.

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Monika Schmitz-Emans ten Spektrum zwischen Dienst an der Vermittlung von textbezogenem Wissen und parodistischem Spiel mit beim Leser bereits als gegeben vorausgesetztem Wissen stehen. Der Ausgangstext kann in seiner Comic-Paraphrase ganz, teilweise oder gar nicht enthalten sein; er kann wörtlich zitiert oder durch einen Ersatztext wiedergegeben werden; er kann im Mittelpunkt stehen oder von den Bildern an den Rand gedrängt werden. (Es ist im Übrigen manchmal Einschätzungssache, ob man bei einer entsprechenden Bildgeschichte von einem Literatur-Comic, einer Graphic Novel, einem illustrierten Text oder einem Bilderbuch mit Textanteilen sprechen möchte. Gerade im Bereich der künstlerisch ambitionierteren Paraphrasen zu literarischen Texten gibt es hier allerlei Übergangs- und Mischformen.) Seit in den 1940er Jahren die ersten Illustrierten Klassiker (Classics Illustrated) entstanden, ist das Medium Comic häufig dazu verwendet worden, literarische Fabeln nachzuerzählen. Auch und gerade wer den Vorlagentext nicht gelesen hat, kann der Bildgeschichte problemlos folgen. Die Reihe Classics Illustrated umfasst inzwischen eine große Zahl von Heften; unter den berühmtesten ›Klassikern‹ wurden manche zwei- oder mehrfach in die Comic-Form transponiert. Die englischsprachige Literatur ist unter den Beständen dieser Comic-Bibliothek besonders stark vertreten. Mit dem Anspruch auf Unterhaltung verbindet sich der auf Belehrung oder zumindest auf Information: Rahmende Begleittexte informieren den Leser über die Autoren der Werke, deren Thematik und Entstehungsgeschichte. Die Bildsprache der meisten Illustrierten Klassiker entspricht allgemein verbreiteten, konventionellen Darstellungsformen in Comics. Figuren sind besonders in den früheren Bänden der Serie oft stereotyp dargestellt, Physiognomien und Gestalten wirken holzschnittartig, bunte Farben dominieren das Gesamtbild. Aber es gibt auch unkonventionelle Stil-Experimente. Ein Beispiel bietet Bill Sienkiewicz’ Version von Herman Melvilles Moby Dick.7 Viele Spielformen des Literatur-Comics können in ihrer Eigenart gerade durch den Vergleich mit den Illustrierten Klassikern charakterisiert werden, die aus historischen und gattungstypologischen Gründen als Standardform des Literatur-Comic betrachtet werden mögen – wobei der Ausdruck »Standard« nichts mit »Norm« zu tun hat, sondern nur das meint, was am ehesten der konventionellen Erwartung entspricht. (Aber gerade das Sich-Abarbeiten an konventionellen Erwartungen und der Verstoß gegen standardisierte Muster sorgen im Feld der Künste ja für Innovation.) Einige Vergleichsansätze seien genannt: Ist es für die allseits bekannten Illust-

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Herman Melville/Bill Sienkiewicz: Moby Dick, New York: Berkley Publishing Corporation 1990.

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Literatur-Comics rierten Klassiker typisch, dass die Bilderzählung an die Stelle des Originaltextes tritt (wobei dieser Ausgangstext selbst allenfalls noch stückweise in Comic-Dialoge und narrative Partien einfließen kann), so setzt eine jüngere französische Klassiker-Comic-Reihe auf die Präsentation des kompletten Ausgangstextes. Vermutlich um sich als Studienbuch für Schüler und Studenten zu empfehlen, vielleicht aber auch um des irritierenden Kontrastes zwischen kanonisiertem (›klassischem‹) Text und Comic-Stil willen, werden Jean Racines Phädra und andere Schulklassiker vollständig abgedruckt und dabei zeichnerisch inszeniert; der Text wird zum Rollentext der gezeichneten Figuren. Und abschließend findet der Leser den Klassiker nochmals separat abgedruckt.8 Insgesamt dokumentiert das Design dieser Comic-Reihe zweifellos die Absicht, den Comic Einzug in die Schule halten zu lassen – sozusagen auf legitimem Weg, als ein Buch, das seiner Treue zum klassischen Text wegen als Unterrichtswerk verwendet werden kann. Zum anderen wirkt der an konventionellen Comics orientierte Zeichenstil in Kombination mit den klassischen Texten parodistisch. Und so stehen die Zeichnungen einerseits zweifellos im Dienst der Vermittlung des Textes, der durch sie ja förmlich transportiert wird. Zum anderen machen sie ihren Eigensinn geltend und suggerieren zumindest eine ironische Distanz zur Klassikerverehrung. Werden in den Illustrierten Klassikern Dramen und erzählerische Werke in Bildgeschichten übersetzt, so zielt die französische ComicReihe …en bandes dessinées mit einigen Bänden auf die Darstellung und Auslegung lyrischer Texte; hinzu kommen Bände dieser Reihe über Fabeln und Novellen, also kürzere narrative Werke. Profilbildend für die Reihe ist es, dass die einzelnen in einem Bändchen vorgestellten Texte von jeweils verschiedenen Zeichnern und in ganz unterschiedlichen Zeichenstilen grafisch paraphrasiert werden. Zudem sind die Szenaristen und Zeichner durch das Reihenkonzept zumeist genötigt, den lyrischen Texten eine Geschichte zu unterlegen. Auch hier werden sehr verschiedene Wege gewählt. Teilweise etwa erzählen die Comics Geschichten in der Kulisse der Zeit, in welcher das jeweilige Gedicht entstand; manche suggerieren einen autobiografischen Sinn. Andere unterlegen Gedichte aus dem 19. Jahrhundert mit Szenen aus der zeitgenössischen (stilisierten) Alltagswelt. Wieder andere transponieren die dargestellten Ereignisse in fantastisch-surreale Räume. Zum einen impliziert die Integration des kompletten Textes ein hohes Maß an Treue zum Text; dieser ist ja vollständig präsent, neben der Bildgeschichte auch noch einmal

8

Vgl. Armel: Phèdre. Une tragédie de Jean Racine. Adaption intégrale en bandes dessinées par: Armel, scénariste et dessinateur, Darnétal: petit à petit 2006.

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Monika Schmitz-Emans separat – und behauptet sich insofern notfalls auch gegen seine zeichnerische Auslegung. Zum anderen demonstrieren die Bändchen durch die Varietät der Auslegungsstile, wie subjektiv gerade lyrische Texte aufgenommen und mit bildlichen Vorstellungen unterlegt werden. Das Œuvre des vorgestellten Lyrikers spaltet sich auf in ganz divergente Deutungsoptionen, die sich jeweils in Stilen grafischer Darstellung konkretisieren. Ein anderer Zeichner hätte aus demselben Text evidenterweise etwas ganz anderes gemacht. Unter diesem Aspekt arbeiten die (feststehenden) Texte und die (sich in Variationen entfaltenden) Bilder auch ›gegeneinander‹. Zielen die Illustrierten Klassiker in erster Linie darauf ab, die in einem literarischen Text gestaltete Geschichte nachzuerzählen, sodass der Leser anschließend den jeweiligen Plot kennt, auch wenn er den Ausgangstext nicht gelesen hat, so setzen andere LiteraturComics dieses Wissen beim Leser voraus, damit er sie überhaupt verstehen kann. Das Bändchen Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur enthält insgesamt hundert von verschiedenen Zeichnern gestaltete Comics zu je einem weltliterarischen Text. Die Comics sind dabei allesamt nur eine Seite lang. Die gestalterischen Konsequenzen, die dies für die ›Nacherzählung‹ des jeweiligen Textes hat, sind evident: Es muss so stark komprimiert werden, dass nicht mehr wirklich nacherzählt wird; die Bildgeschichte wird zum Stenogramm, zu einer Sequenz aus Kürzeln, die man nur versteht, wenn man über den Ausgangstext schon Bescheid weiß. Die Zeichner bemühen sich durch stilistische und gestalterische Mittel im Übrigen meist darum, die Anspielungen auf ihre Vorlagentexte mit Pointen zu versehen, die auf den Text ein spezifisches Licht werfen. Insofern steht die Bildsequenz vordergründig im Dienst des Textes, und ihr Sinn ergibt sich aus ihrem Bezug zu diesem (abwesenden) Text. Ebenso gut ließe sich aber sagen, dass die Bildgeschichte (die oft kaum mehr eine Geschichte ist) sich an die Stelle des Ausgangstextes setzt und ihn verdrängt. In der Mehrzahl der Fälle treiben die Zeichner die Verdrängung des Textlichen so weit, dass vom Text nichts übrig bleibt; viele der Moga Mobo-Comics bestehen nur aus Bildern (denen allerdings bedingt durch den Titel die Erinnerung an einen Text eingeschrieben ist). In vielen Fällen ist der Bezug zwischen Comic und Ausgangstext parodistisch. Dem Prinzip des Moga Mobo-Bändchens sind inzwischen andere Comic-Sampler gefolgt.9 Während die Illustrierten Klassiker über literarische Werke informieren, informieren andere Reihen über literarische Autoren. In

9

Vgl. Irene Mahrer-Stich (Hg.): Alice im Comicland. Comiczeichner präsentieren Werke der Weltliteratur, Zürich: Edition Moderne 1993; Wolfgang Alber/Heinz Wolf (Hg.): 50 – Literatur gezeichnet, 2 Bde., Wien: Comic Forum 2003/2007.

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Literatur-Comics den Serien Introducing… und …for Beginners werden (neben wissenschaftlichen Disziplinen und Theorien) wichtige Philosophen, Wissenschaftler, Künstler und Dichter jeweils bandweise porträtiert. Die Szenaristen und Zeichner entfalten auch dabei ihre jeweils eigenen Stile, obwohl es zunächst einmal um die eingängige und populäre Vermittlung von Sachwissen geht. Werden Personen porträtiert, so sind die Informationen über deren Ideen, Theorien und Werke (im Fall von Dichtern: über ihre literarischen Texte) in der Regel in eine Art biografische Rahmenerzählung integriert. Ein ästhetisch ambitioniertes Beispiel für die Umsetzung dieses Konzepts ist Robert Crumbs zusammen mit David Zane Mairowitz realisiertes Porträt zu Franz Kafka.10 In diesem werden vielfältige Formen des Zusammen- und des Widerspiels von Text und Bildern erprobt. So vermittelt Crumb zum einen Wissen über den Inhalt einer Reihe von Kafka-Texten, unterzieht diese im Zusammenhang damit aber einer keineswegs zwingenden (wenn auch weit verbreiteten) Interpretation: er deutet sie biografistisch, indem er den Figuren der Binnengeschichte Ähnlichkeiten mit denen der rahmenden biografischen Kafka-Geschichte verleiht. Er nimmt zeichnend Kafkasche Sprachbilder beim Wort, treibt dieses Beim-Wort-Nehmen aber durch die Drastik einzelner Bilder teilweise bis ins Parodistische. Beziehen sich die Classics Illustrated ebenso wie die angeführten, von diesem Reihenkonzept abweichenden anderen Comic-Reihen bei aller Freiheit der Interpretation und Darstellung doch auf einen bestimmten und vom Leser (meist schon über den Comic-Titel) identifizierbaren Ausgangstext (oder mehrere Ausgangstexte), so stehen ihnen andere Comics gegenüber, die sich aus literarischen Texten Figuren, Handlungselemente, Geschichten oder Requisiten entleihen – um mit diesen Bestandteilen eigene Geschichten zu erzählen. Sofern der Leser die Provenienz der Handlungselemente des Comics durchschaut, ›liest‹ er dabei also auch den Ausgangstext oder die Ausgangstexte mit. Dies gilt etwa, um ein prominentes Beispiel zu nennen, für The League of Extraordinary Gentlemen von Alan Moore und Kevin O’Neill (Bd. 1: New York, DC Comics 2001; Bd. 2: London: Titan 2003): eine Comic-Geschichte, in der Figuren auftauchen, die aus Romanen und Erzählungen entliehen sind – aus Bram Stokers Dracula, aus Robert Louis Stevensons The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde, aus Jules Vernes Geschichten um Kapitän Nemo, aus H.G. Wells’ The Invisible Man etc. Insgesamt ist festzuhalten, dass sich Comic-Erzählungen, die literarische Texte nacherzählen, keineswegs darauf festlegen lassen,

10 David Zane Mairowitz/Robert Crumb: Introducing Kafka. A Kafka Comic by David Zane Mairowitz (text) and Robert Crumb (drawings), Cambridge: Totem 1993.

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Monika Schmitz-Emans als Vermittler und Interpreten im Dienst dieser Texte zu wirken – wie man es freilich von der Classics Illustrated-Reihe und konzeptionell verwandten Literatur-Comics erwartet. Vielmehr bestehen zwischen Literatur-Comics und ihren Hypotexten ähnlich vielfältige und vielschichtige Beziehungen wie zwischen literarischen Texten. Ausgangstexte werden parodiert und travestiert, ganz oder partiell in neue Bedeutungskontexte hineinzitiert, gegen den Strich gelesen, fragmentiert und manchmal fast bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Der Rest an Kenntlichem, der die Comic-Geschichte mit ihrem Ausgangstext verbindet, ist aber dann zumeist von besonderer Signifikanz. Im Folgenden soll an zwei Beispielen illustriert werden, wie Comic-Zeichner literarische Texte umgestalten. Diese bleiben zwar – in unterschiedlichen Graden – als zitierter Bezugstext erkennbar, werden dabei aber zum Anlass eines durchaus selbstständigen ästhetischen Spiels der Zeichner. Es ist in diesen Fällen angebracht, weniger von einer Illustrierung oder Adaptation einer literarischen Vorlage, als vielmehr von einer kreativen Transformation eines Ursprungstextes zu sprechen. Welche Erkenntnisinteressen verbinden sich mit der vergleichenden Betrachtung dieser Form der Rezeption literarischer Texte durch Comic-Produzenten? Zu unterscheiden wären ein eher spezielles und ein eher allgemeines Interesse: Erstens verdienen die Comics selbst als einzelne und besondere Artefakte Interesse – in ihrer Eigenschaft als künstlerische Bilderzählungen, als Ausprägungsformen eines jeweils spezifischen künstlerischen Stils (des Szenaristen wie des Zeichners) sowie als Dokumente der Rezeptionsgeschichte literarischer Texte. (Unter letzterem Aspekt wird mit der Untersuchung von Comic-Paraphrasen zu literarischen Texten samt ihren freieren Spielformen der Gegenstandsbereich der Intertextualitätsforschung auf die Erforschung intermedialer Transferprozesse ausgeweitet, analog zur Erforschung von Literaturverfilmungen.) Zweitens bietet, wie angedeutet, gerade der Comic interessantes Anschauungsmaterial hinsichtlich der verschiedenen Spielformen der ›Vernähung‹ von Sprachlich-Textlichem und Grafisch-Bildlichem. Die Beschäftigung mit dem Einzelwerk verspricht hier vertiefende und verallgemeinerbare Einsichten in die einander überlagernden und durchkreuzenden Sphären des Sprachlichen und des Bildlichen, in Analogie- und Spannungsbezüge, in Parallelen und Komplementaritäten. Wenn ich im Folgenden zwei Comic-Zeichner vorstelle, deren Arbeiten aus der produktiven Auseinandersetzung mit literarischen Texten hervorgegangen sind, so geschieht dies in erster Linie aus dem Interesse an den Bilderzählungen selbst – an ihrer Eigenschaft als künstlerische Werke.

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Literatur-Comics

2. Dino Battaglia, Edgar Allan Poe und E.T.A. Hoffmann Dino Battaglia hat eine ganze Reihe von zeichnerischen Versionen zu Werken der Weltliteratur geschaffen.11 Gleichzeitig ist er für die Anerkennung des Comics als Kunstform (und zwar nicht als Kleinkunst!) eingetreten: La bande dessinée est venue combler un vide et elle est en train d’acquérir une place dans l’art. Mais je ne voudrais pas qu’elle soit cataloguée comme art pauvre, même si certains la considèrent ainsi et pensent que ce serait un premier pas vers l’Art avec un grand A. Il se pourrait qu’elle soit déjà un art et je le dis en toute sérénité, d’autres l’ont déjà dit avant moi et je partage leur sentiment.12

Seine besondere Vorliebe gilt der Literatur des 19. Jahrhunderts, v.a. Texten aus dem Umkreis der Schauerliteratur: »Le dix-neuvième siècle est l’époque qui me fascine le plus; c’est celle que je connais le mieux à travers mes lectures et c’est la période que j’arrive le mieux à imaginer. L’époque actuelle m’intéresse moins […].«13 Hoffmann sei sein Lieblingsautor, so Battaglia.14 Ein anderer Lieblingsautor ist Edgar Allan Poe. Zu Battaglias Arbeiten zählen zeichnerische Paraphrasen diverser Erzählungen der beiden Autoren.15 Battaglias stark auf Schwarz-Weiß-Kontraste einerseits, Schatten und Grauwerte andererseits setzender Zeichenstil dokumentiert die künstlerische Intention, stilistische Pendants zu den fantastischen Erzählungen zu schaffen, bei denen im übertragenen Sinn

11 Vgl. Michel Jans u.a.: Battaglia. Une Monographie, St. Egrève: Mosquito 2006, insbes. S. 11-17: »Entretien avec Dino Battaglia« (Dino Battaglia über sich selbst, auf der Basis von Interviews). 12 D. Battaglia: »Entretien«, S. 18. 13 Ebd., S. 25f. 14 Vgl. ebd., S. 16. – »Parmi tous les auteurs que j’ai adaptés jusqu’à présent celui que je préfère c’est Hoffmann même si c’est le plus difficile à mettre en images. Les éditions Einaudi ont publié tous ses romans et nouvelles en trois gros volumes et je ne me lasse pas de les feuilleter. C’est quelqu’un qui a tout inventé. On ne peut pas aller plus loin. Par admiration, je tente encore et toujours de retracer à la plume, ses visions, son imaginaire, ses cauchemars, sa vie en contact de la mort ou d’une autre vie […] J’essaye de reprendre de façon figurative les thèmes d’Hoffmann en tentant d’en être le plus proche possible mais aussi avec un certain recul. Je ne veux pas me laisser prendre et avaler car cela pourrait être dangereux […]«. Ebd., S. 18f. 15 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Das öde Haus. Gezeichnet von Dino Battaglia, o.O.: Altamira 1990; Dino Battaglia: Contes et récits fantastiques, Bd. 3: Edgar A. Poe, Histoires, St. Etienne: Mosquito 2005.

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Monika Schmitz-Emans ebenfalls Hell-Dunkel-Kontraste sowie Unbestimmtheiten, Ambivalenzen und Verdunklungen prägend sind – auf inhaltlicher wie auf stilistischer Ebene, wie auf den Titelseiten von The Masque of the Red Death/Le masque de la mort rouge und The Fall of the House of Usher/La chute de la maison Usher zu erkennen ist (Abb. 1a-b).

Abb. 1a. Dino Battaglia: Le masque de la mort rouge, Titelseite.

Zunächst eine Bemerkung zu Poes Erzählungen selbst: Viele von ihnen, insbesondere die, die Battaglia zeichnerisch paraphrasiert hat, laufen auf einen Kulminationspunkt des Grauens zu – und enden dort. So erfährt der Leser der Erzählung The Fall of the House of Usher am Ende, dass die tote Madeline Usher aus dem Grab zurückkehrt und das Haus der Ushers in Trümmer legt – die Handlung geht danach nicht mehr weiter. Ligiea, die Geschichte einer rätselhaften Frau, die sich okkulten Studien hingab, um den Tod zu überwinden, endet damit, dass die zuvor Verstorbene im Leichnam einer anderen Frau wiederaufersteht. Ihr Erscheinen ist Schlusspunkt der Geschichte. The Masque of the Red Death berichtet von einer glanzvollen Gesellschaft, die dem Roten Tod zu entgehen sucht – am Ende steht das Erscheinen des Roten Todes, dem alle anheim fallen. Battaglia verwendet viel Sorgfalt auf die zeichnerischen Inszenierungen dieser Geschichten, auch wenn es natürlich Dimensio-

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Literatur-Comics nen des Textes gibt, die sich einer zeichnerischen Umsetzung entziehen – wie insbesondere die für Poes Werke typische Instanz des unzuverlässigen Erzählers. Um gleichwohl die Perspektivik und Subjektivität aller Wahrnehmung und Darstellung zu betonen, wählt Battaglia zeichnerische Mittel: verschwimmende Konturen, Übergänge und Überblendungen, Rahmendurchbrüche und Kippbilder. Schwarzes wird weiß; Totes wird lebendig; Szenen und Figuren verlieren ihre Umrisse: So lässt sich grafisch eine ambige, undurchschaubare, dem Begreifen und dem Begriff entzogene Welt entwerfen, die der Poeschen zumindest analog ist.

Abb. 1b. Dino Battaglia: La chute de la maison Usher, Titelseite.

Battaglias Hoffmann-Comics sind zwar koloriert, aber die Spannung zwischen schwarzen und hellen Linien und Flächen ist meist ausgeprägter als der Effekt bestimmter Farben.16 In Anknüpfung an die Gattung des malerischen Nachtstücks (das ja den Texten Hoffmanns seinen Namen geliehen hat) arbeitet Battaglia mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten. Durch die Gegenüberstellung heller und dunkler Gestalten werden dramatische Spannungen erzeugt, Hell und Dunkel semantisiert. Semantisch aufgeladen sind auch die Grauwerte (Battaglia legt, wie er sagt, zunächst immer die Grauzonen fest). Mit dieser Akzentuierung des Übergänglichen korrespon16 Zum »rapport entre le noir et le blanc« vgl. D. Battaglia: »Entretien«, S. 22.

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Monika Schmitz-Emans dieren Thematik und Darstellungsstil von Hoffmann (und Poe). Eine leitmotivische Rolle spielt in bei Battaglia der Schatten (Abb. 2).

Abb. 2. Dino Battaglia: Olimpia, S. 24.

Oft reduzieren sich Figuren auf Schatten. Damit konnotiert ist ihre metaphorische Schattenhaftigkeit; die Ereignisse wirken wie ein Schattentheater an der Grenze zwischen Realem und Irrealem. Gern zitiert Battaglia die Bildarsenale der Schauerliteratur und die für schauerromantische Texte besonders signifikanten Motive: komplizierte und rätselhafte Architekturen und Interieurs, Fenster und Türen, die auf Geheimnisse hinzudeuten scheinen, Figuren mit markanten Gesichtszügen, phantomartige (gespenstische, dämonische) Gestalten, Gerippe, Leichen etc. Teilweise zitiert er die Bildsprache des auf schauerliterarischen Fabeln basierenden Films, gelegentlich etwa die des expressionistischen Films (Murnaus Nosferatu). In seinen Comic-Paraphrasen zu den Hoffmann-Erzählungen Der Sandmann und Das öde Haus setzt Battaglia dieselben Mittel ein wie in den Poe-Paraphrasen: Kippbilder, Überblendungen, Dekonturierungen, Rahmendurchbrüche.17 17 In den stark gekürzten Paraphrasen zu Hoffmanns beiden Nachtstücken werden narrative Passagen teilweise in Denk- oder Sprechblasen umge-

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Literatur-Comics Die Eingriffe des Zeichners in Hoffmanns Geschichten sind insgesamt erheblich und beginnen im Fall des Sandmanns schon beim Titel: Battaglias Comic heißt Olimpia. In Hoffmanns Sandmann gerät der Protagonist Nathanael bekanntlich unter den Einfluss des mysteriösen Coppelius/Coppola und des Automatenbauers Spalanzani, die ihn mit einer Puppenfrau verkuppeln wollen. Nathanael ist wegen seiner starken Imaginationskraft ein besonders geeignetes Opfer für eine solche Mystifikation, und nach dem Kauf eines optischen Geräts (eines Taschenperspektivs, das ihm Coppola aufgedrängt hat) verstärkt sich seine Neigung noch, die Dinge anders zu sehen als die verständigen Vertreter der Normalität. Alles erscheint ihm im Licht seiner Imaginationen, und so verliebt er sich in die Automatenfrau Olimpia, die ihm lebendig vorkommt. Als er anlässlich eines Streits zwischen Coppola und Spalanzani zum Zeugen von Olimpias Zerstörung wird, fällt er in Wahnsinn. Bei Hoffmann erholt er sich zunächst wieder und kehrt an die Seite seiner verständigen Verlobten Clara zurück; Battaglia hingegen erzählt nach der Wahnsinnsepisode nicht weiter. Clara fällt bei Hoffmann die Rolle zu, Nathanaels Verstörung als Folge fantastischer Überspanntheit und psychischer Labilität zu interpretieren. Nathanael, der zu seinem eigenen Schicksal wechselnde Positionen bezieht, scheint den Albtraum um Coppola und Olimpia hinter sich lassen zu wollen. Erst als er nach neuerlichem Gebrauch des magischen Fernrohrs nunmehr Clara als leblose Puppe zu sehen meint und erneut einen Wahnsinnsanfall erleidet, stürzt er sich zu Tode. Insgesamt ist die aus wechselnden Erzählperspektiven berichtete Geschichte Hoffmanns eine Geschichte über die Perspektivik der Selbst- und Welt-Wahrnehmung. Battaglias Bildregie ist damit durchaus kompatibel. Aber explizite AlternativInterpretationen der Ereignisse wie bei Hoffmann werden nicht gegeben. Es ist allein die Bildregie, welche eine Fragmentierung und Brechung der erzählten Geschichte bewirkt. Nathanaels erster Wahnsinnsausbruch nach Olimpias Demontage ist bei Battaglia Kulminations- und zugleich Schlusspunkt. Durch das bei Hoffmann gar nicht auftauchende Motiv eines Narrenumzugs wird dieser Ausbruch vorbereitet; die Bildgeschichte konzentriert sich auf die Beziehung Nathanaels zu Olimpia, deren Zerstörung und Nathanaels Wahnsinn. Battaglia interessiert sich für die Geschichte Nathanaels als Geschichte eines Identitätsverlusts, eines Zusammenbrechens von Begriffen, Ordnungen und Konturen. Battaglia erzählt Hoffmanns Sandmann so, wie er das Erzählen von Poe gelernt hat – als ein Zuhalten auf einen hochdrama-

formt. Daneben gibt es eine Erzählerstimme, die für Kohärenz sorgt und manche Ereignisse erläutert.

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Monika Schmitz-Emans tischen Endpunkt, der durch keinen Nachtrag, keinen Ausklang, keine erzählerische Reflexion mehr relativiert wird. Er macht aus der Hoffmann-Geschichte eine Poe-Geschichte, in der zuletzt Verfall, Dekonturierung, Wahnsinn und Tod offenkundig und dramatisch alles besiegen. Analoges gilt für Battaglias Version von Hoffmanns Erzählung Das öde Haus. Hier gerät wiederum der Protagonist (Theodor) unter den rätselhaften Einfluss einer fremden Gewalt; das Objekt seines Begehrens ist erneut eine mittels magisch wirkender Sehhilfen beobachtete Frau.18 Wieder schreibt Battaglia die Ausgangsgeschichte um, v.a. indem er sie radikal komprimiert und vorzeitig beendet. Als Höhe- und Endpunkt arrangiert er ein Treffen zwischen dem Helden und der mysteriösen Frau, welches bei Hoffmann in dieser Form nicht stattfindet. Dort dringt Theodor zwar einmal in das öde Haus ein und erhält einen kurzen Eindruck von dessen wahnsinniger Bewohnerin, wird dann aber von deren Bewacher schnell und energisch hinausgedrängt – und gerettet, wie dieser ihm andeutet. Im Folgenden beschäftigt der Gerettete sich dann weiter mit der eigenen psychischen Affektion und erfährt nachträglich die lange Vorgeschichte der Frau im öden Haus. Er übersteht die mysteriösen Ereignisse lebendig, wenn auch psychisch stark irritiert. In Battaglias Comic fehlt der spätere Teil der Erzählung ganz; ausgeblendet werden mögliche Erklärungen und alternative Perspektivierungen der Zusammenhänge, v.a. die magnetistische Kur des Protagonisten. Wie in der Olimpia-Erzählung Battaglias endet die Geschichte damit, dass der vor Liebe verblendete Held erkennt, wen bzw. was er da begehrt hat und darüber zugrunde geht: Die irre Frau im öden Haus enthüllt ihr wahres (sprich: abscheuliches) Wesen. Wieder arrangiert Battaglia auf der Basis der Hoffmann-Geschichte ein Ende à la Poe: einen Kulminationspunkt des Grauens, auf den nichts Relativierendes mehr folgt. Der Leser muss annehmen, dass der Held in diesem Moment zugrunde geht. Trotz der Freiheiten, die sich Battaglia im Umgang mit den jeweiligen literarischen Plots nimmt, bemüht er sich – wie angedeutet – um visuelle Pendants zur Thematik und Stimmungslage seiner Textvorlagen. So zeichnet er wiederholt Figuren, deren Konturen sich auflösen oder durch Vervielfachung und Überlagerung verschwimmen. Damit visualisiert er Prozesse der inneren Auflösung, des Identitätsverlusts, der Desorientierung. Abgestimmt auf Hoffmanns Texte werden Sehvorgänge einfallsreich ins Bild gesetzt. Der

18 Der Sandmann und Das öde Haus sind Geschichten über das Sehen – was zweifellos einiges von ihrem Reiz für den Zeichner Battaglia ausmacht. In Das öde Haus bedient sich der Held eines Taschenspiegels, um ›anders‹ zu sehen als die anderen.

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Literatur-Comics Blick der Figuren wird wiederholt zum Zentralmotiv der Seiten, sei es, dass sich gespenstische Erscheinungen auf ihre Augen reduzieren, sei es, dass einzelne Figuren oder ganze Figurengruppen in eine Richtung starren. Auffällig ist u.a., dass die Einzelbilder teilweise durch Linien gerahmt sind, teilweise keinen Rahmen besitzen. Damit werden Rahmungen und Rahmendurchbrüche implizit semantisiert. Die Brillenketten, die der Händler in Olimpia vor Nathanael ausbreitet, sind ›rahmenlos‹, und markieren so grafisch wie inhaltlich den Übergang in die Phase eines ›anderen Sehens‹. Nathanaels Wahnsinnsausbruch ist auf einer Seite ohne jeden Rahmen dargestellt. Auch der verrückte Hausverwalter im Öden Haus tanzt aus dem Rahmen. Die Darstellung der verrückten Frau im Öden Haus beruht auf gleich mehrfachen Entgrenzungen. Insgesamt verwendet Battaglia – ausgehend von konventionellen Abgrenzungen (zwischen Bild und Text, zwischen den Einzelbildern, zwischen Figuren und Hintergrund) – verschiedene Entgrenzungsstrategien: Bild wird Schrift und Schrift wird Bild, Figuren verlieren ihre Umrisse, Bilder verlieren ihre Abgrenzungen etc. Höhepunkte sind auch zeichnerisch die Wahnsinnsszenen: Hier spielen Bild und Text ›verrückt‹. Metapher dieses Verrückspielens ist der Tanz: Die Dinge geraten aus dem konventionellen ›Tritt‹, folgen einer anderen Form der Bewegung. Nicht zuletzt kommt es zu Ausbrüchen der Schrift ins Bildliche – und vice versa.

3. Marc-Antoine Mathieu, Franz Kafka und Jorge Luis Borges Ein zweites Beispiel für eine kreative Transformation literarischer Vorgaben und Ideen durch einen Comic-Zeichner bietet Marc-Antoine Mathieu, der ausnehmend autoreferenzielle Bildgeschichten schafft, sich dabei aber gerade auch auf die Welt literarischer Figuren und Texte bezieht. Insbesondere Franz Kafka und Jorge Luis Borges haben für seine Geschichten Pate gestanden.19 Die von Mathieu geschaffene Figur des Julius Corentin Acquefacques, ein Büromensch, der wie die Verkörperung des Mittelma19 Im »Préface« zu L’Ascension werden Borges und Kafka als Anreger der Imaginationen Mathieus genannt: »Borges pour les jeux de miroirs er de labyrinthes, Kafka pour la satire de la bureaucratie envahissante aux protocoles absurdes«. Marc-Antoine Mathieu/Jean-Luc Mathieu: L’ascension & autres récits, Paris: Delcourt 2005. Zu den Acquefacques-Geschichten vgl. auch: Dietrich Grünewald: Comics, Tübingen: Niemeyer 2000; Rolf Lohse: Ingenieur der Träume. Medienreflexive Komik bei Marc-Antoine Mathieu, Bochum: Bachmann 2008.

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Monika Schmitz-Emans ßes erscheint, erlebt als »Gefangener der Träume« (»prisonnier des rêves«) seltsame Abenteuer, die in mehreren Bänden geschildert werden.20 Seine Charakterisierung als Gefangener der Träume erinnert an den Beginn von Kafkas »Die Verwandlung«. Gregor erwacht als Ungeziefer, und einen Moment lang wird aus seiner Perspektive die Frage erwogen, ob er sich noch in einem Traum befinde (er hat zuvor »unruhige Träume«) gehabt, wie es ausdrücklich heißt. Ins Spiel kommt diese Frage nur lakonisch – über die Mitteilung: »Es war kein Traum.«21 Gregor bleibt also in seiner an sich ›traumhaften‹ Situation gefangen, es gibt kein Erwachen aus dieser Situation. Auch in Mathieus Geschichten über Acquefacques gibt es keine Welt außerhalb dieser Träume; allenfalls Andeutungen lassen gelegentlich darauf schließen, dass es eine andere, für Acquefacques und Seinesgleichen aber unzugängliche Welt gibt (nämlich die des Szenaristen und Zeichners, der sie sich ausgedacht hat und sie schafft). Die Geschichten beginnen und enden mit Szenerien traumartigen Charakters und nehmen oft genug Wendungen ins Albtraumartige, wobei dem Protagonisten zu konzedieren ist, dass er solche Wendungen mit Fassung trägt. Er akzeptiert sie so verblüffend schnell, wie Kafka-Figuren ihre Schicksale hinnehmen, ohne sie zu hinterfragen, z.B. in einer Szene, in der er auf schluchtartigen Wegen zwischen aufgetürmten Bücherbergen wandelt (Abb. 3).22 Die Traumwelten Mathieus werden nur von Männern bewohnt, die meist in Scharen auftreten, unterwegs in einem dichten Verkehrsnetz, oft massenweise in eine Richtung strebend wie eine Herde, die dabei mit anderen Herden kollidiert. Typisch für die Räume, in denen Acquefacques’ Geschichten spielen, sind labyrinthartige Gebäude von immensen Erstreckungen, mit unerwarteten ar-

20 Marc-Antoine Mathieu: Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, Bd. 1-5, Tournai: Delcourt, Bd. 1: L’origine (1990/1991, deutschsprachige Ausgabe: Der Ursprung, übers. v. Harald Sachse, Berlin: Reprodukt 1999); Bd. 2: La qu… (1991); Bd. 3: Le processus (1993); Bd. 4: Le début de la fin/La fin du début (1995); Bd. 5: La 2,333e dimension (2004). 21 Franz Kafka: »Die Verwandlung«, in: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. v. Roger Hermes, Frankfurt/Main: S. Fischer 2004, S. 96. 22 Eine verbindende Gemeinsamkeit diverser Geschichten Kafkas, insbesondere der drei Romane, liegt darin, dass sie mit einer Situation beginnen, in der die Hauptfigur unversehens in eine neue und befremdliche Situation gerät: Karl Roßmann kommt in Amerika an, Josef K. wird verhaftet, K. ist wie aus dem Nichts in die Fremde des Dorfes geraten, Gregor Samsa ist plötzlich verwandelt. Ähnlich geht es Mathieus Held: Auch seine Abenteuer beginnen jeweils damit, dass er sich über etwas zu wundern hat, mit einer plötzlichen Entdeckung von Befremdlichem beim Aufwachen, mit einer irritierenden Begegnung, einem Moment der Selbstentfremdung.

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Literatur-Comics chitektonischen Besonderheiten, Verschachtelungen, sich plötzlich öffnenden Durchgängen. Treppenhäuser, v.a. Wendeltreppen, spielen eine wichtige Rolle.23

Abb. 3. Marc-Antoine Mathieu: Der Ursprung, S. 32.

Neben Räumen, die eng und verwinkelt, durch Mehrfachnutzung auch gelegentlich übersemantisiert erscheinen, gibt es solche, die durch ihre Offenheit, Weite und Unbestimmtheit befremden. Die Verlorenheit der einzelnen Figuren im Raum wird nicht zuletzt durch die Diskrepanz zwischen den Größenmaßstäben ihrer Wohnungen und der anderer Architekturen signalisiert – wobei die Wohnungen keine Wohnungen im eigentlichen Sinn sind. Teilweise wohnen die Figuren auf Fluren, in Treppenhäusern, in Fahrstuhlschächten oder in Schränken. Komplex und weitläufig sind die Verkehrswege, die man nicht nur zu Fuß, sondern auch mit eigentümlichen Transportvehikeln nutzt; zu letzteren gehören Fahrradkuriere 23 Wie bei Kafka im Process der Ausgang aus Titorellis Atelier über sein Bett hinweg in die Gerichtskanzleien führt, so nimmt Acquefacques seinen Weg zur eigenen Dienststelle durchs Fenster, vor dem ein Drahtseil-Taxiservice verkehrt.

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Monika Schmitz-Emans und lorenartige Sammeltaxen, die über achterbahnartige Schienenwege eilen. Wir sehen eine Junggesellenwelt, deren Bewohner unter drastisch beengten Verhältnissen in Einraumwohnungen leben und deren spärliche Erstreckungen offenbar einer rigiden Kontrolle unterliegen. Auch als Berufstätige scheinen die Männer kontrolliert zu werden, wenn auch nicht klar ist, durch wen. Die Orte, an die sie alle eilen, um dort offenbar ihrer Tätigkeit nachzugehen, wirken wie gigantische Behörden, Kanzleien, Archive und Registraturen. In Der Ursprung stellt Acquefacques sich als Mitarbeiter im Ministerium für Humor vor; seine Aufgabe sei es, »das Glossar der Witze und Schimpfwörter auf den neuesten Stand zu bringen«.24 Die im Plenarsaal des Ministeriums tagende Witz-Kommission ist ein ebenso groteskes Gremium wie die Gerichtsbehörden in Kafkas Process. Wie Josef K. bei seiner Verhaftung zunächst an einen Kollegenstreich zu glauben versucht, denkt auch Acquefacques beim Auffinden des merkwürdigen Blattes mit einer Szene aus seiner eigenen Geschichte an einen solchen Streich aus dem Kollegenkreis.25 Und er bespricht die Angelegenheit mit zwei zum Verwechseln ähnlichen Brüdern, die als groteske Zwillinge ein Pendant zu den Gehilfen Artur und Jeremias im Schloß darstellen.26 Auch diese beiden tauchen in dem Comic-im-Comic auf; sie und Acquefacques haben beim Durchleben der gezeichnet vorgefundenen Szenen ein »Gefühl des ›Déja-vu‹«,27 das sicher auch damit zusammenhängt, dass sie wie aus einem Kafka-Text heraus gestiegen sind. An Geschichten von Jorge Luis Borges erinnert es, wenn Mathieus Held zunächst vergeblich in einer Enzyklopädie nach einem bestimmten Lemma sucht: nach dem Begriff »Ursprung« bzw. »Origine«, der als Titel über jenem Comic steht, in dem sein (Acquefacques’) eigenes Leben erzählt zu werden scheint.28 Ähnlich steht in der »Bibliothek von Babel« alles schon in den Büchern; ähnlich nimmt in »Tlön, Uqbar, Orbis tertius« die Wirklichkeit selbst ihren Ursprung von einer Bibliothek.29 Auch ohne direkte Parallelen zu Kafka-Texten wirken die Episoden um Mathieus Helden doch eminent ›kafkaesk‹. In La qu… wird Acquefacques von zwei Mitarbeiten einer Behörde aufgesucht, die 24 25 26 27 28 29

M.-A. Mathieu: Der Ursprung, S. 7. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 17-24. Vgl. ebd., S. 23. Ebd., S. 11. Vgl. Jorge Luis Borges: »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius«, in: Ders.: Gesammelte Werke, Erzählungen 1: 1935–1944, nach den Übersetzungen v. Karl August Horst/Curt Meyer Clason bearbeitet v. Gisbert Haefs, München, Wien: Hanser 1982, S. 93-112; ders.: »Die Bibliothek von Babel«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Erzählungen 1, S. 145-155.

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Literatur-Comics genau vermessen, welche Erstreckungen sein Wohnraum hat, damit dieser auch ja nicht die vorgeschriebene Norm überschreitet. Als man entdeckt, dass Acquefacques unordentlicherweise eine Schublade nicht korrekt geschlossen hat, wird er verhaftet und von den beiden Herren abgeführt wie Josef K. im Process.30

Abb. 4. Marc-Antoine Mathieu: La qu..., S. 15.

Man führt ihn zu einem monumentalen Palais de Justice, an dem eine Allegorie des Gesetzes (»Lex«) mit unverhüllten Augen und eine Waage mit veränderlichem Gegengewicht über der Tür wenig Gutes ahnen lassen. Im Justizpalast wird Acquefacques ohne Vorberei-

30 Vgl. M.-A. Mathieu: La qu…, S. 14.

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Monika Schmitz-Emans tung und ohne Verteidigung mit der absurden Anklage konfrontiert, trotz der allgemeinen räumlichen Enge zu viel Raum für sich eingenommen zu haben (Abb. 4). Das Gericht ist grotesk und zugleich beängstigend. Hier singen die Geschworenen im Chor das Urteil: Acquefacques soll geschlagen werden. Man verbindet ihm die Augen, als gehe es zur Hinrichtung, er wird aber nur vor die Mauern der Stadt geführt, wo er von einem Wächter aus dem Albtraum des Gerichtswesens geweckt wird.

Abb. 5. Marc-Antoine Mathieu: La qu..., S. 29.

Der Alte hat eine Art Türhüter-Rolle, und die Situation Acquefacques’, dem bedeutet wird, vor ihm liege nun das Nichts, ist ähnlich eigenartig wie die des Mannes vom Lande in der Türhüter-Legende

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Literatur-Comics Kafkas (»Vor dem Gesetz«): Er soll die Wüste des Nichts überqueren und den Bahnhof erreichen. In der Ferne sieht er ein Wirtshaus, das er ansteuert, und das auf seinem Weg zum scheinbar unerreichbaren Ziel eine ähnliche Etappe markiert wie der Brückenhof auf K.s vergeblich unternommenem Weg zum Schloss. Er bekommt ein Zimmer, das aus der Außenseite des Wirtshauses besteht. Im Traum steigt Acquefacques in ein Bild ein, und er findet sich auf einem Theater wieder. Hier wird er von einem Wärter allein im Auditorium platziert, während sich eine Schar von applaudierenden Männern auf der Bühne einfindet: die »société des auteurs« (Abb. 5). Erwachend stellt er am nächsten Morgen fest, dass der gigantische Bahnhof über Nacht dem Wirtshaus nahe gekommen ist. In Le début de la fin/La fin du début steht die Beziehung der für den Comic konstitutiven Farben Schwarz und Weiß im Mittelpunkt: Acquefacques’ Weg führt durch einen Spiegel, und im Lauf des Abenteuers wird nicht nur seine Farbgebung verkehrt (statt einer schwarzen, auf weißem Hintergrund gezeichneten Figur ist er nun eine weiße, auf schwarzem Hintergrund gezeichnete Figur), auch seine Geschichte entwickelt sich rückläufig, und es stellt sich heraus, dass man dieses Comic-Buch von vorn ebenso wie von hinten lesen kann, ja, dass man es, in der Mitte angekommen, um hundertachtzig Grad drehen und in der verkehrter Richtung blättern muss, um in der Geschichte weiterzukommen. Die letzten Seiten des Buches sind die ins Negative gespiegelten Pendants zu den ersten Seiten. Dieser Band, der aus Acquefacques eine Spiegel-Figur macht bzw. ihn durch sein gespiegeltes Double ersetzt, enthält abermals eine spezifische, wenn auch implizite Referenz auf Kafka. Denn wenn man den Namen Acquefacques in Lautschrift schreibt, so ergibt sich ›akfak‹ – und die Spiegelung dieser Buchstabenfolge ergibt als Palindrom den Namen »Kafka«. Die genannten Eigenarten der Mathieuschen Welt legen den Vergleich mit den von Kafka geschilderten Behörden, Büros und Kanzleien nahe: mit der betriebsamen Firmenzentrale von Karl Roßmanns Onkel im Verschollenen, mit den auf engen Dachböden und in großen Wohnhäusern ansässigen Gerichtsbehörden im Process, mit den unzugänglichen Kanzleien des Schlosses und den von Schlossbeamten genutzten Fluren und Zimmern des Herrenhofs im Schloß. Das Junggesellenpersonal mit seinen teilweise grotesken Figuren, das sich immer wieder auch als Masse aus wegen ihrer Vielzahl ununterscheidbar werdenden Figuren darstellt, erinnert ebenso an Kafka wie die Verortung der Männer in engen Wohnräumen, auf Fluren, in Treppenhäusern, Raumfluchten und düsteren Bürokomplexen. In einer Hinsicht aber unterscheiden sich die Abenteuer Acquefacques’ von denen der Kafka-Figuren: Erstere sind medienspezifische Abenteuer; sie beziehen sich stets darauf, dass Acque-

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Monika Schmitz-Emans facques eine gezeichnete Gestalt in einem Buch und in einer Bildergeschichte ist – die Darstellungsform der Bildergeschichte verweist über die Figur des Helden auf sich selbst, ihre Materialität und Medialität. In La qu… entdeckt Acquefacques, dessen Welt eigentlich eine schwarz-weiße ist, kurz vor dem Ende der erzählten Geschichte die Welt der Farben. Über eine aus dem Dach eines Leuchtturms herausragende Wendeltreppe erreicht er eine Art Deckelklappe, die den seine Welt umgebenden Himmel wie eine U-Boot-Schott verschließt, und indem er sie öffnet, dringen die Farben in seine Welt ein – was er beim anschließenden Erwachen in seiner Einraumwohnung fantastisch findet, während sein Nachbar keine Überraschung empfindet. »Qu…« steht für Quadrichromie – für den Vierfarbendruck der wenigen Seiten, die im Band selbst farbig sind, für eine Darstellungsdimension der Bilderzählung also. Allerdings ist Acquefacques’ Gesicht weiß geblieben, und von ihm scheint ein Kontaminationseffekt auszugehen, der zuletzt die ganze Acquefacques-Welt auflöst und den Helden sowie seinen Nachbarn ins Nichts der weißen Seite stürzen lässt. L’origine ist ebenfalls medienreflexiv und handelt von Acquefacques’ Entdeckung der Differenz zwischen zweidimensionalen und dreidimensionalen Welten. Dadurch, dass ihm auf mysteriöse Weise mehrere Blätter einer Bildergeschichte zugespielt werden, die seine eigene Geschichte ist, wird er auf seinen Status als Figur einer Bildergeschichte aufmerksam gemacht, welche sich auf dem Papier abspielt. Diese Einzelblätter, die er zusammen mit anderen zu verstehen sucht, zeigen zunächst Szenen aus seiner Vergangenheit, dann seine Gegenwart und unmittelbare Zukunft. Sie betonen also, dass er eine Gestalt in einem festgelegten Szenario ist. Man mag dies metaphysisch (im Sinne einer deterministischen Geschichtsauffassung) oder medienästhetisch (im Sinne der Selbstbespiegelung der Kunst des Szenaristen und Comic-Zeichners) deuten: Acquefacques ist darüber, dass er auf den wenig zuvor gefundenen Blättern seine Gegenwart oder sogar seine Zukunft wiedergegeben findet, nachhaltig irritiert. Mehrere Panels zeigen in Form komplexer Mise-en-abyme-Arrangements, wie sich die Figur auf einem Blatt selbst betrachtet (als Akteur in einer vergangenen, einer gegenwärtigen und einer bevorstehenden Situation), wie sie sich selbst betrachtet etc. Die Geschichte endet damit, dass das für Seite 43 verheißene Ende der Geschichte auf Seite 42 abrupt eintritt. Acquefacques, sein Gesprächspartner und seine Welt verschwinden im Nichts, offenbar weil jemand (der Zeichner!), der das Blatt in der Hand hält, auf dem sie gezeichnet sind, die Seite mit einem Feuerzeug anzündet. Auf der Innenseite des hinteren Umschlags sehen wir Acquefacques in den schwarzen Raum hineinstürzen. Durch die

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Literatur-Comics Verschränkung von Haupthandlung (Acquefacques findet die Blätter mit der Darstellung seiner Geschichte) und eingebetteten Szenen (vergangene, gegenwärtige, zukünftige Momente) präsentiert sich Acquefacques als Figur, die simultan in verschiedenen Zeiten lebt. Das erinnert an Borgesianische Gedankenexperimente, u.a. in »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen«,31 und an die Tlönistische Lehre von der Idealität der Zeit. Auch die durch den Titel und die Zeichner-Figur aufgeworfene Frage nach dem Ursprung der Acquefacques-Welt – als eine Frage, die Acquefacques sich zuvor nie gestellt hat, weil er das Wort »Ursprung« nicht einmal kennt – korrespondiert Borgesianischen Ideen. In der »Bibliothek von Babel« suchen die Bibliothekare nach einem solchen Ursprung, obwohl dieser in einem Universum wie dem von ihnen bewohnten nicht greifbar sein kann. Motivische sowie thematische Analogien der Acquefacques-Geschichten zu Kafka bestehen in mehr als einer Hinsicht. Das Geschehen wird bestimmt durch Prozesse der Suche, durch Irrwege und Raumirritationen. Wie in Kafkas Process und Schloß gibt es keine Abgrenzung zwischen privaten und öffentlichen Räumen. Im Process tagen die Gerichte auf den Dachböden der Wohnhäuser. Das Untersuchungsgericht, von dem Josef K. vernommen wird, hat seinen Ort in einem solchen Haus, und die Gerichtsdienerfamilie muss ihren Wohnraum an Gerichtstagen räumen. Im Schloß sind die Gasthauszimmer des Herrenhofs zugleich Orte des behördlichen Verkehrs. Auch in den Wohnräumen der Acquefacques-Welt gibt es keine Privatsphäre. Als Acquefacques seine Zwillings-Freunde aufsucht, um mit ihnen das rätselhafte Blatt zu besprechen, auf dem seine eigene Geschichte antizipatorisch dargestellt ist, werden die drei unversehens dadurch gestört, dass der Aufzug naht: Dieser nimmt seinen Weg mitten durch die Wohnstube, und in größter Eile müssen Tisch, Stühle und Einrichtungsgegenstände aus der Mitte des winzigen Zimmers entfernt werden, um den Aufzug passieren zu lassen. (Das Aufzugs-Motiv erinnert daran, dass Karl Roßmann im Hotel Occidental Liftjunge ist. Wie dort, so steht auch in der Acquefacques-Episode alles im Zeichen eines nahezu unmenschlichen Zwangs zur Geschwindigkeit.) Die Verhaftung Josef K.s findet in Privaträumen statt, in welche die Behördenvertreter einfach eindringen; ähnlich ergeht es Acquefacques mit den Beamten, die seine Wohnung vermessen. Die Darstellungen von kartierten, von einem Liniennetz überzogenen Räumlichkeiten könnten als Reminiszenzen

31 Jorge Luis Borges: »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen«, in: Ders.: Gesammelte Werke, Erzählungen 1: 1935–1944, nach den Übersetzungen v. Karl August Horst/Curt Meyer Clason bearbeitet v. Gisbert Haefs, München, Wien: Hanser 1982, S. 155-167.

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Monika Schmitz-Emans an das Landvermesser-Motiv interpretiert werden, zumal ihre Darstellung thematisch mit Orientierungsversuchen und Orientierungskrisen Acquefacques’ verbunden ist. Die episodische Struktur der Geschichten korrespondiert der der Kafkaschen Romane. Einschnitte werden u.a. wiederholt durch die Begegnung mit neuen Helfer-Figuren markiert. Abgestimmt auf die (mit Kafka geteilte) Desorientierungsthematik übernimmt die Begegnung mit solchen Helfern auf der Handlungsebene wichtige Funktionen. Motivischthematische Korrespondenzen zwischen den Welten Kafkas und Mathieus bestehen auch insofern, als Technik und Verkehr jeweils eine prägende Rolle spielen. Sind es bei Kafka v.a. technische Kommunikationsmedien (z.B. Telefone), so setzt Mathieu v.a. die Verkehrswege der Figuren ins Bild – sowie Medien der schriftlichen Kommunikation (Briefe, Akten usw.). Thematisch relevant sind zudem bei beiden Prozesse der Entdifferenzierung zwischen Traum und Realität. Acquefacques bleibt zwar grundsätzlich ein Gefangener der Träume, aber es ist in dieser Formulierung schon uneindeutig, ob damit seine eigenen Träume gemeint sind oder die seines Schöpfers, zumal sich innerhalb seiner Geschichten wiederholt Momente des Umschlags von einem Traum in den nächsten ereignen. Im dritten Band, Le processus, kommt es vorübergehend zur Erhebung der Acquefacques-Welt in die dritte Dimension.32 Mathieus 32 Le processus enthält also schon im Titel eine Kafka-Allusion. Typischerweise beginnt das Abenteuer damit, dass der Held beim Erwachen Irritierendes erlebt. In seinem Zimmer steht sein Doppelgänger – dieser ist er selbst in einer anderen Zeitordnung. Um die Verkehrung der linearen Chronologie geht es ja auch anlässlich der antizipatorisch gezeichneten Geschichte Acquefacques’. Nicht nur das Motiv des fremdgewordenen (alter) ego erinnert an »Die Verwandlung«, sondern auch die Bindung Acquefacques’ an einen Arbeitsplan; er muß ins Büro und bricht hastig auf, zu eilig sogar, um seinen Schlafanzug gegen einen Anzug zu wechseln. Seine Sorge ist dabei, der andere werde früher im Büro (als einem Teil der »usine«) sein als er selbst; dies erinnert an die Rivalität des Doppelgängers bei Dostoevskij. Sein Arbeitsplatz liegt in einem labyrinthischen Gebäude, das u.a. einer Börse gleicht; hier werden die Tageskurse von Werten wie »Courage«, »Patience«, »Charité« etc. notiert (S. 16 bzw. S. 14). Der in seinem Zeitgefühl nachhaltig gestörte Acquefacques wird vorübergehend zum Patienten eines Dr. Koff. Und bald erwacht er – als sei die Zeit zurückgespult worden – wieder in seinem Zimmer, um befremdet an dessen Decke zu starren (S. 21 bzw. S. 23). Ein Kapitel seiner Geschichte heißt übrigens in Anspielung auf Proust »A la recherche du rêve perdu«. Die Begegnung des gezeichneten Acquefacques mit seinem eigenen skizzenhaft gezeichneten Entwurf und einer Reihe von dreidimensionalen Doubles erinnert zudem an Pirandellos Sei personnaggi in cerca d’autore. – In La 2,333e dimension nimmt die Geschichte des gezeichneten Acquefacques ebenfalls

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Literatur-Comics Protagonist wandert zunächst über die Trennwände einer unabsehbaren Menge von Zimmern, die wie die Bildelemente einer ComicSeite wirken, zeichnerisch aber als dreidimensional dargestellt sind. Er bewegt sich in Spiralen auf einer Wendeltreppe durch eine immense Bibliothek (Abb. 6), bis er einen Kuppelraum erreicht, wo ihn jemand darüber aufklärt, in welcher Traumzone er sich gerade befinde und dass es auch noch andere gebe.

Abb. 6. Marc-Antoine Mathieu: Le processus, S. 29.

Eine spiralig zugeschnittene Seite, mit der übernächsten durch einen Klebepunkt verbunden, wird beim Öffnen selbst zu einer Art Wendeltreppe, deren einzelne Abschnitte die Kammern des von Acquefacques zuvor erkundeten Traumarchivs sind. Die Buchseite als Trägermedium der Geschichte wird vorübergehend dreidimensieine Wendung ins Dreidimensionale, aber noch radikaler als im Processus. Denn hier ist die letzte Phase der Geschichte unter Verwendung der Farben Rot und Grün so gedruckt, dass sich die Bilder bei Benutzung der dem Buch beigelegten 3D-Brille tatsächlich als dreidimensional darstellen.

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Monika Schmitz-Emans onal; die Bildersprache wandelt sich parallel dazu vom üblichen Zeichenstil zur fotografischen Darstellung eines plastischen Acquefacques. Dieser tritt insgesamt in drei bis vier medialen Darstellungsformen auf: als fotografisch repräsentierte dreidimensionale Figur, als gezeichnete Figur, die sich aber durch den Raum bewegt, sowie als auf dem Papier in Form einer Skizze oder auch als auf Comic-Seiten in Cartoon-Form dargestellte Figur. Der spiralförmige Teil des Traumarchivs, den Acquefacques durchläuft, enthält Regalabteilungen, die mit Ziffern und Buchstaben beschriftet sind. Ersetzt man die dabei verwendeten Ziffern durch die Buchstaben, die im Alphabet an der entsprechenden Stelle stehen (also die 1 durch ein A, die 6 durch ein F usw.), dann werden Namen von künstlerischen Bewegungen, bildenden Künstlern, Zeichnern, Filmemachern und literarischen Autoren lesbar, deren Werke offenbar zu den Beständen des Traumarchivs gehören. Darunter sind Dada (4141), Breton (BR5TON) Magritte (M17R9TT5), Reeves (R55v5S), Crevel (3R5V5L), Buñuel (2UNU5L), Chirico (389R930), Dali (41LI und 41L9), Borges (2OR75S), MacKay (M13K1A) und Kafka (K16K1); das letztere Schild wird sogar zweimal sichtbar.

4. Einige abschließende Thesen zum Literatur-Comic Comic-Paraphrasen literarischer Texte und Comic-Variationen über literarische Vorgaben sind, so meine These, u.a. im Kontext des Selbstverständnisses des Comics als ›neunte Kunst‹ zu sehen. In der zeichnerischen Auseinandersetzung mit literarischen Stoffen, Figuren und Themen drückt sich vielfach der implizite Anspruch aus, weitaus mehr als ein unterhaltendes Darstellungsmedium zu sein; der Anspruch, mit genuin künstlerischen – und zwar medienspezifischen – Mitteln autonome, also ästhetisch eigenwertige Artefakte zu schaffen.33 Er gilt verschiedene Funktionen des Literatur-Comics zu unterscheiden, allerdings nicht unbedingt, um dann die einzelnen Fall33 Der gleiche Anspruch artikuliert sich auch über die Bezugnahme auf die Geschichte der bildenden Kunst, wie sie in den Meta-Comics von Will Eisner und Scott McCloud zu beobachten ist, die den Comic mit comicspezifischen Mitteln reflektieren und durch ihre Meta-Comics ein Pendant zu dem schaffen, was bei Friedrich Schlegel »Poesie der Poesie« hieß – eine Kunst, die sich selbst bespiegelt und damit ihre Autonomie bekräftigt. F. Schlegel: 238. Athenäumsfragment, in: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken 1, hg. von Hans Eichner, München, Paderborn, Wien: Schöningh 1967, S. 204.

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Literatur-Comics beispiele strikt bestimmten Kategorien zuzuordnen, denn manche haben verschiedene Bedeutungsdimensionen und Bezugsfelder. Viele dieser Comics haben natürlich durchaus eine informative Dimension: Sie vermitteln Wissen über Inhalte literarischer Werke oder über Leben und Schaffen literarischer Autoren – auch wenn sich ihr Anspruch an sich selbst darin nicht erschöpft. Betont sei nochmals, dass der Bezug auf eine literarische Vorlage nicht zwingend bedeutet, dass der Comic sich in den Dienst dieser Vorlage stellt. Im Gegenteil: Er kann sein Spiel mit ihr treiben – was beim Comic-Leser ein Wissen über die Vorlage voraussetzt, damit er das Spiel als solches versteht. Dies gilt auch für die Beispiele Battaglias und Mathieus, in denen jeweils eine kreative Transformation der literarischen Ausgangstexte vollzogen wird. In beiden Fällen kommt in der Art, wie der Zeichner mit seinen Vorgaben umgeht, sein eigenes künstlerisches Selbstverständnis zum Ausdruck.

Literatur Alber, Wolfgang/Wolf, Heinz (Hg.): 50 – Literatur gezeichnet, 2 Bde., Wien: Comic Forum 2003/2007. Armel: Phèdre. Une tragédie de Jean Racine. Adaption intégrale en bandes dessinées par: Armel, scénariste et dessinateur, Darnétal: petit à petit 2006. Battaglia, Dino: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Das öde Haus. Gezeichnet von Dino Battaglia, o.O.: Altamira 1990. Battaglia, Dino: Contes et récits fantastiques, Bd. 3: Edgar A. Poe, Histoires, St. Etienne: Mosquito 2005. Borges, Jorge Luis: »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Erzählungen 1: 1935–1944, nach den Übersetzungen v. Karl August Horst/Curt Meyer Clason bearbeitet v. Gisbert Haefs, München, Wien: Hanser 1982, S. 93-112. Borges, Jorge Luis: »Die Bibliothek von Babel«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Erzählungen 1: 1935–1944, nach den Übersetzungen v. Karl August Horst/Curt Meyer Clason bearbeitet v. Gisbert Haefs, München, Wien: Hanser 1982, S. 145-155. Borges, Jorge Luis: »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Erzählungen 1: 1935–1944, nach den Übersetzungen v. Karl August Horst/Curt Meyer Clason bearbeitet v. Gisbert Haefs, München, Wien: Hanser 1982, S. 155167. Eisner, Will: Graphic Storytelling & Visual Narrative (1996), 5. Aufl., Tamarac: Poorhouse 2001.

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Monika Schmitz-Emans Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil 1982. Grünewald, Dietrich: Comics, Tübingen: Niemeyer 2000. Jans, Michel u.a.: Battaglia. Une Monographie, St. Egrève: Mosquito 2006. Kafka, Franz: »Die Verwandlung«, in: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. v. Roger Hermes, Frankfurt/Main: S. Fischer 2004. Klawitter, Arne/Ostheimer, Michael: Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. Lohse, Rolf: Ingenieur der Träume. Medienreflixive Komik bei MarcAntoine Mathieu, Bochum: Bachmann 2008. Mahrer-Stich, Irene (Hg.): Alice im Comicland. Comiczeichner präsentieren Werke der Weltliteratur, Zürich: Edition Moderne 1993. Mairowitz, David Zane/Crumb, Robert: Introducing Kafka. A Kafka Comic by David Zane Mairowitz (text) and Robert Crumb (drawings), Cambridge: Totem 1993. Mathieu, Marc-Antoine: Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, Bd. 1-5, Tournai: Delcourt, Bd. 1: L’origine (1990/ 1991, deutschsprachige Ausgabe: Der Ursprung, übers. v. Harald Sachse, Berlin: Reprodukt 1999); Bd. 2: La qu… (1991); Bd. 3: Le processus (1993); Bd. 4: Le début de la fin/La fin du début (1995); Bd. 5: La 2,333e dimension (2004). Mathieu, Marc-Antoine/Mathieu, Jean-Luc: L’ascension & autres récits, Paris: Delcourt 2005. McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art, Northampton: Kitchen Sink 1993. Melville, Herman/Sienkiewicz, Bill: Moby Dick, New York: Berkley Publishing Corporation 1990. Mitchell, W.J.T.: Bildtheorie, hg. u. mit einem Nachwort v. Gustav Frank, übers. v. Heinz Jatho, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. Schlegel, Friedrich: 238. Athenäumsfragment, in: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken 1, hg. von Hans Eichner, München, Paderborn, Wien: Schöningh 1967. Sienkiewicz, Bill: Herman Melville. Moby Dick, New York: Berkley Publishing Corporation 1990.

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Acquefacques, Oubapo & Co. Medienreflexive Strategien in der aktuellen französischen bande dessinée ROLF LOHSE

1. Die aktuelle französische bande dessinée Die Zeiten, in denen Comics in Deutschland keinen guten Ruf hatten, dürften vorüber sein, wenn auch in Ländern wie Japan und Frankreich noch immer eine weitaus größere Akzeptanz dieses Mediums besteht.1 Besonders in Frankreich gelten Comics inzwischen als Kunstform, deren Muse der Zeichner Enki Bilal erst kürzlich auf einem Titelblatt huldigte (Abb. 1). Damit einhergehend hat die zeitgenössische bande dessinée in Frankreich ein Entwicklungsstadium erreicht, das sich durch eine hohe mediale Selbstreflexivität auszeichnet.2 Es lässt sich geradezu von einem Trend zu betont me1

2

In Frankreich hat die bande dessinée längst die akademischen Weihen erlangt: 1971 brachte der französische Kritiker François Lacassin den Begriff des »neuvième art« ins Spiel. François Lacassin: Pour un neuvième art. La bande dessinée (1971), Paris: éd. de Paris 1982, S. 10, 18. Der Wandel in Deutschland ist nicht nur der inzwischen recht lebendigen Szene von Produzenten, Verlagen und Lesern von Comics zu verdanken, sondern auch bedeutenden Tageszeitungen, wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die täglich fortgeschriebene Comic-Serien publizieren (im Fall der F.A.Z. der Comic Strip Strizz), und in zunehmendem Maße auch der Wissenschaft. Vor einigen Jahren jedoch nahm man es in Deutschland noch als kulturelle Sensation wahr, als F.A.Z. und Bild jeweils eine Reihe mit Comic-Klassikern herausgaben. Hier soll der französische Begriff »bande dessinée« privilegiert werden, da die französische Bezeichnung den im englischen Begriff noch enthaltenen Hinweis auf das komische Register verweigert, der längst für viele bandes dessinées nicht mehr gilt, aber noch in dem amerikanischen Synonym »funnies« für »comic« nachhallt. Der französische Begriff bezeichnet zudem genauer die Narrativität des Mediums, das auf dem Prinzip der Aneinanderreihung von (zumeist) gezeichneten Bildern (bande dessinée) beruht. Vgl.

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Rolf Lohse dienreflexiven bandes dessinées sprechen, in denen in auffälliger Häufung medienreflexive Strategien eingesetzt werden, und dies nicht nur, um die Grenzen der dem Medium eigenen Codes zu reflektieren, sondern v.a., um die Möglichkeiten in Darstellung und Erzählung zu erweitern. Besonders herausstechende medienreflexive Strategien in Artefakten, die üblicherweise als Modernitätssignale geschätzt werden und die dem noch jungen Medium der Comics von Anfang an als Distinktionsmerkmal dienten, sollen in diesem Beitrag an einigen ausgewählten Beispielen der französischen bande dessinée aus den letzten Jahren untersucht und dargestellt werden: Les quatre fleuves von Fred Vargas und Edmond Baudoin (2000), L’hiver en noir et blanc von Lewis Trondheim (2005) und L’origine von Marc-Antoine Mathieu (1991).3

Abb. 1. Enki Bilal: Beaux Arts, Hors série (2008), Sonderheft, Titelseite.

Zunächst aber einige Worte zur wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung des Comics in Frankreich, wo die bande dessinée (BD)

3

Alain Rey/Henri Landré: »Bande dessinée«, in: Dictionnaire culturel en langue française, hg. v. Alain Rey, Paris: Le Robert 2005, S. 753-760, hier S. 753. Moderne wird hier nicht als Epochenbegriff verstanden, sondern als bewusster und auch zu Transgressionen bereiter Umgang mit Traditionen.

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée ein bedeutender Kultur- und Wirtschaftsfaktor ist. Gegenwärtig sind in Frankreich über 5000 Titel auf dem Markt. Im Jahre 2007 erschienen 4313 Titel, davon 3312 Erst- und 712 Neuausgaben. Die größte Gruppe unter den Erstausgaben waren Manga – 1428 Titel, was einem Marktanteil von 43 % entspricht. Manga erreichen in Frankreich Auflagen von über 100.000 Exemplaren. Es erschienen zudem 204 BDs in Buchformat und 85 Essays über die BD. Der Markt wuchs gegenüber 2006 um 4,4 %. Über 250 Verleger publizieren in Frankreich BDs, während es 2005 noch ca. 200 Verlage waren. Dabei haben 17 Verlagshäuser einen Marktanteil von 74 %. Der Marktanteil der BDs liegt bei 6,5 % des gesamten Buchmarktes; die Zahl der spezialisierten Buchhandlungen wächst, und auch in herkömmlichen Buchhandlungen nimmt die der BD vorbehaltene Regalfläche zu.4 Der Markt ist stark segmentiert: Es hat sich eine Vielzahl von Gattungen und Genres herausgebildet und eine stilistische Breite, die atemberaubend ist. Auch über den Buchmarkt hinaus sind die BDs fest im französischen Kunstbetrieb verankert. Mit der Gründung des »Festival international de la bande dessinée« in Angoulême 1974 erhielt die junge Kunstform in Frankreich ein wichtiges Forum zur Vorstellung neuester Tendenzen.5 Ein Bewusstsein für die historische Bedeutung dieser Artefakte manifestiert sich zudem in dem seit 1991 bestehenden Museum in Angoulême, das eigens den BDs gewidmet ist. Die BD erobert selbst die klassischen Museen: So fand z.B. im Pariser Centre Pompidou im Jahr 2005 eine große Ausstellung über das Werk Hergés statt. Die hier zu analysierenden Titel belegen den Entwicklungsstand der Gattung in Frankreich, der jeglichen Trivialitäts- oder Kitschverdacht leicht konterkariert, der dem Comic in Deutschland teilweise noch anhaftet. So gibt es im Bereich der BD neben einer Massenproduktion, die auf bewährte Darstellungs- und Erzählmuster setzt, viele interessante inhaltliche und formale Erweiterungen des Spektrums. Häufig erreichen BDs die Komplexität literarischer oder filmischer Produkte, die als Meisterwerke gerühmt werden. Dies wird auch an der jüngeren Entwicklung hin zum umfangreicheren roman graphique oder roman visuel deutlich, der eine neue BDGattung darstellt, die sich vom Umfang der Geschichten, aber auch hinsichtlich neuer grafischer Gestaltungsmöglichkeiten deutlich von den bisher im Mittelpunkt stehenden Publikationen unterscheidet. Dabei handelt es sich um Romane, die nicht einfach nur illustriert

4

5

Vgl. Gilles Ratier: »2007. Vitalité et diversité. Une année de bandes dessinées sur le territoire francophone européen«, in: Bilan ACBD (2007), URL: http://www.acbd.fr/bilan-2007.html, Datum des Zugriffs: 14.6.2008. Im Jahr 2008 fand die 35. Auflage dieses Festivals statt.

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Rolf Lohse sind, sondern bei denen das Bild eine zentrale narrative Funktion erhält. Die neuen grafischen Darstellungsmöglichkeiten überschreiten häufig den Rahmen konventioneller narrativer Strategien und verweisen gleichzeitig durch diese Transgressionen auf die traditionellen Darstellungsmodi. Insofern tragen solche Werke auch dann, wenn sie nicht explizit medienreflexiv angelegt sind, medienreflexives Potential. Als Beispiel kann eine Seite aus Les quatre fleuves dienen, das aus der engen Zusammenarbeit der Krimiautorin Fred Vargas mit dem Zeichner Edmond Baudoin hervorgegangen ist. Der Les quatre fleuves betitelte roman graphique, der jüngst auf Deutsch unter dem Titel Das Zeichen des Widders (2008) erschienen ist, hat 2001 den Preis für die beste Bildgeschichte in Angoulême erhalten. Auf der hier gewählten Seite (Abb. 2) ist eine Verhörszene dargestellt, in der der störrische jugendliche Held Grégoire Braban, der bislang jede Aussage zu einem Diebstahl verweigert hat, von Kommissar Adamsberg dazu gebracht wird, die Tat zu gestehen. Auf der Seite steht ein einziges Panel, dessen innovatives Element sich neben dem Dialog in der oberen Bildhälfte findet: Parallel zum Dialog der beiden Figuren sind dort nahe des rechten Bildrands fünf frontale Ansichten des Kopfes von Grégoire abgebildet, die sich teilweise überschneiden und die chronologisch aufeinanderfolgenden Stadien des Gesichtsausdrucks während des Dialogs darstellen. Diese vertikal angeordnete Folge von Gesichtsansichten läuft aus in ein nur noch in der oberen Hälfte ausgeführtes Gesicht, aus dem als markantestes Element die Augen herausstechen. Unterhalb dieses halb ausgeführten Gesichts folgen noch vier weitere Augenpaare, die wiederum unterschiedliche Gefühlsregungen zum Ausdruck bringen und zur schon beschriebenen ausgeführten Szene auf der unteren Bildhälfte überleiten. Die Seite zeigt eine ganz ungewohnte Darstellung einer ganzen Handlungssequenz: Diese Sequenz wird nicht mehr in eine Reihe aufeinanderfolgender Bilder aufgelöst, sondern simultan auf einem Bild gezeigt. Die Zeitachse wird gleichsam aus der Horizontalen in die Vertikale geklappt. Dabei ist die Chronologie auf der Seite durch die sukzessiven Veränderungen des Gesichtsausdrucks des Jungen gewahrt. So wie der Dialogtext von oben nach unten zu lesen ist, so suggeriert die Folge der notierten Gesichtsausdrücke, die auf den Ausdruck der Augen reduziert werden, die zeitliche Abfolge. Damit findet Baudoin eine zeichnerisch innovative und sehr ökonomische Lösung für die Darstellung einer Dauer: Auf einer einzigen Seite ist ein ganzes Verhör abgebildet, inklusive der inneren Veränderungen, die mit dem jungen Straftäter vor sich gehen. Die Augen als ›Türen zur Seele‹ zeigen, wie sein Trotz zusammenbricht und Verzweiflung und Resignation Platz macht, die ihn zur Kooperation mit dem Kommissar bringen werden.

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée

Abb. 2. Fred Vargas/Edmond Baudoin: Les quatre fleuves, S. 85.

Narratologisch ist diese Darstellung interessant, weil hier durch die Projektion der Chronologie von sukzessiven Bildern in die Simultanität eine besondere Verdichtung und Raffung erreicht wird. Dies hat Konsequenzen für die Ökonomie der Erzählens: Das Einzelbild ist zugleich ärmer und reicher als die Bilderfolge. Es ist ärmer, weil ihm weniger Raum zur Verfügung steht. Dies führt zu einer Reduktion der dargestellten Inhalte und der Darstellungsweise. Tatsächlich sieht man nur die Oberkörper der beiden beteiligten Figuren und von dem Jungen zusätzlich zehn zunehmend reduzierte Ansichten des Gesichts, die schließlich die Augen fokussieren. Auch was den Text angeht, so wird er zu drei Vierteln ohne die üblichen Sprechblasen präsentiert. Gleichzeitig ist dieses Bild reicher als so manches Einzelbild in einer BD: Es enthält eine bemerkenswerte Darstellung von Chronologie und stellt sehr suggestiv die Veränderung dar, die in der Psyche des jungen Mannes einsetzt. Die in die Simultanität projizierte Chronologie wirkt beschleunigend, weil nun die Inhalte potentiell mehrerer Bilder in einem Bild zusammengefasst sind, sie bietet aber auch die Möglichkeit der Verlangsamung bei der Lektüre, da nun das Augenmerk auf die Analyse der Durchund Übergänge zwischen dem Start- und dem Zielpunkt gelegt wer313

Rolf Lohse den kann. Diese Darstellungsweise leistet mithin mehr als die herkömmliche, da hier eine relevante Veränderung des Protagonisten innerhalb eines Bildrahmens inszeniert werden kann. Betrachtet man diese Darstellungsweise unter dem Gesichtspunkt der Medienreflexivität, so lässt sich sagen, hier liege – und auch das gehört zu den Stärken der geradezu poetischen Darstellungsweise – ein Hinweis auf die Inszenierung des Zeichnerischen vor: Es wird zwar die Psyche des jungen Verdächtigen dargestellt, dies aber mit zeichnerischen Mitteln, die auf eine nicht alltägliche Weise eingesetzt werden. Der Besonderheit dieser darstellerischen Idee Baudoins liegt in der Reduktion des Protagonisten auf die Augen, die die momentane Gefühlslage zum Ausdruck bringen, und in der Akkumulation von Gesichtern und Augenpaaren. Eine solche Akkumulation findet sich üblicherweise auf Skizzenblättern, auf denen verschiedene Gesichtsausdrücke erprobt werden. Hier nutzt Baudoin diesen Charakter des Unfertigen, der Skizze, um eine ganze Handlungssequenz in einem Bild zu konzentrieren. Zeichnerische Reduktion und chronologische Konzentration gehen Hand in Hand. Die narrativ funktionale Inszenierung des Zeichnerischen kann gleichzeitig als Inszenierung des Mediums gelesen werden. Auf ähnliche Weise deutet der Wechsel zwischen Textpassagen, die von Sprechblasen eingeschlossen sind, und solchen, die frei stehen oder auf Gegenständen und Figuren platziert sind, auf die unterschiedlichen Darstellungskonventionen der BD und traditioneller schriftsprachlicher Narration. Die neuartige bild-textliche Erzählkonfiguration dieses roman graphique ist geprägt durch zahlreiche Momente, in denen auf die Darstellungskonventionen des Mediums auf zeichnerischer und auf textlicher Ebene hingedeutet wird. Die beobachtbaren Veränderungen betreffen nicht nur die Inhalte und die Aufmachung der zunehmend ausdifferenzierten Gattungen im Bereich der BD, sondern auch die Erzählweise und die in die Erzählung integrierten Reflexionen über das Medium und seine Erzählweise. Die Häufung der Abbildungen des Gesichts der einen Figur verweist dabei auf die Konvention, die festlegt, wie häufig eine Figur pro Bild vorkommen darf, nämlich genau einmal. Diese Konvention bricht Baudoin mit großem Gewinn auf der Ausdrucksseite. Versucht man einmal, genauer auszubuchstabieren, wozu medienreflexive Darstellungsstrategien dienen können, so lassen sich mehrere Funktionen aufzeigen. Plakativ medienreflexive Strategien sind uns als Rezipienten wohl vertraut: Wer kennt nicht die anregenden Texte oder Gemälde, die einen Autor oder Maler bei der Arbeit zeigen, oder die Filme, deren Handlung in einem Studio bei Filmaufnahmen situiert ist? Doch das explizite Thematisieren von Medien kann Erkenntnisse über die Beschaffenheit und Verwen-

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée dung von Medien geben – und nicht nur des Mediums, dessen sich das Artefakt bedient. Der Erkenntnisgewinn kann zur Ausweitung der Darstellungsmöglichkeiten des Mediums genutzt werden, etwa indem übliche Grenzen der Verwendung von Medien überschritten werden. So wird etwa gern die Kinoleinwand als Eintrittspforte ins Reich der Fiktion genutzt, etwa in Woody Allens The Purple Rose of Cairo (1985) oder John McTiernans Last Action Hero (1993). Insofern durch solche Umdeutungen ein Bruch mit der traditionellen Funktion eines Mediums vollzogen wird, kann man Medienreflexivität auch als Modernitätssignal auffassen. Eben solche Darstellungen, bei denen das Medium selbst oder Aspekte seiner Produktion, Distribution und Rezeption thematisiert werden, werden in den BDs in verschiedene narrative Konzepte eingebunden. Man kann in diesen Fällen von einer Medienreflexion sprechen, die das Medium, Teile davon oder bestimmte Verfahren, die für diese Gattung typisch sind, in eben diesem Medium abbildet. Dies kann mehr oder weniger deutlich vorgenommen werden, indem innerhalb des fiktiven Universums Alben, Seiten, einzelne Bilder gezeigt werden, die aus BDs entnommen sind oder die die Produktion und Distribution dieses Mediums (oder anderer Medien) zeigen. Interessant wird es v.a. dann, wenn der Verdacht aufscheint, das in der Diegese gezeigte Medium könnte mit dem identisch sein, das wir gerade lesen. Dann nämlich würden die auf den abgebildeten Seiten dargestellten Dinge direkt relevant für die erzählte Geschichte, wie dies in dem Album L’origine von Marc-Antoine Mathieu der Fall ist. Medienreflexivität scheint zunächst klar durch das Zeigen bestimmter Aspekte des in Frage stehenden Mediums im Medium selbst definiert zu sein. Allerdings zeigen sich im Detail einer Untersuchung durchaus Probleme, denn jede ungewöhnliche Formgebung, jeder ungewöhnliche Erzählverlauf kann dazu einladen, die gewohnten Formen und Darbietungsweisen kritisch zu betrachten. Jede ungewöhnliche Form kann als Signal gelesen werden, das auf die medialen Voraussetzungen der Darstellung verweist und das Medium thematisiert. Eine rein stilistische Variation ist daher bisweilen schwer abzugrenzen von genuin medienreflexiven Strategien. Diese erweitern insofern die Verfahren der Darstellungsmöglichkeiten einer Gattung, als sie auf die Verfahren anderer Gattungen und Künste ausgreifen, diese gleichsam eingemeinden,6 einzelne Parameter des Mediums überakzentuieren oder ausfallen lassen und damit auf den Code deuten, der der Produktion und Rezeption dieses Mediums zugrunde liegt. Das folgende Beispiel treibt die Suche nach neuen formalen Ausdrucksmitteln und Themenfeldern radikal und vielleicht auch bis zu einem Endpunkt voran. In der BD L’hiver

6

Etwa in der Trilogie Le photographe von Guibert (2003-2005).

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Rolf Lohse en noir et blanc von Lewis Trondheim wird eine Geschichte über den Winter erzählt – vielleicht eher eine Art Meditation –, ohne eine Figur darzustellen. Die Bilder geben wieder, was der Erzähler des Textes möglicherweise sehen könnte oder sich während der Äußerung des Textes vorstellt (Abb. 3a-b).

Abb. 3a-b. Lewis Trondheim: L’hiver en noir et blanc, o.S.

Schwarz ist die Nacht, die Erde, die Tinte, weiß ist der Schnee, aber auch der Nebel, das Licht, das Leben sind gemischt aus Schwarz

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée und Weiß. Diese Bildgeschichte ist explizit medienreflexiv, da das Papier und die Tinte thematisiert werden, die die grundlegenden Gestaltungsmittel der Bildgeschichte sind. Doch auch ohne diesen Hinweis auf Papier und Tinte lässt sich von einer medienreflexiven Form sprechen, denn dadurch, dass hier fast alles weggelassen wurde, was normalerweise die Narration in der BD bestimmt, wird der Betrachter mit den grundlegenden Gestaltungselementen der BD in äußerst reduzierter Form in Schwarz-Weiß konfrontiert, d.h. mit der Kombination aus den grafischen Elementen Kasten, Linie, Fläche mit der schriftsprachlichen Äußerung. Der Einsatz reduzierter Mittel aktualisiert ein Vorwissen, das von der Form besteht, die nicht einer solch radikalen Reduzierung unterworfen wurde, und das nun produktiv in den Rezeptionsvorgang eingebracht werden kann. Bereits das Herausstellen von extremen Differenzen zur herkömmlichen Darstellungsweise der BD kann als eine medienreflexive Strategie benannt werden. Der Verlust der Figuration bei Trondheim eröffnet neue bilderzählerische Möglichkeiten, die in der Entwicklung eines radikal subjektiven Blickpunkts liegen, von dem aus den monochromen Flächen sehr verschiedene Bedeutungen zugewiesen werden. Damit werden diese Elemente polyvalent, und es kann mit äußerst sparsamen Mitteln sehr Verschiedenes erzählt werden. Die BD von Trondheim erschien im Verlag Association, der im Jahr 1990 durch unabhängige Autoren gegründet wurde und für wesentliche Erweiterungen der Darstellungscodes der BD steht. Die BDs, die in diesem Verlag publiziert werden, zeichnen sich durch neue Formate und die Suche nach neuen Inhalten aus, und der Verlag begleitet die neuen Ansätze mit großem Interesse für die theoretische Reflexion. So erscheinen regelmäßig Publikationen mit Reflexionen über die BD auf hohem theoretischem Niveau, etwa Jean-Christophe Menus Polemik Plates-bandes.7 Die Autoren des Verlags Association haben sich von dem festgelegten Format des Albums (Din-A-4 mit stabilem Einband und meist 48 Seiten) weitgehend gelöst und unterschiedliche Formate vorgelegt, die von achtseitigen Heftchen bis zu Publikationen reichen, die in Umfang, äußerem Erscheinungsbild und auch vom ästhetischen Anspruch her eher mit narrativen literarischen Werken vergleichbar sind. Dieser Wandel ist begründet durch die Suche nach Formen für ganz neue Inhalte: Dazu gehören längere FantasieGeschichten, novellenartige Erzählungen, grafische Romane, aber auch nicht-fiktionale Gattungen wie die Autobiografie sowie dokumentarische Gattungen, ja Historiografie. Auch diese Veränderungen sind hinsichtlich der Medienreflexivität von Relevanz, weil sie

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Vgl. Jean-Christophe Menu: Plates-bandes, Paris: L’Association 2005.

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Rolf Lohse auf die bislang üblichen Inhalte kritisch verweisen. Es gibt medienreflexive Strategien, die es auf neue Darstellungsverfahren abgesehen haben und den Leser dazu animieren sollen, die dargestellte Geschichte auf eine bislang noch nicht gekannte Weise zu rezipieren. Ich möchte sie als strukturell-performative Strategien bezeichnen. Für solche Strategien steht in ganz besonderem Maße die Bewegung Oubapo, die im Umkreis des Verlags Association entstand. Oubapo bedeutet »Ouvroir de la bande dessinée potentielle«, also soviel wie »Atelier für den potentiellen [d.h. möglichen, RL] Comic«. Dabei handelt es sich um eine offene Gruppierung von Autoren, die sich als ein Ableger des Oulipo versteht, des »Ouvroir de la littérature potentielle«, das 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau in Paris gegründet wurde und zu dem später Marcel Duchamps, Georges Perec und Italo Calvino gehörten, in Deutschland Oskar Pastior.8

Abb. 4. Killoffer: »Bande dessinée en tripoutre«, in: Oubapo. OuPus 1 (1997), S. 66f.

Oulipo hat zahlreiche aus der Literaturgeschichte bekannte Dichtungsverfahren spielerisch offen gelegt, z.B. Reimregeln oder die strengen Formregeln, denen das Sonett folgt. Zudem wurden im

8

Oulipo besteht bis heute – mittlerweile in der dritten Generation. Das Ziel von Oulipo lässt sich zusammenfassen als ein Versuch, die Produktion von Literatur zu entmythisieren, indem die Verfahren offengelegt werden, nach denen Texte entstehen. Dahinter steht die Auffassung, Literatur beruhe auf irgendwie gearteten Regeln, die man im Lesakt nachvollziehen, aber auch zur Produktion von Literatur anwenden kann.

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée Rahmen von Oulipo bislang unbekannte Verfahren erfunden oder wenig genutzte – wie die Sestine – wiederbelebt, was zu vielfältigen Anregungen für die zeitgenössische Literatur geführt hat.9 Oubapo versucht mit Blick auf die BD ähnliche Regeln sichtbar und produktiv für die Gestaltung von BDs zu machen. Dazu werden neue formale (oder inhaltliche) Regeln erfunden, die die Entstehung von innovativen Texten steuern.10 Als Beispiel für die Experimente von Oubapo dient hier ein grafischer Beitrag Killoffers (Abb. 4), der auf innovative Weise mit der Reihung der Bilder und der räumlichen Disposition innerhalb der Bilder spielt. Am Beispiel der BD L’origine von Marc-Antoine Mathieu soll nun untersucht werden, welches Gewicht medienreflexiven Strategien bei der Gestaltung einer innovativen Geschichte zukommt und wie das Erkennen dieser Strategien für die Interpretation nutzbar gemacht werden kann.

2. Marc-Antoine Mathieu: L’origine (1991) Auch traditionelle Formate können zu Orten von medien- und gattungsreflexiven sowie gattungserweiternden Experimenten werden, so die Alben des Zeichners und Autors Marc-Antoine Mathieu, der u.a. auch im Verlag Association publiziert hat. Mathieu wählt häufig medienreflexive Strategien zur Grundlage seiner Geschichten. Er verwendet sie nicht nur als ein eingestreutes Modernitätssignal, das auf die Qualitäten und die Verfasstheit des Mediums verweist, sondern als plotgenerierendes Prinzip. Das Medium wird auf diese Weise einerseits auf der inhaltlichen Ebene explizit thematisiert. Die Reflexion des Mediums hat jedoch andererseits auf der Handlungsebene Konsequenzen für die erzählte Geschichte, die in mehrfacher Hinsicht neue Wege beschreibt und an vielen Stellen auch implizit die eigene Medialität betrifft. Die Geschichte, die Mathieu in L’origine entwirft, ist zwar kompliziert, aber schnell erzählt: Julius Corentin Acquefacques – der Name der Figur ist ein Lautpalindrom und verbirgt den Namen eines bedeutenden Schriftstellers der deutschen Literatur, »Kafka« – träumt viel und ist daher mit seltsamen Ereignissen vertraut. Er erhält per Post eine Seite zugestellt, die aus einer BD ausgerissen wurde, die ihn selbst zum Helden hat. Es handelt sich um die vierte Seite eben des Albums, das wir gerade lesen (Abb. 5).

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Vgl. z.B. das Verfahren »n+7«, bei dem jedes Substantiv eines Textes gegen ein anderes ausgetauscht wird, das in einem beliebigen Wörterbuch sieben Einträge weiter unten aufgeführt ist. 10 Siehe etwa Oubapo. OuPus 1 (1997), Paris: L’Association.

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Abb. 5. Marc-Antoine Mathieu: L’origine, S. 11.

Diese BD trägt unschwer erkennbar den Titel L’origine, allerdings kann Acquefacques mit diesem Titel nichts anfangen und ist beunruhigt, da das Wort in seiner Sprache nicht existiert. Kurz darauf erhält er einen weiteren Umschlag – diesmal mit der Angabe, ihn am kommenden Tag um 15.00 Uhr zu öffnen. Am folgenden Tag sucht er zu diesem Zeitpunkt zwei Freunde auf, die er wegen der ihm rätselhaften Seite konsultieren möchte. Als er mit ihnen den zweiten Umschlag öffnet – wir befinden uns auf Seite 19 – wird er mit einer weiteren Seite der BD L’origine konfrontiert:11 Diesmal ist es die Seite 18, die wir gerade rezipiert haben (Abb. 6).

11 Die Seitenzahlen folgen der Paginierung durch den Autor, nicht jener durch den Verlag.

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée

Abb. 6. Marc-Antoine Mathieu: L’origine, S. 18f.

Die Figuren erkennen sich auf der Seite wieder, die sie in den Händen halten. Sie lesen dort, was sie gerade getan und gesagt haben und reagieren überrascht darauf. Um sich die Existenz dieser BDSeite zu erklären, spekulieren sie: Es könnte sich um eine Prophezeiung oder um ein geplantes Vorgehen durch einen Autor handeln. Die explizite Thematisierung des Autors kann als ein humorvoller Hinweis auf die Entstehung der BD interpretiert werden, denn woher sollten die fiktionalen Figuren von ihrer Existenz in einer fiktionalen Wirklichkeit und von einem Autor erfahren haben, der sie erfunden hat? Dieses überraschende Wissen der Figuren ist zwar durch ihre Unterhaltung über die Acquefacques zugespielten Seiten motiviert, aber dennoch lassen sich ihre Aussagen auch auf die eigene Wirklichkeit beziehen, die ja auf den Seiten abgebildet erscheint. Auf diese Wirklichkeit geschaut, sollte man eher erwarten, dass die Figuren nicht einmal ahnen, dass es jemanden geben sollte wie ihren Autor. In dem Umschlag findet sich eine weitere Seite, die Seite 27 (Abb. 7). Die drei Freunde gehen aufgrund der Übereinstimmung der Seite 18 mit dem, was sie gerade gelebt haben, davon aus, dass Seite 27 in der Zukunft Wirklichkeit werden dürfte. Und tatsächlich fügt sich Seite 27 im weiteren Verlauf bruchlos in die Handlung ein. Und dies, obwohl Acquefacques zunächst vermeiden wollte, Buchhandlungen oder Bibliotheken zu betreten.

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Abb. 7. Marc-Antoine Mathieu: L’origine, S. 23.

In dieser Buchhandlung überreicht ihm der Angestellte nun das Album L’origine, aus dem allerdings alle bis auf eine Seite herausgerissen wurden – bis auf die Seite 29, die Acquefacques gerade dabei zeigt, wie er eben diese Seite 29 liest und sich darüber wundert, genau das zu sagen, was auf der Seite schon steht (Abb. 8). Da nun aber die übrigen Seiten fehlen, ist keine Auskunft über den weiteren Verlauf der Handlung zu ermitteln. Acquefacques bekommt immerhin heraus, welche Zahl von Seiten noch verbleiben: Es sind 12. Auch dies ist ein interessanter Hinweis auf die übliche Form der BD. Die noch im Heft verbleibenden Seitenfragmente verweisen auf die 48-seitige Albenform, bei der zumeist 42 Seiten inhaltlich gefüllt sind. In dem Buchladen wird er von einer Figur angesprochen, die ihn zu erwarten scheint und die sich als Forschungsdirektor Igor Ouffe vorstellt. Ouffe erklärt dem verwunderten Acquefacques seine Forschungen: Er befasse sich mit der Entstehung der Welt. Die Welt, in der er lebe, sei eine, die einer BD ähnlich sei, so eines sei322

Medienreflexive Strategien in der bande dessinée ner Forschungsergebnisse. Durch einen Zufall sei er auf das Album mit dem Titel L’origine gestoßen, das er als das »genaue Abbild der Welt« erkannt habe: »J’avais entre les mains la représentation exacte du monde!!!«12

Abb. 8. Marc-Antoine Mathieu: L’origine, S. 29.

Diese Feststellung überrascht. Sie setzt einen medienreflexiven Akzent, insofern sie in der Welt, in der Acquefacques und Ouffe leben, die Existenz der Gattung der BD voraussetzt. Denn es stellt sich die Frage, wie es einer in der Diegese angesiedelten Figur möglich sein könnte, eine Aussage zu treffen, die nur von der Seite des Lesers her möglich ist? Ouffe verfügt über die besondere Gabe, solche Deutungen zu entwerfen. Er verweist auf die Versuche von Forschern, auf der Grundlage seiner Annahmen die Geheimnisse der

12 Marc-Antoine Mathieu: Julius Corentin Acquefacques, prisonnier de rêve, Bd. 1: L’origine, Paris: Delcourt 1991, S. 34.

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Rolf Lohse Welt zu entschlüsseln, indem sie sie als BD interpretieren und versuchen, sie als BD erneut zu entwerfen. Um seine Hypothese einer genaueren Prüfung zu unterziehen, habe er versucht, Acquefacques herbeizulocken, indem er ihm einzelne Seiten des Albums zuschickte. Er habe feststellen wollen, ob sich die in dem Album L’origine enthaltene Handlung genau so ereignen würde. Und das Resultat habe ihn überzeugt, denn es sei alles so gekommen, wie vorausgesehen. Auf die nahe liegende Frage Acquefacques’, wie es denn nun mit dieser Geschichte weitergehe, gibt Ouffe zu, auch er wisse es nicht, da die letzten Seiten des Albums herausgerissen worden seien. Nun erklärt er ihm das Ziel seiner Forschungen und die diesen Forschungen zugrunde liegenden Hypothesen: Er nehme an, die zweidimensionale Welt sei von einer weiteren Welt mit drei Dimensionen umgeben, in der ein schaffendes Wesen oder eine schaffende Kraft – eine »entité créatrice«13 – die Welt erzeuge, in der die Figuren wohnten, als zweidimensionale Abbilder der dreidimensionalen Welt. Dies ist für den Leser zwar eine triviale Wahrheit, aber wenn eine Figur aus der Diegese zu einer solchen Einsicht gelangt und diese auch noch mit einer Skizze demonstrieren kann, dann wird dieser Figur ein faszinierendes Bewusstsein zugeschrieben. Faszinierend, weil diese Figur aus der reduzierten (oder andersartigen) Welt heraus zu Aussagen über die Welt kommt, in der sich die Leser befinden und die den fiktionalen Figuren normalerweise verschlossen bleibt. Genau dies hebt Ouffes Aussagen von hohem Allgemeinheitsgrad aus der Trivialität heraus, die sie als Äußerungen in der Wirklichkeit hätten. Innerhalb der Fiktion betreibt die Figur eine unglaubliche, hellsichtige Medienreflexion, denn sie beschreibt im Kern sehr zuverlässig die Darstellungsverfahren der BD. Ihre besondere Reflexionskraft stellt diese Figur unter Beweis, als etwas geschieht, das selbst für eine BD sehr ungewöhnlich ist: In der Mitte der Seite 37 – und mithin auch auf Seite 38 – ist die Fläche, auf der ein Bild stehen müsste, ausgestanzt (Abb. 9). Das in die Seite gestanzte rechteckige Loch erlaubt es, beim Betrachten der Seite durch das Loch ein Bild der nächsten bzw. der vorangehenden Seite mitzulesen. Im narrativen Ablauf der Seite 37 erscheint damit ein Bild, das erst auf Seite 39 richtig kontextualisiert ist und dort gar nicht weiter auffällt. Doch im Kontext der Seite 37 bricht quasi die Zukunft in die Erzählgegenwart ein. Diese Störung der Abfolge der Erzählung wäre nichts als ein harmloser spielerischer Einfall und würde gar nicht weiter auffallen, wenn nicht die Figuren auf sie reagieren würden:

13 M.-A. Mathieu: L’origine, S. 37.

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée Auf dem Bild, das eigentlich erst auf der nächsten Seite folgt, stellt Acquefacques die Frage – »Un trou de matière?« (S. 39; »Ein schwarzes Loch?«) –, die Ouffe – so wird aus dessen Reaktion deutlich – deplatziert erscheint und ihn kurzzeitig aus dem Konzept bringt. Etwas ungehalten reagiert er auf die für ihn nicht adäquate Frage: »Non! Pas un trou de matière, Julius... ça c’est un autre problème...« (S. 37; »Nein, kein schwarzes Loch, Julius... Das ist ein anderes Problem...«).

Abb. 9. Marc-Antoine Mathieu: L’origine, S. 37.

Auch bei der Lektüre der Seite 38, bei der in der Ausstanzung ein Bild der Seite 36 erscheint, registrieren die Figuren den abrupten Kontextwechsel – diesmal zeigt das Bild Ouffe, der eine Bemerkung macht. Nun bemerkt Acquefacques die Wiederholung dieser Bemerkung durch Ouffe. Doch da dieser meint, er würde sich nie wiederholen, gibt ihm dies zu denken. Er entwickelt die genialische Theorie eines »trou de matière« (S. 37, 39), das für die vorgreifende und die rückwirkende Störung verantwortlich sei. Damit beschreibt er aus der Diegese heraus genau das, was von der materiellen Anlage der Seite her vorliegt: ein Loch in der Materie. Damit kann Ouffe etwas erklären, was normalerweise nur der Leser erklären könnte. Die Erklärung ist in doppelter Weise medienreflexiv: Sie thematisiert zum einen, wie eine BD normalerweise beschaffen ist. Zum anderen erklärt sie auf eine sehr überzeugende Weise die vorliegende Abweichung von der normalen BD-Form und macht diese zum Thema.

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Rolf Lohse In dem Gespräch erfindet Ouffe mit »anti-case« eine sehr treffende Bezeichnung für das ausgestanzte Loch in der Mitte der Seite.14 Diese Erklärung kann vom Leser als eine zutreffende Bezeichnung akzeptiert werden für das, was materiell vorliegt. Es entsteht eine komische Wirkung durch die Diskrepanz zwischen der Spitzfindigkeit von Ouffes Spekulationen und ihrem Zutreffen. Die doppelte Interpretation des Loches durch die Figur als Anti-Bild und als Materieloch unterstreicht, dass es dem Autor nicht nur darum geht, einen feinsinnigen Witz zu machen, der die Form thematisiert. Es geht ihm vielmehr darum, auf die besonderen medialen Voraussetzungen der Narration hinzudeuten: auf den materiellen Aspekt, das Trägermaterial Papier, sowie auf den besonderen Status des Bildes, das seinen Platz in einer Reihe findet, aus der es nicht herausfallen darf. Tut es dies, so ist damit die als linear vorausgesetzte Rezeptionsform tangiert – und die Seinsweise der Welt, die nur als Raum mit zeitlicher Ausdehnung existieren kann, wenn eine längere Handlungsfolge in einzelnen Stationen Bild für Bild dargeboten wird. Bei einer Störung der Aufeinanderfolge der Bilder (wie hier durch das Loch) begegnen sich frühere und spätere Segmente der Handlung. Genau eine solche Störung des Erzählflusses bemerken die Figuren. Zuerst fällt Ouffe ein unmotivierter plötzlicher Themenwechsel auf, beim zweiten Mal bemerkt Acquefacques die Wiederholung einer Bemerkung durch Ouffe. Diese Wiederholung, die nur auffällt, weil die Figur etwas besonders Durchdachtes von sich gibt, führt Ouffe schließlich auf die Spur der »anti-case«. Interessanterweise wird die Wiederholung der Frage Acquefacques’, die schon im Kontext der Seite 37 – gleichsam im Vorgriff – gestellt wurde, auf Seite 39 nicht als Wiederholung bemerkt, weil hier die Frage im korrekten Kontext steht und daher unauffällig ist, wenn auch de facto eine Wiederholung vorliegt. Medienreflexiv sind solche Momente in hohem Maße, weil die Erzählkonvention, die der Geschichte zugrunde liegt, in den Blick kommt und punktuell durch eine neue Erzählkonvention abgelöst wird. Diese neue Konvention wird von den Figuren in Form einer theoretischen Betrachtung thematisiert: Es darf in dieser BD also Materielöcher und Anti-Bilder geben, und die Figuren dürfen diese Neuerungen bemerken. Besonders raffiniert ist es, die Interpretation dieser Löcher gleich den Figuren zu überlassen, die die mediale Form der Diegese – ein Album der Gattung bande dessinée – gar nicht kennen können. 14 M.-A. Mathieu: L’origine, S. 37. »Case« bezeichnet im Französischen das einzelne Bild. Eine anti-case wäre damit eine Bezeichnung für die durch das Ausstanzen geöffnete rechteckige Aussparung inmitten der Seite. Gleichzeitig spielt der Begriff auf die sog. Antimaterie an, nach der Physiker schon seit geraumer Zeit Ausschau halten.

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée Ouffe kann seine Hypothese auf die Evidenz stützen, eine BD gefunden zu haben, die – wie er meint – seine Welt erkläre. Dabei handelt es sich – so lassen sich die Indizien deuten – um genau dieses Heft, das er gefunden habe, L’origine. Seine Hypothese wollte er wie oben bereits beschrieben durch die Manipulation des in seiner Diegese wirklich existierenden Acquefacques überprüfen, dem er einige Seiten geschickt habe. Diesen Versuch habe er unternommen, um herauszufinden, ob das, was in dem Heft steht, auch wirklich eintreten werde. Ouffe schafft so einen paradoxen (und tautologischen) Begründungszusammenhang, in dem die Existenz des Albums, und der in ihm erzählten Geschichte, die Voraussetzung darstellt dafür, seine Hypothese an Acquefacques’ Verhalten überprüfen zu können. An dieser Stelle droht Ouffes Forschungsvorhaben jedoch aufgrund der Tautologie sinnlos zu werden. Denn da dies alles ja eigentlich schon in dem Heft steht, das Ouffe bereits vorliegt, müsste er schon um die Ergebnislosigkeit der wissenschaftlichen Suche wissen oder zumindest selbstreflexiv das eigene Denken und Handeln einer Kritik unterziehen, die ihn die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens und den Stellenwert seiner Forschung als funktionales Element der Erzählung erkennbar werden lassen dürfte. Doch eigentümlicherweise wird er vom Fund der BD nur angeregt, über den Ursprung der Welt nachzusinnen, nicht jedoch über die in der Quell-BD angelegte Aussichtslosigkeit seines Nachdenkens. Er entnimmt – dies allerdings fällt auf – der ihm vorliegenden BD jedoch nur die Hoffnung auf die Welterklärung und nicht die dort dargestellte Unzugänglichkeit der Welterklärung. Er gewinnt überraschende Erkenntnisse aus seinem Fund, ihm gelingt allerdings keine vollständige Deutung der Erkenntnisse. Selbstzufrieden erfreut er sich an der besonderen Qualität seiner Gedanken, erkennt das ganze Projekt aber nicht als ein tatsächlich tautologisches: Im Grund erforscht er nichts anderes als das, was schon bekannt ist. Genau diese Erkenntnis bleibt der Figur jedoch aus gutem Grunde unzugänglich. Denn wäre ihr die durch die gefundene BD mögliche Erkenntnis der eigenen Lage vollständig zugänglich, müsste sie erkennen, dass ihre Existenz auf den Raum dieser BD beschränkt wäre, dass die Suche sinnlos wäre, weil sie zu nichts als der Erkenntnis ihrer Sinnlosigkeit führen wurde. Daher baut Mathieu an dieser Stelle vor und sorgt dafür, dass das Ende der Geschichte den Figuren nicht bekannt wird: Ouffe weist darauf hin, dass die letzten Seiten fehlen, die jemand offenbar herausgerissen haben müsse. Damit besteht noch ein Rest Unvorhersehbarkeit für die Figuren. Ouffe könnte aus diesem Grund die Aussichtslosigkeit der Forschungen seiner Vorgängergestalt in der BD übersehen haben. Doch da wir nicht genau wissen, welche Seiten Ouffe bekannt geworden sind, sind die Grade seines Wissens und Unwissens, die der

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Rolf Lohse Teillektüre von L’origine zu verdanken sind, nicht genau zu bestimmen. Denn die Hindernisse auf dem Weg zu einer Welterklärung müssten schon in dem ihm bekannten Heft enthalten gewesen sein, in dem auch bereits von den herausgerissenen Seiten die Rede gewesen sein müsste. An diesem Punkt ist es absehbar: Diese Geschichte wird nur zu einem seltsamen Ende finden können. Und tatsächlich bringt ein Fahrradkurier eine weitere Seite, die den Band zu einem Abschluss voller Rätsel führt. Die Seite, die der Fahrradkurier bringt – Seite 43 –, ist in dem uns vorliegenden Album nicht mehr abgedruckt. An ihrer Stelle ist eine völlig schwarze Seite einmontiert. Seite 43 existiert nur in der Diegese und wird von den Figuren auf Seite 42 betrachtet – und auch der Leser kann sie dort zur Kenntnis nehmen (Abb. 10).

Abb. 10. Marc-Antoine Mathieu: L’origine, S. 42.

Die Seite 43 gestaltet ein Paradox: Sie zeigt die durch einen Zeichner vorgenommene Vernichtung eben dieser Seite 43. Paradoxerweise halten die Protagonisten eine unversehrte Seite in der Hand. Logischerweise muss sie sogar unversehrt sein, um etwas darstellen zu können. Das bedeutet, die dargestellte und damit angekündigte Vernichtung hat noch nicht stattgefunden, da die Seite ja noch existiert. Das Ende der Handlung wird unten auf der Seite 42 erreicht. Dort bemerkt Acquefacques, man befinde sich am Ende der Seite 42. Das fett unterlegte Wort fin markiert das Ende der Handlung, die nun nicht mehr bis zur Seite 43 weiterlaufen kann. Es bleibt offen, was mit dieser Seite wirklich passiert, und es stellt sich die weitere Frage, ob dies ein zufriedenstellendes Ende ist.

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée Ich glaube, dass die Geschichte gar kein anderes Ende mehr hätte nehmen können, denn wenn sie weiterginge, so würde sie in die auf der Seite 43 angekündigte Vernichtung führen. Auf Seite 42 ergibt sich zwar die Aussicht auf ein apokalyptisches Ende, aber dieses Ende wird glücklicherweise nicht durchschritten. Es bleibt offen, welchen Status die Ankündigung hat, da die Geschichte unten auf Seite 42 endet und keine Auskunft darüber zu erhalten ist, ob es sich um eine mögliche Gefährdung handelt oder vielleicht nur um eine Aussicht auf eine gar nicht reale Gefahr, die allenfalls dazu dient, das schlichte Ende auf Seite 42 aufzuwerten, das im Grunde aus der metanarrativen Feststellung Acquefacques’ besteht, er dünke sich am Ende der Seite 42.

3. Zur Rolle der Medienreflexivität Auf dem Weg zum Ende wird Acquefacques also mehrfach mit Seiten aus einer BD konfrontiert, die ebenfalls den Titel L’origine trägt und die als Seiten eben der BD zu erkennen sind, die wir gerade lesen. Dies ist ein starkes medienreflexives Moment, da nicht nur das Medium BD im Allgemeinen thematisiert wird, sondern sogar der Band, den der Leser in der Hand hält, in der Handlung auftritt und dort eine Rolle spielt. Setzt man voraus, die Figur liest aus eben dem Band, der auch dem Leser vorliegt, die eigene Geschichte zu eben dem Zeitpunkt, an dem sie geschieht, dann stellt sich die Frage, wie die Figur die Geschichte überhaupt als gedrucktes oder gezeichnetes Produkt (in Realzeit) vorliegen haben kann, da sie die Geschichte doch – dies setzt man ja bei der Lektüre einer BD voraus – gerade erst erlebt. Hier wird spielerisch eine der Voraussetzungen linearen Erzählens unterlaufen, insofern logischerweise erst im Anschluss an ein Ereignis von ihm erzählt werden kann. In diesem Fall wird jedoch ein Erzählen dargestellt, das dem Ereignis voraus liegen und gleichzeitig zu ihm schon in gedruckter Form vorliegen kann. Dieser spielerische Ausbruch aus der notwendigen Abfolge markiert sich als fiktional, verweist aber gleichzeitig auf die in der Wirklichkeit unabänderliche Abfolge. Kümmert man sich nicht um dieses Problem, sondern schaut schlicht auf die Situation, so zeigt sich: Hier werden verschiedene zeitliche Verhältnisse von intradiegetischer und globaler Erzählung durchgespielt: das der Nach-, der Gleich-, und der Vorzeitigkeit, wobei ein anwachsender Irrealitätsgrad zu verzeichnen ist. Voraussetzung für diese Darstellung eines Teils der Erzählung innerhalb der Erzählung ist ein spezifisches Erzählverfahren: Eine solche Abbildung in verkleinertem Maßstab eines Teils einer Erzählung innerhalb derselben Erzählung nennt man mise en abyme.

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Rolf Lohse Der Begriff stammt aus der Heraldik und bezeichnet die Abbildung eines Wappens auf einem Segment eines Wappens. Der Begriff wurde von André Gide zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt, die Sache ist allerdings erheblich älter. Die von Gide gegebene Definition lautet: »[E]n une œuvre d’art on retrouve ainsi transposé, à l’échelle des personnages, le sujet même de cette œuvre.«15 Die mise en abyme kann, muss aber nicht für die handelnden Figuren sichtbar sein. In L’origine wird Acquefacques mit Seiten aus eben der BD konfrontiert, in der er selbst vorkommt. Dabei ergibt sich eine zeitlogische Dramatisierung, in deren Verlauf die abgebildete Handlung auf den Seiten, die er zu Gesicht bekommt, an die Gegenwart heranrückt und sich schließlich auch auf zukünftige Ereignisse bezieht. Allerdings ergeben sich bei der Abbildung der Gegenwart paradoxe erzählchronologische Konsequenzen im Falle der mise en abyme, die für die Figur sichtbar ist. Zunächst kommt Acquefacques die Seite vor Augen, auf der sein Erwachen gezeigt wird (Abb. 5). Hier erkennt er sich wieder und stellt verwundert die Identität fest, aber ein zeitliches Problem entsteht noch nicht: Die auf der Seite dargestellte Handlung gehört in der Figurenperspektive schon zur Vergangenheit. Die nächste Seite aus L’origine, die Acquefacques zu Augen bekommt, zeigt die unmittelbare Vergangenheit: Auf Seite 19 findet er die Handlung von Seite 18 (Abb. 6). Diese Seite, die Auskunft gibt über ein Geschehen, das vor kurzer Zeit noch zukünftig war, wird von den Figuren als Prophezeiung interpretiert. Auf Seite 23 findet er die Abbildung von Seite 27, also einer zukünftigen Situation. Nicht nur die Figur, auch der Leser sieht sich in ein Spiel verwickelt, dessen Reiz in der Erwartung liegt, die sich auf die Erfüllung dieser ›Voraussage‹ richtet. Wird es und – wenn ja – wie wird es gelingen, die Figur genau zu dieser Seite zu führen (Abb. 7)? Als er nach einigem Retardieren die Seite 27 durchlebt, so erfährt er sie – wie vorausgesagt – als »déjà vu«. Bis jetzt bekam Acquefacques noch keine Seite in die Hand, die genau die Erzählgegenwart betraf. Dies geschieht auf Seite 29, als er die Seite 29 in die Hand bekommt (Abb. 8). Hier kommt es zu einer besonderen Form der verschachtelten Abbildung, da dieselbe Szene auf der jeweils nächsten Ebene wiederholt wird. An einer derartigen Stelle droht der Zusammenbruch des Erzählens, denn von nun an müsste aufgrund der Identität zwischen der Abbildung und dem Dargestellten die Figur nur noch Bilder zu lesen bekommen, die die Figur beim Lesen zeigen. Kann man 15 André Gide: Journal 1889-1939, Paris: Gallimard 1948, S. 41; »In einem Kunstwerk findet man, auf die Ebene der Figuren übertragen, das Thema dieses Werks« (meine Übersetzung). Diese Definition wird später von Lucien Dällenbach präzisiert in Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris: Seuil 1977.

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée nun die Figur nur noch dabei zeigen, wie sie liest, dann kann folglich auf den Seiten, die sie liest, entweder nichts weiter passieren, als sie lesend zu zeigen, oder aber die Seiten zeigen etwas anderes. Im letzten Fall wäre die Figur entweder doch nicht der Leser der eigenen Geschichte, sondern einer anderen Geschichte – damit wäre die Identität zwischen Dargestelltem und Darstellung aufgehoben. Die Möglichkeit einer Figur, die eigene Geschichte zu lesen, hebelt die Erzählvoraussetzung der prinzipiellen Zukunftsoffenheit der Handlung aus und führt in eine narrative Sackgasse: Denn die mise en abyme setzt die Identität zwischen dem voraus, was auf der verkleinerten integrierten Abbildung zu sehen ist, und dem, was auf der Handlungsebene selbst passiert. Täte die Figur etwas anderes, könnte sie nicht lesen und würde folglich gar nicht wahrnehmen, was die Figur auf der erratischen Seite täte. Gegebenenfalls würde sich ein Dopplungseffekt nur für den Leser ergeben, aber eben kein narrativer Kurzschluss auf Figurenebene, der notwendig die Handlung zum Stillstand brächte. Bei der visuellen mise en abyme geht es darum, ein Fragment der Erzählung (z.B. in Form der Seite einer BD) in der Erzählgegenwart wiederzufinden. Dabei kommt es mit Blick auf die Verlässlichkeit der Erzählung zu einer Ambiguierung, denn auf der einen Seite wird durch die Existenz der jeweiligen BDs innerhalb der BD diese potenziert und tendenziell affirmiert, auf der anderen Seite aber die Überzeugungskraft der Diegese unterlaufen, da nun paradoxerweise das Produkt schon innerhalb seiner selbst vorausgesetzt wird, es sich gleichsam selbst zuvorkommt. Die Voraussetzung einer Existenz der betreffenden BD in der von ihr selbst erst aufgespannten Diegese zerstört die Plausibilität einer solchen Diegese. Mathieu stellt auf eine raffinierte Weise die Zukunftsoffenheit sicher, obwohl die Figur sich selbst in Realzeit rezipiert. Dies geschieht, indem er nur einzelne Seiten zeigt, deren Fortführung aber ausfällt. So kommt die Geschichte mehrmals in die Nähe der Selbstausbremsung, kann aber weitergehen, weil eben nicht bekannt ist, wie es weitergehen wird. Und auch der Figur wird nicht bekannt, was noch alles geschehen wird. Um die endlose Wiederholung von Bildern zu vermeiden, die nur noch die Figur zeigen, wie sie dabei ist, Bilder zu betrachten, die sie als eine lesende zeigen, muss die Handlung abgebrochen werden. Genau dies tut Mathieu, indem er von keiner der in der Diegese vorhandenen Seiten die Folgeseite liefert. Die Abrisskanten der Seiten, die Acquefacques zugespielt werden, sind auf eine Weise gestaltet, die ihre Herkunft aus dem vorliegenden Heft nahe legt: Die Seiten 4 und 18 sind rechts abgerissen, die Seiten 27, 29 und 43 links. Es fehlen allerdings die jeweiligen Rückseiten. Mathieu platziert hier einen diskreten Hinweis auf die

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Rolf Lohse Nichtidentität zwischen der diegetischen BD und dem Heft, das der Leser in der Hand hält. Denn es müssten die Seiten 3, 17, 28, 30 und 44 auch zugänglich sein, wenn ein doppelseitiger Druck vorläge. Doch die Rückseite von Seite 27 ist leer, wie uns die Seiten 23 und 24 verraten. Auch die weiteren Rückseiten, von Seite 43 (siehe S. 42; Abb. 10), Seite 4 (siehe S. 11, Abb. 5), Seite 18 (siehe S. 19, unteres zentrales Bild; Abb. 6) und Seite 27 (siehe S. 24), sind leer. Es kann sich damit also bei den Seiten, die Acquefacques zugespielt werden, nicht um die Originalseiten der BD handeln, denn diese wären ja mit Rückseiten versehen. Möglicherweise handelt es sich um Probedrucke aus der gigantischen Druckerei, die Ouffe zu Forschungszwecken hat aufbauen lassen. Dann aber ist nicht ganz logisch, warum die einseitig bedruckten Blätter Spuren des Ausreißens zeigen. Mathieu, der jedes Detail genauestens zu bedenken scheint, hat hier absichtsvoll Inkongruenzen eingeführt, um jede bedrückende Stimmung zu konterkarieren und den spielerischen Charakter der Geschichte zu unterstreichen. Schließlich bleibt die anregende paradoxe Konstruktion mit ihren Anregungen für weitergehende Deutungen erhalten. Niemand kann sagen, ob die Seite 43, die den Figuren per Eilboten zugesandt wird, wirklich existiert, und niemand kann sagen, ob der Autor, der zu sehen ist, wirklich existiert. Die erratische Seite 43, die auf Seite 42 gezeigt wird (Abb. 10), hat einen etwas anderen Status, denn sie zieht eine weitere Ebene in die Fiktion ein: Hier ist der vermeintliche Autor dabei, eben die Seite 43 zu vernichten. Dabei kommt es wieder zur eingeschachtelten Darstellung der dargestellten Darstellung. Entscheidend ist hier das Sich-Auslöschen des Zeichners durch das Auslöschen der Seite, auf der er abgebildet. ist. So deutet der Titel der BD, L’origine, auf das Dunkel, in das die Suche der Figuren nach ihrer Herkunft letztlich führt, auf die Opazität ihrer eigenen funktionalen Festlegung und auf die Abhängigkeit vom Wohlwollen ihres Schöpfers, der eher sich selbst als seine Schöpfung auslöscht. Dies ist allerdings nicht ganz logisch, da Acquefacques die Seite als vollständige Seite vorliegt und wir bislang nach der Regel, die Seiten, die wir in Wirklichkeit sehen, könnten auch von den Figuren wahrgenommen werden und umgekehrt, gelesen haben. Hier wird diese Regel verletzt, und nun erleiden wir als Leser den Bruch einer Regel, wie ihn bislang nur Acquefacques erleben musste. Nun wird dem Leser eine mehr oder weniger unerklärliche Seite hingehalten, deren Zustandekommen und Aussage Probleme aufwirft. Und damit endet diese BD mit der Seite 42, auf der das Spiel mit der Selbstbezüglichkeit nochmals betont wird. Acquefacques sagt in der letzten Replik : »Je crois même deviner que nous sommes en fin de page 42!!!« (S. 42, Her-

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Medienreflexive Strategien in der bande dessinée vorhebung im Text; »Ich glaube sogar zu wissen, dass wir am Ende von Seite 42 sind!!!«). Der Status der Seite 43 bleibt unbestimmt. Es existiert zwar eine vollständige Abbildung von ihr (auf Seite 42) – sie liegt aber nur den Figuren in der Diegese materiell vor. In dem uns vorliegenden Heft ist sie nicht erhalten. Wo man sie erwarten müsste, folgt ein schwarzes Blatt. Diese schwarze Folgeseite könnte bedeuten, dass der Inhalt der Seite 43 Wirklichkeit geworden und die Seite verbrannt ist. Die schwarze Seite könnte aber auch für die dunkle Nacht stehen, in die Acquefacques schaut, als er aus dem Albtraum erwacht und nun nichts sieht als die Dunkelheit. Auf der Innenseite im hinteren Buchdeckel tritt Acquefacques schließlich ungerahmt auf und schaut auf den Leser. Ein über ihm schwebendes Fragezeichen könnte seine Ratlosigkeit evozieren und für die Frage stehen, die er an den Leser weiterreicht. Auch in weiteren Alben Mathieus – etwa in Le processus und in La 2,333e dimension – werden ebenfalls auf komische Weise weitere mediale Voraussetzungen text-bildlichen Erzählens in Frage gestellt. Mathieu geht es in verschiedenen Variationen immer wieder um dieselben grundlegenden Fragen, jenen nach den Grundlagen der Narration, der Darstellungsverfahren und der Bildkonventionen.16

4. Zusammenfassung In L’origine werden verschiedene Probleme thematisiert, die mit der Narration der BD zusammenhängen, mit der vorausgesetzten raumzeitlichen Logik, mit der primordialen Rolle der Bilder, mit den Darstellungskonventionen der Zwei- und Dreidimensionalität. Doch fast immer nimmt die Thematisierung ihren Ausgang bei medienreflexiven Konfigurationen. Anhand des bekannten ›bild-text-poetischen‹ Verfahrens der mise en abyme, die auf der abbildenden Seite eben diese Seite verkleinert abbildet, werden Grundverfahren der Erzählweise der BD thematisiert und gleichzeitig erweitert, und zwar in Richtung einer potenzierten Wiederholung von gleichzeitigen Geschehnissen auf verschiedenen eingeschachtelten Fiktionsebenen, in Richtung einer maximalen Füllung des Bildes durch die verschachtelte mise en abyme und einer totalen Entleerung der Bildfläche in Form der »anti-case« und der Antiseite.17 Durch das Ausrei-

16 Eine detaillierte Deutung, die sich auf alle fünf Bände dieser Reihe bezieht, findet sich in Rolf Lohse: Ingenieur der Träume. Medienreflexive Komik bei Marc-Antoine Mathieu, Bochum: Bachmann 2008. 17 M.-A. Mathieu: L’origine, S. 43.

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Rolf Lohse zen medienreflexiver Darstellungsstrategien lassen sich in einer an die lineare Chronologie gebundenen Narration Störungen erzeugen, die neue reizvolle und teils paradoxe Darstellungen hervortreiben – sei es durch gestanzte Löcher oder durch Seiten, die ihre eigene Zerstörung vorführen. Diese Form kreativ gesteigerter Medienreflexivität erzeugt eine eigene Plausibilität, die mit der Logik der Träume des Protagonisten harmoniert.18 Die aktuelle BD hat sich – und dies nicht nur in Frankreich – auf den Weg einer grundlegenden Erneuerung gemacht, die von medienreflexiven Experimenten begleitet ist. Damit sind traditionelle Alben nicht abgeschafft, die mit erprobten Verfahren spannende Abenteuer erzählen und unbekannte Welten gestalten. Verschiedene medienreflexive Strategien liefern heutigen Autoren jedoch immer wieder Anregungen zu neuen Exkursionen über die bislang bekannten Grenzen des Erzählens im Medium der Comics.

Literatur Dällenbach, Lucien: Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris: Seuil 1977. Gide, André: Journal 1889-1939, Paris: Gallimard 1948. Lacassin, François: Pour un neuvième art. La bande dessinée (1971), Paris: éd. de Paris 1982. Lohse, Rolf: Ingenieur der Träume. Medienreflexive Komik bei MarcAntoine Mathieu, Bochum: Bachmann 2008. Mathieu, Marc-Antoine: Julius Corentin Acquefacques, prisonnier de rêve, Bd. 1: L’origine, Paris: Delcourt 1991. Menu, Jean-Christophe. Plates-bandes, Paris: L’Association 2005. Oubapo. OuPus 1 (1997), Paris: L’Association. Ratier, Gilles: »2007. Vitalité et diversité. Une année de bandes dessinées sur le territoire francophone européen«, in: Bilan ACBD (2007), URL: http://www.acbd.fr/bilan-2007.html, Datum des Zugriffs: 14.6.2008. Rey, Alain/Landré, Henri: »Bande dessinée«, in: Dictionnaire culturel en langue française, hg. v. Alain Rey, Paris: Le Robert 2005, S. 753-760. Trondheim, Lewis: L’hiver en noir et blanc, Paris: L’Association 2005. Vargas, Fred/Baudoin, Edmond: Les quatre fleuves, Paris: Hamy 2000.

18 In der Geschichte der Comics hat das Stilmittel des Träumens große Bedeutung. Winsor McCay ermöglichte es die Einbindung zeitgenössischer Kunstformen, insbesondere des Jugendstils, in das populärkulturelle Medium Comic.

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Manga – Comics aus einer anderen Welt? JENS R. NIELSEN

Rund zwanzig Jahre nach dem Beginn des großen Manga-Booms im deutschsprachigen Raum bilden die Comics aus Japan noch immer einen als sehr eigen wahrgenommenen Gegenstand. Kein Wunder also, dass ihnen auch im Rahmen der Ringvorlesung »Bild/Schrift: Intermediales Erzählen im Comic« an der Universität Göttingen ganz selbstverständlich jener eigenständige Vortrag eingeräumt wurde, aus dem dieser Aufsatz erwachsen ist.1 Doch warum eigentlich? – Was ist es, das Manga auch in den Augen von Laien, von sogenannten comicfernen Bevölkerungsgruppen, so ganz und gar eigenständig erscheinen lässt? Ist es ihre Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur, der es über Jahre hinweg erfolgreich gelungen ist, sich gegenüber allen Vereinnahmungsversuchen seitens Erziehungsberechtigter sowie eines ›erwachsenen‹ Kulturbetriebs abzuschotten? Sind es formsprachliche Hindernisse wie das Lesen ›von hinten nach vorn‹, der Schwarz-Weiß-Druck oder die kaum mehr von Hollywood vorgegebenen Erzählkonventionen und -muster? Oder sind es vor allem Darstellungskonventionen, die erst mühsam angeeignet werden müssten – und die damit dem voranging auf schnelle Unterhaltung, Nostalgie-Schübe und leicht verfügbare Erzählsteinbrüche abzielenden Gebrauch des durchschnittlichen Comic-Konsumenten entgegen stehen? Antworten auf diese Fragen wird nur erhalten, wer wenigstens ansatzweise herauszufinden versucht, was genau eigentlich Manga vom Comic unterscheidet – und was eben auch nicht. Einige Hinweise auf solche Antworten sollen im Folgenden gegeben werden. Doch werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf den Manga in Deutschland im Jahre 2008. Der große Boom, der den Manga verlegenden Häusern jährliche Zuwachsraten in bis dato ungekannter Höhe beschert hat, dürfte 1

Der nachfolgende Text basiert zudem in Teilen auf einem Artikel, der 2006 in der Zeitschrift Reddition erschienen ist, dem seinerseits ein Vortrag des Autors aus dem Juli 2005 zugrunde liegt. Vgl. Jens R. Nielsen: »Mit anderen Augen. Der Manga, von Europa aus betrachtet«, in: Reddition (2006), H. 44, S. 4-21.

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Jens R. Nielsen seinen Gipfel spätestens 2003 überschritten haben. Seither gilt: Ohne besondere verlegerische Anstrengungen lassen sich auch Manga nicht mehr nur deswegen verkaufen, weil »Manga« draufsteht. Im Gegenteil: Es wächst eine neue Generation potentieller Leserinnen und Leser heran, die von allem, was vor wenigen Jahren noch ›hip‹ war, nichts mehr wissen will. So drohen auch die Manga in Deutschland dem ewigen Fluch aller Jugendkultur zum Opfer zu fallen: Was für die je vorige Generation ›jung‹, ›neu‹ und ›unverbraucht‹ war, wird scheinbar über Nacht zum Symbol des Ewiggestrigen. Manga drohen zur Nerd-Lektüre zu verkommen – wie zuvor schon die Underground Comics der 68er oder das Superheldengenre. Die Strategien der Verlage, mit denen sie sich dem Abwärtstrend entgegen zu stemmen trachten, sind disparat und muten ein wenig hilflos an. So soll zum einen über ein Forcieren der sogenannten Germanga, der deutschen Manga-Zeichner, ein durchaus beeindruckender einheimischer Starkult auch für tragfähige Absatzzahlen sorgen. Es wäre dies das erste Mal in der Geschichte der Comics in Deutschland, dass ein ganzes Segment kommerziell erfolgreicher grafischer Literatur tatsächlich in einheimischer Produktion erstellt würde. Und zum anderen soll mit Hilfe des Labels »Graphic Novel« auch das angestammte erwachsene Comic-Publikum an ausgewählte japanische Erzähler herangeführt werden – als ließe sich die verlässlichste Zielgruppe, das Rückgrat des Comic-Marktes, die dem Manga bisher ausgesprochen skeptisch gegenüber stand, allein durch ein Etikett zum Ablegen ihrer tief verwurzelten Vorurteile bewegen. Dabei ist es durchaus erst einmal positiv zu bewerten, dass unter der Flagge »Graphic Novel« nicht nur Amerikaner und FrankoBelgier, sondern auch Japaner und andere segeln dürfen. Ob darüber tatsächlich neue Leserschichten an den Manga herangeführt werden, darf aber bezweifelt werden. Schließlich ist der herausragende Star der Graphic Novelists aus dem Land der aufgehenden Sonne, Jiro Taniguchi, bekennender Fan von europäischen Zeichnergrößen wie Jean ›Moebius‹ Giraud und François Schuiten und beschreibt sich selbst schon seit Jahren als ›westlich orientierten‹ Erzähler.2 Ob seine Werke nach landläufiger Vorstellung also überhaupt als Manga erkannt werden, ist durchaus fraglich. Obendrein wenden einige Verlage, um ihre skeptischen Graphic Novel-Kunden nicht zu überfordern, die altbekannten, fragwürdigen ›Anpassungstechniken‹ an: Seiten werden gekontert, um – unter Inkaufnahme inflationären Auftretens linkshändiger Figuren – eine Lektüre ›von vorn nach hinten‹ zu ermöglichen, Blasen werden ein-

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Vgl. Timothy R. Lehmann: Manga. Masters of the Art, New York: HarperCollins 2005, S. 191, 194.

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Manga – Comics aus einer anderen Welt? montiert, wo Texte im Original im freien Raum platziert waren, was die ästhetische Konzeption der Vorlagen teilweise erheblich beeinträchtigt, und Aufmachung sowie Ausstattung sollen suggerieren, dass es sich bei einer Graphic Novel in erster Linie um einen Roman handelt, der zufällig gezeichnet ist – und nicht etwa um einen Comic, der zufällig literarisches Weltniveau erreicht. Viel problematischer als die Marketing-Tricks um die Graphic Novel, die letztlich nichts anderes als eine Wiederauflage des Versuchs darstellt, den Comic vom Kiosk in den Buchhandel zu transferieren, gestaltet sich dagegen die Strategie, den Manga als »Germanga« quasi nach Deutschland zu verpflanzen – und zwar aus einem produktionstechnischen Grund: In seinem Herkunftsland ist der Manga nämlich ein hochkapitalisiertes Produkt einer hervorragend aufgestellten Kulturindustrie. Die japanischen Verlage schaffen und pflegen arbeitsteilig organisierte Produktionsstrukturen, die ihrer Volkswirtschaft nicht nur Außenhandelsüberschüsse in zweistelliger Milliardenhöhe und einer Reihe von Spitzenzeichnern jährliche Millioneneinnahmen bescheren, sie stellen darüber vor allem einen durchschnittlichen Ausstoß von bis zu zweihundert Seiten pro Zeichenstudio und Monat sicher. Zum Vergleich: Die deutsche Top-Zeichnerin Christina Plaka konnte von ihrer Hauptserie Prussian Blue (fortgesetzt als Yonen Buzz) bisher rund 750 Seiten fertig stellen – die Serie läuft seit 2002. Die marginale Stellung des Comic-Marktes in Deutschland, die sicher nur zum Teil den visionsfreien Zonen in den Chefetagen der europaweit aufgestellten Großverlage geschuldet ist, schließt eine Mangaproduktion nach japanischem Vorbild aus. Was die Germangaka, teils auf ungemein hohem Niveau, abliefern, sind darum eigentlich die altbekannten deutschen Autorencomics: maximal ein Album pro Jahr, neben dem Studium oder einem Broterwerbsjob gezeichnet, mit einer auf wenige hundert Seiten angelegten Erzählung, die detailreich und – notgedrungen – wenig in die Tiefe gehend abgehandelt wird. Nur vom Vortrag und vom Duktus her würden die Manga made in Germany glatt als klassischer Comic durchgehen, wären da nicht die großen Augen und die Streichholzbeine. Die letzte Aussage lässt vermuten, dass es aller Globalisierung zum Trotz tatsächlich die im Titel behaupteten grundsätzlichen strukturellen Unterschiede zwischen »Comics« und »Manga« gibt – und nicht etwa nur ein paar charakteristische Oberflächen-Merkmale wie die berühmt-berüchtigten großen Augen. Im Folgenden soll darum versucht werden, ein paar grundsätzliche analytische Fragestellungen zu entwickeln, die, jede für sich, eine für lediglich an Asterix oder Donald Duck geschulte, ›westliche‹ Augen ungewöhnliche Eigenheit des Manga schlaglichtartig erhellen sollen. Diese ›Eigenheiten‹ sollen im Umkehrschluss verstehen helfen, welche

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Jens R. Nielsen Wege visuellen Erzählens im Westen beschritten wurden – Wege, die uns heute so selbstverständlich vorkommen, dass wir sie nicht mehr als ›gewählte‹, als eingelöste Optionen wahrnehmen, sondern fast schon als selbstverständlich, quasi als unausweichlich, der Form ›naturgemäß‹ innewohnend. Dieser konstruierte Gegensatz zwischen ›West‹ und ›Ost‹ soll keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass sich der Manga seit dem zweiten Weltkrieg in steter Auseinandersetzung mit insbesondere dem amerikanischen Comic entwickelt hat: Osamu Tezuka, der sogenannte ›Gott des Manga‹, hatte zeitlebens sein eines großes Vorbild, Walt Disney, vor Augen. Die japanische Öffentlichkeit musste in den 1990er Jahren erst mühsam begreifen, dass die einheimische grafische Literatur schon längst keine ›anbiedernde Kopie‹ des amerikanischen Vorbilds mehr war, sondern etwas ökonomisch und formsprachlich ganz und gar Eigenständiges – und dieses Begreifen wurde zu einem nicht geringen Teil von amerikanischen Zeichnern und Kritikern initiiert und befeuert, die ihrerseits von der Fremdartigkeit der in ihren Augen so ganz anderen Comics vom anderen Ufer des Pazifiks fasziniert waren. Eine letzte einführende Randbemerkung sei noch gestattet: Leider musste ich bei meinen Recherchen feststellen, dass die Forschungslage zum Manga im Westen noch immer mangelhaft ist. Außer vier Seiten im dritten Kapitel von Scott McClouds Understanding Comics gibt es praktisch keine Forschungsbeiträge, die sich der Formsprache des Manga widmen.3 Alles, was in den letzten Jahren zum Comic made in Japan veröffentlicht worden ist – und das ist nicht eben wenig –, beschäftigt sich mehr oder weniger gelungen mit der Geschichte des Manga, mit einzelnen Genres oder mit Zeichnerpersönlichkeiten.4 Der Frage, was ›der Manga‹ nun eigentlich sein soll, was also die Verwendung eines eigenen Ausdrucks für den japanischen Comic im Westen rechtfertigt, wird gern und geflissentlich aus dem Weg gegangen. Wenn ein Autor überhaupt in ihren Dunstkreis gerät, dann allerhöchstens im Zusammenhang mit einem anders strukturierten Markt, mit unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen oder traditionell anderer visueller Wahrnehmung. So konstatiert denn auch McCloud, nachdem er herausgefunden hat, dass Manga irgendwie anders funktionieren als ihre westlichen Gegenstücke, lediglich, dass es in Japan seit Jahr3 4

Vgl. Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, New York: HarperCollins 1993, S. 77-80. Einen guten Einstieg in das Thema Manga bieten Frederik L. Schodt: Dreamland Japan. Writings on Modern Manga, Berkeley: Stone Bridge 1996; Paul Gravett: Manga. Sixty Years of Japanese Comics, New York: HarperCollins 2004; T.R. Lehmann: Manga; Takashi Murakami (Hg.): Little Boy. The Arts of Japan’s Exploding Subculture, New Haven: Yale University Press 2005.

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Manga – Comics aus einer anderen Welt? hunderten eine »Kultur der Pause«5 gebe, die sich auch im Manga ausdrücke. Was diese ›Kultur‹ aber sein soll, wie und warum sie (auch im Westen) funktioniert und was ihre Bausteine sind, dazu liefert leider auch der großartige Systematiker McCloud eher metaphorisch zu verstehende Hinweise auf Zen-Gärten oder Yin-YangSymbole. Wer unter Laien eine Umfrage abhalten würde, was für den Manga als typisch angesehen werde, der würde – sofern die Befragten mit dem Ausdruck »Manga« überhaupt etwas anfangen könnten – sicherlich immer wieder zu hören bekommen, es seien vor allem die charakteristischen riesigen Augen japanischer Comic-Figuren, welche den Manga vom Comic unterschieden. ›Suppenteller-Augen‹ in Comics gelten im Westen nach wie vor als typisch japanisches Stilmittel. Wer den Eindruck erwecken will, er beherrsche ›den Manga-Stil‹, der muss bloß die Augen seiner Protagonisten unnatürlich vergrößern: »Süß«, »niedlich«, »japanisch« wird es ihm aus dem Chor seiner Leserinnen und Leser entgegenschallen. – Aber was an diesen Augen ist ›typisch japanisch‹? Um anatomische Ähnlichkeit im Sinne einer realistischen Widergabe japanischer Gesichtszüge handelt es sich ganz offensichtlich nicht. Wir haben es also mit einer Verabredung auf Zeichenebene zu tun, mit einer kulturellen Konvention. Doch mit welcher? In Europa und Nordamerika gibt es eine weit verbreitete Darstellungskonvention, das sogenannte Kindchenschema. Abgeleitet aus der Tatsache, dass Kinderaugen im Verhältnis zum Umfang von Kinderköpfen deutlich größer sind als Erwachsenenaugen im Verhältnis zum Umfang von Erwachsenenköpfen, machen sich Zeichner und Art Directors (allen voran jene aus dem Hause Disney) seit ungefähr hundertfünfzig Jahren systematisch zu nutze, dass Erwachsene, die eines sie mit großen Augen anblickenden Kindes ansichtig werden, unwillkürlich ihrem Beschützerinstinkt folgen und zu willfährigen Konsumenten von allen möglichen Produkten mutieren, bei denen dieses Schema Verwendung findet. »Große Augen« gleich »Kind«? – In Japan gilt diese Konvention keineswegs immer und überall. So gibt es etwa auch Pornos im ›Manga-Stil‹, deren Protagonistinnen der Größe ihrer sekundären Geschlechtsmerkmale nach zu urteilen augenscheinlich voll geschlechtsreif sind, also erwachsen. Obwohl auch aus dem StoryKontext in der Regel ersichtlich wird, dass japanische Pornocomics keinesfalls häufiger pädophile Phantasien bedienen als ihre westlichen Gegenstücke (also abgesehen von illegalen Produkten einschlägiger Szene-Kreise gar nicht), wurden sie im Westen in der

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Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, übers. v. Heinrich Anders, Hamburg: Carlsen 1994, S. 89f.

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Jens R. Nielsen Vergangenheit immer wieder zur Zielscheibe von staatsanwaltlichen Maßnahmen und Kinderschützer-Kesseltreiben: »Sex mit Kindern« lautete der Vorwurf stets, auch wenn mit »Kindern« großäugig gezeichnete Erwachsene gemeint waren. Wenn Mangaka aber vom Generalverdacht der Kinderpornografie freizusprechen sind, dann steht natürlich erst recht die Frage im Raum, was die von ihnen verwendeten großen Augen bedeuten sollen. Wenden wir uns aber zunächst einer zweiten Konvention zu, die eine mögliche Begründung für die Existenz von Suppenteller-Augen liefert. Die Titelfigur des außerhalb des Manga-Fandoms auch heute noch bekanntesten Shojo-Manga, Pretty Soldier Sailor Moon von Naoko Takeuchi, hat nämlich blonde Haare und blaue Augen (Abb. 1, rechte Seite). – Ist sie vielleicht eine Europäerin, zu der dann auch die für japanische Verhältnisse riesigen Augen als ›charakteristisches Merkmal‹ gut passen würden? Leider würde kein Japaner (und auch kein westlicher Fan der Serie) auf die Idee kommen, an Usagi alias Sailor Moon irgendetwas ›europäisch‹ zu finden. Gelb (Sailor Moons Haare) und blau (Kragen und Rock) stehen im Manga nicht für »Europa«, sie sind rein grafische (um nicht zu sagen: drucktechnische) Konventionen zur eindeutigen Identifikation der Figur. Gerade in Sailor Moon wird auf die ungewöhnlichsten Haarfarben zurückgegriffen, um die ansonsten doch recht ähnlich gezeichneten Figuren wenigstens auf Postern und Covern eindeutig voneinander zu unterscheiden.

Abb. 1. Kitagawa Utamaro: Holzschnitt, in: Ger Luijten u.a. (Hg.): The Beauty & the Actor, S. 60 (linke Seite); Naoko Takeuchi: Sailor Moon, o.S. (rechte Seite).

Die Suppenteller-Augen im Manga stehen also weder für »kindlich« noch für »westlich« – genügen sie jedoch vielleicht einer japanischen 340

Manga – Comics aus einer anderen Welt? Ästhetik-Konvention? Diese Hypothese ist offensichtlich aus Illustrierten-Berichten abgeleitet, wonach es in Japan seit ein paar Jahren (nicht nur bei Frauen) en vogue ist, sich mit Hilfe eines chirurgischen Eingriffs die Augen vergrößern zu lassen. Doch Vorsicht: Dabei handelt es sich um eine soziale Verabredung, die zwar bei der Partnerwahl im richtigen Leben funktionieren mag, die aber nicht ohne weiteres in die stilisierte visuelle Kommunikation übertragbar ist. Sailor Moon hat nirgendwo auf der Welt neue Maßstäbe für sexuelle Attraktivität gesetzt. – Abgesehen davon, dass die Suppenteller-Augen natürlich auch künstlich vergrößerten japanischen Sehorganen immer noch um das zehn- bis zwanzigfache ›überlegen‹ wären, falls denn jemand tatsächlich ernsthaft behaupten wollte, damit sollten in der Realität anzutreffende ›schöne‹ Augen abgebildet werden. Dass visuelle Konventionen für Schönheit auch in Japan einem enormen Wandel unterliegen, mag ein Seitenblick auf die Ukiyo-eHolzschnitte von Kitagawa Utamaro aus dem späten 18. Jahrhundert belegen (Abb. 1, linke Seite). Dabei handelte es sich um ›Souvenirpostkarten‹, welche die Reize der zeitgenössischen Freudenmädchen ihren Verehrern dauerhaft verfügbar halten sollten. Es ist leicht zu sehen, dass damals große Augen in der Darstellung von Schönheit offensichtlich keine allzu prominente Rolle spielten – allerdings galten in Europa ja ungefähr zeitgleich auch gepuderte Perücken und Schönheitspflästerchen als der letzte Schrei. Einmal angenommen, eine Konvention, die besagt, dass große Augen als schön gelten, ließe sich für das ausgehende 20. Jahrhundert in Japan empirisch belegen – wir müssten uns immer noch die Frage stellen, warum diese Konvention denn eigentlich existierte, was also die großen Augen zum Schönheitssymbol prädestinierte. Aus der visuellen Tradition im Land der aufgehenden Sonne scheint sie jedenfalls nicht abgeleitet worden zu sein – und das, obwohl uns der Utamaro sicherlich auf den ersten Blick ebenso ›typisch japanisch‹ vorkommt, wie Usagi aus Pretty Soldier Sailor Moon mit ihren einladenden Augenseen. Halten wir zunächst einmal fest, dass die großen Augen offenbar keine Darstellungskonvention sind. Sie müssen aber – da ja alles Dargestellte im Zuge der Wahrnehmung Bedeutung erlangt – irgendetwas ausdrücken. Wir sollten uns also nun erst einmal von den Augen hin zu demjenigen wenden, was diese sehen. Hier werden wir einer ganz anderen Konvention begegnen, deren Tragweite kaum weit genug gefasst werden kann. Vereinfacht gesprochen, besteht grafische Literatur aus einer Abfolge von Einzelbildern, von denen jedes einen Augenblick zeigt, der möglichst viel von der Vorgeschichte und gleichzeitig möglichst viel vom Danach erschließen lässt. Liegen die auf einer Zeitachse

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Jens R. Nielsen gedachten Bilder ›zu weit auseinander‹, muss jeder Betrachter von Panel zu Panel immer wieder neu zum Detektiv werden, um sich aus einzelnen Indizien mühsam zusammenzuklauben, was wohl zwischen den Bildern geschehen sein mag. Liegen die Bilder dagegen ›zu dicht beieinander‹, kommt es zu großen ›Ausdrucks-Schnittmengen‹, zu Redundanzen, die den Leser unterfordern und die Erzählung ›zäh‹ wirken lassen. Ein Comic-Zeichner muss also zweierlei leisten: Er muss zum einen hunderte von ›fruchtbaren Augenblicken‹ finden und diese zum anderen ›im richtigen Abstand zueinander‹ sequenzialisieren. Zum ›fruchtbaren Augenblick‹ hatte sich schon Goethe Gedanken gemacht: »Wenn ein Werk der bildenden Kunst sich wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muss ein vorübergehender Moment gewählt sein; kurz vorher darf kein Teil des Ganzen sich in dieser Lage befunden haben, kurz nachher muss jeder Teil genötigt sein, diese Lage zu verlassen; dadurch wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu lebendig sein.«6 – Was hier für ein Gemälde oder eine Skulptur beschrieben wird, trifft erst recht für Bilder in der Panelfolge des Comics zu: Der Blick des Lesers ›hangelt‹ sich von einem ›fruchtbaren Augenblick‹ zum nächsten, dabei den Hiatus mit Interpretationen, Assoziationen und Schlussfolgerungen füllend. Goethes Diktum vom ›vorübergehenden Moment‹ erfolgte im Rahmen eines Diskurses, den Lessing mit seinen Schriften »Laokoon«7 und »Wie die Alten den Tod gebildet«8 entscheidend voran gebracht hatte.9 Auch die Laokoon-Gruppe, welche zum Namenspatron von Lessings programmatischer Schrift über die ›saubere‹ Trennung von bildender und erzählender Kunst wurde, zeigt einen Übergang vom Davor zum Danach. Den hellenistischen Bildhauern war es ihrerzeit gelungen, den unvermeidlichen Tod des trojanischen Apollon-Priesters und seiner zwei Söhne zum Ausdruck zu bringen,

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Johann Wolfgang v. Goethe: »Über Laokoon« (1798), in: Ders.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. v. Ernst Beutler, Bd. 13: Schriften zur Kunst, Zürich: Artemis 1954, S. 161-174, hier S. 166. Gotthold Ephraim Lessing: »Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie« (1766), in: Ders.: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, bearb. v. Albert v. Schirnding, München: Hanser 1974, S. 7-187. Gotthold Ephraim Lessing: »Wie die Alten den Tod gebildet« (1769), in: Ders.: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, bearb. v. Albert v. Schirnding, München: Hanser 1974, S. 405-462. Vgl. auch Fritz Breithaupt: »Das Indiz. Lessings und Goethes ›Laokoon‹Texte und die Narrativität der Bilder«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Schmidt 2002, S. 37-59.

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Manga – Comics aus einer anderen Welt? obwohl die Figuren in ihrem Todeskampf voller Anspannung und voller Emotionen zu stecken scheinen – mithin noch voller Leben. Davor – Jetzt – Danach: Der ›fruchtbare Augenblick‹ ist derjenige Moment, der dies alles zeigt, indem er den Zeitverlauf im Raum organisiert. Und genau so funktioniert auch der Comic westlicher Prägung: Wir springen nicht nur von einem Panel zum anderen, sondern auch von einem ›fruchtbaren Augenblick‹ zum nächsten, und wissen dabei recht sicher, was im Hiatus, dem Raum zwischen den Bildern, passiert, weil auf das Nichtgezeigte von zwei Seiten her verwiesen wird. Das heißt: Im europäischen Comic wird Zeit linear organisiert, als handele es sich bei Panels um schriftlich fixierte Wörter (also um eindeutige Zeichen, deren Bedeutung quasi im Lexikon nachgeschlagen werden kann), die sich dem Betrachter in einer semantischen Struktur darbieten, der er nur zu folgen braucht - einer solchen, hier etwas verkürzt formulierten Vorstellung des Mediums Schrift bedient sich jedenfalls Lessings Definition von Literatur (im Gegensatz zur bildenden Kunst, die ihren Gegenstand ›im Raum‹ organisiert).10 Zugleich ist jedes Einzelbild aber ein ›eingefrorener Blick‹, ein kleines Gemälde, das idealiter die ganze Geschichte zwischen dem jeweils vorigen und dem folgenden Panel zeigen (genauer: induzieren) sollte. Demgegenüber erzählen Bilder in Japan ihre Geschichten grundsätzlich anders. Zur Veranschaulichung dieses ›Anderen‹ bietet sich ein Holzschnitt von Ando Hiroshige aus seiner Serie Hundert berühmte Ansichten Edos an (Abb. 2): Dem westlich geschulten Auge springt wahrscheinlich zuerst und v.a. die fette, weiße Katze ins Auge – aber leider ist sie nach einhelliger Ansicht der Forscher eines der zur Interpretation unwichtigsten Elemente im ganzen Bild. Sollte sich jemand von der Katze in die Irre führen lassen, wird es ihn überraschen, dass der Titel dieses Blattes aus dem Jahre 1857 übersetzt lautet: »Torinomachi-Wallfahrt in den Feldern von Asakusa«. Wenn er dagegen wüsste, dass es sich dabei um ein Motiv aus der Hundert Ansichten-Reihe handelt, müsste ihm eigentlich klar gewesen sein, dass die Katze nicht der zentrale Bildgegenstand gewesen sein kann. Was aber dann? Der gebildete Sammler solcher ›berühmter Ansichten‹ wusste natürlich auch ohne explizite Darstellung, wofür bestimmte Gegenden der heimlichen Hauptstadt, dem Sitz des Shogunats, bekannt, beliebt oder berüchtigt waren. Asakusa, eigentlich bloß eine Ansammlung sumpfiger Felder, konnte genau zwei Sehenswürdigkeiten vorweisen: Zum einen den berühmten Schrein, den Hiroshige außerhalb des rechten Bildrandes

10 Hierzu vgl. insbes. den Schlussabsatz des XV. Kapitels von Lessings »Laokoon«.

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Jens R. Nielsen nicht gezeigt hat, und zu dem sich zweimal im Jahr eine feierliche Prozession durch die Felder aufmachte; zum anderen die Nähe eines jener bekannten japanischen Rotlichtviertel (in Japan: grüne Viertel), die wie kleine, in sich abgeschlossene Welten organisiert waren, zu denen nicht darin Ansässige, also die Freier, erst nach Einbruch der Dunkelheit Zutritt hatten.

Abb. 2. Ando Hiroshige: »Torinomachi-Wallfahrt in den Feldern von Asakusa« (1857), in: Michail Uspenski: Hiroshige, S. 219.

Dass wir uns im Zimmer eines Etablissements dieses Rotlichtviertels befinden – es handelt sich dabei um das auch heute noch berühmte Yoshiwara –, darauf weisen die subtilen, stilisierten Vogelverzierungen hin, die uns an mehreren Stellen der Dekoration begegnen (sie waren in Japan ein typisches Zeichen für die Kunden von Prostituierten etwa so, wie heutzutage eine Brezel auf einen Bäcker hinweist), sowie ferner das linnene Gegenstück zu einer ZewaWisch-und-Weg-Rolle, das für eine Prostituierte natürlich auch im 19. Jahrhundert ein wichtiges Utensil darstellte. Außerdem kann der aufmerksame Betrachter im Vordergrund eine Reihe von Haarnadeln ausmachen, die in Yoshiwara ein typisches Mitbringsel der Freier, eine Liebesgabe an ihre Favoritin waren. Hiroshige hat ihnen 344

Manga – Comics aus einer anderen Welt? die Gestalt jener eigenartigen Gebilde verliehen, welche in der Prozession im Mittelgrund mitgeführt werden, die vermutlich jedem entgangen sein wird, der nicht durch den Bildtitel darauf hingewiesen wurde, wo er danach zu suchen hat. Außer der weißen Katze sagt in diesem Bild also alles: »Sex«! – Aber wie ist das möglich, wo doch offenbar helllichter Tag ist und den Freiern der Besuch der Prostituierten erst ab dem späten Abend gestattet war? Der wahre Kenner der Sehenswürdigkeiten Yoshiwaras wusste selbstverständlich auch ohne all die versteckten Hinweise, dass es ein paar Tage im Jahr gab, an denen das Rotlichtviertel rund um die Uhr geöffnet hatte, nämlich immer dann, wenn am Schrein gefeiert wurde und eine reich geschmückte Prozession sich auf den Weg durch die Felder aufmachte. (Die Interpreten streiten noch über die Frage, ob der Freier, dessen Spuren wir im Bild verfolgen können, bereits gegangen ist, oder ob er und seine Angebetete sich links außerhalb des Bildfeldes, hinter dem Wandschirm mit den stilisierten Vöglein befinden – vielleicht könnte die Katze darauf Antwort geben, das würde zumindest erklären, warum Hiroshige sie überhaupt dargestellt hat.)11 Für Scott McCloud wäre eine nicht dargestellte Geschichte wie diese Bestandteil und Ausdruck dessen, was er als »stillness«12 bezeichnet hat, als ›Kultur der Stille‹, die im Manga mit Pausen arbeitet, mit einem ›Zur-Ruhe-Kommen‹ einzelner Bilder und mit einem bewussten Einsatz der negativen Form. Ich ziehe stattdessen den Ausdruck »Kultur des Unsichtbaren« vor, den McCloud vermutlich nicht verwenden mochte, weil dieser den Manga für seinen Geschmack zu nah an den ›blutigen Rinnstein‹ herangeführt hätte, das »blood in the gutter«,13 also an die von ihm so bezeichneten Zwischenräume zwischen den Panels, jenen Hiatus, in dem der Leser die Handlung fortspinnt. Nur, dass es diese Zwischenräume in den ostasiatischen Kulturen auch innerhalb der Panels gibt. Damit soll nicht gesagt sein, dass Japaner und Chinesen einfach, quasi aus Faulheit, ›nichts‹ zeigten – sie zeigen stattdessen ganz bewusst und manchmal mit viel Aufwand ›Leere‹ – und es hat sich ein eigener Regelkanon entwickelt, um dieses Ziel zu erreichen. Immer wieder stoßen wir, nicht nur bei Hiroshige, auf ›fruchtbare Augenblicke‹, die rechts und links außerhalb des Panelrands liegen, auf eine Handlung außerhalb des Bildfeldes. Es wird nicht, wie Lessing meinte, der »Tod gebildet«,14 sondern seine Konsequenz in ein Zeichen gefasst. 11 Vgl. z.B. Isaburo Oka: Hiroshige. Japan’s Great Landscape Artist, Tokyo: Kodansha 1992. 12 S. McCloud: Understanding Comics, S. 82. 13 Ebd., S. 66. 14 G.E. Lessing: »Wie die Alten den Tod gebildet«.

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Jens R. Nielsen Es war und ist für westliche Augen immer wieder überraschend, wie weit die Kultur des Unsichtbaren in Fernost verbreitet ist, und wie sehr sie dort konventionalisiert wurde. Es ließe sich an dieser Stelle trefflich darüber spekulieren, warum das so ist. Die asiatischen Künstler scheinen sich schon vor Jahrhunderten sicher gewesen zu sein, dass die Betrachter ihrer Arbeiten immer ›das Richtige‹ sehen würden – ohne dieses explizit zeigen zu müssen. Wir können aber an dieser Stelle erst einmal vorläufig festhalten: Wir finden in Japan große Augen und gesehene Leere, im Westen dagegen mit Hilfe von Linearität gelenkte Blicke und ›fruchtbare Augenblicke‹. Wenden wir uns nunmehr nach den Holzschnitten etwas intensiver einigen Manga zu, um zu sehen, welche Erkenntnisse sich mit diesem Ansatz gewinnen lassen.

Abb. 3. Seite von Yumiko Oshima, in: Natsume Fusanosuke/Hosogaya Atsushi (Hg.): Manga, S. 75.

Der erste Eindruck beim Betrachten der abgebildeten Seite aus Akihiko kaku katariki (Abb. 3) ist wiederum der großer, gesehener Leere – allerdings offensichtlich organisierter Leere. Nicht nur scheinen einige der Panels so gut wie nichts zu zeigen, auch in den ›gefüllten‹ stehen die Figuren in einer nicht ausgeführten Handlungswelt. Au346

Manga – Comics aus einer anderen Welt? ßerdem lässt die Anordnung der Panels auf der Seite, die Decoupage, viel vom Seitenhintergrund durchscheinen. Durch all das tritt der formale Aufbau der Seite – die Gestalt und die Verteilung der Panels – stark ins Zentrum der Wahrnehmung. Es ist dies ein im Manga durchaus nicht selten anzutreffendes Phänomen, das uns daran gemahnt, uns bei der Analyse von grafischer Literatur nicht nur für verzeitlichte Räume und verräumlichte Zeitläufe zu interessieren (also für Texte und Bilder), sondern auch und vor allem für die Organisationsprinzipien der Form, also die formale Gestaltung der Narration. Wir sehen ein Schulmädchen und einen Schuljungen im Gespräch. Offensichtlich treffen sie eine Verabredung für den Abend. In der unteren Bildzeile erfahren wir nicht nur, dass der Termin der Verabredung näher gerückt ist (das sagt uns die Uhr), wir bekommen auch quasi im Zeitraffer gezeigt, wie ein Mahl entsteht. Am Ende dampft der Topf auf dem Herd: Wird der Gast erscheinen? Wird der Abend wie geplant, gewünscht, erhofft ablaufen? – Wir werden umblättern müssen, um auf diese Fragen Antworten zu erhalten. Uns wurde ein klassischer cliffhanger serviert. All das ist auch im Westen vertraut. Bemerkenswert an dieser Schilderung ist vor allem der mittlere Bildstreifen, in welchem sich der Chronist mit dem Zeichenstift – in diesem Fall: die Chronistin Yumiko Oshima – scheinbar ins Gebüsch zurückgezogen hat, von wo aus sie nicht mehr hören kann, was ihre beiden Figuren miteinander bereden. Stattdessen scheint die Aufmerksamkeit der Zeichnerin zu verfliegen wie der restliche Schultag, wie die dargestellten Blütenblätter im Wind, unbedeutend, doch erwartungsfroh. Es passiert nichts Zeigbares mehr, außer dass Zeit vergeht. Ganz wie in einem Hiroshige-Holzschnitt existiert irgendwo ›neben‹ den Panels ein Ereignis (in diesem Fall: ein Gefühl), doch statt dieses in Worte oder in ein Bild zu fassen, beliefert uns Oshima mit in der Bild- und Seitenaufteilung versteckten Metaphern. Auch die obere der Doppelseiten aus Kozure Okami (Abb. 4) ist ›leer‹ in dem Sinn, dass uns kein einziger ›fruchtbarer Augenblick‹ gezeigt wird. Formal scheint die Seite zwar wie ein westlicher Comic organisiert zu sein – lauter rechteckige Panels, welche die Seite komplett ausfüllen – und tatsächlich galt Lone Wolf & Cub nicht nur in den USA und in Europa schon immer als ›westlicher‹ Manga. Dass gerade diese Serie im Ausland so ungemein erfolgreich war und ist, hat sicherlich auch mit den geringen formalen Differenzen zu tun. Wer Okami im Laden durchblättert, sieht zunächst einmal Vertrautes. Doch der erste Eindruck ist trügerisch: Auch Okami ist ein echter Manga!

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Abb. 4. Kazuo Koike/Gôseki Kojima: Lone Wolf & Cub, S. 51f. (oben), S. 153f. (unten).

Die abgebildete Seite beschreibt nämlich nicht einen konkreten Weg, den der Protagonist mit seinem Kinderwagen zurücklegen würde, sondern vielmehr das Wandern an sich. Nach westlicher Konvention vergeht auf der Doppelseite enorm viel Zeit, doch sind wir außerstande zu bestimmen, wie viel Zeit denn nun tatsächlich verstreicht; Gôseki Kojima und Kazuo Koike liefern uns weder eine 348

Manga – Comics aus einer anderen Welt? konkrete Vorstellung vom Raum, der durchmessen wird, noch von der Zeit, die vergeht. Wir erhalten stattdessen einen Eindruck, ein Gefühl von ›Weg‹, und wenn wir dieses irgendwo ›im Text‹ verorten sollten, dann würden wir es am ehesten auf der ganzen, als Einheit gesehenen Doppelseite festmachen. Es existiert offenbar ein starkes Moment von Simultanität (Bildhaftigkeit), obwohl uns natürlich eine Sequenz (ein mehr oder weniger linear organisierter ›Text‹) vorliegt: Wir sind mithin aufgefordert nachzuempfinden, und nicht nachzuvollziehen. Sehen wir uns noch die zweite hier abgebildete Doppelseite aus der gleichen Geschichte an (Abb. 4): Wieder können wir Bekanntes ausmachen: Blicke, große Augen, unklar belassene Zeit, ein undefinierter Handlungsraum – das ›Thema‹ der Seite scheint ›sich anblicken‹ zu lauten. Und doch ist dort – wie schon im vorigen Beispiel – mehr. Das Publikum erhält beim Betrachten der Seite einen Eindruck davon, was hinter den Augen der Figuren passiert. Sie blicken einander in die Augen und versuchen sich dabei kennenzulernen, zu verstehen. »Nachempfinden«, »hinter die Augen der Figuren blicken« – wenn es ein Manga-Genre gibt, dem diese Rezeptionen wesentlich eingeschrieben sind, dann ist es das derzeit im Westen beliebteste Manga-Genre, der Shojo-Manga, der Manga für ein pubertierendes weibliches Publikum.15 Auch wenn es darin vor allem wieder um Blicke geht, die ausgetauscht werden, so ist die klassische ShojoManga-Seite doch ganz und gar anders aufgebaut als in den bisher besprochenen Beispielen. Im wahrsten Wortsinn herausragende Gemeinsamkeit der hier wiedergegebenen exemplarischen Seite (Abb. 5) ist sicherlich die dem Betrachter zugewandte, vor der ›eigentlichen‹ Bildebene angeordnete Figur, der Protagonist und Blickführer der Serie. Gemessen an der Präsenz der Blickführerfigur scheint die für westliche Augen so bedeutende Handlungsebene weit in den Hintergrund gerückt. Die einzelnen, teilweise frei und unzusammenhängend auf der Seite angeordneten Bilder erwecken den Eindruck von Scherben, von fragmentarisierten Erzählstücken, die ohne ein übergeordnetes, jedenfalls nicht in ihrer sequenziellen Abfolge geborgenes Bauprinzip keinerlei Sinn mehr ergeben. Und dann ist da zu allem Überfluss auch noch eine dritte Bildebene, die visuelle Informationen bereitstellt, welche – analog zur Musikuntermalung im Erzählkino – aus einer anderen Welt zu kommen scheinen. Blumen können darin sowohl für angenehme Gerüche als auch für Frühlingsgefühle stehen, Explosionen für inneren und äu-

15 Vgl. Jacqueline Berndt: »Shojo Manga – Mädchen-Comics in Japan«, in: Marcus Czerwionka (Hg.): Lexikon der Comics (35. Erg.-Lieferung), Meitingen: Corian 2000.

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Jens R. Nielsen ßeren Aufruhr, Lorbeerkränze für einen Triumph, fallende Blätter für Melancholie und Depression, fotokopierte Spitzenbordüren für porentief reine Jungfräulichkeit usw.

Abb. 5. Seite von Riyoko Ikeda, in: Jaqueline Berndt: »Comics in Japan«, o.S.

Tatsächlich weist das formalisierte Bauprinzip der typischen ShojoManga-Seite einen starken Hang zur dritten Dimension, zur räumlichen Tiefe auf. Anders als der westliche Comic, der – ganz wie die westliche Schriftkultur insgesamt – zu einer linearen Ausrichtung des Erzähltextes tendiert, welcher das Publikum Schritt für Schritt und damit von Anfang bis Ende folgen soll, bemühen sich japanische Zeichner offensichtlich um eine Ausrichtung ihrer Arbeit auf einer Achse: Betrachter – Figur – Geschehen – Gefühl. ›Durchs Auge des Betrachters sein Hirn zu treffen‹, war bereits das Bestreben Osamu Tezukas in den fünfziger Jahren.16 Und auch in Genres, die eine ganz andere Erzählabsicht haben und die sich nicht der auf Tiefendimension angelegten Formsprache der ShojoManga bedienen, wird noch heute gern das Sehorgan des Betrachters aufs Korn genommen. Es lässt sich im Manga genreübergrei16 Zu Tezukas Ribon no Kishi vgl. J.R. Nielsen: »Mit anderen Augen«, S. 15.

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Manga – Comics aus einer anderen Welt? fend ein viel stärkeres Bewusstsein für den Ablauf visueller Prozesse feststellen. Dementsprechend häufig sind die selbstreferenziellen Botschaften, die in der einen oder anderen Form die Bedingungen des Zustandekommens von Handlungssequenzen im Hirn des Betrachters thematisieren. Wir haben nun also eine neue Bedeutung der Augen kennengelernt, und diesmal handelt es sich um die ›richtige‹ Interpretation der Konvention, um die korrekte Beschreibung der Funktion, die sie im Manga ausüben: Die Augen sollen den Blick in die Tiefe zulassen, sie sollen das Publikum einladen, in die ›Seele‹ der gezeichneten Figur zu schauen. Daraus ergibt sich eine Möglichkeit, Manga und Comics voneinander zu unterscheiden: Comic-Seiten westlicher Provenienz funktionieren aufgrund ihrer in der Tradition Lessings stehenden Formsprache nämlich wie Bildergalerien, in denen gerahmte, gereihte Gemälde voller ›fruchtbarer Augenblicke‹ hängen, während sie im Osten ›Fenster‹ sind – gerahmte Schlüssellöcher zum Gefühl. Eine Folge dieses andersgearteten Erzählinteresses ist, dass die Organisation von Zeit und Raum im Manga wesentlich weniger Bedeutung hat als im Westen, dass auf die chronologische Anordnung der Panels auf einer Zeitachse ganz verzichtet werden kann und dass die Handlung unter Umständen mit wenigen visuellen Indizes auskommt und sie womöglich ganz ohne Zuhilfenahme ›fruchtbarer Augenblicke‹ vorgetragen wird. Die Geschichte wird viel bewusster ›in den Kopf des Betrachters‹ verlagert, das ›Fenster‹ ist nach beiden Seiten hin durchlässig. – Begeben wir uns nunmehr auf die Suche nach den kulturellen oder produktionstechnischen Ursachen für den soeben beschriebenen großen Unterschied zwischen Manga und Comic. In der Vergangenheit wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass japanische Schriftzeichen (zumindest die chinesischen darunter, die Kanji) wie kleine, stilisierte Bildzeichen funktionierten, sodass im Umkehrschluss in ihrem Verwendungsgebiet mit einer eher schriftähnlichen Bildsprache zu rechnen sei – mit Comics und grafischer Kunst als Sonderform der Kalligrafie gewissermaßen, oder mit Manga als Aneinanderreihung von Typen, von icons. Ein solcher Erklärungsansatz greift offensichtlich zu kurz. Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass ein ›Zuviel‹ in einer Ausdrucksform automatisch ein ›Zuwenig‹ in einer anderen Ausdrucksform bewirkt. Dennoch könnte es fruchtbar sein, sich der japanischen Schrift doch etwas genauer zuzuwenden: Stellen wir uns die Frage, wie Schriftzeichen in Japan ›gelesen‹ werden (wie sie als Typen oder als icons funktionieren), so können wir feststellen, dass sie immer wieder aufs Neue aus dem Kontext erschlossen werden müssen, weil sie in ihren Bedeutungen, in ihrer Signifikant-Signifikat-Relation, nicht so standardisiert, nicht so scharf fixiert sind wie

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Jens R. Nielsen die aus nur wenigen lateinischen Buchstaben gebildeten Wörter, die in ihrem starren Korsett aus grammatikalischen Regeln wesentlich seltener uneindeutig sind. Des Weiteren müssen die individuellen Zeichen in ihrer Komplexität und ihrer schieren Menge beherrscht werden, indem sie auswendig gelernt, durch Training eingeübt werden. Es kommt beim Schreiben von Kanji viel stärker als in europäischen Alphabeten auf die Position und Ausrichtung jedes einzelnen Strichs an, was dazu geführt hat, dass in China und Japan sogar die Reihenfolge und die Richtung, in der beim Schreiben die Feder geführt werden muss, vorgegeben sind. Nicht nur das Zeichen, auch der Prozess seiner Entstehung muss jeweils gelernt und eingeübt werden. Wir finden in Japan also einen ganz anderen Prozess des Bildens von Zeichen und Konventionen vor als im Westen, und diesen kann man dort auch im – wie wir sagen würden – ›grafischen‹ Bereich beobachten, beim Herstellen von Comics.

Abb. 6. Seite aus einem Kanji-Lehrbuch von Natsume Fusanosuke, in: Inoue Manabu (Hg.): Manga no yomikata, S. 181.

Vergleichen wir einmal die obige und die nachfolgende Abbildung: Die eine zeigt eine Seite aus einem Kanji-Lehrbuch (Abb. 6), die andere eine Seite aus Akira Torijamas Hetappimanga kenkyujo, einem Manga-Zeichenkurs aus dem Jahre 1984 (Abb. 7). Beide Lernhilfen gehen offensichtlich von der gleichen Grundidee aus, dass nämlich

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Manga – Comics aus einer anderen Welt? visuelle Eindeutigkeit vor allem durch stetes Wiederholen, durch Auswendiglernen, erreicht werden kann. Wer die Gelegenheit hatte, ältere Mangaka auf Signiertouren zu beobachten, dem wird nicht entgangen sein, dass diese – anders als die meisten ihrer westlichen Pendants – nicht auf Zuruf irgendwelche Figuren oder Posen zeichnen, sondern sich stets aus einem eingeschränkten Repertoire eingeübter Zeichnungen bedienen, die sie stoisch wiederholen. Bemerkenswert daran ist, dass sie – ganz wie in der Toriyama-Zeichenschule vorgemacht – ohne Vorzeichnungen arbeiten, und – geradezu wie Kalligrafie-Meister – mit einer oft sehr komplizierten Profillinie oder Gesichtskontur anfangen, dann ein Auge scheinbar intuitiv exakt an die richtige Stelle im Verhältnis zur Kontur setzen, und dann ebenso alle übrigen Bestandteile der Figur ganz ohne Konstruktion additiv zu einem Ganzen zusammenfügen.

Abb. 7. Wolfgang Hadamitzky: Langenscheidts Übungsbuch zur japanischen Schrift, o.S. (oben); Akira Toriyama/Akira Sakuma: Hetappimanga kenkyujo, o.S. (unten). (Montage: J.R. Nielsen)

Ein solches ›Baukastensystem‹ lässt sich sogar noch auf einer ganz anderen Ebene beobachten, nämlich im Figurenrepertoire von Großmeistern wie Miyazaki oder Tezuka, die einmal entwickelte und bewährte Figuren in ihren Folgeprojekten wie Schauspieler immer wieder neu ›gecastet‹ haben – schließlich konnten sie davon ausgehen, dass ihre Assistenten an den Bau und das Aussehen dieser Fi-

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Jens R. Nielsen guren bereits gewöhnt waren, sodass in arbeitsteiligen Produktionsprozessen unter Zeitdruck mit weniger Reibungsverlusten zu rechnen war, als wenn sie komplett neu entwickelte Figuren verwendet hätten. Dieses Vorgehen hat ihnen im Westen den Vorwurf eingebracht, sie würden mit Stereotypen arbeiten, der letztlich nur durch ein vollkommen anderes kulturelles Grundverständnis zu erklären ist: Während nämlich im Westen der Zeichentrickfilm oder die grafische Literatur eng an die Idee des ›Künstlertums‹, also letzten Endes an eine Vorstellung von ununterbrochen innovativen, ›genialischen‹ Schöpferpersönlichkeiten gekoppelt ist, sind Figuren in Japan nichts anderes als weitere grafische Zeichen, deren Sinn darin besteht, Bedeutung zu tragen, und die nach Belieben eingesetzt und wiederverwendet werden dürfen – wie Wörter in Sätzen. Zurück zu den Zeichenschulen: Im Westen wird seit der Renaissance methodisch ein – verglichen mit dem Toriyama-Beispiel – ganz anderer Weg beschritten, einer, der die ›Baukästen‹ auf eine abstraktere, oder besser: ›hintergründigere‹ Ebene verlagert. Das Ziel westlicher Zeichentechnik besteht seit über fünfhundert Jahren darin, sich allgemeingültige Grundregeln, gewissermaßen eine Grammatik, anzueignen, die jedes einzelne, künstlerisch tätige Individuum befähigen soll, sich schnell und ökonomisch in jede erdenkliche Problem- oder Aufgabenstellung hineinzufinden. Ich wurde vor ein paar Jahren gebeten, für den Carlsen Verlag eine Dragonball Z-Zeichenschule zu konzipieren.17 Selbstverständlich wurde in redaktionellen Vorgesprächen mit der Verlagsleitung festgelegt, dass ein für ein westliches Publikum verständliches und nützliches Werkzeug zu schaffen sei, und nicht etwa eine Dokumentation, die den ursprünglichen Herstellungsprozess einer damals zwanzig Jahre alten Serie historisch und kulturell korrekt rekonstruierte. Dies war ein Ansatz, der den japanischen Dragonball Z-Lizenzgebern nur unter größten Schwierigkeiten abzuringen war. Die Tatsache, dass auch in Japan heutzutage methodisch in der Tradition der Renaissance arbeitende Mangaka erfolgreich sind (wie z.B. Hiroaki Samura, der mit seinem Blade of the Immortal geradezu ein Handbuch der perspektivischen Verkürzung in der Nachfolge Michelangelos vorgelegt hat), führt dennoch nicht automatisch dazu, die eigenen Methoden und Stilgeschichten leichtfertig dranzugeben. Wir im Westen müssen die Gestalt einer Figur, ihre Gestik, ihre Mimik quasi immer wieder neu ›erfinden‹. Um dieses Ziel erreichen zu können, reduzieren wir unsere Figur auf ein überschaubares Set an geometrischen Grundformen, deren Größenrelationen zueinander wir zur Not mit Hilfe von Geodreieck und Zirkel exakt bestim-

17 Jens R. Nielsen/Michael Hülse/Alexandra Prosen: How to Draw Dragonball Z, Hamburg: Carlsen 2003.

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Manga – Comics aus einer anderen Welt? men könnten – und zwar unabhängig von der Pose, die unsere Figur jeweils einnehmen soll. Ein geschulter westlicher Zeichner ist in der Lage, eine ihm vertraute Figur in jeder sich bietenden Stellung aus ein paar Kugeln und Zylindern heraus zu entwickeln. Er muss, um dies tun zu können, kontinuierlich sein räumliches Vorstellungsvermögen trainieren, z.B. durch Aktzeichnungen, Architekturoder Tierstudien. Für einen ›klassischen‹ Mangaka klingt das wahrscheinlich so, als würde man als Zeichner ein Astronautentraining absolvieren, das einem ermöglicht, an jedem Ort des Universums zu überleben, obwohl man doch eigentlich nur jeden Tag mit dem Hund vor die Tür gehen und dabei das eigene Haus einmal umrunden will. Als sollte der Unterschied der westlichen zur östlichen Arbeitsweise besonders unterstrichen werden, zeigte sich während der Arbeit an How to Draw Dragonball Z, dass es bestimmte Ansichten einzelner Figuren weder bei Toriyama noch in der Fernsehserie jemals gegeben hat: Die japanischen Zeichner hatten sie systematisch vermieden, weil es in ihren Posen- und Einstellungsbaukästen keine entsprechenden Vorlagen gab und sich offenbar niemand der verantwortungsvollen Aufgabe stellen konnte oder wollte, neue visuelle Bausteine zu kreieren. Vermutlich wäre ein solches Vorgehen eines ›ausführenden Zeichners‹ als Eingriff in die ureigenste Sphäre des Dragonball Z-Erfinders angesehen worden. (Es gibt in Japan arbeitsteilig organisierte Zeichenstudios, in denen das komplette veröffentlichte Material von Assistenten hergestellt wird, die nach model sheets arbeiten. Der kreative Leiter des Studios, unter dessen Namen die Arbeiten veröffentlicht werden, brütet dagegen den ganzen Tag ausschließlich über neuen Posen und Gesichtsausdrücken seiner Figuren, die er dann in Form besagter model sheets an seine Assistenten, die ausführenden Zeichner, weitergibt.) In Reinform lässt sich die westliche Arbeitsmethode zum Beispiel in den Making-of-Bänden zur Serie Blacksad von Juan Díaz Canalès und Juanjo Guarnido studieren:18 Die beiden Spanier tasten sich mit Hilfe von Konstruktionszeichnungen, die ihrerseits leicht als kleine ›Kunstwerke‹ durchgehen, an das fertige Bild heran. Diese Methode steht im diametralen Gegensatz zur additiven Verwendung von Typen oder icons, wie sie das Ziel eines auf Auswendiglernen basierten Arbeitsansatzes sein müsste. Dort wären die ›fertigen Zeichnungen‹ quasi immer schon da, die kreative Leistung des Zeichners bestünde darin, sie auf neue, situations- oder handlungsangemessene Weise zu gruppieren – eine Methode, die stark an den Arbeitsablauf eines Schriftsetzers erinnert.

18 Vgl. z.B. Juan D. Canalès/Juanjo Guarnido: Blacksad. Hinter den Kulissen, übers. v. Harald Sachse/Corinna Dehne, Hamburg: Carlsen 2003.

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Jens R. Nielsen Beginnen wir, die bisher gesponnenen losen Fäden aufzunehmen: Es lässt sich nun der ›Galerie versus Schlüsselloch‹-Gedanke so reformulieren, dass die Panels eines Comics im Westen wie Bilder aufgefasst werden, während sie in Japan eher wie Grapheme oder Bildzeichen gelesen werden, welche lediglich Indizes für etwas nicht Darstellbares (oder zumindest: etwas nicht Dargestelltes) sind. Viele Manga-Panels bieten darum dem westlichen Blick keinen ästhetischen Genuss – welchen schließlich auch niemand von einem beliebigen gedruckten Buchstaben (zum Beispiel dem »h« im vorigen Wort) erwarten würde. Wenn wir uns an dieser Stelle noch einmal Usagi aus Sailor Moon zuwenden, so wissen wir nun, dass ihr Gesicht ein konventionalisiertes Zeichen ist, dessen wesentlicher Bestandteil die Augen sind, die uns sagen sollen: »Blicke in meine Seele, versuche zu fühlen, was ich fühle – und vielleicht sage ich dir im Gegenzug, was du fühlst.« Die Augenfenster sind selbstverständlich in beide Richtungen durchlässig. Wäre es anders, gäbe es in Usagis Augenseen ja auch rein gar nichts zu sehen. Schließlich liegt ›hinter‹ ihnen nur exakt so viel Gefühl, wie der jeweilige Leser, die jeweilige Leserin dort zu finden bereit ist – Usagi sagt ihren Lesern also tatsächlich, was diese beim Betrachten des Manga gerade fühlen. Und wer dabei nichts fühlt, dem wird, anders als bei einem westlichen Erzähl-Comic, eben auch nichts oder zumindest nicht viel gesagt.

Literatur Berndt, Jacqueline: »Shojo Manga – Mädchen-Comics in Japan«, in: Marcus Czerwionka (Hg.): Lexikon der Comics (35. Erg.-Lieferung), Meitingen: Corian 2000. Breithaupt, Fritz: »Das Indiz. Lessings und Goethes ›Laokoon‹-Texte und die Narrativität der Bilder«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Schmidt 2002, S. 37-59. Canalès, Juan D./Guarnido, Juanjo: Blacksad. Hinter den Kulissen, übers. v. Harald Sachse/Corinna Dehne, Hamburg: Carlsen 2003. Fusanosuke, Natsume/Atsushi, Hosogaya (Hg.): Manga. Die Welt der japanischen Comics, Köln: The Japan Foundation 2000. Goethe, Johann Wolfgang v.: »Über Laokoon« (1798), in: Ders.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. v. Ernst Beutler, Bd. 13: Schriften zur Kunst, Zürich: Artemis 1954, S. 161-174. Gravett, Paul: Manga. Sixty Years of Japanese Comics, New York: HarperCollins 2004.

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Manga – Comics aus einer anderen Welt? Hadamitzky, Wolfgang: Langenscheidts Übungsbuch zur japanischen Schrift, Berlin u.a.: Langenscheidt 1978. Koike, Kazuo/Kojima, Gôseki: Lone Wolf & Cub, Bd. 10, NettetalKaldenkirchen: Panini 2004. Lehmann, Timothy R.: Manga. Masters of the Art, New York: HarperCollins 2005. Lessing, Gotthold Ephraim: »Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie« (1766), in: Ders.: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, bearb. v. Albert v. Schirnding, München: Hanser 1974, S. 7-187. Lessing, Gotthold Ephraim: »Wie die Alten den Tod gebildet« (1769), in: Ders.: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, bearb. v. Albert v. Schirnding, München: Hanser 1974, S. 405-462. Luijten, Ger/Uhlenbeck, Chris/Winkel, Margarita (Hg.): The Beauty & the Actor: Ukiyo-e. Japanese Prints from the Rijksmuseum, Amsterdam and the Rijksmuseum voor Volkenkunde Leiden, Leiden: Hotei Publishing 1995. Manabu, Inoue (Hg.): Manga no yomikata, Tokyo: Takarajimasha 1995. McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art, New York: HarperCollins 1993. (Deutschsprachige Ausgabe: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, übers. v. Heinrich Anders, Hamburg: Carlsen 1994.) Murakami, Takashi (Hg.): Little Boy. The Arts of Japan’s Exploding Subculture, New Haven: Yale University Press 2005. Nielsen, Jens R.: »Mit anderen Augen. Der Manga, von Europa aus betrachtet«, in: Reddition (2006), H. 44, S. 4-21. Nielsen, Jens R./Hülse, Michael/Prosen, Alexandra: How to Draw Dragonball Z, Hamburg: Carlsen 2003. Oka, Isaburo: Hiroshige. Japan’s Great Landscape Artist, Tokyo: Kodansha 1992. Schodt, Frederik L.: Dreamland Japan. Writings on Modern Manga, Berkeley: Stone Bridge 1996. Takeuchi, Naoko: Sailor Moon. Original Artbook III, Stuttgart: Feest 1999. Toriyama, Akira/Sakuma, Akira: Hetappimanga kenkyujo, Tokyo: Shueisha 1984. Uspenski, Michail (Hg.): Hiroshige. Hundert Ansichten von Edo, London: Sirocco 1996.

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Autorinnen und Autoren Anjin Anhut, freiberuflicher Designer und Illustrator für Marketingund Entertainment-Firmen. Gründungsmitglied und Art Director der Playotope GmbH. Publikationen als Comic-Zeichner für Popgun (Bd. 1-3), XIMAG, Marvel Masterpieces Trading Cards u.a. Gestaltete Designs, Comics und Animationen für Kunden wie ProSieben, Marvel Comics, Image Comics, Walt Disney Studios Home Entertainment, Buena Vista Home Entertainment. Thomas Becker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« der Freien Universität Berlin, mit dem Unterprojekt »Comics auf dem Weg zur legitimen Kunst«. Zugleich Privatdozent am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Tübingen und Berlin sowie in den Forschungsseminaren Pierre Bourdieus an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris. Publikationen: Mann und Weib – schwarz und weiß. Zur wissenschaftlichen Konstruktion von Geschlecht und Rasse 1650 – 1900 (2005). Forschung: Ästhetische Theorie, Feldanalysen von Kunst und Humanwissenschaften, Theorien der Massenkommunikation und Mediengeschichte. Stephan Ditschke, Stipendiat des Promotionskollegs der VolkswagenStiftung »Wertung und Kanon« an der Georg-August-Universität Göttingen, außerdem als Lektor tätig. Studium der deutschen Philologie, Philosophie und Politikwissenschaft in Göttingen. Aufsätze zur Rezeption mündlich vermittelter Literatur bei Poetry Slams und zum Thema Comics in Sammelbänden und Zeitschriften. Forschung: Literaturtheorie und -soziologie, Rezeption und Wirkung von Praktiken direkter Literaturvermittlung. Lukas Etter, nach gestalterischer Ausbildung Studium der Germanistik, Anglistik, Philosophie und Komparatistik an den Universitäten Bern und Genf. Forschung: Intermedialität und Serialität in Comics und Graphic Novels, Narratologie, historische Amerikabilder.

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Comics Ole Frahm, Vertretung der Professur für Sprache und Kommunikation an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel. Gründungsmitglied der Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) an der Universität Hamburg. Studium der Deutschen Literaturwissenschaft, Geschichte, Psychologie und Theaterwissenschaften in Hamburg und Berlin. Publikationen: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale (2006). Forschung: Narrations- und Medientheorie, Theorie, Geschichte und Ästhetik des Comics und des Radios. Stephanie Hoppeler, Studium der Englischen Literaturwissenschaft, Geschichte und Englischen Sprachwissenschaft an der Universität Bern. Forschung: Intermedialität und Serialität in Comics und Graphic Novels, Gender Studies, American Modernism. Frank Kelleter, Professor für Nordamerikastudien an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Publikationen: Die Moderne und der Tod. Das Todesmotiv in moderner Literatur, untersucht am Beispiel Edgar Allan Poes, T.S. Eliots und Samuel Becketts (1997), Con/Tradition. Louis Farrakhan’s Nation of Islam, the Million Man March, and American Civil Religion (2000), Amerikanische Aufklärung. Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolution (2002), Amerika und Deutschland. Ambivalente Begegnungen (Mithg., 2006), Melodrama! The Mode of Excess from Early America to Hollywood (Mithg., 2007), American Studies as Media Studies (Mithg., 2008). Forschung: Ästhetiken und Praktiken populärer Serialität, amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte (insbes. 17. Jahrhundert und 20./21. Jahrhundert), amerikanische Religionsgeschichte, Literatur-, Kultur- und Wissenschaftstheorien. Katerina Kroucheva, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Koordinatorin des Zentrums für komparatistische Studien an der Georg-August-Universität Göttingen. Studium der Slavistik und Germanistik in Göttingen und Sofia. Publikationen: »Goethereif!« Die bulgarischen Faust-Übersetzungen (2009). Forschung: Kulturtransfer Deutschland – Bulgarien, Kulturstereotype, Übersetzungsforschung, Literatur und Literaturwissenschaft um 1900. Rolf Lohse, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn. Studium der Romanistik und Anglistik in Berlin, Toulouse und Paris. Publikationen: »Pour lire sous la douche«. Das Komische im Werk des französischen Humoristen Pierre Henri Cami (2001), Postkoloniale Traditionsbildung: Der frankokanadische Roman zwischen Autonomie und Bezugnahme auf die Literatur Frankreichs und der USA (2005), Ingenieur der Träume. Medienreflexive Komik bei Marc-An-

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Autorinnen und Autoren toine Mathieu (2008). Forschung: Italienische, französische und frankokanadische Literatur, literarische Avantgarde, Medienwissenschaft. Jens R. Nielsen, freiberuflicher Zeichner und Publizist, Gründungsmitglied der Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) an der Universität Hamburg. Dozent an der animation-school-hamburg. Schriftführer der Illustratoren Organisation (IO). Studium der Deutschen Sprache und Literatur, Philosophie und Klassischen Archäologie in Hamburg. Forschung: Genretheorie, Erzähltheorie. Stephan Packard, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität München. Mitglied der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor). Studium der Neueren deutschen Literatur, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie in München. Publikationen: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse (2006). Ständiger Redakteur der Zeitschrift Medienobservationen. Forschung: Medienwissenschaft, Computerphilologie, Tropentheorie, Zensurforschung, Affektsemiologie. Andreas Platthaus, Banklehre in Köln und Studium der Betriebswirtschaftslehre in Aachen, Studium der Rhetorik, Philosophie und Geschichte in Tübingen. Stellvertretender Feuilletonchef bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Leiter von »Bilder und Zeiten«. Publikationen: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte (1998; 2000), Von Mann & Maus, Die Welt des Walt Disney (2001), Moebius Zeichenwelt (2003), Die 101 wichtigsten Fragen zum Comic (2008). Forschung: Geschichte und Ästhetik des Comics. Gabriele Rippl, Professorin für englischsprachige Literaturen am Institut für Englische Sprachen und Literaturen der Universität Bern. Publikationen: Unbeschreiblich weiblich. Beiträge zur feministischen Anthropologie (Mithg., 1993), Zeichen zwischen Klartext und Arabeske (Mithg., 1994), Lebenstexte. Literarische Selbststilisierung englischer Frauen in der frühen Neuzeit (1998), Sammler – Bibliophile – Exzentriker (Mithg. 1998), Ruinenbilder (Mithg. 2002), Beschreibungs-Kunst. Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte 1880-2000 (2005), Bilder. Ein (neues) Leitmedium? (Mithg. 2006), Medien des Gedächtnisses (Mithg. 2008). Forschung: Angloamerikanische Literatur der Frühen Neuzeit, des 19. und 20. Jahrhunderts, Text-Bild-Beziehungen, Medialitäts- und Intermedialitätstheorien, Historische Anthropologie der Medien, Semiotik, Literaturund Kulturtheorie, Gender Studies, Antikenkonstruktion/kulturelles Gedächtnis.

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Comics Monika Schmitz-Emans, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Publikationen: Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache (1986), Poesie als Dialog. Vergleichende Studien zu Paul Celan und seinem literarischen Umfeld, Kap. I-V. (1993), Zwischen weißer und schwarzer Schrift. Edmond Jabès’ Poetik des Schreibens (1994), Spiegelt sich Literatur in der Wirklichkeit? Überlegungen und Thesen zu einer Poetik der Vorahmung (1994), Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens (1995), Die Sprache der modernen Dichtung. München (1997), Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1999), Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelungen innerer und äußerer Fremde (2002), Einführung in die Literatur der Romantik (2004), Fragen nach Kaspar Hauser. Entwürfe des Menschen, der Sprache und der Dichtung (2007). Forschung: Allgemeine Literaturtheorie und Poetik, Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie, Literatur und bildender Kunst, Literatur und Musik. Daniel Stein, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Nordamerikastudien an der Georg-August-Universität Göttingen. Studium der Amerikanistik, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Mainz. Publikationen: American Studies as Media Studies (Mithg., 2008) sowie Aufsätze zur amerikanischen Literatur und Populärkultur in Sammelbänden und Zeitschriften wie Genre, European Journal of American Studies, Amerikastudien/American Studies und Interdisciplinary Humanities. Forschung: Ästhetiken und Praktiken populärer Serialität, Intermedialitätstheorien, Kulturgeschichte amerikanischer Comics, afroamerikanische Literatur und Musik, amerikanische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts.

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Karin Harrasser, Helmut Lethen, Elisabeth Timm (Hg.)

Sehnsucht nach Evidenz Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2009 Mai 2009, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1039-0 ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008), Räume (2/2008) und Sehnsucht nach Evidenz (1/2009) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion Dezember 2009, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

Jürgen Hasse Unbedachtes Wohnen Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft Juni 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1005-5

Thomas Hecken Pop Geschichte eines Konzepts 1955-2009 September 2009, ca. 546 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-89942-982-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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Kultur- und Medientheorie Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Juni 2009, 476 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-721-9

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien November 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Karlheinz Wöhler, Andreas Pott, Vera Denzer (Hg.) Tourismusräume Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens Dezember 2009, ca. 330 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1194-6

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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz Oktober 2009, ca. 450 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3

Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.) Kommunikation – Gedächtnis – Raum Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn« Februar 2009, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1120-5

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Oktober 2009, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Markus Rautzenberg (Hg.) Ausweitung der Kunstzone Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften April 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1186-1

Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Von Monstern und Menschen Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive Oktober 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1235-6

Insa Härtel Symbolische Ordnungen umschreiben Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht April 2009, 326 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1042-0

Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts Januar 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-803-2

Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930) Februar 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7

Rebekka Ladewig, Annette Vowinckel (Hg.) Am Ball der Zeit Fußball als Ereignis und Faszinosum Juli 2009, 190 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1280-6

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